Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung.
Wir setzen die Aussprache zum Haushalt 1993 fort. Dazu rufe ich Punkt 1 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1993
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- Drucksache 12/3000 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1992 bis 1996 - Drucksache 12/3100 Überweisung: Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die heutige Aussprache insgesamt zehn Stunden vorgesehen. - Dazu höre ich keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Fraktionsvorsitzende der SPD, der Abgeordnete Klose.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer in den letzten Tagen die ausländische Presse über Deutschland gelesen hat, der hat einmal mehr erfahren, wie dünn das Eis ist, auf dem wir wandern. „Erinnerungen werden aufgewühlt", schrieb die „Washington Times" nach den Ausschreitungen in Rostock. Von Rassismus war die Rede, sogar auf die Pogromnacht von 1938 wurde hingewiesen.
Artikel dieser Art - es gibt Gott sei Dank auch andere - sollten wir nicht einfach beiseite schieben. Sie sind ärgerlich, weil falsch. Die Deutschen des Jahres 1992 sind keine Rassisten!
({0})
„Die Deutschen", alle und ausnahmslos, waren es nie. Aber, meine Damen und Herren, wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß deutsche Ereignisse immer in besonderer Weise kommentiert werden. Die Geschichte läßt uns nicht los. Sie bedrückt uns, ob wir nun auf die „Gnade der späten Geburt" pochen oder nicht.
Zur Kenntnis nehmen ist das eine, Widerspruch das andere. Ich jedenfalls widerspreche, wenn - von wem auch immer - gesagt wird, das heutige Deutschland sei in Wahrheit das alte Deutschland. Ich bin ganz sicher, die Menschen in Deutschland wissen, daß Europa von Rechtsextremisten in den Abgrund gestürzt worden ist. Der Krieg, die Tötung, Verfolgung und Terrorisierung von Menschen und Völkern, die Zerstörung der Städte, die Teilung Deutschlands und Europas - das ist ins Werk gesetzt worden von der extremen nationalistischen und rassistischen Rechten, der es immer nur um Macht und Vorherrschaft geht und nie um die Menschen und deren wirkliche Probleme.
Der Aufbau im Westen unseres Landes konnte nur gelingen auf der Grundlage von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Verantwortung. Er wird auch im Osten Deutschlands nur auf dieser Grundlage gelingen, aber ich bin überzeugt, er wird gelingen, wenn wir es gemeinsam anpacken.
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Dazu gehört, Herr Bundeskanzler, daß Sie den Menschen endlich die Wahrheit sagen,
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den Menschen im Osten, daß es länger dauern wird, als sie - die Menschen - gehofft und Sie, Herr Bundeskanzler, versprochen haben. Und den Menschen im Westen müssen Sie endlich sagen, daß es ohne zusätzliche materielle Opfer nicht geht!
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Mehrfach, Herr Bundeskanzler, habe ich Sie schriftlich und öffentlich aufgefordert, endlich eine Regierungserklärung zur Lage der Nation unter besonderer Berücksichtigung der neuen Bundesländer abzugeben. Ich habe Sie aufgefordert, Schluß zu machen mit dem Versteckspiel vor der Wahrheit. Sie haben
nicht reagiert und mich nur einmal wissen lassen, daß Sie keine Zeit dafür hätten.
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Warum Sie sich so verhalten haben, haben Sie am 27. Mai bei dem Parteiengespräch erklärt: Sie glaubten nicht an die Solidarität der Westdeutschen; die wollten in Wahrheit nicht teilen.
Sie irren sich, Herr Bundeskanzler! Die Westdeutschen, die Deutschen überhaupt, sind durchaus fähig und bereit zur Solidarität, wenn man ihnen die Wahrheit sagt und ihnen erklärt, wofür Opfer gebracht werden müssen.
({5})
Es ist nicht in Ordnung, über die mangelnde Solidarität der Deutschen zu lamentieren, wenn man selbst den entscheidenden Beitrag zur Entsolidarisierung geleistet hat.
({6})
Sie waren das, Herr Bundeskanzler, niemand anders!
Jetzt, Herr Bundeskanzler, nachdem Sie aus dem Glücksfall der deutschen Einheit einen Belastungsdiskurs gemacht haben, reden Sie von einem Solidarpakt.
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In welcher Eigenschaft Sie so reden, ist mir nicht völlig klar, als Bundeskanzler doch wohl nicht, denn ein von der Koalition getragenes Konzept zur Gestaltung der deutschen Einheit und deren Finanzierung gibt es ja gar nicht. Statt dessen haben wir ein Stück aus dem Tollhaus erleben dürfen, ein babylonisches Sprachgewirr von höchst widersprüchlichen Erklärungen und Dementis aus dem Lager der Koalition.
Von Investitionsanleihe, Zwangsanleihe redet die CDU und insbesondere der Kollege Schäuble, von einer niedrig verzinslichen steuerfreien Deutschlandanleihe die CSU, genauer der Finanzminister. Gegen den letzteren Vorschlag wendet sich der CDU-Kollege Uldall mit der Bemerkung: „Mit Kunstgriffen kann man die Probleme nicht lösen".
({8})
- Ja, das hat mir gut gefallen. Er ist ja auch ein Hamburger. - Für diesen Vorschlag votiert dagegen der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Glos und wettert zugleich gegen die F.D.P., Lambsdorff und andere, die ohnehin von beiden Vorschlägen nichts halten. Herr Solms hat es für die F.D.P.-Fraktion bestätigt.
Zitat aus dem „Straubinger Tageblatt" : „Dieser Weg wird im finanziellen Chaos enden."
({9})
- Ja, das zitiere ich, weil ich Ihnen von der CSU eine Freude machen wollte. Das ist der Punkt.
({10})
Ich werde diese Zeitung nochmals zitieren, um Ihnen noch eine Freude zu machen. Denn warum das alles? Darauf gibt diese Zeitung eine sehr schöne Antwort. Sie lautet:
Zu einem erheblichen Teil ist die Aufgeregtheit in der Diskussion um neue Finanzierungsquellen darauf zurückzuführen, daß die Bundesregierung den notwendigen Kassensturz auf jeden Fall vermeiden will.
({11})
Richtig, genauso ist es! Denn bei einem Kassensturz müßte der Bundesfinanzminister zugeben, daß er die Finanzprobleme nicht mehr im Griff hat, und er bzw. die ganze Bundesregierung müßte hinzufügen, daß es ohne zusätzliche Einnahmen nicht geht.
({12})
Das aber kann oder will sie nicht sagen aus Angst, man könne sie ein weiteres Mal bei einem Wortbruch ertappen.
({13})
Ich zitiere Maier-Mannhart aus der „Süddeutschen Zeitung" vom 3. September:
Was wäre schon dabei gewesen, den Solidaritätszuschlag, der immerhin im Jahr 22 Milliarden Mark eingebracht hat, zu verlängern? Niemand hätte deswegen auch nur eine Mark weniger investiert, die Wirtschaft hatte sich daran gewöhnt. Nun aber stiftet die Diskussion um neue Wege der Einnahmeverbesserung Verwirrung, riskiert man eine abermalige Kollision mit der Verfassung ({14}) oder eine nur marginale Haushaltsentlastung ({15}). Und dies alles nur deshalb, weil sich die Bundesregierung beim Solidaritätszuschlag so ungeschickt auf ein Jahr festgelegt hat und nun aus Angst, einer neuerlichen Steuerlüge bezichtigt zu werden, das Wort Steuererhöhung nicht in den Mund nehmen will.
({16})
Recht hat der Mann! Vernünftig wäre es gewesen, so zu verfahren, besser noch, unseren Vorschlag aufzugreifen und eine befristete Ergänzungsabgabe zu erheben, wofür Sie - anders als bei der Zwangsanleihe - eine Verfassungsänderung nicht brauchten und gegen die inzwischen auch der Arbeitgeberpräsident Murmann nichts mehr einzuwenden hätte, weil er - hören Sie gut zu, Herr Bundesfinanzminister, - die Finanzierung der deutschen Einheit so, wie sie derzeit läuft, für sozial unausgewogen hält.
({17})
Sie ist unausgewogen, Herr Bundesfinanzminister, denn die Zeche zahlen wieder einmal die Klein- und Mittelverdiener. Das wissen Sie auch! Deshalb sollten Sie schnellstens eine Korrektur vornehmen, statt das chaotische Spiel der letzten Tage fortzusetzen.
„Die Konfusion wächst", titelte dieser Tage die FAZ. Und in der Tat, die Sache wird lächerlich, wenn Tag für Tag neue Vorschläge zur Finanzierung der deutschen Einheit in die Mikrophone gehaucht werHans-Ulrich Klose
den, zumal, wenn dann der Bundesfinanzminister dem verstörten Publikum erklärt, zusätzliche Finanzmittel seien eigentlich gar nicht erforderlich. Zitat aus der FAZ vom 4. 9.: „Auch im Finanzministerium ist nicht klar, warum jetzt über die Finanzierung geredet wird, wenn noch bis 1995 Zeit ist".
({18})
Wahrheit und Klarheit, Herr Bundesfinanzminister: Wann endlich wird es wieder eine Haushalts- und Finanzpolitik geben, die diesen Anforderungen gerecht wird?
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In dieser Situation, für die das Eigenschaftswort „chaotisch" eher untertrieben ist, hofft der Kollege Schäuble, der sich, so habe ich den Zeitungen entnommen, neuerdings auch als Vordenker betätigt,
({20})
auf die „Vernünftigen in der SPD". Das ehrt uns, Herr Kollege Schäuble. Aber zuviel der Ehre; denn ich sage es Ihnen in aller Deutlichkeit: Wir, die SPD, sind nicht dazu da, Sie aus den Fallstricken der eigenen Unvernunft zu befreien.
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Das, meine Damen und Herren, müssen Sie schon selbst besorgen. Sagen Sie den Menschen endlich, wie die Lage ist, was getan werden muß und wie es finanziert werden kann! Sorgen Sie für Verläßlichkeit und Gerechtigkeit! Gerecht muß es zugehen, wenn Solidarität gefordert wird.
({22})
Und das heißt, es kann nicht akzeptiert werden, daß Sie bei den kleinen Leuten abkassieren, bei den Besserverdienenden aber nur leihen, um später zurückzuzahlen.
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Wenn es Ihnen wirklich um mehr Gerechtigkeit geht, dann lassen Sie die Idee einer Zwangsanleihe fallen, Herr Kollege Schäuble. Dem Kanzler - auch das entnehme ich den Zeitungen - gefällt die Idee nicht mehr.
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Der F.D.P. hat sie nie gefallen, und unseren Vorstellungen von sozialer Symmetrie entspricht sie auch nicht. Solche Kunstgriffe - um noch einmal den Kollegen Uldall zu zitieren, weil es so schön war - helfen Ihnen nicht weiter.
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Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten sind durchaus zur Zusammenarbeit mit der Regierung bereit, wenn es um die Sache und die Sorgen der Menschen geht. Wir haben Ihnen, Herr Bundeskanzler, dreimal, genau dreimal angeboten, bei der Gestaltung der deutschen Einheit mitzuwirken - ohne Regierungsbeteiligung. Sie haben dieses Angebot dreimal brüsk zurückgewiesen. Ihre Entscheidung! Aber jetzt müssen Sie auch Manns genug sein, mit den Problemen, die Sie nicht produziert, aber verschärft haben, allein fertig zu werden. Ihr Partner ist die F.D.P., nicht die SPD.
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Wir sind die Opposition, und wir werden uns, wie es unsere Aufgabe ist, kritisch und sachbezogen mit den Vorschlägen aus der Koalition beschäftigen, die unter Ihnen abgestimmt worden sind. Mit unausgegorenen, unabgestimmten Vorschlägen aus dem Koalitionslager werden wir uns nicht beschäftigen. Durchsichtige taktische Spielchen können Sie untereinander betreiben, nicht mit uns. Im Klartext, Herr Kollege Schäuble: Wenn Sie glauben, Sie könnten uns dazu benutzen, den Koalitionspartner zu piesacken, dann irren Sie sich. Wir sind für solche Spielchen nicht zu haben.
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Meine Damen und Herren, inzwischen hat uns die vom Herrn Bundeskanzler über die Medien bereits angekündigte Einladung zu einem Gespräch über den schon erwähnten „Solidarpakt" erreicht. Ich danke Ihnen sehr dafür, Herr Bundeskanzler. Es ist immer nett, von Ihnen eingeladen zu werden. Aber nach den wenig ermutigenden Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit mit solchen Gesprächen gemacht haben, sei es das Gespräch vom Oktober vergangenen Jahres, sei es dasjenige vom Mai dieses Jahres, füge ich hinzu: Es macht keinen Sinn, Gespräche zu führen, solange uns kein definitiver, abgestimmter Vorschlag von seiten der Regierungskoalition vorliegt, auf den wir uns verständigen sollten.
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Ich verstehe, daß Sie derzeit nicht in der Lage sind, einen solchen Vorschlag auf den Tisch zu legen. Das haben die vergangenen Tage hinreichend deutlich gemacht. Gleichwohl, Sie müssen uns schon vorher sagen, worüber Sie mit uns reden und wofür Sie unsere Zustimmung gewinnen wollen. Ein allgemeines Palaver bringt nichts.
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Im Gegenteil, es führt zu Enttäuschungen, wenn Erwartungen geweckt und hinterher nicht eingelöst werden. Noch einmal im Klartext: Die SPD wird nicht den Nothelfer spielen, der dieser Regierungskoalition
hilft, von der eigenen Handlungsunfähigkeit durch Gesprächsaktionismus abzulenken.
({30})
Meine Damen und Herren, was aus unserer Sicht in Deutschland geschehen muß, haben wir wiederholt gesagt. Ich wiederhole es:
Erstens. Wir müssen den weit fortgeschrittenen Prozeß der Entindustrialisierung in den neuen Bundesländern stoppen. Halten, was noch zu halten ist, das muß die Devise sein.
({31})
Treuhandunternehmen, die noch nicht privatisiert sind, die aber mittelfristig durchaus eine Chance haben, sich am Markt durchzusetzen, müssen eine reelle Sanierungschance erhalten. Die haben sie nur, das wissen wir alle, wenn sie eine Bestandsgarantie für mindestens drei Jahre bekommen. Denn wer engagiert sich bei einem Unternehmen als industrieller Partner oder als Kunde, wenn er damit rechnen muß, daß es dieses Unternehmen in drei oder fünf Monaten schon nicht mehr gibt? Ohne Bestandsgarantie keine Sanierung!
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Zweitens. Die Investitionsförderung muß verbessert werden. Nicht nur Verlängerung, nein, höhere Investitionszulagen und - das haben Sie vorgesehen - alternativ dazu bessere Abschreibungsbedingungen für die gewerblichen, industriellen und handwerklichen Bereiche sind geeignete Instrumente. Eine gezielte Mittelstandsförderung müßte hinzutreten. Professor Hamer hat kürzlich auf die Erfahrungen der „small business administration" in den USA hingewiesen. Das ist ein Hinweis, den wir, denke ich, aufgreifen sollten.
Drittens. Das wichtigste Instrument der Wirtschaftsförderung auf kommunaler Ebene ist die Bereitstellung von Grundstücken. Treuhand und Bundesvermögensverwaltung sollten daher bei der Verwertung von Immobilien diesen Gesichtspunkt stärker als bisher beachten. Ein bißchen hat sich da - das gebe ich zu - nach dem Gespräch vom 27. Mai geändert, aus unserer Sicht aber immer noch zu wenig.
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Viertens. Die ostdeutschen Betriebe leiden vor allem unter dem Verlust der Märkte in Osteuropa. Deshalb müssen gezielte, nach Branchen und Unternehmen unterschiedliche Marktzugangshilfen geleistet werden, nicht nur mit Geld, aber auch mit Geld. Dabei gebe ich durchaus zu: Es ist natürlich keine Dauerlösung, ostdeutsche Produkte zu vermarkten, indem man sie verschenkt. Im Ausnahmefall kann aber auch das sinnvoll sein, wie ich überhaupt dazu rate, bei der Hilfe für ostdeutsche Unternehmen das gleiche Maß an Phantasie und - wenn ich so sagen darf - Spucke aufzubringen, das regelmäßig mobilisiert wird, wenn es einem westdeutschen Unternehmen schlecht geht.
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Mindestens soviel an Phantasie und Hilfe wie hier für die Unternehmen müßte auch für jene dort im Osten geleistet werden.
Fünftens. Die Eigentumsregelung muß geändert werden,
({35})
übrigens aus zwei Gründen: zum einen, weil das derzeit geltende, schon zweimal geänderte Vermögensgesetz Investitionen behindert, zum anderen, weil den Menschen im östlichen Teil Deutschlands die Angst genommen werden muß, ihr Haus, ihre Wohnung oder ihre Existenzgrundlagen zu verlieren.
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Meine Damen und Herren, diesmal haben sich die Exzesse in Rostock an der Ausländerproblematik entladen. Frau Däubler-Gmelin hat in unserer Fraktion völlig zu Recht die Frage gestellt, was wohl passiert, wenn die ersten Mieter zwangsweise aus ihren an Westdeutsche zurückerstatteten Wohnungen herausgeworfen werden.
({37})
Ich bitte Sie, heute darüber nachzudenken und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
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Sechstens. Den Landwirten in den neuen Ländern muß bei der Zuteilung von Boden, Kapital und - ganz wichtig - Quoten geholfen werden. Die Milchquoten in Brandenburg basieren z. B. auf den Produktionsergebnissen vergangener Jahre. Sie sind ungerecht niedrig, so niedrig, daß sie zur Versorgung der eigenen Bevölkerung nicht ausreichen.
({39})
Da muß dann aus dem Westen importiert werden, statt die Produktion im Osten zu erhöhen - eine verrückte Situation.
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Siebtens. Es muß in Abstimmung mit den beteiligten Ländern ein Zukunftsinvestitionsprogramm aufgelegt werden, mit dessen Hilfe dringend erforderliche Projekte der wirtschaftlichen, ökologischen und baulichen Erneuerung durchgeführt werden können. Ein solches Programm würde eine Vielzahl von Arbeitsplätzen vor Ort schaffen und zur schnelleren Angleichung der Lebensverhältnisse beitragen. Nicht Politikerwort, sondern die Verfassung verpflichtet uns, dafür mit allen Kräften zu sorgen.
Achtens. Die aktive Arbeitsmarktpolitik für Menschen, die sonst arbeitslos wären, muß fortgesetzt, ja, sogar verstärkt werden. Jedenfalls für absehbare Jahre kann darauf nicht verzichtet werden. Bei älteren Arbeitnehmern gibt es dazu auch langfristig keine Alternative, nur die der Arbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren, mir ist völlig klar, daß sich auch bei einem solchen Programm die Probleme nicht von heute auf morgen lösen lassen. Die Aufgabe, vor der wir stehen, ist nicht leicht und schnell zu
bewältigen. Es dauert länger, und es kostet viel Geld. Aber ich sage Ihnen: Wenn wir nicht endlich anpakken, wird es noch länger dauern und noch mehr Geld kosten, zumal in der gegenwärtigen konjunkturellen Lage.
({41})
Wie die aussieht, wissen Sie: Wir haben einen Einbruch im Osten, wir haben eine deutliche Verlangsamung im Westen der Republik und in den wichtigsten Industrieländern. Das muß man doch beachten, wenn man über Finanzierungsinstrumente diskutiert.
Herr Bundeskanzler, Sie erinnern sich, daß wir Ihnen im Mai einen Vorschlag unterbreitet haben, wie zusätzlich ca. 45 Milliarden DM mobilisiert werden könnten. Sie, die Regierung und die Koalition, haben das damals alles abgelehnt, auch mit der Begründung, es passe nicht in die konjunkturelle Landschaft.
Nun gut, Herr Bundeskanzler, wenn das so war oder ist, dann sagen Sie uns doch bitte, wie die Zwangsanleihe, die Sie nun doch nicht wollen, der Kollege Schäuble aber immer noch will, in die konjunkturelle Landschaft paßt. Was der Kollege Lambsdorff davon hält, wissen wir; er hat sich dazu deutlich geäußert. Von Ihnen und dem Kollegen Schäuble wüßte ich es gerne.
Dabei weise ich vorsorglich auf folgendes hin: Wir haben die Ergänzungsabgabe vorgeschlagen, a) weil sie ein geeignetes Instrument ist, um die soziale Lücke, von der der Kollege Rühe gesprochen hat, bei der Finanzierung der deutschen Einheit zu schließen, b) mit der Maßgabe, daß sie bei Investitionen im Osten Deutschlands gemindert werden könnte, und c) mit dem Ziel, die dabei eingenommenen Mittel zumindest teilweise zur Haushaltskonsolidierung zu verwenden.
Letzteres erscheint mir besonders wichtig; denn die permanente Überforderung des Kreditmarktes, die die Zinsen nach oben treibt, wirkt sich höchst nachteilig auf Konjunktur und Investitionen aus, wie wir alle sehr wohl wissen. Die Zinsen sind inzwischen so hoch, daß die Finanzmärkte weltweit in Unordnung geraten. Die D-Mark wird künstlich - das ist doch die Wahrheit - stark gemacht und drückt auf die Kurse der anderen Währungen, nicht nur auf den Dollar, sondern auch auf die EWS-Währungen, was die Bundesbank, wenn die Bandbreiten erreicht werden, zur Intervention verpflichtet, was, wenn die stattfindet, die Geldmenge erhöht, was wiederum, der bisherigen Politik der Bundesbank folgend, zu einer Erhöhung der Zinsen führen müßte, und so weiter und so weiter.
Weil das so ist, haben die Finanzpolitiker ganz recht: Sparen ist das oberste Gebot. Wenn schon Einnahmeverbesserungen erforderlich sind - ich denke, sie sind erforderlich -, dann in einer Weise, die auch unter konjunkturellen Gesichtspunkten noch am ehesten erträglich ist. Mein Rat, Herr Bundeskanzler: Hören Sie auf den Arbeitgeberpräsidenten, der in der gegenwärtigen Situation die von uns geforderte Ergänzungsabgabe der von Ihnen, der Union, diskutierten Zwangsanleihe vorziehen würde. Ich glaube, Murmann weiß, wovon er spricht.
({42})
Wenn Sie sich dazu aber, Herr Bundeskanzler, nicht entschließen können, dann beenden Sie wenigstens das Chaos der vergangenen Tage. Nichts tun ist schon schlimm, aber nichts tun und verquer reden ist noch schlimmer.
({43})
- Ich sehe, daß Sie gequält gucken, Herr Schäuble. Lassen Sie das Reden doch, dann brauchen Sie nicht so verquer zu gucken.
({44})
Ich halte dieses Gerede für ganz schlimm - ich wiederhole das -, weil es die Stimmung im Westen und im Osten beeinträchtigt, und zwar bei den Menschen im Osten nachhaltiger, weil die sich in einer existentiellen Notsituation befinden. Dort nehmen - das erleben wir doch - Hoffnungslosigkeit und Wut zu.
Die FAZ hat der deutschen Politik dieser Tage ins Stammbuch geschrieben
({45})
- ja, ich lese Zeitungen; Sie werden sich wundern; das sollten auch Sie gelegentlich tun, wie ich überhaupt finde, daß Lesen bildet
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- ich zitiere -:
daß der historische Prozeß der deutschen Einigung nun auch im dritten Jahr im Stil eines gigantischen Immobiliendeals abgehandelt wird mit endlosen Debatten über Förderprogramme, Investitionshilfen, Zwangsanleihen und Sonderabschreibungen. Für alles, was darüber hinausgeht, für die Befangenheiten und die Ängste, die Mißverständnisse und die Differenzen, für das Gefühl von Stolz und Neid, von Vorherrschaft und Unterlegenheit - für alles das hat dieses Maklerdenken keinen Sinn. Äußerstenfalls sorgt man sich um die mentale Infrastruktur der Ostdeutschen und eine sogenannte Mauer in den Köpfen. Und beweist schon durch die Wahl der Wörter, daß man an eine Sache denkt, die von der Politik nicht mehr verstanden wird.
Soweit Konrad Adam in der FAZ.
({47})
Ich glaube, die Analyse ist zutreffend. Sie muß aber noch ein Stück weiter getrieben werden. Wir wissen seit den Untersuchungen der Soziologin Marie Jahoda „Die Arbeitslosen von Marienthal" vom Anfang der 30er Jahre und durch zahlreiche nachfolgende Untersuchungen - die jüngste dieser Tage vom Institut für angewandte Sozialforschung der Universität Köln -, daß Massen- und Dauerarbeitslosigkeit eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt wie für die Gesundheit der Menschen darstellen.
8718 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 103 Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. September 1992
Wenn die Mehrheit der erwachsenen Bewohner eines Dorfes, einer Stadt, einer ganzen Region ohne Arbeit ist, muß das Auswirkungen auf das gesamte soziale Gefüge haben, letzten Endes auch auf den sozialen Frieden.... Wenn es nicht gelingt, eine Lösung zu finden, die die Selbstachtung der Betroffenen respektiert und festigt, sind schwerwiegende gesellschaftliche und psychische Schäden unausweichlich. Sie werden sich in aggressivem antisozialen Verhalten und in psychischen Störungen ... niederschlagen.
Das war wieder ein Zitat aus der FAZ.
({48})
Diese sozialen und sozialpsychologischen Auswirkungen von Massen- und Dauerarbeitslosigkeit galten und gelten auch im Westen. Aber sie wirken potenziert im Osten Deutschlands, wo die Arbeitslosigkeit so gut wie keine Familie ausläßt, wo die Menschen in einer völlig neuen Situation um ein Vielfaches verunsicherter sind, wo die alte Werteordnung der DDR-Gesellschaft von heute auf morgen zerborsten,
({49})
aber keine neue, keine gefestigte Werteordnung an ihre Stelle getreten ist.
So wie die Vereinigung Deutschlands bisher gelaufen ist, hat sie viele Menschen um die Hoffnung auf ein besseres Leben betrogen.
({50})
Soziale Verunsicherung und existentielle Bedrohung haben den Menschen neue Demütigungen und Kränkungen zugefügt. Dies gilt vor allem für Jugendliche, die sich ohnehin in einer schwierigen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung befinden und rasch dazu neigen, sich ausgegrenzt und perspektivlos zu fühlen.
({51})
Der Grund - nicht die Rechtfertigung - für den erschreckenden Ausbruch von moralischer Haltlosigkeit, Haß und Gewalt, den wir jüngst erlebt haben, liegt vor allem in den schlimmen sozialen und sozialpsychologischen Auswirkungen eines Vereinigungsprozesses, den manche - ablehnend oder zustimmend - Okkupation nennen. Ob das angemessen ist oder nicht, fest steht, viele, erschreckend viele Menschen im Osten sind arbeitslos, wertelos und hoffnungslos. Ich sage das nicht, um die Exzesse von Gewalt und Haß, die die Republik erschüttern, zu entschuldigen. Verstehen heißt nicht, alles rechtfertigen und entschuldigen. Gewalt darf nicht sein. Sie ist nicht zu rechtfertigen. Wer Gewalt anwendet oder predigt, muß sich dafür vor den Gerichten verantworten.
({52})
Darin sind wir uns ja einig, und das ist gut so.
Gut war es auch, daß der Herr Bundespräsident sein Besuchsprogramm in Mecklenburg-Vorpommern spontan geändert und ein Heim für Asylbewerber besucht hat. Das war eine wichtige Geste, die sich wohltuend unterscheidet von den eher peinlichen Versuchen der zuständigen Landesregierung, ihr eigenes administratives Fehlverhalten kleinzureden. Dem Bundespräsidenten ist für diese Geste zu danken, die zugleich die Maßstäbe zurechtrückt.
Zuwanderung von Ausländern, steigende Zahlen von Asylbewerbern - diese Entwicklung belastet uns alle, vor allem die Kommunen vor Ort.
({53})
Wer aber glaubt, die Anwesenheit dieser Menschen sei der Grund für die erhebliche Explosion von Haß und Gewalt, der irrt.
({54})
Die Gewalt entsteht nicht spontan, sondern dadurch, daß es einer kleinen Gruppe extremistischer Drahtzieher gelingt, die latent vorhandene Aggression, die sich aus materieller und seelischer Not speist, gegen einen „Feind" zu lenken, in der Regel gegen Menschen, denen es noch schlechter geht. Gewalt als sinnstiftende Aktion - Grundmuster rechtsextremistischer Politik.
Meine Damen und Herren, es wäre verhängnisvoll - ich sage das in großem Ernst -, würden wir jetzt durch unser eigenes Reden und Tun diesen perfiden Mechanismus bestätigen.
({55})
- Sie begreifen es nie, Herr Bundeskanzler.
({56})
Wer jetzt sagt - Sie gehören offenbar dazu, und ich bedauere das -, es müsse nun ganz schnell das Asylrecht geändert werden, und daß, wenn es früher geändert worden wäre, dieses alles nicht geschehen wäre, der sagt nicht nur die Unwahrheit,
({57})
er gibt den Gewalttätern von Rostock und anderswo auch noch recht.
({58})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jedenfalls, Herr Bundeskanzler, muß es bei denen und den anderen, die sich nicht nur klammheimlich über die Aktion der Jugendlichen gefreut haben, so ankommen, und das wäre - ich wiederhole es mit vollem Ernst - verhängnisvoll.
({0})
- Herr Kollege Schäuble, ich habe gesagt, ich wollte nicht.
({1})
Noch glaube ich, Herr Kollege Schäuble, da Sie ja so milde lächeln, daß Sie es ähnlich sehen.
({2})
Ich wünschte mir jedenfalls, daß es so wäre und daß Sie es einmal so hier im Bundestag, nämlich in der richtigen Reihenfolge, auch sagen würden.
({3})
Denn dann, Herr Kollege Schäuble, aber nur dann, haben wir die Chance, das Zuwanderungsproblem als Gesamtproblem, so wie wir es im April diesen Jahres hier in diesem Hause debattiert haben, zu lösen, und zwar noch in diesem Jahr. Wir Sozialdemokraten wollen das.
({4})
Wir sagen auch - ({5})
- Sie haben guten Grund, verzweifelt zu sein. Aber ich werde Ihnen gleich sagen, warum.
({6})
Und ich füge diesen Satz hinzu: Sie können den ernst nehmen oder Sie können es auch lassen, Herr Kollege Schäuble. Dann machen wir halt einen Hickhack, und dann werden Sie sehen, wie weit Sie damit kommen. Sie sind doch die Regierung.
({7})
Und wenn Sie meinen, Sie könnten alles machen, dann machen Sie es doch!
({8})
- Regen Sie sich mal nicht auf. Wenn Sie der Auffassung sind, Sie müßten gemeinsam mit uns ein Problem lösen, weil es nicht anders geht, dann merken Sie sich, wir tanzen nicht nach Ihrer Pfeife, sondern dann muß man darüber reden, wie es gehen soll.
({9})
Ich weiß ja, Sie sind stets im Besitz der absoluten Wahrheit. Aber ich sage Ihnen, in der Politik gibt es keine absolute Wahrheit.
({10})
Und in dieser Frage haben Sie sie nicht gepachtet.
({11})
Allerdings haben Sie die Meisterschaft gepachtet, demagogisch mit diesem Thema umzugehen. Das haben Sie in der Tat gepachtet.
({12})
Da ich, meine Damen und Herren, an einer Lösung dieses Problems interessiert bin, sage ich noch einmal klar: Ich bin dafür, gerade weil das Thema so aufputscht, daß man der Bevölkerung die Wahrheit sagen muß, und zwar zu jeder Zeit, nicht nur hier, auch draußen und an den Stammtischen.
({13})
- Hören Sie erstmal zu. Es ist manchmal ganz nützlich zuzuhören und dann den Mund aufzumachen.
({14})
Ich sage der Bevölkerung von hier aus so wie ich es auch auf der Straße sage: Das Problem lösen, heißt nicht, daß künftig keine Ausländer mehr kommen. Eine solche Lösung gibt es in Zeiten der Völkerwanderung nicht,
({15})
es sei denn, wir entschließen uns, was der Justizminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern offenbar will, eine Mauer zu ziehen und die Festung dichtzumachen. Er hat wirklich gesagt, eine Mauer zu ziehen. Das hat er gesagt, Herr Bundeskanzler.
({16})
Meine Damen und Herren, wir wollen das jedenfalls nicht, damit es da keine Mißverständnisse gibt. Wir können es im übrigen auch gar nicht.
({17})
Was wir können und versuchen müssen, ist, eine vernünftige Steuerung, Kontrolle und Begrenzung der Zuwanderung zu erreichen. Das schaffen wir nur, wenn wir die Diskussion nicht immer wieder auf einen wohlgefälligen Teilaspekt, den Art. 16, verkürzen.
({18})
Daß wir bereit sind, auch über diesen Teilaspekt zu reden und eine Ergänzung des Art. 16 nicht ausschließen, haben wir wiederholt gesagt. Wir sind bereit, mit Ihnen darüber zu reden.
({19})
Aber, Herr Kollege Schäuble, auch wenn Sie es nicht gerne hören, wir wüßten auch gern, was die Koalitionsfraktionen denn gemeinsam zu tun bereit sind.
({20})
Wir hatten gehofft, weil wir ja darüber geredet haben, das würde nach der Sommerpause klar sein. Das ist es aber mitnichten. Wenn ich den Kollegen Solms richtig verstanden habe, so will er das auch gar nicht festlegen, was ich einerseits verstehe, andererseits aber bedauere, weil es dazu führt, daß ständig nachgelegt wird, jüngst durch den Kollegen Eylmann, so daß am Ende nicht mehr klar ist, ob die Geschäftsgrundlage noch stimmt. Sie lautete bisher: Das Individualrecht auf Asyl soll erhalten bleiben. An dieser Geschäftsgrundlage halten wir Sozialdemokraten fest und zugleich an der Absicht, einer Neuregelung nur dann zuzustimmen, wenn sie etwas bewirkt, und zwar im Sinne von Steuerung und Begrenzung.
({21})
An kosmetischen Operationen werden wir uns ebensowenig beteiligen wie an der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl.
({22})
Gestatten Sie mir im Hinblick auf die Stimmung in den neuen Ländern noch zwei Anmerkungen, eine Nachbemerkung und eine Bitte. Bei der Haushaltsdebatte des vergangenen Jahres hatte ich davor gewarnt, den Jugendsender DT 64 - ich nehme an, Sie erinnern sich - zu schließen. Er ist gleichwohl geschlossen worden - leider. Denn wenn es richtig ist, daß die Menschen im Osten und vor allem die Jugendlichen arbeitslos, wertelos und hoffnungslos sind, dann darf man ihnen nicht die letzten Identifikationspunkte wegnehmen, die sie noch haben.
({23})
DT 64 war ein solcher Punkt. Er ist verschwunden. Ich bedauere das.
Mit einer zweiten Bitte wende ich mich persönlich an Sie, Herr Bundeskanzler. Es geht um folgendes: Die Mittel für die Unterstützung der kulturellen Einrichtungen in den neuen Ländern werden durch den vorgelegten Haushalt drastisch reduziert, nämlich um über 60 %. Die Folgen sind absehbar: Viele der jetzt noch bestehenden kulturellen Einrichtungen werden kaputtgehen.
Herr Bundeskanzler, ich denke - ich hoffe es zumindest -, daß Sie verstehen, worauf ich hinaus will. Wenn in den neuen Ländern, in denen ökonomisch und sozial so viel weggebrochen ist, jetzt auch noch die kulturellen Einrichtungen verschwinden, dann wird dies die psychologische und emotionale Destabilisierung weiter vorantreiben.
({24})
Ich bitte Sie herzlich - ich betone: Ich bitte Sie
herzlich -, das zu überdenken und die vorgesehene
Reduzierung der Mittel für diesen Zweck rückgängig
zu machen oder doch wenigstens zu mildern. Bei der Kultur zu sparen, wenn existentielle Nöte und Ängste wachsen, ist leichtfertig. In der konkreten Situation wäre es ein nicht wiedergutzumachender Fehler.
({25})
Ich schließe mit einem Zitat:
Wir stecken ... nicht nur in einer wirtschaftlichen Krise. Es besteht eine tiefe Unsicherheit, gespeist aus Angst und Ratlosigkeit, Angst vor wirtschaftlichem Niedergang, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst um Umweltzerstörung, vor Rüstungswettlauf, Angst vieler junger Menschen vor ihrer Zukunft.
Es heißt weiter:
Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt. Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes.
Es waren Ihre Worte, Herr Bundeskanzler, in der Regierungserklärung vom 13. Oktober 1982. Mit diesen Worten begründeten Sie die Notwendigkeit einer neuen Regierung. Ich mache mir diese Worte für die heutige Situation zu eigen,
(Beifall bei der SPD -
Sehr gut! - Dr. Wolfgang Schäuble [CDU/CSU]: Am besten hätten Sie die ganze Regierungserklärung noch einmal verlesen! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU)
denn, Herr Bundeskanzler, noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg - ja, ich glaube, noch nie - standen in Deutschland Demokratie und Gesellschaft vor derart großen Herausforderungen.
({0})
Ich empfinde deshalb keine Schadenfreude, sondern Besorgnis angesichts der Stagnation von Politik. Es gibt in dieser Bundesregierung in wesentlichen Fragen keine Übereinstimmung, keine abgestimmten Sachentscheidungen der regierenden Koalitionsfraktionen mehr. Es gibt offensichtlich auch keine Inanspruchnahme der Richtlinienkompetenz durch den Bundeskanzler. Vor dem Vorhang wird auf dem Vulkan getanzt, und dahinter ist nichts, gähnende Leere.
Wer die Kommentarlage zur Kenntnis nimmt, wird zugeben müssen: Dies ist nicht nur unser Eindruck, sondern es ist der allgemeine Eindruck im Lande. Es gelingt dieser Regierung, dieser nicht regierenden Regierung nicht, eine positive Vision für das vereinigte Deutschland zu entwickeln.
({1})
Dabei, Herr Bundeskanzler, sind doch die Grundlagen für eine solche Vision vorhanden: die AußenpoliHans-Ulrich Klose
tik der alten Bundesrepublik, die auf Ausgleich und Versöhnung angelegt war und - im westlichen Bündnis verankert - auch im Osten vertrauensbildend gewirkt hat; die in 40 Jahren bewiesene demokratische Verläßlichkeit der Westdeutschen - die Ostdeutschen hatten ja keine Chance dazu -; die außerordentliche Leistung der Ostdeutschen, die das nicht mehr von Moskau gestützte kommunistische Regime in einer gewaltlosen Revolution gleichsam über Nacht weggeräumt haben.
Diese positiven Punkte der jüngeren deutschen Geschichte müßten uns doch die Kraft geben, den Wiederaufbau Deutschlands als das zu begreifen, was er tatsächlich ist: als Chance, durch den intelligenten Wiederaufbau zerstörter Strukturen im Osten, bei dem aus den Erfahrungen und Fehlern im Westen die notwendigen Konsequenzen gezogen werden, ein besseres Gesamtdeutschland aufzubauen; also nicht Übertragung der westdeutschen Wirklichkeit auf die neuen Länder, damit die Menschen dort möglichst bald so leben wie wir im Westen, sondern die Entwicklung einer neuen gesamtdeutschen Wirklichkeit, die den Deutschen insgesamt bessere Lebensperspektiven für die Zukunft bietet - ökonomisch, sozial, ökologisch und - nicht zu vergessen - kulturell.
Herr Bundeskanzler, wir haben die Chance, noch haben wir die Chance. Wir dürfen sie nicht verspielen.
({2})
Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Wolfgang Bötsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Forderung der SPD im Vorfeld dieser Debatte, die Haushaltsberatungen auszusetzen,
({0}) war absurd,
({1})
denn der Haushalt 1993 ist
({2})
solide finanziert,
({3})
auch wenn Sie Ihre Unsicherheit durch Lachen zu überbrücken versuchen und auch wenn Frau Matthäus-Maier und der Kollege Klose heute einen anderen Eindruck erwecken wollen.
({4})
Ich danke dem Bundesfinanzminister für die ausgezeichnete Arbeit,
({5})
die er mit der Vorlage des Haushaltsentwurfs 1993 geleistet hat.
({6})
hr hat diesen Bundeshaushalt rechtzeitig vorgelegt. Das ist eine Tatsache, die zu Zeiten sozialdemokratischer Finanzminister nicht selbstverständlich war, obwohl wir damals nicht mit solch großen Herausforderungen wie heute konfrontiert waren. Ich danke dem Bundesfinanzminister ferner
({7})
- das sage ich Ihnen gleich - für die umfangreiche Abstimmungsarbeit mit den Koalitionsfraktionen vor der Verabschiedung des Haushalts im Kabinett. - Herr Kollege Struck, der Zwischenruf: „Wo ist er eigentlich?" ist unberechtigt.
({8})
Sie wissen selbst, daß der Bundesfinanzminister im Vorfeld dieser Haushaltsberatungen gewaltige Arbeit zu leisten hatte und daß er in diesen Tagen gewaltige Arbeit zu leisten hat. Angesichts dessen ist es wirklich vertretbar, wenn er sich kurzfristig einmal durch seinen Parlamentarischen Staatssekretär auf der Regierungsbank vertreten läßt. Ich empfinde diesen Zwischenruf als unangemessen.
({9})
Meine Damen und Herren, die Begrenzung des Ausgabenzuwachses auf 2,5 % bei einem gleichzeitigen Anstieg der Bundesleistungen an die jungen Länder um 6,9 % und die weitere Rückführung der Neuverschuldung zeigt den einzig richtigen Konsolidierungskurs auf, der für eine positive gesamtwirtschaftliche Entwicklung unverzichtbar ist. Die Kapitalmärkte werden entlastet. Die Rückkehr zur Preisstabilität wird gefördert. Die Erwartungen auf den internationalen Finanzmärkten werden nicht enttäuscht. Die D-Mark bleibt stabil.
Die erfolgreiche Konsolidierungspolitik der Bundesregierung knüpft an die erfolgreiche Politik der 80er Jahre an, Ausgabenzuwächse deutlich niedriger als den Zuwachs des Bruttosozialprodukts zu halten. Gemessen am Bruttosozialprodukt sind die Schulden niedriger als 1981, dem letzten vollen Jahr sozialdemokratischer Regierungsverantwortung,
({10})
obwohl damals wesentlich weniger Aufgaben zu bewältigen waren.
Meine Damen und Herren, insofern sollten Sie erkennen, daß es zu der soliden Haushalts- und Finanzpolitik von Theo Waigel und der gesamten Bundesregierung keine seriöse Alternative gibt.
({11})
Sie haben - jedenfalls was den Verlauf der bisherigen Debatte anlangt - keine Alternativen aufgezeigt. Sie haben sich zwar im Entwurf eines Sofortprogramms für eisernes und konsequentes Sparen ausgesprochen. Auf Länderebene, wo sozialdemokratische Finanzminister Verantwortung tragen, können Sie zeigen, wie ernst es Ihnen damit ist.
({12})
Und auch Ihr Parteivorsitzender, Herr Ministerpräsident Engholm, kann dies zeigen. Auf Ihren Zwischenruf hin: Ich meine damit alle westlichen Bundesländer ohne Ausnahme, Herr Kollege, das will ich Ihnen durchaus zugestehen.
({13})
-Es wird auch in absehbarer Zeit keine geben, davon können Sie ausgehen.
({14})
Meine Damen und Herren, im Zuge des Einigungsprozessses, des revolutionären Umbruches in Osteuropa und im Zuge der Veränderungen in der Europäischen Gemeinschaft stellen wir natürlich auch eine tiefgreifende Verunsicherung der Bevölkerung fest. In den neuen Ländern stehen die Menschen vor schwierigen ökonomischen, sozialen und auch mentalen Anpassungsbelastungen. Herr Kollege Klose, Sie haben das heute angesprochen, Sie haben es auch beklagt. Nur haben Sie sich ein ziemlich unpassendes Beispiel dafür ausgesucht, nämlich ausgerechnet die Milchquoten. Wenn Ihr Argument richtig wäre, daß man Brandenburg mehr Milchquoten zuteilen müßte, weil die Menschen dort durch die zugeteilten Milchquoten nicht selbst versorgt werden können, dann müßten Sie auch Nordrhein-Westfalen sofort mehr Milchquoten zuteilen, weil auch die Menschen in Nordrhein-Westfalen natürlich durch die zugeteilten Milchquoten nicht versorgt werden können.
({15}) Dieses Beispiel stimmt also wirklich nicht.
Auf der anderen Seite wächst aber auch in den alten Ländern die Sorge - das dürfen wir auch nicht übersehen - vor einer gesamtwirtschaftlichen Überforderung.
Ein weiterer Punkt, der die Menschen heute beunruhigt, ist, daß die in Maastricht erreichten Fortschritte beim europäischen Integrationsprozeß - und das waren Fortschritte - Furcht vor dem Verlust eigener nationaler Integrität auslösen. Der gewaltige Umbruch in den Staaten des ehemaligen Warschauer Paktes hat Hoffnungen auf dauerhaften Frieden erweckt, die sich offenbar nicht überall erfüllen, was sich besonders im ehemaligen Jugoslawien zeigt, wenige hundert Kilometer vor unserer Haustür.
Der Zusammenbruch des Marktes im Osten Europas löst darüber hinaus Befürchtungen über eine Wohlstandsgrenze mitten durch Europa mit dem damit verbundenen Zuzug aus, den wir im Rahmen von Asylverfahren, aber nicht nur hier, deutlich beobachten. Daneben müssen wir eine zunehmende Gefährdung der inneren Sicherheit, insbesondere durch die organisierte Kriminalität, feststellen.
Meine Damen und Herren, CDU und CSU haben den innen- und außenpolitischen Handlungsbedarf erkannt. Sie haben ihn nicht nur erkannt, sie haben gehandelt, ihre Konzepte vorgelegt, und sie werden zusammen mit dem Koalitionspartner F.D.P. auch in Zukunft handeln.
({16})
Nur, meine Damen und Herren, wir tragen die Verantwortung für die Herausforderungen in dieser Zeit des Umbruchs nicht allein. Denn auch Sie, meine Damen und Herren von der SPD, tragen mit Ihrer Mehrheit im Bundesrat und als stärkste Oppositionspartei im Deutschen Bundestag Verantwortung.
({17})
Ich sage das mehr hoffnungsvoll für die Zukunft, obwohl Sie dieser Verantwortung in den vergangenen Jahren nicht gerecht wurden.
({18})
Herr Kollege Klose, Sie haben heute nach der Methode „Haltet den Dieb! " gesagt: Sie müssen handeln, wir setzen uns dann damit auseinander! - Ihre Alternativen, die Sie dazu vorgetragen haben, waren mehr als dünn. Sie haben versagt, etwa im Einigungsprozeß.
({19})
Sie haben lange Zeit die Atmosphäre in Deutschland vergiftet, indem Sie im Osten Forderungen aufstellten, diese aber gleichzeitig im Westen zurückgewiesen und die Bevölkerung aufgehetzt haben.
({20})
Diese Verhaltensweise beruhte darauf, daß Sie die deutsche Einheit nicht wollten und sich lange nicht damit abfinden konnten.
({21})
- Frechheit? Noch im Herbst 1989 kritisierte der heutige SPD-Vorsitzende Engholm, daß sich keiner hinstellt und zur Wiedervereinigung sagt: Das geht nicht! - Jedenfalls war das in einem großen Magazin so nachzulesen.
({22})
- Alter Käse? Ich kann Ihnen noch mehr aus der Vergangenheit auftischen, was Ihnen möglicherweise unangenehm ist, z. B. was wir vor kurzem lesen konnten: Vertreter der SPD haben die SED, eine Partei, die unsere Landsleute über 40 Jahre aller Freiheitsrechte beraubt hat, die für Stasiwillkür und Todesstreifen verantwortlich war, und deren höchsten Repräsentanten um Wahlhilfe ersucht.
({23})
Meine Damen und Herren, dieser Skandal betrifft die SPD-Kanzlerkandidaten Rau und Lafontaine. Sie sind deshalb als Kanzlerkandidaten zu Recht gescheitert. Aber auch der heutige SPD-Vorsitzende Engholm hat als schleswig-holsteinischer Ministerpräsident Wahlhilfe von der SED angefordert,
({24})
- also erbeten , man solle doch einen Badesee freigeben. Das bietet die Voraussetzung, daß auch er als Kanzlerkandidat scheitern wird,
({25})
und zwar deshalb, meine Damen und Herren, weil diese Regierung mit Helmut Kohl als Kanzler der Einheit von 1990 und diese Koalition auch 1994 das Vertrauen der Wähler wieder erhalten wird.
({26})
Denn sie hat den Wählerauftrag 1990 erhalten, und sie wird ihn erfüllen, und wir werden dafür die Voraussetzungen schaffen.
({27})
Meine Damen und Herren, Kollege Klose hat ausführlich zur Problematik der Asylpolitik Stellung. genommen. In seinem Beitrag hat sich alles widergespiegelt, was dazu im Augenblick an Diskussion bei der SPD im Gange ist. Wir müssen feststellen, daß in den ersten acht Monaten dieses Jahres auf Grund Ihrer Verweigerungspolitik mit 274 000 Asylbewerbern 18 000 mehr eintrafen als im gesamten vergangenen Jahr.
({28}) - Das sind die Zahlen, das ist kein Schmarrn.
Darunter befinden sich nur zu einem geringen Bruchteil wirklich politisch, rassisch oder religiös Verfolgte.
({29})
Dieser unkontrollierte Zustrom von ausländischen Flüchtlingen kann selbst bei voller Anwendung des am 1. Juli in Kraft getretenen Beschleunigungsgesetzes für die Asylverfahren ohne eine Änderung des Grundgesetzes nicht bewältigt werden. Es ist schon ein starkes Stück, daß Ihre Ministerpräsidenten Scharping und Eichel die Unverschämtheit besessen haben, den Bundesinnenminister für diese Entwicklung verantwortlich zu machen.
({30})
Rudolf Seiters hat immer darauf hingewiesen, Wolfgang Schäuble hat darauf hingewiesen, ich habe darauf hingewiesen, daß wir dieses Beschleunigungsgesetz zwar verabschieden, aber davon überzeugt sind, daß es allein nicht reicht.
({31})
Wir haben das gemacht, weil Sie sich einer Änderung der Verfassung verweigert haben, meine Damen und Herren!
({32})
Und deshalb haben wir es begrüßt, als wir glauben konnten, es gäbe nach Ihrer Petersberger Klausurtagung eine Wende in der Asylpolitik. Wenn Sie dazu endlich bereit wären, nachdem Sie in der Vergangenheit zu den dringenden Problemen hier Nein gesagt haben, eine Änderung mitzumachen, dann würden wir das begrüßen. Aber ich warne vor zu frühem Applaus. Der verlockende Duft vom Petersberg
könnte sich bald verflüchtigen, wie schwaches Parfüm angesichts der vielen Gremien, die bei Ihnen bereits nein gesagt haben und die Sie jetzt noch in die Beratungen mit einbeziehen wollen. Der Beifall, der auf seiten der SPD gerade bei den kritischen Passagen zu diesem Thema in der Rede von Herrn Klose aufgebrandet ist, zeigt die ganze Verlegenheit, die Sie in dieser Frage an den Tag legen.
({33})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die CDU/CSU-Fraktion hat gestern einstimmig beschlossen, daß wir in Bälde, noch im Oktober, hier im Deutschen Bundestag über die Änderung der Asylverfahren abstimmen wollen. Wir müssen darüber abstimmen. Die Politiker könnten noch warten. Aber die Bevölkerung kann mit der Lösung des Problems nicht mehr warten.
({34})
Wir vertreten diese Politik nicht auf Grund der Unruhen, die in Hoyerswerda begonnen und in Rostock, Cottbus und anderswo ihre unrühmliche Fortsetzung gefunden haben. Herr Kollege Klose, mit Ihren Eingangsbemerkungen in diesem Zusammenhang stimmen wir voll und ganz überein. Es gibt keinen Rassismus in Deutschland, und noch so großer Unmut über politisches Fehlverhalten oder über nicht gelöste politische Probleme kann Gewalt gegen Ausländer oder gegen Sicherheitskräfte nicht rechtfertigen.
({35})
Da gibt es keinen Beifall, und da gibt es kein Verständnis, sondern da gibt es nur Abscheu und Empörung zu äußern. Allerdings muß ich eines hinzufügen. Wir haben immer gesagt: Wer die Mißbräuche des Asylrechts nicht bekämpft, der fördert, wenn auch unbewußt, die Ausländerfeindlichkeit. Leider haben wir mit dieser Warnung recht gehabt. Deshalb ist es höchste Zeit zu handeln.
Herr Kollege Klose, Sie haben Gespräche angeboten. Sie selbst haben vor einigen Tagen geäußert, daß Sie nicht die Arbeitsergebnisse der Gremien in der SPD abwarten wollen. Wir sind bereit, in Gespräche einzutreten. Nur geht es natürlich nicht, daß Sie, die Sie sich in dieser Frage jahrelang verweigert haben, plötzlich die Justizministerin angreifen. Auch ich habe mit ihrer Zeitvorstellung nicht übereingestimmt. Aber, Herr Kollege Klose, Sie haben kein Recht, Frau Leutheusser-Schnarrenberger anzugreifen, weil sie etwas zögerlich gewesen ist.
({36})
Nein, meine Damen und Herren, Sie haben jahrelang gezögert; dann können Sie ihr nicht vorwerfen, wenn sie sich einige Wochen zum Überlegen nehmen will.
({37})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie haben durch eine verantwortungslose Politik auch in anderen Bereichen der inneren Sicherheit auf sich aufmerksam gemacht. Es waren Regierungen unter Ihrer Verantwortung, die jahrelang Hausbesetzungen geduldet haben,
({38})
wodurch das Rechtsbewußtsein sichtbaren Schaden genommen hat. Das darf man auch nicht übersehen.
({39})
Auch all jene, die Kritik am konsequenten Vorgehen der Polizei beim Münchener Weltwirtschaftsgipfel geübt haben,
({40})
sollten sich heute ihrer möglicherweise unbeabsichtigten Mitverantwortung bewußt werden, die andere ermuntert,
({41})
auf Tatenlosigkeit der Polizeikräfte zu spekulieren.
({42})
Wir brauchen Rechtsbewußtsein und Solidarität, um den gefährlichen Entwicklungen beim organisierten Verbrechen und vor allen Dingen bei der Rauschgiftkriminalität entgegenzuwirken. Die Berichte des Präsidenten des Bundeskriminalamts, Herrn Zachert, seine Äußerungen von vorgestern, sind besorgniserregend. Die wehrhafte Demokratie steht auch bei diesen Punkten auf dem Prüfstand. Der Kultur der Passivität und des Wegsehens, die sich hier teilweise entwickelt, müssen wir entgegenwirken. Aber wie wollen wir das von den Bürgern verlangen, wenn die Politik insgesamt nicht in der Lage ist, hier Zeichen zu setzen?
„Der Staat muß sich gegen Gangster wehren können, auch mit versteckten Kameras und Anlagen. " Das war ein Zitat. Das sagte der SPD-Vorsitzende Björn Engholm in einer deutschen Illustrierten am 3. September. Eine bemerkenswerte Wende. Es wäre jedoch besser gewesen, wenn sie früher gekommen wäre und wenn sie insbesondere jetzt von der gesamten SPD mitgetragen würde.
({43})
Meine Damen und Herren, ich weiß nicht, wie sich Ihre Gremien in bezug auf den Gesamtbereich der deutschen Außenpolitik und der gestiegenen Verantwortung Deutschlands entscheiden werden. Nicht um neue Macht auszuüben, sondern um der von uns geforderten internationalen Solidarität gerecht zu werden, sage ich: Wer internationale Solidarität verweigert, obwohl es um die gemeinsame Sicherung des Friedens und der Menschenrechte geht, der macht sich mitschuldig, wenn dann andere glauben, sie könnten auf Grund dieser verweigerten internationalen Solidarität Schindluder treiben.
Partnerschaft ist immer ein Prinzip deutscher Außenpolitik gewesen. Das vereinte Deutschland darf hier keine Sonderrolle anstreben, die es in die Isolierung treiben würde, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Wir haben darüber während der Sondersitzung des Deutschen Bundestages im Juli ausführlich diskutiert. Ich habe damals das Nötige gesagt. Das Beispiel Jugoslawien zeigt uns nach wie vor in erschreckender Weise die Notwendigkeit dieser internationalen Solidarität zur Erhaltung des Weltfriedens und der Menschenrechte. Wir müssen die UNO für diese Aufgabe handlungsfähig machen. Wir müssen aber auch die Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft auf diesem Gebiet stärken. Vor allem wollen wir die europäische Außen- und Sicherheitspolitik effizient gestalten. Eine Beschränkung der Bundeswehr auf Blauhelmaktionen der UNO würde nicht nur der nach unserer Überzeugung geltenden Verfassungslage hinterherhinken, sondern sie würde auch dem aktuellen Handlungsbedarf nicht entsprechen.
Meine Damen und Herren, die ökonomischen und ökologischen Altlasten von vierzig Jahren Sozialismus in den jungen Ländern sind größer, als von Bundesregierung, Bundesbank, Wirtschaftsforschungsinstituten und Wirtschaftsverbänden erkannt werden konnte. Die DDR war eben nicht die Wirtschaftsmacht, als die sie Lafontaine noch 1989 bezeichnet hat.
({44})
Deshalb gilt um so mehr: Aufschwung Ost ist nur auf der Grundlage von Wachstum West möglich. Die gewaltigen Aufgaben für die neuen Länder bedürfen unverändert der Akzeptanz im Westen, wo die Beiträge vornehmlich über Steuern, Abgaben und Gebühren aufgebracht werden. Ich meine, wir müssen aufpassen, daß wir nicht ein Gefühl der Überforderung auslösen, das möglicherweise subjektiv größer ist, als die tatsächlichen Anforderungen wirklich sind.
Wir sind darüber hinaus als Wirtschaftsstandort Deutschland einem immer härter werdenden internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Unsere Konkurrenten auf den Weltmärkten schlafen nicht. In Amerika - das ist während der parlamentarischen Sommerpause in den Nachrichten fast etwas untergegangen - entsteht ein riesiger Binnenmarkt von Kanada bis Mexiko. Er wird mehr Menschen umfassen als der europäische Binnenmarkt, der am 1. Januar 1993 in Kraft tritt. Japan hat ein 170 Milliarden DM umfassendes Konjunkturprogramm beschlossen. Das zeigt, wie ernst dort der Wettbewerb genommen wird.
Meine Damen und Herren, in dieser Situation müssen auch Länder und Kommunen - darauf komme ich noch zurück - Verantwortung für die wirtschafts- und finanzpolitische Bewältigung des Wiedervereinigungsprozesses übernehmen. Er wird nur gelingen, wenn auch sie einen konsequenten Kurs der Ausgabenbegrenzung einhalten.
({45})
Verantwortung trägt hier auch der Bürger selbst. Verantwortung tragen die Tarifparteien, die sich auf
kleiner werdende Verteilungsspielräume einstellen müssen. Deshalb brauchen wir einen umfassenden Solidarpakt, diesen Konsens der Vernunft und der Solidarität, um die Zukunft zu sichern.
Ich danke dem Bundeskanzler, daß er die Initiative für diesen Solidarpakt gestartet hat und verschiedene Organisationen, Verbände, Körperschaften zum Gespräch eingeladen hat.
({46})
Herr Bundeskanzler, die volle Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion haben Sie bei diesem Vorhaben. Wir werden an der Realisierung tatkräftig mitarbeiten.
({47})
Meine Damen und Herren, der gewaltige Umbruch in Europa mit seinen weltpolitischen Auswirkungen bringt für Deutschland gewaltige Herausforderungen und die Notwendigkeit der Neubestimmung des eigenen Standortes mit sich. Die Deutschen können ihre Bewährungsprobe jedoch nur bei einer Neubesinnung auf das Gemeinwohl bestehen. Solidarität und Eigeninitiative sind Merkmale der Sozialen Marktwirtschaft. Sie müssen jetzt in allen Bereichen verstärkt zur Geltung kommen. In diesem Sinne ist nicht nur die Regierung gefordert, sondern auch die Opposition, die Länder und Kommunen und der einzelne Bürger. Ich bin zuversichtlich, daß uns dieser Solidarpakt der Vernunft gelingen wird. CDU und CSU werden ihren Beitrag dazu leisten.
({48})
Als nächster Redner Otto Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bin seit 20 Jahren an den Haushaltsdebatten im Deutschen Bundestag beteiligt. Ich kann mich an keine erinnern, der ein derart dissonantes Konzert, eine derart konfuse politische Diskussion vorhergegangen wäre.
({0})
Beteiligt haben sich daran alle Fraktionen dieses Hauses.
({1})
Mut macht das alles nicht, es fördert den Mißmut.
Wir streiten uns um Finanzierungsmodelle. Wer erklärt eigentlich, wozu und wofür er jetzt so dringend Mittel aus was für Anleihen auch immer benötigt?
({2})
Der Bundesfinanzminister versichert uns das Gegenteil. Er erklärt, neue Einnahmequellen jetzt nicht zu brauchen. Geld ist nicht alles, sagt der Ministerpräsident von Thüringen. Die Stadt Leipzig, so hört man - das mag ein Ausnahmefall sein -, gewährt der Stadt Hannover einen Kredit von 100 Millionen DM.
({3})
Aber, meine Damen und Herren, wie sollen die Bürger im Lande eine solche Diskussion eigentlich verstehen? Wer spricht noch vom Verzicht auf Zuwachs im Westen für den Aufbau im Osten?
({4})
Wer spricht eigentlich noch vom Sparen? Zu diesem Thema hat Frau Matthäus-Maier gestern Richtiges gesagt. Aber wenn es ans Eingemachte geht, z. B. beim Subventionsabbau, dann ist die SPD fast immer dagegen.
({5})
- Frau Matthäus, ich will Ihnen gerne ein Beispiel nennen: Haben Sie nicht den Bundeswirtschaftsminister massiv behindert, die Subventionen im Steinkohlenbergbau abzubauen, und tragen Sie nicht auf diese Weise dazu bei, daß ein freigesetzter westdeutscher Steinkohlenarbeiter 100 000 DM bekommt und der Braunkohlenarbeiter in der Lausitz immer noch nur 7 000 DM bekommt? Wie soll das denn weitergehen?
({6})
Wo, meine Damen und Herren, ist die Bereitschaft in Ländern und Gemeinden, den Ausgabenzuwachs auf 3 % zu begrenzen? Was die hessische Finanzministerin hier gestern vorgetragen hat, war der Gipfelpunkt schäbiger und eigensüchtiger Politik und die Verweigerung der alten Länder.
({7})
Die alten Länder, meine Damen und Herren, haben bisher an der deutschen Einheit verdient und nicht zu ihrer Finanzierung und ihrer Gestaltung beigetragen.
({8})
Stimmt es, daß Hamburg jetzt, Herr Klose - Sie kommen ja aus Hamburg -, für eine Museumsinsel 115 Millionen DM ausgeben will? Jetzt!
({9})
Warum wird in Hof an der Saale ein zusätzliches Klärwerk gebaut und nicht in Naumburg an der Saale, wo es sehr viel dringlicher ist?
(Peter Conradi [SPD]: Und das Deutsche Historische Museum? -
Eine sinnvolle Sache!)
Den Anleiheerfindern, alle fern vom Kapitalmarkt, war kein Einfall zu abwegig: eine Zwangsanleihe für die alte sozialdemokratische Erfindung, den sogenannten Besserverdienenden.
Die deutsche Einheit, meine Damen und Herren, und ihre Folgen zwingen uns ja zu mancher Verfassungsänderung. Aber jetzt sollen wir die Verfassung auch schon ändern, um ein Finanzierungsinstrument
zu schaffen? Da sage ich für die F.D.P.: Ein Abreißkalender ist unser Grundgesetz nun doch nicht.
({0})
Der Finanzminister schlug eine steuerbefreite niedrigverzinsliche Anleihe vor. Vergessen wir dies. Er tut es wohl auch.
Im Sommer kramte die SPD das abgenutzte Optionsmodell für eine Einkommen- und Körperschaftsteuerreform hervor - längst als unbrauchbar erwiesen, 1951 ausprobiert, 1952 schleunigst wieder abgeschafft.
Zwischendurch belebte der Verkehrsminister, teilweise assistiert vom Umweltminister, die Autobahnplakette und die Erhöhung der Mineralölsteuer.
({1})
Dann wieder die SPD: Her mit der Ergänzungsabgabe für Besserverdienende, der sogenannten NeidSteuer.
({2})
Macht ja nichts, daß denen das Geld weggenommen wird, die es im Osten investieren sollen.
({3})
Ganz schnell setzte der DGB eines drauf. Frau Engelen-Kefer will die Arbeitsmarktabgabe für Beamte und Selbständige. Was haben die denn eigentlich mit der Bundesanstalt für Arbeit zu tun? Richtig wäre es doch wohl, die Mittel der Bundesanstalt nicht für versicherungsfremde Leistungen auszugeben.
Das ganze Verwirrspiel, meine Damen und Herren, ließ die SPD nicht ruhen.
({4}) - Auch die kommt.
Am Sonntag vor zwei Wochen kamen die Schlagzeilen vom Petersberg, dem Ort gepflegter sozialdemokratischer Erleuchtung:
({5})
Schwenk bei Asyl und Bundeswehreinsätzen. Meine Nachfrage am Montag ergab: Einen schriftlich formulierten Beschluß gibt es nicht. Aber es gibt einen Sprechzettel für die Pressekonferenz des Herrn Engholm. Den bekam ich dann auch. Sehr aufschlußreich war er nicht. Inzwischen ist das Bild ja von Tag zu Tag undeutlicher geworden. Jeden Tag kommen neue Absagen an Herrn Engholm aus Hessen, aus Bayern, aus Rheinland-Pfalz, heute morgen lese ich in der Zeitung: aus Bremen.
({6})
Immerhin, meine Damen und Herren, die Richtung scheint zu stimmen. Aber eines, Herr Engholm, sei dazu gesagt: Die Bundeswehr muß zukünftig mit allen Kautelen auch für Kampfeinsätze im Rahmen der UNO verfügbar sein. Wenn Sie sich beim Bundeswehreinsatz auf Blauhelme beschränken wollen, sind und werden Sie nicht regierungsfähig.
({7})
- Ich habe das hier schon einmal gesagt. Da war die Aufregung nicht so groß. Da hatte ich Ihnen gesagt: Sie sind international nicht handlungsfähig und national nicht regierungsfähig mit einer solchen Position. Sie müssen schon über die Hürde springen und nicht unter ihr durchkriechen. Sonst können Sie gleich den zweiten Sonderparteitag einbestellen.
({8})
Ich will gar nicht verschweigen, Herr Klose, daß auch meine eigene Partei ihren - allerdings vergleichsweise bescheidenen - Beitrag zur Aufführung geleistet hat.
({9})
Ich kann eine Diskussion, ob die F.D.P. ein bißchen weniger marktwirtschaftlich, dafür ein wenig mehr sozialdemokratisch oder sozial sein soll, nicht für sehr sinnvoll halten. Die Fragestellung: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Liberalste im ganzen Land?, ist so alt wie der politische Liberalismus, fördert nicht immer die hochgepriesene Toleranz.
Meine Damen und Herren, ich rechne nicht damit, daß solche Ausführungen freudige Zuhörer im Hohen Hause finden. Aber sollen wir das eigentlich alles auch noch schönreden, oder sollen wir es verschweigen? Ich will das nicht. Zur Politikverdrossenheit haben wir in den letzten 14 Tagen ein ordentliches Stück beigetragen - alle.
({10})
Hans Magnus Enzensberger hat Politik und Politikern am vergangenen Wochenende in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" in brillanter Form und überraschend barmherzig den Spiegel vorgehalten. Ich empfehle den Kolleginnen und Kollegen diesen Aufsatz zur Lektüre. Er schildert auch die Zwänge unseres Daseins. Aber letztlich sind es doch wohl weitgehend selbstgeschaffene Zwänge. Könnten wir sie nicht durch eigene Anstrengungen mildern?
Vielleicht können wir den Tatbestand nutzen, daß sich jahrzehntelang festgefügte Strukturen lockern, daß sie in Bewegung geraten sind, nicht nur bei uns, sondern weltweit. Ich kann, meine Damen und Herren, keinen sachlichen Zusammenhang erkennen, aber wohl einen zeitlichen. Seit dem Ende der ideologischen Teilung der Welt in zwei Blöcke sind nicht nur Warschauer Pakt und NATO verschwunden oder verändert; es haben sich auch Bindungen und Formen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gewandelt, die wir für gegeben hielten. Es gibt dafür unzählige Beispiele, im Inland wie im Ausland.
In Deutschland müssen wir mehr und mehr erkennen, daß sich nicht nur der Osten, sondern auch der Westen verändert. Es war ein folgenschwerer Fehler anzunehmen, daß mit dem Fall der Mauer aus bisherigen DDR-Bürgern nach 40 Jahren Diktatur über Nacht - gewissermaßen im Handumdrehen - Menschen werden könnten, die sich in der Freiheit von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft alle miteinander zurechtfinden könnten. So einfach geht es eben doch nicht.
Aber es wäre ebenso falsch zu glauben, daß alle diese Veränderungen an den Menschen im Westen spurlos vorübergegangen sind oder vorübergehen.
Ich fürchte, daß wir all das noch nicht völlig realisiert haben. Ich weiß - ich will uns in dieser Hinsicht alle in Schutz nehmen, wenn es nötig ist -, daß wir uns hier redlich mühen; aber manchmal erinnert mich unser Mühen schon an das Radtreten eines Hamsters.
Meine Damen und Herren, wir kommen nicht umhin - das ist heute morgen ja schon mit Recht geschehen -, ein anderes Kapitel mit Deutlichkeit anzusprechen. Nacht für Nacht - in den letzten Nächten glücklicherweise weniger - wiederholten sich die Ereignisse von Rostock, glücklicherweise mit inzwischen besserer polizeilicher Abwehr. Diese Debatte ist kein geeigneter Platz, um Ursachenforschung zu betreiben, um Verantwortung und Schuld zu klären. Aber eines sage ich für die F.D.P. ganz deutlich: Wer Ausländerhaß predigt, wer Gewalt gegen Ausländer, Aussiedler und Asylbewerber anwendet, wer anderer Leute Häuser und Autos ansteckt, wer gewalttätig gegen die Polizei vorgeht, dem steht in unserem Lande nur ein einziger Platz zu - das Gefängnis.
({11})
Das gilt auch für diejenigen, die solchen Untaten Beifall zollen.
({12})
Merken sie eigentlich gar nicht, daß Szenen wie die von Rostock und Cottbus Investoren und mögliche Arbeitsplätze fernhalten? Welcher Ausländer investiert in einem Land mit bürgerkriegsähnlichen Szenen?
Wenn sie schon die ausländischen Reaktionen, die Herr Klose zitiert hat; nicht interessieren, so liegt dies doch in ihrem eigenen Interesse. Wie kann man denen Beifall zollen, die morgen den eigenen Trabi oder den eigenen Golf anstecken?
({13})
Die F.D.P., meine Damen und Herren, hat sich zu zügigen Gesprächen über eine Änderung des Asylrechts, auch des Grundgesetzes bereit erklärt. Es war nicht so ganz einfach, Herr Klose - aber ich verstehe die Schwierigkeiten in Ihrer Partei -, Ihre heutigen Ausführungen mit Ihren früheren Äußerungen dazu in Übereinstimmung zu bringen.
Aber wir warnen vor dem Aberglauben, daß damit allein - ich unterstreiche das Wort „allein" - ein zweites Rostock verhindert werden könnte.
({14})
Wir sehen mit Besorgnis, daß das Asylverfahrensbeschleunigungsgesetz zu langsam in die Praxis umgesetzt wird. Wenn Sie, Herr Klose, das Gespräch vom Oktober vorigen Jahres kritisieren - das haben Sie in einem Aufwasch mit anderen Begegnungen getan -: Ist denn das Gespräch zu kritisieren, oder ist die Tatsache zu kritisieren, daß das, was dort vereinbart worden ist, hier zu spät verabschiedet worden ist und so zögerlich umgesetzt wird?
({15})
Welche Landesregierungen in den alten Bundesländern - um die geht es in erster Linie - sind denn dabei?
({16})
- Nein! Schieben Sie nicht alles immer hin und her wie eine heiße Kartoffel. Bund und Länder haben gemeinsame Verantwortung. Sie wissen ganz genau, daß die verwaltungsmäßige Durchführung nur auf der Länderebene geschehen kann.
({17})
Deswegen sage ich auch: Das Betragen von Herrn Eichel in dieser Sache finde ich unerhört.
({18})
Es gibt befremdliche Nachrichten über die Personalnot im Durchgangslager Zirndorf. Fehlt es an Bewerbungen, oder werden sie schleppend behandelt? Machen die Länder mit? Sind sie bereit, Personal zur Verfügung zu stellen oder nicht?
({19})
- Sehr beschränkt, meine Damen und Herren, jedenfalls reicht das Personal ganz offensichtlich nicht aus.
({20})
- Hören wir doch auf, uns gegenseitig vorzuhalten, der Bundesinnenminister sei schuld oder die Landesinnenminister seien schuld. Wenn wir als Abgeordnete, als Parlamentarier sagen „Nun tut endlich etwas, damit die Beschwerden aufhören" und etwas bewegen wollen, dann muß das doch gemeinsam geschehen.
({21})
Die Bürger unseres Landes sind zunehmend besorgt über die steigende Kriminalität. Das Thema „innere Sicherheit" wird mehr und mehr und mit Recht größer geschrieben. Die F.D.P. ist bereit, alles Notwendige zu tun, um dieser Entwicklung zu wehren, um ein Ansteigen der Flut von Gewalt und Verbrechen zu verhindern.
Meine Damen und Herren, täuschen wir uns bitte nicht: Wir bewegen uns in Westdeutschland am Rande einer Rezession. Der Bundeswirtschaftsminister wird das morgen sehr deutlich machen. Wir dürfen die westdeutsche Wirtschaft nicht zusätzlich belasten.
Das, was Sie, Frau Matthäus-Maier, gestern im Zusammenhang mit einer vielleicht familienlastenausgleichsmäßig berechtigten Überlegung vorgeschlagen haben, ist sehr wohl eine Steuererhöhung, ist sehr wohl eine Erhöhung der Steuerquote, ist sehr wohl eine Erhöhung der Staatsquote, hemmt natürlich die Investitionen und die Kapitalmärkte und behindert die wirtschaftliche Dynamik. Es fallen Ihnen immer nur Steuererhöhungen zur Lösung von Problemen ein.
({22})
Wir müssen Vertrauen für Unternehmen, Investoren und Kapitalmärkte schaffen. Dazu gehört auch, Herr Bundesfinanzminister, die Unternehmensteuerreform. Die F.D.P. begrüßt Ihre Ankündigung, die Unternehmensteuerreform, die unter den gegebenen Umständen nur aufkommensneutral sein kann, schon 1994 in Kraft zu setzen. Wir werden mit Ihnen die Anregungen und die Inhalte, die Sie genannt haben, sorgfältig prüfen und dafür sorgen, daß schnell entschieden werden kann und entschieden wird.
Der Bundeskanzler, meine Damen und Herren, hat völlig recht: Wenn die westdeutsche Kuh nicht gesund bleibt, gibt es keine Milch für Ostdeutschland. Selbst, Herr Bundeskanzler, wenn ich das Zitat schon in einer anderen Schrift gefunden habe, dann geht das eben nach dem alten Grundsatz der Politik „Plagiare necesse est"; das ist ja deswegen nicht falsch.
(
Das hat schon Schiller gesagt: Das ist ante Lambsdorff!)
- Wie bitte?
(
Das ist noch vor Lambsdorff! - Heiterkeit bei der CDU/CSU)
- Gut! Meinethalben also auch vor Lambsdorff und damit klassisch.
({0})
Meine Damen und Herren, wir dürfen nach Auffassung meiner Partei und Fraktion die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft nicht untergraben. Der stabilitäts- und ordnungspolitische Konsens muß hergestellt werden; wo er verletzt worden ist, muß er wiederhergestellt werden. Nach liberalem Verständnis sind die wirtschaftspolitischen Akzente nicht auf Verteilungsfragen zu setzen, sondern auf die Schaffung wirtschaftlicher Dynamik. Das hat Vorrang, weil nur so Arbeitsplätze geschaffen werden.
({1})
Dafür aber müssen Glaubwürdigkeit, Verläßlichkeit und innere Konsistenz die Politik prägen.
Es gehört, meine Damen und Herren, - ich habe am Anfang ja von den 20 Jahren gesprochen - zum Ritual einer jeden Haushaltsdebatte, daß die Opposition den
Entwurf zur Makulatur erklärt und einen neuen Entwurf verlangt. Was soll eigentlich dieses Gerede? Es war doch nie anders. Nutzen Sie doch die Möglichkeiten der Parlamentsberatung, und setzen Sie Änderungen dort durch, wo Sie die Mehrheit des Hauses überzeugen können und wo Sie auch die Finanzierung darstellen können.
({2})
- Dann sind Ihre Argumente wahrscheinlich nichts wert.
({3})
Meine Damen und Herren, ich möchte Herrn Klose ausdrücklich in dem einen Punkt unterstützen: Was die kulturellen Einrichtungen, insonderheit die Erhaltung der historischen Bausubstanz in den fünf neuen Bundesländern angeht, sollten wir sehen, daß wir Deckungsmöglichkeiten für Finanzmittel finden, die wir dafür brauchen; die F.D.P. teilt diese Auffassung.
({4})
Ich will in dem Zusammenhang vielleicht noch eine Bemerkung machen: In den fünf neuen Bundesländern ist die kulturhistorische Bausubstanz bedroht. Ich finde es ausgesprochen eindrucksvoll und bin dankbar dafür, wieviel private Spendentätigkeit sich in diesen Bereichen bemerkbar macht und wieviel da getan wird: von der Frauenkirche in Dresden bis zur Erlöserkirche Nikolskoe - das sind zufällig zwei Kirchen -, aber auch in anderen Gebieten. Man sieht, daß die Deutschen bereit sind, Geld zu geben. Sie wollen nur nicht, daß der Staat es ihnen dauernd wegnimmt, weil sie die Umverteilerei nicht mögen.
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Der Haushalt 1993 bemüht sich, den Anforderungen der Vollendung der deutschen Einheit gerecht zu werden. Der Finanzminister hat bestätigt, daß der Haushalt steht und daß er zu seiner Finanzierung keine weiteren Einnahmeerhöhungen braucht.
Die gestrige Diskussion um die Frage, ob wir in Zukunft vielleicht doch noch Steuererhöhungen brauchen könnten oder nicht, fand ich ausgesprochen unerfreulich. Ihre Argumentation, Frau MatthäusMaier, ist in dem Zusammenhang nicht ehrlich. Wenn Sie dem Finanzminister und dann auch gleich dem Bundeskanzler die zweite oder dritte - ich weiß nicht, die wievielte - Steuerlüge vorwerfen,
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aber gleichzeitig sagen, wenn sich der Finanzminister die Frage offenhält, ob er auf längere Sicht gesehen vielleicht doch eine Steuererhöhung braucht, da sei schon wieder die nächste Lüge, er habe die Steuererhöhung schon in der Tasche, wie soll bei einer solch schrägen Diskussion dann eigentlich geantwortet werden?
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Noch einmal, meine Damen und Herren: Geld ist nicht alles. Die verwaltungsmäßige Umsetzung von privaten und öffentlichen Investitionen, die Klärung von Eigentumsverhältnissen, das Überwinden bürokratischer Hindernisse, die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren, die Beseitigung falscher Anreize bei ABM, Arbeitslosengeld und Sozialhilfe, Flexibilität bei Entlohnung und Arbeitszeiten, stärkere Sanierungsbemühungen der Treuhandanstalt, Abgabe von Gewerbeflächen zu darstellbaren Preisen, - das alles ist jetzt vordringlich und nicht blinder Finanzaktionismus.
Die F.D.P. hat mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß wir mehr Flexibilität in den Tarifverträgen und in den Gehalts- und Lohnfragen nötig haben, wenn die Betriebe überleben sollen; Stichwort: Öffnung von Tarifklauseln. Wir waren auch immer der Meinung, daß das in der alten Bundesrepublik notwendig ist. Der Fall Lufthansa scheint zu beweisen, daß wir hier nicht völlig schiefliegen.
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Aber eines, meine Damen und Herren, verstehe ich nun überhaupt nicht mehr, auch nicht von den Gewerkschaften, die sich dagegenstellen: Wer die Berichte zur Kenntnis nimmt, wie jetzt illegal mit Druck auf die Arbeitnehmer unter Tarif bezahlt wird und die Arbeitnehmer vor lauter Angst nicht zu ihrer Gewerkschaft und nicht zum Gericht gehen und sich gar nicht dagegen wehren, weil sie den Arbeitsplatz verlieren könnten, muß doch zu dem Ergebnis kornmen: Die Öffnungsklauseln müssen gesetzlich vereinbart werden, dann kann es auf eine gewisse Zeit beschränkt werden, dann können die Betriebsräte mitarbeiten, dann kann es arbeitsrechtlichen Schutz geben.
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Das, was Sie von der SPD hier befürworten, ist eine Vernachlässigung des arbeitsrechtlichen Schutzes der Arbeitnehmer, deren Partei Sie angeblich sein wollen.
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Meine Damen und Herren, nicht die Neuauflage der erfolglosen Rezepte der 70er Jahre mit Beschäftigungsprogrammen und Vollbeschäftigungsgarantien ist der Weg zum Erfolg; wir brauchen die marktwirtschaftlich erfolgreichen Rezepte der 80er Jahre. Die können wir, die Freien Demokraten, nicht mit der SPD durchsetzen, das kann nur die Koalition. Deshalb sage ich auch an dieser Stelle, Herr Bundeskanzler, Herr Schäuble, Herr Waigel, Herr Bötsch: Die F.D.P. will deshalb - nicht nur deshalb, aber vor allem deshalb - diese Koalition, und sie will sie mit diesem Bundeskanzler.
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Neulich hat mir eine meiner Parteifreundinnen aus Ostdeutschland geschrieben: Du sprichst von der erfolgreichen Politik der 80er Jahre; wir haben die Ergebnisse dieser marktwirtschaftlichen Politik der 80er Jahre nicht miterlebt; was war das denn? -Meine Damen und Herren, man muß gelegentlich daran erinnern: Damals gab es die höchste Zahl von
Beschäftigten in Deutschland seit 1945, es gab sinkende Haushaltsdefizite, es gab niedrige Zinsen, es gab niedrige Preissteigerungsraten, und es gab als Folge maßvoller Tarifabschlüsse steigende Realeinkommen, und es herrschte sozialer Frieden. Es war eine ungewöhnlich erfolgreiche Politik, die wir vor 1989 gemacht haben.
({12})
Es gab auch rückläufige Arbeitslosenzahlen, wenngleich das Arbeitslosenproblem damals ebenso wie heute - heute erst recht - nicht befriedigend gelöst war.
({13})
- Es entstand in der zweiten Hälfte der 70er Jahre, weltweit.
({14})
Weil Sie dieser Wirtschaftspolitik und Ihrem Kanzler nicht mehr folgen wollten, ging es zu Ende.
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Diejenigen, die dabei waren, werden sich noch an die Fraktionssitzung vom Juli 1982 erinnern: Genossen, ich will dieses, und das wollt ihr nicht; ihr wollt jenes, und das will ich nicht; deswegen geht es nicht. So Helmut Schmidt. So kurz ist unser Gedächtnis nun auch nicht.
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- Verehrter Herr Klose, ich sage ja: So kurz ist unser Gedächtnis nicht. In diesem Hause waren Sie nicht dabei, aber Sie werden darüber auch etwas gelesen haben.
Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Matthäus-Maier?
Im Sinne der SPD-Fraktion will ich einer früheren Mittäterin selbstverständlich eine Zwischenfrage gestatten.
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Graf Lambsdorff, können Sie dem Hause einmal die besondere Gabe gerade Ihrer Person erklären, daß Sie zu allen Zeiten Verantwortung hatten, aber nie für irgend etwas verantwortlich waren?
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Verehrte Frau Matthäus-Maier, solches Geschick kann man nicht erklären, das kann man nur beweisen!
({0})
Gewiß, meine Damen und Herren, die Aufgaben in den fünf neuen Bundesländern sind erheblich schwieriger und schwerer als die Konsolidierungsaufgaben der 80er Jahre. Oft wird zutreffend die Deindustrialisierung ganzer Regionen beklagt. Aber diese Deindustrialisierung - das darf immer wieder einmal festgehalten werden - hat nicht die Soziale Marktwirtschaft, sondern der real existierende Sozialismus zuwege gebracht. Ich sage Ihnen auch hier: Es ist mir schwergefallen, gestern nicht Ihnen, Herr Gysi - Sie kommen ja nach mir -, sondern dem früheren Kulturminister der DDR, der hier von diesem Pult aus geredet hat, zuhören zu müssen. Das ist für mich ein Angang. Diese Politik hat die Deindustrialisierung zuwege gebracht. Als Schumpeter von der „schöpferischen Zerstörung" sprach, konnte er sich diesen Flächenbrand nicht vorstellen.
Die Reindustrialisierung wird kommen, aber sie braucht länger als erhofft, auch wegen eines weltweiten Umfeldes, das von Stagnation, zum Teil von Rezession gekennzeichnet ist. Durch Staatswirtschaft sind private Investitionen nicht zu ersetzen.
Wir sollten uns aber, meine Damen und Herren, hüten, nur zu klagen. Wer offenen Auges durch Ostdeutschland fährt, sieht überall Zeichen von Wiederaufbau und Neubau. Wer mit den Menschen spricht, überhört die Sorge nicht. Aber man darf auch die vielen Beweise für Mut, Eigenverantwortung und Zuversicht nicht überhören und durch dauerndes Klagen herunterspielen.
({1})
Es ist ein gutes Zeichen, daß die Mehrheit unserer Mitbürger zwar die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung besorgt, die persönliche wirtschaftliche Entwicklung aber zuversichtlich beurteilt.
Ich war vorgestern in Riesa in Sachsen. Dort gab es ein veraltetes Stahlwerk, ein Röhrenwerk, und einen riesigen Truppenübungsplatz. Es ist verwunderlich, erstaunlich und beeindruckend, was aus dieser Ausgangslage heraus dort geschaffen worden ist. Es ist eindrucksvoll, daß dort nicht geklagt, sondern angepackt wird. Ich habe Respekt vor so viel Tatkraft und vor so viel Mut.
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Meine Damen und Herren, die Deutschen in Ost und West stehen nicht vor einer unlösbaren Aufgabe. Die Aufgabe ist lösbar, sie muß ja auch gelöst werden. Es bedarf einiger Grundtugenden: Hilfsbereitschaft und Geduld, Maßhalten und Sinn für das Mögliche und menschliche Rücksichtnahme im Umgang miteinander. Sollte das frei gewählte gesamtdeutsche Parlament dafür nicht auch ein Beispiel geben können?
Ich danke Ihnen.
({3})
Als nächster spricht der Abgeordnete Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über Deutschland erstreckt sich ein Flächenbrand, von dem ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger, insbesondere Flüchtlinge betroffen sind. Von den Politikerinnen und Politikern aller Fraktionen wurde die Gewalt gegen Flüchtlinge verurteilt, aber kaum Mitgefühl mit den Opfern zum Ausdruck gebracht. Von der Regierungsseite werden die abenteuerlichsten Schuldzuweisungen vorgenommen. Die eigene Mitverantwortung wird entweder nicht erkannt oder verschwiegen. Seit 1990 findet eine geradezu erschreckende Asyldebatte in der Bundesrepublik Deutschland statt, die von der CDU/CSU immer wieder angeheizt wird. Von Anfang an wurde von verantwortungsvollen Menschen vor einer solchen Debatte gewarnt. Es wurde darauf hingewiesen, daß sie dazu dient, Stimmungen zu schüren und damit gewalttätige Auseinandersetzungen zu provozieren.
Viele beklagen, daß das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland beschädigt worden sei; auch Sie haben das heute getan, Herr Klose. Für mich ist diese Frage von geringerer Bedeutung im Vergleich zum Schicksal der Flüchtlinge, um das es doch eigentlich geht.
Ich finde es geradezu skandalös, wenn nach solchen Anschlägen wie denen in Rostock die Politikerinnen und Politiker der Koalition immer wieder fordern, das Asylrecht schnellstens zu ändern, d. h. einzuschränken, und damit den Forderungen der Rechtsextremisten endlich nachzukommen. Die Frage, die von der Regierungskoalition gestellt wird, lautet: Wie werden wir die Opfer schneller los?, nicht etwa: Wie können wir die Opfer besser schützen?
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Es ist verheerend, daß diese Zielsetzung zwischen den Gewalttätern und der Bundesregierung übereinstimmt. Der Unterschied in der Methode gibt dann nicht mehr viel her, zumal die Rechtsextremisten für sich in Anspruch nehmen können, über die wirksameren Methoden zu verfügen.
Natürlich bin ich mir darüber im klaren, daß die Ursachen für die rechtsextremistischen Ausschreitungen komplexer und sicherlich in den alten und neuen Bundesländern zum Teil unterschiedlicher Natur sind. Die Ursachen liegen im wirtschaftlich-sozialen, im kulturellen, im Bildungs- und psychischen Bereich. Es gibt auch Ursachen, die schon in der DDR entstanden sind. Es ist aber ganz deutlich, daß Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot einen verheerenden Nährboden für Rechtsextremismus bilden und es deshalb richtig war, immer wieder die Lösung dieser sozialen Probleme einzufordern.
Bei jungen Menschen in den neuen Bundesländern kommen ein Identitätsverlust und die Tatsache hinzu, daß ihnen das Gefühl der Minderwertigkeit vermittelt wird, das sie zu kompensieren versuchen. Freizeit-und Kultureinrichtungen wurden geschlossen. All das fügt sich zu einem Komplex von verschiedenen Ursachen zusammen.
Aber die beste Ursachenforschung darf nichts, aber auch gar nichts an der einhelligen Verurteilung solchen Terrors ändern, und sie darf vor allem nicht dazu dienen, von der eigenen Verantwortung abzulenken.
Sie erinnern sich, daß der CDU-Fraktionsvorsitzende im Berliner Abgeordnetenhaus, Klaus Landowsky, wörtlich erklärte:
Es kann nicht sein, daß ein Teil der Ausländer bettelnd, betrügend, ja, auch messerstechend durch die Straßen ziehen, festgenommen werden und, nur weil sie das Wort „Asyl" rufen, dem Steuerzahler auf der Tasche liegen.
Das schürt Stimmungen; das erweckt den Eindruck, daß die Flüchtlinge Menschen zweiter Klasse sind, mit denen auch entsprechend umgegangen werden kann.
In dieser Situation stellte sich Bundesfinanzminister Waigel gestern hin und forderte allen Ernstes, die Sozialhilfe für Flüchtlinge zu kürzen. Das bedeutet, sich auch hier extremistischen Forderungen anzuschließen, die immer wieder behaupten, Flüchtlinge hätten zuviel Geld, obwohl natürlich jede und jeder, die bzw. der sich ernsthaft damit beschäftigt, weiß, daß sie so wenig Geld erhalten, daß man kaum noch von der Sicherung des Existenzminimums ausgehen kann. Auch noch so zu tun, als hinge von einer solchen Mittelkürzung die Sanierungsfähigkeit des Bundeshaushalts ab, bedeutet, Politik auf Kosten der Schwächsten dieser Gesellschaft zu betreiben.
Sie wissen ganz genau, daß die Flüchtlingsprobleme weder über Beschleunigungsgesetze noch über Änderungen oder Ergänzungen des Asylrechts zu lösen sind; das gleiche gilt für den Vorschlag von Einwanderungsquoten. Sie bedeuten Selektion und führen nur zu illegalen Einwanderungen. Die Zahlen werden sich dadurch nicht verändern. Illegale Einwanderer sind aber völlig rechtlos. Sie könnten nicht einmal als Opfer von Straftaten Strafanzeige erstatten, weil sie damit ihren illegalen Aufenthalt bekanntgeben müßten. Sie könnten darüber hinaus extrem ausgebeutet werden, indem sie zu Billigstlöhnen arbeiteten, was wiederum zu Konflikten auf dem Arbeitsmarkt auch mit deutschen Arbeitnehmerinnen und deutschen Arbeitnehmern führen müßte.
({1})
Sie alle wissen sehr genau, daß eine Lösung dieser Fragen nur dadurch möglich ist, daß eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung hergestellt wird, die das Elend und den Hunger in der sogenannten Dritten Welt und die sozialen Probleme in Osteuropa einer Lösung zuführt.
Aber auch das letzte G-7-Treffen hat diesbezüglich wieder nicht den geringsten Fortschritt gebracht. Seit Jahren wird über die Entschuldung der sogenannten Dritten Welt gesprochen, ohne daß sich etwas tut. Seit Jahren wird darüber gesprochen, daß den Entwicklungsländern stabile Rohstoffaufkaufpreise und stabile Marktanteile garantiert werden müssen. Auch hier hat sich nichts geändert. Immer noch sprechen die Preise für Bananen, Kaffee und Kakao eine eigene
Sprache und zeigen, wie extrem wir auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben.
Es ist aber ein besonderes Maß an Heuchelei, an der Ausbeutung und dem Elend der Dritten Welt teilzuhaben und dann Flüchtlingsströme zu beklagen. Die geplante Abschottung der Bundesrepublik Deutschland und auch der gesamten Europäischen Gemeinschaft gegenüber Osteuropa und der sogenannten Dritten Welt wird die Probleme nicht lösen, sondern verschärfen. Wir werden dabei täglich unfähiger, sie zu lösen, bis zu dem Tag, an dem sie nicht mehr lösbar sind.
Wir brauchen deshalb keine Eingriffe in das Asylrecht; wir brauchen keine Angstmache gegen Flüchtlinge und ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger; wir brauchen vielmehr endlich Änderungen in der Weltwirtschaftsordnung, die eine Entwicklung einleiten, die Flüchtlingsströme in der Welt überflüssig macht. Dann und erst dann kann auch über Einwanderungsquoten oder ähnliches nachgedacht werden, wenn die Voraussetzungen zur Überwindung des Elends und des Hungers eingeleitet sind.
Die diesbezügliche Politik der Koalition ist verheerend. Aber noch schlimmer ist, daß sie nach dem Wunsch der SPD-Führung bald alternativlos sein wird; denn in dem Maße in dem die SPD-Führung meint sich aus populistischen Gründen, vielleicht auch um Regierungsfähigkeit zu demonstrieren, auf diese Politik einlassen zu müssen, wird es natürlich immer unmöglicher, eine notwendige Korrektur dieser verfehlten Politik in der Bundesrepublik Deutschland zu erreichen.
Wenn sich die Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland so fortsetzt, dann wird sich die Angst um die Bundesrepublik Deutschland in eine Angst vor der Bundesrepublik Deutschland wandeln. Noch könnte gemeinsam verhindert werden, daß es dazu kommt.
Ich behaupte, daß in diesen Rahmen hineingehört, daß die Bundesrepublik Deutschland nun auch weltweit eine militärische Rolle spielen will und daß sich unser Außenminister immer seltener wie ein Außenminister und dafür immer häufiger wie ein Kriegsminister aufführt.
({2})
Wirkliche Größe und Souveränität gewinnt aber die Bundesrepublik Deutschland nicht durch militärischen Einsatz, sondern dadurch, daß sie mit nichtmilitärischen Mitteln friedensstiftend wirkt, und dafür besäße sie bekanntlich hervorragende Voraussetzungen. Das würde auch bedeuten, der eigenen Geschichte Rechnung zu tragen. Aber diese Geschichte soll ja u. a. dadurch getilgt werden, daß die Bundesregierung versucht, die Bundesrepublik auch militärisch hoffähig zu machen. Auch hier erleben wir bei der SPD-Führung die Kurskorrektur, die Anpassung an Vorstellungen der Bundesregierung; auch hier ist es katastrophal, daß damit eine bedeutende Alternative zur Politik der Bundesregierung untergeht. Ich bedaure, daß es ähnliche Stimmungen und Auffassungen im BÜNDNIS 90 und bei den GRÜNEN
gibt. Ich glaube, daß der Weg der Bundesrepublik Deutschland nicht der Weg der internationalen militärischen Einmischung sein kann. Es macht die wenigen Stimmen, die vor einem solchen Kurs warnen, nicht überflüssiger, sondern notwendiger denn je.
({3})
Ich will auch etwas zu den Kosten der deutschen Einheit sagen. Gestern hat hier der Bundesfinanzminister erklärt, daß es eine gigantische, einmalige Leistung in der Geschichte der Völker sei, daß von West nach Ost in einem Jahr 160 Milliarden DM brutto für den Aufbau der neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt worden seien.
({4})
Ich behaupte, daß das eine Lüge ist, weil die Aussage wesentliche Unterlassungen beinhaltet. Diese allein hingeworfene Zahl ist außerdem dazu bestimmt und geeignet - bitte denken Sie darüber nach -, die Vorbehalte der Menschen in den alten Bundesländern gegen die Menschen in den neuen Bundesländern zu erhöhen und der Mentalität von „jetzt reicht's, keine Mark mehr" etc. Nahrung zu geben und andererseits die Menschen in den neuen Bundesländern zu demütigen und ihnen ein schlechtes Gewissen zu vermitteln, weil sie schon so viel Geld geschenkt bekommen hätten.
Die Wirklichkeit sieht natürlich ganz anders aus, und das wissen Sie auch. Zunächst einmal sind z. B. für das Jahr 1993 im Bundeshaushalt nicht 160 Milliarden DM, sondern lediglich 91,9 Milliarden DM für die neuen Bundesländer vorgesehen. Soweit Sie die Ausgaben der alten Bundesländer hinzurechnen, mag das ja noch gehen. Aber sobald Sie dann noch die Zahlungen der Kranken- und Rentenversicherung dazurechnen, halte ich das für einen Taschenspielertrick, weil das mit den eigentlichen Bundesausgaben gar nichts zu tun hat.
Aber davon einmal abgesehen, wissen Sie natürlich, daß der geringste Teil dieser Summe tatsächlich für den Aufbau der neuen Länder im Osten zur Verfügung gestellt wird. Der höchste Anteil beläuft sich auf solche Aufgaben, die gleichermaßen in den alten Bundesländern anfallen, z. B. für Kindergeld, Erziehungsgeld etc. Das alles wird den Ostdeutschen praktisch als Sonderausgabe zugerechnet, obwohl es zu den normalen Ausgaben der Bundesrepublik in sämtlichen Ländern gehört. Direkt an die Länder und Gemeinden in den neuen Bundesländern fließen aus dem Bundeshaushalt, zumindest nach dem Plan für das Jahr 1993, lediglich 23,6 Milliarden DM. Das ist schon eine ganz andere Summe; und es waren im Jahre 1992 weniger. Dieser Betrag klingt nicht nur anders, sondern er ist ja auch noch aufzurechnen.
Sie sagen nämlich nicht, wieviel allein der Bund einigungsbedingt mehr einnimmt. Aus den neuen Bundesländern fließen ihm jährlich 42 Milliarden DM Steuern zu. Das ist also schon wesentlich mehr als das, was der Bund den neuen Ländern und ihren Kommunen direkt zur Verfügung stellt. Selbst wenn sich die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer Kindergeld, Erziehungsgeld etc., d. h. alles anrechnen lassen müssen, was es an sozialen und sonstigen
Ausgaben gibt, steht einer Ausgabenseite von 91,9 Milliarden DM eine Einnahmenseite von 79,1 Milliarden DM gegenüber, so daß die Differenz nur noch 12,8 Milliarden DM beträgt. Auch hier halte ich überhaupt nichts davon, den Menschen in den alten Bundesländern hinsichtlich der Ausgaben Angst zu machen und die in den neuen zu demütigen.
Sie dürfen natürlich auch nicht vergessen, daß Sie den gesamten Staatshaushalt der DDR einschließlich der Guthaben und Forderungen übernommen haben und daß Sie noch heute darauf bestehen, daß die ehemaligen volkseigenen Betriebe und Genossenschaften fiktive Schulden an den Staat DDR nunmehr an den Bund begleichen. Dabei kümmert es Sie auch nicht, daß dadurch eine Sanierungsfähigkeit dieser Betriebe praktisch ausgeschlossen wird.
Was generell verschwiegen wird, ist die Tatsache, daß die Kommunen in der DDR zum Zeitpunkt der Vereinigung keine Schulden hatten. Obwohl die Bürgerinnen und Bürger der DDR am reichlichen Schuldenmachen der Bundesregierungen seit 1949 nicht beteiligt waren, sind ihnen diese Schulden per 3. Oktober 1990 - hier plötzlich völlig gleichberechtigt und nicht etwa im Verhältnis 1 : 2 oder mit einem Anteil von 60 % - aufgebürdet worden.
Sie vergessen natürlich auch einen weiteren Umstand. Soweit Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe, Kindergeld etc. zur Verfügung gestellt werden, wird dieses Geld in erster Linie für den Konsum ausgegeben. Die Firmen aus den alten Bundesländern beherrschen den Markt in den neuen Bundesländern. Konsum bedeutet deshalb, daß diese Staatsgelder in die privaten Unternehmen der alten Bundesländer fließen und nicht oder kaum in Firmen der neuen Bundesländer. Praktisch hat der Westen innerhalb eines Jahres Waren und Dienstleistungen im Werte von 160 Milliarden DM in den Osten exportiert. All das rechnen Sie natürlich nicht mit.
Insgesamt, behaupte ich deshalb, haben gerade die Unternehmen in den alten Bundesländern zu einem großen Teil an der deutschen Einheit verdient. Sie haben zugleich dafür gesorgt, daß eine echte Konkurrenz in den neuen Bundesländern nicht entstehen kann.
Dabei hat die Treuhandanstalt kräftig mitgeholfen. Deshalb ist auch die Kritik an ihr völlig berechtigt. Sie war und ist dabei, die Wirtschaft im Osten des Landes für die im Westen paßgerecht zu gestalten. Gleiches geschieht mit der Landwirtschaft. Deshalb sind alle Bemerkungen über die marode Planwirtschaft im Osten so lange Heuchelei, solange diese Dinge nicht mitgenannt werden und dagegen nicht eindeutig vorgegangen wird.
Es war meines Erachtens von Anfang an der Plan, zu verhindern, daß im Osten eine nennenswerte Konkurrenz für Unternehmen im Westen entsteht. Wenn Sie eine andere Wirtschaftsentwicklung in den neuen Bundesländern gewollt hätten, hätten Sie schon längst die Vorschläge des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung aufgegriffen und wären in den neuen Bundesländern zu einer degressiven Lohnsubventionierung übergegangen. Damit hätten Arbeitsplätze massenhaft erhalten und gleichzeitig die ProDr. Gregor Gysi
dukte marktgerecht relativ billig verkauft werden können.
Statt dessen bezahlen Sie ja lieber Arbeitslosigkeit und vernichten Arbeitsplätze, um zu verhindern, daß eine marktgerechte Produktion stattfindet. Wenn Sie der Wirtschaft in den neuen Bundesländern eine wirkliche Chance hätten geben wollen, dann hätten Sie auch verhindert, daß die Geschäftskonten der privaten Unternehmen in der DDR per 30. Juni 1990 halbiert wurden, was diese finanziell in eine Katastrophe stürzen müßte. Dann würden Sie verhindern, daß gerade für den Mittelstand die Gewerbemieten in einer solchen Höhe steigen, daß Existenzen zugrunde gehen müssen.
Sie hätten dafür gesorgt, daß pro Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche in den neuen Bundesländern wenigstens die gleichen Subventionen wie in den alten zur Verfügung gestellt werden.
Die Folgen sind eine psychisch und sozial kaum noch steuerbare Massenarbeitslosigkeit. Jugendklubs, Kulturhäuser und andere Einrichtungen werden geschlossen. Kinderferienlager, die es in der früheren DDR zahlreich gab, sind praktisch nicht mehr existent. Krippen- und Kindergartenplätze werden geschlossen oder so überteuert und zu verkürzten Zeiten angeboten, daß sie kein soziales Angebot an die Familien mehr sind. Orchester werden aufgelöst, Theater können sich kaum noch finanzieren, Universitäten und Hochschulen werden geschlossen.
Nun frage ich Sie: Weshalb war eigentlich die marode Planungs- und Kommandowirtschaft in der DDR in der Lage, all das zu finanzieren, während sich die reiche Bundesrepublik Deutschland dazu außerstande sieht?
({5})
Hierauf haben Sie den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern bisher keine Antwort gegeben.
Was ich noch viel übler finde, ist die Tatsache, daß Sie alle Horrorstorys über die neuen Bundesländer an die Wand malen, um Demokratie- und Sozialabbau in den alten Bundesländern durchzusetzen. Ich behaupte, das ist ein Mißbrauch der Menschen in den neuen Bundesländern, die für die Verwirklichung uralter Pläne zum Demokratie- und Sozialabbau herhalten müssen. Auch damit werden übrigens zwischen den Menschen in Ost und West Trennungen geschaffen und Mauern gebaut.
Es ist die alte Demagogie, wonach Lohnverzicht Arbeitsplätze schafft, die sich im Wirtschaftsleben noch nie bestätigt hat. Die gesamten Deregulierungsvorstellungen, die in der Bundesrepublik seit Jahren bestehen, werden jetzt mit der Situation in den neuen Bundesländern nur neu begründet.
Sagen Sie doch wenigstens ehrlich, daß Sie mit dem Wegfall der DDR und unter den veränderten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen all das, was Gewerkschaften und anderen in der Bundesrepublik schon einmal zugestanden worden war, Schritt für Schritt abbauen wollen! Denn um nichts anderes geht es, und hier reichen die Stichworte vom Karenztag über Lohnabschlüsse unterhalb der Tarifabschlüsse,
Aushöhlung von Kündigungsschutzrechten bis hin zu Forderungen nach Verlängerung der Wochen- und Lebensarbeitszeit. Aber zu keinem Zeitpunkt wird erwähnt, wer wieviel an dieser Einheit verdient hat, ob und wie die Betreffenden für tatsächliche Ausgabensteigerungen herangezogen werden.
Es gibt nicht zuwenig Geld in der Bundesrepublik Deutschland, sondern dieses Geld wird nur ungerecht verteilt. Allein die westdeutschen Banken erreichten 1991 einen Rekordgewinn von brutto 27 Milliarden DM, und die westdeutschen Produktionsunternehmen haben seit der Wende in der DDR ihr Vermögen auf den Banken um 22 % auf 1,67 Billionen DM gesteigert. Davon wären 595 Milliarden DM sofort verfügbar. Aber an dieses Geld wollen Sie nicht heran. Im Gegenteil, Sie wollen weitere Geschenke an Großverdiener machen, verbunden mit der Bitte an diese, doch wenigstens einen kleinen Teil davon in den neuen Bundesländern zu investieren. Aber die Unternehmen werden dieser Bitte nicht folgen, auch wenn Sie noch so viele Steuergeschenke an sie verabreichen. Denn Patriotismus ist kein Investitionsgrund! Das zeigt aber, woher die Mittel genommen werden könnten, wenn ernsthafte Finanzierungsschwierigkeiten bestehen. Statt dessen immer höhere Staatsschulden, Sozial-, Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsabbau!
Die deutsche Einheit und die Menschen in den neuen Bundesländern dürfen nicht länger mißbraucht werden, um eine reaktionäre Wirtschafts-, Finanz-und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland, die längst vorher geplant war, durchzusetzen.
({6})
Als nächste spricht die Abgeordnete Frau Ingrid Köppe.
Liebe Freunde!
({0})
Wir haben nicht 40 Jahre gesungen „Einigkeit und Recht und Freiheit" , um jetzt diese geschichtliche Stunde zu verspielen; das sprach der Kanzler der Deutschen West zu den Deutschen Ost im März 1990. Die Leute hier in Leipzig, sagte der Kanzler, sind doch mindestens so intelligent, wie die in der BASF in meiner Heimatstadt Ludwigshafen; sie sind genauso fleißig, sie sind genauso qualifiziert.
({1})
50 738 qualifizierte Leute aus Leipzig sind heute arbeitslos; das sind 10,3 %.
Die Leute müssen nicht ängstlich an diese Zukunft herangehen, sondern sie müssen das Gefühl haben: Wir machen die Ärmel hoch, und wir packen's! Und der Kanzler versprach: Niemand soll fürchten müssen um die Sicherheit seiner Wohnung und um Vorsorge für Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Niemand, so sagte der Kanzler.
Furcht um den Arbeitsplatz und die Wohnung sind in Deutschland jedoch heute Alltäglichkeit, im Osten und im Westen. Nachdem der IM Czerny und der Kanzler der Deutschen West endlich gesetzlich die Einheit vollbracht hatten, wurde der Kanzler der Deutschen West zum Kanzler aller Deutschen; denn was er gesagt hatte, klang so schön, so demokratisch, so frei, so wunderbar.
So fing das an. Und was ist daraus geworden? Erstunken und erlogen war das alles.
({2})
Er hat uns verraten und verkauft, hört man im Osten - Enttäuschung, Wut und Ohnmacht.
({3})
Die Bilanz nach zwei Jahren deutscher Einheit lautet u. a.: drei Millionen Arbeitslose, eine Million Obdachlose, Fremdheit, Vorurteile und Neid zwischen Ost und West, Haß und Jagd auf Ausländer, Schulden über Schulden, Pläne zum weltweiten Kampfeinsatz deutscher Soldaten, und Deutschland ist beim Waffenexport in Europa Spitze und weltweit Nummer drei.
Heute noch rätselt die Regierung, wie denn nun eigentlich die Vereinigung von Ost und West tatsächlich hergestellt und bezahlt werden kann. Nach dem Programm Aufschwung Ost soll nun der Aufbau Ost folgen. Sie hätten ehrlicherweise Ihr Programm für die deutsche Einheit „Abbau Ost" nennen sollen. Dann hätten die Menschen gewußt, was ihnen bevorsteht: der Osten wird abgewickelt, und die Betriebe werden vernichtet.
Wenn wir uns z. B. das Wirken der Treuhandanstalt ansehen, als Ihr Instrument zum Umgang mit dem produktiven Volksvermögen der ehemaligen DDR, kann ich nur feststellen: Sanierungsbedürftige und sanierungsfähige Betriebe sind kaputt. Der Rest wird für einen „Appel und ein Ei" verscherbelt. Die Treuhand wird mit erwarteten 600 Milliarden DM - ich wiederhole: 600 Milliarden DM - Verlust abschließen. Der Osten soll also nichts als Schulden gebracht haben. Eine Beteiligung der Arbeitnehmer an den Betrieben wurde abgeblockt.
Besonders stark betroffen von der Arbeitslosigkeit sind die Frauen. Seit 1989 haben im Osten mindestens zwei Millionen Frauen ihren Arbeitsplatz verloren. Einschließlich der verdeckten Arbeitslosigkeit ist heute im Osten jede zweite Frau arbeitslos.
Nachdem im Osten die Arbeitsplätze weitgehend zerstört wurden, droht nun mit der angekündigten Mieterhöhung für viele die zweite Existenzkrise. Diese unsoziale Mieterhöhung muß rückgängig gemacht werden. Das gilt auch für den unsozialen Gesetzentwurf der Bundesregierung, durch den Kranke in noch größerem Umfang für Arzneimittel, Kuren und Krankenhausaufenthalte zahlen sollen.
Früher, also zu jenen Zeiten, als man den Kanzler im Osten noch beim Vornamen rief, ihn nicht mit Eiern bewarf und er noch all diese schönen Sachen erzählte, da sagte er auch folgenden wichtigen Satz: Er sei dafür - Zitat -, „auch wenn es bitter ist, daß die Wahrheit gesagt wird".
Herr Kohl, Sie haben nicht die Wahrheit gesagt. Sie haben die Einheit von Deutschland Ost und West mit voreiligen und unhaltbaren Versprechen aufgebaut und sich so das Vertrauen von zigtausend Menschen erschlichen. Sie haben Ihre Versprechen gebrochen, das Ihnen entgegengebrachte Vertrauen mißbraucht und dann die Menschen mit ihren Zukunftsängsten alleingelassen. Auch so kann Politikverdrossenheit erzeugt werden. Viele derjenigen, die mit der Vereinigung von Ost und West auf Demokratie hofften, finden sich heute erneut in einem Oben und Unten wieder. Oben sitzen Politiker und Parteien, die aus wahltaktischen Gründen das Paradies auf Erden versprechen, die die Bevölkerung zum Stimmvieh degradieren, arrogant der Bevölkerung eine Entscheidungskompetenz absprechen, das parlamentarische System, wie gerade gestern wieder aus dem Innenministerium verlautete, durch plebiszitäre Elemente geschwächt sehen und in purer Bunkermentalität hinter verschlossenen Türen taktieren und sich abschotten von der Bevölkerung. Indem Sie den Menschen die Möglichkeit nehmen, durch Mitentscheidung und eigenverantwortliches Handeln ihr Schicksal zu bestimmen, erzeugen Sie, ob Sie es wissen und wollen oder nicht, auch den Menschentyp, der in der Krise und Verzweiflung sein Heil in Aggressionen sucht. Diese Bundesregierung ist der Beweis dafür: Macht macht blind - blind für die tatsächlichen Probleme, Ängste und Sorgen der Bürger und Bürgerinnen.
So, wie Sie die Vereinigung Deutschlands vollzogen haben, Herr Kohl, versuchen Sie jetzt, Ihre Variante des Projekts Europa mit dem Vertrag von Maastricht schmackhaft zu machen. Einerseits versprechen Sie als Patriarch, alles würde schon gut werden. Andererseits lehnen Sie entgegen unserer Forderung nach einer Volksabstimmung jede demokratische Beteiligung, jede Mitgestaltung, jedes Einbringen eigener Vorstellungen und Zukunftswünsche ab.
({4})
Das Parlament kann nur ja oder nein sagen. Das Volk hat sich den Regierungsbeschlüssen ungefragt zu beugen.
Inhaltlich setzt der Vertrag von Maastricht voraus, daß in den Unterzeichnerstaaten finanzpolitische und wirtschaftliche Stabilität gewährleistet ist. Diese Bundesregierung scheint jedoch unfähig, diese Bedingungen erfüllen zu können. Tatsächlich finanziert die Regierung ihre Politik mit ungedeckten Schecks. Die staatlichen Schulden betragen zur Zeit 1,6 Billionen DM. Auf der Basis der derzeitigen Finanzplanung bedeutet dies, daß alle Bürger und Bürgerinnen 1995 24 000 DM Schulden haben werden. Das heißt: Jedem Neugeborenen wird der entsprechende Schuldschein schon mit in die Wiege gelegt.
Sparsamkeit ist das Gebot der Stunde, sagen Politiker darum nun dem Volk. Bevor jedoch Politiker Sparappelle an die Steuerzahler richten, sollten sie bei sich selber anfangen und die Summe der von ihnen selber verbrauchten Steuergelder prüfen. Da ließe sich der Rotstift etwa ansetzen bei den 906 Millionen DM für den Bundestag, den 78 Millionen DM für Diäten, den 45 Millionen DM für AufwandsentschädiIngrid Köppe
gungen, den 31,5 Millionen DM für die Altersversorgung und auch den 10,6 Millionen DM für die Unterhaltung des Regierungsbunkers in Marienthal. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen.
Außerdem ist auch eine andere Verteilung der vorhandenen Gelder notwendig. Wir können Ihnen z. B. sehr leicht einen sozialeren Verwendungszweck für die Militärausgaben vorschlagen. Diese sollen 1993 nach Kriterien der NATO 65,71 Milliarden DM umfassen, also 13 Milliarden DM mehr als von der Bundesregierung offen ausgewiesen. Auch die jährliche Ausgabe von einer Milliarde DM für Geheimdienste könnte sinnvoller verwendet werden. Statt milliardenschwerer Steuergeschenke an Unternehmer wollen wir, daß diese Gelder z. B. für Kindergartenplätze, Jugendzentren, effektive Arbeitsbeschaffungsprogramme und den Sozialen Wohnungsbau verwendet werden.
Mit ihrem Anspruch auf Liberalität, Freiheit und Demokratie hat sich die Bundesrepublik in den Jahren des Kalten Krieges stets am Osten gemessen und den Entwicklungsländern des Südens Wohlstand vorgelebt. Nach dem Beitritt Ostdeutschlands bereitet sich die Bundesregierung vor, diesen Reichtum notfalls auch militärisch zu sichern in Regionen, deren Bewohner diesen Reichtum ermöglicht haben und nun vielleicht an diesen Verheißungen real teilhaben wollen. Einen solchen Einsatz deutscher Soldaten - „out of area - lehnen wir mit Nachdruck ab.
Auch jeglicher Export deutscher Rüstungsgüter soll endlich unterbunden werden. Dazu gehört auch, daß die Bundesregierung nicht länger Militärgüter in alle Welt liefert. Von 1991 bis 1993 waren das immerhin Güter im Wert von 660 Millionen DM. Statt dessen sollte die Entwicklungshilfe aufgestockt werden, und zwar über den in Rio versprochenen und noch nicht erreichten Satz hinaus; denn wer für den Golfkrieg rund die doppelte Summe des diesjährigen Entwicklungshilfeetats aufwendet, verspielt den Anspruch auf moralische Glaubwürdigkeit.
Daß sich die SPD in den letzten Wochen und Monaten bereit erklärt hat, zusammen mit der Regierung das Asylgrundrecht abzuschaffen, deutsche Soldaten zu Kampfeinsätzen in alle Welt zu schicken und offenbar auch große Lauschangriffe in Wohnungen zu ermöglichen, halten außer uns sicher auch viele SPD-Wähler und SPD-Wählerinnen für unverantwortlichen Opportunismus. Damit gibt sie noch mehr als schon bisher ihre Rolle als Opposition auf. Gerade bei diesen grundlegenden Entscheidungen wäre jedoch oppositionelles Durchhaltevermögen wichtig.
({5})
- Herr Kollege, ich habe 15 Minuten Redezeit, und die gedenke ich auch auszunutzen.
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In Deutschland werden Ausländer gejagt. Häuser brennen. Deutsche werfen Steine und Molotow-Cocktails gegen Nichtdeutsche. Deutsche fordern: „Deutschland den Deutschen! " und „Ausländer raus!" Seit Monaten debattieren deutsche Politiker über eine Einschränkung des Asylrechts wie über eine Naturkatastrophe. Sie sprechen von der „Asylantenschwemme", vom „ungehinderten Zustrom", der einzudämmen wäre. Eine Kostprobe haben wir vorhin gehört.
Mit solchen und ähnlichen Äußerungen leisteten und leisten deutsche Politiker in den vergangenen Monaten und auch heute noch einen wesentlichen Tatbeitrag zu den Anschlägen. Sie haben damit Asylsuchende zum Freiwild erklärt und den sozial Schwachen als Sündenböcke präsentiert. Nicht aber die Ausländer und Ausländerinnen, sondern die Regierungspolitiker, die den Wohlstand versprachen, sind schuld an dem sozialen Notstand, an der wachsenden Arbeitslosigkeit.
Statt endlich die bei der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland gemachten Fehler einzugestehen, haben Sie jetzt schon die nächste Lüge parat: Als Problemlösung wird die Änderung des Art. 16 des Grundgesetzes angepriesen. Noch während Asylbewerberunterkünfte abgefackelt werden, fordern Politiker wie z. B. Herr Helmrich, Justizminister von Mecklenburg-Vorpommern, eine konsequente Abgrenzung Deutschlands gegen Zuwanderungen aus Südosteuropa. Keine Grundgesetzänderung, kein Einwanderungsgesetz, kein Bundesgrenzschutz wird jedoch die Ärmeren der Welt daran hindern, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen, weil sie teilhaben wollen an deutschem Reichtum. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt, und das hat sich längst herumgesprochen.
Übrigens sei daran erinnert, daß im Jahre 1950 in Deutschland 8 Millionen Vertriebene lebten. Verglichen mit den heutigen Zahlen hier lebender Ausländer und Asylbewerber und der damaligen materiellen Notlage in der Bevölkerung, leuchtet nicht ein, daß dies jetzt politisch und wirtschaftlich nicht verkraftbar sein soll.
Was, Herr Kohl, Herr Schäuble, wollen Sie tun, wenn nach dieser Grundgesetzänderung Zigtausende von Flüchtlingen vor den Festungsmauern Westeuropas stehen und Einlaß begehren? Was wollen Sie machen? Den Schießbefehl erteilen?
Neben der Forderung nach einer Änderung des Asylrechts benutzen CDU- und SPD-Politiker die rechtsradikalen Angriffe der letzten Tage als Vorwand für Forderungen nach mehr Polizei, Sondertruppen sowie nach einer Verschärfung des Demonstrations- und Haftrechts. Sie tun, als sei die Polizei handlungsunfähig. Das Gegenteil hat sie in der Vergangenheit, insbesondere bei Demonstrationen von Linken, vorgeführt. In Deutschland stehen den Einwohnern mehr Polizisten als Sozialarbeiter gegenüber. In anderen Ländern setzt man die Gewichte von Ordnungs- und Sozialpolitik genau entgegengesetzt.
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Nach der erfolgreichen Angstkampagne gegen Ausländer versuchen Sie jetzt, eine ähnliche Kampagne unter der Überschrift „Sicherheit" anzuzetteln. Soziale Probleme werden Sie aber nicht mit der Polizei
in den Griff bekommen. Wenn die Regierung nicht endlich Lösungen für die dringenden sozialen Probleme bevorzugt und daraus auch haushaltsmäßige Konsequenzen zieht und wenn Sie nicht aufhören, Ihr eigenes politisches Versagen ständig auf Sündenböcke abzuwälzen, werden sich künftig Rechtsextremisten weitere Opfer suchen. Und wer werden die nächsten sein? Die Alten, die Behinderten, die Obdachlosen, die Homosexuellen, die Kranken, die Halbdeutschen? Dazu darf es nicht kommen!
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Herr Bundeskanzler, Dr. Helmut Kohl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In dieser ganz gewiß kontroversen Debatte möchte ich mit etwas beginnen, das Gemeinsamkeit demonstriert. Herr Kollege Klose, Sie haben - zu Recht, wie ich gedenke - danach gefragt, was man in dieser Situation tun kann, um für die kulturellen Institutionen der neuen Länder in einer sehr schwierigen Zeit Zukunft zu sichern. Sie wissen zunächst einmal, wie die Verfassungssituation ist, und alle Ministerpräsidenten der Länder legen gerade in diesem Bereich großen Wert auf die Feststellung ihrer Kompetenzen. Dennoch hat der Bund auf Vorschlag der Bundesregierung und nach der Verabschiedung des jeweiligen Bundesetats in den Jahren 1991 und 1992 mit ganz erheblichen Mitteln die kulturellen Institutionen in den neuen Ländern unterstützt. Ich war immer dafür, ich halte das auch weiterhin für richtig.
Wir haben angesichts der Etatlage für das Jahr 1993 immer noch erhebliche Mittel eingestellt, aber ich glaube nach dem Kenntnisstand von heute, nach vielen Gesprächen mit Kollegen und Verantwortlichen vor allem in den neuen Bundesländern auch, daß wir uns gemeinsam bemühen sollten, im Verlauf der Etatberatung - wir haben ja die Gelegenheit dazu - eine Regelung zu finden, die auch für das Jahr 1993 mit Sicherheit zwar nicht alle Wünsche befriedigt, die aber eine insgesamt befriedigendere Lösung bietet. Dies ist meine konkrete Zusage,
({0})
wobei ich, Herr Kollege Klose, allerdings gleich hinzufügen will - das geht mehr an die Bundesratsbank -, daß ich schon erwarte, daß auch die Landesregierungen der neuen Bundesländer einmal konkrete Vorstellungen entwickeln, wie sie die Dinge auf die Dauer weiterbringen wollen.
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Es kann nicht sein - eigentlich müßten wir uns in diesem Punkt einig sein -, daß man in dieser schwierigen Situation immer wieder an den Bund und die Bundesregierung appelliert und nicht zugleich auch seitens der Betroffenen vor Ort sagt, was man vermutlich beibehalten kann - ich spreche jetzt vor allem von Institutionen -, welche Zeitpläne man hat und wie das Ganze aussieht. Denn es kann keinen Zweifel darüber geben, daß der Bund schon aus verfassungsrechtlichen Gründen diese Aufgabe auf die Dauer nicht wird wahrnehmen können.
Weil wir heute aus gutem Grund sehr viel über Ökonomie und über Geld reden, meine Damen und Herren, will ich von meiner Seite noch einmal unterstreichen, daß dies eine ganz wichtige Sache ist. Es wird ja viel von Identität und Identitätskrise gesprochen. Was Tradition und Geschichte der Kulturlandschaft in dem Teil Deutschlands ausmachen, den heute die neuen Länder bilden, aber was auch Leistungen der Menschen in den letzten 40 Jahren bedeuten, das alles muß man hier sehen und berücksichtigen. Das ist aus meiner Sicht nicht irgendein Thema, sondern eine Frage, die ganz zentral den Verstand und die Herzen der Menschen vor Ort berührt, und deswegen sollten wir hier gemeinsame Lösungen suchen.
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Und dann, Herr Kollege Klose, möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Es ist ja in der Replik immer die Frage, wie man den Einstieg findet, aber Sie haben mir die Freude gemacht und natürlich auch die Ehre erwiesen - so war es ja gedacht -, aus meiner Regierungserklärung vom 14. Oktober 1982 zu zitieren. Und als ich dieses Zitat aus dieser Regierungserklärung wieder hörte, fand ich einmal mehr, daß das eine sehr gute Regierungserklärung war.
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Und das kann man ja auch sagen.
({4})
- Jetzt hören Sie doch erst einmal den Satz zu Ende!
Es war eine sehr gute Regierungserklärung, und es folgten ihr ja auch zehn ungewöhnlich gute Jahre.
({5})
Und da ich ja in ein paar Tagen auf dieses Datum - -({6})
- Wissen Sie, wann ein Weg zu Ende geht, hängt von vielen Gründen ab. Da muß man abwarten, bis es soweit ist. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, und es gibt viele Beispiele: Wenn man so wie ich seit zehn Jahren von Montag bis Donnerstag in bestimmten Druckerzeugnissen liest, jetzt sei er unmittelbar am Ende, so kann ich sagen: Ich stehe jetzt noch immer als Regierungschef vor Ihnen.
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Einige meiner Freunde haben sich überlegt, was sie mir zu diesem Jahrestag schenken könnten. Sie haben einmal die Titel zusammengestellt, in denen der nahe
Sturz des Helmut Kohl prognostiziert wurde. Das ist eine sehr schöne Sache, und ich werde sie mir am 1. Oktober mit großem Genuß betrachten. Vielleicht hänge ich sie sogar in meinem Zimmer auf, meine Damen und Herren.
({8})
Aber ich will zitieren, was Sie gesagt haben; denn Sie haben in diesem Moment entgegen Ihrer Art etwas schnell gesprochen, und das Zitat ist, finde ich, so gut, daß es wiederholt werden muß.
({9})
Es heißt:
Die Ideologien der Macher und Heilsbringer haben den Wirklichkeitssinn im Lande nicht geschärft, die Selbstverantwortung nicht gestärkt und die geistigen Herausforderungen der Zeit verkannt. Wir brauchen wieder die Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes für die Zukunft unseres Landes.
Ich nehme übrigens für mich nicht in Anspruch, daß so ein Zitat nur von mir stammen könnte. Auch mein geschätzter Amtsvorgänger hat das bei verschiedenen Gelegenheiten gesagt, und sein geschätzter Nachfolger als Kanzlerkandidat hat das in einem Zusammenhang als „Sekundärtugenden" aus einer Unzeit charakterisiert.
({10})
Das ist insofern, glaube ich, ein auf allen Seiten gesichertes Zitat.
({11})
- Jetzt lassen Sie mich doch einmal reden! Ich habe Sie doch auch angehört.
Ich glaube schon, daß wir, die Koalition und die Bundesregierung - ich nehme das auch für mich in Anspruch - in diesen Jahren versucht haben - dafür bedanke ich mich bei allen Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsparteien und auch in den Koalitionsfraktionen -, nach dem Maßstab dieser Tugenden zu handeln. Ob wir - ich werde auch auf die Gegenbeispiele kommen - diesem Maßstab immer gerecht geworden sind, das muß man miteinander diskutieren.
Aber ich will angesichts der Debatte zwei Jahre nach der deutschen Einheit und zur Halbzeit der Koalition - - Nicht der Koalition, sondern der Amtszeit dieses Bundestages; wenn Halbzeit wäre für die Koalition, wäre das Spitze.
({12})
Das geht selbst dem Kollegen Lambsdorff zu weit.
({13})
Aber es ist Halbzeit dieser Legislaturperiode, und wir reden über die Probleme der deutschen Einheit. Wenn Sie mich ansprechen, Herr Klose, will ich schon sagen: Wenn wir damals, 1983, nicht nach diesen
Prinzipien gehandelt hätten, hätten wir den Nachrüstungsbeschluß nicht durchgesetzt, die NATO nicht stabilisiert und heute die deutsche Einheit nicht, weil die sowjetische Politik einen anderen Weg gegangen wäre.
({14})
Wir beklagen jetzt an allen Orten die Probleme der Konversion. Diese hätten wir ebenfalls nicht; denn auch die Abrüstung wäre nicht gekommen.
({15})
Dies kann ich deswegen gut sagen, weil einer, der es wissen muß, Michael Gorbatschow, mehr als einmal bestätigt hat, daß ohne die Festigung des Westens - sie ist vor allem bei uns in Deutschland erfolgt -, ohne die klare Position „Bis hierhin und nicht weiter! " und die klare Absage an eine Politik, als würde man den Westen über Hochrüstung in die Knie zwingen können, diese Entwicklungen nicht möglich gewesen wären. Das Ende des kommunistischen Regimes in der Sowjetunion hat uns die Chance der deutschen Einheit gebracht, nicht mehr und nicht weniger. Das muß man immer wieder sagen.
({16})
Herr Klose, weil der Terminus „Aussitzen" - und wie der Unsinn sonst noch heißt - immer wieder kommt: Ich erinnere Sie daran, wie Ihre Position damals war. Es war nicht die Position des Mutes und der Weitsicht. Es war die Position des sich Arrangierens und des Kleinmuts. Deswegen sollten Sie zunächst einmal darüber sprechen, wie Sie Ihren Beitrag zur Geschichte leisten wollen.
({17})
Ich erinnere an ein anderes Datum, das nicht so lange zurückliegt. Ich stand an dieser Stelle im November 1989 anläßlich des 10-Punkte-Programms zur deutschen Einheit. Da haben wir Mut, Tatkraft und Weitsicht gegen alle Widerstände in Ost und West bewiesen. Auch das gehört zur Vorgeschichte der deutschen Einheit.
({18})
Weil Sie jetzt unentwegt dabei sind, Geschichte umzuschreiben: Dazu gehört auch jener Abend am 10. November, wo nicht wenige, die heute hier im Saal sitzen, dabei waren, als der damalige Berliner Bürgermeister Momper rief, es gehe nicht um Wiedervereinigung, sondern um Wiedersehen. So war das.
Meine Damen und Herren, dann kam Monate später ein nächster Termin: die Schaffung der innerdeutschen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Lesen Sie doch bitte noch einmal nach, was Sie damals dazu gesagt haben. Das war keine Ermunterung für jenen, der Mut und Tatkraft beweisen sollte.
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Ich will ganz wenige weitere Beispiele bringen. In ein paar Wochen haben wir den Europäischen Binnenmarkt für 340 Millionen Menschen. Ich denke und ich hoffe, daß bis zur Tagung des Europäischen Rates im Dezember in Edinburg auch bei unseren
Freunden und Nachbarn in Frankreich Klarheit über den Maastricht-Vertrag herrscht. Jetzt frage ich Sie: War das etwa nicht Mut, war das etwa keine Tatkraft, und war das etwa nicht Handlungsfähigkeit, daß nicht zuletzt die deutsche Bundesregierung den entscheidenden Durchbruch gegen Eurosklerose in Europa erreicht hat?
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- Nun gut. Aber, gnädige Frau, nach Ihrer Rede gestern muß man sich immer fragen, wofür Sie sind und wofür Sie nicht sind. Die Antwort ist etwas schwierig.
({21})
Ich will aber hinzufügen: Es waren natürlich zehn Jahre - das gilt vor allem für die letzten zwei Jahre -, in denen wir vieles leisten konnten, manches nicht geleistet haben, in denen wir vieles richtig gemacht haben, aber auch manches falsch gemacht haben. Auch darüber will ich heute ganz offen mit Ihnen sprechen.
({22})
- Sie wollten doch immer eine solche Rede und einen solchen Bericht. Jetzt haben Sie ihn; jetzt hören Sie doch erst einmal zu!
Die Ausgangsposition wird oft verdrängt. Wie Sie heute zum Teil reden, sind Sie ein wirkliches Beispiel dafür. Wir und nicht zuletzt ich - ich sage das vor allem für die Kolleginnen und Kollegen aus den Koalitionsparteien - haben immer an die deutsche Einheit geglaubt, und wir haben alles getan, um dieses Ziel zu erreichen.
({23})
Wir wissen heute besser als vor zwei Jahren, daß dieses wahrhaft säkulare Ereignis, das ohne jedes Beispiel ist, enorme Probleme mit sich bringt - mehr, als viele - auch ich - in diesem oder jenem Punkt erwartet haben. Es hat sich manches so nicht bestätigt, wie wir es angenommen haben.
Ich will ein paar Beispiele bringen. Ich gehöre zu denen, die sich nicht durch die Manipulation über die vorgegaukelte Leistungskraft der DDR-Wirtschaft haben täuschen lassen.
({24})
- Jetzt hören Sie erst einmal zu! Ich verstehe überhaupt nicht, daß Sie dazu das Wort nehmen. Ich muß Sie wirklich daran erinnern, was hier im Bundestag los war, als Herr Modrow als Ministerpräsident hierherkam und sagte, er wolle 15 Milliarden DM haben; wenn er sie bekomme, gingen die Dinge einigermaßen in Ordnung. Dann haben doch Sie gerufen: Er muß die 15 Milliarden DM bekommen.
({25})
- Herr Modrow, wir brauchen uns darüber nicht zu
unterhalten. Sie haben die 15 Milliarden DM in der
Erwartung, daß Sie damit die Probleme lösen können, angefordert. Heute weiß man, daß es eine Illusion war, wir könnten mit 15 Milliarden DM die Probleme lösen.
({26})
Im übrigen haben Sie es besser gewußt. Wenn Sie mich jetzt schon ansprechen: Sie haben damals nicht die Wahrheit gesagt; denn Sie wußten, was ich erst heute weiß, daß die führenden SED-Funktionäre im Wirtschaftsbereich Ihnen und anderen innerhalb des Politbüros Papiere vorgelegt haben, aus denen hervorging, daß die DDR-Wirtschaft so oder so, Einheit oder nicht, in den Bankrott gehen würde, und zwar bald. Sie haben uns das verschwiegen.
({27})
Wahr ist aber auch, meine Damen und Herren, daß das volle Ausmaß dessen, was uns erwartet hat und was wir erfahren haben, von niemandem - ich behaupte dies - vorausgesehen wurde. Das können wir doch ehrlich miteinander besprechen. Ich beobachte jetzt gelegentlich diese oder jene Äußerung aus der Wissenschaft. Ich kann nur sagen: Zu jenem Zeitpunkt hat man davon nichts gehört.
({28})
Viele, die wie ich nur gelinde Zweifel angemeldet haben, sind als kalte Krieger und Scharfmacher verschrien worden. Das war doch die Erfahrung!
({29})
Meine Damen und Herren, wir brauchen uns aber über diese Sache eigentlich nicht zu streiten. Denn wahr ist doch, daß wir im Vertrag zur Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion gemeinsam von einem erheblichen Vermögen der damaligen DDR ausgegangen sind. Jetzt streite ich wieder nicht um die Summen; Theo Waigel hat sie gestern hier genannt. Aber warum, frage ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat man dann einen sogenannten Besserungsschein in diesem Vertrag vorgesehen, wenn wir nicht der Erwartung gewesen wären oder wenn nicht die Erwartung geweckt worden wäre, daß am Ende, wenn die Dinge geordnet sind, noch etwas zur Verteilung an die Bürger der damaligen DDR übrigbleibt? Sie werden doch nicht behaupten, daß alle Verhandler - etwa der damalige SPD-Finanzminister und Verhandler für die DDR, die Regierung de Maizière und auch die Bundesregierung - leichtfertig gehandelt haben.
({30})
- Natürlich war dies so. Man kann natürlich heute sagen: „Ihr habt euch getäuscht". Darm sage ich: „Gut, das ist wahr. Aber ich lehne es ab, in der Art über die Dinge zu reden, wie jetzt geredet wird."
Ich nehme ein anderes Beispiel, das mich persönlich besonders betrifft. Ich habe vor jetzt gerade 14 Monaten in einem langen Gespräch in Kiew mit dem damaligen Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, ein ganz konkretes Programm im Gegenwert von mindestens 25 Milliarden DM ausgehandelt, das vorsah, daß wir Warenströme aus den BeBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
trieben der neuen Bundesländer, der früheren DDR, in die Sowjetunion lenken. Wir haben auch über die schwierige Finanzierung gesprochen. Gestern ist hier das Beispiel von den Schiffen genannt worden. Wir würden diese Schiffe ja herzlich gern verkaufen, und zwar so, daß es gerechtfertigt ist, dafür überhaupt den Begriff „Verkauf" zu benutzen. Sie kennen doch das Problem, wenn man so etwas verschenkt. Das haben Sie gestern selbst gesagt. Diese Schiffe standen auf dieser Liste.
Tatsache ist, daß sich das alles anders entwickelt hat. Michail Gorbatschow ist nicht mehr Präsident der Sowjetunion. Die Sowjetunion ist auseinandergefallen. Die einzelnen Nachfolgerepubliken steuern ihren eigenen Kurs. Wer jetzt, wie der Wirtschaftsminister und in ein paar Wochen der Finanzminister, in Moskau über Schulden, über Rubelkonto und anderes verhandelt - ich selber werde das im Dezember mit Präsident Jelzin in Moskau ebenfalls tun -, der weiß, was das für ein Problem ist. Der weiß auch, daß wir eine Summe erreichen, die auch nicht im entferntesten an die damalige Absprache herankommt.
Das hat existentielle Bedeutung. Beim Maschinenbau in Chemnitz, bei der Textilindustrie in der Oberlausitz werden bis zu 90 % der Arbeitsplätze abzubauen sein.
Wir haben auch in anderen Bereichen an dem einen oder anderen Punkt sicherlich nicht das getan, was wir hätten tun müssen. Ich sage das selbstkritisch, aber auf andere trifft diese Kritik auch zu. Wir müssen noch einmal überlegen, was man unter den heutigen Verhältnissen tun kann, um das abzuschwächen, was durch die sofortige Übernahme des komplizierten Bau- und Planungsrechts der alten Bundesländer in den neuen Bundesländern an Negativwirkung entstanden ist.
({31})
Das ist seinerzeit schon diskutiert worden. Aber es kam mit Recht der Einwand: Erstens ist das im Rahmen dieser Verfassungsordnung doch so gar nicht zu machen. Zum zweiten - ich sage das ohne Vorwurf gegenüber jenen, die so gedacht oder sich so geäußert haben - können wir das, was wir als gemeinsame Errungenschaft, wie man sagt, erarbeitet haben - denken Sie an das Baugesetzbuch, an die vielen Jahre Arbeit daran auch hier im Parlament -, doch jetzt nicht unseren Landsleuten vorenthalten. - Wir hätten es besser für eine gewisse Zeit vorenthalten; das muß man ehrlich sagen.
({32})
Insofern stehen wir in enormen Lernprozessen. Ich finde es wenig sinnvoll, fortdauernd zu sagen: Aber da und dort hast du dich getäuscht. - Ich nehme das mit großer Gelassenheit hin. Sie brauchen keine Angst zu haben. 1994 werden wir über Fehler und Erfolge reden.
Aber in einem haben wir uns nicht getäuscht. Wir reden hier über die deutsche Einheit nicht mehr mit Blick auf die Zukunft, sondern mit Blick auf die Gegenwart. Eine Reihe der Kollegen, die in diesem Hause sitzen und heute hier zuhören, wären nicht
Mitglieder des Deutschen Bundestages, wenn wir diese Politik nicht gemacht hätten.
({33})
Lassen Sie mich sehr persönlich sagen: Für mich ist und war - das wird auch in Zukunft so sein - das Thema deutsche Einheit nicht irgendein Thema. Ich spüre genau wie Sie alle - das ist auch ein Punkt, Herr Kollege Klose, in dem wir uns wahrscheinlich alle, zumindest die meisten, mehr oder minder getäuscht haben, jedenfalls in der Dimension -, daß neben dem Ökonomischen, auf das ich gleich zu sprechen komme, das menschliche Miteinander das eigentlich Schwierige ist; daß 40 Jahre DDR-Unrecht eben nicht von einem Tag auf den anderen aufgearbeitet werden können. 40 Jahre, das sind zwei Generationen. Hier ist heute immer wieder gesagt worden, junge Leute hätten jede Motivation verloren, weil sie die Wertgrundlage verloren hätten. Die Wertgrundlage ist nicht eine Frage der letzten zwei Jahre. Das ist eine Frage der Erziehung der Kinder und - in diesem Falle - der Erziehung der Eltern, wenn Sie über die letzten 40 Jahre reden.
Meine Damen und Herren, es ist jetzt wichtig - ungeachtet unserer politischen Auseinandersetzungen - daß jeder, wo immer er kann - das gilt auch für die politischen Parteien, aber nicht nur für sie -, an diesem menschlichen Miteinander mitarbeitet und mitgestaltet. Ich lehne es ab, dieses Thema ausschließlich auf die Politik abzuschieben.
({34})
Ich sehe hier eine gewaltige Aufgabe der Kirchen. Es wäre dem einen oder anderen in der Kirche zu wünschen, daß er sich im Moment nicht nur um seine eigenen Dinge kümmert, sondern auch dem pastoralen Auftrag für das Ganze nachkommt.
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Ich denke, auch die großen Organisationen der Gesellschaft sind hier gefordert. Ich nenne die Gewerkschaften, ich nenne die Wirtschaftsverbände, ich nenne den Sport. Ich habe da am Rande von Barcelona - ich war nicht dort, aber ich habe es mitbekommen - doch manches gehört und gesehen. Und wenn der Sport völkerverbindend ist, wie immer behauptet wird, dann müßte er zumindest im eigenen Land verbindend sein.
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Deswegen hat der Sport hier noch eine große Aufgabe. Ich kann die Liste im übrigen beliebig erweitern.
Nur eines lehne ich kategorisch ab: daß auch die Frage des menschlichen Miteinanders, die Notwendigkeiten, Probleme, Siege und Niederlagen in diesem Feld jetzt auf die Parteien abgeschoben werden. Es ist billig geworden, sein persönliches Unwohlsein auf die Parteien abzuschieben.
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Wer weiß - das wissen Sie, das weiß der Parteivorsitzende der SPD, der der CDU und der der F.D.P. genauso wie andere -, wie schwierig es nach diesen Jahrzehnten in einer völlig anderen - auch mentalen -Entwicklung ist, etwa in unseren westdeutschen Parteiverbänden zueinander zu kommen, der erkennt, daß das eine ganz wichtige Aufgabe ist. Aber ich habe, wenn ich mich dieser Aufgabe mit meinen Freunden unterziehe - nicht immer mit Erfolg - nicht die Absicht, mich dafür noch beschimpfen zu lassen. Das sage ich einmal klar und deutlich.
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Meine Damen und Herren, Wohlstand im Osten aufbauen, Entwicklung im Westen sichern, das sind die Devise und der Auftrag jetzt. Der wirtschaftliche Aufbau in den neuen Bundesländern hat für uns unveränderte Priorität. Der Bundesfinanzminister hat das gestern in vielen Details deutlich gemacht; ich brauche dem nichts hinzuzufügen. Wir sind zutiefst davon überzeugt, daß wir - das ist unabdingbar, egal, wie man zu anderen Dingen stehen mag - den dafür erforderlichen enormen finanziellen Anforderungen nur durch eine strikte Sparsamkeit in den öffentlichen Haushalten gerecht werden können. Das ist Dreh-und Angelpunkt der öffentlichen Finanzen. Die Solidität der Staatsfinanzen hängt davon ab.
Wir, die Koalition, haben am 30. Juni erklärt, Bund und alte Länder sowie ihre Gemeinden müssen die Konsolidierungslinie mit durchschnittlich 2,5 bis 3 % jährlicher Steigerungsrate einhalten, damit Steuererhöhungen vermieden werden können.
Ich weiß, wie schwierig dies im Bund ist. Ich war lange genug Ministerpräsident, um zu wissen, wie schwierig es in den Ländern ist, allein durch den Klotz von Personalhaushalten, die zwischen 40 und 45 % des Gesamthaushaltes ausmachen. Ich war lange genug in der Kommunalpolitik, Mitglied eines Stadtrates
({39})
- das können Sie ja nun nicht leugnen; ich kann Ihnen auch noch mein Geburtsdatum sagen, da können Sie auch „nein" schreien, meine Damen und Herren, aber das ist nun einfach wahr -,
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und weiß daher, wie schwer es dort ist. Dennoch glaube ich, meine Damen und Herren, daß es so, wie das jetzt läuft - das ist ja von verschiedener Seite hier kritisiert worden -, nicht laufen kann.
Und ich füge hinzu: Wenn man jetzt auf der Länderebene sagt, das geht auf gar keinen Fall, dann muß ich ein paar Monate zurückblenden. Auch damals hätte ich diese oder jene Äußerung in der Diskussion um die Tarifrunde gern gehört. Machen wir uns überhaupt nichts vor: Kein Mensch in diesem Saal kann ernsthaft behaupten, daß die Tarifabschlüsse in der Wirtschaft und im öffentlichen Dienst in diesem Jahr unserer wirtschaftlichen Situation angemessen sind.
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Und ich rede jetzt nicht nur von den Tarifabschlüssen, was die Summe betrifft, sondern auch davon, daß in Fragen der Arbeitszeitverkürzung insgesamt in Deutschland so getan wird, als hätte es die deutsche
Einheit überhaupt nicht gegeben. Wenn also gerne von Opfern geredet wird, dann, finde ich, wäre das einfachste Opfer für alle, wenn wir seinerzeit eine weitere Verkürzung der Arbeit gestoppt und gesagt hätten, dies ist ein Beitrag zu einer soliden Wirtschaft und einer soliden Gesamtentwicklung für Deutschland als Ganzes.
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Meine Damen und Herren von der SPD, zwei Ihrer Kollegen - sie sind zwar dafür beschimpft worden -, aber das macht ja nichts, für gute Vorschläge wird man meistens erst einmal beschimpft - aus dem Bereich der Bundesländer haben in einem anderen Zusammenhang Anregungen gemacht, über die wir doch zumindest einmal reden sollten.
Es ist angeregt worden, die Aufwendungen für Asylbewerber in einem zumutbaren Umfang zu senken.
Das ist eine Frage, die sich jetzt stellt. Wenn wir sie uns hier nicht stellen, müssen wir uns fragen, ob wir noch sehen, was unsere Bürgerinnen und Bürger, unsere Wähler dazu sagen.
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Jeder von uns, meine Damen und Herren, muß doch zugeben, daß das, was wir auf diesem Gebiet einmal konzipiert haben, für einen ganz anderen Fall und für eine andere Größenordnung gedacht war. Es war gedacht für jene Gruppe, um die es beim Asyl nach unserem Verfassungsverständnis immer gegangen ist. Es geht nämlich darum, Menschen - und das muß auch so bleiben -, die aus rassischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt werden, bei uns Heimat zu geben. Das ist eine Bringschuld der Deutschen angesichts der Geschichte dieses Jahrhunderts. Das bleibt auch so.
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Aber das, was sich daraus jetzt entwickelt hat - und das macht doch einen Teil der Stimmung aus -, ist auf die Dauer so nicht erträglich! Deswegen sollten Sie die beiden Kollegen zunächst nicht beschimpfen, sondern bereit sein - das ist ja ein Teil des Gesprächs über den Solidarpakt -, gemeinsam zu überlegen, was man tun kann. Wenn es um Gesetze geht, Herr Kollege Klose, bei denen der Bund die Gesetzgebungskompetenz hat und die von den Ländern angeführt werden, sind wir sofort zum Gespräch bereit und auch willens - wenn es nützlich ist -, solche Gesetze zu ändern. Das biete ich hier für die Bundesregierung an.
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- Herr Kollege, führen Sie die Diskussion doch zu dem Punkt! Sie wissen doch genau, daß das Problem damit gar nicht zu lösen ist.
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- Entschuldigung, ein Teil unseres Problems ist, daß
die Debatte so stattfindet, daß Sie auf etwas antworBundeskanzler Dr. Helmut Kohl
ten, was ich gar nicht gesagt habe. Ich habe überhaupt niemanden angeklagt,
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sondern ganz ruhig die Frage gestellt, ob wir fähig sind, über Vorschläge, die sogar aus Ihren Reihen kommen, nachzudenken und Dinge zu verbessern.
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Ich füge weiter hinzu, daß jeder - Sie haben es doch auch gesagt - erkennen muß, daß wir uns gegenwärtig in schwerer See im Bereich der Weltwirtschaft bewegen. Ein Blick nach Amerika, nach Japan und in die europäischen Länder zeigt das. Und in einem Land, in dem die Hälfte der Arbeitsplätze vom Export abhängt, muß man dann doch Konsequenzen ziehen!
Es ist hier von Graf Lambsdorff richtig gesagt worden: Wenn die westdeutsche Industrie nicht boomt, wenn hier auch über Steuern nicht das nötige Geld hereinkommt, haben wir nicht die Mittel zum Transfer in die neuen Länder.
Deswegen finde ich, daß wir - ungeachtet aller anderen Notwendigkeiten - gemeinsam - und das gehört ebenfalls in ein Gespräch über den Solidarpakt - über den Standort Deutschland, über bessere Bedingungen für Investitionen, über eben die Dinge, die wir jetzt tun müssen, reden sollten, damit wir eine Entwicklung einleiten, die die Chance bietet, daß die Bundesbank bestimmte Entscheidungen trifft, die heute weltweit, wie Sie wissen, gewünscht werden, die aber jetzt aus bestimmten Gründen nicht zu treffen sind.
Wir sind in der Situation, daß wir in diesen Jahren - das gehört auch zu dem Plus und Minus dieser zehn Jahre - Spitzenlöhne und zugleich die kürzeste Arbeitszeit haben. Und was vielleicht das Allerschlimmste ist - zumindest dieses Problem müßten wir jetzt einmal angehen -: Wir haben gleichzeitig die kürzeste Maschinenlaufzeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft.
({49})
- Sie brauchen doch nur nachzulesen, was Jacques Delors dazu veröffentlicht hat. Ich brauche es Ihnen doch nicht zu sagen. Jeder, der hier laut dazwischenruft, sollte das wenigstens vorher gelesen haben.
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Anders ausgedrückt: Wir müssen alles tun, um die Standortbedingungen zu verbessern. Das ist immer zugleich auch ein Beitrag zur Sicherung der Zukunft der neuen Bundesländer. Deswegen will ich noch einmal sagen: Das gestern vom Finanzminister vorgelegte Konzept der Unternehmenbesteuerung ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft, und zwar in allen Teilen Deutschlands!
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Jetzt ist entscheidend, daß Bund, Länder und Gemeinden, private Wirtschaft, Treuhand und Tarifpartner den Versuch unternehmen, möglichst gemeinsam das Notwendige zur Stabilisierung und zum Aufschwung beizutragen.
Ich will sechs für mich wichtige Punkte nennen:
Erstens. Für einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufbau in den neuen Bundesländern muß die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft in den alten Bundesländern gesichert werden. Das eine ist die Voraussetzung für das andere.
Zweitens. Investitonen sind der Schlüssel für den Aufbau Ost. Öffentliche Investitionen von Bund, Ländern und Kommunen, von Post, Bahn und Sozialversicherung haben eine Dimension erreicht, wie das in einer vergleichbaren Industriegesellschaft noch nie der Fall war.
Wir alle sehen aber mit großer Sorge, daß die Investitionsbereitschaft im privaten Bereich weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben ist.
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Deswegen müssen wir jetzt - und das notwendige Gespräch mit der Wirtschaft, mit den Gewerkschaften ist hier besonders hervorzuheben - in diesem Sektor entsprechende Überlegungen anstellen. Wir haben die Investitionszulage für die neuen Länder bis 1996 verlängert, haben die Regionalförderung erhöht.
Drittens. Wir wollen - für mich ist das ein ganz entscheidender Punkt - vor allem sehr schnell weitere Überlegungen anstellen, was wir im Bereich des industriellen Mittelstandes tun können. Es ist schon viel geschehen, aber wir haben hier eine ganz besonders schwierige Lage. Für mich gehört, was den ökonomischen Bereich angeht, die Vernichtung des Mittelstands in der alten DDR durch die SEDHerrschaft zu den schlimmsten Folgen des ganzen SED-Regimes.
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Denn, meine Damen und Herren, ohne einen möglichst schnellen Aufbau eines selbständigen, unabhängigen Mittelstandes werden wir auf die Dauer keine Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft in den neuen Ländern aufbauen können.
Gefragt ist menschliches Miteinander auch im Bereich von Finanzen und Wirtschaft, und Solidarität erweist sich eben darin, daß auf längere Zeit 4 bis 5 % des Bruttosozialprodukts, also gut 140 Milliarden DM jährlich, für den Aufbau zur Verfügung gestellt werden. Theo Waigel hat dies alles dargestellt. Zu diesem Bild gehört aber auch, daß wir mit der jetzigen Größenordnung unserer finanziellen Unterstützung für Ostdeutschland die Grenze der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit allmählich erreicht haben. Es muß gemeinsame Überzeugung sein, daß dieser finanzielle Kraftakt im Interesse unserer gemeinsamen Zukunft - das ist auch wahr - längere Zeit notwendig ist, als viele - auch ich - gedacht haben.
Viertens. Eine der größten Schwierigkeiten für den Aufbau in den neuen Bundesländern ist nicht vor, sondern nach dem 3. Oktober entstanden: Das sind die Löhne, das ist die Frage der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, der Produktivität, im Zusammenhang mit den Löhnen. Sie sind weit auseinander gelaufen. Meine Damen und Herren, es muß doch unter vernünftigen Menschen möglich sein, nicht gegen die Gewerkschaften, sondern in vernünftigen Gesprä8742
chen mit den Gewerkschaften hier eine Lösung zu finden. Es muß doch unser gemeinsames Interesse sein, die Gewerkschaften nicht zu schwächen.
({54})
- Das haben Sie von mir schon hundertmal gehört, aber Sie hören ja nicht zu. Deshalb fällt es Ihnen so leicht, Zwischenrufe zu machen. Meine These war immer, daß eine gesunde Volkswirtschaft starke Gewerkschaften haben muß. Daß die Gewerkschaften - „die" Gewerkschaften ist zu pauschal, ist falsch -, daß manche der Gewerkschaften das mir gegenüber nicht sonderlich honoriert haben, ist wahr. Ich war nie die erste Wahl der führenden DGB-Leute, aber ich bin immer noch da. Auch das gilt in diesem Zusammenhang.
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Ich sage noch einmal: Wir müssen den Zusammenhang zwischen Löhnen, Produktivität und Sicherheit von Arbeitsplätzen in den neuen Ländern herstellen und zu Regelungen kommen, die berücksichtigen, daß das Automobilwerk in Eisenach, das in ein paar Tagen endgültig eingeweiht werden wird, und ein bestehender mittlerer Betrieb in der dortigen Umgebung völlig unterschiedliche Bedingungen haben. Hierauf muß man doch Rücksicht nehmen. Wer dies nicht begreift, kann die Lage in den neuen Ländern nicht begreifen.
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Daß es gelingt, mit gemeinsamer Tat - trotz des großen Geschreis in manchen Ecken unserer Republik - Gutes zu tun, vernünftige Ergebnisse zu erzielen, erleben Sie in diesen Tagen. Bloß, darüber lesen Sie fast nichts. Es ist doch eine höchst erfreuliche Tatsache, daß alle jungen Leute, die eine Lehrstelle wünschen, die etwas lernen wollen und nicht nur an einen Ort gebunden sind - das ist ja im Westen nicht anders -, mit größter Wahrscheinlichkeit eine gute Chance haben, eine Lehrstelle zu finden, und daß wir im überbetrieblichen Ausbildungsbereich für eine Übergangszeit aushelfen können. Denjenigen, die das kritisieren, will ich nur sagen: Das war in der alten Bundesrepublik nie anders. In meiner Heimatstadt Ludwigshafen sind junge Leute aus dem Bayerischen Wald über viele Jahre als Chemiewerker ausgebildet worden und erstklassige Fachleute geworden.
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Wir können doch nicht erwarten, daß die Lehrstelle in dieser wirtschaftlichen Situation überall vor Ort zu finden ist. Der entscheidende Punkt ist doch, daß eine junge Frau, ein junger Mann jetzt eine Ausbildung erhält, daß sie nicht auf die Straße getrieben werden - mit all den Konsequenzen, die sich daraus ergeben können.
({58})
Der fünfte wichtige Punkt ist die Arbeitsmarktpolitik. Ich will sie hier nicht weiter ausführen. Dazu wird in der Debatte mit Sicherheit noch etwas gesagt werden. Ansonsten glaube ich, daß die Bundesregierung, die Koalitionsparteien auf diesem Feld das getan haben, was notwendig ist.
Der sechste Punkt betrifft die notwendige, drastische Vereinfachung von Rechts- und Verfahrensvorschriften. Der Perfektionismus auf diesem Gebiet muß fatale Wirkungen haben, weil vor allem viele, die diese Verordnungen zum ersten Mal in ihrem Leben sehen oder anwenden müssen, in eine Entscheidungsängstlichkeit getrieben werden, die völlig inakzeptabel ist. Deswegen haben wir im Kabinett darüber gesprochen. Ich hoffe, daß die Bundesregierung bald Vorschläge in diese Gespräche einbringen kann, wie wir hier zu Vereinfachungen kommen können.
Meine Damen und Herren, ich hoffe sogar - und wir können ja voneinander lernen -, daß die Entwicklung in den neuen Ländern, wenn wir hier auf einen klugen Kurs gehen, auch Auswirkungen auf die bisherige Situation in den alten Ländern hat. Denn wenn wir für lebenswichtige kommunale und andere Anlagen der öffentlichen Hand Genehmigungszeiträume zwischen fünf und zehn Jahren haben, können wir in den neuen Ländern alles vergessen. Aber wenn wir erreichen würden, daß das, was in Sachsen oder in Thüringen heute in kürzerer Zeit möglich ist, auch in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen schneller möglich ist, dann würden wir dem Wunsch vieler Oberbürgermeister und Politiker auf Landes- und kommunaler Ebene entsprechen, die leider zu wenig öffentlich sagen, wohin die Dinge getrieben sind.
({59})
Das ist ein Grund, warum ich in dieser Woche zu Gesprächen über einen Solidarpakt eingeladen habe. Herr Klose, mir geht es überhaupt nicht darum, mich in einer großen Runde mit vielen Notablen zu versammeln, sondern ich habe in der Einladung ja geschrieben, daß wir diese Gespräche mit Experten vorbereiten wollen. Wir haben dann Gelegenheit, über Vorschläge zu reden, und am Ende sollten Sie dann erklären, was aus Ihrer Sicht gut und was nicht gut ist. Aber erst müssen wir miteinander reden. Wenn Sie dann am Ende sagen würden, ich bin nicht für eine große Koalition, aber ich will als Oppositionsführer einen Sachbeitrag leisten, dann haben Sie einen guten Beitrag zur deutschen Gegenwart geleistet.
({60})
Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir noch eine kurze Bemerkung zu drei Bereichen.
Zum Thema innere Sicherheit: Ich will nicht auf das eingehen, was eine Rednerin hier vor mir gesagt hat. Wer es gehört hat oder es liest, weiß, es erübrigt sich. Aber es ist unbestreitbar, daß nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa die Frage der inneren Sicherheit immer mehr Menschen beschäftigt. Das ist auch ganz verständlich, wenn Sie die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Die Zahl gewalttätiger Ausschreitungen hat zugenommen, und zwar auch im Bereich der Extremisten von rechts und von links. Ich bin strikt dagegen, diesen Extremismus nur auf einer Seite zu sehen.
({61})
- Das werden Sie nicht bestreiten können. Ich kann
Beispiele nennen. Was in der Hamburger Hafenstraße
in diesen Jahren passiert ist, geschah doch nicht durch Rechtsextremisten.
({62})
In den alten Bundesländern stieg die Zahl der Straftaten innerhalb der ersten sechs Monate dieses Jahres um 10 %. Bei den Raubdelikten, meine Damen und Herren, ist eine Steigerung von 30 % festzustellen. Deswegen wehre ich mich entschieden dagegen, in dieser schwierigen Zeit immer nur auf die neuen Bundesländer zu schauen.
Das, was mir mit weitem Abstand die meisten Sorgen macht, ist, daß die Rauschgiftkriminalität und das organisierte Verbrechen zu einer ernsten Bedrohung der inneren Sicherheit in Europa geworden sind. Es ist zwingend, daß wir hier handeln. Es war die deutsche Bundesregierung - und im Rahmen der Regierung vor allem ich -, die bei allen EG-Gremien darauf gedrängt hat, daß wir in diesem Zusammenhang mit Europol endlich eine Einrichtung schaffen, die in der Lage ist, zu helfen.
({63})
Vor ein paar Tagen schrieb einer, von dem ich eigentlich glaube, daß er auch Ihr Ohr finden müßte, nämlich der ehemalige Präsident des Oberlandesgerichts Braunschweig und langjährige Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Juristen, Rudolf Wassermann:
Ein Staat, der das Recht nicht durchzusetzen und der Gewalt nicht zu wehren weiß, wird von seinen Bürgern nicht ernst genommen, ja verachtet.
({64})
Die Vorgänge in Rostock waren keine singulären Ereignisse. Sie hatten ihre Vorläufer und werden sich wiederholen, wenn der Rechtsstaat den Gewalttätern nicht ernstlich die Zähne zu zeigen lernt.
Wir alle wissen, daß Freiheit und Sicherheit nicht im Gegensatz zueinander stehen, wie oft aus einer falsch verstandenen Liberalität heraus behauptet wird. Wir alle wissen, daß wir eine wehrhafte Demokratie brauchen. Und in den Rahmen dieser wehrhaften Demokratie, füge ich hinzu, gehört auch, daß wir den Dienst unserer Polizeibeamten unterstützen und daß wir uns gegen jede Verunglimpfung wenden, wo sie auch stattfindet.
({65})
Ich sage das gern noch einmal angesichts von zwei Ereignissen der letzten Monate. Die gleichen, die die Polizei beschimpft haben, in Wort und Schrift, daß sie in Rostock nicht tatkräftig genug eingeschritten sei, haben sie in München beim Weltwirtschaftsgipfel ein paar Wochen zuvor in einer völlig unangebrachten Weise beschimpft.
({66})
Deshalb ein kurzes Wort zu dem Thema der Ausschreitungen.
({67})
- Ich wäre an Ihrer Stelle nicht so laut; denn wenn es darum geht, die Probleme im heutigen Deutschland, in den neuen Ländern zu lösen und in Ordnung zu bringen, muß man immer wieder feststellen, daß nicht diejenigen in den Kommunalparlamenten, in den Gemeindeverwaltungen, in den Landratsämtern, in den Landesregierungen und in der Bundesregierung, die heute Verantwortung tragen, diese Probleme geschaffen haben, sondern daß sie ein verbrecherisches Regime in über 40 Jahren geschaffen hat.
({68})
Erlauben Sie mir auch ein Wort zu dem Thema Ausschreitungen in Rostock. Das, was dort passiert ist, ist eine Schande - ich habe es immer wieder gesagt - für unser Land, und es schadet dem Ansehen Deutschlands in der Welt. Wer das Leben von Menschen gefährdet, wer Ausländerhaß schürt, wer die gewalttätige Auseinandersetzung mit Recht und Gesetz sucht, dem muß dieser wehrhafte Rechtsstaat entschlossen entgegentreten.
Wahr ist auch - das müssen wir unseren Partnern und Freunden im Ausland immer wieder sagen, und ich bin dankbar, daß auch Sie es getan haben, Herr Klose -, daß die Bürger unseres Landes mit ganz wenigen Ausnahmen friedlich und nachbarschaftlich mit den hier ansässigen Ausländern zusammenleben.
Die riesige Mehrheit weiß auch, daß ohne die Arbeitskraft der Ausländer, die zu uns gekommen sind, um hier zu arbeiten, das Bruttosozialprodukt und der Wohlstand Deutschlands von heute nicht erreicht worden wäre.
({69})
Aber die Menschen machen sich Sorgen über den massenhaften Zustrom von Asylbewerbern, die eben nicht in ihrer Heimat aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt sind. Daß jemand, der in einem Land lebt, in dem man an der wirtschaftlichen Zukunft verzweifelt, woanders eine neue Heimat sucht, ist wohl ganz verständlich. Nur, die Bundesrepublik Deutschland kann die Probleme in weiten Teilen der Welt so nicht lösen.
Die Zahlen müssen eigentlich jede Diskussion erleichtern: 1990 waren es knapp 195 000, 1991 256 000, seit Anfang 1992 sind es 260 000 Asylbewerber. Das heißt, wir werden alles in allem in diesem Jahr über 400 000 Asylbewerber haben.
Diejenigen, die sagen, so können wir das nicht machen, sind nicht fremdenfeindlich und nicht ausländerfeindlich; das ist falsch.
Daß es in diesem Land Leute gibt - es sollte eigentlich unser gemeinsames Interesse sein, denen entgegenzutreten -, die daraus Vorteile ziehen wollen und in der Tradition der Rechtsradikalen, die es in Deutschland und anderswo in Europa immer gab, versuchen, aus diesen Stimmungen Stimmen zu gewinnen, ist wahr. Aber es geht hier nicht darum, daß
wir solchen Leuten und solchen Parteien nachlaufen, sondern darum, daß wir ihnen die Argumente durch eine vernünftige und kluge Politik wegnehmen.
({70})
Deshalb begrüße ich es, Herr Ministerpräsident und Parteivorsitzender der SPD, daß Sie sich jetzt - ich sage: endlich; aber in dieser Frage ist „spät" besser als „nie" - auf den Weg gemacht haben, hier eine Kooperationsmöglichkeit, eine Verständigungsmöglichkeit zu suchen. Ich wünsche Ihnen dabei viel Glück in der eigenen Partei.
Herr Klose, ich höre gerne, daß Sie hier die FAZ zitieren; normalerweise werden bei Ihnen andere Druckerzeugnisse mehr zitiert. Sie zitieren die FAZ vom Samstag. Nun, wir könnten die Zeitungen austauschen; schauen Sie doch in die heutige FAZ. Am Samstag war die CDU dran, heute ist die SPD dran. Das ist der Lauf der Welt, und Parteivorsitzende haben da das gleiche Schicksal.
Ich möchte zu dem zentralen Thema zurückkommen. Ich wünsche, daß wir uns verständigen, aber nicht auf Halbheiten, sondern auf eine Lösung, die wirklich eine Lösung ist, zumal da jeder weiß - das spreche ich mit Bedacht aus -, daß wir allein über eine Verfassungsänderung dieses Problem natürlich nicht lösen können.
({71})
Aber dies habe ich und hat der Kollege Schäuble unzählige Male gesagt.
Sie haben mit der SED ein Papier über Streitkultur erstellt. Das können Sie wegwerfen. Ihr stellvertretender Parteivorsitzender hat dazu eine ungewöhnlich kluge Bemerkung gemacht. Aber übernehmen Sie davon wenigstens so viel, daß wir hier im Parlament zu einer vernünftigen Streitkultur kommen, und nehmen Sie zur Kenntnis, daß wir in diesem Zusammenhang immer zwei Dinge gesagt haben, nämlich daß die Frage des Asyls für politisch, religiös und rassisch Verfolgte außer jeder Diskussion steht - Punkt! -, und zum zweiten, daß wir sehr wohl wissen, daß eine Verfassungsänderung allein die Probleme nicht löst, aber einen erheblichen Teil davon. Wenn man überhaupt nicht beginnt, dann hat man gar keine Chance, etwas zu lösen.
({72})
Erlauben Sie mir in dieser Debatte - es ist ja eine dramatische Zeit - noch eine kurze Bemerkung zu der Entwicklung in Europa und in der EG. Es wäre eine sonderbare Generalaussprache im Deutschen Bundestag im September, wenn wir nicht wenigstens ganz kurz darauf zu sprechen kämen, daß in wenigen Wochen, am 1. Januar 1993, der Europäische Binnenmarkt und zugleich der Europäische Wirtschaftsraum in Kraft tritt. Er wird mit 380 Millionen Menschen der größte Wirtschaftsraum der westlichen Welt sein.
Wir haben aus der Geschichte gelernt, daß eine Wirtschaftsgemeinschaft ohne ein politisches Dach, ohne eine politische Union nicht existenzfähig ist. Ich sage an die Adresse der Kritiker in Deutschland und außerhalb Deutschlands, auch in den Ländern, die Referenden haben: Meine Damen und Herren, wer glaubt, er könne Wirtschaft und Handel übernational in einem engen Verbund betreiben, während die politische Einigung noch aussteht, der täuscht sich. Es gibt nicht ein einziges Beispiel in der Geschichte, daß derlei funktioniert hat.
Diejenigen, die in diesen Tagen die EG kritisieren - das hören wir ja überall -, daß sie nicht genug im ehemaligen Jugoslawien tue, sollen die Frage beantworten: Sind Sie für oder gegen Maastricht? Denn erst der Maastricht-Vertrag verschafft uns die Politische Union und damit eine wirkliche Handlungsfähigkeit der EG nach außen.
({73})
Eine völlig andere Sache ist - das räume ich ein -, daß die EG schon heute mehr tun könnte. Ich wünsche mit beispielsweise, daß im Blick auf die zu erwartenden großen Probleme für die Flüchtlinge in und aus dieser Region die Länder der Europäischen Gemeinschaft mehr tun. Ich wäre schon sehr zufrieden, wenn alle, gemessen an ihren Verhältnissen, genau das tun würden, was die Bundesrepublik Deutschland bis zum heutigen Tag getan hat.
({74})
Wir dürfen nicht zulassen, daß der imperiale Terror, der von serbischer Seite ausgeübt wird, dazu führt, daß die Menschen aus ihrer Heimat vertrieben und überall in der Welt verstreut werden. Die Politik darf nicht aufgeben. Es darf nicht die Rechnung aufgehen, daß man Grenzen mit Gewalt verändert. Die serbische Seite muß wissen: Von der Bundesrepublik Deutschland gibt es am Tag nach dem Krieg keine Mark, wenn man glaubt, über eine Veränderung der Grenzen mit Gewalt Zukunft gestalten zu können.
({75})
Unser Ja zu Maastricht ist ein Ja, das aus der Erfahrung der deutschen Geschichte gewachsen ist. Ich stehe nicht an, hier aufs neue zu erklären: Wenn wir, nachdem wir die deutsche Einheit geschenkt bekommen und erreicht haben, jetzt nicht die Politische Union, die politische Einigung Europas mit der gleichen Intensität durchsetzen, werden wir vor der Geschichte versagen.
Wer auf Europa schaut und wer manche Tonart hört, die man in Frankreich vor dem Referendum zur Kenntnis nehmen muß, der weiß, daß nicht wenige in Europa - ob berechtigt oder nicht, ist nicht die Frage - wieder mit dem „Gespenst Deutschland" umgehen. Wir müssen uns dagegen in angemessener Weise zur Wehr setzen; das ist wahr. Aber das Beste, was wir tun können, ist, daß wir dieses wiedervereinte freiheitliche Deutschland mit unter das Dach einer Europäischen Union stellen.
Für mich lautet die Lehre der europäischen Geschichte dieses Jahrhunderts: Friede, Freiheit gibt es nur in einem einigen Europa. Jeder Rückfall in die Rivalität von gestern und vorgestern ist am Ende ein Rückfall in die Barbarei. Dies sollten wir mit Blick auf
92 Jahre dieses Jahrhunderts hoffentlich gelernt haben.
Ich glaube trotz aller Probleme, daß wir alle Chancen haben und daß - wie Sie zitiert haben - mit den Tugenden der Klugheit, des Mutes und des Maßes die Zukunft des Landes zu gewinnen ist. Wir, die Bundesregierung, sind dazu bereit. Wir laden Sie dazu ein.
({76})
Das Wort für eine Kurzintervention hat der Abgeordnete Werner Schulz.
Herr Bundeskanzler, ich muß hier mit aller Deutlichkeit einer Legendenbildung entgegentreten. Sie haben heute sich und andere Menschen erneut getäuscht, indem Sie den Eindruck erweckt haben, als seien Ihnen die Risiken und Gefahren einer schnellen Wirtschafts- und Währungsunion nicht in vollem Umfang bewußt gewesen.
Ich zitiere Ihnen sogleich aus einem Brief, der Ihnen am 9. Februar 1990 der Vorsitzende des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage geschrieben hat. Es war kein geringerer als Professor Hans-Karl Schneider. Aber offensichtlich haben Sie diesen Brief verdrängt oder hinter den Spiegel gesteckt.
Ich zitiere Ihnen, aus einem dreiseitigen Schreiben, wo er vor den Folgen dieser Wirtschaft- und Währungsunion Warnungen erhebt: Riesige Belastungen kämen auf die öffentlichen Haushalte zu. Es wären nicht nur erhebliche Steuererhöhungen unvermeidlich, es würden vielmehr auch öffentliche Mittel in Transfers für konsumtive Verwendungen gebunden, die bei der Finanzierung von Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur fehlen müßten. Dies könne nicht im Interesse der Menschen in der DDR sein.
Sie haben darüber Bescheid gewußt. Doch Sie haben sich darüber hinweggesetzt. Das lag in Ihrem Kalkül.
Aber ich möchte auch einer anderen Legendenbildung entgegentreten. Nicht der vorletzte Ministerpräsident der DDR hat von Ihnen 15 Milliarden DM gefordert, sondern es war eine Bitte des Runden Tisches. Dahinter stand ein Sanierungskonzept.
({0})
- Sie können lachen. Diese damals notwendige wirtschaftspolitische Maßnahme wurde von Ihnen mit der gleichen Geringschätzigkeit abgelehnt, indem Sie gesagt haben: Wir investieren nicht in ein Faß ohne Boden.
({1})
Aber dieses Faß hatte damals nur Löcher. Die wären leicht zu stopfen gewesen, wenn man es von Anfang an in Angriff genommen hätte.
Herr Kollege Schulz, Sie müssen zum Schluß kommen.
Den Boden haben Sie selber ausgeschlagen. Erst ein Jahr später haben Sie das AufschwungOst-Programm aufgelegt, das eine nicht wesentlich höhere Summe als 15 Milliarden hatte.
({0})
Zur Erwiderung auf diese Kurzintervention hat der Bundeskanzler das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will nur kurz antworten, weil ich finde, daß es nicht in Ordnung ist, einen von mir besonders geschätzten Ökonomen hier in dieser Weise in Anspruch zu nehmen.
({0})
Herr Professor Schneider und viele andere haben damals in der Tat vor der Währungs- und Wirtschaftsunion gewarnt, aber nicht in der Form, wie Sie es gesagt haben. Die Zeit ist jetzt zu kurz, um darauf im einzelnen einzugehen.
Wahr ist - und das ist meine einfache Feststellung - , daß eine ganze Reihe von Ökonomen, die damals, aus ihrer Sicht völlig verständlich,
({1})
ihre Bedenken vorgetragen haben, eine entscheidende Sache übersehen haben: daß die Deutschen in der damaligen DDR eben nicht bereit waren, zu warten. Ich habe damals den Satz gesagt, und ich glaube, Sie haben ihn, Frau Kollegin unterstützt, zumindest am Anfang, wenn ich mich richtig erinnere: Wenn die D-Mark nicht nach Leipzig kommt, dann kommen die Leipziger zur D-Mark. Und was hätten wir getan? Das ist ja die Gegenfrage.
({2})
Was hätten wir dann getan, wenn die Menschen, die sich damals auf den Weg gemacht hatten, gekommen wären, und zwar zu Zehntausenden und dann zu hunderttausend?
({3})
Hätten wir dann mitten in Deutschland sozusagen wieder die Schotten dichtmachen und eine neue Mauer errichten sollen? Herr Thierse, Sie waren dabei, und Sie wissen es so gut wie ich, daß es keinen anderen Weg gab als den der schnellen Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.
Es gibt, übrigens auch in unserer jetzigen Lage, immer wieder Situationen, in denen die Wirklichkeit nicht dem Lehrbuch entspricht. Ich zitiere hier einen Mann, der außerhalb jeden Verdachts steht, weil er zeit seines Lebens mehr als jeder andere für die Soziale Marktwirtschaft in der Welt getan hat: Ludwig Erhard hat zeit seines Lebens darauf bestanden, Wirtschaft im Sinne Sozialer Marktwirtschaft auszugestalten. Er hat nie eine Politik vertreten wie bestimmte Berater von Ronald Reagan oder Margaret
Thatcher. Er hat nie nur von Marktwirtschaft, er hat immer von Sozialer Marktwirtschaft gesprochen. Und in der Sozialen Marktwirtschaft gibt es immer wieder Situationen, in denen der Staat nicht nach der „reinen Lehre" handeln kann, sondern unterstützend tätig werden muß.
Daß wir dabei gelegentlich des Guten zuviel getan haben - Graf Lambsdorff hat die Kohle erwähnt -, mag ja wahr sein. Da in dieser Frage alle meine Vorgänger - und, verehrter Graf Lambsdorff, auch alle Vorgänger unseres Kollegen Möllemanngesündigt haben, müssen Sie wenigstens sagen: Eine läßliche Sünde war es, was Sie da kritisieren.
({4})
Der Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, Björn Engholm, hat das Wort.
Ministerpräsident Björn Engholm ({0}) ({1}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In Art. 65 der Verfassung heißt es recht unmißverständlich: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung."
Ich stelle fest: Die Richtlinien der Politik waren in den letzten zwei Jahren nicht erkennbar und sie sind mit dem heutigen Debattenbeitrag nicht erkennbarer geworden.
({2})
Eine Rede, die auf dem Motto „Liebe, Glaube, Hoffnung" aufbaut, in einer kritischen Situation in Deutschland, die inzwischen auch von den konservativsten Köpfen in diesem Land erkannt wird, ist keine Antwort auf die Sorgen und Nöte der Menschen in dieser Zeit.
({3})
Der Bundeskanzler hat völlig legitim einen früheren Kanzler in Anspruch genommen: Ludwig Erhard. Nach der heutigen Rede erinnere ich mit Vergnügen an Konrad Adenauer. Er hätte die Rede, die heute gehalten worden ist, in einem Satz präziser zusammengefaßt: Meine Damen und Herren, die Lage war noch nie so ernst.
({4})
Diese Regierung gleicht einem Schiff, das bei schwerer See führerlos vor sich hintreibt.
({5})
Die Mannschaft, auch die, die hier drüben sitzt, bräuchte dringend ein klares Wort von der Kommandobrücke.
({6})
Das sage ich in kritischer Selbsteinschätzung. Das geht uns gelegentlich auch so. Aber die Offiziere palavern über die Wetteraussichten. Der letzte Lotse, der sich in den gefährlichen Gewässern ausgekannt hat, ist bereits vor Monaten von Bord gegangen. Und heute ist der Kapitän dabei, wie eh und je, sich auf „Wolke Sieben" aufzuhalten, statt das Schiff zu steuern.
Das öffentliche Urteil über diese Regierung ist, sehr zart ausgedrückt, nicht gut. „Die Bundesregierung verfällt in blinden Aktionismus. Ihre Rezepte übertreffen sich an Unsinnigkeit, Undurchführbarkeit und Schädlichkeit". So der General-Anzeiger, Bonn. „Panik und Chaos", schreibt die „Frankfurter Rundschau" . Ich will nicht das wiederholen, was Herr Klose in sehr guten und nachlesenswerten Zitaten schon zum besten gegeben hat.
({7})
Für mich ist das kein Grund zur Schadenfreude. Niemand von der Opposition wird bei einem solchen Verfall von Reputation der eigenen Regierung Schadenfreude empfinden,
({8})
zumal dann nicht, wenn die Sessel, auf denen Sie heute sitzen, in absehbarer Zeit von uns in Anspruch genommen werden sollen. Ich möchte einen heilen Sessel haben.
({9})
Meine Damen und Herren, ich habe die Verdienste, die sich Bundeskanzler Dr. Kohl und auch der ExAußenminister Hans-Dietrich Genscher um die Einheit erworben haben, nie geleugnet. Es wäre falsch, das zu tun. Ich habe heute allerdings Schwierigkeiten mit des Kanzlers Geschichtsverständnis. Ich habe zum erstenmal begriffen, daß der NATO-Doppelbeschluß der eigentliche Urvater der deutschen Einheit ist. Darüber gilt es nachzudenken.
({10})
Ich habe auch mit einer Reihe von anderen Aussagen beträchtliche Schwierigkeiten.
({11})
Ich will daran erinnern: Als hier in diesen Bereichen rechts von mir - links von Ihnen aus gesehen - über eine Vertragsgemeinschaft der Deutschen gesprochen wurde, hatte Hans-Ulrich Klose lange seine erste Rede über die nationale Einheit der Deutschen gehalten. Im November 1989 war es der Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel, der ein fast identisches Programm öffentlich vorgeschlagen hat, wie es später in Ihren Zehn Punkten auftauchte. Das ist nachlesbar.
({12})
Ich denke, daß wir uns da wechselseitig nur sehr marginal etwas vorwerfen können. In der entscheidenden Phase war in allen Fraktionen dieses Hauses der gute Wille vorhanden.
({13})
Ministerpräsident Björn Engholm ({14})
Ich will mit Ihnen zwar nicht gemeinsam Geschichtsaufarbeitung betreiben, aber ich will noch einmal daran erinnern, daß es nicht dieser Teil des Hauses war, der sich gegen die Schlußakte von Helsinki wandte, sondern daß es jener Teil des Hauses war.
({15})
Herr Klose hat darauf hingewiesen - ich wiederhole das -: Wir sind es gewesen, die Ihnen immer wieder die Hand zur Gemeinsamkeit in den wenigen Fragen ausgestreckt haben, bei denen es um das innere Zusammenwachsen von Deutschen in Ost und West ging. Sie haben dieses Angebot entweder nicht oder aber, wie sich später herausstellte, mit taktischen Hintergedanken genutzt.
Es wird heute höchste Zeit, daß die Wahrheit über die Entwicklung in diesem Lande ungeschminkt auf den Tisch kommt. Die Wahrheit auf den Tisch legen ist grundsätzlich Voraussetzung für Gespräche, die nun wieder angestrebt werden. Das heißt: Ich möchte präzise Vorschläge, konkrete Zielbestimmungen und einen sauberen nachprüfbaren Finanzstatus, bevor wir uns wieder an den runden Tisch begeben.
({16})
Ich möchte ein paar Bemerkungen zur Wirklichkeit in Deutschland machen. Ich will sie so ungeschminkt machen, wie ich sie eigentlich von Ihnen erwartet hatte.
Die Wirklichkeit im neuen zusammenwachsenden Deutschland ist zunächst einmal eine unglaubliche Massenarbeitslosigkeit im Osten Deutschlands. Die statistischen Zahlen, die wir lesen, besagen nicht einmal die halbe Wahrheit. Zählen wir alle Menschen zusammen, die direkt oder mittelbar von Arbeitslosigkeit betroffen sind oder nur Übergangsmöglichkeiten gefunden haben, dann kommen wir in Mecklenburg zu erschreckenden Größenordnungen. Selbst in den wenigen Wachstumszentren der neuen Länder finden wir Arbeitslosigkeit, die in hohe, sehr hohe zweistellige Prozentsätze reicht.
Die Bundesregierung hat heute auch darauf keine Antwort gegeben. Sie hält, wenn ich es richtig sehe, statt dessen an der Kürzung der Mittel fest, die notwendig wären, um die Arbeitsmarktförderinstrumente auszuweiten, statt sie einzuschränken.
({17})
Die Wirklichkeit in Deutschland ist der gnadenlose und freie Fall der ostdeutschen Industrie. Ganze Industrieregionen gehen in die Knie. Industriebrachen drohen zu entstehen, obwohl alle Ökonomen Ihnen heutzutage sagen: Hier wird das Schicksal der ostdeutschen Zukunft entschieden.
Deshalb sage ich Ihnen: Industriepolitik, Strukturpolitik sind Fremdworte in dieser Regierung - mit geradezu furchterregenden Konsequenzen wahrscheinlich für Jahrzehnte.
({18})
Die Wirklichkeit in diesem Lande heißt Wohnungsnot. Ich finde, alle Liberalen, die Verfechter des reinen Prinzips des Marktes, hätten heute, Graf Lambsdorff, ein Wort dazu sagen müssen, daß ein Markt nicht funktioniert, wenn Angebot und Nachfrage nicht in einem minimalen Gleichgewicht sind. Und das ist heutzutage nicht der Fall.
({19})
Die schlimme Entwicklung besagt auch, daß in der alten DDR 94 % der Frauen berufstätig waren. Heute sind sie zu 60 % arbeitslos. Das heißt, sehr deutlich gesagt, die Gleichstellung der Frauen, zunächst in Ostdeutschland, aber schleichend auch den Westen dieses Landes erreichend, kommt unter die Räder. Und die Regierung sieht tatenlos zu.
({20})
Wir müssen ferner sehen, daß die schweren wirtschaftlichen Probleme, die sich in den neuen Ländern entwickeln, jetzt auch dazu beitragen, die wirtschaftliche Situation in Gesamtdeutschland zu gefährden. Das heißt: Das, was alle Menschen gemeinschaftlich - zunächst in zwei Staaten und jetzt in einem Staat -aufgearbeitet haben, droht an den Rand einer Krise zu geraten.
Die Menschen haben - das zeigen uns nicht nur Meinungsumfragen - das Vertrauen in diese Regierung weitgehend verloren. Die Gefahr liegt darin, daß sie nun auch noch anfangen, Vertrauen in Politik allgemein zu verlieren. Damit stellt sich durch ein vielfaches Versagen dieser Bundesregierung letztlich die Frage nach der Stabilität unseres ganzen politischen Systems. Und das, Herr Bundeskanzler, ist eine schwere Hypothek.
({21})
Nun habe ich mich sehr über das Lob gefreut, das Graf Lambsdorff der Regierung und dem Bundeskanzler gespendet hat. Wenn ich zehn Jahre zurückdenke, als ich Mitglied einer Bundesregierung war, muß ich feststellen: Bis in die letzten Monate hinein gab es manch freundliches Wort des Grafen Lambsdorff zu unserem Kanzler und zu unserer damaligen Regierung. Ich will Herrn Dr. Kohl nur sagen: Man muß mit dem Lob des Grafen Lambsdorff mit ganz spitzen Fingern umgehen. Man weiß nie, wie die Folgen sind.
({22})
Meine Damen und Herren, wir müssen und, ich glaube, wir können aus dem Glücksfall der Einheit aus eigener Kraft ein stabiles und dauerhaftes Glück schmieden. Wir haben die Chance, der Welt und Europa ein Beispiel zu geben, wie man so etwas macht. Ich stimme dem Kanzler durchaus zu: Andere Länder im Osten Europas schauen auf dieses Modell, weil für ihre eigene Zukunft viel davon abhängt, wie
Ministerpräsident Björn Engholm ({23})
man Schritt für Schritt zusammenwächst, wie man Brücken der Verständigung schlägt und wie man wettbewerbsfähige Wirtschaftsstandorte baut. Das ist eine große und eine zielgebende Aufgabe auch für andere Staaten in Europa.
({24})
Ich glaube, daß sie lösbar ist, wenn wir das Können und das Wollen unseres Volkes ernsthaft bündeln und nicht glauben, mit allgemeinen ministeriellen Palaverrunden sei das Problem zu bewältigen.
({25})
Wir haben in Deutschland alles, was man für einen solchen Kurs braucht. Wir haben fähige private Unternehmen und verantwortungsbewußte Unternehmer. Wir haben eine starke Gewerkschaftsbewegung, die sich über das Lob des Bundeskanzlers sicherlich rückhaltlos freuen wird, die weiß, was soziale Stabilität wert ist. Wir haben leistungsfähige Wissenschaften, wir haben eine funktionierende öffentliche Verwaltung, und wir haben ein Sozialsystem, das sich über 40 Jahre alles in allem hervorragend bewährt hat. Um dieses Kapital beneidet uns trotz aller Fehler, die Sie gemacht haben,
({26}) nach wie vor die Welt.
Ich glaube aber, daß zugleich die größte Kraft, die uns zur Verfügung steht, in den Herzen, in den Köpfen und den Händen der Menschen in Ost- und Westdeutschland liegt.
({27})
Ich bedauere nach wie vor, daß die anfänglich ja unglaubliche Begeisterung, die die Menschen beherrscht hat, der ganze Tatendrang, der sichtbar, greifbar war, zunichte gemacht worden ist mit zwei sehr schlichten, aber falschen Sätzen: „Niemandem wird es schlechtergehen" und „Keine Steuererhöhung für die Einheit."
({28})
Sie haben, Herr Bundeskanzler, unser Volk, als es bereit war, mehr zu sein und mehr zu geben, sehr eindeutig auf das egoistische Haben beschränkt. Dies war ein kardinaler, wenn nicht historischer Fehler.
({29})
Der Bundeskanzler hat einmal gesagt: Wir leben über unsere Verhältnisse. Ich entgegne ihm: Wir leben, genau besehen, weit unter unseren Möglichkeiten.
({30})
Wir leben weit unterhalb dessen, was unsere Gesellschaft, wenn man sie mit vernünftigen Zielen und Motivationen darum bittet, zu leisten imstande ist. Deshalb bin ich dafür, daß wir den Menschen, besonders in Ostdeutschland, deutlicher, als es heute gesagt worden ist, sagen, welche Anstrengungen vor uns liegen, wie groß sie sind, wie lang dieser Weg noch sein wird. Ich hatte gehofft, die Bundesregierung
würde dazu ein wenig beitragen. Es war enttäuschend, was wir heute gehört haben.
({31})
Mich hat vor einiger Zeit sehr beeindruckt, was eine Berliner Journalistin, Jutta Voigt, so beschrieben hat:
Die Leute im Osten stehen benommen vor ihrem ausgetauschten Alltag. Ob besser, ob schlechter, ob schöner, ob häßlicher - alles ist anders. Andere Butter, anderes Geld, andere Wurst. Andere Schulen, andere Zeitungen, andere Übertöpfe. Andere Formulare, andere Feiertage, andere Lockenwickler. Andere Träume, anderer Müll, andere Wörter. Viele fühlen sich darin nicht mehr zu Hause.
Wenn es uns umgekehrt im Westen so gegangen wäre: Was wäre das doch für ein bedeutender Identitätsverlust, der dann bei uns stattgefunden hätte! Von daher ist meine Auffassung, daß insbesondere wir im Westen begreifen müssen: Wir sind nicht die ausgewählten, nicht die besseren Deutschen. Wir haben vier Jahrzehnte die besseren Voraussetzungen gehabt, um unsere Kraft besser anzuwenden und zu größerem Erfolg zu kommen.
({32})
Meine Damen und Herren, die innere Einheit und die Zukunft der Deutschen insgesamt hängen essentiell davon ab, wie leistungsfähig unsere Volkswirtschaft ist. Ich will, was dies angeht, vier Ziele kurz markieren und instrumental füllen.
Erstes Ziel: Die Wirtschaft Ostdeutschlands muß aufgerichtet und so schnell wie möglich weltmarktfähig gemacht werden.
({33})
Um in den neuen Ländern mindestens 7 Millionen Menschen zu beschäftigen - 9 waren es einmal; damit deutlich wird, was die Menschen dort schon zu tragen gehabt haben -, brauchen wir bis zum Jahre 2000 mindestens 1 Billion DM Nettoinvestitionen. Wer die Zahlen des laufenden und des letzten Jahres sieht, der weiß: Wenn es in der Geschwindigkeit weitergeht, wird das Ziel in 30 Jahren noch nicht erreicht sein. Und die Bundesregierung gibt null Antworten darauf, auch in der heutigen Debatte.
({34})
Deshalb fordern Menschen, die Ihnen in der Marktwirtschaftsphilosophie wahrscheinlich näherstehen als uns, z. B. die Berater von McKinsey: Der Staat muß in einer solchen Situation eine aktive Rolle spielen, weil der Zug sonst nicht fährt.
({35})
In der Situation wagt man gar nicht zu fragen: Wo ist der Wirtschaftsminister? Die altbekannte Antwort heißt wie immer
({36})
Ministerpräsident Björn Engholm ({37})
- nein, ich meine das gar nicht physisch -:
({38})
auf der Suche nach einem Image. Aber das will ich heute vergessen.
Ich meine, statt altliberal zu streiten über die Frage wieviel Markt, wie wenig Staat, sollten wir heute anfangen, eine neue Devise zu prägen, und die heißt: Staat und Wirtschaft müssen jetzt für eine längere Periode auf dem industriepolitischen Tandem gemeinsam fahren, weil sich sonst nichts bewegt.
({39})
Was ist, um die Wirtschaft in Gang zu kriegen, notwendig? Erstens. Ich trete wiederholt und mit Nachdruck dafür ein, daß die Treuhand einen gesetzlichen Sanierungsauftrag bekommt, um solche Unternehmen flottzumachen, die in mittelfristiger Sicht auf dem Weltmarkt eine Chance haben. Sanierung, nicht Liquidation - so muß die Devise der Industriepolitik in Ostdeutschland in diesen Tagen heißen.
({40})
Zweitens. Es wird nicht anders gehen, als daß sich die öffentliche Hand nicht in Form von Beamten, wohl aber in Form von Risikobeteiligung in einer marktwirtschaftlichen Industriepolitik für eine Übergangszeit an ausgewählten Unternehmen auch selbst beteiligt, weil diese Unternehmen sonst nämlich keine Chance haben.
Drittens - auch Herr Klose hat darauf hingewiesen -: Wir müssen nicht nur marginale Korrekturen an der Eigentumsregelung vornehmen, wir müssen zu dem zurückkommen, worüber hier schon diskutiert worden ist: Entschädigung geht vor Rückgabe. Wenn wir das nicht hinkriegen, wird sich in den meisten Städten Ostdeutschlands nichts mehr bewegen.
({41})
- Graf Lambsdorff, in einer Stadt wie Quedlinburg mit 20 000 Einwohnern sind zwischen 25 000 und 30 000 Alteigentumsansprüche registriert. Ich will Ihnen sagen - vielleicht zur Freude Ihrer Partei -: dort wird es ein Beschäftigungsprogramm geben, nicht für einfache Menschen, wohl aber für Rechtsanwälte und Notare für über ein Jahrzehnt. Das ist nicht der Sinn von Vollbeschäftigungspolitik.
({42})
- Nein, Sie leben jenseits der Wirklichkeit und flüchten sich aus der Wahrheit. Das ist Ihr Problem.
({43})
Viertens. Ich trete nachdrücklich dafür ein, daß die Investitionsförderung verstärkt und durchschaubarer gemacht wird. Das heißt, eine gesetzlich klar fixierte, für die Unternehmen als ein Marktdatum kalkulierbare Investitionszulage,
({44})
aber nicht einen Investitionszuschußdschungel mit zum Teil Windhundcharakter, der gegen Mitte des Jahres ausgelaufen ist. Lieber etwas, was am Markt für die Unternehmen durchschaubar und langfristig kalkulierbar ist. Und dann von mir aus eine Anhebung auf 20 %. Wir können darüber reden. Das letzte Mal waren Sie anderer Auffassung.
Fünftens. Menschen, die sonst arbeitslos würden, müssen mit einem großangelegten Zukunftsinvestitionsprogramm „Arbeit statt Arbeitslosigkeit" für eine längere Zeit neue Zukunftsaussichten finden.
({45})
Sechstens. Jedes Sanierungskonzept wird dann scheitern, wenn es nicht gelingt, auf Sicht Absatzmärkte zu eröffnen. Deshalb bin ich nachhaltig dafür, daß wir jede Hilfe, die wir zukünftig nach Osteuropa geben, an die Lieferung von Waren, Gütern und Dienstleistungen binden, die im Osten Deutschlands erstellt werden. Dann haben wir die Hilfe im Osten Deutschlands ebenso wie im weiteren Osten Europas und beiden ist gedient.
({46})
Dann würde ich - siebtens - gern ein Wort zu der Lohndebatte sagen. Klar ist, daß sich die Löhne nicht zu weit von der Produktivität abkoppeln dürfen. Ich kenne auch keinen verantwortungsbewußten Gewerkschafter, dem das volkswirtschaftlich nicht geläufig wäre.
({47})
Aber es gilt auch hier, die Tatsachen wider die liberale Ideologie zu stellen. Der Durchschnitt der ostdeutschen Effektiveinkommen liegt derzeit bei etwas unter 60 % der westdeutschen. In den florierenden Dienstleistungsbereichen liegt er bei 68 %, in den krisengeschüttelten Bereichen bei 48 %, und das bei einer vergleichbaren Preisentwicklung überall in Deutschland. Wer da leichtfertig den Finger hebt und sagt, die Menschen sollten für eine lange Periode auf alles verzichten, der hat die Mitte und das Maß verloren, das die Menschen in diesem Lande bewegt.
({48})
Deshalb bin ich dafür, daß diese schwierige Gratwanderung, von der ich weiß, daß wir sie gehen müssen, nicht in politischen Palaverrunden vollzogen wird, sondern dort, wo sie zunächst hingehört: am Verhandlungstisch des Selbstregulierungsinstruments Tarifautonomie.
({49})
Wenn der Kanzler die Gewerkschaften belobigt - was einen ja freut -, dann sollte er gleichzeitig allen Mitgliedern seines Kabinetts die Zunge anbinden, damit nicht bei jeder Gelegenheit den Gewerk8750
Ministerpräsident Björn Engholm ({50}) schaften vorgeschrieben wird, was sie zu lassen und zu tun hätten.
({51})
Ich würde auch ganz gerne, Graf Lambsdorff, mit einem sehr leicht in die Welt zu setzenden Vorurteil aufräumen. Sie wie auch der Bundeskanzler reden beständig über die Arbeitszeit. Sie vergessen dabei den zweiten ökonomischen Parameter, den Sie vermutlich nie vergessen würden, wenn Sie einen Fachvortrag halten würden. Das sind die Betriebszeiten in den Unternehmen.
Die Arbeitszeit bei Opel in Bochum liegt bei 1 630 Stunden pro Jahr, die vergleichbare Arbeitszeit bei Nissan bei 1 960. Die Betriebszeit liegt bei Opel in Bochum bei 5 220 Stunden, bei Nissan, einem der modernsten Betriebe der Welt, bei 4 740 Stunden. Erst aus beiden Daten und beim Vergleich beider Daten wird eine Wirklichkeit. Das andere riecht immer nach dem Fahne-Hochziehen im Marsch gegen die Gewerkschaften. Es hilft keinem.
({52})
Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Lammert? - Herr Kollege.
Herr Kollege Engholm, könnten Sie vielleicht zur Ergänzung Ihres Beispiels sagen, in welchem anderen deutschen Automobilwerk außer Opel Bochum die von Ihnen genannten Betriebszeiten erreicht werden?
({0})
- Nirgends.
Ministerpräsident Björn Engholm ({1}): Wir haben inzwischen im Bereich der Chemie vergleichbar interessante Entwicklungen.
({2})
- Aber selbstverständlich. Die deutsche Chemie ist gegenwärtig dabei - auch was Betriebsorganisation angeht -, in der Welt die Spitzenrolle zu übernehmen. Stellen Sie das doch nicht in Frage. Im deutschen Werkzeugmaschinenbau haben wir vergleichbar gute Werte, wenngleich dieser Bereich inzwischen schwer belastet ist, weil es in Deutschland keine Industriepolitik gibt.
({3})
Sie werden feststellen, daß wir bei dem, worum sich alle modernen Unternehmen kümmern - z. B. lean productions -, dabei sind, die Japaner auf vielen Gebieten einzuholen, und zwar in der Effektivität, in der Produktivität. Aber doch nicht dadurch, daß Deutschland wieder ein Billiglohn- und -einkommensland wird.
({4})
Ziel Nummer 2: den Wirtschaftsstandort Deutschland für die Herausforderungen der Zukunft sichern und stärken. Dazu schlagen wir folgendes vor, das im Bundestag miteinander ganz schnell über die Bühne gebracht werden könnte. Erstens: eine aufkommensneutrale Unternehmensteuerreform für mehr Investitionen und neue Arbeitsplätze. Das heißt technisch: im Unternehmen belassene und vor allem reinvestierte Gewinne stärker fördern, weil damit die Innovation und die Arbeit der Zukunft gefördert wird. Wir sind bereit, ein solches Konzept in diesem Hause mitzutragen.
({5})
Zweitens: eine steuerfreie Investitionszulage, die die Investitionskraft der kleineren und der mittelständischen Unternehmen als eine der wichtigsten Säulen unserer Wirtschaft stärken soll.
({6})
- Rücklage. Habe ich „Zulage" gesagt? Dann bitte ich um Nachsicht. Das war nicht einmal ein Freudscher Versprecher. Eine steuerfreie Investitionsrücklage.
Drittens. Wir sollten die Weichen jetzt auf ökologische Umorientierung unserer Volkswirtschaft stellen.
({7})
Wir sollten vor allem darauf achten, daß nicht in einer falschen nachholenden Entwicklung in Ostdeutschland, weil die Not dort größer ist, dieselben Fehler gemacht werden, die wir in 40 Jahren schon hinter uns haben.
({8})
Viertens. Ich plädiere dafür, daß wir die Spielräume für die Vermögensbildung von Produktivkapital in Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerinnenhand vergrößern. Die Beteiligung der Arbeitnehmer sowohl am Sagen wie am Haben durch Mitbestimmung und Mitbesitz ist eine Aufgabe, die wir mit der schnelleren Bewältigung der Aufgaben in Ostdeutschland verbinden können.
({9})
Fünftens. Die Bundesrepublik kann mit Anspruch und mit Reputation kein Land sein, in dem im Alter Hunderttausende von einfachen Menschen in dem Augenblick, wo sie elendiglich krank sind, zu Taschengeldempfängern des Staates werden. Die Pflegeversicherung gehört notwendig zu einem modernen Wirtschafts- und Sozialstaat.
({10})
Dann möchte ich - sechstens - vorschlagen, daß mit der Initiative unserer Fraktion ein Schritt nach vorn zur Entlastung jener Menschen getan wird, die über ganz geringe und geringste Einkommen verfügen. Einkommen bis zu 8 000 DM für Ledige und 16 000 DM für Verheiratete im Jahr sollten als Existenzminimum steuerfrei gestellt werden.
({11})
Ministerpräsident Björn Engholm ({12})
Wenn es uns dann gelänge, in diesem Hause die Zustimmung für eine Veränderung des hoch ungerechten Familienlastenausgleichs zu bekommen, wenn es uns gelänge, das, was man dort einsparen könnte, auf Komma und Pfennig in Form eines einheitlichen Kindergeldes zurückzugeben, dann würden Minister und Staatssekretäre und Bezieher guter Einkommen nicht sehr darunter leiden. Aber die Familien, die an der unteren Kante des Kulturminimums leben, würden mit 230 DM oder 250 DM pro Kind wissen: Es geht einen kraftvollen Schritt bergauf.
({13})
Lassen Sie mich eine Bemerkung zu meinem dritten Ziel machen. Wir müssen uns vornehmen, spätestens gegen Ende dieses Jahrhunderts die Wohnungsnot in Deutschland beseitigt zu haben. Es geht nicht an, daß in einem reichen Land Hunderttausende auf der Suche nach dauerhaft bezahlbaren Wohnungen sind und der Markt leergefegt ist. Deshalb plädiere ich dafür, mehr Mittel in den sozialen Wohnungsbau zu investieren und bis zu 200 000 Sozialwohnungen pro Jahr zu finanzieren. Dann können wir das Ziel pakken.
({14})
Ich plädiere zugleich dafür, daß dieses Parlament einen kritischen Blick auf das gegenwärtig geltende Wohnrecht wirft. Was zur Zeit aus Spekulationsgründen an Bodenhortung stattfindet und was insbesondere im Osten Deutschlands an Hortung stattfindet, spottet jeder Beschreibung. Ich teile voll die Auffassung des Grafen Lambsdorff: Marktwirtschaft bedeutet nicht, leistungslose Gewinne zu kassieren. Das heißt, wo Bodenwertsteigerungen ohne eigene Leistung realisiert werden, müssen sie der vollen Besteuerung unterliegen.
({15})
Meine Damen und Herren, die Bundesrepublik Deutschland droht zum Zeitpunkt größter Herausforderungen - darüber, daß es solche sind, ist sich das Haus einig - ihrer finanzpolitischen Handlungsfähigkeit verlustig zu gehen. Von 1992 bis Ende 1996 wird sich der Schuldenstand aller öffentlichen Haushalte von 600 Milliarden DM auf über 2 Billionen DM erhöhen - möglicherweise 2,3 Billionen - mit der Folge eines geradezu explodierenden Anstiegs der Zinsausgaben.
Ziel Nummer 4 heißt deshalb Konsolidierung der Staatsfinanzen, die eine hohe Priorität hat und von der auch heute wieder zuwenig gesprochen worden ist. Sie sollten, um dieser Priorität deutlicher Ausdruck zu geben, den Zirkus, der in Bonn aufgeführt wird, beenden,
({16})
den Zirkus, der unterschiedliche Artisten hat, die
heißen: Autobahngebühr, Mineralölsteuer, Mehrwertsteuer, Investitionsabgabe, Zwangsanleihe mit
Zinsen, Zwangsanleihe mit halben Zinsen, Zwangsanleihe ohne Zinsen. Wie heute aus dem Finanzministerium berichtet wird, soll der Bundesfinanzminister dabei sein, eine freiwillige Zwangsanleihe vorzubereiten, um sie dem Parlament vorzuschlagen.
({17})
Wir haben ein ausgewogenes Finanzierungskonzept vorgeschlagen, und dieses Finanzierungskonzept trägt bis zum heutigen Tage. Wir können damit einen neuen Handlungsspielraum schaffen in der Größenordnung von etwa 40 Milliarden DM. Wir sind bereit, sparen, kürzen, strecken und verzichten zu helfen in Größenordnungen wachsend bis auf 15 Milliarden DM. Wir schlagen vor, eine Arbeitsmarktabgabe zur solidarischen Mitfinanzierung der Arbeitsmarktpolitik im Osten zu machen in einer Größenordnung von 5 Milliarden DM.
({18})
Statt einer Zwangsanleihe sind wir bereit, mit jeder Fraktion dieses Hauses über eine sozial anständig ausgestaltete Ergänzungsabgabe für besserverdienende Menschen in Deutschland zu reden.
({19})
Ich bin davon überzeugt, daß immer noch mehr Menschen bereit sind zu teilen, auch heute noch, nachdem so vieles schiefgelaufen ist. Aber sie wollen, daß es dabei erkennbar sozial gerecht zugeht.
Ich habe in Erinnerung, daß der Bundesfinanzminister mir einmal gesagt hat, die bisherigen Kosten und Lasten der deutschen Einheit seien zu 75 % von den Besserverdienenden erbracht worden. Die Rechnung muß ich mir einfach noch einmal genauer angucken. Vielleicht besteht ja in den kommenden Wochen Gelegenheit, eine nüchterne Analyse zu machen. Das wäre für mich eine ganz überraschende historische Erkenntnis, die Herr Waigel da zum Ausdruck gebracht hat.
Dann lassen Sie mich bitte ein Wort zu dem anfügen, was auch Graf Lambsdorff gesagt hat: Ich glaube, daß es nicht gut ist bei dem im Prinzip ordentlichen Verhältnis der beiden Kammern in Deutschland und zwischen Bund und Ländern, Ländervertreter, die hier auftreten, um ihre elementaren Interessen zu vertreten, mit der Vokabel „schäbig" zu belegen. Ich finde das nicht in Ordnung.
({20})
- Sie können das kritisieren. Dagegen bin ich nicht. Das tue ich bei Ihnen ja auch.
Aber mir wäre es lieb gewesen, Sie hätten dann eine Antwort auf die Herausforderung gegeben, die das Bundesverfassungsgericht im letzten Finanzurteil schon formuliert hat. Darin steht: Der Bund muß Anstrengungen machen, um zumindest die beiden höchstverschuldeten Länder aus der Schuldenklemme herauszukriegen. Jemand muß doch irgendeine Weichenstellung vornehmen.
(
Aber wir sind doch gerade dabei, Herr Engholm!)
Ministerpräsident Björn Engholm ({0})
Sie können sich hier doch nicht hinstellen und im Ernst sagen: Alle negativen Folgen und Lasten aus der Treuhand, aus dem Kreditabwicklungsfonds werden zu 50% den Ländern über die Schultern gestülpt. Jeder, der einen Haushalt eines strukturschwachen Landes einmal gesehen hat, weiß, daß es schlichtweg irreal ist - nicht nur einfach gemein und pieksig, sondern irreal -, weil es nicht funktionieren kann. Mit irrealen Vorschlägen geht man nicht an die Öffentlichkeit.
({1})
Der Bundeskanzler hat eben eingeworfen, daß es Bemühungen gebe, auf dem Felde der Strukturschwächsten weiterzukommen. Die Vorschläge, die mir bisher bekannt sind, sehen so aus, daß dann das drittschwächste Land zum Mitfinanzier der beiden ärmsten Länder würde. Ich glaube, daß wir nicht die Rechnung aufmachen sollten - ich sage das als ein Föderalist aus der Ländersicht besonders deutlich -, bei der am Ende die Ost-Länder gegen die West-Länder ins Feld geschickt werden, der Norden gegen den Süden, die reichen gegen die armen Länder. Wenn wir diese Schlacht einmal anfangen, haben wir sie gegen den Bund immer schon verloren, bevor sie begonnen worden ist. Kein guter Weg!
({2})
Meine Damen und Herren, nur eine im Innern stabile Bundesrepublik Deutschland kann auch im internationalen Feld ihrer größeren Verantwortung und jener Verantwortung, die von ihr erwartet wird, gerecht werden. Ich teile die Auffassung von Herrn Dr. Kohl: Die vordringlichste Aufgabe, die wir haben, ist das Zuendebauen des Hauses Europa. Ich hoffe, daß sich unsere französischen Nachbarn - wie auch immer - zu einem deutlichen Ja zu Maastricht durchringen können, weil die Schwierigkeiten, die aufträten, würde es zu einem „Non" kommen, unkalkulierbar sind.
({3})
Deshalb ist meine Auffassung - wir werden im Hause darüber ja des längeren diskutieren -: Trotz mancher Unzulänglichkeiten des Vertrages von Maastricht, ist dies ein Schritt in eine Zukunft, von der ich hoffe, daß sie niemand wieder reversibel macht.
({4})
Das heißt auch, daß dieses Europa, das wir alle angestrebt und mitgebaut haben, nie wieder den Irrweg alten oder neuen Nationalismus geht. Wohin das führt, haben wir inzwischen in Jugoslawien in einer unglaublichen Furchtbarkeit gesehen und miterlebt.
Bei aller Entrüstung, bei aller manchmal tiefen Wut über die Zerstörung von Menschen, von Kulturerbe, von ganzen ethnischen Gruppen in Jugoslawien: Ich neige dazu, allen zu raten, einen klaren Kopf bei der Beurteilung dieser Situation zu behalten. Militärische Einsätze helfen bei allem, was alle uns sagen und raten können, in überhaupt keiner Form. Deswegen sollte auch niemand damit spekulieren.
({5})
Ich meine, daß es auch nicht mit einer wie immer gearteten Idee, deutsche Soldaten könnten auf dem Balkan etwas machen, getan wäre. Ich finde, die Deutschen haben - wie auch manche anderen mit ihnen - ein schlimmes geschichtliches Soll auf dem Balkan erfüllt; das reicht für dieses Jahrhundert mit Sicherheit aus.
({6})
- für das nächste auch. Ich will das nicht eingeschränkt sehen.
Ich glaube, daß die Sozialdemokratie richtig gelegen hat, als sie im November des vergangenen Jahres vorgeschlagen hat, die europäischen Sicherheitsstrukturen konsequent weiterzuentwickeln und die KSZE unter Einschluß der USA, von Kanada und der neuen GUS-Staaten schrittweise zu einem kollektiven Sicherheitssystem auszubauen. Das wird uns eine Weile in Europa beschäftigen. Das Ziel ist, glaube ich, gleichwohl richtig formuliert.
Damit es in dieser Zwischenzeit kein Mißverständnis gibt: Die NATO ist in dieser Phase das einzige intakte und funktionierende Sicherheitsbündnis. Es wird seine Rolle bis dahin weiter spielen müssen und mit unserer Zustimmung weiter spielen.
({7})
Wir sind dafür, die Vereinten Nationen zu stärken und im Sinne der Gründerväter und -mütter zu einer Weltfriedensinstanz mit am Ende einem internationalen Gewaltmonopol auszubauen.
Wir haben unseren Beitrag in der aktuellen Debatte mit einem Antrag zur deutschen Beteiligung an Blauhelmaktionen im Bundestag eingebracht. Ich vermisse, daß die Regierung einen eigenen Antrag in dieser Sache vorlegt. Wir könnten jetzt in kurzer Zeit einen weltweit anerkannten deutschen Beitrag vereinbaren.
({8})
Dann wissen Sie, daß wir noch einige Wochen einer gemeinsamen Debatte vor uns haben. Ich habe aus meiner Meinung keinen Hehl gemacht: Wenn sich der Generalsekretär der Vereinten Nationen mit der Reform dieser Vereinten Nationen durchsetzt, dann bin ich bereit - ich jedenfalls bin es und werde es auch in meiner Partei vertreten -, daraus auch weiterreichende rechtliche Konsequenzen zu ziehen.
({9})
- Glauben Sie das wirklich?
({10})
Ministerpräsident Björn Engholm ({11})
- Das treibt mir die Tränen in die Augen.
({12})
- Er hat gesagt, zu dem Zeitpunkt sei ich kein Vorsitzender mehr.
({13})
Sind Sie wettfähig? - Dann wetten wir hinterher.
({14})
Ich will mit dem, was ich gesagt habe, zugleich deutlich machen: Militärische Konfliktlösungsmuster nach dem Golf-Modell dürfen nicht festgeschrieben werden, schon gar nicht mit deutscher Unterstützung.
({15})
Eine Großmacht-Weltpolizei ist unter keinem Vorzeichen ein erstrebenswertes Ziel und schon gar kein erstrebenswertes Ziel für die Deutschen mit ihrer besonderen Geschichte.
({16})
Ich glaube auch, daß wir bei der Umkehr des Denkens von militärischen zu zivilen Konfliktlösungsmustern anfangen sollten, uns ein bißchen mehr Grips zu gönnen.
({17})
Wenn wir die ganze Kraft, die wir über eine Generation in militärische Strategien investiert haben, jetzt umgekehrt in die Vorbeugung von Konflikten, in die Verhütung von Konflikten, in zivile Konfliktregelungsmechanismen investierten, wir könnten - auch gedanklich - mit weit, weit weniger Militär auskommen, als wir es heute tun.
({18})
Ich stimme meinen Vorrednerinnen und Vorrednern darin zu, daß die Bereitschaft zu guter Nachbarschaft vor allem daran zu messen ist, wie wir im Innern unserer Gesellschaft miteinander und vor allen Dingen mit Menschen anderer Nationen umgehen.
({19})
Deshalb kann sich nach Rostock nicht als erstes die Frage nach dem Art. 16 stellen.
({20})
Nach den Ereignissen von Rostock - damit es nicht immer nur Rostock heißt: Rostock gibt es auch im Westen, d. h. Rostock ist in diesem Falle ein Synonym ({21})
- überall, ich gebe Ihnen völlig recht ({22})
ist deshalb die erste Frage die nach dem Art. 1. Darin steht: „Die Würde des Menschen ist unantastbar."
({23})
Deshalb mit allem Nachdruck: Menschenverachtende Gewalttäter - und um die handelt es sich - sind eine Schande für dieses Land und müssen mit der vollen Härte des Gesetzes verfolgt und bestraft werden.
({24})
Ich glaube, daß wir bei allem, was uns im Streit trennt, viel stärker wieder gemeinschaftlich eine Front gegen die schleichenden rechtsradikalen Tendenzen in unserem Land errichten müssen.
({25})
Das Schwenken der falschen Fahnen, die miesen Einfachantworten, die wieder Konjunktur bekommen, jene Art von Rechtsradikalismus, wie man ihn auch in älteren Köpfen wieder erlebt, waren, wenn man in die Geschichte zurückschaut, immer der Anfang vom Ende der deutschen Nation. Wenn wir dies heute begreifen, dann wollen wir mit Aufklärung, mit dem organisierten Anstand in Deutschland - den gibt es massenweise, damit daran überhaupt kein Zweifel besteht -,
({26})
denen entgegentreten, die drohen, unser Land sonst, wenn wir nicht rechtzeitig aufpassen, wieder an den Rand des Abgrunds zu bringen.
({27})
Meine Damen und Herren, ich schließe mich dem an, was Herr Klose in sehr prägnanter Form gesagt hat: Das Grundrecht „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" muß erhalten bleiben. Es gehört zum Kernbestand unserer Geschichte und zur politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland.
Ich kann Frau Köppe nicht recht geben, weil nicht nur meine Auffassung, sondern auch meine praktische Erfahrung in einem Land vor Ort ist: Wenn Hunderttausende von Menschen in ein Asylverfahren gelangen, das nicht für sie gemacht worden ist, dann, so sage ich Ihnen, wird am Ende das Asylverfahren rein quantitativ ausgehebelt werden,
({28})
nämlich durch die Überschwemmung eines Rechtes, das für die Verfolgten dieser Welt gedacht worden ist, durch Gruppen, die andere Zuwanderungswege zu diesem Kontinent gebrauchen. Da ist die Frage: Wie trennen wir es voneinander, ohne daß damit die Substanz eingeschränkt wird?
({29})
Ministerpräsident Björn Engholm ({30})
Wenn man, um dies hinzubekommen, eine Ergänzung der Verfassung machen muß - bei uns ist der Konflikt ja größer als bei Ihnen -, dann will ich deutlich sagen: Ich bin dazu bereit, sie zu machen.
({31})
Das Problem ist nämlich - da bin ich nicht Populist; bitte mißverstehen Sie das nicht -: Wenn das Volk anfängt, uns die Legitimation schleichend zu entziehen, und wenn das auch mit diesem Punkt zusammenhängt, dann hängt eines Tages der Art. 16 in der Luft.
({32})
Ich kann als Politiker - das will ich Frau Köppe sagen - nicht mit einem einmal vorgeschneiderten Hut erwarten, daß sich das Volk bei Veränderungen immer wieder unter dem zu klein gewordenen Hut einfindet.
({33})
- Das haben Sie schon gelesen? Ist aber trotzdem gut, nicht?
({34})
Ich glaube deshalb, daß wir auch die Akzeptanz unseres Volkes brauchen, damit die Würde von Menschen, die zu uns kommen, erhalten bleibt.
({35})
Das heißt Wege finden, um die Überlastung jener Verfahren, die für andere Zwecke gemacht worden sind, abzustellen und andere Wege der Zuwanderung zu finden, damit Menschen nicht völlig abgeschnitten werden und damit sie - wenn es geht, dann auch europäisch abgestimmt - eine reale Chance haben, zu uns zu kommen. Ich denke, über die vier oder fünf offenen Punkte werden wir in absehbarer Zeit miteinander reden müssen.
({36})
Klar ist eines, und Herr Klose hat recht: Wir lösen das Problem „Zuwanderung" nicht, indem wir uns immer und immer wieder ausschließlich mit dem Art. 16 beschäftigen. Wir müssen ein Paket vereinbaren, das die großen Ströme kontrollierbarer macht, als sie heute sind, ohne das Recht der wirklich Verfolgten zu beeinträchtigen.
({37})
Darin wird das Kunststück liegen, und dazu sind alle Gutwilligen im Parlament aufgerufen.
({38})
Klar ist, und Herr Schäuble weiß es: Wir können das, was wir wollen, ohne ein Minimum an Zustimmung von Ihnen nicht erreichen; umgekehrt gilt dasselbe. Das heißt, bestimmte Sachen, die gemacht werden müssen, müssen über die Fraktionsgrenzen hinaus vereinbart werden, oder es passiert nichts. Ich bin der Meinung, diesen Versuch sollten wir unternehmen.
({39})
- Ja gut, bis wann, das werden wir in absehbarer Zeit sehen. Herr Rüttgers, daß gerade Sie das fragen, der eben prognostiziert hat, daß ich das nicht mehr miterlebe, finde ich merkwürdig.
({40})
- Danke.
Meine Damen und Herren, für Deutschland und Europa gilt heute: Die Einheit ist immer noch Wunsch, die Teilung im Innern immer noch Realität. Am Ende des Jahrzehnts urollen wir sagen können: Die Einheit ist komplett Realität und die Teilung komplett Vergangenheit.
Der Bundespräsident Heinemann hat uns eine Maxime hinterlassen, die heißt:
In einer sich verändernden Welt kann nur bewahren, wer zu Veränderungen bereit ist. Wer nicht verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.
Die Welt hat sich verändert, und zwar epochal verändert. Wir leben in einem quasi neuen Zeitalter, in einem Zeitalter voll unglaublicher Chancen, aber zunehmend großer Risiken, in einer Zeit, die zukunftsorientiertes Handeln verlangt.
Unser Volk hat in weiten Bereichen den Glauben an die Handlungsfähigkeit der Regierung verloren. Jetzt kommt es darauf an, daß wir unserem Volk den Glauben an seine Zukunft erhalten. Wir Sozialdemokraten sind, wo immer wir benötigt werden, bereit, daran mitzuwirken.
({41})
Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Dr. Otto Graf Lambsdorff das Wort.
Herr Präsident, vielen Dank.
Herr Engholm, Sie haben mich verschiedentlich angesprochen. Ich möchte auf zwei Punkte eingehen.
Erstens. Es bestreitet niemand, daß bei der Situation in der früheren DDR der Staat mit aufgerufen ist, die Dinge in Ordnung zu bringen, und daß es dort selbstverständlich Staatsintervention und Staatsmitwirkung gibt. Das geschieht in einem Ausmaß, das beinahe unvorstellbar ist. Deswegen ist es nach meiner Meinung nicht richtig, in dieser Hinsicht nach mehr zu rufen.
Wenn Sie allerdings so weit gehen, eine Staatsbeteiligung an früheren Kombinatsunternehmen usw. zu verlangen, werden Sie eine dauerhafte StaatsinterDr. Otto Graf Lambsdorff
vention bewirken, und dies ist ein falscher Weg, meine Damen und Herren.
({0})
Das Unheil, das dort drüben angerichtet wurde, ist durch Staatswirtschaft entstanden. Es sollte nicht durch eine Neuauflage von Staatswirtschaft perpetuiert werden.
({1})
Die zweite Bemerkung: Herr Engholm, Sie haben die Haltung der Bundesländer angesprochen. Ich verstehe ja, daß Sie das aus der Sicht eines Ministerpräsidenten so betrachten. Zur Klarstellung: Ich habe selbstverständlich nicht die hessische Finanzministerin als schäbig bezeichnet. Ich kannte die Dame bisher nicht, noch nicht einmal ihren Namen, bevor sie hier aufgetreten ist. Wie sollte ich also auf diesen Gedanken kommen? Allerdings: Die Politik, die sie vertreten hat, halte ich in der Tat für schäbig, Herr Engholm.
({2})
Ich sage hier noch einmal: Die alten Bundesländer haben bisher an der Einheit verdient. Wenn Sie von einem strukturschwachen Land sprechen und damit wahrscheinlich Schleswig-Holstein meinen, dann frage ich Sie: Woran messen Sie sich? Auf welcher Basis stellen Sie den Vergleich an? Sind immer noch Baden-Württemberg oder Bayern die Grundlage oder Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern?
({3})
Ich füge gleich hinzu: Wenn der baden-württembergische Finanzminister von einer katastrophalen Finanzlage seines Landes spricht, was sollen denn der sächsische und der sachsen-anhaltinische Finanzminister sagen?
Wenn Sie hier bestreiten, daß sich die alten Länder solidarisch verhalten haben, dann sage ich Ihnen: Das allerschlimmste Beispiel war immer noch die Tatsache, wie sie die Bundesratsstimmen fünf Tage vor dem 3. Oktober so zusammengebastelt haben, daß sie immer eine Zweidrittelmehrheit gegen die neuen Lander haben.
({4})
Zu einer hoffentlich kurzen Intervention erteile ich dem Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein das Wort.
Ministerpräsident Björn Engholm ({0}): Herr Präsident, es sind nur zwei Sätze; sie dienen ebenfalls der Klarstellung.
Ich glaube nicht, Graf Lambsdorff, daß Sie mich ernsthaft gefragt haben, wie man Strukturschwäche bemißt. Es müßte Ihnen als einem altgedienten Parlamentarier mit ökonomischen Kenntnissen eigentlich geläufig sein, daß man die Strukturschwäche und die Finanzkraft eines Landes nach den Steuererträgnissen pro Kopf der Bevölkerung oder auch nach einem Parameter wie dem Industriebesatz bemißt. Das wissen Sie so gut wie ich. Danach gibt es signifikante Unterschiede zwischen schwächeren und reicheren
Ländern. Das ist nun einmal so. Aber das werden Sie nicht ernsthaft gefragt haben.
Ich bin ganz eindeutig Ihrer Auffassung, daß, wenn man ein Stück staatliche Beteiligung macht, dies zeitlich begrenzt sein muß. Das ist nicht Staatsinterventionismus auf Ewigkeit. Modelle dafür kann man heute selbst bei den Spitzen des BDI finden. Tyll Necker etwa, von dem man sagen darf, daß er ein überzeugter und engagierter Marktwirtschaftler ist, hat den Vorschlag degressiv gestaffelter Hilfen gemacht, die am Ende auslaufen. Dann weiß ein Unternehmen: Bis zu diesem bestimmten Zeitpunkt muß ich durch die Wellen hindurch sein.
Ich glaube deshalb, Sie müssen nicht mit der Alternative eines Staatsinterventionismus auf Dauer drohen. Es gibt Modelle, die sehr marktkonform sind und über die wir ja reden können.
({1})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Dr. Wolfgang Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde Ihnen, Herr Ministerpräsident Engholm, falls Sie Interesse daran haben, die Debatte fortzusetzen, gern folgendes sagen. Aber wir können ja ein bißchen warten.
({0})
Ich wäre dankbar, wenn die Damen und Herren bei der Bundesratsbank den Blick freigeben würden. - Vielen Dank.
Herr Engholm ist offenbar sehr begehrt.
({0})
Bei der letzten Sitzung haben wir ihn vermißt - da hatte er einen Zahnarzttermin --, heute ist er mal da. Deswegen möchte ich gern die Chance nutzen, mit ihm zu debattieren.
({1})
Ich möchte gern, Herr Ministerpräsident Engholm, zu dem, was Sie gegen Ende Ihrer Rede gesagt haben, gleich am Anfang einige Bemerkungen machen. Zunächst einmal sind wir uns alle einig in der Verurteilung von Gewalttaten, ausländerfeindlichen Äußerungen und Ausschreitungen. Wir sind uns ebenso einig in der Bitte an alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger, wo immer, dies auch nicht stillschweigend hinzunehmen oder gar mit heimlicher Sympathie zu begleiten.
({2})
Daß dies eine Schande für unser Land ist, haben wir alle immer gesagt, und wir haben lange davor
gewarnt. Daß dies eine Verletzung der Menschenwürde der ausländischen Mitbürger, der Asylbewerber, übrigens auch der Menschenwürde derjenigen, die solche Ausschreitungen begehen, bedeutet, ist ebenfalls unsere gemeinsame Überzeugung.
Daß wir gemeinsam gegen Gewalttaten, Rechtsradikalismus und Extremismus - ich hoffe: auch Linksextremismus ({3})
Front machen müssen, darin stimmen wir auch überein.
Ich denke, wir stimmen auch überein - aber da möchte ich nachfragen -, daß vieles von dem, was in unserer Bevölkerung an Verunsicherung vorhanden ist und was einen - wie wir wahrscheinlich gemeinsam empfinden: zu großen - Teil unserer Mitbürger zu der Überlegung bringt, ob man sich bei Wahlen anders verhalten sollte, als es die großen etablierten demokratischen Parteien gern wünschen, nämlich sich gar nicht an Wahlen zu beteiligen oder Zuflucht bei extremen Gruppierungen zu suchen, dadurch bedingt ist, daß diese Menschen, die keineswegs alle dem Extremismus anhängen, vielleicht zu viele Antworten von uns in der Politik erwarten, die wir ihnen so nicht geben und die sie vermissen. Sie verlangen von uns in der Politik, die wir Verantwortung tragen, nicht nur Antworten, sondern auch Handlungen und Entscheidungen. Deswegen kommt es in diesen Fragen darauf an, daß wir nicht nur reden, sondern auch handeln.
Ich will den Prozeß, der in Ihrer Partei, Herr Engholm, und in der SPD-Fraktion weiß Gott schwer genug ist, nicht weiter erschweren. Nur: Ein Satz von heute morgen, verehrter Herr Klose, geht natürlich nicht. Wir dürfen nicht den Eindruck erwecken, als handele es sich um ein Problem der Menschen in den ostdeutschen Bundesländern, in den jungen Bundesländern, sondern diese Probleme bestehen überall. Ausschreitungen wie in Rostock hätten überall in Deutschland stattfinden können. Wenn Sie sagen „Wenn wir jetzt über die Grundgesetzänderung reden würden, würden wir denen nur recht geben", dann muß ich Ihnen antworten: Das ist schon eine der Folgen Ihrer Versäumnisse.
({4})
Wir haben seit zehn Jahren gesagt: Laßt uns rechtzeitig handeln, damit nicht entsteht, was nicht entstehen darf.
Damit wir es friedlich miteinander zu Ende bringen - es wird schwer genug werden -,
({5})
darf ich die ganz herzliche Bitte äußern, daß Sie manche Ihrer Reden aus den zurückliegenden Monaten und Jahren korrigieren,
({6})
in denen Sie denjenigen, die rechtzeitig eine Ergänzung unseres Grundgesetzes gefordert und gesagt
haben, dies sei notwendig, damit die Ausländerfeindlichkeit in unserem Lande keinen Nährboden hat, vorgeworfen haben, sie schürten das und wollten das politisch ausnutzen.
({7})
Das war damals nicht in Ordnung und ist es auch heute nach Ihren Erkenntnissen, die leider zu spät, sehr spät kommen, immer noch nicht.
({8})
Sie müssen in diesen Fragen zur Verantwortung fähig werden; Sie sind es immer noch nicht. Herr Klose, Sie haben in Ihrer Rede gesagt: Wir wollen es noch in diesem Jahr machen. Ich rede jetzt nicht über alle Einzelheiten; das haben wir im April getan. Wir können aber mit den parlamentarischen Beratungen und Entscheidungen nicht bis zu Ihrem Bundesparteitag Ende November warten.
({9})
- Aber verehrter Herr Klose, der Vorschlag der CDU/CSU-Bundestagsfraktion - ({10})
- Dann sagen Sie, daß Sie heute mittag mit den Koalitionsfraktionen Gespräche zu führen bereit sind. Dann werden der Kollege Sohns, der Kollege Bötsch und ich mit Ihnen heute mittag darüber sprechen, was wir gemeinsam machen können!
({11})
Die Wahrheit ist, daß Sie bis heute noch nicht einmal in der Lage sind, mit den Koalitionsfraktionen überhaupt Verhandlungen und Gespräche darüber zu führen, was wir in der Asyl-, Ausländer- und Zuwanderungspolitik gemeinsam verabreden wollen. Sie brauchen ja erst weitere Gremien, und ob Sie dafür Mehrheiten haben, ist bis heute zweifelhaft.
({12})
Die zweite Bemerkung, die ich gerne zu Herrn Engholm machen möchte - Sie haben ja von der Geschichte gesprochen, und Sie wollen auch noch mit meinem Freund Jürgen Rüttgers eine Wette abschließen; darauf komme ich gleich -: Der Zusammenhang zwischen dem Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses im Herbst 1983 und der damit verbundenen Stabilisierung des atlantischen Verteidigungsbündnisses, übrigens auch der Europäischen Gemeinschaft, nicht nur im Zusammenhang mit dem NATODoppelbeschluß, sondern auch mit der Entscheidung, an der Bundeskanzler Helmut Kohl maßgeblich beteiligt war, den Weg zum gemeinsamen Binnenmarkt 1984 in der Europäischen Gemeinschaft wieder flottzumachen, war eine, wenn nicht die entscheidende
Voraussetzung dafür, daß es in der sowjetischen Politik ab Mitte der achtziger Jahre zu einer entscheidenden Wendung gekommen ist.
({13})
Gorbatschow, Glasnost und Perestroika wären ohne den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses in den achtziger Jahren so nicht möglich gewesen.
({14})
Deswegen wäre es auch zur deutschen Einheit, an die viele in der Sozialdemokratischen Partei ja gar nicht mehr geglaubt haben, so nicht gekommen.
Herr Engholm, das ist nun wirklich keine Geschichtsklitterei, sondern das gehört eigentlich zum Grundbestand des Wissens, das man braucht, wenn man für das wiedervereinte Deutschland eine gute Politik in einer Zeit großer Veränderungen zustande bringen will.
Viele der Verunsicherungen, die die Menschen in unserem Lande beschäftigen - das ist ja gar keine Frage -, haben nach meiner Überzeugung damit zu tun, daß wir zwei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung und drei Jahre nach der großartigen Wende in Deutschland und Europa in einer Zeit schneller, großer Veränderungen leben. Vieles, was in Jahrzehnten selbstverständlich geworden schien, besteht so nicht mehr, und neue Widersprüche tun sich auf. Der Eiserne Vorhang teilt Europa nicht mehr, und jetzt herrscht mitten in Europa Krieg.
Die Menschen ahnen, daß wir uns von Problemen dieser einen Erde nicht mehr durch Grenzen abschotten können. Die Wanderungsbewegungen von Ost nach West und von Süd nach Nord oder die Auseinandersetzungen um knappe Ressourcen an Rohstoffen und Energie, die wachsende Not und das Elend für Millionen und Abermillionen Menschen in der südlichen Hemisphäre und globale Umweltprobleme, für deren Beherrschung die Sonderkonferenz der Vereinten Nationen in Rio allenfalls ein Anfang war, zeigen, daß die Probleme dieser einen Erde immer weniger teilbar sind.
Gleichzeitig scheint die Stabilität des demokratischen Rechtsstaats nicht nur in Deutschland, sondern in fast allen westlichen Demokratien, Herr Ministerpräsident Engholm, mehr in Frage gestellt, bedroht nicht nur durch organisierte Kriminalität, sondern auch durch die wachsende Distanz vieler Menschen zu etablierten Parteien und anderen Institutionen. Zeiten langanhaltenden Wohlstands und auch Zeiten weniger eindeutig empfundener äußerer Bedrohung scheinen die innere Kohärenz freiheitlicher Gesellschaften nicht unbedingt zu fördern. So entsteht Unsicherheit, Ungewißheit und Veränderung mit unabsehbarem Ausgang, wohin man schaut.
In einer solchen Welt des Wandels brauchen wir Sicherheit für Deutschland. Dazu müssen wir uns auf das Vordringliche konzentrieren. Wir können nicht alles, und wir können schon gar nicht alles auf einmal. Wer Prioritäten festlegt, muß auch sagen, was jetzt nicht möglich ist, also nachrangig bleiben muß. Das gebietet die Ehrlichkeit, die allein Grundlage für Vertrauen sein kann.
Dazu gehört auch, daß die Politik Erwartungshorizonte realistisch beschreibt. Die Bürger wissen, daß der freiheitliche Staat und daß die Soziale Marktwirtschaft nicht alles können. Wer alles vom Staat erwartet, endet im Totalitarismus. Wir in Deutschland haben noch nicht vergessen, daß ein Staat, der alles für seine Bürger regelt, am Ende herzlich wenig für seine Bürger leistet. Deshalb müssen wir sagen, was geht und was nicht. Aber wir müssen auch handeln, wo Entscheidungen nötig und möglich sind. Vor diesen Aufgaben versagt die SPD. Sie haben mit Ihrer Rede keinen hilfreichen Beitrag dazu geleistet.
({15})
Ich will Ihnen das an einigen konkreten Punkten aufzeigen. Unsere Prioritäten sind klar: Der entsetzliche Krieg im ehemaligen Jugoslawien und die gewalttätige Eskalation in den Auseinandersetzungen zwischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion zeigen, daß Friedenssicherung nach wie vor oberste Priorität haben muß. Hierin liegt eine entscheidende Bedeutung der europäischen Einigung. Es bleibt das Verdienst von Bundeskanzler Helmut Kohl, daß er das wiedervereinte Deutschland fest in die europäische Integration wie auch in die atlantische Solidarität eingefügt hat.
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Maastricht bleibt ein wichtiger Schritt auf diesem Weg. In jedem Fall muß die politische Einigung weitergehen. Europa muß vor allem in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu mehr Handlungsfähigkeit finden, was den Krieg im ehemaligen Jugoslawien betrifft, aber auch genauso die Aufgabe, den Eisernen Vorhang nicht durch eine neue Wohlstandsgrenze zu ersetzen, oder auch im Hinblick auf unsere Verantwortung gegenüber den globalen Problemen. Es war gut, daß die Bundesrepublik Deutschland in Rio unbestritten eine Vorreiterrolle gespielt hat. Aber es wäre besser gewesen, eine geschlossene Europäische Gemeinschaft hätte diese Vorreiterrolle wahrgenommen.
({17})
An weltweiten, atlantischen und europäischen Bemühungen, Frieden zu schaffen und zu bewahren, werden wir uns mit gleichen Rechten und Pflichten beteiligen müssen. Friedenssicherung heißt mehr denn je Bündnisfähigkeit. Wir haben den Verteidigungsauftrag der Bundeswehr unter den Bedingungen des Ost-West-Gegensatzes in fast vier Jahrzehnten bezogen auf diesen Ost-West-Gegensatz definiert. In der heutigen Weltlage, in der Sicherheitsprobleme so viel pluraler, differenzierter und weniger kalkulierbar sind, muß der Friedensauftrag der Bundeswehr als Sicherung der Bündnisfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden. Auf uns allein gestellt werden wir Frieden und Freiheit nicht unter allen denkbaren Umständen sichern.
Herr Engholm, die Wette gegen Jürgen Rüttgers sollten Sie nicht eingehen. Bis die Vereinten Nationen wirklich ein Gewaltmonopol haben, werden Sie wahrscheinlich nicht mehr SPD-Vorsitzender sein. Ich würde mir wünschen, daß es so schnell geht und daß
es in Ihrer Amtszeit geschieht, wie lange sie auch sein möge. Aber ich fürchte, wir werden es vielleicht gar nicht erleben, daß die Vereinten Nationen ein Gewaltmonopol haben.
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Ich möchte jedenfalls mit der Friedenssicherung nicht warten, bis die Vereinten Nationen ein Gewaltmonopol haben; wir müssen vorher handeln.
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Für die innere Stabilität unseres demokratischen Rechtsstaates - denn Frieden müssen wir nach außen und nach innen sichern - brauchen wir endlich die notwendigen Entscheidungen, um die Überforderung unserer Städte und Gemeinden durch zu viele politisch nicht verfolgte Asylbewerber zu beenden. Die Menschen erwarten vom Staat, daß er seine Schutzfunktion nach innen und außen erfüllt. Deshalb hat für uns auch innere Sicherheit Priorität; sie muß Priorität haben. Dazu gehört, daß wir die notwendigen Instrumentarien gegen organisierte Kriminalität schaffen. Auch da sind Sie auf einem Weg, Positionen Ihrer Partei und Fraktion, die nicht mehr haltbar sind, zu korrigieren. Wir wollen Ihnen dabei helfen, obwohl wir manchmal ja schon mit uns selbst genug zu tun haben; aber wir müssen immer noch die Schwierigkeiten in der SPD mit bedenken.
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Aber dazu gehört auch, daß der Staat nicht vor Gewalttätern kapituliert. Das Versammlungsrecht wie auch der Tatbestand des Landfriedensbruchs müssen überprüft werden. Es ist unerträglich, wenn die Menschen den Eindruck haben müssen, die Polizei müsse zuwarten, bis aus einer Menschenansammlung die mit Sicherheit zu erwartenden schweren Straftaten dann tatsächlich begangen sind. In erster Linie ist die Polizei für die meisten Menschen immer noch dazu da, Straftaten zu verhindern und nicht abzuwarten, bis sie erst begangen werden.
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Dazu braucht die Polizei auch einen Vertrauensvorschuß. Politisch Verantwortliche, die sich in schwierigen Lagen, auch nach dem Weltwirtschaftsgipfel in München, nicht vor ihre Polizeibeamten stellen, leisten einer wachsenden Demotivierung in Kreisen unserer Polizei Vorschub.
Das Dritte. Wir müssen die innere Einheit in Deutschland vollenden. Es ist auch, aber nicht nur eine wirtschaftliche Aufgabe. Ich denke, vor allem brauchen wir mehr Begegnungen zwischen Ost und West im vereinten Deutschland. Die Überwindung der Folgen von 40 Jahren Teilung und totalitärem Sozialismus sind eine gemeinsame Aufgabe aller Deutschen. Auch die Bewältigung der politischen Lasten der Vergangenheit ist unsere gemeinsame Aufgabe. Da werden wir noch mehr Ehrlichkeit brauchen und vor allem, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Sozialdemokratischen Partei, auch mehr Maßstabgerechtigkeit in der Beurteilung der einzelnen Personen.
Ich bleibe dabei, daß ich die Diskussion um Ministerpräsident Stolpe vor allen Dingen von denjenigen geführt sehen möchte, die in den neuen Bundesländern leben und in der früheren DDR gelebt haben. Ich bleibe allerdings auch bei meiner These: Wenn die Ministerpräsidenten Stolpe wie Lafontaine Mitglieder der Christlich-Demokratischen Union wären, wären sie längst nicht mehr Ministerpräsidenten, alle beide nicht.
({22})
Aber ich bleibe bei uns im Westen. Die Sozialdemokraten, Herr Lafontaine, Herr Rau, und, Herr Ministerpräsident Engholm, Sie als der nächste Kanzlerkandidat sind uns noch eine Antwort schuldig, weil Sie, alle drei, ungeniert und ohne Scham mit der SED darüber gekungelt haben, wie Sie gemeinsam als Sozialdemokraten mit der SED Honeckers zusammenwirken könnten, um die Wahlchancen bei freien Wahlen in der damaligen Bundesrepublik Deutschland zu Lasten der Christlich-Demokratischen Union für die SPD zu verbessern. Darauf haben Sie nicht geantwortet. Wolfgang Bötsch hat Sie danach gefragt, Sie sind die Antwort schuldig geblieben.
Sie haben mir im Jahre 1986 etwas vorgeworfen. Da war Ihr Kanzlerkandidat Herr Ministerpräsident Rau, und es ging schon einmal um Asylprobleme. Herr Rau hat damals in einer Pressekonferenz, in Nürnberg war es, glaube ich, verkündet, was er dank seinen Bemühungen mit der damaligen Regierung der damaligen DDR erreicht habe. Als ich damals sehr behutsam und später wieder gesagt habe, daß das eine Wahlkampfhilfe der SED war, haben Sie mir Verleumdung vorgeworfen. Heute ist es aktenkundig, und, Herr Engholm, Sie sollten wenigstens hier im Bundestag erklären, daß Sie der Veröffentlichung dieser Akten zustimmen. Denn es ist ja auch geschrieben worden, daß Sie alles tun, um die Veröffentlichung dieser Akten aus dem SED-Archiv zu verhindern.
({23})
- Na gut, dann sagen Sie es! Das Pult steht Ihnen offen. Ich räume es sogar, wenn Sie wollen, gleich jetzt für eine Zwischenfrage.
Es ist - ich habe das Zitat hier - unwidersprochen öffentlich erklärt worden, daß Sie alle Bemühungen unternehmen, um die Veröffentlichung dieser Akten zu verhindern.
({24})
Über Herr Lafontaine braucht man schon fast nicht mehr zu reden.
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Allerdings kommt mir, wenn ich die Warnungen des Kollegen Schulz in seiner Kurzintervention vor der Wirtschafts- und Währungsunion höre, persönlich in Erinnerung, was ich auszuhalten hatte, als Lafontaine von dem damaligen Innenminister Schäuble verlangt hat, das Aufnahmeverfahren für Übersiedler aus der damaligen DDR abzuschaffen, die Leute zurückzuschicken, kaum daß die Mauer geöffnet war. Am besten hätten wir die Mauer wieder gebaut. Es war die einzige Alternative - da hatte er recht - zur Wirtschafts- und Währungsunion und zur schnellen deutschen Einheit. Wir haben uns für die Wirtschafts- und
Währungsunion und für die schnelle deutsche Einheit entschieden, und ich denke auch heute noch, daß das richtig war.
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Herr Ministerpräsident Engholm, Sie schulden der deutschen Öffentlichkeit und im übrigen der Christlich-Demokratischen Union, zu deren Lasten ja diese Kungelgeschäfte betrieben worden sind, eine Antwort zu Ihren Bemühungen, Herrn Honecker zu bitten, er solle doch bei seinem Besuch die Sache mit dem Badesee so regeln, daß die Wahlkampfchancen für die SPD in Schleswig-Holstein dadurch positiv beeinflußt würden. Das kann so nicht stehenbleiben! Wir brauchen gar nicht über Herrn Stolpe zu diskutieren, solange die Sache nicht geklärt ist, daß führende Sozialdemokraten sich in den Zeiten der früheren DDR urn Wahlkampfhilfe zu Lasten freiheitlicher, demokratischer Parteien in der Bundesrepublik Deutschland für die SPD bemüht haben.
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- Ihre Fähigkeit zuzuhören ist ohnedies nicht hochentwickelt. Bundeskanzler Helmut Kohl hat ja schon gesagt, daß wir in unseren Erwartungen ganz bescheiden sind. Wenn Sie das, was Sie an Streitkultur einmal mit der SED vereinbart haben, auch bei uns pflegen, daß Sie uns wenigstens anhören, sind wir schon ganz zufrieden.
{Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)
Herr Dr. Schäuble, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Was diese Gespräche angeht, so wissen Sie, daß die SED das unter dem Risiko getan hat, daß sie nach drei Jahren weg war. Wollen Sie das auch unter diesem Risiko machen?
Wissen Sie, Herr Kollege Müntefering, wir haben in zwei Jahren Wahlen, und im Gegensatz zu Ihrem Kanzlerkandidaten, der ja schon als Wahlziel verkündet hat, er möchte Vizekanzler in einer großen Koalition werden, sind wir nach wie vor der Überzeugung, daß die Wahlen erst 1994 entschieden werden und wir nicht jetzt schon verteilen sollten.
({0})
-In der freiheitlichen Demokratie, Herr Müntefering, ist das Risiko immer, daß gewählt wird und daß man die Wahlentscheidungen der Wähler auch zu akzeptieren hat. Deswegen hat uns doch so empört und empört uns heute noch, daß Sie mit totalitären Parteien wie der SED gekungelt haben, um freiheitliche Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland zu unseren Lasten zu manipulieren.
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- Darauf habe ich nun wirklich gewartet. Es wird noch trostloser.
Ich würde gern, Herr Präsident, meine Damen und Herren, einige Bemerkungen zu dem machen, was Ministerpräsident Engholm zu den wirtschaftlichen Problemen im vereinten Deutschland und zum Aufbau der ostdeutschen Länder gesagt hat. Ich sagte, es ist eine unserer vorrangigen Aufgaben, und es ist überhaupt keine Frage, daß die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern wie die der Bundesrepublik Deutschland insgesamt unsere vorrangige Aufmerksamkeit erfordert.
Ich will auch darauf hinweisen- dazu haben Sie in Ihrer Rede gar nichts gesagt -, daß der Bundeshaushalt 1993 einen wichtigen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufbau der neuen Bundesländer leistet und zugleich darauf achtet, daß die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft der Bundesrepublik Deutschland und die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Hände insgesamt und der Steuerzahler insgesamt nicht überfordert wird. Das ist ja die eigentlich schwierige Gratwanderung, die zu leisten ist.
Weil der Bundeshaushalt 1993 so, wie ihn der Bundesfinanzminister im Bundestag eingebracht hat, diesen Anforderungen gerecht wird, findet er die Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. So haben wir das miteinander auch in den Eckwerten, die die Koalitionsparteien und Fraktion schon Ende Juni vereinbart haben, beschlossen. Wir werden es miteinander Schritt für Schritt umsetzen.
Es ist völlig klar, daß wir zur Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in den neuen Bundesländern eine Reihe administrativer und bürokratischer Hindernisse in kurzer Frist überwinden müssen. Dabei müssen wir auch darüber reden, was von den Landesregierungen und Landesverwaltungen zusätzlich geleistet werden muß. Es gibt eine Menge administrativer und bürokratischer Hindernisse.
Aber, Herr Kollege Engholm, Sie sind uns jede Antwort auf unsere Vorschläge schuldig geblieben, das zu komplizierte Recht für einen raschen Aufbau in den neuen Bundesländern für einige Jahre außer Kraft zu setzen, damit der Aufbau schneller gehen kann. Die Koalitionsparteien und -fraktionen werden dies gemeinsam vorschlagen.
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Ich hoffe, daß dies nicht wie bei dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz geht, dem ersten Schritt, der ungeheuer erfolgreich war, den Günther Krause hier eingebracht und durchgesetzt hat. In diesem Zusammenhang haben Sie, Herr Engholm, wie die Mehrzahl der Sozialdemokraten, dagegen gestimmt. Das schadet dem schnellen Aufbau in den neuen Bundesländern.
({3})
Wir müssen ehrenamtliches Engagement und Eigeninitiative in der kommunalen Selbstverwaltung wie beim Aufbau freier gesellschaftlicher Gruppen ermuntern, weil eine freiheitliche Gesellschaft, auch eine Soziale Marktwirtschaft, von unten aufgebaut wird und auf Eigeninitiative und Engagement basiert,
weil nicht alles von oben, vom Staat, kommen kann.
Deswegen wollen wir gemeinsam mit den Bundesländern noch einmal erörtern, ob eine kommunale Investitionspauschale, Herr Kollege Solms, noch einmal für die nächsten zwei Jahre eingeführt werden kann, weil sie eben die Gemeinden in den neuen Bundesländern in die Lage versetzt, schneller und unbürokratischer über Investitionsmittel zu verfügen und weil auf diese Weise auch ein Stück Engagement in kommunaler Selbstverwaltung in den Gemeinden und Städten der neuen Bundesländer ermutigt wird. Aber - weil die Mittel für die kommunale Investitionspauschale, die wir 1991 hatten, 1992 den neuen Bundesländern zur Verfügung gestellt worden sind, ist klar, daß diese Mittel nicht allein vom Bund kommen können, sondern daß in den Verhandlungen mit den Ländern die notwendigen Mittel zugunsten der Kommunen durchgesetzt werden müssen. Dazu ist die Solidarität der Bundesländer insgesamt, von der wir bisher in der Tat zu wenig erlebt haben, gefordert, wobei ich hinzufüge: ganz unabhängig vom Parteibuch des jeweiligen Regierungschefs.
({4})
Es wird eine der entscheidenden Auseinandersetzungen der nächsten Wochen und Monate sein, daß der Verteilungskampf, der natürlich im vereinten Deutschland - wer wollte es leugnen - zwischen Ost und West auch stattfindet, in einer Weise entschieden oder zu einem Konsens geführt wird, so daß wir die vorrangige Aufgabe, Wohlstand im Osten zu entwikkeln und Wohlstand im Westen zu sichern, miteinander bewältigen können. In diesem Zusammenhang wird mehr Solidarität von Ländern und Gemeinden im Westen gefordert sein, als dies bisher notwendig war. Deswegen, Herr Bundeskanzler, sind wir dankbar, daß Sie die Initiative zu einem Solidarpakt aller öffentlichen Hände und der Sozialpartner ergriffen haben, und wir unterstützen Sie auf diesem Weg.
({5})
Eine solche gemeinsame Bemühung, die nicht Verantwortungen verwischen soll,
(
Sehr gut!)
kann helfen, die Folgen der notwendigen Anstrengungen, die in Ost und West geleistet werden müssen, gemeinsam den Bürgern zu erklären.
Herr Kollege Engholm, ich würde gern die Kurzintervention von Graf Lambsdorff aufgreifen, und zwar die Frage nach dem Vergleichsmaßstab. Daß wir wissen, wie sich die Leistungskraft der Länder rechnet und daß auch Sie das wissen, ist doch wohl klar. So viel Sachverstand haben wir Ihnen unterstellt. Die Frage von Graf Lambsdorff ging aber in eine völlig andere Richtung. Graf Lambsdorff ging es um den Ansatzpunkt bei den Vergleichen. Ich denke in der Tat, daß die Frage einheitlicher Lebensverhältnisse, die Frage des Länderfinanzausgleichs im vereinten Deutschland nicht mehr darin gesehen werden kann, daß die elf westlichen Länder untereinander annähernd gleiche Verhältnisse haben, sondern die entscheidende Frage ist, wieviel Gleichheit und Einheitlichkeit wir in welcher Zeit zwischen den 16 Ländern des wiedervereinten Deutschlands erreichen können.
({0})
In diesem Zusammenhang kann sich Schleswig-Holstein in Zukunft nicht mehr mit dem Saarland oder mit Bremen vergleichen, sondern in der Tat mit seinen Nachbarn Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt oder Thüringen. In dieser Frage hat Graf Lambsdorff völlig recht. Im übrigen fand ich das, was Sie zur Person von Graf Lambsdorff gesagt haben,
({1})
eher ungerecht. Über Graf Lambsdorff kann man sich wirklich ärgern - diesbezüglich habe ich zur Zeit keinen Nachholbedarf -,
({2})
aber ihm zu unterstellen - ({3})
- Nein, so ist er. Das ist seine Art. Man kann ihm ganz offen sagen, wo man unterschiedlicher Meinung ist. So verfährt er umgekehrt auch. So etwas tragen wir miteinander aus. Das ist auch in Ordnung. Aber ihm zu unterstellen, er sei tricky und arglistig, das ist nicht in Ordnung. Die roten Rosensträuße waren von Herbert Wehner. Das war eine typische sozialdemokratische Eigenschaft. Solche brauchen wir in dieser Koalition nicht. Sie können auch ganz sicher sein, daß wir alle miteinander, ohne jedes Arg, entschlossen sind, auch in schwierigen Zeiten und bei manchen unterschiedlichen Meinungen, die erfolgreiche Politik dieser Koalition der Mitte weiter, auch in den nächsten Jahren, fortzusetzen.
({4})
Herr Kollege Engholm, Sie haben viele Punkte genannt, bei denen Sie aber nie konkret geworden sind. Im Zusammenhang mit den bürokratischen Hindernissen haben Sie gegen die erste Maßnahme gestimmt. Bei den Eigentums- und Vermögensfragen haben wir doch mit den Sozialdemokraten, mit den Regierungen der neuen Bundesländer Ende Juni gemeinsam beraten. Wir wollten auch, wie Frau Däubler-Gmelin, einfachere Regelungen für den Vorrang von Investitionen im zweiten Vermögensrechtsübertragungsgesetz. Aber der versammelte Sachverstand der Regierungen aller neuen Bundesländer - hier sitzt die Vertreterin des Landes Brandenburg; der Justizminister von Brandenburg hat an den Beratungen teilgenommen - hat uns gesagt, daß die jetzt im zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz gefundene Regelung die richtige sei, man mit dieser arbeiten könne und man jetzt die Diskussion über die Frage, was Vorrang habe, Rückgabe oder Entschädigung, nicht fortführen solle,
({5})
weil sie nur zu einem Attentismus führe und den investiven Prozeß behindere. Sie haben offenbar nicht mitbekommen, was die Regierungen in den ostdeutschen Ländern alle miteinander sagen.
Deswegen sage ich Ihnen, wenn Sie so schön klingende Reden aufschreiben oder aufschreiben lassen: Sie sollten etwas näher an den wirklichen Problemen sein. Sie sollten einen näheren Bezug zu den konkreten Schwierigkeiten in Ostdeutschland haben. Sie müssen im übrigen sehen - das will ich in der gebotenen Kürze noch einmal sagen -: Der Weg zu weiteren Steuererhöhungen ist nicht so einfach, obwohl dies Sozialdemokraten immer sehr leicht über die Lippen kommt. Sozialdemokraten haben wirklich eine Art Pawlowschen Reflex. Wenn irgendein Problem kommt, dann bilden sie eine Kommission,
({6})
dann machen sie ein Programm, und dann fordern sie Steuererhöhungen. Hinterher geschieht nichts.
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- Nein. Entschuldigung, wir haben - das wird die entscheidende Frage sein -, wenn wir mit den großen Aufgaben im vereinten Deutschland zurande kommen wollen - ({8})
- Jawohl, das auch.
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- Aber Herr Wieczorek, wir sagen: In einer Zeit, in der sich auch die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eher verdüstern, weil die Weltkonjunktur schlechter läuft, als wir alle vorhergesehen und gehofft haben, dürfen wir nicht durch weitere Steuererhöhungen die Wettbewerbssituation unserer Wirtschaft und die Belastungen unserer Wirtschaft weiter verschlechtern.
({10})
- Ja, dazu sage ich gleich etwas. Hätten Sie mich nicht bei jedem zweiten Satz durch einen Zwischenruf unterbrochen, wäre mein Redebeitrag längst beendet.
Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, den Druck auf sparsames Ausgabeverhalten nicht nur beim Bund, sondern auch bei Ländern und Gemeinden durchzusetzen.
({11})
Die entscheidende Aufgabe ist die Verabredung im Finanzplanungsrat: Steigerung der Ausgaben beim Bundeshaushalt in den nächsten Jahren im Durchschnitt auf 2,5 % begrenzen und bei westdeutschen Ländern eine Begrenzung auf 3 % durchzusetzen. Man kann nicht mit einer Politik der leichten Hand in Steuererhöhungen, wie Herr Engholm sie hier wieder vertreten hat, den Druck auf sparsames Ausgabeverhalten verhindern, wenn man nicht die wirtschaftlichen Auftriebskräfte in der Bundesrepublik insgesamt dauerhaft schwächen will. Dieses ist die erste und entscheidende Aufgabe.
Nur in diesem Rahmen kann man über zusätzliche Mittel zur Verstärkung der investiven Kräfte in den ostdeutschen Ländern reden. Da geht es vor allem um bürokratische und andere Hindernisse. Aber man wird auch miteinander darüber nachdenken können, wie man den Mangel, daß privatwirtschaftliche Investitionen in ostdeutschen Ländern im Verhältnis zur Bevölkerungszahl geringer sind als im Westen, abbauen kann. Darüber gemeinsam zu reden - alle öffentlichen Gebietskörperschaften, Bund, Länder und Gemeinden, aber auch die Sozialpartner - scheint mir der Anstrengung wert. Darüber bzw. über alle Vorschläge nachzudenken, ist auch richtig.
Die Verkürzung der Diskussion auf das eine oder andere Instrument enthält eine Gefahr auch im Sinne von Verunsicherung. Ich stehe nicht an zu erklären, daß mir die Diskussion der letzten zehn Tage nach Vorschlägen, die unsere Freunde aus den ostdeutschen Landesverbänden der CDU/CSU-Fraktion gemeinsam mit uns im geschäftsführenden Vorstand erarbeitet haben, nicht gefallen hat. Die mißverständliche Verkürzung dieser Diskussion auf ein Instrument war ganz gewiß schädlich, hat auch zu einer weiteren Verunsicherung geführt.
({12})
-Ja, gut. Deswegen bin ich ja dafür, daß wir in kurzer Zeit über alle diese Fragen miteinander in dem Solidarpakt reden, zu dem der Bundeskanzler eingeladen hat. Dazu lade ich Sie herzlich ein. Ich denke, wir sollten uns in einer Zeit konzentrieren, von der ich finde, daß die Probleme groß sind, daß die Aufgaben gewaltig sind, aber von der ich überhaupt nicht finde, daß wir Grund zur Resignation haben.
({13})
Die deutsche Einheit, das Ende des Ost-WestKonflikts, die Chance, Europa in unsere Generation und wahrscheinlich noch vor dem Gewaltmonopol der Vereinten Nationen, Herr Ministerpräsident Engholm, zu einen und die Kräfte Europas zu bündeln, um die Folgen von totalitärem Sozialismus in Deutschland und Europa zu überwinden und die Kräfte Europas zu bündeln, um in dieser einen enger zusammenwachsenden Welt Hunger und Not, Elend und Umweltkatastrophen gemeinsam besser bekämpfen zu können, als es bis heute gelungen ist, sind so großartige Chancen und Möglichkeiten für unsere Generation, daß ich finde, Herr Präsident, meine Damen und Herren: Wir sollten nicht nur streiten, sondern uns so rasch wie möglich gemeinsam an die Arbeit machen. Die Bundesregierung, Herr Bundeskanzler, Herr Bundesfinanzminister, kann auf diesem Weg der Unterstützung der CDU/CSU-Fraktion sicher sein.
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Zu einer Kurzintervention erteile ich dem Abgeordneten Hans-Ulrich Klose das Wort.
Herr Kollege Schäuble, ich stimme Ihnen ausdrücklich zu: Vergangenheitsbewältigung muß sein. Aber ich glaube nicht, daß die Politik dazu in der Lage ist. Ich glaube, daß zur
Vergangenheitsbewältigung - unterstellt, es geht wirklich um die Wahrheit - Abstand erforderlich ist. Deshalb vertraue ich mehr auf die, die die Zunft gelernt haben. Ihnen jedenfalls bestreite ich ausdrücklich den Willen zur Objektivität in dieser Frage. Denn das, was Sie hier vorgeführt haben, war nichts als miese Wahlkampfvorbereitung.
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Zweitens. Im übrigen glaube ich, daß Sie mit einer solchen Art, Debatten zu führen, nur ein Ziel haben, nämlich abzulenken von den konkreten Schwierigkeiten der Koalition in der Gegenwart.
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Es ist immer dasselbe Muster. Die Koalition streitet sich und versucht, von dieser Tatsache abzulenken, indem sie lautstark erklärt, auch mit der SPD sei sie nicht einer Meinung und die müsse sich endlich bewegen. Ob das Pflegeversicherung ist oder UNOEinsätze, ob das die Finanzierung Deutsche Einheit ist oder die Lösung des Problems der Zuwanderung. Dazu sage ich Ihnen jetzt hier in aller Deutlichkeit: Wenn sich die Koalition nicht dazu entschließt, endlich auf den Tisch zu legen, was sie gemeinsam zur Lösung des Problems vorschlägt, wird es keine Gespräche geben.
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Es hat keinen Sinn, ständig der SPD zu sagen, sie müsse sich bewegen, wenn Sie nicht wenigstens andeuten, in welche Richtung sie sich denn bewegen soll. Machen Sie es wie die SPD, wenn Sie gegenwärtig noch nicht entscheiden können, dann streiten Sie sich in der Koalition, aber kommen Sie mit einem gemeinsamen Vorschlag, oder kommen Sie mir gar nicht.
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Ich erteile dem Abgeordneten Dr. Schäuble das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nur zu dem Thema Vergangenheitsbewältigung einen einfachen Vorschlag machen. Herr Kollege Klose, Herr Ministerpräsident Engholm, erklären Sie hier, daß Sie bereit sind zuzustimmen, daß alle Quellen im zentralen Parteiarchiv der PDS, die die SPD/SED-Kontakte dokumentieren, eingesehen werden können?
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- Ja. Es wird in einem Nachrichtenmagazin, von dem der Bundeskanzler - das ist einer der Punkte, wo wir nicht ganz derselben Meinung sind; ich lese gelegentlich dieses Magazin - immer sagt, wir sollen es nicht lesen,
(
Leider!)
in der Ausgabe vom 24. August behauptet - ich zitiere:
Nur Ex-SPD-Präside Erhard Eppler willigte ein, auf den 30 Jahre währenden Persönlichkeitsschutz des Bundesarchivgesetzes zu verzichten und damit den Weg zu den Akten freizumachen. SPD-Chef Björn Engholm und sein Vorgänger Hans-Jochen Vogel, Saarlands Ministerpräsident Oskar Lafontaine und Egon Bahr verlangten, die Recherchen auf das SPD/SED-Positionspapier von 1987 zu beschränken.
Herr Kollege Klose, Herr Ministerpräsident Engholm, Sie können einen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit von 40 Jahren Teilung leisten, indem Sie Ihre Einwilligung erklären.
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Ich bin an einer lebhaften Diskussion im Parlament sehr interessiert, darf mich aber auch nicht zu weit von der Geschäftsordnung entfernen. Ich bitte um Verständnis, daß auf eine Kurzintervention nicht mit einer Kurzintervention geantwortet werden kann.
Herr Abgeordneter Voigt, Sie haben kein Problem. Sie sind der Übernächste, insofern löst sich das Problem in Wohlgefallen auf.
Ich kann also dem Bundesminister des Auswärtigen das Wort erteilen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Außenpolitik gehört, auch wenn es die Mittagsstunde ist, zur Haushaltsdebatte. Zwei Flugstunden von uns entfernt, mitten im Herzen Europas, wütet weiterhin ein blutiger Vernichtungs- und Vertreibungskrieg. Auch im Kaukasus und anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion sind mit der wiedergewonnenen Freiheit jahrhundertealte nationale, religiöse und ethnische Feindseligkeiten zurückgekehrt. In Somalia haben Hunger, Anarchie und Terror ein nahezu unfaßbares Ausmaß angenommen. Die Hoffnungen, die wir nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes mit der Schaffung einer neuen Weltordnung verbunden haben, haben unzweideutig einen Rückschlag erlitten. Unsere Erwartungen in die politische Vernunft und Toleranz wurden enttäuscht, bitter enttäuscht.
Kein Zweifel, diese Entwicklungen, die uns täglich über die Medien vor Augen geführt werden, setzen die Autorität und Glaubwürdigkeit unseres gemeinsamen Neuanfangs in Europa, die Handlungsfähigkeit der Völkergemeinschaft und der Vereinten Nationen einer schweren Belastungsprobe aus.
Europa und die Welt: Machtlos angesichts von Gewalt und Elend? Das ist die Frage, die uns betroffen macht. Es gibt hierauf keine einfachen Antworten, keine schnellen Lösungen. Das Ausmaß an Haß und Feindseligkeiten, das sich zwischen den im ehemaligen Jugoslawien lebenden Menschen über Jahrzehnte angesammelt hat, macht dies beim besten Willen auch nicht möglich. Zudem sind wir erst in den Anfängen einer wirksamen globalen und regionalen kollektiven Sicherheitsarchitektur. Die Krisen sind schneller gewachsen als die Instrumente zu ihrer
Bewältigung. Aber, einfach akzeptieren, wie begrenzt die Handlungsfähigkeit der multilateralen Institutionen und unsere eigene ist, das darf nicht sein. Resignieren wäre das falscheste. Alle politischen, wirtschaftlichen, friedlichen Mittel zur Beendigung des Mordens im ehemaligen Jugoslawien müssen ausgeschöpft werden. Das ist alternativlos.
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Ich bin skeptisch nach London gereist. Die Fortdauer der schweren Kämpfe in Bosnien-Herzegowina nach der Londoner Konferenz ist nicht ermutigend. Ich muß befürchten, daß nicht Einsicht die Waffen zum Schweigen bringen wird, sondern nur äußerster Druck z. B. in Form
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einer völligen und wasserdichten Blockade des Aggressors. Selbst das mag zu keinem baldigen Ende des Mordens führen. Ich finde, daß es auch zur Glaubwürdigkeit der Politik, der Politiker gehört, offen zu sagen, daß die Probleme des früheren Jugoslawiens wohl auf absehbare Zeit leider nicht lösbar sind, und daß die Handlungsfähigkeit aller - und es sind viele, die sich um die Lösung bemühen - begrenzt ist.
Immerhin: Die Londoner Konferenz hat eine Reihe von Ergebnissen gebracht, in denen unsere von Anfang an entschiedene Haltung bestätigt wurde: eine klare und vollständige Isolierung der serbischen Seite sowie das unmißverständliche Signal: Die Völkergemeinschaft wird sich - Herr Bundeskanzler, Sie haben das schon heute morgen gesagt - mit der serbischen Politik der vollendeten Tatsachen nicht abfinden und niemals gewaltsam veränderte Grenzen anerkennen.
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Es ist gelungen, den Führern der bosnischen Serben zumindest klarzumachen, was geschehen muß: die Kontrolle schwerer Waffen, die Auflösung der Gefangenenlager und vieles mehr. Der Prinzipienkatalog von London enthält wesentliche deutsche Vorstellungen. Unsere Forderung nach einem internationalen Strafgerichtshof zur Ahndung von Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen hat erstmals in einem weiten internationalen Rahmen Unterstützung gefunden.
Auch hinsichtlich der lückenlosen Durchführung der Sanktionen gegen Serbien und Montenegro sind wir einen erheblichen Schritt weitergekommen. Wichtig ist jetzt die Ausdehnung der Kontrollmaßnahmen auf den Schiffsverkehr auf der Donau und auf die Transitwege. Wir werden im Rahmen unserer Möglichkeiten - verfassungsrechtlich haben wir unsere Probleme - versuchen zu helfen.
Ich möchte an dieser Stelle erneut, weil ich glaube, daß es angebracht und auch wichtig ist, allen Soldaten und zivilen Bediensteten danken, die unter der Flagge der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien mit großem Mut und Opferbereitschaft für den Frieden und die Menschen einstehen.
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Ich möchte auch den Familien der italienischen Flugzeugbesatzung und der französischen Soldaten, die gestern im UNO-Einsatz ihr Leben gelassen haben, sagen, daß ihnen unsere tiefe Anteilnahme gehört.
Ein wichtiger Aspekt in diesem Zusammenhang bleibt für die Bundesregierung die humanitäre Hilfe, vor allem angesichts des kommenden Winters. Hier geht es neben der Versorgung der Flüchtlinge in erster Linie um die ortsnahe Erstellung von Unterkünften winterfester Art. Wir haben von der Bundesregierung hierfür - ich habe das schon das letzte Mal hier vortragen können - über 50 Millionen DM zusätzlich bereitgestellt. Das, was wir an humanitärer Hilfe tun - es ist Ersatz für manches andere, was wir nicht tun können; ich empfinde es als Außenminister jedenfalls so -, kann sich sehen lassen. Wir haben über 200 Millionen DM aufgebracht. Wir haben inzwischen 220 000 Menschen aus dem früheren Jugoslawien hier bei uns aufgenommen. Die Bundeswehr hat bislang - ich nehme an, daß Herr Kollege Rühe noch darauf eingehen wird - in über 150 Hilfsflügen allein nach Sarajevo 1 600 t an Gütern gebracht. Wir liegen im übrigen - ich sage dies, weil auch das immer wieder kritisiert wird - mit diesen Transporten und unserer Hilfe an zweiter Stelle.
Unsere Hilfe ist nicht auf Europa beschränkt. Wir haben uns mit unseren Mitteln auch für einen anderen schrecklichen Krisenherd auf dieser Erde, für Somalia, eingesetzt, wohin wir mit einer Luftbrücke Nahrungsmittel und Medikamente transportieren. Auch da haben wir finanziell erheblich aufgestockt. Ich möchte, so wie ich das auch schon das letzte Mal getan habe, sagen, daß die Bundesregierung bei dieser Hilfsaktion von unserer Bevölkerung in einmaliger Weise unterstützt worden ist. Ich möchte das gerade zu einem Zeitpunkt sagen, zu dem eine Minderheit von Fanatikern und Extremisten Schande - das ist der richtige Ausdruck; er fiel schon heute morgen einmal in diesem Hause - über unser Land bringt.
Ich wurde gerade als Außenminister in den letzten Tagen außerordentlich häufig nach den Ereignissen von Rostock und anderswo gefragt. Ich habe in meiner Antwort eigentlich immer einen Satz in den Mittelpunkt gestellt. Ich habe versucht, den Menschen draußen zu sagen: Dieses Land, dieses wiedervereinigte Deutschland ist nicht ausländerfeindlich.
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Richtig, die Bilder von Rostock sind um die Welt gegangen, und die Telegramme, die ich dazu weltweit aus unseren Botschaften und aus unseren Konsulaten bekomme, sind nicht erfreulich. Das muß ich deutlich sagen. Die Bilder aus Rostock wecken bei unseren Nachbarn und Freunden alte Besorgnisse. Aber ich sage noch einmal - ich bin überzeugt davon -: Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt und wissen, daß gerade das wiedervereinigte Deutschland allen Grund hat, mit Ausländern fair und human umzugehen. Unser Volk zeigt u. a. durch das, was ich vorhin erläutert habe - wie ich finde, auf vielfältige, bewundernswerte Art und Weise -, seine humanitäre Einstellung. Auch das sollten wir nach draußen sagen dürfen.
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Meine Damen und Herren, deutsche Außenpolitik bleibt auf breiter Ebene im Interesse der Menschen und unseres Landes gefordert. Wichtiges außenpolitisches Ziel ist und bleibt - gerade in der jetzigen Lage - der Zusammenschluß der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union. Gewiß, manches gerade im Zusammenhang mit den Ereignissen im früheren Jugoslawien wirft die Frage nach der in Maastricht beschlossenen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf. Die Unwägbarkeiten der Entwicklungen östlich von uns machen die Gemeinschaft als Stabilitätsanker in stürmischer See aber notwendiger denn je. Deshalb geht es bei dem bevorstehenden Referendum in Frankreich auch um unser gemeinsames Schicksal als Europäer. Roland Dumas hat bei der Londoner Konferenz in einem geradezu beschwörenden Appell die deutsch-französische Versöhnung und Freundschaft als beispielhaft auch für die Konfliktparteien im ehemaligen Jugoslawien bezeichnet.
Die Vertiefung der europäischen Integration zur Europäischen Union ist eine entscheidende Voraussetzung für die wirtschaftliche und politische Stabilisierung Osteuropas und der GUS. Für unsere kleineren mittel- und osteuropäischen Nachbarn ist die schrittweise Einbindung in die europäische Stabilitätszone sozusagen das Licht am Ende eines langen Tunnels. Als unmittelbare Nachbarn und auf Grund unserer traditionell engen wirtschaftlichen und kulturellen Bindungen sind wir in diesem Raum mehr als andere EG-Partner engagiert. Wir haben uns auch dieser gewaltigen Aufgabe, wie ich finde, in einer vorbildlichen und vom Ausland durchaus beachteten Art und Weise angenommen.
Von uns als einem vereinten und souveränen Land wird in Zukunft, meine Damen und Herren, ein wesentlich stärkerer Beitrag zur weltweiten Friedenssicherung verlangt und erwartet. Wir wollen dem durch unseren Einsatz für eine Stärkung der Vereinten Nationen, für die Weiterentwicklung der internationalen Rechtsordnung und für eine faire Partnerschaft zwischen Industrie- und Entwicklungsländern nachkommen. Eine vernünftige Alternative zu dem Weg verstärkter internationaler und supranationaler Zusammenarbeit gibt es nicht.
Die Vereinten Nationen zu einem wirksamen Instrument kollektiver Sicherheit und zum zentralen Handlungsforum einer neuen, von Recht und Gerechtigkeit bestimmten Weltinnenpolitik zu machen, erfordert allerdings Opfer. Die Vereinten Nationen sind immer nur so handlungsfähig, wie es ihre Mitglieder erlauben. Hier sind auch wir nun gefordert, nicht nur alle Rechte, sondern eben auch alle Pflichten eines Mitgliedstaates der Völkerfamilie zu übernehmen, und zwar nicht in einer fernen Zukunft, sondern gerade jetzt, wo der Generalsekretär kaum mehr weiß, wie er den Hilferufen aus aller Welt nachkommen soll.
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Ich stelle mit Befriedigung fest, daß die SPD in dieser so wichtigen Frage eine Tendenzwende zeigt, daß sich durchsetzt, daß auf Dauer nur der glaubwürdig bleibt, der Menschenrechte nicht nur einfordert, sondern sie im Notfall auch verteidigt. Ich begrüße diese Entwicklung nicht nur deshalb, weil wir für die erforderliche Anpassung des Grundgesetzes eine Zweidrittelmehrheit benötigen, sondern weil es mir ein Anliegen ist, meine Damen und Herren von der SPD, den Konsens zwischen allen demokratischen Kräften in den Grundfragen unserer Außen- und Sicherheitspolitik zu erhalten. Denn das ist für den Erfolg, den wir alle wollen, außerordentlich wichtig.
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Ich möchte deshalb die SPD darin bestärken, ihre sich bisher auf Blauhelmeinsätze beschränkende Haltung zu ändern, und möchte das mit dem Satz ausdrücken: Es kann für uns keine UN-Mitgliedschaft à la carte geben. Ein solcher deutscher Sonderanspruch würde nicht nur das zunehmende - nehmen Sie mir das ab - Unbehagen der Weltöffentlichkeit an der gegenwärtigen deutschen Haltung verfestigen. Er würde auch - ich habe das hier schon einmal gesagt und sage es mit großem Ernst - unsere Bündnisfähigkeit in der NATO und auch - wenn darüber gesprochen wird - in der Westeuropäischen Union beeinträchtigen. Es darf eben kein Mißverhältnis zwischen unserem verbalen Engagement für die Menschenrechte und unserer faktischen Bereitschaft, an ihrer politischen Umsetzung mitzuwirken, geben.
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Mindestens eine Gewißheit drängt sich nach den schrecklichen Ereignissen im früheren Jugoslawien auf, die Gewißheit, daß, wenn alle anderen Mittel versagen, notfalls - ich sage wirklich „notfalls" -, nur im alleräußersten Notfall, das Recht mit Gewalt gegen den Rechtsverletzer geschützt werden muß. Unsere Freunde haben recht - eine übrigens zunehmende Argumentation -, wenn sie uns sagen, daß dies doch auch eine Lehre aus unserer eigenen unheilvollen Geschichte ist. Was wäre denn heute in Deutschland, wenn die Alliierten damals nicht dem Aggressor entgegengetreten wären?
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Die Charta der Vereinten Nationen hat diese Lehre beherzigt. Es muß uns deshalb möglich werden, daß die Bundeswehr unter dem Dach der Vereinten Nationen mit Zustimmung des Deutschen Bundestages an friedenssichernden wie auch an friedenschaffenden Maßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta teilnehmen kann. Wir müssen gemeinsam den Mut haben, die Normalisierung unserer Lage als Nation anzunehmen und daraus für unsere internationale Handlungsfähigkeit die Konsequenzen zu ziehen. Das heißt nicht - ich betone es mit Nachdruck -, daß wir unsere Geschichte abstreifen oder vergessen wollen. Genau das Gegenteil! Ich betone ausdrücklich: Was von Deutschen in der Vergangenheit - übrigens auch durch von Politik fehlgeleiteten Soldaten - ausgegangen ist, darf und kann nicht vergessen werden. Aber wir müssen aus der Vergangenheit heraus die Kraft und den Mut für eine bessere Zukunft schöpfen.
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Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klose?
Bitte sehr.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Klose.
Ich würde dann doch gern nachfragen, um den Testfall zu machen. Sind Sie sich denn in diesen Aussagen, Herr Außenminister, in der Koalition einig? Ist es nicht in Wahrheit so, daß es in der Frage möglicher Bundeswehreinsätze zwischen der F.D.P. und der Union, je nachdem, ob man Europa betont oder die UNO betont, erhebliche Meinungsverschiedenheiten gibt? Wenn ja, würden Sie so nett sein, dies dem Hause zu bestätigen?
Diese Meinungsverschiedenheiten in der Sache gibt es überhaupt nicht. Es ist kein Geheimnis, daß wir uns im Augenblick über Formulierungen einer Grundgesetzänderung - übrigens zunächst in der Koalition mit unserem Partner und dann selbstverständlich mit Ihnen - unterhalten. Wir sprechen darüber, ob bzw. wie die europäische Komponente einbezogen werden muß, kann und soll. Das ist Gegenstand der Erörterungen. Ich sage noch einmal: Es gibt keine Differenz in der Sache, aber es liegt noch keine ausgegorene Formulierung vor. Das kann ja auch kein Wunder sein. Wir werden uns mit Ihnen - gerade auch mit Ihnen - offen darüber unterhalten.
Eine Nachfrage, bitte schön.
Darf ich eine Nachfrage stellen? Sind Sie denn der Auffassung des Kollegen Lamers, daß Europa und in Europa die Bundeswehr interventionsfähig werden muß, ganz unabhängig, ob es ein UNO-Mandat gibt oder nicht?
Es ist kein Geheimnis, daß der von Frau Leutheusser und mir unterbreitete Formulierungsvorschlag, was friedenschaffende Maßnahmen anbelangt, in Ziffer 2 davon ausgeht, daß eine Sicherheitsratsentscheidung vorliegen muß. Aber ich wiederhole noch einmal: Das ist eine Formulierung, die wir von der F.D.P. aus vorgeschlagen haben, die in der Koalition noch nicht abgesprochen worden ist. Wir sind offen für jede Diskussion. Ich finde auch, daß wir dieses in der Sache schwierige und rechtlich noch schwierigere Kapitel jetzt nicht zerreden sollten. Mir liegt jedenfalls daran, daß wir das in Ruhe erörtern.
({0})
Meine Damen und Herren, zur Reform der UNO und des Sicherheitsrates hat eine breite Diskussion begonnen. Wir beteiligen uns an dieser Diskussion. Die Haltung der Bundesregierung und der Koalition war, ist und bleibt: Wir wollen eine Stärkung der Vereinten Nationen. Wir haben bisher jedenfalls nicht prioritär einen Sitz für die Bundesrepublik im Sicherheitsrat beansprucht oder gewünscht. Aber nachdem nun eine breite Diskussion beginnt, wo unsere japanischen Freunde mitmischen und viele andere Länder - auch der Dritten Welt - Interesse zeigen, ist es völlig klar, daß auch wir unsere Ansprüche anmelden werden.
Nach dem Ende der Teilung der Welt in West und Ost muß eine neue Spaltung in Nord und Süd, die Verelendung des afrikanischen Kontinents verhindert werden. Ein stabiles Europa in einer instabilen Welt kann es nicht geben. Armut, Drogen, Kriminalität, Menschenrechtsverletzungen und Gewaltpolitik kennen eben keinen Reisepaß. Sie kommen zu uns, wenn wir nicht mithelfen, sie auch außerhalb unserer Grenzen zu bekämpfen. Ein fortgesetzter Verteilungskampf zwischen Arm und Reich um schwindende Ressourcen müßte zudem alle Chancen zunichte machen, den Teufelskreis aus Armut, Bevölkerungsexplosion und Umweltzerstörung zu durchbrechen.
Wir werden auf der Nord-Süd- und auch auf der Ost-West-Achse einer der Hauptmagneten in der Weltwanderbewegung der Not und des Elends bleiben. Deshalb müssen wir auch die Probleme sehen, mit denen wir konfrontiert sind. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß diese Gemengelage unserer Ausländer-, Aussiedler- und Asylantenproblematik wahrscheinlich nicht so schnell und vielleicht überhaupt nicht so gelöst werden kann, wie wir es uns alle so sehr wünschen. Ich habe großes Verständnis dafür, daß in der Bevölkerung sehr viel Unruhe aufgekommen ist. Ich behaupte, daß dies eines der Probleme ist, die wirklich nur sehr schwer gelöst werden können, im Gegensatz zu anderen Problemen, die bei uns zum Teil in der Vergangenheit herbeigeredet und herbeidiskutiert worden sind.
Wir stehen am Anfang von tiefgreifenden politischen Umwälzungen, deren Auswirkungen uns erst allmählich klarwerden. Wir stehen vor neuen Herausforderungen in einer sich verändernden Welt. Diese Veränderungen sind noch nicht abgeschlossen. Wir leben in einer sich sozusagen weiter im Umbruch befindenden Welt, die es übrigens für die Außenpolitik wahnsinnig schwierig macht, konzeptionell etwas festzulegen und zu erarbeiten.
Ich will deshalb nur sagen, was auf uns zukommen wird. In den internationalen Beziehungen formieren sich neue Kraftfelder. Die islamischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion suchen nach neuer Orientierung. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums sucht auch die Volksrepublik China ein neues Rollenverständnis. Wir haben in den Ausschüssen kürzlich darüber gesprochen.
Es gibt eine Fülle von anderen Bereichen, wo wir konzeptionell neu nachdenken müssen. Dabei sind wir. Ich sage noch einmal: Die Umbrüche sind nicht abgeschlossen. Es ist wahnsinnig schwierig, das im Augenblick konzeptionell in die Hand zu nehmen.
Lassen Sie mich zum Abschluß sagen, meine Damen und Herren: Gerade bei einer Haushaltsdebatte, die sich naturgemäß vor allem mit innenpolitischen Themen befaßt, dürfen wir nicht vergessen, daß es falsch wäre, wenn wir uns zu sehr auf unsere eigenen Probleme fixieren. Wir müssen gerade als große
Wirtschafts- und Kulturnation nicht nur schon aus egoistischen Gründen weltweit offenbleiben. Wir sollten es auch aus anderen Gründen tun. Ich habe als Außenminister verstärkt die Möglichkeit, öfters draußen zu sein. Was mir auffällt und was mir gesagt wird, ist, wie gut es uns bei allen Problemen und Schwierigkeiten, die ich weder leugnen noch wegdrücken will, im Weltmaßstab geht. Aus der Sicht der Dritten Welt z. B. sind wir - ich glaube, es ist nicht ganz falsch betrachtet - eine Insel der Glückseligkeit. Manche Aufgeregtheit, die man hier antrifft, wenn man von draußen wieder hereinkommt, wird nicht verstanden. Ich werde nicht müde, darauf zu verweisen, daß ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit von Geburt an - von Geburt an! - nicht die geringste Chance hat, ein auch nur annähernd menschenwürdiges Leben zu führen.
Wir reden über Haushalte und unsere Sorgen und Nöte. Ich sage es noch einmal: Ich will sie nicht wegdrücken. Ich sehe sie, ich spüre sie vor allem in den neuen Ländern. Aber wenn wir darüber reden, dann sollten wir das meines Erachtens nicht vergessen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat nunmehr der Herr Abgeordnete Karsten Voigt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Bundesaußenminister, als Sie vor nunmehr etwas mehr als 100 Tagen Ihr Amt antraten, haben wir Ihnen unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit erklärt. Damals wie heute bleibt unsere Auffassung: Wenn Regierung und Opposition zum gemeinsamen Handeln fähig sind, so kann das die Handlungsfähigkeit in der deutschen Außenpolitik nur erhöhen und uns allen nützen.
Ich würde ja auch gern Ihr Konzept - sei es für eine Kontinuität, sei es für eine Erneuerung der deutschen Außenpolitik - unterstützen, wenn ich ein derartiges Konzept erkennen könnte.
({0})
Ein wirklich überzeugendes Konzept für die deutsche Außenpolitik, das der gewachsenen Verantwortung des vereinigten Deutschlands und den wirklich grundlegenden Veränderungen nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes Rechnung trägt, kann ich bei dieser Regierung bisher leider nicht erkennen.
Die deutsche Außenpolitik leidet gegenwärtig an einem Mangel an konzeptioneller Klarheit. Sie erweckt den Anschein, viel zu kurzatmig und lediglich auf tagespolitische Ereignisse zu reagieren. Sie pendelt zwischen aggressiver Rhetorik und Beschwichtigung. Ihr fehlt es an einer überzeugenden langfristigen Orientierung. Dies schafft Unsicherheit. Das Vertrauen nicht nur in die deutsche Innenpolitik, sondern auch in die deutsche Außenpolitik wird im In- und Ausland schwächer.
Die von Ihnen während der parlamentarischen Sommerpause ständig wiederholte Drohung mit einem militärischen Kampfeinsatz im ehemaligen
Jugoslawien ist für mich nicht Ausdruck eines außenpolitischen Konzepts, sondern Ausdruck einer durch eine martialische Rhetorik überdeckten außenpolitischen Hilflosigkeit.
In der vergangenen Woche hat der Heeresinspekteur Helge Hansen das einhellige Ergebnis der Diskussion auf der Kommandeurstagung der Bundeswehr zum Thema Jugoslawien laut „Frankfurter Rundschau" wie folgt zusammengefaßt:
Eine militärische Lösung müsse sich erstens in einem vorhersehbaren Zeitraum, zweitens mit vorhersehbaren Mitteln und drittens mit kalkulierbaren Risiken erreichen lassen. Dies fehle im ehemaligen Jugoslawien.
So die Kommandeure der Bundeswehr, und ich stimme ihnen zu.
Sie dagegen, Herr Bundesaußenminister, haben in einem Interview am 24. Juni - das ist noch nicht lange her - folgendes Kunststück fertiggebracht: In der gleichen Antwort, in der Sie bekennen, ein wahrhafter Pazifist zu sein, betonen Sie, daß Sie, wenn Sie nicht deutscher Außenminister wären und historische Hemmungen hätten, was Jugoslawien anbelangt, versuchen würden, mehr in Richtung auf Militäreinsätze zu drängen. Wie das wahrer Pazifismus sein kann, habe wenigstens ich Schwierigkeiten zu verstehen. Ich selber bin kein Pazifist, vielleicht kann das auch daran liegen.
Was ist das für eine Regierung, in der der Außenminister den Verteidigungsminister und der Verteidigungsminister den Außenminister spielt, während die Offiziere zu denselben Ergebnissen gelangen wie die Friedensforschung, übrigens eine Friedensforschung, die bisher bereits nur ein Tausendstel dessen erhält, was für die Rüstungsforschung ausgegeben wird, und deren Mittel trotzdem noch gekürzt werden sollen?
({1})
Das ist ein Skandal.
Was ist das für eine Regierung, die nach unserer Meinung unter Bruch der Verfassung einen Flotteneinsatz in der Adria befielt, um dort auf See den Landkrieg auszutrocknen, so Volker Rühe damals, eine Bundesregierung, die dann aber wenige Tage später erstaunt die längst bekannte Tatsache zur Kenntnis nimmt, daß das Embargo gegen Serbien und Montenegro vor allen Dingen auf dem Landweg und auf der Donau verletzt wird? Warum hat diese Regierung nicht unsere Forderung nach einer schärferen Kontrolle des Embargos schon vorher aufgegriffen?
Was ist das schließlich für eine Politik, die dazu führte, daß Blauhelme in Kroatien und dann in Bosnien-Herzegowina erst stationiert wurden, nachdem dort Kämpfe bereits ausgebrochen waren?
Was ist das für eine Politik, die immer wieder bei der frühzeitigen Krisenverhinderung versagt?
Will man jetzt mit der Stationierung von Blauhelmen, EG- und UNO-Beobachtern im Kosovo, in Makedonien, in der Vojvodina, im Sandjak - es sind jetzt 50 000 bis 60 000 Leute aus dem Sandjak auf der
Karsten D. Voigt ({2})
Flucht - wieder warten, bis auch dort der Krieg ausgebrochen ist?
Die Verzweiflung und Enttäuschung der Leidenden und Verfolgten im ehemaligen Jugoslawien sind mir und uns allen in der SPD nur zu gut verständlich.
Wenn das Versagen westlicher Politik - darum handelt es sich - angesichts der Konflikte im ehemaligen Jugoslawien zum Paradigma für andere Konflikte in Osteuropa werden sollte, wenn andere Nationalisten daraus lernen sollten in Osteuropa, dann gnade uns allen Gott.
Ich danke in diesem Zusammenhang übrigens den Angehörigen der Bundeswehr, die im Rahmen unserer verfassungsmäßigen Ordnung gegenwärtig ihr Bestes tun, um die Einwohner von Sarajevo mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu versorgen.
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Wie der Abschuß des italienischen Flugzeuges zeigt, gehen sie dabei ein großes persönliches Risiko ein. Trotz dieser Risiken freue ich mich über Freiwillige - ich betone: Freiwillige - der Bundeswehr, die Überlebenshilfe aus dem Land, nämlich Deutschland, bringen, aus dem in der Vergangenheit - im Zweiten Weltkrieg - in Jugoslawien viele den Tod empfingen.
Der Einsatz der Blauhelme im ehemaligen Jugoslawien und auch in Somalia - Somalia ist übrigens ein Bereich, wo ich mir wünschen würde, daß es die Reformvorstellungen des Generalsekretärs nicht nur im Programm gäbe, sondern sie sich bereits durchgesetzt hätten, denn dort wäre ein Einsatz im Gegensatz zum jetzigen Jugoslawien auch sinnvoll - zeigt, daß Militär auch lebensrettend wirken kann - übrigens eine Erkenntnis, für die Norbert Gansel und ich schon geworben haben, als uns Bundesaußenminister Genscher deswegen noch heftig bekämpfte.
Das ist aber nicht die einzige Revision von F.D.P.Positionen, die ich hier beschreibe. Noch im letzten Jahr war die F.D.P. der Auffassung, der WEU-Vertrag erlaube keine Kampfeinsätze westeuropäischer Soldaten außerhalb des Bündnisgebietes - so Sie, Herr Irmer. Das ist nach wie vor Ihre Auffassung? Vor kurzem hörte man von der F.D.P., die offenbar in der Grundfrage schon aufgegeben hatte, wenn es zu solchen westeuropäischen Einsätzen komme, dann müßten sie wenigstens auf eine Entschließung des UNO-Sicherheitsrates zurückgehen. Das ist wiederum eine andere Position.
Dann beschloß Außenminister Kinkel am 19. Juni mit seinen Ministerkollegen von der WEU, daß Einsätze der beabsichtigten WEU-Truppen lediglich im Einklang mit den Bestimmungen der UNO-Charta erfolgen müssen. Das ist etwas ganz anderes als das, was Sie, Herr Irmer, damals gesagt haben, übrigens auch etwas ganz anderes als das, was Sie später in Ihrem Vorschlag zur Änderung der Verfassung vorgelegt haben. Sie haben damals für ihre Unterschrift unter die Petersberger Erklärung den Beifall von Herrn Lamers, Herrn Rüttgers und anderen aus der CDU/CSU-Fraktion empfangen, weil sie das zu Recht als einen Freifahrtschein für eine westeuropäische Interventionspolitik empfunden haben.
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Gerade diese Leute warnen immer vor einer zu engen Bindung an UNO-Beschlüsse und UNO-Sicherheitsratsbeschlüsse.
Wenige Tage nach dieser Petersberger Erklärung, die Ihre Unterschrift mit trägt, haben Sie dann einen Vorschlag für eine Grundgesetzänderung vorgelegt, in der Sie diese Petersberg-Erklärung, die Sie selber mit unterzeichnet haben, wieder beiseite geschoben haben.
Nunmehr sieht Ihr Vorschlag, den Sie eben hier noch einmal erläutert haben, für jeden Out-of-areaEinsatz der Bundeswehr einen Beschluß des Sicherheitsrates vor. Dieser Vorschlag des F.D.P.-Außenministers, der im F.D.P.-geführten Ministerium erarbeitet worden ist,
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im F.D.P.-Präsidium überarbeitet worden ist, in der Bundesregierung nie beraten worden ist und dem Bundestag bis zum heutigen Tag nicht vorgelegt oder zugeleitet worden ist, stößt dann, völlig verständlich auf Grund Ihrer früheren Position, auf den Widerspruch und auf den Widerstand aus den Reihen der CDU.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage von Herrn Irmer zu beantworten?
Ja, bitte sehr.
Herr Irmer!
Herr Kollege Voigt, stimmen Sie mit mir überein, daß das, was die WEU tun darf, nicht in der Petersberger Erklärung geregelt ist, sondern im Brüsseler Vertrag? Ist Ihnen weiter bekannt, daß im Brüsseler Vertrag steht, daß die Mitgliedstaaten zu Beratungen zusammentreten, wenn out of area Probleme entstehen?
Vielen Dank, Herr Irmer, für den Ball, den Sie mir hier zuspielen. Um so unverständlicher ist, daß dieser Bundesaußenminister einer Petersberger Erklärung zustimmt, in der Aufgaben der WEU festgelegt werden, die im WEU-Vertrag eben nicht enthalten sind, ohne vorher das Parlament oder den Bundestag zu befragen, geschweige denn einen neuen Vertrag oder eine Vertragsänderung zur Ratifizierung vorzulegen.
Sie und ich sind hier in der Tat sehr unterschiedlicher Auffassung, Herr Voigt.
Tatsache ist, bis zum heutigen Tag hat die gleiche Regierung, die angeblich den Einsatz von UNO-Blauhelmen für so dringlich hält, diesem Hause keinen Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes vorgelegt. Sie war dazu
Karsten D. Voigt ({0})
außerstande. Wir haben einen Vorschlag vorgelegt. Dieser Vorschlag würde, wenn Sie ihn akzeptieren,
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dazu führen, daß sich heute bereits die Bundeswehr an UNO-Blauhelmeinsätzen beteiligen könnte. Sie haben es blockiert, daß UNO-Blauhelme unter Beteiligung der Bundeswehr eingesetzt werden können, nicht wir!
Ich sage Ihnen ganz offen: Eine Regierungskoalition - das ist der Tatbestand, den Sie, Herr Kinkel, eben noch einmal beschrieben haben -, die nicht einmal zu einer gemeinsamen Vorlage im Parlament in der Lage ist, also nicht einmal untereinander kompromißfähig ist, ist doch erst recht nicht zu einem Kompromiß mit der SPD in der Lage.
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Wir fragen uns immer, ob wir mit Ihren Vorstellungen Kompromisse schließen können. Ja, mit welchen Vorstellungen denn überhaupt?
({3})
Eines ist dabei klar: Wenn Sie als CDU/CSU mit Ihren Vorstellungen oder Sie als F.D.P. mit Ihren Vorstellungen oder mit den unterschiedlichen Vorstellungen, die Sie innerhalb der Parteien haben, nicht bereit sind, Ihre Positionen in Richtung SPD zu revidieren, dann wird es keinen Kompromiß geben.
Übrigens sage ich Ihnen, daß die gesamte Diskussion viel zu sehr auf die militärische Dimension der sicherheitspolitischen Fragen fixiert ist. Die wirklichen, nichtmilitärischen Herausforderungen der Gegenwart kommen bei Ihnen viel zuwenig vor. Nach unserer Auffassung geht es bei der notwendigen konzeptionellen Erneuerung der deutschen Außenpolitik eben nicht vorrangig darum, ob bzw. wann die Bundeswehr weltweit eingesetzt werden sollte, sondern vor allem darum, ob wir in der Lage sind, unseren Beitrag zu einer demokratischen, wirtschaftlich produktiven, sozial gerechten und umweltverträglichen Entwicklung im Osten und im Süden zu leisten. Dabei spielen die Reform und Fortentwicklung der UNO und der KSZE eine zentrale Rolle. Wir haben übrigens dafür bereits im vorigen Jahr Vorschläge vorgelegt. Die Unionsparteien haben in diesem Sommer, im August, zwei Pressekonferenzen gemacht, die übrigens auch noch unterschiedliche Konzeptionen offenbarten. Das ist das einzige, was wir bisher von Ihnen über die Reform der KSZE und der UNO gehört haben.
Ich sage nochmals: Wir bejahen das Ziel einer gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union. Aber bei der europäischen Integration hat Ihre Fixierung auf die militärische Dimension erheblich dazu beigetragen, daß Maastricht in Dänemark gescheitert ist und jetzt generell auf des Messers Schneide steht. Statt eine skeptische Öffentlichkeit von den Vorteilen einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion zu überzeugen, versuchen Sie weiter, ausgerechnet die militärische Integration zum Katalysator der europäischen Einigung zu machen. Diese falsche Politik setzen Sie auch noch dilettantisch und rechtswidrig um. Es ist eben dilettantisch, wenn Sie, Herr Bundesaußenminister, immer neue „Eingreiftruppen" aushecken und dann in bezug auf das deutsch-französische Korps, WEU- oder NATO-Truppen sagen, wie das zusammenpasse, wüßten Sie nicht, das sei alles noch nicht ganz ausgegoren. Aber Sie muten uns zu, daß wir dem Unausgegorenen zustimmen sollen. Das werden wir nicht tun. Es ist nach unserer Auffassung inakzeptabel, wenn die Petersberger Erklärung ohne vorhergehende parlamentarische Beratung von Ihnen unterschrieben wird, und es ist verfassungswidrig, wenn Sie auf Grund der Petersberger Erklärung den Einsatz der Bundeswehr „out of area" als Bundesaußenminister mit veranlassen und ihn der Bundesverteidigungsminister befehlen sollte.
Wir werden deshalb auch noch mehr als in der Vergangenheit darüber wachen, daß sich jeder Einsatz der Bundeswehr strikt im Rahmen der Verfassung bewegt, die Rechte des Parlaments nicht mißachtet werden und eine Änderung des bisher auf die Verteidigung des Bundesgebiets und der Bündnisse beschränkten Auftrags nur nach vorhergehender Änderung der Verfassung erfolgt.
Im übrigen sage ich gerade denjenigen von der CDU/CSU, die noch hier sitzen: Nach der von Ihnen unterstützten Neufassung des Art. 23 des Grundgesetzes bedarf jede Übertragung von verteidigungspolitischen Kompetenzen auf eine europäische Union zweifelsfrei einer Zweidrittelmehrheit von Bundestag und Bundesrat. Wir als Opposition - das sage ich Ihnen ganz offen - gehörten doch mit dem Klammerbeutel gepudert, gehörten geprügelt, wenn wir heute für nichts und wieder nichts, ohne eine konkrete Formulierung darüber, was diese Verteidigungspolitik auf europäischer Ebene ausmachen soll, schon jetzt dies weggeben würden, ein Ja geben sollten, statt die Möglichkeit einer Beeinflussung eben dieser künftigen Außen- und Verteidigungspolitik einer europäischen Union zu behalten und zu bewahren.
Niemand in der SPD ist bereit, im Sinne von Herrn Lamers und Herrn Rüttgers einen Blankoscheck für weltweite militärische Interventionen auszustellen. Wir wollen als Sozialdemokraten nicht, daß wir mit der WEU in einem nächsten Golfkrieg oder mit dem deutsch-französischen Korps vielleicht sogar noch einmal bei einer französischen Intervention im Tschad dabei sind. Ist Ihnen und Ihnen persönlich, Herr Lamers, nicht entgangen, daß die mit unseren Nachbarn völlig unzureichend konsultierte Gründung eines deutsch-französischen Korps in Europa nicht Einigung herbeigeführt, sondern Europa gespalten hat?
Wer in dieser Art außen- und sicherheitspolitische Initiativen lanciert, schadet dem Bündnis und verhält sich partnerschaftsfeindlich. Wir Sozialdemokraten wollen aber eine bündnisfreundliche und partnerschaftsfähige Politik. Das gilt besonders in der Außenpolitik. Wir wollen keine deutschen Alleingänge, wir wollen keinen deutschen Nationalismus, aber wir wollen aber auch keinen deusch-französischen Bilateralismus, der einen europäischen Multilateralismus erschwert oder ersetzt.
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Karsten D. Voigt ({5})
Sollten Sie übersehen haben, daß die wachsende Zustimmung zur NATO bei unseren nördlichen und östlichen Nachbarn auch etwas mit der Sorge vor solchen deutschen Alleingängen oder vor solchen deutsch-französischen bilateralen Initiativen zu tun hat?
Täuschen Sie sich nicht: Die gleichen Verbündeten, die während des Golfkrieges angeblich die Unterstützung deutscher Soldaten wünschten, werden auf viele Jahre hinaus auch diejenigen sein, die deutsche Out-of-area-Kampfeinsätze, die ich unter Kommando und Kontrolle der UNO bejahe, auf Grund unserer Geschichte mit besonderem Argwohn beäugen. Nicht Feigheit, sondern Klugheit gebietet deshalb eine militärische Zurückhaltung des vereinigten Deutschland.
Wenn unsere Nachbarn in Ost und West ihre außenpolitischen Interessen bestimmen, wirken bei ihnen immer noch Erinnerungen an die deutsche Vergangenheit mit. Ich teile ihre diesbezüglichen Sorgen nicht. Aber außenpolitische Weisheit gebietet es, ihre Sorgen in unser außenpolitisches Kalkül mit einzubeziehen. Wir sollten deshalb nicht mit „Hoppla, nun sind wir wieder wer" eine militärische Interventionspolitik anstreben, die sich am Vorbild von Frankreich und Großbritannien orientiert. Das ist eben das falsche Vorbild für die Deutschen. Die Skandinavier wären in dieser Beziehung ein viel besseres Vorbild, und ich könnte auch manche andere nennen.
Statt die Befürchtungen gerade auch unserer kleineren Nachbarn zu mißachten, hätte die Bundesregierung schon lange eine Initiative entwickeln müssen, welche die Präsenz der Amerikaner in Europa weniger mit aus der Vergangenheit fortwirkenden Bedrohungsängsten, sondern mit neuen gemeinsamen Zukunftsaufgaben begründet. Im wohlverstandenen Eigeninteresse brauchen wir das Bündnis mit den Amerikanern auch in Zukunft, und zwar nicht, weil Rußland uns bedroht, sondern weil die Präsenz der USA in Europa von unseren Nachbarn in Ost und West als stabilisierender Faktor gewünscht wird.
Ich bin für eine neue Phase der transatlantischen Partnerschaft. Ich bin für einen neuen Atlantismus, der Amerika und Europa durch die große gemeinsame Aufgabe der Stabilisierung der jungen Demokratien in Ost- und Südosteuropa und auch in der GUS, den Ausbau eines funktionsfähigen Welthandels- und Weltfinanzsystems und, wenn ich den amerikanischen Vizepräsidentschaftskandidaten Al Gore richtig verstanden habe, auch durch eine weltweite Umweltpartnerschaft zu verbinden versucht. Eine derartige zukunftsgerichtete Perspektive für die Gestaltung der transatlantischen Beziehungen vermisse ich bei Ihnen.
Ich möchte manchen von der CDU/CSU dabei noch ins Stammbuch schreiben: Nach dem Ende der sowjetischen Bedrohung ist mit Fremdenfeindlichkeit eine Freundschaft mit den Vereinigten Staaten, die stolz darauf sind, durch Einwanderung zur gemeinsamen Heimat unterschiedlicher Völker, Rassen und Religionen geworden zu sein, nicht zu haben.
Ein fremdenfeindliches Deutschland wäre ein international isoliertes Deutschland. Wie so häufig in der deutschen Geschichte sind es diejenigen mit den nationalistischen Parolen, die den deutschen Interessen am meisten schaden.
Wir brauchen einen neuen Ansatz in der Europapolitik. Wir brauchen aber auch, daß wir in der Menschenrechtspolitik nicht nur etwas proklamieren, sondern auch etwas tun. Ich sage Ihnen, Herr Bundesaußenminister, nachdem Sie gesagt haben, niemand könne Sie in der Menschenrechtspolitik übertreffen: Ihr Einschwenken in der Frage der Türkei, wo es um Waffenlieferungen ging und Ihr Verhalten gegenüber den Lieferungen nach China zeigen, daß zwischen Ihrer Bereitschaft, Vorreiter zu sein, die deklariert ist, und Ihrer praktischen Politik ein himmelweiter Unterschied besteht. Wir werden Sie in dieser Beziehung an Ihren Taten, nicht an Ihren Worten messen.
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Zusammenfassend: Herr Bundesaußenminister, die Deutschen bewegen heute zu Recht vor allem die innenpolitischen Probleme der Vollendung der Einheit. Ich persönlich bin überzeugt, daß wir sie meistern können. Im Ausland wird vor allem diskutiert, wie sich dieses Land in der Außenpolitik in Europa bewegt. Bei allem Respekt vor den innenpolitischen Prioritäten wird es höchste Zeit, daß dieses Land endlich eine Debatte darüber beginnt, wie die Konzeption einer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik eines vereinten Deutschland aussehen muß.
Wir stehen in der Gefahr - das habe ich bereits bei Ihrer damaligen Antrittsrede mehr oder weniger deutlich gesagt -, daß einige nur von Kontinuität reden, während eine völlig neue Lage da ist, daß andere im Ausland besorgt sind, weil wir nur über Kontinuität reden, daß wir insgeheim die konzeptionelle Erneuerung gegen sie gestalten. Dabei ist es für uns alle und für unsere Nachbarn besser, wenn sie wissen, welche Richtung das mächtigere vereinte Deutschland einschlägt, ob es seine Macht verantwortungsvoll nutzt und wie es vor der Definition seiner eigenen Interessenlage mit allen seinen Nachbarn Konsultationen aufnimmt. In dieser Beziehung bei diesen Fragen, bei dieser Debatte warten wir bis heute noch vergeblich auf die Beiträge der Koalition insgesamt und des Bundesaußenministers insbesondere.
Vielen Dank.
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Ich erteile nunmehr dem Bundesminister der Verteidigung, Volker Rühe, das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die revolutionären Veränderungen der letzten drei Jahre haben uns historische Chancen eröffnet. Was wir jetzt brauchen, ist Mut zu gestaltendem Handeln, zugleich aber auch Umsicht und Vorsicht.
Es gibt eine Fülle sozialer, politischer, ökonomischer, auch strategischer Herausforderungen neuer Qualität. Aber die krisenträchtigen Entwicklungen, von denen hier zu Recht die Rede gewesen ist, dürfen uns nicht den Blick dafür verstellen, wie dramatisch sich unsere eigene Sicherheitslage in Deutschland verbessert hat. Zu häufig wird in unserem Land
übersehen, daß gerade wir Deutschen vom Umbruch der jüngsten Vergangenheit, was die Sicherheitslage angeht, am meisten profitieren.
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Denn in Zentraleuropa gibt es die grundlegendsten Veränderungen. Daraus ergibt sich im übrigen auch die Verpflichtung, auf die neuen Herausforderungen einzugehen.
Letztendlich haben wir heute die historische Chance, gemeinsam mit unseren Nachbarn im Westen, im Osten, im Norden und Süden Europas eine europäische Freiheitsperspektive zu verwirklichen, die zugleich soziale Sicherheit und wirtschaftlichen Fortschritt ermöglicht. Unsere Nachbarn im Osten suchen die Sicherheit im westeuropäisch-atlantischen Sicherheitsverbund. Neutrale Staaten wie Schweden und Österreich sind bereit, an der friedlichen Neuordnung Europas vorbehaltlos mitzuwirken und sich einzufügen.
Wenn ich bei manchen eine stille Sehnsucht nach der zwar feindlichen, aber doch wohlgeordneten bipolaren Welt der Vergangenheit, der Ost-West-Konfrontation, spüre, dann muß ich uns alle doch ermahnen, nie zu vergessen, welch ungeheure Chancen wir haben, welche enorme Vergeudung der Ressourcen es in der Vergangenheit gegeben hat. Deswegen sollten wir auch nicht allzu düster sehen, was die neuen Instabilitäten angeht. Zunächst einmal gibt es für Deutschland eine grundlegende Verbesserung der sicherheitspolitischen Lage.
({1})
Der Rüstungswettlauf hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Lieber Karsten Voigt, wir haben uns über zehn Jahre bemüht, immer wieder minimale Fortschritte zu erreichen. Die konventionellen Streitkräfte in Europa werden um rund 40 % vermindert, und Deutschland geht voran. Alle bodengestützten Nuklearwaffen sind aus Mitteleuropa bereits abgezogen. Die strategischen Nuklearwaffen werden in den nächsten Jahren um etwa 70 % reduziert. Die Gefahren eines Nuklearkriegs sind weit in den Hintergrund getreten.
Das deutsche Sicherheitsdilemma der Nachkriegszeit, der Widerspruch zwischen der schützenden Abschreckung und der Gefahr, selbst nukleares Schlachtfeld zu werden, hat sich aufgelöst.
Ich habe manche Diskussionen auch im Bereich westlicher Konferenzen noch nicht vergessen, wo uns im Hinblick auf dieses deutsche Sicherheitsdilemma gesagt wurde: Die DDR, das ist der Warschauer Pakt. Das war von den Bündnissen her richtig. Wir haben versucht, auf dieses besondere deutsche Sicherheitsdilemma einzugehen. Daß das aufgelöst worden ist, muß man doch immer wieder an den Anfang stellen, um deutlich zu machen, in welcher Situation wir uns befinden.
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Zugenommen haben allerdings die Gefahr regionaler Krisen und Konflikte - das ist hier von vielen gesagt worden - sowie neuer und alter Nationalismus. Unterdrückte Spannungen, die unter dem Ost-West-Gegensatz verborgen waren, sind an die Oberfläche gekommen. Wir haben die bedrückende Situation, daß in Westeuropa die Einheiten immer größer werden, der Nationalstaat überwunden ist, die Integration bei allen Problemen voranschreitet, während in Osteuropa die Einheiten immer kleiner werden und wir eher einen Desintegrationsprozeß erleben. Doch bleibt die Aufgabe, diese beiden Teile Europas zusammenzufügen.
In dieser Situation brauchen wir ein flexibles Instrumentarium internationaler Politik, um globale und regionale Probleme zu meistern. Die Bundesregierung bemüht sich mit Nachdruck um einen wirksamen Verbund aller Möglichkeiten, der UNO, der KSZE, der NATO und der WEU. Keine dieser Institutionen kann und soll die andere ersetzen. Aber sie ergänzen sich und können so ihre Kräfte zur Wirkung bringen.
Unsere Möglichkeiten, in den euroatlantischen Institutionen gestaltend Einfluß zu nehmen, hängen ganz wesentlich von der Substanz unseres jeweiligen Beitrags ab, von der wirtschaftlichen Kraft Deutschlands, von seinem militärischen Beitrag, aber auch von der Glaubwürdigkeit, unserer Loyalität und Solidarität als stabile handlungsfähige Demokratie.
Unsere Bürger erwarten zu Recht, an diesem Prozeß der Neuorientierung beteiligt zu werden. Für jede Entscheidung, die Parlament und Regierung treffen, müssen gute Gründe ins Feld geführt werden. Nur so kann der dringend benötigte Konsens wachsen, den gerade unsere Außen- und Sicherheitspolitik braucht.
Es liegt im objektiven Interesse aller Deutschen, daß Auftrag und Rolle unserer Streitkräfte möglichst unumstritten sind. Nur so können unsere Soldaten leisten, was von ihnen erwartet wird. Nur so kann verantwortliche Politik ihnen abverlangen, für unsere Sicherheit notfalls mit ihrem Leben einzustehen.
Ich möchte darauf hinweisen: Mein Bemühen vom ersten Tag an als Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland, in einer schwierigen Zeit des Übergangs den Konsens zu suchen und auch zu erstreiten, wo immer das möglich ist, wird von dem Kollegen Kinkel und der F.D.P. und natürlich erst recht von den Kollegen in der eigenen Fraktion voll unterstützt. Das hat überhaupt nichts mit anderen Zusammenhängen zu tun, in deren Nähe das gelegentlich gerückt wird.
Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß das die Aufgabe des Verteidigungsministers gerade in dieser Übergangszeit ist. Die Soldaten würden wir schlecht ausstatten, wenn wir ihnen nur eine Uniform und Sold geben und ansonsten im Bundestag munter weitergestritten würde. Das ist zuwenig. Wir schulden den Soldaten mehr, gerade jetzt, wo es konkrete Situationen gibt, in denen sie im Auftrag der Bundesrepublik Deutschland ihr Leben verlieren können.
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Wir brauchen ein neues Sicherheitsdenken, Sicherheitsvorsorge für die Zukunft muß gesellschaftliche, ökonomische und ökologische Entwicklungen einbeziehen, und Konfliktursachen präventiv entgegenwirBundesminister Volker Rühe
ken. Wo Frieden und Recht gebrochen, wo Konflikte mit Gewalt ausgetragen werden und wichtige deutsche Interessen gefährdet sind, müssen wir auch bereit sein, auf Anforderung der Völkergemeinschaft unseren militärischen Beitrag zur Friedenserhaltung zu leisten.
Ich begrüße es, daß sich die SPD in dieser wichtigen Frage auf uns zubewegt, allerdings noch nicht ausreichend. Aber es ist gut, daß es, was die Beteiligung der Bundeswehr an Blauhelmoperationen unter dem Dach der Vereinten Nationen angeht, hier eine breite Zustimmung gibt.
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- Wer sich auf wen zubewegt, das ist, glaube ich, so eindeutig, daß wir darüber nicht streiten müssen. Mich interessiert auch nur das Ergebnis. Ich sage Ihnen: Deutschland kann es sich nicht leisten, hier weiter international im Abseits zu stehen. Wir müssen unsere Verantwortung als wiedervereinigtes Deutschland übernehmen. Ich bitte um die Unterstützung des Bundestages.
Die bei uns gewachsene Kultur der Zurückhaltung ist über die Jahre zum Merkmal deutscher Berechenbarkeit geworden. Wenn nun aber internationale Solidarität gefordert wird, muß der eingeleitete Prozeß eines Mentalitätswandels behutsam und mit Geduld vorangetrieben werden.
Aber es ist klar: Wir können uns auf Dauer auch weitergehenden Forderungen der Völkergemeinschaft nicht verschließen. Wir brauchen auch in der Verfassung die Öffnung für friedensschaffende Maßnahmen auf der Grundlage der Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen. Wer Deutschland - da möchte ich die Formulierung des Außenministers wiederholen - in diesem Zusammenhang in eine Sonderrolle drängt, der macht es auf Dauer politisch handlungsunfähig, bündnisunfähig und europaunfähig.
In diesen Tagen sind wieder französische und italienische Soldaten in Jugoslawien gestorben. Das hat deutlich gemacht, welches Risiko auch die deutschen Soldaten auf sich nehmen, die die Flüge nach Sarajevo durchführen. Ich darf hier sagen, daß wir in dem Moment, in dem es wieder möglich ist zu fliegen, alle Anstrengungen unternehmen werden, gemeinsam mit anderen zu fliegen und daß wir auch Vorkehrungen zum Schutz unserer Flugzeuge und Piloten treffen.
Nur, was muß man eigentlich von den Deutschen halten, was Solidarität angeht, was auch Risikoteilung angeht, wenn in einer solchen Situation ein SPD-Abgeordneter mich dafür kritisiert, daß ich einen deutschen Berufssoldaten in den Irak kommandiert habe, damit er dort für eine humanitäre Aktion eingesetzt wird, nämlich um rüstungskontrollpolitisch den Abzug der Chemiewaffen zu kontrollieren? Dafür werde ich getadelt. Was ist das für eine Risikoteilung in Europa, wenn französische und italienische Soldaten sterben im Namen der Vereinten Nationen für die Sicherheit Europas, für humanitäre Hilfe in Jugoslawien, und ich kritisiert werde, wenn ich einen Berufssoldaten kommandiere, in den Irak zu gehen, um dort einen Auftrag der UN, einen Auftrag der Bundesregierung durchzuführen? Das paßt doch ganz einfach nicht zusammen, was die Risikoteilung angeht.
({5})
Das zeigt auch, lieber Kollege Voigt, wo wir stehen.
Sie haben die Adria angesprochen. Mein Gott, kann ich nur sagen angesichts der Lebensopfer, die andere Europäer bringen. Wo stünden wir denn, wenn wir diesen Einsatz in der Adria im Laufe des Monats Juli verweigert hätten? Wir wären unter unseren europäischen Kollegen doch völlig isoliert gewesen.
Und wenn Sie sagen, wir hätten weitergehen wollen, was die Kontrolle auf dem Lande angeht, kann ich nur sagen: Erst einmal muß man doch ja sagen zu der Kontrolle auf See. Sie sind zum Verfassungsgericht gegangen. Wir haben dafür gesorgt, daß unsere Schiffe in dieselbe Richtung fahren wie Italiener, Franzosen und andere, die Opfer für die Sicherheit Europas erbringen, die wir uns auf Dauer auch nicht werden ersparen können.
({6})
Die Bundeswehr muß auf die erkennbaren neuen Aufgaben ausgerichtet werden. Wie in anderen Staaten bleibt der Hauptauftrag der Bundeswehr die Verteidigung unseres Landes. Landesverteidigung begründet in erster Linie die Wehrpflicht. Aber die veränderten politisch-strategischen Bedürfnisse verlangen auch, die Verteidigung des Bündnisgebiets als erweiterte Landesverteidigung zu begreifen. Unsere Alliierten erwarten von uns dieselbe Solidarität, die wir in Jahrzehnten akuter und existentieller Bedrohung Tag für Tag erhalten haben. Schließlich müssen unsere Soldaten für den Weltfrieden einstehen, wenn die Vereinten Nationen dazu aufrufen.
Ich habe schon im Mai den Streitkräften auf der jährlichen Kommandeurtagung eine Leitlinie vorgegeben, über die ich auch hier im Bundestag kurz berichten möchte.
Zunächst nenne ich die unabweisbaren Investitionen für die Truppenteile, die in besonderem Maße auf aktue Erfordernisse zugeschnitten sind. Das sind die Krisenreaktionskräfte, und das ist das, wovon ich eben gesprochen habe.
Vierzig Jahre lang, wo die Hauptbedrohung in Zentraleuropa war, haben andere europäische Nationen ihr Land und das Bündnis in Deutschland verteidigt. In der Zukunft - dafür werden die Krisenreaktionskräfte ausgebildet - muß Deutschland bereit sein, außerhalb Deutschlands, aber im Bündnisgebiet, das Bündnis und andere Nationen zu verteidigen, genauso wie andere 40 Jahre lang vorher bereit waren, dies in Deutschland zu tun.
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Dies ist die Priorität bei den Investitionen. Verbände zur humanitären Hilfe, Einsätze der Vereinten Nationen und Krisenreaktionskräfte müssen ihre Defizite abbauen. Was für künftige Aufgaben unverzichtbar ist, muß neu und überzeugend begründet werden. Dazu gehört auch der Nachweis, daß vorhandenes Gerät nicht mehr brauchbar ist. Für die Bedrohungs8772
situationen der Vergangenheit wird keine Mark mehr ausgegeben. Das wird auch nicht möglich sein; denn wir haben einen Sparhaushalt, und ich brauche das Geld für die neuen Aufgaben.
Die Bundeswehr und unsere Soldaten haben Anspruch auf moderne und aufgabengerechte Ausrüstung. In der Spannung zwischen begrenzten Investitions- und Betriebsmitteln muß jedoch Ausbildung Vorrang haben. Auch unsere Wehrpflichtigen müssen einen sinnvollen und fordernden Dienst machen, der sie motiviert. Mehr und beste Ausbilder werden dafür zur Verfügung stehen.
Wir brauchen in nächster Zeit vor allem Investitionen für die Menschen, für bessere Lebens- und Ausbildungsbedingungen, und das ganz besonders im Osten Deutschlands. Die Bundeswehr hat hier Vorbildliches geleistet bei der Vollendung der inneren Einheit Deutschlands. Ich bin auch einem Mann wie Christoph Bertram, der in der „Zeit" geschrieben hat, wie vorbildlich die Bundeswehr die Wiedervereinigung vorangetrieben hat, sehr dankbar, daß er dies einmal gesagt hat.
({8})
- Ja, der Bundeswehr dankbar und Christoph Bertram dankbar. Natürlich ist es leichter, in einem Leo II zusammenzuwachsen als in einem Parteivorstand. Es hat mich beeindruckt, wie mir die Wehrpflichtigen in Belitz gesagt haben: Im Leo II gibt es keine Ossis und Wessis. Wir können ein bißchen davon lernen. Aber es ist ein bißchen schwieriger, Wolfgang Schäuble; da haben wir auch gemeinsame Erfahrungen.
Aber es geht darum, die Teilung durch Teilen zu überwinden. Kommen Sie doch einmal auf die Hardthöhe. Da sehen einige Gebäude wie kurz nach dem Kriege aus. Da hat die Bundeswehr Vorbildliches geleistet.
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Denn wir haben keine Politik des „Weiter so" gemacht. Wir werden auch trotz der Einsparungen über 1 Milliarde DM im nächsten Haushalt für Investitionen im Osten ausgeben.
Da muß ich der Kollegin Matthäus-Maier einmal sagen, die immer sagt, 50 Milliarden seien immer noch viel zuviel: Wir müssen praktisch 4 Milliarden DM einsparen, 2,7 Milliarden real, noch einmal 1,6 umsetzen, damit ich über eine Milliarde im Osten einsetzen kann. Die Soldaten brauchen doch dieselben Lebensbedingungen. Das sind gar keine militärischen Investitionen. Wir verlassen hervorragende Kasernen im Westen und wollen aus Gründen der deutschen Einheit im Osten so schnell wie möglich dieselben Lebensbedingungen herstellen.
Ich will 220 Millionen DM für die Verschrottung von Waffen einsetzen. Also ich glaube, es wird Zeit, daß die Frau Kollegin Matthäus-Maier hier einmal eine neue Platte auflegt. Das ist ein enormer Sparhaushalt. Die Bundeswehr hat ihn freiwillig erbracht. Die Soldaten können zu Recht stolz darauf sein, daß sie in dieser Frage der Wiedervereinigung ihren Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung leisten.
({10})
Der äußerst knappe Finanzrahmen für die Bundeswehr erfordert eine systematische Überprüfung der Bundeswehrplanung. Das werde ich in den nächsten Monaten machen. Ich werde versuchen, alle offenen Fragen bis zum Dezember zu klären. Die mit Ihrer Hilfe zu treffenden Entscheidungen werden nicht leicht sein.
Die Entscheidungen der Koalition zum Jagdflugzeug waren unumgänglich und richtig. Denn der militärische Bedarf muß an radikal veränderte Bedingungen angepaßt und mit den Ressourcen in Deckung gebracht werden. Wir brauchen ein anderes Jagdflugzeug für eine andere Zeit. Wir brauchen weniger Flugzeuge, als ursprünglich veranschlagt. Alle Partnerstaaten sind sich einig, obwohl es da noch schwierige Verhandlungen gibt. Es gilt, neue Lösungen zu suchen, die Handlungs- und Entscheidungsspielraum eröffnen. Man muß sich einmal anschauen, wie wir in der jetzigen Debatte über Finanznöte und Solidarpakt dastünden, wenn wir hier nicht eingegriffen hätten. Ich bin dankbar für die gute Zusammenarbeit.
Allerdings kann man nicht ganz auf Flugzeuge verzichten. Es zeigt die irreale Position Ihrer finanzpolitischen Sprecherin, daß sie dieses verbilligte Flugzeug gegen Wohnungen und alles andere gegengerechnet hat. Das kann man nicht machen. Das ist auch nichts, was Ihre Verteidigungspolitiker vertreten, mit denen wir jetzt in dem Unterausschuß Luftabwehr in einen engen Dialog eingetreten sind.
({11})
Ich bin nicht in der Lage, 1993 wesentliche Ausrüstungsvorhaben zu beginnen. Wir müssen schon begonnene Beschaffungsvorhaben zurückschneiden. Dreierlei wird jedoch möglich bleiben:
Erstens. Der Betrieb der Bundeswehr wird sichergestellt.
Zweitens. Die Infrastruktur im Osten Deutschlands wird weiter aufgebaut.
Drittens. Auch der Wohnungsbau wird vorangetrieben. Erstmals ist im stark reduzierten Haushalt des Verteidigungsministers ein eigener Ansatz für den Wohnungsbau. Die Soldaten müssen dreimal mehr umziehen als bisher. Sie müssen West-West-Umzüge machen, sie müssen vor allen Dingen West-OstUmzüge unter schwierigsten Bedingungen machen. Deswegen müssen wir ihnen hier helfen, zumindest was den Wohnungsbau angeht.
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Kein anderes Ressort hat das bisher gemacht. Aber ich freue mich über die Unterstützung aus der Koalition.
Der Übergang in die künftige Personalstruktur wird möglich. Der notwendige Personalabbau kann sozialverträglich erfolgen. Ich kann meiner Fürsorgepflicht gegenüber den Soldaten und zivilen Mitarbeitern der Bundeswehr, vor allem auch gegenüber den Familien, genügen.
Der Verteidigungshaushalt 1993 ist sicherheitspolitisch verantwortbar. Er fügt sich zugleich in die gesamtpolitischen Prioritäten ein, und die heißen:
Deutsche Einigung hat Vorrang vor allem anderen. Aber die mittelfristige Finanzerwartung drückt zugleich das absolute Mindestmaß an Haushaltsmitteln für einen schwierigen Übergang aus.
Die Bundeswehr steht vor der vielleicht größten Herausforderung ihrer Geschichte, und es ist nicht falsch, von einem zweiten Neubeginn zu sprechen. Die Schwierigkeiten, mit denen wir es zu tun haben, sind nur vergleichbar mit dem Neubeginn in den 50er Jahren. In kurzer Zeit werden die Streitkräfte auf 370 000 Mann reduziert, gleichzeitig umstrukturiert, neu disloziert und auf neue Aufgaben - z. B. die Krisenreaktionskräfte, hoffentlich Blauhelme - ausgerichtet. Wir müssen sie zu einer Armee der Einheit machen. Wir müssen die Wehrverwaltung mit ebenfalls sehr viel weniger Personal arbeiten lassen und eine neue Struktur einrichten.
Trotz der radikalen Veränderungen gelten auch Konstanten für unsere Sicherheitsvorsorge. Dazu gehört, daß Deutschland auch künftig jeden Alleingang meidet. Wir finden Schutz und Sicherheit am besten im Bündnis mit den Verbündeten. Die Atlantische Allianz ist und bleibt das Rückgrat unserer Sicherheit. Die Strukturen, die wir in Europa neu erarbeiten, dienen der Absicherung und der Ergänzung unserer Politik.
Ich würde mich freuen, wenn es trotz des einen oder anderen Diskussionsbeitrages aus den letzten Wochen Übereinstimmung über die wichtigsten Eckwerte der Bundeswehr gäbe: 370 000 Mann, die Armee der Einheit zu schaffen, Wehrpflicht mit einer Dauer von zwölf Monaten. Darum will ich mich bei allem, was es natürlich auch an kritischen Diskussionen zwischen der Regierung und der Opposition gibt, weiter bemühen, denn in dieser schwierigsten Phase der Streitkräfte kommt es darauf an, soviel Gemeinsamkeit wie möglich zu schaffen.
Ich sage noch einmal: Es gilt nicht mehr nur, vor dem einen großen Krieg abzuschrecken, sondern unsere Soldaten müssen damit rechnen, indem sie dasselbe Risiko wie Soldaten anderer europäischer Nationen tragen, in schwierige, auch lebensbedrohliche Situationen zu kommen, und zwar schon bei humanitären Einsätzen wie den Flügen nach Sarajevo.
In einer solchen Situation müssen wir im Bundestag andere Debatten führen. Wir schulden unseren Soldaten das Ausmaß an überparteilicher Zustimmung, das in anderen Ländern selbstverständlich ist. Darauf sollten wir auch in Deutschland hinwirken.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Walter Kolbow.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister der Verteidigung ist heute 158 Tage im Amt. Wir haben seinen Amtsantritt wegen der Art und Weise, wie er gestartet ist, mit Sympathie begleitet.
({0})
Wir als Opposition haben nun nicht nur die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sondern auch die verfassungsgemäße und die uns durch den Wähler und die Wählerin zugewiesene Aufgabe, den Anspruch, den Sie sich, lieber Herr Kollege Rühe, gesetzt haben, in der Wirklichkeit Ihres politischen Handelns tagtäglich zu überprüfen.
Beim Verteidigungsetat ist Ihnen die gleiche Frage zu stellen, die auch dem Finanzminister und dem Bundeskanzler in bezug auf den gesamten Bundeshaushalt zu stellen ist: Inwieweit kann der Verteidigungsetat 1993 eigentlich als seriöse Grundlage der Beratungen betrachtet werden?
({1})
Es handelt sich ganz eindeutig - Herr Thiele, Sie sind ja da besonders bewandert - um einen Etat des Übergangs, der allerdings noch keine wirkliche Zukunftsperspektive für die Bundeswehr eröffnet und der in Teilen - wie z. B. bei der Rüstungsplanung; das haben Sie selber mit einer kurzen Bemerkung gerade eingeräumt, Herr Minister -, bereits Makulatur ist. Zu viele Fragen, die auf der Ausgabenseite erheblich zu Buche schlagen, bleiben im Entwurf weiterhin unbeantwortet. Verteidigungsaufgaben müssen nämlich heute mehr denn je auf ihre Notwendigkeit hin überprüft und an ihrer Gesellschaftsverträglichkeit, d. h. an der Akzeptanz auf seiten der Bürgerinnen und Bürger, gemessen werden.
({2})
Ihnen, Herr Rühe, kann als neuem Verteidigungsminister zwar bescheinigt werden, daß Sie nach Ihrem Amtsantritt sofort darangegangen sind, Ballast abzuwerfen. Die Absage an die Beschaffung des Jäger 90, so wie er geplant war, steht ebenso dafür wie die Korrektur der unrealistischen Ansätze für die Verteidigungshaushalte der kommenden Jahre in der alten Planung. Wir erkennen dies an, weil es nicht leicht war, selbst diese offenkundig längst überfälligen, von uns immer wieder geforderten Abstriche gegen die beharrenden und realitätsfernen Kräfte in der Union durchzusetzen.
Aber diese Korrekturen reichen angesichts der Prioritätensetzung, die Sie selbst - ich nenne als Stichwort den Aufbau Ost - immer wieder nennen, nicht aus, weil Sie über einen Etat mit einem Volumen von 50,8 Milliarden DM entsprechend einem Anteil von 11,6 % am gesamten Bundeshaushalt verfügen, den wir uns bei dieser Prioritätensetzung für die Zukunft und - ich füge hinzu - bei der sicherheitspolitischen Lage nicht zu leisten brauchen, nicht leisten können, ja nicht leisten dürfen.
({3})
Eine neue Zielrichtung ist in Ihrem Etat - in Ihren Reden zuweilen schon - bisher kaum zu erkennen. Der Tanker Verteidigungsministerium folgt offenbar nur widerwillig - Herr Stoltenberg weiß ein Lied davon zu singen - der Ruderlage auf neuem Kurs, der bisher - das mahnen wir an, aber wir stellen auch die 158 Tage in Rechnung - nicht energisch genug durchgesetzt wird.
Die entscheidende und bisher nicht ausreichend beantwortete Frage für die Bundeswehr bleibt die nach ihrer Legitimation auf der Grundlage eines politisch entschiedenen, gesellschaftlich akzeptierten und nachvollziehbaren neuen Auftrages. Mit einem überholten Einsatzkonzept und noch unklarer politischer Wegweisung für die Zukunft befinden sich die Streitkräfte in einer Phase der Orientierungslosigkeit, der Demotivation und der Unzufriedenheit. Die Resolutionen des Deutschen Bundeswehr-Verbandes und die Versammlungen vor Ort zeigen dies deutlich.
Der erforderliche freiwillige Nachwuchs ist nicht mehr zu rekrutieren. Die Bundesregierung hat diesen Mangel erkannt, aber sie begegnet diesem Mangel mit den falschen Mitteln. Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, haben es versäumt, aus den ausführlichen und engagierten Debatten hier im Haus im Januar dieses Jahres zum Bericht der Jacobsen-Kommission über die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr die richtigen Konsequenzen für den künftigen Auftrag der Bundeswehr zu ziehen. Dadurch haben Sie, nicht aber die SPD den bisherigen verteidigungspolitischen Konsens verletzt, den Sie doch suchen, Herr Kollege Rühe. Auf diesem Konsensweg wollen wir Ihnen begegnen. Wir haben dies durch unsere Zustimmung zu den Eckwerten der Bundeswehr auch deutlich gemacht.
Wenn es Ihnen aber wirklich um Übereinstimmung mit der Opposition in diesen grundlegenden Fragen geht, dann müssen Sie auf uns zugehen, um Gemeinsamkeiten zu suchen, nicht nur dann, wenn Sie unsere Unterstützung für humanitäre Hilfseinsätze der Streitkräfte im Ausland von uns erwarten, sondern auch bei den tagtäglichen Fragen, die die Streitkräfte berühren, und bei den Konzeptionsüberlegungen, die wir im Sinne einer sparsameren Mittelverwendung in eine andere Richtung lenken wollen.
Statt die anstehenden Probleme grundsätzlich und konzeptionell zu lösen, wird dagegen mit Einzelentscheidungen auf aktuelle Entscheidungen der Weltpolitik in einer Form reagiert, die in der Bevölkerung zutiefst umstritten ist. Sie sollten es besser wissen, denn einer Ihrer zentralen Sätze - hören Sie bitte zu, denn dann versteht man es am Ende sicherlich genau - soll dem Vernehmen nach sein, daß man in einer Demokratie nur das durchsetzen könne, was verstanden werde.
({4})
Ich wäre sehr dankbar und würde es begrüßen, wenn dies zur Richtschnur Ihrer weiteren Politik auch auf der Hardthöhe würde.
Obwohl Sie Ihren Äußerungen nach durchaus die psychologische Dimension dieser Fragen erkannt haben und es als notwendig erachten, in der Bevölkerung einen Prozeß der Bewußtseinsbildung für neue Aufgaben der Bundeswehr abzuwarten, treffen Sie gleichzeitig Entscheidungen, die dieser Grundhaltung widersprechen, siehe Adria. Wer so handelt - ich komme in anderem Zusammenhang auf einen aktuellen Fall zurück -, legt zugleich die Axt an die Wehrpflicht, denn sie ist nur durch Landesverteidigung, nicht aber durch weltweite Einsätze legitimiert.
({5})
Schon bei Operationen im Rahmen des Bündnisses gibt es durch jahrzehntelange Gewöhnung an die bisherige Lage psychologische Schwellen, die in Betracht zu ziehen und nicht einfach zu überwinden sind.
Sie zeigen meines Erachtens noch zuwenig Sensibilität hinsichtlich des inneren Zustandes der Bundeswehr. Soldaten und deren Angehörige werden durch die schon angesprochene Entscheidung, am AdriaEinsatz zur Embargoüberwachung gegen Jugoslawien teilzunehmen, in Gewissenskonflikte gestürzt, ob dieser Einsatz und ihre Teilnahme daran Rechtens seien. Die Streitkräfte - auch das hören wir immer wieder, und zwar auch von denen, die dann solche Aufträge auszuführen haben - sind auf diese Situation psychologisch unzureichend vorbereitet.
Sie verletzen Ihre Fürsorgepflicht, wenn Sie ohne gesetzliche und versorgungsrechtliche Grundlagen Soldaten einem höheren Risiko aussetzen. Dies gilt in gleicher Weise für die Heeresflieger zur Unterstützung der UNO im Irak wie für die nun offenbar gewordene Lage der Bundeswehrsoldaten in Kambodscha. Die deutschen Soldaten haben einen Anspruch auf Auftragsklarheit und Rechtssicherheit. Wie sehr dies einzelne Bundeswehrangehörige und ihre Familien beunruhigt und besorgt, ist eben nicht nur den Leserbriefspalten der Zeitungen zu entnehmen, sondern auch dem aktuellen Verhalten.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den von Ihnen angesprochenen Fall gleich einmal an der Stätte des Diskurses, hier im Parlament, ansprechen und von unserer Seite aus für diesen Fall eines klarstellen: Wir lehnen den Einsatz von Wehrpflichtigen in Krisenreaktionsstreitkräften bei Blauhelm-und sonstigen Einsätzen außerhalb der Landesverteidigung grundsätzlich ab.
({6})
Hier befinden wir uns im Einklang mit dem Ehrenvorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herrn Kollegen Dregger, der auf die Frage des Herrn Kollegen Schmude bei einer ähnlichen Debatte von dieser Stelle aus das gleiche gesagt hat.
({7})
- Nun kommen Sie, lieber Kollege Breuer, dran mit ihrem fragenden Zwischenruf: Nur der Schutz des eigenen Staates in einer Situation akuter existentieller Bedrohung kann die allgemeine Wehrpflicht legitimieren. Aber auch Zeit- und Berufssoldaten haben ihren Dienst unter anderen Voraussetzungen angetreten und sollten nur freiwillig an humanitären Operationen zur Unterstützung der UNO, wie im Irak, teilnehmen, so lange die rechtlichen Voraussetzungen nicht geklärt sind. Ich halte es deshalb für einen unglaublichen Vorgang, daß militärische Vorgesetzte mit der Keule des Truppendienstgerichtes drohen, um der Freiwilligkeit nachzuhelfen. Dies kommt dem Tatbestand der Nötigung gleich, und ich erwarte deshalb, daß Sie, Herr Kollege Rühe, für dieses
Problem unverzüglich eine allgemeine, verbindliche und der Situation angemessene Regelung finden. Etwas mehr Nachdenklichkeit dürfte auch von den militärischen Vorgesetzten in der Bundeswehr gefordert werden, wenn fast 40 Jahre Innere Führung einen Sinn gehabt haben sollen.
Herr Kollege Kolbow, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breuer? Paul Breuer ({0}): Herr Kollege Kolbow, ich möchte Sie noch einmal fragen zum Thema der Teilnahme von Wehrpflichtigen an Krisenreaktionsstreitkräften. Es ist doch richtig, daß wir in der Vergangenheit die Solidarität der anderen NATOPartner in Deutschland erfahren haben und daß in den Streitkräften der NATO-Partner, zumindest zum Teil, auch Wehrpflichtige eingesetzt waren.
({1})
Mit welcher Begründung, jetzt im Rahmen der gegenseitigen Solidarität, schließen Sie eigentlich den Einsatz deutscher Wehrpflichtiger in Krisenreaktionsstreitkräften, das heißt auch im NATOGebiet, aus?
Herr Kollege Breuer, wenn Sie mir genau zugehört hätten, wäre Ihnen aufgefallen, daß ich von „out of area"-Einsätzen, daß heißt außerhalb des Vertragsgebietes stattfindenden Einsätzen, gesprochen habe. Sie denken offensichtlich selbst schon, daß „in area"-Vorbereitungen für „out of area" genutzt werden sollen, wenn Sie mir im Augenblick diese Frage stellen. Das allerdings finde ich nicht gut.
({0})
Zu rügen - weil ich schon beim Rügen bin -, Herr Kollege Rühe, ist weiterhin, daß der Planungsprozeß der Bundeswehr auf den Kopf gestellt wird. Ohne Beteiligung des Bundestages wird über Streitkräftestrukturen im Bündnis und national entschieden, die normalerweise erst das Ergebnis eines parlamentarisch gebilligten neuen Auftrages der Bundeswehr wären. Wo sind denn die Einsatzkonzepte für diese Verbände, die es uns erst ermöglichen würden, zu beurteilen, ob diese neuen Krisenreaktionsstreitkräfte tatsächlich in der geplanten Stärke und Zusammensetzung sowie mit der vorgesehenen deutschen Beteiligung für Operationen innerhalb des NATO-Vertragsgebietes zu rechtfertigen sind? Und, wie beurteilen Sie, Herr Kollege Rühe, die Weisung Nr. 1 des Inspekteurs des Heeres und den Auftrag an das 3. Korps, sich auf Kriseneinsätze vorzubereiten bis hin zum Transport von Gefallenen? Hat der Verteidigungsminister - damit meine ich Sie - Kenntnis von diesen Plänen, billigen Sie sie, oder ist ein General wieder einmal der Politik vorausgeeilt? Wo sind denn, Herr Kollege Rühe, die notwendigen deutschen Grundlagendokumente wie die verteidigungspolitischen Richtlinien, die militärstrategische Zielsetzungen und die neue Konzeption der Bundeswehr? Sie schaffen Fakten ohne die dafür erforderlichen Grundlagen, so wird es uns nach allem, was ich bisher festgestellt habe, auch nach ausführlichen Beratungen im Verteidigungsausschuß im Dialog mit Ihnen sehr schwerfallen, diesen Verteidigungshaushalt, der auf einem äußerst wackligen Fundament steht, unsere Zustimmung zu geben.
Es ist inzwischen eine Binsenweisheit, daß die allgemeinen sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen völlig neu zu bewerten sind. Beim „Welt am Sonntag"-Forum in Berlin haben Sie im Juni selbst betont - ich zitiere: Eine existenzielle militärische Bedrohung Deutschlands gibt es nicht mehr. - Wenn dies so ist - und wir stimmen dieser Feststellung uneingeschränkt zu -, dann kann - ich rede von der Zeit nach 1994 - die Verkleinerung der Bundeswehr auf 370 000 Mann nicht das letzte Wort sein.
({1})
Der erweiterte Sicherheitsbegriff taugt nicht für die von der Bundesregierung betriebene bedrohungsunabhängige Begründung der Bundeswehr, schon gar nicht für deren Umfang; denn er stellt ganz im Gegenteil auf neue nicht militärische und globale Risiken ab, die, wie z. B. die Klimakatastrophe, unter Umständen das Überleben der Menschheit insgesamt gefährden können. Hier helfen keine Streitkräfte, und es bleibt unserer Bundeswehr als Aufgabe die Landesverteidigung und die Erfüllung der eingegangenen vertraglichen Verpflichtungen im Rahmen der NATO und der WEU, allerdings auf einem viel niedrigeren Niveau als bisher.
Die auch von uns befürwortete Beteiligung an humanitären und Blauhelmeinsätzen der UNO - über mehr diskutieren wir im Moment nicht - wird immer nur ein sehr begrenztes Kräftepotential berühren. Deshalb fordern wir zum wiederholten Male, die adäquaten Konsequenzen aus der neuen Lage zu ziehen. Das geht am ehesten für das Haushaltsjahr 1993 mit der Reduzierung des Verteidigungsumfanges auf 500 000 Mann und mit der Rücknahme der Reservistenkonzeption, die auf einem geradezu absurden Ansatz beruht und die Sie auch wenig später selber in den Chefgesprächen mit Herrn Waigel wohl korrigiert haben. Denn die nur durch Sie dann für den Übergang vorgesehene Verringerung der Wehrübungsplätze auf 1 000 Mann ist richtig, entspricht der Lage, muß aber unserer Meinung nach in eine dauerhafte umgewandelt werden. Die entsprechende Ausbildungsorganisation des Heeres muß drastisch verkleinert werden. Dies ermöglicht zudem dann erhebliche Einsparungen bei vorgehaltenem Material und bei der Infrastruktur. Lassen Sie mich das auch sagen, insbesondere weil uns von unseren Freundinnen und Freunden in der Fraktion und in der Bürgerschaft aus den neuen Ländern gesagt wird, daß das Gruppenübungsplatzkonzept auf ein vernünftiges von der Bevölkerung akzeptiertes Maß zurückgeführt werden muß. Die Abstriche, die Sie bisher vorgenommen haben, reichen dafür noch nicht aus.
Alles, was gestern galt, muß heute einer vorurteilsfreien Prüfung unterzogen werden. Auch das fordern Sie. Ihr tagtägliches Handeln legt das nicht immer nahe. Auch bilaterale Verträge, wie die Abkommen zur Unterstützung von Verstärkungstruppen der NATO-Partner im Kriegsfall, das WHNS-Abkommen, gehören dazu. Sie sind Fossilien einer glücklicherweise vergangenen Zeit.
Wir sind bereit, die übrigen bisherigen Eckwerte bis zum Vollzug der Umstrukturierung der Bundeswehr mitzutragen. Schon jetzt aber sind Überlegungen für die Zeit danach anzustellen, damit auf dem Wege dorthin nicht teure Einzelfallentscheidungen getroffen werden, die später zu revidieren sind und, Herr Rühe, erhebliche Fehlinvestitionen beinhalten würden. Dies gilt vor allem für die Rüstungsprojekte. Wir fordern deshalb erneut - teilweise sind Sie uns verbal entgegengekommen - ein Rüstungsmoratorium, bis das Parlament einen neuen Auftrag der Bundeswehr und eine darauf abgestellte Bundeswehrplanung gebilligt hat.
In diesem Zusammenhang fordern wir außerdem eine engere Koordinierung zwischen den Planungen der europäischen Bündnispartner. Nicht jeder von ihnen muß auch zukünftig in seinen Streitkräften über alle Komponenten und Waffengattungen verfügen. Die Möglichkeiten der Aufgabenteilung und der Rollenspezialisierung sind sowohl im Bündnis als auch im Verteidigungsministerium bisher sehr halbherzig angegangen worden.
Der künftige Personalabbau der Bundeswehr, der notwendige Ausschluß der Wehrpflichtigen von der Teilnahme an Einsätzen außerhalb des Verteidigungsauftrages der NATO sowie die mangelnde Wehrgerechtigkeit werden uns zunehmend mit der Frage konfrontieren, ob die Wehrpflicht, diese Wehrpflicht oder die Wehrpflicht überhaupt, weiterhin aufrecht erhalten werden kann. Wir werden diese Diskussion intensiv miteinander zu führen haben. Mit Interesse haben wir zur Kenntnis genommen, daß die CDU/CSU-Fraktion der Bitte der F.D.P.-Fraktion nachgekommen ist, diesen Themenkomplex für die nächste Sitzung des Verteidigungsausschusses mit Rücksicht auf den Oktober-Parteitag der Freien Demokraten abzusetzen. Denn was Herr Ortleb oder Frau Schwaetzer in diesem Zusammenhang sagen, lassen einen Beschluß der F.D.P. für eine Freiwilligenarmee in die Nähe des Vorstellbaren rücken.
Streichen, strecken, kürzen und verschieben reichen für den Verteidigungshaushalt nicht mehr aus. Es ist ein radikaler Umbau der Bundeswehr erforderlich. Je früher damit angefangen wird, desto besser. Dies muß mit den zutreffenden Informationen über die Lage und einer Neuformulierung des Auftrags beginnen und in der Umsetzung die Sozial- und Gesellschaftsverträglichkeit einschließen. Die verheerende Finanzsituation jetzt und in den kommenden Jahren muß zwangsläufig im Verteidigungshaushalt stärkere Spuren hinterlassen, als heute geplant. Die mittelfristige Finanzplanung - das werden wir in dieser Legislaturperiode hier im Hause noch erleben - greift mit 47,8 Milliarden DM noch zu kurz. Wenn so dramatisch gespart werden muß und die sicherheitspolitische Lage es zuläßt, ist ein Kurswechsel notwendig, der die Streitkräfte auf die verfügbaren Mittel beschränkt. Geld als Führungsmittel auf der Hardthöhe wird weit mehr eine Rolle zu spielen haben, als das in der Vergangenheit der Fall war.
Allen Fachleuten ist klar, daß das Verhältnis von Investitionen zu Betriebskosten nicht bei 1: 3 oder gar 1 :4 bleiben darf. Denn das würde auf die Dauer die notwendige Modernisierung der Streitkräfte verhindern und auch die Erfüllung der eingeschränkten Aufträge unmöglich machen. Das meinte ich, als ich davon sprach, wir müßten unter Berücksichtigung der Gesamtsituation darüber nachdenken, den Umfang und auch die entsprechenden Strukturen nicht nur der Prüfung, sondern auch der Veränderung zu unterziehen.
Sie haben das Gespräch mit der Opposition gesucht. Sie haben es in Einzelfällen auch praktiziert. Das ist noch zuwenig. Kommen Sie weiter auf uns zu, aber mit den facts, mit den klaren Informationen, mit den Vorhaben, die Sie sich vorgenommen haben, bevor die Streitkräfte auf dem alten Weg, den dieser Haushalt repräsentiert, irreparablen Schaden genommen haben! Gerade Sie, Herr Rühe, haben bis 1994 diese Chance. Nutzen Sie sie noch besser als Ihre bisherigen 158 Tage! Das wird auch notwendig sein. Dazu brauchen Sie unsere Hilfe. Wir versagen Sie Ihnen nicht. Das haben Sie gewußt. Aber dazu brauchen wir die Klarheit und die Wahrheit Ihres Kurses.
({2})
Als nächster spricht der Abgeordnete Dr. Klaus Rose.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der größere Teil der heutigen Debatte hat sich mit der Innen-und der Wirtschaftspolitik beschäftigt. Das ist auch richtig so. Denn unbestreitbar sind diese Themen in der deutschen Öffentlichkeit leidenschaftlich diskutiert worden.
Je mehr in der Innenpolitik gute Entwicklungen eingeleitet werden, desto besser ist auch die Außenwirkung, desto mehr wird das Bild Deutschlands in der Welt repräsentiert. Es ist aber ebenso unbestritten, daß außenpolitische Faktoren mehr als je zuvor Einfluß auf die innerstaatliche Entwicklung in Deutschland haben.
Wir haben jetzt die verbundene Debatte zur Außen-und Sicherheitspolitik. Deshalb möchte ich dazu Stellung nehmen. Denn oft genug ist von der neuen Verantwortung Deutschlands in der Welt die Rede gewesen. Ich meine, wir stellen uns dieser Verantwortung. Wir sollten einen möglichst breiten politischen Konsens über die Rolle der Deutschen in der Welt finden. Freiheit, Frieden und Wohlstand können auf Dauer nur gesichert werden, wenn wir uns nicht nur als Deutsche sehen, sondern wenn wir die Kraft zur europäischen Einigung aufbringen.
Die Schaffung einer Europäischen Union - das ist auch das Vermächtnis von Franz Josef Strauß - liegt im deutschen Interesse. Die Beschlüsse von Maastricht, die man kritisch hinterfragen kann, sind die logische Konsequenz der Politik der Westbindung und stellen einen Handlungsrahmen für eine verläßliche deutsche Politik dar.
Nun weiß jeder von uns um das Damoklesschwert des französischen Referendums, das uns kurz bevorsteht. Wie immer es ausgeht - wir wissen ja, wie es in Dänemark war; wir erinnern uns auch an die seltsame Abstimmung über das österreichische Kernkraftwerk Zwentendorf unter dem damaligen
man hatte den Sack geknüppelt, obwohl man
den Esel meinte -, wir müssen Europa auf jeden Fall noch bürgernäher machen.
Nicht bloß als Bayer betone ich, daß dazu unabdingbar ein föderaler Aufbau notwendig ist. Denn nur von einem Europa der Regionen erwartet sich der Bürger mehr. Er erwartet aber auch, daß in Europa die innere Sicherheit effektiv garantiert wird und daß sich nicht das organisierte internationale Verbrechen durchsetzt. Deshalb müssen möglichst viele Kompetenzen auf Landes- und auf Bundesebene verbleiben.
Wenn es die Zustimmung unserer Bürger für Europa geben soll, können wir uns kein Europa des Zentralismus und der Bürokraten leisten. Wir sollten umgekehrt aber keineswegs in eine neue Kleinstaaterei verfallen. Wer die Rasanz außenpolitischer Veränderungen erlebt - heute ist schon die Rede von der Schaffung des größten Binnenmarkts der Welt auf dem nordamerikanischen Kontinent gewesen -, der weiß, wie wichtig es ist, daß wir Europäer unserem eigenen Binnenmarkt ab 1. Januar kommenden Jahres zum Erfolg verhelfen müssen.
({0})
Meine Damen und Herren, Europa ist unsere Chance. Wir dürfen diese Chance nicht vertun.
({1})
Das ist der erste große Beitrag Deutschlands und Europas zum Frieden in der Welt.
Wer den Haushalt außen- und sicherheitspolitisch abklopft, verspürt den Willen der Bundesregierung, für diesen Frieden und für die Abrüstung noch mehr als bisher zu tun.
({2})
Dazu zählen die Mittel einer neuen Abrüstungshilfe, die jetzt neu aufgenommen werden soll und die ich im Ansatz begrüße - obwohl wir erst in die parlamentarischen Ausschußberatungen gehen -, nämlich zur Zerstörung der ehedem vernichtenden Waffen der früheren Sowjetunion. Dazu wird ein Programm entwickelt, das ab dem nächsten Jahr bis zum Jahre 2005 jährlich rund 20 Millionen DM - mit fortlaufender Tendenz - enthalten soll.
Dazu zählt auch die nochmalige deutliche Rückführung der NATO-Verteidigungshilfe, weil wir heute der Auffassung sind, daß man in der heutigen Zeit nicht in anderen Ländern zur Aufrüstung beitragen soll. Diese NATO-Verteidigungshilfe wird so zurückgeführt, daß sie in den nächsten Jahren völlig auf gezehrt wird.
Dazu gehören auch die nicht ganz einfachen Kürzungen im Verteidigungshaushalt. Allerdings warne ich vor der Illusion, die Verteidigungsbemühungen könnten ganz vergessen werden.
({3})
Die Welt und besonders Europa - das wissen Sie alle - sind nicht unbedingt sicherer geworden. Die Bundeswehr stärkt unsere Sicherheit. Die Bundeswehr braucht ausreichende Finanzmittel, um ihren
Auftrag im Rahmen des Bündnisses weitererfüllen zu können.
({4})
Wir dürfen die Bündnisfähigkeit der Bundeswehr nicht aufs Spiel setzen. Wer die letzten vierzig Jahre erlebt hat, wo wir unter dem Schutz des Bündnisses gut gelebt haben, der weiß, daß wir notfalls für andere etwas tun müssen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich betone bei der ersten Lesung des Bundeshaushalts gerne, daß Deutschland einen wachsenden Beitrag für friedenssichernde Missionen im Rahmen der Vereinten Nationen leistet. Der Zuwachs des Pflichtbeitrags für die UNO in Höhe von 106,5 Millionen DM ist darauf zurückzuführen. Das sind friedenssichernde Missionen, bei denen sich Deutschland beteiligt und damit auch die Rolle des vereinten Deutschlands bestätigt. Es kann uns dann aber auch niemand verübeln, daß wir, wenn wir schon jetzt mit rund 331 Millionen DM einer der größten UNO-Beitragszahler geworden sind, wissen wollen, was mit unserem Geld geschieht, daß wir also Einfluß nehmen wollen. Dieser Einfluß muß in prophylaktischen Aktionen der Vereinten Nationen sichtbar werden, nicht als Reparaturbetrieb aller bereits eingetretenen Unfälle. Deshalb scheint die Mitarbeit Deutschlands im Sicherheitsrat logisch.
({6})
Zwei größere Ausgabeposten fallen bei dem Etat des Außenministers noch besonders auf. Sie dienen beide der besseren Zusammenarbeit und dem besseren Zusammenleben der Völker.
Da wird zum einen das bisher schon bewährte Instrument der Ausstattungshilfe um 30 Millionen DM aufgestockt, und da gibt es zum anderen ein neues Sonderprogramm zur Förderung der deutschen Sprache im östlichen Europa in Höhe von 135 Millionen DM, verteilt auf drei Jahre.
Die zusätzlichen Mittel der Ausstattungshilfe dienen in erster Linie dem Aufbau demokratischer Strukturen in vielen Ländern der Dritten Welt. Ohne diese Demokratisierungshilfe gibt es keine Erfolge beim Aufbau der Demokratie. Ohne möglichst fundierte Demokratie in möglichst vielen Ländern der Welt gibt es keine Erfolge bei der Friedensfestigung in der Welt.
Deshalb sage ich nach einer ersten Sichtung: Dieser Aufstockung im Rahmen der Ausstattungshilfe kann zugestimmt werden.
Das neue Sprachförderungsprogramm, meine Damen und Herren, das ein besonderes Lieblingskind - ich glaube, ich darf es so sagen - auch des Bundeskanzlers ist, hinter dem er voll steht, das er initiiert hat, stärkt hinwiederum die Beziehungen der ehemals kommunistischen Staaten zum Westen und öffnet diese für die Werte der westlichen Demokratien.
Zwei Drittel aller Menschen, die weltweit Deutsch als Fremdsprache lernen - das sind 12 von 18 Millionen -, leben in diesen Gebieten, die bisher für unsere
Kulturarbeit weitgehend verschlossen waren. Deutsch ist aber die traditionelle Verkehrssprache. Mit unserer Hilfe Bildungsreformen einzuleiten, berufliche Aufstiegschancen zu erschließen und bis nach Zentralasien und zum Kaukasus wissenschaftliche Verflechtungen zu schaffen, bietet die Chance, zum friedlichen Zusammenleben beizutragen. Wir sollten auch diese Chance nutzen.
Zum Schluß, meine Damen und Herren, danke ich den Vertretern des auswärtigen Dienstes, die gerade durch die Möglichkeiten an den neuen Botschaften und Generalkonsulaten in den osteuropäischen Staaten zum Zusammenführen der Menschen beitragen. Die Aufgabe ist ja nicht immer leicht. Aber immer neue Botschaften kosten auch immer neues Geld. Ich habe deshalb schon längere Zeit gefordert und begrüße es sehr, daß das Auswärtige Amt jetzt Vorschläge macht, daß nicht bloß neue Botschaften eröffnet, sondern auch alte Botschaften umgebaut oder abgebaut werden. Steuergelder müssen effizient eingesetzt werden. Ein effizienter diplomatischer Dienst aber bringt vielfachen Nutzen. Ich möchte die Bundesregierung und speziell das Außenministerium animieren, auf diesem Weg fortzufahren.
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Als nächste hat die Abgeordnete Andrea Lederer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich muß zum Verlauf der heutigen Debatte zwei Anmerkungen machen. Die eine betrifft die Rede des Herrn Bundeskanzlers. Er ist leider nicht mehr hier. Er hat es hinsichtlich der Frage des Asylrechts und der Frage der Ausschreitungen nicht für nötig befunden, sich bei den ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in diesem Lande zu entschuldigen, sondern er ist darauf eingegangen, daß das Asylrecht geändert werden müsse, damit die Opfer dieser Anschläge sozusagen rausgeschmissen werden können.
Als zweites hat er in unsäglicher Weise Rechtsextremismus mit dem von ihm behaupteten Linksextremismus gleichgesetzt. Ich frage Sie: Wer ist es eigentlich, der heute Flüchtlingsheime schützt? Wer ist es, der in Rostock auf die Straße gegangen ist? Wo ist eigentlich das von Herrn Engholm hier angeführte demokratische Potential, die Gewerkschaften, die SPD, wo sind sie denn an dem Samstag in Rostock geblieben? Ich frage Sie das.
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- Wären Sie doch gekommen! Wir wären froh gewesen, wenn noch viel, viel mehr Menschen in Rostock gewesen wären.
Hintergrund ist aber die Bemerkung, die der Herr Bundeskanzler gemacht hat, daß - ich zitiere ihn -40 Jahre SED-Diktatur nachhaltiger wirkten als zwölf Jahre Nazi-Zeit. Ich frage den Herrn Bundeskanzler, ob er diese These eigentlich einmal einer jüdischen Gemeinde vorgetragen hat. Es kann wirklich nur als
Skandal bezeichnet werden, daß das hier ohne irgendeine Form von Protest durchgeht.
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Das ist eine Geschichtsklitterung, die ihn nicht nur als Biedermann ausweist, sondern als jemanden, der im Grunde genommen mentale Brandstiftung betreibt.
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Meine zweite Anmerkung betrifft den Herrn Verteidigungsminister Rühe. Sie haben hier gerade gesagt, das Zusammenwachsen zwischen Ost und West in einem Leo II gehe eben einfacher als in manchem Parteivorstand. Herr Rühe, das ist gnadenloser Militarismus.
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Es ist gnadenloser Militarismus, angesichts der Probleme in diesem Land das hier noch quasi als Beispiel vorzuschlagen.
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Das gehört genau zu dem, was Sie in Ihrer Rede das letzte Mal behauptet haben, nämlich Europafähigkeit und Bündnisfähigkeit bewiesen sich gerade darin, daß man gemeinsam marschiere, daß man gemeinsame militärische Einsätze europäischer Staaten mittrage.
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Das ist nichts als gnadenloser Militarismus.
Eines bestätigt sich in diesen Zeiten wieder: Die Asylpolitik ist der innenpolitische Spiegel der Außenpolitik. In beiden Fragen erlebt dieses Land eine Zäsur in einer absolut negativen Weise. Wenn von der SPD behauptet wird, das individuelle Recht auf Asyl werde nicht angetastet, dann stimmt das einfach nicht, wenn man ihre Vorschläge präzise liest. Sie schlagen beispielsweise vor, ganz bestimmte Länder, in denen angeblich keine Verfolgung besteht, an Hand von Länderlisten auszunehmen.
Nehmen Sie das Verhältnis der Bundesregierung zur türkischen Regierung und deren Einschätzung der Situation dort. Was machen Sie denn angesichts der Verfolgung der kurdischen Menschen, wenn die Bundesregierung sagt: Auf die Länderliste gehört die Türkei? Was machen Sie dann?
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Ich frage Sie: Sind Sie der Auffassung, daß dieses legitim wäre? Wie wollen Sie denn mit Ihren Vorschlägen, die schon wieder ein Einfallstor sind, mit denen Sie schon wieder nachgeben und schon wieder auf den ganzen Kurs dieser Rechtsentwicklung reinfallen, die Probleme lösen? Im Grunde genommen wollen Sie dem doch weiter nachgeben.
Es ist so: Wenn in diesem Land von Flüchtlingen die Rede ist, dann ist davon die Rede, wie man sie loswerden kann. Und wenn von der internationalen Lage die Rede ist, dann wird darüber nachgedacht, wie die Bundesrepublik künftig militärisch interveAndrea Lederer
nieren kann. Einen Zusammenhang zwischen einer fehlenden radikalen Änderung der Weltwirtschaftspolitik und den Migrationsbewegungen etwa will man hier kaum wahrhaben.
Das internationale Kräfteverhältnis hat sich verändert, aber weiterhin zuungunsten der Länder, die sowieso schon benachteiligt sind, und auch zuungunsten der Länder vor allem in Osteuropa, die sich in einem ungeheuer schwierigen Transformationsprozeß befinden.
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Wo sind denn die Initiativen der Bundesrepublik, die ihr ökonomisches, politisches, wissenschaftlichtechnisches und geistiges Potential dafür einsetzt, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten in der Welt zu verringern und damit etwas zur Bekämpfung von Konflikt- und Fluchtursachen beizutragen? Warum ist denn bei dem G-7-Gipfel in München in dieser Richtung nichts weiter herausgekommen? Auch das wird hier schlicht nicht beantwortet. Statt dessen werden diejenigen, die auf genau diesen Mißstand hinweisen, weiter diffamiert.
Die deutsche Außenpolitik ist gekennzeichnet von der Ignoranz gegenüber den wahren Ursachen globaler Probleme, von dem Kampf um die Vormachtstellung der Bundesrepublik in Europa und einer stetigen Militarisierung. Auch für letzteres ist gerade die Europapolitik der Bundesregierung ein gutes Beispiel.
Die Verträge von Maastricht sind noch von keinem einzigen Unterzeichnerstaat ratifiziert und stehen ohnehin auf der Kippe. Aber ein Bereich wird bereits ganz konkret umgesetzt. Das ist die sogenannte Sicherheitspolitik; denn das, was in der Petersberger Erklärung unterschrieben wurde - der Petersberg ist wirklich ein unheilvoller Ort, ich komme dazu noch -, ist exakt die Erfüllung des Ersuchens an die WEU, im Rahmen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik im Grunde genommen auch für Out-of-AreaEinsätze der WEU die Vorbereitungen zu treffen. Daß auch auf materieller Ebene alle Anstrengungen vorangeschritten sind, beweist das geplante Euro-Korps mit der deutsch-französischen Kerntruppe. Das ist europäische Integration in Ihrem Sinne - offenkundig. Es ist aber nicht die Spur von einer europäischen Integration in friedlichem Sinne, vor allem nicht gegenüber der sogenannten Dritten Welt und auch nicht gegenüber den osteuropäischen Staaten.
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Es sei wirklich dahingestellt, ob sich François Mitterrand einen guten Dienst damit erwiesen hat, ausgerechnet den Bundeskanzler ins französische Fernsehen zu holen, um Werbung für Maastricht zu betreiben. Es bleibe auch dahingestellt, ob nicht hierin die kalten Füße Mitterrands im Hinblick auf ein eher sehr deutsches Europa ihren Ausdruck finden. Die Fernseh-Show hat jedenfalls eines ganz deutlich signalisiert: Während hierzulande das Volk nicht einmal gefragt wird,
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mischt sich der Kanzler in einem anderen Staat ein, wo die Gefahr einer Ablehnung durch Volksentscheid droht.
Zweitens arbeitet der Kanzler wie auch seine Regierungsmitglieder mit der Verharmlosung der deutschen Rolle in Europa, mit der Verharmlosung der rassistischen Ausschreitungen in Deutschland, mit der Verharmlosung der Beispielfunktion des deutschen Einheitsprozesses für die Frage der Integration von Ost und West in Europa. Mit diesen Verharmlosungen wird gearbeitet, um ein Europa im Grunde genommen deutscher Prägung durchzusetzen. Wie wäre es denn, würde im Haushalt ein Titel für eine breit angelegte Aufklärung der Bevölkerung über die Folgen der Maastrichter Verträge vorgesehen werden? Aber nicht diese schönen weißen Heftchen mit dem schwarz-rot-goldenen Band, die einem derzeit ständig auf den Tisch flattern, meine ich, sondern wirkliche Aufklärung durch unabhängige Institutionen: Informationen darüber, daß die Frauen wieder einmal die Hauptbenachteiligten sein werden, Informationen darüber, daß der soziale und ökologische Standard noch weiter zurückgeschraubt werden wird, Informationen über das massive Demokratiedefizit des Maastrichter Europas und Informationen über die Freude der Rüstungskonzerne über die künftige europäische Kooperation und auch über die Sorge des Staatssekretärs Wilz, die deutsche Rüstungsproduktion könne möglicherweise gegenüber Frankreich zu kurz kommen.
Wie wäre es mit einem Engagement für eine europäische Verfassungsversammlung, anstatt im Grunde genommen die Bürokratie weiter zu vertiefen?
Der Politikwissenschaftler Czempiel hat im letzten „Spiegel" festgestellt: „Ein neues Wort geht um in Deutschland: Frieden schaffen - mit Waffen. " Er hat weiterhin gesagt, der Zusatz werde nicht immer gesprochen, wohl aber immer gedacht. - Er wird leider zunehmend auch ausgesprochen.
Wenn der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion in seinem sicherheitspolitischen Papier für die Fraktion propagiert, man möge sich in der Frage der künftigen Bundeswehreinsätz doch bitte nicht von Institutionen wie UNO oder KSZE abhängig machen, dann wird mehr als deutlich, daß es vor allem um ein freies militärisches Agieren der Bundesregierung in dem von ihr dominierten europäischen Gefüge geht.
Europa und Bündnisfähigkeit, das verstehen Sie militärisch. Sie verstehen es nicht friedlich, vor allem im Sinne einer Verständigung zwischen den Völkern und einer Verständigung zwischen Ost und West.
Ich habe im Grunde genommen nur eine Bitte an Herrn Rüttgers, daß er nämlich künftig die demagogische Infamie unterläßt, bei seinen Vorschlägen auch noch von „Friedenspolitik" zu reden. Reden Sie Klartext! Sagen Sie der Bevölkerung, was Sie wollen! Sie wollen den Aufbau einer europäischen Militärmacht,
die sich in einem Vertrag mit der NATO und den USA sozusagen den Kuchen in der Welt aufteilt.
Es gibt zwei Zitate vom Verteidigungsminister und vom Außenminister, diesem Gespann der Bundesregierung, das derzeit die größten Lorbeeren bekommt, obwohl eigentlich zahlreiche Äußerungen zu finden sind, die nur noch hellhörig machen können.
Der Verteidigungsminister hat in der Sondersitzung am 22. Juli hier gesagt:
In der deutschen Geschichte sind wir häufig militärisch voranmarschiert und haben uns auf schlimme Weise isoliert und Verbrechen begangen. Aber es darf auch nicht die umgekehrte Situation eintreten.
Ich frage Sie, was das bedeuten soll: „die umgekehrte Situation eintreten"? Schlußfolgerung kann nur sein: Marschieren soll sein, im Gleichschritt mit den anderen - wohlwissend aber, daß natürlich die Vormachtstellung der Bundesregierung das Marschtempo und den Anlaß schon bestimmen wird.
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Ich muß nun auch noch auf die Rolle der SPD in der derzeitigen Diskussion zu sprechen kommen. Ich weiß, das freut Sie, nimmt Ihnen aber nicht die Spur von Verantwortung für das, was Sie derzeit an Entwicklung betreiben.
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Das Schlimmste ist tatsächlich, daß sich gegenüber dieser Entwicklung hier kaum noch eine Opposition feststellen läßt, von Ihnen leider immer weniger.
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Herr Klose hat in der Sondersitzung am 22. Juli die WEU kritisiert - mit Recht. Er hat darauf hingewiesen, daß die WEU Out-of-Area-Einsätze offenkundig ganz selbstverständlich annimmt und auch plant. Er hat dann zur Bundesregierung gesagt - ich zitiere -:
Wir vermuten nicht nur, wir behaupten, daß Sie im Begriff sind, scheibchenweise eine fundamentale Veränderung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik vorzunehmen.
Ich konnte bei dieser Feststellung, die faktisch richtig ist, nicht klatschen, weil mich verwundert hat, daß er im Anschluß lediglich kritisiert hat, daß das Parlament umgangen wird und daß die Parlamentarier nicht befragt werden, es aber verabsäumt hat, tatsächlich den Inhalt dieser fundamental veränderten Außen- und Sicherheitspolitik zu kritisieren.
Siehe da, ein paar Wochen später haben wir die Petersberger Beschlüsse. Ich möchte nicht wissen, was an der Atmosphäre auf diesem Berg so offenkundig militärisch Anregendes ist.
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Wir haben hier noch vor einigen Monaten über Blauhelme diskutiert. Sie haben aufgeschrien, als ich
Ihnen prognostiziert habe, daß es bei Ihnen um mehr gehen wird. Sie haben gesagt, das sei alles Quatsch. - Ich besorge Ihnen gerne noch einmal die Zitate.
Heute stehen wir hier, diskutieren über Kampfeinsätze, und Herr Engholm erklärt lediglich, daß die einzige Barriere für ihn ein Einsatz wie im Rahmen des Golf-Krieges sei. Das ist offensichtlich die Barriere für Sie. Ich frage Sie ganz ernsthaft: Wann fällt auch noch diese?
Ich appelliere wirklich an die Delegierten Ihres Parteitages, diesen verhängnisvollen Kurs zu stoppen,
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damit sich der Kurs dieser Bundesregierung nicht durchsetzt. Sie sind auf dem besten Wege, dafür Sorge zu tragen, daß dieser Kurs durchgesetzt wird.
Ich appelliere auch an die jungen Männer in diesem Lande, sich gründlich zu überlegen, ob sie tatsächlich den Dienst in einer künftigen Angriffsarmee leisten wollen.
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- Nicht „vorsichtig". Ich werde das noch zuspitzen; das kann ich Ihnen garantieren. Der Ausdruck „Angriffsarmee" kommt nicht von mir. Es ist der Ausdruck des Generals a. D. Schmückle. Ich kann Ihnen das Zitat gerne besorgen. Also, noch einmal: Ich appelliere an die jungen Männer in diesem Lande, zu überlegen, ob sie es nicht vorziehen wollen, den Dienst zu verweigern.
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Noch kurz zum Verteidigungshaushalt: Er ist im Grunde genommen schon wieder der beste Beweis für all das, was ich vorher ausgeführt habe. Ich will angesichts der Kürze der Zeit nur noch ein Beispiel nennen.
Bei den Forschungsvorhaben sieht es so aus: Das Verhältnis von Friedensforschung zu Militärforschung beträgt 1 :1 200, oder anders ausgedrückt: 3,4 Millionen DM für den Frieden und 4,1 Milliarden DM für den Krieg.
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Die Mittel für die Förderung der Friedensforschung hatten schon 1991 nur noch den Stand von 1982 in Höhe von 3,3 Millionen DM. 1993 sollen sie auf 2,3 Millionen DM abgesenkt werden - und das vor dem Hintergrund, daß allenthalben von den vielen Gefahren, Konflikten und militärischen Interventionen die Rede ist.
Wenn hier tatsächlich, wie hier fälschlicherweise behauptet wird, friedenspolitische Absichten bestünden, dann wäre der erste Schritt in dieser Situation gewesen, die Friedensforschung weiter zu unterstützen, anstatt die Militärforschung auszubauen und im Verteidigungshaushalt auch noch die Mittel für die sogenannte Zukunftsforschung militärisch weiter zu
steigern. Es wäre richtig gewesen, sich darum zu bemühen, friedenspolitische Vorstellungen zu entwickeln und gemeinsam mit der ökonomischen Potenz dieses Landes zum friedenspolitischen Wirken zu bringen.
Ein anderes Beispiel ist das Truppenübungsplatzkonzept. Auch hier ist eine unsägliche Benachteiligung der neuen Bundesländer festzustellen. Ich garantiere Ihnen, daß Sie auf einen starken Widerstand in den neuen Bundesländern stoßen werden.
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Weit über 40 % der Truppenübungsflächen sollen in einem Drittel der Fläche der Bundesrepublik angesiedelt werden. Truppenübungs- statt Arbeitsplätze für den „Aufbau Ost" ist offenkundig Ihr Angebot an die Menschen in den neuen Bundesländern, abgesehen davon, daß diese Heeresverlagerung nach Osten auch noch ein fatales Signal für die europäische Einigung zwischen West und Ost ist.
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Ich komme zum Schluß.
({20})
Sie werden auf erbitterten Widerstand unsererseits gegen diesen Kurs der Militarisierung der deutschen Außenpolitik stoßen. Ich garantiere Ihnen, daß Sie auf erbitterten Widerstand der Friedensbewegungen stoßen. Wir werden in dem Engagement dafür, daß sich diese Entwicklung nicht fortsetzen wird, nicht nachlassen.
({21})
Als nächste hat Frau Dr. Sigrid Hoth das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich noch einige Worte an mein Vorrednerin richten: Frau Lederer, es erstaunt mich wirklich immer wieder, mit welcher Unverfrorenheit Mitglieder der PDS, die dazu noch aus Hamburg kommen,
({0})
die Bundesregierung, das deutsche Parlament meiner Ansicht nach in nicht geeigneter Form angreifen und dabei völlig an den geschichtlichen Tatsachen vorbeigehen. Bei aller Kritik, die Sie hier üben, sollten Sie bedenken, was all die Bürger, die 40 Jahre in der DDR leben mußten - was Sie nicht nachvollziehen können -, erdulden mußten.
({1})
Zurück zur eigentlichen Debatte: Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Haushaltsdebatte des Deutschen Bundestages wird von den weltpolitischen Ereignissen überschattet, deren Bilder täglich über die Medien ins Haus kommen. Die Ereignisse im früheren Jugoslawien, in Somalia, in den GUS-Staaten und in Südafrika machen uns erschreckend klar, daß wir von der neuen friedlichen Weltordnung noch meilenweit entfernt sind.
Doch auch im Inneren des vereinten Deutschlands stehen die Dinge nicht zum besten.
({2})
Die neuen Bundesländer brauchen weit längere Zeit als erwartet, um die wirtschaftliche Talsohle zu durchschreiten. Die Menschen werden ungeduldig. Einige fühlen sich wohl auch von denen, die sich im Westen ihre Brüder und Schwestern nennen, im Stich gelassen. Ausländerfeindlichkeit und Gewalt beherrschen die Schlagzeilen.
({3})
Man muß sich über die Ursachen dieser in keiner Weise zu entschuldigenden Ausländerfeindlichkeit, die eine Schande für alle Deutschen ist, klar werden. Waren und sind die neuen Bundesländer nicht hoffnungslos räumlich, materiell und insbesondere personell überfordert worden, als ihnen von Anfang an an Hand eines Länderschlüssels ein den alten Ländern adäquater Anteil an Asylbewerbern zugeordnet wurde?
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Nebenbei bemerkt - das wurde heute bereits angesprochen -: Auf eine Gleichbehandlung bezüglich des Länderfinanzausgleichs werden die neuen Bundesländer noch lange warten müssen.
Sind nicht in die Bürger der neuen Bundesländer sehr hohe Erwartungen gesetzt worden, was ihre Fähigkeit zur sofortigen Anpassung an die Marktwirtschaft betrifft, ihre Kraft, große soziale und psychische Probleme auch über einen längeren - zum Teil auch sehr langen - Zeitraum zu ertragen, Erwartungen, denen einige wenige Bürger augenscheinlich nicht gerecht werden, deren Probleme und Ängste sich in fataler Weise artikuliert haben?
Es ist meiner Ansicht nach nicht hinzunehmen, daß viele Regelungen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes erst im März 1993 greifen sollen, daß in Zirndorf nach wie vor wohl an die 1 000 Stellen unbesetzt sind.
({5})
Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die weitaus meisten Bürger in den neuen Bundesländern lehnen Gewalt aus innerer Überzeugung ab. Sie sind bereit, friedlich mit Ausländern zusammenzuleben, und leiden mit, wenn andernorts Menschen getötet werden oder verhungern. Die Flüchtlinge aus Bosnien sind gerade in den neuen Bundesländern mit besonderer Herzlichkeit aufgenommen worden.
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Bei einem Besuch im Asylbewerberheim Möhlau in Sachsen-Anhalt mit annähernd 1 000 Plätzen konnte ich mich durch Gespräche auch mit der dortigen Bürgerinitiative davon überzeugen. Auch das private Spendenaufkommen für das ehemalige Jugoslawien und für Somalia gerade aus den neuen Bundesländern ist beträchtlich.
Die Asyldebatte wird von manchen zu einspurigen Erklärungen und Patentlösungsvorschlägen genutzt. Doch auch mit einer Änderung des Grundgesetzes, die ich übrigens seit längerem unterstütze, und mit der Erarbeitung nachfolgender Gesetze - darunter eines Einwanderungsgesetzes, welches ich für unumgänglich halte - werden die Probleme der Integration von Ausländern in unserem Land nicht gelöst, da die Ausländerfeindlichkeit meiner Ansicht nach in erster Linie ein Symptom für die sozialen Spannungen in den neuen und den alten Bundesländern ist.
Wir müssen beides tun: schnellstmöglich die entsprechenden rechtlichen Bestimmungen umsetzen - hier sind auch die Länder gefordert - bzw. ergänzen und schnellstmöglich die bestehenden sozialen Spannungen abbauen.
Unsere Bereitschaft zur Hilfe außerhalb Deutschlands wird z. B. in der Somaliahilfe und besonders im Jugoslawienkrieg deutlich. Immerhin haben wir über 40 % der von der EG und fast 30 % der von den Industrieländern finanzierten und inzwischen weit über 700 Millionen DM betragenden humanitären Hilfeleistungen erbracht.
Die im Titel 686 12 des Auswärtigen Amtes ausgewiesene humanitäre Hilfe beträgt seit August 1991 insgesamt fast 50 Millionen DM, die für die Flüchtlinge in Kroatien, Serbien und Slowenien und die notleidende Zivilbevölkerung in Bosnien-Herzegowina verwendet werden. Für den Bau von Flüchtlingszentren sind weitere 50 Millionen DM zur Verfügung gestellt worden. Das vom Auswärtigen Amt betriebene Verbindungsbüro „Deutsche humanitäre Hilfe" in Zagreb ist eine entscheidende Schaltstelle.
Schließt man die Leistungen des Bundesverteidigungsministeriums sowie den deutschen Anteil an der EG-Hilfe ein, so beträgt die direkte und indirekte Hilfe der Bundesrepublik über 200 Millionen DM.
In all diesen Fällen kann der Einsatz des Auswärtigen Amtes und seiner Auslandsvertretungen ebenso wie der anderen beteiligten deutschen Stellen nicht genug hervorgehoben werden. Die Organisationen und Helfer begeben sich oft an die Grenze ihrer Belastbarkeit und sogar in Lebensgefahr.
Diese Hilfsmaßnahmen, liebe Kolleginnen und Kollegen, können jedoch nur ein Anfang sein. So müssen wir z. B. meiner Ansicht nach unbedingt über unsere zukünftige Rolle im Rahmen der UNO - der Außenminister hat vorhin seine Vorstellungen dazu erläutert -, die zukünftigen Aufgaben der Bundeswehr und - damit im Zusammenhang stehend - auch über die Struktur der Bundeswehr beraten.
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Wenn wir trotz aller Rückschläge unbeirrt daran arbeiten, letztlich die Ursachen von Krieg und Not zu beseitigen, wenn das Aufbauwerk in den neuen
Bundesländern zügig vorangetrieben wird, besteht Hoffnung, daß unser vereintes Deutschland seinen inneren Frieden findet und daß die Welt nicht weiter in Chaos und Bürgerkriegen versinkt.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({8})
Als nächster nimmt Dr. Karl-Heinz Hornhues das Wort.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich das Wichtigste vorweg sagen. Ich möchte nach dem bisherigen Verlauf der Debatte feststellen: Herr Außenminister, Herr Verteidigungsminister, Sie machen Ihre Sache gut, beide miteinander. Wir sind mit Ihnen zufrieden. Ich möchte dies für meine Fraktion sagen.
({0})
Ich habe festgestellt, daß auch die Opposition Nennenswertes an Kritik, was wirklich substantiell ist, nicht hat einbringen können. Ein bißchen Meckern gehört zum Geschäft. Das ist völlig klar.
Wir unterstützen - ich unterstreiche das - die politischen Perspektiven, die der Außenminister und der Verteidigungsminister, jeweils auf ihre Bereiche bezogen, vorgetragen haben. Ich will die Zeit nicht mit Wiederholungen füllen. Die wenigen Minuten Redezeit, die ich habe, will ich nutzen, um den einen oder anderen Punkt aufzugreifen.
Hier war heute wiederholt die Rede davon, was in ein paar Tagen in Frankreich wohl geschehen könnte. Dahinter stand die bange Sorge, was wohl wäre, wenn...?
Ich glaube, wir hoffen alle miteinander, daß die Franzosen, die ja auch wissen, daß sie nicht für sich allein, sondern ein Stück weit auch für uns mit entscheiden, mit Ja stimmen werden. Der Herr Bundesfinanzminister hat gestern sehr deutlich anklingen lassen, daß wir uns nach der Entscheidung in Dänemark und dem, wenn Sie so wollen, Gezeter um die Entscheidung in Frankreich alle gemeinsam fragen müssen - ich begrüße nachdrücklich, daß der SPDVorsitzende Engholm gesagt hat, daß er trotz der üblichen Kritik daran festhält, Maastricht gemeinsam durchzuziehen -: Reichen unsere Bemühungen aus? Hier im Plenum werden wir es schon schaffen. Aber wir müssen gemeinsam um die Zustimmung in der Bevölkerung ringen. Wir sollten zugeben, daß es uns alle ein wenig überrascht hat, in welchem Maße in unserer Bevölkerung Skepsis und Ablehnung die Oberhand gewonnen haben. Darüber kann man nicht einfach hinweggehen.
Ehe ich anfange, lieber Herr Voigt, auf andere zu zeigen, bin ich bereit, auf mich selber zu zeigen und die Frage aufzuwerfen: Haben wir - auch wir Parlamentarier - alles getan, was wir hätten tun können, um eine hinreichende Unterstützung in unserer Bevölkerung zu. finden? Müssen wir uns nicht selbstDr. Karl-Heinz Hornhues
kritisch fragen, ob wir es uns in mancher Versammlung zu Hause nicht allzu leicht gemacht haben, indem wir vorhandene Probleme einfach auf Europa abgeschoben haben?
Ich erinnere an die Diskussion über den Katalysator. Die Agrarpolitiker haben ebenfalls ein entsprechendes komplettes Repertoire auf Lager.
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- Da haben wir ja sogar verloren.
Wir sollten nicht immer nur auf andere zeigen, sondern uns fragen: Haben wir nicht manchmal leichtfertig gehandelt und das, was wir gern möchten, selber in Verruf gebracht? Ich behaupte: Dies haben wir alle miteinander wiederholt getan. Ich meine, es gehört zur Ehrlichkeit zu sagen: Wir wollen versuchen, es besser zu machen.
Ich führe folgendes Beispiel an. Ich kann mich daran erinnern - der eine oder andere von Ihnen vielleicht ebenfalls -, daß Herbert Wehner einmal in tiefer Nacht auf die Idee gekommen ist, im Plenum des Deutschen Bundestages eine EG-Vorlage zu verlesen, nämlich die Haartierverordnung. Er kam wütend auf das Rednerpult, und was er dann gesagt hat, kann sich jeder vorstellen, der ihn gekannt hat. Es war kaum zu verstehen, aber eines war klar: Er war voller Wut und Empörung und wollte wissen, wer diesen Unsinn zu verantworten hatte.
Meine Damen und Herren, wie oft gehen wir in Versammlungen und machen es genauso, indem wir auf den EG-Bürokratismus schimpfen? Wenn ich die gestrige und die heutige Debatte richtig verfolgt habe, ist eines unserer großen Probleme in den neuen Ländern: Wie werden wir mit den bürokratischen Hemmnissen, den verwaltungstechnischen Problemen fertig? Dabei geht es um unsere Bürokratie, unseren Bürokratismus, unsere Vorschriften.
Man muß fairerweise zugestehen: Es ist manchmal ein bißchen bequem, dies alles in Richtung Europa abzuladen.
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Ich möchte ein weiteres Beispiel anführen. In dieser Debatte hat die Frage, wie es in Jugoslawien weitergeht, zu Recht eine Rolle gespielt. Das bewegt uns Tag um Tag. Wer von uns hat nicht schon einmal gesagt - hier oder in Versammlungen zu Hause, im Wahlkreis -: Dieses Europa hat versagt? Wie flüssig ist vielen von uns dieser Satz über die Lippen gekommen, obwohl wir, wenn wir nachdenken, genau erkennen müssen, daß die einzige Hoffnung, jetzt und in Zukunft solche und ähnliche Probleme in den Griff zu bekommen, darin besteht, daß der Vertrag von Maastricht mit allen seinen Komponenten, auch den außen- und sicherheitspolitischen Komponenten, weiterentwickelt wird. Anderenfalls führt die Frage, was zu tun sei, zur absoluten Ratlosigkeit.
Wir haben uns nicht nur die Frage zu stellen: Wie schaffen wir es, den Bürgern klarzumachen, daß die neue Währung, die kommen soll, nicht die Abschaffung der D-Mark, sondern in Wahrheit das Transportieren einer bewährten Politik, die D-Mark heißt, auf
Gesamteuropa bedeutet? Wir werden uns vielmehr auch der Frage zuwenden müssen: Haben wir es uns nicht allzu leicht gemacht, indem wir gesagt haben, es müßten mehr Kompetenzen an das Europäische Parlament gehen?
Ich war in Dänemark, nachdem die Bevölkerung die Verträge von Maastricht abgelehnt hatte, und stellte fest, daß sie dort einen vorzüglichen Parlamentsausschuß haben, der die eigene Regierung auf das schärfste und härteste daraufhin kontrolliert, was denn da eigentlich geschieht.
Ich bin mit der Absicht zurückgefahren, die nächstbeste Gelegenheit - diese habe ich heute - zu nutzen, um uns aufzufordern, mit der gleichen Ernsthaftigkeit, so gut es geht, der Pflicht nachzukommen, uns all die lästigen Verordnungen, über die wir meckern, hier vorzunehmen und im Zweifel die Regierung zu veranlassen, hier und da ein Stoppzeichen zu setzen.
Dies sind vielleicht kleine Punkte; aber sie könnten Beiträge dazu sein, daß das Unbehagen und Mißbehagen über Europa, das da ist, abgebaut werden kann.
Vielleicht nehmen wir auch zur Kenntnis, daß die komischen Dänen in Europa Dänen bleiben wollen. Meine Nachbarn in den Niederlanden wollen in Europa Niederländer bleiben. Ich habe den Verdacht, daß nicht alle Deutschen zwingend nur noch Bayern oder Niedersachsen sein wollen,
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sondern daß sie, weil sie manchmal Schwierigkeiten damit haben, ob sie das überhaupt sind, im Zweifel vielleicht sogar als Deutsche in Europa weiterleben möchten.
Wir sollten nicht so hastig darüber hinweggehen und meinen, wir hätten das Ziel schon erreicht. Wir müssen die Menschen mit nach Europa nehmen; sonst hat das ganze Unternehmen keinen Sinn.
Wir brauchen Europa. Wir sind uns darüber klar; aber wir müssen unseren Bürgern dies vermitteln. Wir stehen heute - Volker Rühe hat davon gesprochen - am Ende eines Kalten Krieges, der ungeheure Ressourcen gefesselt hat, in der Verantwortung derjenigen, die gewonnen haben - wenn man dieses Bild, das nicht ganz passend ist, verwenden will.
Wir müssen wissen, wie wichtig es ist - das müssen wir den Menschen klarmachen -, daß die Menschen in den anderen Ländern, die jetzt anfangen, die Freiheit zu atmen, diese nicht als ein Versinken in Chaos und Untergang begreifen und nach neuen Göttern Auschau halten dürfen - jeder kann sich ausmalen, wo sie zu suchen sind. Wir müssen ihnen helfen, daß sie die Chance bekommen, das, was die Führer, die diesen Weg eingeschlagen haben, wollten, nämlich Freiheit, Demokratie und unsere Grundwerte, zu sichern und zu gewinnen; dies ist für sie wichtig.
Die Solidarität gebietet dies; aber auch unser Eigennutz gebietet dies. Denn spätestens der Konflikt in Jugoslawien hat uns klargemacht, was es bedeuten kann, wenn es daneben- und schiefgeht. Die Lasten
und die Probleme, die dann auf uns zukommen, sind um ein Mehrfaches größer als die Anstrengungen, die wir bei dem Versuch auf uns nehmen müssen, Europa offen und auf die Zukunft hin zu gestalten, und zwar so, daß die Menschen in den betroffenen Ländern eine Zukunft bei sich zu Hause und nicht zwingend bei uns haben.
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Wir sollten uns - das war der Kernpunkt, den ich hier überbringen wollte - bemühen, bei dem Thema Europa nicht nur über die Runden zu kommen. Das schaffen wir schon irgendwie, auch wenn wir noch soviel Ärger mit dem Bundesrat haben, mit dem wir allerdings - dieser Überzeugung bin ich - noch kräftig streiten müssen. Mir paßt vieles nicht, was in der Verfassungskommission diskutiert wird. Aber das Wichtigste scheint mir zu sein, daß wir, die wir den Weg hin zu Europa, in diese Zukunft, wollen, weil es der einzige, der alternativlose Weg ist, nicht scheitern, weil wir es nicht schaffen, die Menschen überzeugt mitzunehmen. Ich will nicht auf andere schimpfen, sondern das Kernproblem bei uns sehen.
Prüfen wir in der nächsten Zeit einmal, was wir tun können und was man in der parlamentarischen Arbeit überlegen kann! Wenn dabei am Ende herauskommt, daß vielleicht auch ein Europaministerium hilfreich sein könnte, wäre ich der letzte, der etwas dagegen hätte.
Der letzte Satz: Ich möchte allen Dankeschön sagen, die für uns in Jugoslawien, in Kambodscha und in Somalia, ob als Soldaten oder als Mitglieder von Hilfsorganisationen, tätig sind und erheblich dazu beitragen, daß mancher Schatten, der in diesen Tagen auf uns gefallen ist, helle Flecken hat. Herzlichen Dank an alle diejenigen, die dort eine unglaublich schwere, aber unglaublich wichtige Arbeit leisten.
Danke schön.
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Als nächster spricht der Abgeordnete Gerd Poppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr hatte ich Gelegenheit, mit Adam Michnik, dem früheren polnischen Dissidenten, über die Situation in Europa zu diskutieren. Er sagte, auf die damals aktuellen Ereignisse bezogen: Die posttotalitären Gesellschaften haben sich zweimal zu Wort gemeldet: in Hoyerswerda und in Jugoslawien. Sorgen wir dafür, daß dies nicht die einzige Sprache bleibt, die in Europa gesprochen wird!
Die Verknüpfung dieser beiden Probleme halte ich für ausgesprochen berechtigt, wie auch die weitere Entwicklung zeigt. Inzwischen hat sich die Sprache der Gewalt in Rostock und vielen anderen Orten Gehör verschafft, und der Krieg im ehemaligen Jugoslawien hat sich weiter ausgebreitet. Das noch zur Zeit der Blockkonfrontation gern benutzte Wort vom gemeinsamen europäischen Haus traut sich heute kaum jemand noch auszusprechen.
In den multinationalen Nachfolgestaaten der früheren Zwangssysteme ist bisher allenfalls in Umrissen erkennbar, was an die Stelle der sozialistischen Diktatur treten wird. Viele dieser Staatengebilde drucken zwar eigene Geldscheine und Briefmarken; es ist aber völlig unklar, womit die Währung garantiert wird, welche Verwaltung die beschlossenen Gesetze umsetzt, wem das Militär untersteht, wer die Staatsbürger sind und wo eines Tages die Grenzen verlaufen werden. Nicht nur die durch das Sowjetsystem auferlegten Zwänge sind aufgebrochen worden, sondern auch die infolge beider Weltkriege zustande gekommenen, zum Teil durchaus problematischen Regelungen.
Nach dem Ende des Kalten Krieges herrscht in Europa nicht der ersehnte Frieden, weder der äußere noch der innere, sondern bestenfalls kann von einer Nachkriegszeit die Rede sein, in der wiederentflammte alte Konfliktherde neue, noch regional geführte Kriege verursachen und ganz Europa erneut in höchste Gefahr bringen. Dies konnten und wollten wir uns in unserer Euphorie von 1989 und 1990 nicht vorstellen.
Nun aber, da die neuen Gefahren für alle sichtbar geworden sind, reagiert der Westen auf die Probleme des Ostens, falls er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt, fast mit größerer Angst als die Osteuropäer selber. Hilflos steht er vor dem Scherbenhaufen seines Sieges. In seiner Phantasielosigkeit setzt sich sowohl sein früheres Unvermögen fort, eine eindeutige Politik gegenüber den ehemaligen Diktaturen des Ostblocks zu betreiben, als auch seine fortwährende Unfähigkeit, sich ernsthaft und entschieden genug den Problemen der Dritten Welt zu widmen.
Der Westen - wir Ostdeutschen gehören jetzt dazu - antwortet mit dem Bedürfnis nach Abschottung bis hin zur Forderung nach einer neuen Mauer sowie mit Fremdenfeindlichkeit bis hin zu brutalen Übergriffen auf Ausländer. Das Streben nach einer Wohlstandsfestung Westeuropa korrespondiert durchaus mit den Aktivitäten einiger ostdeutscher Plattenbaubewohner zum Schutz ihrer Rasenflächen.
Wir alle haben 1989 erlebt, daß keine noch so befestigte Mauer hält, wenn die Menschen dahinter ihr Leben nicht mehr ertragen. Die Grenzen in Europa sind durchlässig geworden, und ich bin sehr froh darüber. Diese Grenzen sind nicht mehr zu schließen, ohne Keime für neue Kriege und Bürgerkriege zu legen. Wir müssen uns also auch im eigenen Interesse mit den Ursachen der Armut, der Unterdrückung und der Flucht beschäftigen, mit Ursachen, die nicht nur im Ort ihrer Wirkung, sondern auch hier im reichen Westen liegen.
Die westeuropäischen Demokratien, auch die Bundesrepublik Deutschland, haben sich im Streben nach der Öffnung Europas im Kontext des KSZE-Prozesses Verdienste erworben. Zu Recht hat die Bundesregierung immer wieder den Stellenwert der Menschenrechte für ihre auswärtige Politik betont. An diesem Anspruch muß sich die Bundesregierung auch weiterhin messen lassen, trotz und gerade wegen der komplizierten Lage in Deutschland. Ich muß sagen, Herr Bundesaußenminister, daß ich die Zufriedenheit
meines Vorredners, was Ihre Tätigkeit in den ersten Monaten betrifft, nicht teilen kann.
An diesem Anspruch muß sich auch die Asyl- und Flüchtlingspolitik orientieren. Sie muß die Fluchtursachen, insbesondere die katastrophale Lage von Minderheiten in Osteuropa, berücksichtigen, z. B. die Lage der Roma in Rumänien. Warum, Herr Bundesinnenminister, haben Sie eigentlich den Rostocker Bürgern nicht erklärt, warum die Roma aus ihrem Land fliehen und daß sie in Rumänien, das den Anspruch erhebt, sich zur Demokratie zu entwickeln, stärker verfolgt werden als während der Ceausescu-Diktatur? Warum ließen Sie in diesem Zusammenhang das böse Wort vom Asylmißbrauch unwidersprochen?
Die Verkürzung der Sicht auf das Flüchtlingsproblem in Europa durch die anhaltende Attacke auf den Art. 16 ist angesichts von Bürgerkriegen und wirtschaftlichen Katastrophen im Süden und Osten Europas wirklichkeitsfremd und geradezu zynisch. Die Gründe, warum so viele Menschen bei uns Zuflucht suchen, ergeben sich aus der gesellschaftlichen Realität in ihren Heimatländern. Diese Gründe können nicht beiseite geschoben werden. Die Festung Europa, wie sie offensichtlich vielen Ordnungspolitikern gerade hier in Deutschland vorschwebt, wird nicht funktionieren, es sei denn unter Preisgabe der jüngst errungenen europaweiten Freiheiten.
Im Fall der bosnischen Kriegsflüchtlinge hat sich die Bundesrepublik zwar weiter geöffnet als andere EG-Staaten, aber die hier geübte Praxis, die Aufnahme von Flüchtlingen als Privileg für diese zu behandeln - vom erteilten Visum bis zum Verwandtschaftsnachweis -, ist weder aus innen- noch aus außenpolitischer Sicht dem Problem angemessen. Die Opfer einer Politik, die den ethnisch reinen Nationalstaat postuliert und gewaltsame Vertreibung der Angehörigen anderer Nationalitäten als Mittel zu dessen Erlangung ansieht, müssen gerettet werden, undzwar in unbeschränkter Zahl. Ein Staat, der Krieg und Vertreibung zum Mittel für die Durchsetzung politischer Ziele macht, kann kein akzeptiertes Mitglied der Völkerfamilie sein. Er muß geächtet werden, bis er die international vereinbarten Menschenrechtsnormen einzuhalten bereit ist und die Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können.
Aber wir werden die Probleme nicht mit militärischer Intervention lösen. Dies würde nur zu weiterer Eskalation führen. Notwendig und immer noch eine Chance ist die konsequente Durchsetzung des verhängten Embargos. Wer auch immer dagegen verstößt, muß Sanktionen unterworfen werden, auch, falls es sich dabei um einen verbündeten Staat wie Griechenland handeln sollte.
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Aus dem offenkundigen Versagen westlicher Politik gegenüber dem ehemaligen Jugoslawien sollte nun endlich der Schluß gezogen werden, daß es notwendig ist, sich im Fall schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen rechtzeitig und vorbeugend mit politischen und wirtschaftlichen Mitteln einzumischen, bevor die Konflikte zu Krieg und Vertreibung führen. Wir appellieren dringend an die Bundesregierung, sofort alle Möglichkeiten zu nutzen, um den drohenden Genozid im Kosovo und die zu befürchtende Einbeziehung weiterer Staaten in den Konflikt zu verhindern.
Warum, Herr Bundesaußenminister, haben Sie übrigens nicht öffentlich gefordert, daß die gewählten Repräsentanten der Kosovo-Albaner am Londoner Verhandlungstisch Platz nehmen konnten? Nehmen Sie deren Warnungen ernst? Ergreifen Sie die Initiative bei den Vereinten Nationen, um zu erreichen, daß schon jetzt Blauhelme im Kosovo stationiert werden, ehe das Morden beginnt!
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Die Situation in Osteuropa hat sich zwar qualitativ verändert, gravierende Unterschiede zwischen West und Ost bleiben aber bestehen: hie ein ökonomisch und kulturell zunehmend verflochtenes Westeuropa, das viele nationalstaatliche Barrieren bereits abgebaut hat, da eine Wiederbelebung des schon totgesagten Nationalstaates, zum Teil mit blutigsten Folgen.
Aus diesem Blickwinkel mutet es fast hysterisch an, wie von manchen Politikern die Gefahr der Zerstörung der EG für den Fall der Ablehnung der Maastrichter Verträge beschworen wird, als ob es keine jahrzehntelange Integration mit durchaus greifbaren Folgen gegeben hätte, als ob nicht - mit oder ohne Maastricht - in wenigen Monaten der gemeinsame Binnenmarkt in Kraft träte, als ob es keine wirtschaftlichen Zwänge gäbe, die diese Integration stützen und, wie ich meine, prinzipiell unumkehrbar machen.
Die eigentliche Gefahr für das gemeinsame Haus Europa ist die einer westeuropäischen Abschottung gegenüber der anderen - ärmeren und konfliktträchtigeren - Hälfte Europas. Die Verträge von Maastricht lösen die Probleme von Sarajewo und Rostock nicht, sondern nehmen sie als langfristige Perspektive in Kauf.
Wohlstand wird nicht durch Abschottung erhalten, Frieden nicht ohne Durchsetzung der Menschenrechte erreicht. Gewalt wird nicht durch Gewalt beendet, sozialer Unfrieden nicht durch vage Versprechungen, Politikverdrossenheit nicht durch die Selbstgerechtigkeit mancher Politiker. Was wir benötigen, ist ein neues und endlich der veränderten Situation in Europa und der Welt angemessenes politisches Gesamtkonzept. Daraus ergibt sich mit großer Selbstverständlichkeit auch die Notwendigkeit eines gänzlich neuen Haushaltsentwurfs.
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Bevor ich Herrn Strube das Wort gebe, möchte ich auf der Tribüne ganz herzlich Kollegen aus dem ungarischen Parlament begrüßen, sie bei uns willkommen heißen und ihnen einen guten Aufenthalt bei uns in Bonn und in der Bundesrepublik wünschen. Herzlich willkommen!
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Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
Nun hat der Abgeordnete Hans-Gerd Strube das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte als Haushaltspolitiker einen Zehn-Minuten-Beitrag leisten und den Haushalt des Bundesverteidigungsministers vorstellen.
Wie beim Gesamthaushalt für das Jahr 1993 kann man gerade im Verteidigungsbereich von einem Sparhaushalt sprechen. Wie schon bei den Haushalten 1991 und 1992 werden wir erneut kürzen. Die Ausgaben für die Bundeswehr sind im Regierungsentwurf für 1993 mit 50,8 Milliarden DM angesetzt. Sie sollen bis 1994 um weitere 1,5 Milliarden DM schrumpfen.
Der Anteil des Verteidigungshaushalts am Gesamthaushalt wird von Jahr zu Jahr geringer. Wir haben heute mit 11,7 % bereits den niedrigsten Anteil seit Bestehen der Bundeswehr. Würden sich die Einkommen für unsere Soldaten und die zivilen Mitarbeiter nicht verbessern, dann wäre die Einsparung in diesem Jahr noch größer. Die Mehrkosten hierfür betragen rund 1,4 Milliarden DM. Sie sind ein Ausdruck der Fürsorge, die wir diesen Männern und Frauen entgegenbringen.
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Der Personalhaushalt hat trotz der enormen Truppenreduzierung einen Anteil am Bundeswehrhaushalt von rund 50 %. Das Verhältnis der Betriebsausgaben zu den Investitionen hat sich erneut verschoben. Der Anteil der laufenden Kosten soll auf 75,6 % weiter steigen. Dies ist nach meiner Einschätzung eine ungesunde Entwicklung.
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Die Schere öffnet sich immer weiter. Ich bin nicht sicher, daß hier mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet wird. Bei der Einzelplanberatung durch die Haushälter werden wir zu diesem Thema kritische Fragen stellen.
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30 % für den investiven Teil des Haushalts sollten nach meiner Ansicht unter allen Umständen abgesichert werden.
Bei der Fortsetzung der hier beschrittenen Politik kommt es zwangsläufig zu gravierenden Einschnitten, vor allem im Bereich der militärischen Beschaffung, nämlich zu einer Kürzung um 679 Millionen DM im Vergleich zum Vorjahr. Mittel für nennenswerte neue Vorhaben stehen nicht mehr zur Verfügung.
Genauso sieht es im Bereich Forschung, Entwicklung und Erprobung aus. Auch hier läßt die Kürzung um 110 Millionen DM Neuvorhaben nicht mehr zu.
Die begonnenen Vorhaben wollen wir zwar fortsetzen, und ein Aussteigen aus den Verträgen lehnen wir zur Zeit noch ab. Aber wer nicht mehr forscht und entwickelt, der meldet sich ab; der verspeist sein Saatgut.
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Auch die Forschungsteams und die Produktionsstätten in der wehrtechnischen Industrie kann man nur einmal zerschlagen. Dabei wissen wir doch alle: Auch in Zukunft müssen unsere Streitkräfte modern und leistungsfähig ausgerüstet sein. Denn auf der Welt sind Krisen und Risiken keineswegs verschwunden.
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Nicht einmal in Europa ist das so. Man braucht ja nur das Stichwort Jugoslawien zu nennen.
Auch in Zukunft muß die Bundeswehr daher in der Lage sein, unser Land zu verteidigen und gleichzeitig ihre Aufgaben im Bündnis zu erfüllen.
Wer bei der Einsatzfähigkeit leichtfertig Abstriche machen will, handelt hochgradig verantwortungslos.
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Schließlich dürfen wir nicht fahrlässig mit der Sicherheit unserer Soldaten experimentieren und sie unnötig gefährden. Daher handeln wir nach der Devise: so viel Waffen wie nötig, aber so wenig wie möglich.
Eine unmittelbare Konfliktgefahr besteht für die Bundesrepublik Deutschland momentan glücklicherweise nicht. Daher setzen wir mittel- und langfristig unsere Abrüstung weiter fort. Zusammen mit Bundesminister Volker Rühe verwirklichen wir die Forderung unseres Bundeskanzlers Frieden mit immer weniger Waffen zu schaffen. Die Verkleinerung der Bundeswehr geht weiter. 1993 werden fast 52 000 Planstellen für Soldaten abgebaut. Auch beim Zivilpersonal werden über 9 000 Planstellen entfallen. Man kann uns also nicht vorwerfen, wir würden keine Konsequenzen aus der geänderten sicherheitspolitischen Lage ziehen.
Auf zwei Bereiche werde ich jetzt ausführlicher eingehen, denn sie haben für uns einen hohen Stellenwert. Das ist zum einen die Sanierung von Unterkünften und Wirtschaftsgebäuden in den neuen Ländern und zum anderen der Umweltschutz.
Wie Sie wissen, waren viele Kasernen der früheren Nationalen Volksarmee in einem jämmerlichen Zustand. Die Sanierung von Unterkünften und Wirtschaftsgebäuden in den neuen Bundesländern muß daher dringend fortgesetzt werden. Küchen- und Speiseräume wollen wir ebenso wie Sanitäranlagen und Schlafräume in einen menschenwürdigen Zustand versetzen. Beseitigen wollen wir Mängel beim Unfall- und Arbeitsschutz.
Für die Verbesserung der Infrastruktur sind insgesamt rund 1,1 Milliarden DM vorgesehen. Verbessern wollen wir die Wohnungslage für die Soldatenfamilien, die in den neuen Bundesländern leben. Erstmals sind dafür Mittel im Einzelplan 14 veranschlagt worden, und zwar 50 Millionen DM als Einstieg in ein Wohnungsbauprogramm für unsere Bundeswehrangehörigen.
Etwa ein Zehntel aller Ausgaben fließen in die neuen Bundesländer, und zwar 5,4 Milliarden DM, also gut eine Milliarde mehr als 1992.
1,248 Milliarden DM entfallen auf den Umweltschutz in der Bundeswehr. Den Schwerpunkt setzen
wir auf die Bauausgaben, also auf den praktischen Umweltschutz am Ort.
Zur Reinhaltung der Luft müssen in den Liegenschaften der Bundeswehr rund 270 Heizungsanlagen saniert und modernisiert werden. Dazu gehören 140 Heizzentralen in den neuen Ländern, die noch mit der schwefelreichen Braunkohle befeuert werden. Für die Sanierung werden rund 350 Millionen DM benötigt.
Außerdem gehen die Entwicklung und Beschaffung von Simulatoren zur Lärmbeschränkung weiter. Zusätzliche lärmdämpfende Maßnahmen werden bei Schießstätten und Werkstätten durchgeführt. Für die umweltgerechte Sammlung von gefährlichen Abfällen müssen Plätze geschaffen werden, wo Altöl, Batterien, Farben, Lacke und Lösungsmittel gesammelt werden können.
Auch der verkleinerte Verteidigungshaushalt zeigt, wie wir unseren Sparkurs konsequent verwirklichen wollen. Der Anteil am Gesamthaushalt wird, wie erwähnt, weiter stufenweise gesenkt.
Daß die Opposition natürlich noch größere Einsparungen fordert, kann nicht überraschen. Aber das ist nur effekthaschend. Ein größerer Einschnitt wäre nach meiner festen Überzeugung verantwortungslos.
Herzlichen Dank.
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Als nächste Rednerin spricht Frau Dr. Ursula Fischer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde mich ausschließlich dem Einzelplan 23, dem Plan des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, widmen, um die Bedeutung dieses Einzelplans zu unterstreichen. Diese Bedeutung kommt auch durch die Anwesenheit des Herrn Ministers zum Ausdruck.
Dem Einzelplan 23 kann ich in der vorliegenden Form meine Zustimmung nicht geben. Er entspricht schlichtweg nicht den Erfordernissen der Zeit. Diese Bewertung bezieht sich nicht allein auf die Quantität, sondern vor allem auf die Proportionen innerhalb des Gesamthaushalts und die dahinter stehenden Konzepte.
Meine Damen und Herren, wer heute immer noch glaubt, eine Wirtschaftsordnung, die maßgeblich für die enorme Zuspitzung globaler Probleme verantwortlich ist - das bestreitet ja wohl keiner -, aufrechterhalten und gleichzeitig diese Probleme lösen zu können, muß scheitern.
Eine gerechte Weltordnung und Weltwirtschaftsordnung wären die Grundvoraussetzungen für die Abwendung der Gefahren für die Menschheit. Die Grundlage einer solchen veränderten Weltordnung dürfen nicht nur - wie hier dargestellt - die Interessen eines Teils der Welt, der „Ersten Welt", bilden.
Unsere Ablehnung richtet sich gegen eine bundesdeutsche Entwicklungspolitik, die die ungerechte
Weltwirtschaftsordnung lediglich begleitet und somit Alibifunktion hat. Diese Politik konnte und kann bisher nichts Entscheidendes im Interesse der Länder der Dritten Welt bewirken. Ein Neuansatz im Dienst und zur Lösung globaler Probleme ist weder im Gesamthaushalt noch im Einzelplan 23 erkennbar.
1985 betrug der Anteil des BMZ-Etats am Gesamthaushalt immerhin 2,6 %. Seitdem sinkt dieser Prozentsatz von Jahr zu Jahr. Er liegt 1993 bei sage und schreibe 1,9 % und soll sich bis 1996 bei 2 % einpendeln. Der Verteidigungshaushalt 1993 verschlingt unnötigerweise allein rund 11,7 % oder 12 % - je nachdem, wie man das rechnet - der Mittel.
Dies muß um so bedenklicher stimmen, wenn man die vor, bei und nach dem Umweltgipfel in Rio getroffenen Feststellungen und Versprechungen der verantwortlichen Politiker dazu in Beziehung setzt; und das sollte man ja tun.
So signalisierte der Bundeskanzler in Rio die Bereitschaft, die bundesdeutsche öffentliche Entwicklungshilfe „so bald wie möglich" - was immer das heißen mag - auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts zu steigern. Diese Forderung war bereits 1970 in der UNOResolution 2626 erhoben worden.
Es ist zu befürchten, daß auch in 20 Jahren ein deutscher Bundeskanzler zu dieser Formulierung greifen wird, vorausgesetzt, daß dann das Ressort für wirtschaftliche Zusammenarbeit überhaupt noch existiert und seine Mittel nicht für Katastrophenfälle und humanitäre Hilfe vollständig vom Auswärtigen Amt vereinnahmt werden.
Die oben geschilderte regierungsamtliche Planung auf diesem Gebiet deutet darauf hin, daß Deutschland sogar hinter dem Durchschnitt der OECD-Länder von 0,34 % des Bruttosozialprodukts zurückbleibt.
Wenn z. B. Minister Töpfer meint, UNCED habe ein weltweites Umdenken bewirkt, das unumkehrbar sei, ist es eher wahrscheinlich, daß die notwendigen tiefgreifenden Veränderungen im politischen Denken und Handeln ausbleiben werden. Das ergibt sich schon aus der unzureichenden Verbindlichkeit der getroffenen Vereinbarungen. Die notwendige Schwerpunktverschiebung in der bundesdeutschen Politik, die der gesamten Entwicklungs- und Umweltproblematik einen höheren und vor allem ressortübergreifenden Rang einräumt, ist ausgeblieben.
Die krassen Disproportionen zwischen Anspruch und Realität deutscher Entwicklungspolitik werden nicht zuletzt am Beispiel der Schuldenproblematik deutlich. Die Schuldendienstquote der Entwicklungsländer liegt derzeit bei etwa 20 % ihres Bruttosozialprodukts. Statt radikaler Entschuldung wenigstens der ärmsten Länder gewährt der Einzelplan 23 die Möglichkeit, 250 Millionen DM zu erlassen und diese Summe gegen Umweltschutzmaßnahmen in den begünstigten Ländern aufzurechnen. Auf der Einnahmenseite beabsichtigt das BMZ 1993 hingegen, 1,2 Milliarden DM durch Zinsen und Tilgungen aus Darlehen der bilateralen finanziellen Zusammenarbeit zu verbuchen.
Gleichzeitig soll Israel aus dem Einzelplan 60 1993 180 Millionen DM erhalten, die in die Kaufsumme von
880 Millionen DM für zwei U-Boote einfließen. Betitelt ist diese Ausgabe sinnigerweise mit „Kosten für den Golfkrieg". Mehr muß man dazu wahrscheinlich nicht sagen.
Wir müssen mit Bedauern feststellen: Es bleibt bei Kosmetik statt Ursachenbekämpfung, sowohl bei der Schuldenproblematik als auch bei allen von Minister Spranger immer wieder beschworenen Schwerpunkten deutscher Entwicklungspolitik. Daran können auch der Einsatz und die Opferbereitschaft von vielen deutschen Entwicklungshelfern nichts ändern.
Solange der Teufelskreis von Abhängigkeit, Verschuldung, Armut, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung nicht durch radikale Entschuldung und gleichzeitige Umgestaltung der weltwirtschaftlichen Strukturen nachhaltig durchbrochen wird, kann auch ein wesentliches Mehr an Mitteln im Einzelplan 23 letztendlich kein „sustainable development" hervorzaubern.
Ohne die Anstrengungen der Entwicklungsländer unterschätzen zu wollen: Die Impulse müssen vom Norden ausgehen. Nicht Erklärungen oder Auflagen in Richtung Süden sind die Antwort, sondern konkrete Veränderungen in Wirtschaft und Politik des Nordens auf nationaler und internationaler Ebene. Der Haushalt 1993 läßt hierzu aber jegliche Ansätze vermissen.
Der Entwicklungshilfeetat soll konkret um 202 Millionen DM steigen. Mit diesen Mitteln, die Herrn Minister Spranger 1993 zusätzlich zur Verfügung stehen sollen, könnte Herr Minister Rühe nicht einmal die Bekleidungskosten seiner Truppe abdecken, um den Bogen zum vorhergehenden Beitrag zu schließen; denn das ist wichtig.
Wenn es nicht umgehend zu grundlegenden Veränderungen in der Politik gegenüber dem Süden kommt, werden Somalia, Bangladesch und der Irak bald auf allen Kontinenten Synonyme haben. Eine Wohlstandsinsel, eine Festung Europa oder Großdeutschland sind dabei eine denkbar schlechte, weil kurzsichtige Scheinlösung.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Als nächster spricht der Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich finde es gut und richtig, daß die Haushaltsdebatte über den Verteidigungsetat in die Debatte „Politik für Deutschland" eingebunden ist.
Lassen Sie mich in der kurzen mir zur Verfügung stehenden Zeit im wesentlichen auf die folgenden Punkte eingehen: Vor der deutschen Einheit hatte die Bundeswehr etwa 500 000 Soldaten. In der DDR besaß die NVA 170 000 Soldaten. Hinzu kamen Grenztruppen in der Größenordnung von 60 000 Mann sowie Betriebskampfgruppen und Wehrsportgruppen in der Höhe von 400 000 Mann. Dies bedeutet, daß wir vor der deutschen Einheit auf deutschem Boden über 1,1 Millionen deutsche Soldaten hatten.
Die deutsche Einheit wurde erreicht, weil Bundeskanzler Helmut Kohl und Außenminister Hans-Dietrich Genscher in dem Kaukasus-Gespräch ein Absenken der Zahl der Soldaten der Bundeswehr im wiedervereinten Deutschland auf 370 000 anboten.
Wenn ich daraufhin den Verteidigungsetat betrachte, so stelle ich fest, daß etwas mehr als die Hälfte des Verteidigungsetats auf Personalausgaben entfallen. Unterstellt man einmal, daß wir in Deutschland wie vor der deutschen Einheit über 1,1 Millionen Soldaten unter Waffen hätten und diese Soldaten den gleichen Anteil an Material- und Betriebsausgaben verursachen würden wie die Bundeswehr, so käme man in den nächsten Jahren nicht zu einem Verteidigungsetat von etwa 50 Milliarden DM, sondern bei der dreifachen Personalstärke zu einem Verteidigungsetat in dreifacher Höhe, nämlich 150 Milliarden DM pro Jahr.
({0})
- Nein, das ist gar keine Milchmädchenrechnung.
({1})
- Verzeihung, wenn Sie das Beispiel nicht nachvollziehen können, dann kann ich es Ihnen nachher gerne schriftlich geben. Ich gehe gleich noch einmal darauf ein.
({2})
Die Größenordnung von 150 Milliarden DM für den Verteidigungshaushalt mag Ihnen exorbitant hoch vorkommen. Mir geht es genauso. Hierbei darf man allerdings nicht übersehen, daß im Jahre 1963 der Anteil des Verteidigungsetats am Bundeshaushalt 33 % betrug. Derzeit beträgt der Anteil des Verteidigungsetats am Gesamtetat 11,7 % mit weiter rasch sinkender Tendenz.
({3})
- Ja, das ist nur die Fortführung des Vernünftigen, was ich vorhin schon sagte. - 1995 werden es nur noch 10,5 % sein. Der dreifache Anteil des Verteidigungsetats würde einen Anteil von etwa 31 % ausmachen, mithin weniger als im Jahre 1963.
Aber durch die Wiedervereinigung sind eben keine 150 Milliarden DM erforderlich, sondern nur 50 Milliarden DM an Verteidigungsausgaben. Diese wiedervereinigungsbedingt eingesparten 100 Milliarden DM müssen wir zum Glück nicht für die Verteidigung ausgeben. Ein Betrag in dieser Größenordnung wird Jahr für Jahr vom Bundeshaushalt für die neuen Bundesländer zur Verfügung gestellt. Insofern kann man sagen: Die Friedensdividende muß nicht mehr erwirtschaftet werden. Die Friedensdividende ist schon erwirtschaftet, wobei ich allerdings hinzufügen möchte: Es muß auch weiter an einer erhöhten Friedensdividende gearbeitet werden.
({4})
In jüngster Zeit wurde ein Thema kritisch innerhalb der NATO, insbesondere von unseren amerikanischen Bündnispartnern, diskutiert, nämlich das Eurokorps. Lassen Sie mich an dieser Stelle nochmals ausdrücklich für die F.D.P. erklären, daß wir uns als Atlantiker betrachten. Die Vereinigten Staaten von Amerika waren uns immer ein fairer und verläßlicher Bündnispartner, und wir wünschen, daß dieses auch zukünftig so bleibt.
({5})
Deshalb verbinden wir mit dem Eurokorps die konkrete Erwartung, daß die Franzosen den Weg wieder in die NATO finden.
In jüngster Zeit ist auch viel über den Auftrag der Bundeswehr diskutiert worden. Insbesondere wurde von vielen Seiten die Erwartung geäußert, daß der Auftrag der Bundeswehr jetzt darin bestehen möge, für Hilfsmaßnahmen, für den Einsatz bei Umweltkatastrophen sowie für UNO-Einsätze tätig zu werden. Lassen Sie mich hierzu anmerken, daß der Auftrag der Bundeswehr durch diese neuen Tätigkeitsfelder nicht beschrieben wird. Es kann sich allenfalls um eine Ergänzung des Aufgabenfeldes der Bundeswehr handeln.
Der Auftrag der Bundeswehr besteht in der Landesverteidigung und in der Wahrnehmung der Pflichten als Bündnispartner innerhalb der NATO. Der Verteidigungsauftrag wurde nach dem Selbstverständnis der Bürger in der Vergangenheit im wesentlichen aus der Bedrohung durch den überrüsteten Warschauer Pakt definiert. Dieses ist heute zum Glück nicht mehr erforderlich. Gleichwohl haben uns die Erfahrungen in anderen Staaten in der Vergangenheit gelehrt, daß eine Demokratie wehrhaft sein muß. Die Weltpolitik läßt sich nun einmal leider nicht im voraus planen, und ebensowenig läßt sich eine Bundeswehr von heute auf morgen neu aufstellen und einrichten.
Sehr verehrte Damen und Herren, der Jugoslawienkonflikt bedrückt uns alle. Es ist den Medien zu danken, daß dieses kein verborgener Konflikt ist, sondern daß wir uns mit den Folgen dieser kriegerischen Auseinandersetzung täglich konfrontiert sehen. Wir sind uns wohl alle darin einig, daß dieser Konflikt so schnell wie möglich beendet werden muß. Ich bedanke mich deshalb bei Außenminister Klaus Kinkel für die aktive und engagierte Art, in der er sich um eine Beendigung dieses Konfliktes bemüht.
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Gerade bei diesem Thema ist allerdings in der Vergangenheit immer wieder der Ruf danach laut geworden, militärisch in Jugoslawien aktiv zu werden. Hierzu möchte ich Ihnen sagen: Säbelrasseln hilft nicht, schon gar nicht, wenn es mit den Säbeln anderer geschieht.
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Auch wenn die politischen Verhandlungen in Jugoslawien nicht zu endgültigen Ergebnissen geführt haben, so wird man sagen müssen, daß weiter versucht werden muß, auf politischem Wege, z. B. durch die Ausdehnung des Embargos, durch eine verschärfte Kontrolle des Embargos, durch Stärkung der Opposition und durch die weltweite Ächtung der Hauptverantwortlichen, auf den Frieden hinzuwirken.
({8})
Politik und Verhandlungen brauchen manchmal einen langen Atem. Wer garantiert eigentlich denjenigen, die einen militärischen Einsatz fordern, daß dieser schneller als Verhandlungen zur Beendigung des Konfliktes führt? Militärische Optionen sollten nur Ultima ratio der Friedenssicherung sein. Zur Durchsetzung des Friedens sind diese doch nur dann ernsthaft diskutierbar und können nur dann empfohlen werden, wenn sie die Chance bieten, den Konflikt zu beenden.
Zur Lagebeurteilung in Jugoslawien möchte ich den Generalinspekteur Klaus Naumann zitieren, der folgendes gesagt hat:
Auf keinen Fall darf dieser Krieg mit dem Beispiel des Golfkrieges aus dem vergangenen Jahr in Verbindung gebracht werden. Vorstellungen, mit gezielten operativen militärischen Eingriffen ein Einstellen der Kämpfe zu erreichen sind militärisch naiv. Dies gilt auch für die immer wieder geforderten präzisen Luftwaffenschläge.
Meine Damen und Herren, diesen Ausforderungen habe ich nichts hinzuzufügen.
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Wenn wir uns die Welt jetzt, knapp drei Jahre nach der deutschen Einheit ansehen, so sehen wir eine Menge von Risiken und Gefahren. Entgegen unsern ersten Hoffnungen ist die Welt nicht friedlicher geworden. Ethnische Konflikte und Nationalismen stellen Gefahren dar. Man sollte aber auch sehen, daß die Risiken in der Vergangenheit ungleich größer waren. Wir erlebten die Zeit des permanenten Rüstungswettlaufs und des zigfachen atomaren Overkills. Waffentechnik und Waffenentwicklung schritten munter voran. Mit der Begründung, sich immer besser verteidigen zu müssen, wurden immer neue und gefährlichere Waffensysteme entwickelt, produziert und stationiert.
Diese Zeit ist vorüber. Die riesigen Panzermengen östlich von uns in der alten Form sind nicht mehr vorhanden.
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- Das wäre auch richtig. ({11})
Wir sollten sehen, daß diese Situation auch ungeheure Chancen mit sich bringt, die aktiv zu gestalten sind. Wir müssen dazu beitragen, daß weltweit Menschenrechte gewährt werden, daß Minderheiten ihre
Rechte erhalten und daß der Nationalismus weltweit keine Chance mehr erhält.
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In diesem Jahrhundert hat sich Europa durch Kriege mehrfach auf grausame Weise verändert. Die Chancen, die sich jetzt durch die friedliche Beendigung des Kalten Krieges ergeben, müssen wir erkennen. Lassen Sie uns diese Chancen gemeinsam nutzen.
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Als nächster spricht der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn sich Mitglieder der Nachfolgepartei der SED so wie Frau Fischer zur Entwicklungspolitik äußern, dann ist das nicht nur amüsant, sondern in der dargebrachten Art auch eine Zumutung. Frau Fischer: Ideologie, Staatssicherheit und Rüstung waren im wesentlichen die Exportartikel der SED-Entwicklungspolitik. Nach intensiver Überprüfung konnten wir, sehr modifiziert, noch 64 Projekte mit einem Gesamtvolumen von 120 Millionen DM übernehmen. Ich empfehle Ihnen, das Thema Entwicklungspolitik erst einmal im Rahmen der Geschichte der SED aufzuarbeiten, bevor Sie Bundesregierung oder Bundestag wegen der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik Deutschland kritisieren.
({0})
Die Unmittelbarkeit und die Dimension der weltpolitischen Probleme stellt die Entwicklungspolitik vor neue Herausforderungen. Sie reichen von neuen Hungersnöten in Afrika über die Flüchtlingsströme in unser Land, von dem wirtschaftlichen und ökologischen Chaos in den ehemaligen Ostblockländern bis zu den weltweiten Bedrohungen durch die zunehmende Umweltzerstörung.
Dem Zusammenwachsen unseres Vaterlandes gilt zuallererst unsere Sorge. Dennoch dürfen wir demgegenüber die Probleme in den Entwicklungsländern nicht als zweitrangig abtun. Die gewachsene Verantwortung, die Deutschland in der Staatengemeinschaft zukommt, läßt dies nicht zu.
Der Flüchtlingsansturm und die zunehmende Verbreitung von Drogen z. B. beweisen, daß die aus Entwicklungsländern importierten Probleme auch das Leben der Menschen hierzulande betreffen. An die Entwicklungspolitik werden daher gestiegene Erwartungen gestellt. Sie muß sich dieser neuen Herausforderung nicht nur annehmen, um nur zu reparieren, sondern um zukunftsorientiert zu gestalten. Diese Einsicht erhöht auch den Stellenwert der Entwicklungspolitik.
Oft wird das Aufgabenfeld der Entwicklungszusammenarbeit aber noch mißverstanden. Dies zeigt das Beispiel Somalia. Soforthilfe in Notsituationen ist ein Gebot der Menschlichkeit. Die Bundesregierung stellt sich dieser Aufgabe. Humanitäre Hilfe ersetzt jedoch nicht uns ere langfristig angelegte Entwicklungszusammenarbeit.
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Beides wird noch immer verwechselt. Manche übersehen auch, daß Krieg, Chaos und Rechtlosigkeit Hilfe von außen nahezu unmöglich machen. Die Mittel für derartige humanitäre Hilfe, für das Kurieren an Symptomen, würden eigentlich gebraucht, um die Ursachen für weitere Notfälle zu beseitigen.
Wir haben dennoch in diesem Jahr über unser Budget Nahrungsmittelhilfe für Afrika in Höhe von rund 180 Millionen DM bereitgestellt. Auf Somalia entfallen davon 22 Millionen DM. Zusammen mit der sonstigen humanitären Hilfe von 20 Millionen DM und unserem Anteil an der EG-Nahrungsmittelhilfe von weiteren 23 Millionen DM sind dies insgesamt 65 Millionen DM. Dies kann sich wirklich sehen lassen.
Die Europäische Gemeinschaft leistet insgesamt für Afrika Nahrungsmittelhilfe in Höhe von 770 Millionen DM. Bei einem deutschen Finanzierungsanteil von knapp 29 % werden davon ca. 220 Millionen DM vom deutschen Steuerzahler finanziert. Es ist wichtig, daß auch diese über die EG erbrachten beträchtlichen Leistungen stärker in das Bewußtsein derer dringen, die behaupten, wir täten zuwenig für Afrika. Allerdings: Es erfüllt uns mit Sorge, daß Bürgerkriege und Naturkatastrophen der Entwicklungspolitik zunehmend die Rolle eines Reparaturbetriebes zur kurzfristigen Schadensbeseitigung aufzwingen.
Unser Ansatz in der Entwicklungspolitik bleibt es daher, die Lebensbedingungen der Menschen in den Entwicklungsländern auf Dauer zu verbessern. Wir wollen dort auf die Verbesserung der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Strukturen hinwirken. Dies beinhaltet in erster Linie den Kampf gegen die Armut; denn die Beseitigung der Armut und ihrer strukturellen Ursachen ist die Voraussetzung für eine sozial gerechte und damit stabile und friedliche Entwicklung.
Ohne Investitionen in den Menschen und ohne Angebote auch zu besseren Ausbildungsmöglichkeiten wird selbstbestimmte Entwicklung aus eigener Kraft nur bescheidene Fortschritte machen. Deshalb haben wir im Bildungssektor einen weiteren Schwerpunkt gesetzt und für die Rahmenplanung 1993 etwa 10,4 % des Etats in der Größenordnung von ca. 400 Millionen DM vorgesehen.
Inzwischen wurden nicht nur für die Förderschwerpunkte Grundbildung und berufliche Bildung, sondern des weiteren für die Bevölkerungspolitik, den Tropenwaldschutz, die Berücksichtigung soziokultureller Kriterien in der Entwicklungszusammenarbeit und für Afrika spezifische Konzepte erarbeitet, die bereits in der entwicklungspolitischen Praxis umgesetzt werden. Für Afrika sind 1992 40 % des bilateralen Etats mit einer Größenordnung von 1,431 Milliarden DM und für die Rahmenplanung 1993 41,5 % vorgesehen, das sind etwa 1,53 Milliarden DM, eine beträchtliche Steigerung.
Das neue Konzept des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit zur Armutsbekämpfung
werde ich Ihnen am 7. Oktober 1992 im Bundestagsausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit - es ist auch der Wunsch des Ausschusses gewesen, über dieses Thema zu diskutieren - vorstellen.
Meine Damen und Herren, zu den zentralen und globalen Herausforderungen der Zukunft gehören der Schutz und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Nicht erst seit der Konferenz in Rio wissen wir um die Wechselbeziehungen von Armut und Umweltzerstörung. Der Erdgipfel hat der Entwicklungspolitik das Mandat erteilt, die Agenda 21 umzusetzen. Viele Empfehlungen der Agenda greifen unsere entwicklungspolitischen Zielsetzungen auf. Die weltweite Entschlossenheit zu konsequenter Umsetzung stellt eine neue Qualität internationaler Partnerschaft dar. Die Beschlüsse von Rio zu verwirklichen gibt daher auch uns neue Impulse und neue Verantwortung.
Die Schwerpunkte Armutsbekämpfung, Bildung und Umwelt ziehen sich deutlich durch die Rahmenplanung der bilateralen finanziellen und technischen Zusammenarbeit der letzten beiden Jahre und werden in zahlreichen Ländern bereits durch konkrete Maßnahmen ausgefüllt.
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Es ist mir daher schwer verständlich, daß Kollegen - auch Sie, Herr Toetemeyer und Herr Hauchler - einerseits verlangen, die genannten Schwerpunkte zu fördern, andererseits im gleichen Atemzug aber öffentlich eine grundlegende Wende in der Entwicklungspolitik einfordern, dann wiederum begrüßen, daß wir die vom BMZ gesetzten sektoralen Schwerpunkte und die Kriterien, die Sie als richtig bestätigen, nun anwenden.
Wir müssen die Verantwortlichen in den jeweiligen Regierungen überzeugen, daß der Weg der ideologischen Fixierung, dem viele Entwicklungsländer viel zu lange gefolgt sind, in eine politische und wirtschaftliche Sackgasse geführt hat oder führt. Der Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion hat dem größten Teil der Menschheit zu klaren Einsichten verholfen. Deshalb hat sich eine große Zahl von Entwicklungsländern von sozialistisch-dirigistischen Konzepten abgewandt.
Unsere Entwicklungszusammenarbeit unterstützt diese Reformprozesse. Die Vergabe unserer Hilfe richtet sich nach Kriterien, die eine nachhaltige und effiziente Zusammenarbeit mit den Partnerländern gewährleisten sollen.
Unsere Ihnen bekannten Kriterien, die mittlerweile auch breite internationale Anerkennung und Zustimmung erfahren haben, sollen reformwilligen Ländern durch unsere Unterstützung positive Anreize zum Aufbau demokratischer, rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Strukturen geben. Das BMZ und die Durchführungsorganisationen der Entwicklungszusammenarbeit verfügen über die Erfahrung, die Instrumente und das Fachpersonal, um den Regierungen in den Entwicklungsländern, aber auch den Regierungen in Osteuropa und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion die geeignete Beratung und Hilfe zukommen zu lassen. Geld allein ist nämlich nicht das einzige Mittel für erfolgreiche Hilfe zur Selbsthilfe.
In vielen Gebieten der ehemaligen Sowjetunion sowie Mittel- und Osteuropas herrschen zur Zeit Verhältnisse, die denen der klassischen Entwicklungsländer in Afrika, Asien oder Lateinamerika nicht nachstehen. Das betrifft zum einen die strukturelladministrativen Bedingungen, zum anderen aber auch den Grad der ökonomischen und ökologischen Zerstörung. Wir müssen auch dort helfen.
Meine Damen und Herren, Entwicklungspartnerschaft bedeutet eine wechselseitige Übernahme von Verpflichtungen. Dazu stehen wir. Wir haben uns deshalb dafür eingesetzt, daß auch die Industrieländer das Ihrige tun, um Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer durch günstige externe Rahmenbedingungen zum Durchbruch zu verhelfen.
Die Bundesregierung hat auf dem Weltwirtschaftsgipfel in München bekräftigt, daß sie sich für eine verantwortungsvolle Zinspolitik und weitere Schuldenerleichterungen einsetzen will. Sie hat in den vergangenen Jahren bereits Schulden aus Kapitalhilfe in einer Größenordnung von über 9 Milliarden DM erlassen. Wir werden diesen Weg auch weiterhin beschreiten. So wird im Haushalt 1993 erstmals vorgeschlagen, Schulden von bis zu 50 Millionen DM gegen konkrete Maßnahmen des Umwelt- und Ressourcenschutzes zu erlassen.
Die Zahl der Flüchtlinge wird weltweit auf etwa 100 Millionen geschätzt. Diese Zahlen müssen wir als Appell verstehen, mit unseren Anstrengungen in der Entwicklungszusammenarbeit nicht nachzulassen, sondern sie zu verstärken. Die meisten dieser Menschen aus den Entwicklungsländern fliehen, weil sie das drückende Elend nicht mehr ertragen können. Sie fliehen, weil sie Hunger haben. Sie fliehen, weil sie in ihrer Armut ihre eigene Umwelt zerstört haben. Sie verlassen aber auch ihr Land, weil Bürgerkriege ihre Heimat verwüsten und sie dort keine Zukunftsperspektive mehr sehen und weil sie in den westlichen Industrieländern ein besseres Leben erwarten, auch wenn dies zum vielfachen Mißbrauch unseres Asylrechtes führt.
Die Probleme sind groß, und die Mittel sind begrenzt. Wir begrüßen die geplante Aufstockung des Entwicklungsetats. Ehrlicherweise müssen wir aber auch gestehen, daß es unsicher ist, ob die Mittelzuwächse des BMZ-Haushaltes und seine personelle Ausstattung auch künftig mit den gewachsenen und weiter wachsenden Herausforderungen Schritt halten können.
Wir sind dankbar, daß eine Vielzahl von Bürgern unsere Bemühungen durch private Initiativen und Spenden unterstützt. Das zeigt nicht nur, daß die Bedeutung der Entwicklungszusammenarbeit in breiten Kreisen der deutschen Bevölkerung erkannt ist. Das zeigt nicht nur, daß auch Kirchen und nichtstaatliche Institutionen bereit sind, sich weiter und mit großem Einsatz, mit viel Idealismus und Zuversicht für die Bekämpfung des Elends in der Welt einzusetzen. Es zeigt vor allem, daß die jüngsten Ausbrüche von Fremdenfeindlichkeit Ausnahmeerscheinungen sind und in der breiten Öffentlichkeit keinen Rückhalt
finden. Daß die öffentliche und veröffentlichte Meinung auf unserer Seite steht, ist für uns Bestätigung und Ermutigung zugleich.
Wir müssen verhindern, daß unser Zeitalter von Hunger, Armut, Flüchtlingselend und kriegerischen Konflikten beherrscht wird. Das schaffen wir nur, wenn wir weiterhin auf einen nationalen Konsens bauen können, der in der Entwicklungszusammenarbeit die notwendige Strategie zur Zukunftssicherung erkennt. Ich bitte in diesem Sinne um weitere Unterstützung durch den Deutschen Bundestag.
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Das Wort hat jetzt Professor Dr. Ingomar Hauchler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Strom der Menschen, die vor Krieg und Unterdrückung, Hunger und Hoffnungslosigkeit fliehen, ist in den 80er Jahren stetig angeschwollen. Die Flut wird in den 90er Jahren weiter steigen. Das ist gewiß. Sie wird, da sich die Zahl der Menschen, und zwar der armen Menschen, in den armen Weltzonen binnen einer einzigen Generation nahezu verdoppelt, zur Springflut werden, wenn es heute nicht gelingt, die Kriege, den Terror und das Elend von morgen zu verhindern.
Natürlich müssen wir endlich die Probleme im eigenen Lande besser lösen. Aber allein davon zu reden wäre fatal. Denn uns stehen noch weit größere Belastungen ins Haus, wenn wir nicht rechtzeitiger als bisher die Ursachen bekämpfen, die immer mehr Menschen veranlassen, im Süden und Osten ihre Heimat zu verlassen.
Die Sünden von gestern sind die Übel von heute,
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und die Unterlassungen von heute sind die Katastrophen von morgen.
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Wir dürfen nicht wieder und wieder nur an den Symptomen herumkurieren und dabei wieder versäumen, die eigentlichen Krankheiten zu heilen. Es gibt sonst ein schreckliches Erwachen, vor dem keine Mauer, kein Gewehr und kein Gesetz schützen können.
Der Osten und Süden tragen selbst ein gerüttelt Maß an Verantwortung für Flucht, Gewalt und Not. Menschenrechte werden verletzt, Kriege angezettelt, Ressourcen schlecht genutzt. Land, Brot und Chancen werden oft von Eliten skandalös verteilt oder eben nicht verteilt.
Das alles spricht uns aber im Westen natürlich nicht frei, Herr Bundesminister Spranger. Es geht auch nicht um eine abstrakte kollektive Schuld des Westens, von der ich rede, sondern es geht um eine ganz konkrete Politik ganz bestimmter Parteien, die seit den 80er Jahren regieren. Die eigentlich Schuldigen im Westen sind die konservativen Regierungen der großen Industriestaaten.
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Reagan und Bush, Thatcher und Major, Nakasone und Miyazawa, aber auch Kohl, Genscher und Lambsdorff haben den Todeshändlern nicht die deutschen Waffen aus der Hand genommen, mit denen oft gekämpft wird. Sie haben nicht den Protektionisten das Handwerk gelegt.
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Sie haben weggesehen, wie Afrika zum verlorenen Kontinent wurde. Sie haben mit Hilfe gewartet, bis die Sowjetunion zerbrach und Jugoslawien in ethnische Gewaltkonflikte zersplitterte. Sie haben die öffentliche Entwicklungs- und Armutshilfe zurückgefahren. Sie haben immer mehr einer brutalen Wirtschaftspolitik im Süden und jetzt im Osten das Wort geredet.
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- Das sind Sie, die Sie fragen.
Seit zehn Jahren haben der Bundeskanzler und die Regierungskoalition die Warnungen der SPD, endlich auch die Fluchtursachen zu bekämpfen, in den Wind geschlagen.
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Deshalb muß ich heute trotz der guten und schönen Worte von Minister Spranger das Sündenregister von CDU/CSU und F.D.P. verlesen, das ausweist, wieviel die Koalition unterlassen hat, um Fluchtursachen zu bekämpfen, und wie sehr sie dabei ist, die gleichen Fehler jetzt im Osten zu wiederholen.
Erstens. Die Koalition hat die Entwicklungshilfe an den Süden von 0,48 % des Bruttosozialprodukts auf einen Tiefstand von 0,38 % im vorliegenden Haushalt 1993 zurückgefahren, in einer Zeit, in der die Weltbevölkerung um über 500 Millionen Menschen gewachsen ist. Und sie ist hauptsächlich um arme Menschen gewachsen.
Der Bundeskanzler hat das gestern bestritten und dabei trickreich die Hilfe für den Süden mit der Summe der Hilfe für den Süden und den Osten vergleichen wollen.
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Das war der bekannte Buchhaltertrick. Es sollte - der Herr Bundeskanzler ist nicht da; ich darf ihn aber trotzdem ansprechen - unter Ihrer Würde sein, mit solchen Methoden dem Parlament die Wahrheit zu vernebeln.
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Der Anteil der Hilfe am Sozialprodukt, der für die Dritte Welt im Haushalt 1993 vorgesehen ist, sinkt. Wir lassen uns nicht verschaukeln.
Zweitens. Sie haben nicht die mögliche Vorsorge für alte und neue Notstandgebiete getroffen. So fliehen vor allem aus dem Osten und Südosten, aber auch aus Afrika und dem Nahen Osten immer mehr Menschen vor dem Hungertod.
Drittens. Sie haben die knappen Mittel der Entwicklungshilfe weiter in Subventionen für Großprojekte deutscher Konzerne gesteckt, in einer Zeit, in der
Deutschland ohnehin Weltmeister im Export war. Dieses Geld fehlte für Gesundheit, Bildung, Umweltschutz und Ernährung, also für den Kampf gegen Hunger und Hoffnungslosigkeit. Und Hoffnungslosigkeit ist die stärkste Triebfeder für Flucht.
Viertens. Sie haben in wenigen Monaten 17 Milliarden DM für einen Krieg am Golf ausgegeben, der nach den neuesten Schätzungen dem Nahen Osten mehrere Hundert Milliarden Dollar kosten wird.
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Wenn dort neue Armut zur alten Not kommt, ist das nicht verwunderlich.
Fünftens. Sie haben entgegen unseren ständigen Vorhaltungen Exporte von Waffen in die Dritte Welt zugelassen und auch verbotene Waffenexporte in Krisengebiete höchst lax kontrolliert. Nun töten und terrorisieren auch deutsche Waffen und treiben zur Flucht. Eine Schande ist das!
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Sechstens. Sie haben nicht verhindert, daß deutscher Giftmüll in die Dritte Welt exportiert wird. Auch ein Skandal! Wer würde nicht ein Land des Südens oder des Ostens verlassen wollen, das dem Norden zunehmend als Müllkippe dient?
Siebtens. Sie haben es unterlassen, wirksame Initiativen zu ergreifen, um die Schuldenkrise zu lösen, und rühmen sich noch, weil Sie ganze 15 bis 20 % der öffentlichen Kredite an die Dritte Welt erlassen haben, Kredite, die überhaupt nicht mehr einbringlich waren. Auch ein Buchhaltertrick!
Achtens. Sie haben dabei mitgewirkt, den Agrarexport aus der DrittenWelt in die EG, der für viele arme Entwicklungsländer vital ist, zu bremsen.
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Neuntens. Sie beschlossen im IWF, der Dritten Welt Strukturanpassungen aufzuerlegen, die grausame soziale und ökologische Folgen hatten.
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Zehntens. Sie vertiefen die Finanzfalle, in der Entwicklungsländer gefangen sind; denn die Hochzins-politik, die zuerst die Amerikaner und jetzt die deutsche Bundesregierung wegen skandalöser innerer Schuldenpolitik zu verantworten haben, verhindert Investitionen im Osten und Süden und läßt den Schuldendienst immer höher steigen.
Das sind die Fakten. - Nicht zuletzt aber hat die Koalition fortlaufend falsche Signale in die Welt gesandt über das „Modell Deutschland" als das Paradies, in dem offenbar alle Deutschen leben. Sie produzieren nicht nur Steuerlügen, sondern zunehmend auch eine Wohlstandslüge, und diese wird zum Sog für viele Menschen in der Welt, die zu uns kommen. Sie leugnen seit Jahren die Armut, in die schon vor der deutschen Einheit immer mehr Deutsche geraten sind.
Dieses Sündenregister benennt die Fehlleistungen der Parteien, die in Deutschland seit zehn Jahren regieren und es unterlassen haben, das Mögliche zu tun, um die Fluchtursachen zu bekämpfen.
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- Meine Damen und Herren, ich sage nicht, daß Sie allein schuld sind,
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aber Sie haben auch über IWF und viele Maßnahmen und Unterlassungen zur Not in der Welt mit beigetragen. Spätestens seit der Konferenz in Rio sollten wir um den engen Zusammenhang zwischen Armut, Umweltzerstörung, Bevölkerungswachstum und falscher Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik wissen.
Herr Kollege Hauchler, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Repnik?
Wenn mir das zeitlich nicht angerechnet wird, sehr gerne.
Natürlich nicht. - Bitte!
Herr Kollege Hauchler, ich bedauere so ein bißchen, daß Sie glauben, jetzt in diesem Ton hier sprechen zu sollen, wo wir uns doch in vielen Punkten in der Analyse einig sind.
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Deshalb würde ich Ihnen gern mehrere Fragen stellen.
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- Ja, eine Frage: Sind Sie mit mir der Meinung, daß unter den Ministern Warnke, Klein und Spranger der Bereich der Armutsbekämpfung und damit der Ursachenbekämpfung, die Sie angesprochen haben, einen großen Schub und eine völlig neue Priorität in der Entwicklungszusammenarbeit erfahren hat?
Und sind Sie mit mir der Meinung, daß unter denselben Ministern das drängende Thema Umwelt gerade auch als Fluchtursache überhaupt erst einen Stellenwert und einen Schwerpunkt in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit erfahren hat?
Und sind Sie mit mir der Meinung, daß gerade in den letzten Jahren das Thema ländliche Entwicklung - Strukturpolitik im ländlichen Raum, um die ländlichen Regionen attraktiv zu halten - überhaupt erst einen Stellenwert erfahren hat?
Und sind Sie mit mir der Meinung, daß keiner der Minister, die vor denen, die ich jetzt genannt habe, im Amt waren, dem Thema Bildung - Grundbildung - die Priorität eingeräumt hat wie die jetzigen Minister und daß das Thema Gesundheit ebenfalls in den letzten Jahren einen entscheidenden Schub erfahren hat?
Wenn Sie mit mir dieser Meinung sind, weil die Zahlen dafür sprechen, dann müßten Sie zwei Drittel Ihrer Rede in den Papierkorb werfen.
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Verzeihung, Herr Kollege Hauchler, ich bin leider gezwungen, eine geschäftsordnende Bemerkung zu machen.
Herr Kollege Repnik, wiewohl ich in Ihrer Intervention rühmend erwähnt wurde, darf ich doch darauf hinweisen, daß Zwischenfragen Fragen sein sollten.
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Herr Präsident, ich wollte nur ein Ja oder ein Nein vom Kollegen hören. Das reicht!
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Herr Präsident, Sie haben Verständnis, daß ich diese Fragen nicht mit einem Ja oder einem Nein beantworten kann; ich beantworte sie aber möglichst kurz.
Sehr geehrter Herr Kollege Repnik, Sie wissen, daß ich Sie und auch den Bundesminister Spranger schätze, weil Sie wirklich die richtigen Überschriften in Ihre Programme schreiben. Da können wir schon mitdenken, und wir unterstützen Bildung, Umwelt, ländliche Entwicklung und andere Punkte, die Sie genannt haben. Nur, leider begleiten Sie diese Dinge mit einer verheerenden und grausamen Wirtschaftspolitik in vielen Entwicklungsländern, die zu sozialen Katastrophen geführt hat, zu Bevölkerungswachstum und zur Vernichtung von Regenwäldern und Weidegebieten. Das ist ja die Tragik, daß Sie sich in der Regierung gar nicht durchsetzen können, daß Sie groß reden,
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und ich nehme Ihnen das persönlich auch als Engagement ab, daß Sie persönlich nett reden, aber in Wirklichkeit ist es so, daß der Sündenkatalog, den ich Ihnen - nicht Ihnen persönlich, sondern der Koalition - vorgehalten habe, der Sündenkatalog von zehn Jahren Schuld und Versäumnis, nach wie vor Bestand hat.
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten fordern endlich ein grundlegendes Umdenken in der Entwicklungspolitik, aber nicht nur ein Umdenken, sondern auch ein Umsteuern. Entscheidend wird sein, ob es Ihnen gelingt, den Entwicklungshaushalt so umzubauen, wie Ihre Überschriften lauten. Den Eindruck habe ich bisher nicht!
Meine Damen und Herren, was wir fordern, ist: Die Bundesrepublik muß ihrer Verpflichtung gerecht werden, 0,7 % des Sozialprodukts für die Dritte Welt einzusetzen, stufenweise bis zum Jahr 2000. Aus Solidarität, aber auch aus eigenem Interesse müssen wir mehr für den Süden und Osten tun, auch wenn es schwerfällt.
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Wir müssen weiter eine entwicklungspolitische Offensive für Afrika und andere Notstandsgebiete einleiten. Wir müssen mehr für regionale Zusammenschlüsse tun. Da höre ich bei Ihnen nicht viel. Regionale Wirtschaftspolitik ist auch die beste Voraussetzung für regionale Sicherheitssysteme!
Wir müssen unseren Einfluß besser nutzen, damit die Industrieländer ihre Märkte öffnen, damit die Zinsen herunterkommen, damit Investitionen und Kredite für die Dritte Welt wieder finanzierbar werden! Und die Bundesrepublik kann jetzt im September in Washington bei der IWF-Tagung beweisen, daß sie endlich Initiativen ergreift, damit die Dritte Welt aus der Schuldenfalle herauskommt, damit wir helfen, auch die Privatbanken in ein Entschuldungskonzept einzuspannen.
Entwicklungs- und Wirtschaftspolitik müssen und könnten in Zukunft wirklich mehr als bisher dazu beitragen, die Ursachen von Flucht, Gewalt und Not zu bekämpfen. Wir Deutschen allein können nicht alles tun. Wir müssen auch im eigenen Lande anfangen, die Probleme zu lösen, aber wir müssen mehr tun, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir dürfen uns nicht darauf beschränken, nur Symptome zu kurieren.
Schlußsatz: Rasches Bevölkerungswachstum, Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen, Hunger, Analphabetismus und wieder rasches Bevölkerungswachstum, so hat der frühere sozialdemokratische Entwicklungsminister Erhard Eppler in dieser Woche den Elendszirkel vieler Länder des Südens - und das wird auch den Osten betreffen - beschrieben. Diesen Elendszirkel aufzubrechen ist unsere gemeinsame Aufgabe. Da bieten wir Ihnen unsere Mitarbeit und unser Mitdenken an. Wir müssen handeln, aus Solidarität, aber auch aus eigenem Interesse. - Danke schön.
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Das Wort hat der Kollege Werner Zywietz.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Hauchler, Ihnen kann ich eigentlich nur in einem zustimmen: daß sich in der Tat Bedarf und Bedürfnisse auf dem Globus für Hilfe seitens der Industrieländer sehr rasant ausgeweitet haben. Ansonsten ist nicht allzuviel für Zustimmung verblieben, allerdings viel an Zustimmung für die Ausführungen des Ministers Spranger.
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Ich möchte aber auch hinzufügen, daß wir uns in einer solchen Debatte, in einer ersten Lesung über den Einzelplan 23, über den Einzelplan für die wirtschaftliche Zusammenarbeit, für die wirtschaftliche Unterstützung nach meinem Geschmack nicht verleiten lassen sollten, hier eine idealisierte, geradezu eine Idealdebatte zu führen mit einem Katalog von Wünschen,
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I hier so eine Versäumnischronik an die Wand zu projizieren und das eigene Land, das eigentlich so attraktiv ist, daß viele zu uns kommen wollen und daß viel von uns erwartet wird, hier als ein Jammertal, als ein Trauerdeutschland oder geradezu als ein Miesepeter-Deutschland darzustellen. So ist es jedenfalls bei mir angekommen. Das entspricht nicht der Realität.
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- Ich habe eben sehr genau zugehört. Sie haben in diesen Aufzählungen ein Bild der permanenten Versäumnisse vermittelt.
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Ich halte dem entgegen, daß diese Regierung und auch andere Regierungen über Jahre den Etat des Entwicklungsministeriums ausgeweitet und sich darum bemüht haben, das Instrumentarium zu verfeinern, es effizienter zu machen, den Anteil der privaten Unterstützung zu erhöhen, kurzum, die Wirkung der Entwicklungshilfe zu verbessern.
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- Das übernehme ich gern: Wie kein Land in dieser Welt. Deswegen paßt ein „Miesepeterbild" nicht dazu, und es hilft auch nicht für die Aufgabe, zu der wir uns als F.D.P. gerne bekennen und wir uns gerade als wiedervereinigtes Deutschland bekennen. Die eigenen Probleme sind ja im Verlauf dieser Haushaltsdebatte ausreichend geschildert worden, die Probleme, die das wiedervereinigte Deutschland im eigenen Land hat. Aber trotz dieser eigenen Probleme werden wir unsere Verantwortung gegenüber der Dritten Welt wahrnehmen.
Herr Kollege Zywietz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Hauchler?
Ja, gerne.
Herr Kollege, stimmen Sie mir nicht zu, wenn ich sage, daß der Entwicklungsetat in Höhe von rund 8 Milliarden DM etwa die Hälfte dessen - oder weniger - ist, was wir für Ausländer in diesem Lande und für Notprogramme für Ausländer ausgeben? Halten Sie das nicht für ein Mißverhältnis?
Das ist schwer vergleichbar. Die Ausländer, die Sie offensichtlich im Auge haben, kommen teilweise aus der Europäischen Gemeinschaft und aus angrenzenden Staaten. Bei der Entwicklungshilfe sprechen wir über das globale Problem und über ganz andere Regionen. Bei allem Respekt: Wir können nur einen Beitrag erbringen, einen gern erbrachten Beitrag, aber einen Beitrag im Rahmen unserer Möglichkeiten.
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Wir sind bei allem Respekt - wenn auch größer geworden und von einer gewissen ökonomischen und demokratischen Potenz - nicht das Land, das für alle Probleme auf der Welt mehr oder weniger allein
zuständig zeichnet. Wer dieses Bild projiziert oder sich solche Erwartungen aufbürdet, der wird in der Tat - wie es heute vormittag einmal geheißen hat - nicht über die Hürden springen, sondern darunter durchlaufen, weil er gegenüber den eigenen Erwartungen nicht standhalten kann. Es hilft niemandem, von solchem Bild und solcher verkehrten Ausgangsposition auszugehen.
Ich sage noch einmal ganz deutlich: Die F.D.P. bekennt sich gerade im wiedervereinigten Deutschland zur Dritte-Welt-Politik. Dieser Etat ist vom Ansatz her im Schnitt um 2,5 % gestiegen. Das ist eine Steigerung, die sich im Vergleich mit anderen Leistungen durchaus sehen lassen kann.
Herr Minister, der Haushalt macht schon einen recht guten Eindruck; aber nach den Beratungen im Haushaltsausschuß - wenn wir uns hier in der zweiten und dritten Lesung bei der Verabschiedung nach drei Monaten wiedersehen - könnte er möglicherweise noch besser sein.
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- Das ist nicht ausgeschlossen. Ich habe noch nicht gesagt, in welcher Form er besser gemacht wird. Das ist nicht nur eine Frage der Quantität - darüber werden wir noch zu diskutieren haben -, sondern auch eine Frage der Qualität. Das ist jetzt etwas ernster gemeint: Man darf sich nicht nur wieder die Statistiken heraussuchen und sagen, eine Steigerung um 2,5 % sei zu wenig, sondern man muß ein bißchen schauen, was effizienterweise geschieht. Bei allem Respekt sage ich erst einmal: Es ist eine öffentliche Aufgabe, zu der wir uns bekennen, aber es ist keine Aufgabe, die nur von öffentlichen Bediensteten durchzuführen ist.
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Darauf haben wir, wenn wir in Zukunft gesteigerte Effizienz haben wollen, in vielfältiger Weise zu achten. Öffentliche Aufgaben mit Steuergeldern erledigen, aber die Durchführung und das Mitziehen auch von privat orientierten Investitionen ist eine Sache, die über diesen Haushalt und vor allem über dieses Instrumentarium noch mehr in Schwung gebracht werden müßte, als es bisher geschehen ist.
Kundige - es sind ja nur Kundige hier - wissen, was damit gemeint ist, auch im Zusammenhang mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der GTZ und anderen mehr. Auch einem bescheidenen Haushälter ist diese Problematik nicht verborgen geblieben. Ich hörte ja vorhin von Ihrer Seite: Nun spricht ein Haushälter. Sie wollten vielleicht sagen: Die verstehen nicht so viel von den hehren Zielen der Entwicklungshilfe. Sie verstehen aber durchaus etwas von den Zahlen und davon wie man die Ressourcen des deutschen Steuerzahlers sinnvoll anwendet.
Ich möchte aber auch hinzufügen: Die Fläche, d. h. die regionale Notwendigkeit für Entwicklungshilfe hat zugenommen. Es ist ja nicht so, daß Sozialismus und Kommunismus nur in der Ex-DDR zusammenge8796 Deutscher Bundestau - 12. Wahlperiode Werner Zywietz
brochen sind, nur in der Sowjetunion; sie sind auch in Vietnam und in Kambodscha zusammengebrochen, in Kuba schlängelt sich das gerade noch so hin, in Nicaragua ist es in die Knie gegangen. Das heißt, man kann die Staatenliste aufzählen; überall ist der Bedarf für Hilfe zur Umstrukturierung, um zu anderen, nämlich demokratischen und marktwirtschaftlichen Formen zu kommen, gestiegen. Auf diese Hilfe stellen wir uns aus Überzeugung ein; aber sie bezieht sich nicht nur auf Geld, sondern wir müssen auch dafür Sorge tragen - ich sehe, die Zeit ist sehr knapp geworden; fünf Minuten sind wirklich nicht viel , daß das GATT-Abkommen in diesem Jahr abgeschlossen wird, d. h. daß die Exportmöglichkeiten aus den Entwicklungsländern nach Europa und auch in unseren Staat erleichtert werden,
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so daß über den Handel für die aufstrebenden Staaten und ihre Bevölkerung die Möglichkeit, aus Eigenanstrengung heraus ihren Status zu verbessern, vergrößert wird.
Am Schluß hätte ich beinahe noch gesagt: Bei aller Notwendigkeit wollen wir aber auch nicht alles nur idealistisch sehen. Ich gehöre nicht zu den Experten, die den ganzen Globus und alle Entwicklungsländer kennen, aber ich habe mir auch genügend Projekte in genügend Ländern angeschaut. Der Anteil - das sage ich einmal ganz hart - an korruptivem Verhalten bei dem, was mit den Entwicklungsgeldern geschieht, ist nach meinem Geschmack noch zu groß.
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Herr Kollege Zywietz, Ihre Redezeit ist nicht nur knapp geworden, sie ist seit langem abgelaufen.
Dann will ich mich hier, Herr Präsident, mit dieser realistischen Einschätzung fürs erste verabschieden und bedanke mich für Ihre Geduld.
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Das Wort hat die Abgeordnete Vera Wollenberger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine Bemerkung vorab. Ich empfinde es als ausgesprochenen Affront, daß ich als sicherheitspolitische Sprecherin unserer Gruppe unter „ferner liefen" auf die Rednerliste gesetzt wurde und erst zu Wort komme, nachdem die Adressaten meiner Rede und auch die allermeisten meiner Kollegen aus dem Verteidigungsausschuß längst den Raum verlassen haben. Ich empfinde das als eine ausgesprochene Mißachtung meiner parlamentarischen Tätigkeit.
Der Milliardenetat geht Jahr für Jahr - mit schönen Sparsamkeitsreden begleitet - im Reichstag durch. Über die Notwendigkeit einer Reichswehr läßt sich streiten, über die Beschaffenheit dieser Reichswehr gibt es nur eine Meinung: Sie muß geändert werden.
Tucholskys Worte sind die genaue Beschreibung der heutigen Situation; man muß nur „Reichs" durch „Bundes" ersetzen.
Erst gestern wurden wir mit einer Sparsamkeitsrede bedacht, wenn ich sie auch nicht unbedingt mit dem Adjektiv „schön" beschreiben würde. Finanzminister Waigel strich in dieser Rede besonders heraus, daß bei den Rüstungsausgaben über 2 Milliarden DM eingespart worden seien. Dem steht aber ein Wehretat von 50,8 Milliarden DM gegenüber. Zählt man die Militärausgaben nach NATO-Kriterien aus all den verschiedenen Einzelplänen zusammen, so belaufen sie sich auf die astronomische Summe von 65,7 Milliarden DM. Dieser Haushalt ist enorm, aber er ist ganz bestimmt kein enormer Sparhaushalt, wie Verteidigungsminister Rühe uns vorhin weismachen wollte.
So groß das Chaos in der Regierungskoalition, das durch die Löcher - oder besser gesagt: durch die Abgründe - in der Haushaltskasse verursacht wurde, auch ist: Im Sparhaushalt von Theo Waigel wird jedenfalls an militärischen Beschaffungen nicht gespart. Am Bundeshaushalt lassen sich die Prioritäten der deutschen Militärführung festmachen. Hier finden ihre strategisch-konzeptionellen Überlegungen ihren Niederschlag.
Mit ihrer Klausurtagung am 12. und 13. Januar 1992, der dritten seit November 1991, hatte die politische und militärische Leitung des BMVg die Rahmenplanung für die künftige Struktur und Ausrüstung der Bundeswehr abgeschlossen. Die sich aus den historischen Veränderungen in Europa ergebende Chance für grundsätzliche sicherheitspolitische Reformen oder gar für einschneidende Reduzierungen bei den Militärausgaben wurde vertan.
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Die seit 40 Jahren auf eine potentielle Bedrohung aus Osteuropa ausgerichteten militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr sollen zwar reduziert, jedoch keineswegs aufgehoben werden. Zugleich werden die Planungen an den neuen Bedrohungen, Risiken und Instabilitäten von außerhalb Europas orientiert. Diesen neuen Gefahren will man mit kleinen hochmobilen und flexiblen Verbänden und Waffensystemen entgegentreten.
Die Überlegungen zur zukünftigen Rolle der Bundeswehr ist dabei oft wesentlich von den im westlichen Bündnis stattfindenden Planungen für Out-ofarea-Einsätze bestimmt. In diesen Szenarien ist kein Platz für gravierende Einsparungen, im Gegenteil: Die Bundeswehr wird sogar noch teurer.
Trotzdem präsentierte die erwähnte Klausurtagung der erstaunten Öffentlichkeit als Ergebnis Einsparungen bei den Rüstungskosten von stolzen 43,7 Milliarden DM bis zum Jahre 2005. Die Rechnung hatte nur einen kleinen Schönheitsfehler: Für die meisten der eingesparten Militärwünsche hatten noch gar keine Finanzierungszusagen vorgelegen.
Summiert man die kürzlich beschlossenen Zahlen für die nächsten zwölf Jahre, so sollen 117 Milliarden
DM für die Beschaffung und 39 Milliarden DM für militärische Forschung und Entwicklung ausgegeben werden. Zur Verwirklichung dieser Vorstellungen müßte der Haushalt aber Jahr für Jahr über 50 Milliarden DM liegen, was kaum eine Absenkung der Militärausgaben genannt werden kann. Mit Sparsamkeit hat das alles jedenfalls nichts zu tun. Ich glaube auch nicht, daß die Äußerungen von Verteidigungsminister Rühe, der uns eine Konversion eines winzigen Teils des Militäretats in ein Wohnungsbauprogramm vorgeführt hat, an dieser Feststellung etwas ändern.
Gestatten Sie mir, die Klagelieder der Teilstreitkräfte über die Ergebnisse der Planungskonferenz zu übergehen und mir weiteres Jonglieren mit den Haushaltszahlen zu ersparen. Über die Beschaffenheit der Bundeswehr gibt es eine Meinung: Sie muß geändert werden. Über das Wie der Veränderungen gehen die Meinungen dagegen weit auseinander.
Die Bundesregierung - das beweist ihr Verteidigungshaushalt - rückt trotz der radikal gewandelten sicherheitspolitischen Lage in Europa nicht von der traditionellen Konzeption einer Verteidigungsarmee ab. Diese Armee soll lediglich mit mobilen Einsatztruppen garniert werden, die später weltweit eingesetzt werden können. Die Pflicht zur weltweiten Wahrnehmung von Verantwortung wird das genannt. Aber die simple Erkenntnis, daß die beste Wahrnehmung von weltweiter Verantwortung darin besteht, das überlebte Militärmonster Bundeswehr in seiner jetzigen Form zu verabschieden, ist der Bundesregierung noch nicht gekommen. Im Gegenteil: Um die Armee, in der längst ein innerer Zerfallprozeß eingesetzt hat, aufrechterhalten zu können, klammert sich die Bundesregierung an die überlebte Wehrpflicht wie eine Ertrinkende an den Strohhalm und nimmt mit der Irrationalität einer Ertrinkenden den politischen Ärger in Kauf, den ihr die wachsende Wehrungerechtigkeit und die Einbeziehung von Wehrpflichtigen in Out-of-area-Einsätze bringen wird.
Ich möchte an dieser Stelle meine christlichen Kollegen von der Regierungskoalition an die Botschaft Jesu erinnern, die lautet: Fürchtet euch nicht!
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Fürchtet euch nicht vor dem Vakuum, das der zusammengebrochene Gegner aus dem Kalten Krieg hinterlassen hat! Fürchtet euch nicht vor einer gründlichen Revision der militärischen und ideologischen Relikte der Ost-West-Konfrontation! Fürchtet euch nicht vor den Chancen einer gerechten Neuordnung der Welt! Fürchtet euch nicht vor den Mitteln friedlicher Konfliktlösung!
Die Bundesregierung möchte das sogenannte Asylantenproblem klären, aber sie fürchtet sich, die Tatsache, daß Deutschland längst ein Einwanderungsland geworden ist, anzuerkennen. Lieber will sie den edelsten Teil der deutschen Verfassung opfern als ein Einwanderungsgesetz beschließen.
Die Bundesregierung möchte den Krieg in Jugoslawien austrocknen, aber sie fürchtet sich offensichtlich vor der konsequenten Ächtung des Embargobruchs durch den NATO-Partner Griechenland. Außenminister Kinkel hat heute in der Debatte gesagt, daß nur eine völlig wasserdichte Blockade des Aggressors dem Blutbad in Restjugoslawien ein Ende setzen kann. Was hindert denn die Bundesregierung, was den Außenminister daran, sich konsequent für eine solche Blockade einzusetzen? Mit ein paar Kontrollschiffen mehr ist es wohl nicht getan. Es fehlt entschiedener politischer Druck auf Griechenland.
Die Bundesregierung möchte einen Platz für Deutschland im Weltsicherheitsrat, wie wir heute von Herrn Kinkel wieder gehört haben, zwar nicht prioritär, aber sekundär. Aber wenn sich die Bundesregierung für eine UNO-Reform einsetzt, dann müßte ihr wohl klar sein, daß bei einer solchen Reform vor allen Dingen der Sicherheitsrat verändert werden muß. Fast 18 Jahre ist die Bundesrepublik Mitglied der Vereinten Nationen, und seit dieser Zeit wird immer wieder einmal über einen bundesdeutschen Beitrag zu den UN-Friedenstruppen diskutiert. Zur Zeit erleben wir dort lediglich eine neue Etappe auf dem Weg, die Bundeswehr für militärische Missionen außerhalb der Beschränkungen des Grundgesetzes einzusetzen.
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Fatal an dieser Diskussion ist aber, daß es der Bundesregierung bei der Änderung des Grundgesetzes weniger um die Stärkung der UNO und deren friedenserhaltenden Maßnahmen gelt - dies war schon zu Ihren Oppositionszeiten und ist auch heute nur schmückendes Beiwerk -, sondern es ging von Anfang an darum, bundesdeutsche Soldaten für die Durchsetzung nationaler Interessen, egal, unter welchem organisatorischen Dach, weltweit einzusetzen.
Das wirklich Perfide an dem neuen Versuch ist, daß man mit diesen Vorschlägen die UNO instrumentalisiert. Die hohe Akzeptanz der bundesdeutschen Bevölkerung gegenüber den unbestrittenen Leistungen der Vereinten Nationen - ich denke beispielsweise an die Verleihung des Friedensnobelpreises -wird ausgenutzt, um nationalen Interessen künftig auch mit militärischen Mitteln Nachdruck zu verleihen, etwa um deutsche Handelsschiffe auf hoher See zu schützen.
Will man die Regelung künftiger Konflikte nicht den Supermächten überlassen, dann gibt es zur Stärkung der Vereinten Nationen keine Alternative. Deshalb tritt die Mehrheit unserer Gruppe für eine bundesdeutsche Beteiligung an friedenserhaltenden Missionen der UNO ein. Ein weitergehender Einsatz der Bundeswehr z. B. im Rahmen einer westeuropäischen Eingreiftruppe der WEU oder der EG oder bei Outof-area-Einsätzen der NATO, bevor die Mittel friedlicher Konfliktlösung überhaupt ausgeschöpft sind, ist für uns völlig indiskutabel und wird von uns entschieden abgelehnt.
Herr Außenminister Kinkel hat heute zwar betont, daß er Kampfeinsätze nur im äußersten Notfall für gerechtfertigt hält. Aber warum wird dann über das Mittel im äußersten Notfall
Frau Kollegin, Sie haben Ihre Redezeit schon ein gutes Stück überschritten.
- sofort - eifrig diskutiert, über die Mittel, die geeignet wären, diesen Notfall zu verhindern, aber nicht?
Otto Graf Lambsdorff hat heute Deutschland als ein Land mit bürgerkriegsähnlichen -
Frau Kollegin, wenn der Präsident auf den Schluß hinweist, sollte wirklich nur noch ein Satz folgen.
Ein Satz: Eine Regierung, die nicht fähig ist, mit solchen bürgerkriegsähnlichen Szenen fertig zu werden, sollte mehr über die inneren Probleme nachdenken als darüber, Konflikte anderer Völker lösen zu wollen. Sonst könnten eines Tages UNO-Truppen nötig sein, um die Deutschen zur Raison zu bringen.
Vielen Dank.
({0})
Ich muß hier zur Klarstellung auf Ihre einleitende Bemerkung eingehen: Ich habe das nicht so ganz verstanden. Ihre Gruppe hatte Herrn Poppe angemeldet, und der hat zum Verteidigungshaushalt auch gesprochen.
({0})
- Er hat nicht gesprochen?
({1})
- Entschuldigung, ich will jetzt darüber keine Debatte führen. Ich stelle nur fest: Die Mitglieder der Gruppe müssen sich unter sich einigen, wer zu welchem Etat spricht. Das ist nicht eine Frage, die hier oben geklärt wird.
({2})
Wenn Sie sich unter sich nicht einigen können, können Sie das nicht dem Hause vorhalten.
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Als nächster hat der Kollege Professor Dr. KarlHeinz Hornhues das Wort.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Toetemeyer, wenn Sie Ihrem Kollegen Hauchler das gesagt hätten, bevor er geredet hat, hätte das vielleicht helfen können. Bei mir ist das nicht nötig.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich stehe hier in Vertretung des Kollegen Pinger, der heute nicht reden kann, weil er ins Krankenhaus eingeliefert worden ist. Ich glaube, in Ihrer aller Namen zu sprechen, wenn ich ihm von dieser Stelle aus gute Besserung wünsche.
({0})
Lassen Sie mich ein paar Anmerkungen zu dem Etat, dem Haushalt und der Politik der Bundesregierung in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit machen.
Erstens. Ich habe früher jahrelang selber im Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit gesessen
({1})
- das meine ich natürlich, Herr Kollege Repnik - und weiß, wie wir, Herr Kollege Köhler, Herr Kollege Holtz, darum gerungen haben, Elemente, wie sie jetzt Bestandteil unserer Politik sind - die Sie eingebracht haben, Herr Minister -, überhaupt zum Tragen zu bringen. Ich weiß, wie wir oft darunter gelitten haben, wie wenig das unter den Auspizien des Kalten Krieges und anderer Dinge gelang, und daß es heute immer noch schwer ist, die Grundsätze, diese neuen Kriterien, die Sie in die Politik mit unserer vollen Unterstützung verstärkt hineinbringen, durchzusetzen. Dafür sage ich Ihnen, dem Kollegen Repnik und vor allen Dingen der Kollegin Geiger herzlichen Dank; denn ich weiß, mit welchem Engagement da gefochten und dafür eingetreten wird.
({2})
Herr Kollege Hauchler, es wäre gut - Sie können es auch besser, Sie wissen es sogar besser; das ist ja das Schlimme -, wenn wir, die wir es oft schwer haben, diese Thematik hinreichend überzubringen, ein bißchen mehr zusammenstünden, als in die übliche Keilerei zu verfallen, die den Mitbürgern, soweit sie dies hören, sowieso längst zum Hals heraushängt.
({3})
Ich will unterstreichen, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß die neuen Kriterien, die die Politik der Bundesregierung kennzeichnen, inzwischen auch ihre Anerkennung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gefunden haben und auch dort Maßstab für das gemeinsame politische Handeln in Europa geworden sind.
Ich halte es von entscheidender Bedeutung, noch einen Punkt herauszugreifen, damit er in aller Fairneß, aber in aller Deutlichkeit hier nach vorne gebracht wird. Alle Appelle an Solidarität sind wichtig; damit kann man etwas bewegen, Geld zusammenbekommen, Verständnis erwecken. Aber dies alles hilft nicht, wenn dort, wo etwas zustande kommen soll, nämlich die Hilfe zur Selbsthilfe, bei der Selbsthilfe dann eben nichts da ist oder wir nicht genau hingukken, ob dann tatsächlich der Wille, sich selbst, dem eigenen Volk, den Menschen im eigenen Land zu helfen, überhaupt hinreichend vorhanden ist. Ich glaube, das ist eine wichtige Sache, daß wir dort auch freier und ein wenig konsequenter als bisher handeln können.
Ich will einen zweiten Punkt unterstreichen, weil ich ihn für wichtig halte. Zugleich möchte ich auch dafür danken, weil gerade die Bundesregierung hier in
besonderer Weise Initiative gezeigt hat: Die Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio. Ich habe noch manchen hämischen Vorton zu dieser Konferenz im Ohr.
Ich möchte nicht versäumen, auch an dieser Stelle allen Beteiligten, auch dem Kollegen Minister Töpfer, dem Kollegen Repnik und anderen, die an dieser Konferenz beteiligt waren, wie wir wissen, in führender Weise, Dank zu sagen. Ich möchte Ihnen versprechen, daß wir tun werden, was wir können, um das, was dort im Zusammenhang mit Umwelt und Entwicklung als Zielprojektion ins Auge gefaßt worden ist, umzusetzen. Wir werden in aller Konsequenz versuchen, dieses zu tun, auch wenn es hier und da noch etwas schwerfällt.
Ich muß unseren Bürgern etwas sagen, die oft fragen: Ja, wozu das ganze Geld? Und dann bekommen sie immer die schönen Beispiele über Mißbrauch und darüber, daß alles danebengegangen ist.
({4})
Angesichts der Diskussionen, die wir auch in unserem Land haben, möchte ich vielleicht noch ein Argument anführen. Ich würde sagen: Liebe Leute, wenn ihr euch immer wieder fragt, warum denn diese Anstrengung, warum denn unser Steuergeld für irgendwelche Länder da draußen aufwenden, dann meine ich, ist es wichtig, daß wir begreifen, wenn wir diesen Menschen dort helfen, bescheiden, aber so gut wir können, in Afrika, in Asien, in Latein- und in Mittelamerika, wenn wir ihnen eine Chance auf Zukunft zu Hause geben, daß wir uns auch ein bißchen davor bewahren, mit dem Problem kämpfen zu müssen, daß so viele bei uns Zukunft zu finden glauben.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte mit einem Dank schließen, einem Dank an die vielen tausend Landsleute, vor allem den jungen Männern und Frauen, die für uns als Entwicklungshelfer draußen tätig sind, oft weit weg von zu Hause, oft mutterseelenallein. Ich habe gerade in den letzten Tagen ein paar getroffen, die so ganz allein irgendwo mitten im Busch in Afrika sitzen und mit großem Idealismus, mit einer unglaublichen Liebe zu ihrer Aufgabe versuchen, für die Menschen dort, aber auch für uns, etwas zu tun. Ihnen gilt unser Dank in besonderer Weise. Genauso möchte ich all denen danken, im Ausschuß und drumherum, im Ministerium, die, oft auch ein wenig von anderen Ereignissen überrollt, im Schatten stehen und unverzagt an einer Aufgabe weiterarbeiten, die bei näherer Betrachtung vielleicht eine der langfristig wichtigsten ist, die wir in der Politik überhaupt haben.
Herzlichen Dank.
({6})
Ich erteile dem Abgeordneten Konrad Weiß das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Seit zwei Tagen, mehr als 15 Stunden, reden wir in diesem Haus über den Bundeshaushalt 1993. Dabei ließe sich die Situation, denke ich, auch in wenige und einfachere Worte fassen, als sie bisher hier gesagt worden sind.
Erstens, es ist zu wenig Geld da. Zweitens, es wird zuviel Geld ausgegeben. Drittens, es wird Geld ausgegeben, das gar nicht da ist. Und viertens, und das auch noch für die falschen Sachen.
Ich will die komplizierte Sache mit dem Bundeshaushalt nicht simplifizieren, aber manchmal bin ich schon der Meinung, daß man mit ein wenig gesundem Menschenverstand weiterkäme. Denn wo kein Geld da ist, da kann doch keines ausgegeben werden. Da muß gespart werden oder es müssen Einnahmen erfolgen.
Warum sagt die Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern nicht klipp und klar, was notwendig ist? Warum hat der Bundesfinanzminister nicht den Mut zur einfachen Wahrheit der Zahlen? Sich zu verschulden, ist immer die schlechteste Lösung, erst recht, wenn man genau weiß, daß einmal die Kinder und Enkelkinder die Pleite auszubaden haben. Mit jeder Mark, mit der wir uns heute verschulden, belasten wir die, die nach uns kommen. Mit jedem Kilometer Autobahn, den wir heute bauen, vermindern wir den Generationen nach uns die Lebensgrundlagen, und das nur, um ein paar Minuten schneller von Dresden nach Hamburg oder von Stralsund nach Magdeburg zu kommen. Der Bundesverkehrsminister hält mehr als ein Zehntel des Bundeshaushalts. 44,2 Milliarden DM kosten uns seine kybernetischen Hobbys und seine Wiederwahl. Ist das Herr Krause wirklich wert?
({0})
Auch der Verteidigungsminister hat wieder einen kräftigen Griff in die Kasse getan. Dabei sind ihm die Feinde längst fort- bzw. zugelaufen. 50,8 Milliarden DM kostet uns die Nostalgie der Generale, als wüßten wir nichts Besseres mit unserem Geld anzufangen.
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Sie müssen sich ja nicht von heute auf morgen von der Bundeswehr trennen. Aber ein paar Milliarden bescheidener sollten Sie doch sein.
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Es ließe sich also sparen, meine Damen und Herren, und mit einer vernünftigen Steuer- und Investitionspolitik ließen sich Mittel lockermachen. Doch das setzt voraus, daß die Bürgerinnen und Bürger dem Kassenwart der Nation vertrauen, daß sie Gewißheit haben, daß ihr Geld nicht vergeudet und nicht in den Sand gesetzt wird oder im dicken Bauch der Bürokratie verschwindet, sondern daß es sicher und zukunftsorientiert investiert wird.
Wo könnte sicherer und sinnvoller und vernünftiger investiert werden als in der Jugend- und Familienpolitik, in der Bildung und Forschung, im Umweltschutz und in der Entwicklungspolitik? Den 95 Milliarden DM für Verkehr und Verteidigung, den beiden VFonds, stehen ganze 1,3 Milliarden DM für Umwelt und 8,5 Milliarden DM für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegenüber - ein Zehntel. Dabei ließ sich der
Konrad Weiß ({3})
Kanzler vor gerade drei Monaten in Rio als Vorreiter in der Umwelt- und Entwicklungspolitik feiern.
Gemessen an seinen hehren Worten ist der Einzelplan 23 des Haushalts eine herbe Enttäuschung. In Rio hatten sich die Industrieländer an ihr 20 Jahre altes Versprechen erinnert, 0,7 % des Bruttosozialprodukts für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen. Deutschland bleibt auch im 21. Jahr mit 0,4 % des Bruttosozialprodukts deutlich unterhalb des gesteckten Ziels. Zwar werden 1993 200 Millionen DM mehr als in diesem Jahr zur Verfügung gestellt, aber im Verhältnis zum Gesamthaushalt ist das nicht einmal ein Hundertstelpunkt mehr.
Die Mittel, meine Damen und Herren, für die globalen Umweltprojekte werden 1993 auf 58,3 Millionen DM aufgestockt. Auch wenn die Vergabe dieser von der Weltbank kontrollierten Mittel nicht an neue Konditionen geknüpft werden darf, kann die Vergabe der Mittel von den Gebern bestimmt werden. Wir erwarten, daß die Bundesregierung dies nutzt, um sich konsequent für eine Demokratisierung der globalen Umweltprojekte einzusetzen.
Der Beitrag, den Deutschland zur Entschärfung der Schuldenkrise leistet, ist wiederum gänzlich ungenügend. Die Bundesregierung hätte die Möglichkeit, auf Forderungen aus der finanziellen Zusammenarbeit gegenüber ärmeren Entwicklungsländern in einer Höhe bis zu 50 Millionen DM zu verzichten, sofern das Schuldnerland die Mittel zum Schutz und Erhalt der Umwelt einsetzt. Auch angesichts der angespannten Haushaltslage in Deutschland sollten wir uns entschließen, den ärmsten Ländern alle Schulden aus der bilateralen Hilfe unkonditioniert zu erlassen.
({4})
- Aber nicht allen.
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- Aber, Herr Kollege Repnik, es gibt doch außer den LDCs und denen, denen wir die Schulden erlassen haben, noch andere.
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- Das ist natürlich etwas. Aber ich denke, es ist nicht genug angesichts der Probleme, die wir in den Ländern haben. Auch das ist doch richtig.
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Die zusätzlich erforderlichen Mittel für Umweltprojekte, für die Förderung von Frauenprojekten in der Dritten Welt, könnten durch ein bewußtes Sparprogramm dieser Regierung zugunsten der Entwicklungszusammenarbeit freigesetzt werden. In Rio war es schick, den verschwenderischen Konsumstandard des Nordens zu kritisieren und ihn für das wachsende Ungleichgewicht zwischen Nord und Süd verantwortlich zu machen. Auch angesichts des wirtschaftlichen Desasters in den ostdeutschen Ländern dürfen wir die Konferenz von Rio mit ihren Einsichten und Versprechungen nicht vergessen.
Der vorliegende Haushalt bietet nach unserer Auffassung weder für die Schuldenkrise noch für die Umweltzerstörung wirklich ausreichende Lösungen an. Deutschlands Beitrag ist minimal und - gemessen an den globalen Problemen - nicht viel mehr als ein Alibi. Eine ausreichende Investition in die Zukunft jedenfalls ist er nicht.
Vielen Dank.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Lowack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eine kurze Anmerkung zum Redebeitrag von Ingrid Köppe. Sie hat vorhin gesagt, Deutschland sei eines der reichsten Länder. Ich glaube, wir sollten das korrigieren. Deutschland ist ein bemerkenswert armes, wenn auch sehr schönes Land. Wir haben fast keine Rohstoffe; auch Wismuth hat seine Tätigkeit eingestellt; Braunkohle oder auch Steinkohle sind nicht mehr so wichtige Energieträger. Aber ich glaube, wir haben Reichtum in und mit unserer Bevölkerung, die es fertigbringt, mit harter Arbeit und mit dem Willen zu einer guten Ausbildung aus einer an sich schwierigen Situation das Beste zu machen. Ich glaube, daß ich deshalb darauf hinweisen sollte, weil wir gerade in der Entwicklungshilfe sehr oft den Fehler gemacht haben, Dinge zu bezuschussen, mit denen teilweise Strukturen zerstört wurden, ohne daß Neues aufgebaut werden konnte. Ich bin der Meinung, deswegen sollten wir die Ausbildung des Menschen viel mehr in den Mittelpunkt der Entwicklungshilfepolitik stellen.
Ich wollte eigentlich zu einem ganz anderen Thema sprechen. Theo Waigel hat sich gestern ja in außerordentlich kritikloser Nibelungentreue zum Kanzler geübt und damit seine Anwartschaft auf das Kanzleramt wohl wieder ein Stück nach vorne gebracht. Jeder der drei Kronprinzen macht es eben auf seine Weise; er macht es auf diese Weise. Ob er damit auf Dauer Glück hat - auch bei der CSU -, ist die große Frage. Ich fürchte fast, daß sie beim nächstenmal große Schwierigkeiten haben wird, in Bayern ihre 40 % noch zu halten, denn eines sollte sie nicht vergessen: Liebe Michaela, der eigentliche Stamm der CSU - bevor die nationale Komponente und die urbayerische Komponente dazukamen - waren, wie die Statistik ausweist, 28 %. Wir wollen einmal sehen, was herauskommt, wenn man genau die Gruppen innerhalb der Partei ständig vergrätzt, die diese Komponenten darstellen.
({0})
Wenn wir den Worten des Finanzministers gelauscht haben, dann kommen wir zu dem Ergebnis, daß wir eigentlich überhaupt keine Probleme haben. Danach ist der Haushalt fest im Griff. Dann werden wir mit blühenden Landschaften in den neuen Bundesländern und glänzenden Finanzen in das Wahljahr 1994 hineinmarschieren. Dabei täte die Bundesregierung mit einem anderen Schritt etwas viel Besseres, und zwar auch im eigenen Interesse: Sie müßte im Grunde
genommen bereit sein, ganz von unten und ganz von vorne anzufangen. Sie müßte ihrer Bevölkerung endlich die Wahrheit sagen. Sie könnte dann versuchen, stufenweise über den Wahltermin hinaus zu einer Lösung der Probleme zu kommen.
Aber von alledem tut sie nichts. Sie kaschiert, sie verschleiert, sie belügt sich - das ist oft das schlimmste - und die Nation. Sie bietet nicht nur ein Trauerspiel, sondern sie bewirkt auch bereits erheblichen Schaden für unser Volk. Wie ruiniert man eine Volkswirtschaft?, fragte Michael Jungbluth in seinem ZDFKommentar vom 7. September mit Blick auf die Eskapaden der Bundesregierung. Wozu brauchen wir noch die Bundesregierung?, fragen in der Zwischenzeit die Leute auf der Straße. Begreift die Bundesregierung nicht, daß immer mehr Menschen auf die Straße gehen, weil sie glauben, daß die Bundesregierung nicht mehr in der Lage ist, die einfachsten Probleme zu lösen?
In den neuen Bundesländern kommt noch etwas dazu. Wer oft drüben ist - ich darf das auch für mich in Anspruch nehmen -, der spürt eines: Er spürt nämlich, daß die Menschen sagen, wir haben die Einheit auf der Straße erkämpft, und zwar gegen die Politik, auch gegen eine Politik, die durchaus mit der Bundesregierung, und zwar bemerkenswert eng - ob das der Fall war, ist im einzelnen noch nicht aufgeklärt-, kooperierte. Die Menschen begreifen allmählich, daß die ungeheuren Probleme, die aus der Einheit Deutschlands für ganz Deutschland resultieren, längst nicht mehr nur daraus entstanden sind, daß unterschiedliche gesellschaftliche Systeme zusammengebracht werden, sondern daraus, daß es hausgemachte Probleme sind, die damit gar nichts zu tun haben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, im Jahre 1990 gab es die Direktive im Kanzleramt, das zu tun, was notwendig ist, um die Wahlen möglichst sicher zu gewinnen. Das, was der Bundeskanzler getan hat, um einen möglichst frühen Wahltermin, nämlich schon den 14. Oktober, zu erreichen, hat dazu geführt, daß wir uns auf Verpflichtungen eingelassen haben, daß wir Entscheidungen getroffen haben, die uns immens schaden und die uns noch sehr viel schaden werden. War es nicht der Bundeskanzler, den ich daran erinnern muß, daß er falsche Schritte eingeleitet hat, um das Risiko einer verlorenen Wahl möglichst gering zu halten? Ihn holen heute diese Sünden der Vergangenheit ein.
Wo sind denn eigentlich die Kollegen der Fraktion, die Anfang Juni 1990 in Moskau waren und denen man dort sehr detailliert gesagt hat, die Gesamtkosten für den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Deutschland lägen bei maximal 4 Milliarden DM? War es dann nicht der Herr Bundeskanzler, der es fertiggebracht hat, wegen ganz anderer Absichten dabei aus diesen 4 Milliarden DM ein Paket zu machen, das schon heute Verpflichtungen von über 80 Milliarden DM mit sich gebracht hat, und zwar ohne jede Rückendeckung durch dieses Parlament? Das Parlament ist erst gefragt worden, als es hinterher in einem Solidaritätsgesetz darum ging, die Absicherung herzustellen. Es trug eine falsche Überschrift, denn die meisten haben ja geglaubt, es ginge um die Solidarität mit unseren neuen Brüdern und Schwestern. In Wirklichkeit aber ging es darum - wie es im Gesetz auch hieß, aber nur versteckt und für die meisten nicht begreifbar -, zur Entwicklung von Demokratie in Ost- und Mittelosteuropa beizutragen.
Wie ist es eigentlich um die horrenden, bis heute überhaupt nicht vorhersehbaren Kosten für den angeblich so notwendigen Umzug von Regierung und Parlament nach Berlin bestellt? Warum weigert sich die Bundesregierung, in der Regierungsbefragung hierzu irgendwelche Kostenangaben zu machen? Warum weigert sie sich, einen Gesetzentwurf vorzulegen, aus dem die Abläufe und die Gesamtkosten sowie die Auswirkungen auf Zigtausende von Arbeitsplätzen deutlich werden?
Warum täuscht die Bundesregierung noch immer die eigene Bevölkerung über die zwangsläufigen Folgen des Vertrages von Maastricht? Warum wird die eigene Bevölkerung nicht darüber informiert, daß die Forderung der Europäischen Kommission, den Haushalt der Gemeinschaft auf eine Größenordnung von 3 % des Bruttosozialprodukts anzuheben, die deutschen Nettozahlungen von derzeit zirka 18 Milliarden DM auf in Zukunft etwa 50 bis 55 Milliarden DM pro Jahr steigen ließen? Warum klärt die Bundesregierung die eigene Bevölkerung nicht über die Konsequenzen des sogenannten Adhäsionsfonds auf, der mit den Verträgen von Maastricht beschlossen werden soll? Warum hat die Bundesregierung das Gipfeltreffen der EG in Lissabon ohne eine Entscheidung zum zukünftigen Haushalt verlassen? Sollten die Bundesbürger hier nicht über die wahren Dimensionen getäuscht werden, bis das Ratifizierungsverfahren über die Bühne gegangen ist?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, merken wir nicht, daß mit Maastricht, so wie es bisher geschrieben steht, ein ganz wichtiges Identifizierungsmerkmal der Deutschen, nämlich eine stabile Mark, die aus einer harten und guten Arbeit der einzelnen resultiert, verlorenzugehen droht? Ich möchte noch einmal die Frage stellen: Kann die Europäische Zentralbank tatsächlich das leisten, was die Deutsche Bundesbank heute für uns leistet? Leider hat das Kanzleramt nie zunächst einmal die Frage gestellt, ob wir uns etwas leisten können. Man hat eben vieles unterschrieben und gesagt: Über die Kosten sprechen wir später.
Ich frage Sie im Hinblick auf eine Debatte, die wir hier bereits geführt haben, erneut: Wie lange noch wird die Bundesregierung dem kommunistischen China hinterherhecheln und Hunderte von Millionen an Steuergeldern in ein totalitäres System pumpen, dafür aber das Angebot Klein-Chinas, Taiwans, zurückweisen, Milliardenaufträge an deutsche Werften zu vergeben und damit die Arbeitslosigkeit in einem wichtigen Industriebereich, z. B. in Rostock, von Grund auf zu bekämpfen?
Sind die Vorgänge in Rostock nicht auch ein Ausdruck der Perspektivlosigkeit vieler Tausender von Menschen? Glaubt die Bundesregierung wirklich, daß es sich nur um bösartige Randalierer handelt, und glaubt sie nicht, daß wir eigentlich erst am Anfang einer zerstörerischen Entwicklung stehen?
Wie lange eigentlich soll die Polizei dieses politische Theater noch mitmachen, in dem sie zum Sündenbock gestempelt wird? Wo sind die Maßnahmen dieser Bundesregierung zu einer Verbrechensbekämpfung, die dringend notwendig wäre, um den inneren Frieden und das Rechtsgefühl der Bürger wiederherzustellen und auch insoweit die deutsche Einheit zu vollziehen?
Verletzt nicht die Bundesregierung mit der Beschimpfung und der erneuten Enteignung vieler durch die sowjetische Besatzungsmacht und das kommunistische Regime in Deutschland in der Nachkriegszeit Entrechteter das Rechtsgefühl als eines der wichtigsten Grundprinzipien einer modernen Demokratie? „Wandel durch Umverteilung" lautete der sarkastische Kommentar von Enno von Löwenstern in der „Welt" vom 31. 8. 1992 hierzu.
Ich darf zum letzten Satz kommen. Wenn einem nichts mehr einfällt, wenn man Verantwortung von sich abwälzen will, wenn man von seinen Sünden der Vergangenheit nichts mehr wissen will, verlangt man einen Solidarpakt; einen Solidarpakt, der in Wirklichkeit ein Offenbarungseid ist. Man bietet einen Zwangsvergleich an, um dem Konkurs zu entgehen. Der Herr Bundeskanzler hat heute vom möglichen Versagen der Deutschen gesprochen. Er hätte gut daran getan, wenn er hier vor allem das eigene Versagen eingeräumt hätte. Sonst werden es ihm die Bürger nicht nur an der Wahlurne, sondern leider auch auf der Straße sagen müssen.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Briefs.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte heute morgen im Rahmen meines Redekontingents für diese Debatte zwei Beiträge angemeldet. Es war so vereinbart worden: der erste Beitrag zum BKA, dem Bundeskanzleramt, den zweiten zum Einzelplan 23, der jetzt hier diskutiert wird. Nun ist dieser Beitrag an das Ende dieser Debatte, also auf den jetzigen Zeitpunkt geschoben worden. Ich sehe mich deshalb erst jetzt zu diesem Beitrag in der Lage, aber ich denke, es ist eine kleine Abwechslung für Sie in dieser Debatte, erst einmal den Beitrag zur Politik dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers zu hören.
Die Politik dieser Bundesregierung, die Politik dieses Bundeskanzlers ist durch zwei große historische, möglicherweise verhängnisvolle Versäumnisse gekennzeichnet. Das eine ist die plan- und konzeptionslose Handhabung des Anschlußprozesses der früheren DDR an die BRD. Die planlose, die konzeptionslose Politik dieses Bundeskanzlers bei der Zusammenführung der völlig auseinanderentwickelten beiden deutschen Teilstaaten ist hauptverantwortlich für die ökonomische und soziale Misere der großen Mehrheit der Menschen im Osten. Die Weigerung, einen längeren Übergangsprozeß mit entsprechenden sozialen Kontrollen und Hilfen für das geordnete Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland vorzusehen, ist großenteils verantwortlich für die Massenarbeitslosigkeit und für die Perspektivlosigkeit im Osten.
Dieses Versäumnis zerrüttet nicht nur die Staatsfinanzen und belastet außerordentlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des neuen größeren Deutschland, sondern führt womöglich in eine ausweglose politische und soziale Situation, eine Gefahr, die noch verstärkt wird durch das inzwischen ebenfalls ja leider wieder mögliche Scheitern Europas.
Der Plan- und Konzeptionslosigkeit beim Prozeß des deutsch-deutschen Zusammenwachsens entspricht die konzeptionslose Herangehensweise bei den beiden globalen Hauptfragen, der Umweltzerstörung und der grundlegenden Verbesserung der Verhältnisse in der Dritten Welt. Wie Erhard Eppler im letzten „Spiegel" schreibt, ist die Bundesrepublik dabei, statt die UN-Norm für die Entwicklungshilfe von 0,7 % des Bruttosozialproduktes zu erreichen, den erreichten Stand von 0,42 % auf 0,35 %, also auf die Hälfte der UN-Norm, in den nächsten Jahren absinken zu lassen. Ich finde, das ist ein beschämendes Versagen der Politik dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers. Andere europäische Länder, wie die Niederlande und Norwegen, bringen anteilig mehr als zweimal so viel auf wie die reiche Bundesrepublik. Bis heute ist auch kein umfassenderer Ansatz zur Behebung der zahlreichen Umweltschädigungen, die vom Industrie- und Chemieriesen Deutschland ausgehen, zu erkennen. Schon deshalb - das sei in diesem Zusammenhang auch gesagt - müssen industriepolitische Konzepte her. Der Kanzler ist auf ökologischem Gebiet einfach eine Lücke, nicht präsent, und seinen Verkehrsminister läßt er mit einer geradezu rabiat umweltschädlichen und umweltzerstörerischen Verkehrspolitik weiter gewähren.
Das größte und verhängnisvollste Versäumnis dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers ist jedoch das Gewährenlassen jener halbgaren und ganzgaren Rechten in Bonn und insbesondere in den neuen Bundesländern.
Die mindestens grob fahrlässig vom Zaune gebrochene Asyldebatte, die doch nun wahrhaftig mit den Problemen des Arbeits- und Wohnungsmarktes nichts zu tun hat, dieses Spiel mit dem Feuer ist dem Bundeskanzler entglitten und hat zu einem Flächenbrand mit unabsehbarer Ausbreitung und langfristiger Schwelwirkung geführt.
Das bei unseren Nachbarvölkern gebildete Vertrauen ist inzwischen zum großen Teil zerstört oder zumindest erheblich beeinträchtigt. Nach der Rückkehr aus dem Urlaub wurde ich persönlich bei jedem Gespräch mit Menschen in den Niederlanden, darunter waren eine ganze Reihe, mit denen ich eigentlich nie über Politik spreche, sofort auf die Pogrome in Rostock angesprochen. Erschreckt sind unsere Nachbarn vor allem über das Verhalten der Bevölkerung, die, wie schon in der NS-Zeit, keinen Widerstand leistet, sondern kriminellen Akten gegen schutzlose Menschen Beifall spendet, und die Behörden im Geleitzug des Gewährenlassens des Bundeskanzlers lassen ebenfalls gewähren.
Unverständlich ist es, daß der Bundeskanzler sich nicht an die Spitze einer landesweiten Gegenbewegung gestellt hat, daß er nicht an Gegendemonstrationen teilgenommen hat, daß er wohl Verständnis für den dumpfen deutschen Ausländerhaß äußert, nicht
jedoch Mitgefühl mit den Leiden und Ängsten von unschuldig in diesem Land gejagten und verfolgten Menschen. Die politische Moral dieser Bundesregierung und dieses Bundeskanzlers ist, daran gemessen, sehr wenig entwickelt. Aber das ist eben nicht nur eine Frage der politischen Moral.
Herr Bundeskanzler, vergessen Sie nicht, Deutschland ist heute nicht mehr das Deutschland der 30er Jahre. Die Völkergemeinschaft kann und wird reagieren. 500 000 Deutsche, das betrifft z. B. auch mich persönlich, leben im Ausland. Mehr als ein Drittel der Produktion in Deutschland geht auf ausländische Märkte. Mehr als sechs Millionen Ausländer in Deutschland haben mit ihren Leistungen für dieses Land Anspruch auf den Schutz dieser Bundesregierung erworben. Deutschland ist vielfältig und unumkehrbar in internationale Bezüge eingebunden, und die „Gnade der späten Geburt" erkennt Ihnen draußen als einem Bundeskanzler, der restaurative und reaktionäre politische Tendenzen duldet, niemand zu.
Ihr größter, für uns alle möglicherweise verhängnisvoller Fehler war und ist wahrscheinlich, daß sie die eingeleitete, aber bei weitem noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu einem aufgeklärten, europäischliberalen, zu einem nach außen offenen Land, zu einem menschlichen Land abgelöst haben durch die Entwicklung zu einem restaurativ-neonationalistischen Land, in dem ein brutaler, aggressiver rechter und rechtsradikaler Sumpf sich anschickt, das politische und gesellschaftliche Leben zu vergiften.
Damit in Verbindung steht auch, ich habe es eben auch schon angedeutet, die Politik dieser Bundesregierung im Zusammenhang mit den Fragen der sogenannten Dritten Welt. Ein besonders beschämendes Kapitel dieser Bundesrepublik ist nämlich diese sogenannte Hilfe für die Dritte Welt. Bis heute, ich wiederhole es, weigert sich die Bundesregierung, die UN-Norm von 0,7 % des Bruttosozialproduktes für die Entwicklungshilfe zu erfüllen. Bis heute kommt die reiche BRD, die einen wesentlichen Teil ihres Wohlstands der Ausbeutung dessen, was auch fortschrittliche Ökologen eben als Dritte Welt bezeichnen, nur auf 0,42 %, mit diesem Haushalt sogar noch erheblich darunter. Jeder, der einmal wie ich in einem Land der Dritten Welt, in einem Entwicklungshilfeprojekt tieferen Einblick gehabt hat, weiß, wie wenig problemangemessen noch dazu solche Projekte oft sind und wie sehr mit dieser Entwicklungshilfe unsere Vorstellungen und unsere Werte den zu entwickelnden Ländern aufgedrückt werden. Zahlreiche Entwicklungshilfeprojekte dieser Bundesregierung dienen mehr den Interessen der Exportwirtschaft als den Interessen der betroffenen Länder. Allzu häufig findet ein geradezu subtiles Zusammenspiel zwischen den Verantwortlichen und den Profiteuren dieser Projekte hier und der Oberschicht in den betroffenen Ländern zu Lasten der Bevölkerung in diesen Ländern statt.
Wie im letzten Jahr sinkt auch 1993 der Entwicklungshilfeetat real weiter ab. Eine konsequente Entschuldung der Dritten Welt, die völlige Schuldenstreichung für die armen und ärmsten Länder dieser Welt, wird von der Bundesregierung weiterhin abgelehnt.
Für eine konsequente Politik der Verbesserung der terms of trade zugunsten der Entwicklungsländer gibt es in der Entwicklungspolitik dieser Bundesregierung keinen Ansatz.
Das Problem, daß mit zunehmendem Ausbau der High-Tech-Wirtschaft und -Produktion die Entwicklungsländer auf kaltem Wege gezwungen werden, riesige Zinsen auf unser rapide wachsendes industrielles und sonstiges Anlagevermögen zu zahlen, Zinsen, die allerdings in keiner Verschuldungsstatistik erscheinen, ist überhaupt noch nicht ins Bewußtsein der Verantwortlichen der Entwicklungspolitik gekommen. Die globale Bedeutung der um sich greifenden ökologischen Krise in der Dritten Welt wird von den für die Entwicklungshilfe Verantwortlichen wohl erst richtig gesehen werden, wenn es zu spät ist: zu spät für die betroffenen Länder und ihre Menschen und zu spät für uns. Um dem Widersinn die Krone aufzusetzen: Trotz dieser sich weiter zuspitzenden Probleme erlaubt sich diese Bundesregierung einen Rüstungsetat, der gegenüber dem in jener Zeit kaum gesenkt ist, in der der traditionelle Feind im Osten eben noch nicht ersatzlos weggefallen war. Deutschland wird systematisch zur Festung ausgebaut, mit ins Leere drohenden mächtigen Geschützrohren und mit geradezu neurotisch nach neuen Gegnern Ausschau haltenden Militärs.
({0})
Ich habe, um diesem Widersinn ein Ende zu setzen, vorgeschlagen, den Rüstungsetat um 17,5 % zu kürzen und 9,1 Milliarden DM bisherige Rüstungsausgaben dem Entwicklungshilfeetat zuzuschlagen.
({1})
Diesen Antrag, der ein weiterer sinnvoller Gruppenantrag, über Parteigrenzen hinweg getragen, sein könnte, empfehle ich nochmals Ihrer Aufmerksamkeit. Obwohl er seit nunmehr fast drei Monaten in Ihren Büros liegt, habe ich bisher nur sehr wenige positive Reaktionen erhalten. Ich hoffe, das ändert sich.
Den Menschen in der Dritten Welt und auch uns könnte eine wirkliche konsequente Entwicklungspolitik in dieser Form bei der Entwicklung helfen. Überfällig ist sie seit langem.
({2})
- Herr Gerster, stellen Sie eine solche Frage bei einer der nächsten Sitzungen Ihrer Prinzengarde, wo Sie ja Feldmarschall sind.
({3})
Meine Damen und Herren, bevor wir mit der Aussprache zum Haushalt fortfahren, rufe ich Punkt 4 der Tagesordnung auf:
a) Fortsetzung der Beratung ({0}) der Entschließungsanträge der Fraktion der SPD zum Nachtragshaushaltsgesetz 1992
- Drucksachen 12/2910, 12/2911 -
Vizepräsident Hans Klein
b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({1})
zu den vom Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht 2 BvE 1/92 und 2 BvE 2/92
- Drucksache 12/3195 Berichterstattung: Abgeordneter Horst Eylmann
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Wir stimmen zunächst über die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD zum Nachtragshaushalt 1992 ab.
Wer stimmt dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2910 zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Der Entschließungsantrag ist abgelehnt.
Wir stimmen über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 12/2911 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist ebenfalls abgelehnt.
Zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht auf Drucksache 12/3195 hat der Abgeordnete Lowack um das Wort zu einer Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung gebeten. Sie haben das Wort, Herr Kollege.
Herzlichen Dank, Herr Präsident.
Ich wollte mein Nein zu dieser Beschlußempfehlung kurz damit begründen, daß dem Rechtsausschuß bei seiner Entscheidung am 4. Juni der Text der Organklage überhaupt noch nicht bekannt war, weil er erst am 7. Juni beim Verfassungsgericht eingereicht wurde. Ich halte es für ein sehr merkwürdiges und unparlamentarisches Verfahren, wenn über diese Beschlußempfehlung, die so zustande gekommen ist, auch noch ohne eine Beratung durch das Parlament entschieden werden soll.
Danke.
({0})
Wir kommen zur Abstimmung. Ich rufe ins Gedächtnis: Es dreht sich um die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses zu Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht, Drucksache 12/3195. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir setzen jetzt die Aussprache zum Haushalt 1993 fort. Ich erteile das Wort dem Bundesminister des Innern, Rudolf Seiters.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Drei Bilder aus den vergangenen Wochen: auf der einen Seite eine beispiellose Bekundung der Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien, eine eindrucksvolle Welle der Menschlichkeit, Sammlungen, die Verteilung von Hilfsgütern vor Ort, die Zurverfügungstellung von Unterkünften. Ich möchte ganz bewußt auch an dieser Stelle für diese Welle der Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung ganz herzlich danken.
({0})
Ich füge hinzu: Auf der Genfer Flüchtlingskonferenz vor einigen Wochen sind auch die staatlichen Hilfen Deutschlands als Hauptaufnahmeland und Hauptgeberland in Europa für die Bürgerkriegsflüchtlinge ausdrücklich anerkannt worden: von den Delegationen aus Bosnien, Kroatien, Slowenien, aber auch von der für Flüchtlingsfragen zuständigen Hohen Kommissarin der Vereinten Nationen und vom Präsidenten des Internationalen Roten Kreuzes. Wir Deutschen werden auch weiterhin helfen.
Auf der anderen Seite: immer heftigere Proteste aus den Gemeinden und Städten unseres Landes gegen die Zuweisung von Asylbewerbern. Nach allen Umfragen ist in einem ausländerfreundlichen Deutschland - was beweisbar ist - die Asylfrage zum drängendsten innenpolitischen Problem geworden.
Wir sahen drittens - das waren schaurige Bilder - Gewalttäter mit primitiver ausländerfeindlicher Hetze und brutalen kriminellen Handlungsweisen gegenüber anderen Menschen. Ich wiederhole, was ich schon bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichts gesagt habe: Die Gewalttaten gegen Ausländer waren und sind schändlich. Nichts und niemand gibt das Recht zu ausländerfeindlicher Hetze oder gar zur Gewalt. Wir verurteilen die gewalttätigen Übergriffe und Angriffe und schämen uns dafür. Die Täter müssen unnachsichtig zur Rechenschaft gezogen werden. Die Gesetze müssen konsequent angewandt und die Möglichkeiten zur Verhinderung und Ahndung von Straf- und Gewalttaten ausgeschöpft werden. Ich bin dafür, das Versammlungsrecht und den Straftatbestand des Landfriedensbruchs zu überprüfen und zu verschärfen. Der Rechtsstaat muß sich auch hier als wehrhafte Demokratie erweisen.
Ich sage auch, meine Damen und Herren: Unsere Polizeibeamten, die unter schwersten physischen und psychischen Bedingungen ihren Dienst für diesen Rechtsstaat versehen, und auch unsere Soldaten beim Bundesgrenzschutz haben Anspruch auf unsere volle Unterstützung und unsere volle Solidarität.
({1})
- Unsere Beamten beim Bundesgrenzschutz, aber auch unsere Soldaten in anderen Zusammenhängen bei der Bundeswehr, die in vielen humanitären Einsätzen für die Bundesrepublik Deutschland unterwegs sind.
({2})
Ich plädiere angesichts einer zunehmenden Organisation in der gewaltbereiten Szene - darauf habe
Bundesminister Rudolf Setters
ich auch beim Verfassungsschutzbericht hingewiesen - dafür, alle Möglichkeiten der Vorfeldaufklärung zu nutzen, um gewalttätige Bestrebungen richtig und rechtzeitig einschätzen zu können. Hierzu sind voll funktionsfähige Verfassungsschutzbehörden auch in den neuen Bundesländern notwendig.
Ich bin in der Vergangenheit kritisiert worden, weil ich die Notwendigkeit des Verfassungsschutzes auch in der Zukunft immer und uneingeschränkt unterstrichen habe. Die Richtigkeit dieser Auffassung dürfte heute nicht mehr ernsthaft streitig sein. Wenn jetzt sogar aus den Reihen der SPD die Forderung kommt, man möge das Personal beim Bundesamt für Verfassungsschutz aufstocken, dann halte ich das für eine bemerkenswerte Erklärung. Sie sollte auch Anlaß dazu geben, manche abwertenden Qualifizierungen aus den Reihen der SPD über den Verfassungsschutz gründlichst zu überdenken.
({3})
Der Verfassungsauftrag der wehrhaften Demokratie und der gesetzliche Auftrag der Verfassungsschutzbehörden haben jeweils unverändert Bestand. Ich weise auf die Bedrohung durch den Terrorismus, auf die Erstarkung rechtsextremistischer Bestrebungen und auf die Notwendigkeit hin, die Hinterlassenschaft des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR und die damit weiterhin verbundenen Gefahren für unser Staatswesen aufzuarbeiten.
Ich nenne ferner die Probleme, die wir mit dem Ausländerextremismus haben. Der Verfassungsschutz hat sich immer an der jeweiligen Bedrohungssituation ausgerichtet. Von daher stellt sich schon die Frage, ob wir die Erfahrungen und Fähigkeiten des Verfassungsschutzes nicht auch zur Abwehr anderer schwerwiegender Bedrohungen wie der organisierten Kriminalität nutzbar machen sollten.
({4})
Meine Damen und Herren, langfristig können fremdenfeindliche Gewalttaten nur dann entscheidend eingedämmt werden, wenn wir über die Intensivierung polizeilicher Schutzmaßnahmen, die Strafverfolgung und die Vorfeldaufklärung hinaus die geistigpolitische Auseinandersetzung verstärken. Ich denke, daß wir insbesondere jungen Menschen die Ungerechtigkeit, die Schädlichkeit, die Inhumanität und die Kriminalität solcher Angriffe deutlich machen müssen, sie davon überzeugen müssen und mit Entschlossenheit gleichzeitig all denen entgegentreten müssen, die zu Gewalttaten ermuntern oder sie dulden, unter welchem Vorwand auch immer. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, den Trend zur Gewaltbereitschaft zu stoppen und umzukehren.
Meine Damen und Herren, ich sagte schon, daß sich in einem unstreitig ausländerfreundlichen Deutschland die ungelöste Asylfrage zum dringendsten innenpolitischen Thema und Problem entwickelt hat. 50 000, 100 000 oder 250 000 Asylbewerber in einem Jahr, in diesem Jahr möglicherweise 500 000, einer solchen Herausforderung - ein Blick in die internationale Presse zeigt im übrigen, daß man diese besonderen Schwierigkeiten Deutschlands auch im Ausland sieht -, bei der auch der Mißbrauch unseres
Asylrechts eine entscheidende Rolle spielt, ist kein anderes europäisches Land auch nur annähernd ausgesetzt. Dieser unkontrollierte Zustrom ist bei der geltenden Rechts- und Verfassungslage der Bundesrepublik Deutschland weder vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge noch von den Ausländerbehörden der Länder noch von den Gerichten zu bewältigen.
Ich wundere mich bei mancher Kritik an die Adresse der Bundesregierung und des Bundesamtes, daß aus den Reihen der SPD überhaupt kein Wort zu den Ausländerbehörden der Länder gesagt wird, die teilweise wegen des Zustroms haben dichtmachen müssen, mit dem sie nicht mehr klarkamen.
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Sie wissen doch, was in Schleswig-Holstein und in Bremen in den letzten Monaten und Jahren geschehen ist. Kein Wort wird darüber gesprochen, daß bei unseren Gerichten hunderttausend Anträge liegen, die bearbeitet werden wollen. Ich sage das nicht im Tone der Kritik, sondern weil ich darauf hinweisen will, daß wir ohne eine Änderung der geltenden Rechts- und Verfassungslage weder bei unseren Gerichten noch bei den Ausländerbehörden noch beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge eine Chance haben, diesen Zustrom zu bewältigen.
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Nun will ich auch ein persönliches Wort sagen: Ich habe mein Amt als Bundesminister des Innern am 26. November 1991 übernommen.
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Ich habe damals ca. 240 000 Altfälle vorgefunden, wie Sie ganz genau wissen. In den ersten acht Monaten dieses Jahres hat das Bundesamt 140 000 Asylanträge bearbeitet und entschieden, eine Rekordzahl, eine Steigerung von 30 %. Das hat es in dieser Intensität noch niemals in unserem Lande gegeben.
Wenn dennoch die Zahl der unbearbeiteten Fälle steigt, liebe Kolleginnen und Kollegen, dann hängt das doch damit zusammen, daß gleichzeitig in den ersten acht Monaten des Jahres 1992 274 000 neue Asylbewerber in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind. Ich muß einfach feststellen: Wer vor diesem Hintergrund den Vorwurf der Verzögerung bei der Bearbeitung von Asylanträgen erhebt, der versucht bewußt, die Öffentlichkeit zu täuschen und irrezuführen. Das ist die Wahrheit.
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Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Kollege Hirsch, bitte.
Herr Minister, Sie wissen, daß ich weit davon entfernt bin, Ihnen persönlich irgendwelche Vorhalte zu machen. Aber meinen Sie nicht, daß die Zahl der unerledigten Fälle auch damit zusammenhängt, daß die Wirkungen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes deswegen gar nicht eintreten konnten, weil die wesentlichen Teile ja erst im März nächsten Jahres in Kraft treten,
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und daß Bund und Länder gemeinsam dafür sorgen müssen, daß sie schneller in Kraft treten? Meinen Sie nicht, daß es gerade wegen der großen Zahl von Altfällen, die wir genauso beklagen wie Sie, dringend notwendig ist, daß endlich eine greifende Altfallregelung getroffen wird, damit wir einen neuen Anfang machen können?
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Herr Kollege Hirsch, Sie sind wieder etwas ungeduldig. Ich wollte mich diesem Thema natürlich noch etwas nähern.
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Aber unabhängig davon muß ich doch einmal darauf hinweisen: Wegen des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes ist Ihr Parteifreund von Nieding, der Präsident des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge, bereits Anfang November, ebenfalls noch vor meiner Zeit, mit seinem Rücktrittsangebot an den Bundesinnenminister herangetreten. Er hat gesagt: Das wird nicht funktionieren. - In der Besprechung beim Bundeskanzler am 10. Oktober 1991 waren nicht wir die Erfinder dieses Gesetzes, sondern Sie waren einer der Protagonisten.
Wenn jetzt die Länder sagen: Das ist nicht machbar, und wir die Außenstellen erst einrichten können, wenn die Standortentscheidungen in den Ländern fallen, dann bitte ich sehr darum, daß wir über diese Frage diskutieren. Aber dann hätte ich auch die herzliche Bitte, daß diese kritischen Anmerkungen einmal nicht an den Bundesminister des Innern gerichtet werden, sondern an die Adresse derer, die ihre Zusage aus den November-Gesprächen nicht erfüllt haben.
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Erlauben Sie noch eine Zwischenfrage des Kollegen Hirsch?
Gerne.
Herr Minister, wenn Sie sich auf den Ihnen nachgeordneten Beamten Herrn von Nieding berufen, den Präsidenten des Bundesamtes, müssen Sie dann nicht gleichzeitig sagen, daß er die Meinung vertreten hat und vertritt, daß wir deswegen kein neues Gesetz brauchen, weil wir eigentlich nur das geltende Recht richtig praktizieren müßten? Das war seine Position.
Das war nicht Ihre Position, Herr Kollege Hirsch, wenn ich das richtig sehe.
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- Ja. Auf ihn habe ich mich deswegen berufen, weil zu meinem großen Erstaunen nicht aus Ihren Reihen, sondern aus den Reihen der Sozialdemokratie in den letzten Tagen und Wochen die erstaunliche Bemerkung und der erstaunliche Vorwurf gekommen ist, Herr von Nieding sei meinetwegen zurückgetreten, weil er sich mit mir überworfen habe. Dabei stammte sein Rücktrittsangebot an meinen Vorgänger Wolfgang Schäuble doch schon vom 3. November 1991. Darauf wollte ich hingewiesen haben.
Der Kollege Wiefelspütz möchte eine Zwischenfrage stellen.
Nein, ich möchte jetzt wirklich gerne einmal im Gesamtzusammenhang vortragen.
Ich sage noch einmal: Rekordzahl bei der Bearbeitung von Fällen, 140 000 in den ersten acht Monaten dieses Jahres; gleichzeitig sind 274 000 neue Asylbewerber in unser Land gekommen. Deswegen finde ich es, wie gesagt, nicht fair, wenn jemand mit den erwähnten Unterstellungen arbeitet.
Ich weise insbesondere die schlimme Entgleisung aus den Reihen einer rot-grünen Landesregierung, der Bund wolle vom Terror der Straße profitieren, als eine ganz üble und schäbige Diffamierung mit allem Nachdruck zurück.
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Auch der Vorwurf, der Bund handle bei der Einstellung von Personal beim Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zögerlich, ist nicht in Ordnung. Es gibt manche Schwierigkeiten. Manches, worauf ich dränge, geht nicht so schnell, wie auch ich mir das wünschen würde. Aber dabei hat übrigens eine entscheidende Rolle gespielt, Herr Kollege Hirsch, daß die Standortentscheidungen der Länder für eine Erstaufnahmeeinrichtung sehr spät erfolgten, teilweise heute, im September 1992, noch nicht vorliegen, aber die Einrichtung von Außenstellen des Bundesamtes wiederum davon abhängig ist, was für Standortentscheidungen der Länder getroffen sind. Wir wollen doch erreichen, daß möglichst viele Standortentscheidungen getroffen werden. Aber wir schaffen das eben nicht. Der Bund kann seine Leistungen erst danach bringen.
Im übrigen fragen viele Bewerber, die sich jetzt in den Vorstellungsgesprächen äußern, natürlich: Wo ist denn dieser Standort, und wo werde ich tätig? Der eine, der vielleicht am Standort Hannoversch Münden tätig sein möchte, will aber nicht in Osnabrück tätig sein. Das gilt für Augsburg und für Bamberg gleichermaßen.
Wenn auf Grund von 1 600 Bewerbungsgesprächen zwischenzeitlich immerhin fast 1 000 Einstellungszusagen ergangen sind, dann sollte gelten: Wenn SPD-Länder an diesen Einstellungsbemühungen Kritik üben, dann sollten sie nicht vergessen, wie zögerlich sie mit ihren eigenen Entscheidungen und der Einlösung von Zusagen sind.
Ich habe - ich will auch das hier gerne noch einmal sagen - in den vergangenen Wochen Nordrhein-Westfalen nicht angegriffen, obwohl es an Stelle von 112 zugesagten qualifizierten Beamten lediglich 1 200 Bewerbungsunterlagen zugeleitet hat und damit allein dem Bundesamt die zeit- und arbeitsaufwendige Auswahl von qualifiziertem Personal zugeschoben hat.
Ich habe in den vergangenen Wochen Hessen nicht angegriffen, obwohl es noch Mitte August nicht in der Lage war, 37 qualifizierte Bewerber zu benennen.
Wer selbst solche gravierenden Personalgewinnungsprobleme hat, sollte etwas zurückhaltender bei seiner Kritik an anderen sein.
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Ich jedenfalls kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß viele dieser Angriffe an die Adresse der Bundesregierung der durchsichtige Versuch sind, von einer entscheidenden Frage abzulenken: Wo stünden wir heute eigentlich, wenn die Petersberger Erkenntnisse des SPD-Vorsitzenden Engholm, daß angesichts des zunehmenden Asylbewerberzustroms in der Bundesrepublik Deutschland und der sich zuspitzenden Probleme in den Kommunen und Ländern eine Grundgesetzergänzung notwendig sei, bereits beim Parteivorsitzendengespräch am 10. Oktober 1991 vorhanden gewesen wären? Kostbare Zeit ist uns verlorengegangen: ein Jahr vertan, ein Jahr verspielt. Die SPD hat Grund zur Selbstkritik, nicht aber zu Vorwürfen an die Adresse anderer.
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Der Bundeskanzler hat heute morgen gesagt, auch eine Verfassungsänderung löse nicht alle Probleme. Das ist auch meine Meinung. Ohne eine Änderung des Grundgesetzes aber werden wir die Probleme vor Ort ebensowenig lösen, wie wir zu einer europäischen Harmonisierung des Asylrechts kommen.
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Wenn wir nicht wollen, daß Radikale und Extremisten von einer Situation verschärft profitieren, die von vielen Menschen in unserem Lande, in den Gemeinden und Kreisen, mittlerweile als beängstigend, besorgniserregend und unerträglich empfunden wird, dann müssen die demokratischen Parteien jetzt unverzüglich und ohne Zögern eine überzeugende, demokratische Antwort auf den erkennbaren Asylmißbrauch geben und die Verfassung unter voller Wahrung der Genfer Flüchtlingskonvention ändern.
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Mein Ziel: Wer wirklich politisch verfolgt ist, wird auch weiterhin in Deutschland Asyl erhalten. Wir müssen aber das Asyl vor Mißbrauch schützen.
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Von der Asylgewährung muß deshalb ausgeschlossen werden, wer aus einem Land stammt, in dem keine politische Verfolgung stattfindet, wer aus einem verfolgungsfreien Drittstaat kommt, wer keinen ausreichenden Identitätsnachweis erbringt oder seine Ausweispapiere vernichtet, wer im Ausland ein schweres Verbrechen begangen hat, wer nicht unverzüglich nach Einreise in die Bundesrepublik seinen Asylantrag stellt oder wer als Bürgerkriegsflüchtling vorübergehend bei uns aufgenommen wird.
Auch darf das Asylrecht in Deutschland nicht länger einer einheitlichen Regelung auf europäischer Ebene entgegenstehen. Es sollte deshalb erreicht werden, daß für die Gewährung von Asyl, wie auch in den anderen europäischen Staaten, alleinige Grundlage die Genfer Flüchtlingskonvention ist, die uneingeschränkt gewährleistet sein muß.
Es bedarf weiterer flankierender Maßnahmen: Verstärkung der Überwachung an den grünen Grenzen; das Schlepperwesen muß unnachsichtig verfolgt werden; abgelehnte ausreisepflichtige Asylbewerber müssen sofort und konsequent abgeschoben werden - diese Verpflichtung liegt allein und ausschließlich bei den Ländern -; nicht zuletzt muß der wirtschaftliche Anreiz für politisch nicht verfolgte Ausländer, nach Deutschland zu kommen, entscheidend gemindert werden. Dem müssen das Sozialhilferecht und die Sozialhilfepraxis entsprechen.
Ich plädiere nachdrücklich dafür, daß wir Prioritäten setzen. Das heißt: großzügige Regelungen auch künftig für wirklich politisch Verfolgte und gleichzeitig vergrößerten Handlungsspielraum für Bürgerkriegsflüchtlinge, die sich in existentieller Not und Gefahr befinden.
Meine Damen und Herren, zur Kriminalität einige wenige Sätze: Mit der Verabschiedung des Gesetzes zur organisierten Kriminalität haben wir einen erheblichen Fortschritt zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens erzielt. Weiterer Bestandteil wird die strafrechtliche Verfolgung der Geldwäsche sein.
Die Begehung von Straftaten muß finanziell unattraktiv gemacht werden, indem Straftätern der Gewinn entzogen wird. Die rechtlichen Voraussetzungen sollen durch das Gewinnaufspürungsgesetz geschaffen werden, das sich derzeit in der parlamentarischen Beratung befindet und noch in diesem Jahr in Kraft treten sollte.
Ich plädiere dafür, daß wir uns über weitere Maßnahmen wie den Einsatz technischer Mittel in Wohnungen verdächtiger Krimineller verständigen. Ich halte es auch nach den Erfahrungen in vielen anderen Ländern - in Italien, in den USA, in Luxemburg und in Frankreich - für zwingend notwendig, daß die gesetzlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung organisierten Verbrechens der kriminellen Herausforderung entsprechen.
Bundesminister Rudolf Setters
Ein Schwerpunkt der Kriminalitätsbekämpfung ist die internationale Zusammenarbeit: Das Zusammenwachsen Europas stellt auch die Polizei vor neue Herausforderungen. Der Abbau von Grenzkontrollen bietet auch den international arbeitenden Verbrecherorganisationen mehr Entfaltungsmöglichkeiten. Durch ein Bündel von Ausgleichsmaßnahmen müssen wir verhindern, daß der künftige Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Europäischen Gemeinschaft Nachteile für die innere Sicherheit mit sich bringt. Das Gesetz zu dem entsprechenden Schengener Übereinkommen befindet sich zur Zeit in der parlamentarischen Beratung.
Wir sind dabei, Europol aufzubauen. Mit meinem französischen Kollegen war ich in der letzten Woche in Straßburg; der Aufbaustab befindet sich unter deutscher Leitung. Wir sind einig, alles zu tun, um den Aufbau von Europol zu beschleunigen.
Gleichfalls ist mit unseren unmittelbaren östlichen Nachbarn CSFR und Polen sowie mit Ungarn die polizeiliche Zusammenarbeit auf der Grundlage von Abkommen zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität vorangebracht worden. Zuletzt habe ich zur Umsetzung des Abkommens mit Polen am 19. und 20. August 1992 in Warschau mit meinem polnischen Amtskollegen gesprochen und Vereinbarungen getroffen, die auch der Bekämpfung des Rauschgiftschmuggels, der illegalen Zuwanderung und der Verfolgung der Schlepperkriminalität dienen.
Ich füge hinzu: Die Bekämpfung der Schleuserbanden, meine Damen und Herren, ist dabei nicht nur als eine polizeiliche oder strafrechtliche Aufgabe zu sehen, sondern auch als ein Gebot der Humanität und der Solidarität. Schlepperorganisationen sind keine Wohltäter, die Flüchtlinge in eine bessere Zukunft geleiten, sondern moderne Menschenhändler, deren einziges Motiv die Ausbeutung der Opfer ist.
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Ich nenne jetzt aus Zeitgründen nur noch Stichworte, wofür ich um Verständnis bitte. Wir werden die Aussprache im einzelnen bei den Ausschußberatungen fortsetzen. Zunächst das Stichwort innere Einheit. Zu den Aufgaben des Bundesministers des Innern gehören auch der Aufbau der Verwaltung und die Kultur.
Ich weiß, daß das Thema „Kultur" in unserem Lande eine ganz große Bedeutung hat. Ich möchte folgendes sagen: Die Bundesregierung hat seit der Vereinigung der beiden Teile Deutschlands über 2,5 Milliarden DM für das kulturelle Leben in den neuen Bundesländern ausgegeben. Sie hat auf der Grundlage von Art. 35 die Übergangsfinanzierung ins Leben gerufen: 1991 waren es 950 Millionen DM, 1992 sind es 830 Millionen DM für Substanzerhaltung, Infrastruktur, Denkmalschutzsonderprogramm.
Die Übergangsfinanzierung hat in den vergangenen Jahren ganz wesentlich zur Erhaltung der kulturellen Substanz in den neuen Ländern beigetragen. Zusammen mit den Mitteln der Länder und Kommunen ist es bisher gelungen, die Kontinuität des kulturellen Lebens auch unter veränderten Vorzeichen zu bewahren.
Die Hoffnung, daß zur Sicherung der kulturellen Substanz zweijährige Überbrückungsmaßnahmen ausreichen würden, hat sich nicht erfüllt.
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Die finanzielle Lage insbesondere der Kommunen macht die Fortführung der Übergangsfinanzierung im Jahre 1993 dringend erforderlich.
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Ich habe mich deshalb in den Haushaltsverhandlungen nachdrücklich für eine Beibehaltung der Übergangsfinanzierung eingesetzt. Ich gehe auch davon aus, daß dies in den Beratungen des Haushaltsausschusses noch eine wichtige Rolle spielen wird. Wir müssen in jedem Falle sicherstellen, daß auch in kommenden Jahren ausreichend Mittel zur Erhaltung des kulturellen Erbes in den neuen Ländern zur Verfügung stehen.
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Im übrigen nenne ich noch fünf Punkte. Erstens. Für die Zukunft der Deutschen in den Staaten Ost-, Mittelost- und Südosteuropas kommt es darauf an, flexibel und mit großem Einfühlungsvermögen auf ihre Bedürfnisse einzugehen und unsere Hilfe vor Ort zu verstärken. Die Bereitschaft der Deutschen, sich in der Südukraine oder an der Wolga anzusiedeln, wächst in einem Maße, daß die eingeleiteten Hilfsmaßnahmen schon bald nicht mehr ausreichen werden. Auch die sich seit 1991 auf einem niedrigeren Niveau verstetigenden Aussiedlerzahlen zeigen, daß wir auf dem richtigen Wege sind.
Natürlich darf niemand verkennen, daß die Entscheidung zum Bleiben nicht allein von unseren Hilfsmaßnahmen abhängt, sondern auch durch die allgemeine Entwicklung in den jeweiligen Staaten wesentlich beeinflußt wird. Aussiedlern, die sich dennoch zum Verlassen ihrer angestammten Heimat entschließen, werden wir die unverzichtbaren Hilfen zur Eingliederung weiter gewähren. Allerdings sind auch hier Mittelkürzungen unvermeidbar.
Zweitens. Was den öffentlichen Dienst anbetrifft, so ist sich die Bundesregierung der Bedeutung einer besonderen zukunftsorientierten öffentlichen Verwaltung bewußt. Um das auch international anerkannt hohe Niveau unseres öffentlichen Dienstes zu bewahren, zählt der Erhalt seiner Wettbewerbsfähigkeit zu den wichtigen politischen Aufgaben. Die Bundesregierung wird noch in dieser Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Sicherung der Funktions- und Wettbewerbsfähigkeit des öffentlichen Dienstes vorlegen.
Drittens. Auch vor dem Hintergrund der veränderten sicherheitspolitischen Lage bleibt staatliche Notfallvorsorge zum Schutz der Bevölkerung unverzichtbar. Allerdings bedürfen Struktur und Organisation sowie Art, Umfang und Gewichtung der Aufgaben in kritischer Überprüfung einer sachgerechten Anpassung an veränderte Bedingungen.
In diesem Rahmen gilt es auch die anstehenden Entscheidungen zur Verselbständigung des THW, der Umstrukturierung des Zivilschutzes sowie zur neuen Gewichtung der Aufgaben des Selbstschutzes zu
treffen. Innerhalb der verfassungsmäßigen Aufgabenverteilung zwischen den Ländern und dem Bund wird der Bund seinen Beitrag im Hilfeleistungssystem erbringen.
Viertens. Im Sport haben die Erfolge unserer nach 28 Jahren wiedervereinten Olympiamannschaft insgesamt gezeigt, daß das Zusammenwachsen hier erfreulich weit gediehen ist. Wir werden einen dopingfreien Leistungssport auch künftig fördern.
Das gilt auch für den Behindertenleistungssport. Ich war vor wenigen Tagen bei den Paralympics.
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Mir liegt daran, auch an dieser Stelle nach vielen persönlichen Gesprächen meine Anerkennung, meine Bewunderung und meinen Respekt zum Ausdruck zu bringen für die Leistung und den Lebensmut vieler dieser behinderten Sportler.
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Fünftens. Am 3. Juni 1992 hat die Bundesregierung eine Gesamtkonzeption zur Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1991 vorgelegt, deren Realisierung sie in enger Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag und den Ländern Berlin, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sowie den betroffenen Regionen zügig vorantreiben wird. Noch in diesem Jahr werden wir einen Gesetzentwurf zur Umsetzung des Beschlusses vorlegen, der sich an der Verpflichtung zu einer fairen Arbeitsteilung zwischen Berlin und Bonn sowie zu einem angemessenen Ausgleich der für Berlin wie auch für Bonn aus der Hauptstadtentscheidung resultierenden Belastung orientiert.
Nach den bereits mit dem Senat von Berlin und dem Land Brandenburg abgeschlossenen Vereinbarungen über Fragen der Zusammenarbeit in Hauptstadtangelegenheiten wird die Bundesregierung in Kürze Vorschläge zur vertraglichen Regelung von Ausgleichsleistungen für die Region Bonn unterbreiten.
Meine Damen und Herren, wir werden die großen und schwierigen Aufgaben gerade auf dem Felde der Innenpolitik nur, wie ich denke, in einer ganz großen gemeinsamen Kraftanstrengung bewältigen können. Für die Innenpolitik gilt ebenso wie für andere Bereiche: Wir müssen klare Prioritäten setzen. Unser Hauptaugenmerk muß dem Prozeß des inneren Zusammenwachsens Deutschlands gelten. Der Aufbau im Osten muß Vorrang haben vor dem weiteren Ausbau im Westen.
Schließlich: Im innenpolitischen Bereich stehen wir vor ganz drängenden Problemen; Asyl und Kriminalität haben wir angesprochen. Die Bürger erwarten von diesem Parlament, daß es nach diesen langen und ausgesprochen schwierigen Monaten der Diskussion jetzt endlich die Rechtsgrundlagen schafft, die dem Staat den unverzichtbar notwendigen Handlungsrahmen eröffnen.
Ich appelliere auch von dieser Stelle aus an alle demokratischen Parteien, daß wir jetzt wirklich eine Lösung dieser Probleme herbeiführen. Ich füge hinzu: Sollte uns dies nicht gemeinsam gelingen, werden die extremistischen Kräfte eine böse Ernte einfahren. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.
Lassen Sie uns entschlossen handeln, an unseren Grundwerten orientiert, und sich unsere Demokratie beweisen lassen als ein wehrhafter Staat, der unsere Stabilität und unsere Sicherheit zu bewahren weiß. Je intensiver wir dies gemeinsam tun, desto besser für unser Land und unsere Bürger.
({12})
Als nächster hat das Wort Herr Kollege Gerd Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die innenpolitische Lage in der Bundesrepublik Deutschland ist dramatisch. Gewaltexzesse gegen Menschen erschüttern unser Land. Das Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse und in die Handlungsfähigkeit der Regierung ist nachhaltig erschüttert. Der Rückgang der Akzeptanz und des Vertrauens für Politik generell ist besorgniserregend. Dies ist um so schwerwiegender in einer Zeit, in der die Veränderungsprozesse innerhalb unserer Gesellschaft gewaltig sind.
Die Deindustrialisierung im Osten unseres Landes, verbunden mit sozialer Desintegration, bildet eine gefährliche Gemengelage. Die Ängste vieler Menschen in Westdeutschland, nicht mehr die Insel des Wohlstands bleiben zu können, verstärken die Verunsicherung.
Trotz all dieser Probleme: Die Gewaltexzesse gegen Menschen müssen scharf verurteilt und zurückgewiesen werden. Kein soziales Problem - und davon gibt es genug - kann entschuldigen, wenn menschlicher Anstand und menschliche Würde auf so fundamentale Weise verletzt werden, wie wir es in den letzten Wochen erlebt haben. Gewalttätige Exzesse sind heute ein Element vieler Industriestaaten. Gerade die Lust an der Gewalt ist vielleicht das beunruhigendste Phänomen. Die Sucht junger Menschen, die sogar häufig in Arbeitsprozesse voll integriert sind, in der Auseinandersetzung mit der Polizei ein Gemeinschaftserlebnis zu finden, ist besorgniserregend. Jene Lust, gewalttätig zu sein bei hohem persönlichem Risikoeinsatz, hat wohl sehr viel tiefergehende Ursachen als jene aktuellen Probleme, vor denen wir in der Bundesrepublik stehen.
Wir kennen solche gewalttätigen Exzesse schon aus der Zeit vor der deutschen Vereinigung. Man denke an jenen berühmten 1. Mai vor fünf Jahren in Kreuzberg, als sinnlose Zerstörungswut ausbrach, ein Kaufhaus abbrannte, die Feuerwehr nicht löschen konnte, die Polizei sich zurückziehen mußte. Ähnliches haben wir bei Krawallen bei Fußballspielen erlebt.
Das heißt, dieses Grundphänomen hat man schon relativ lange an den verschiedensten Stellen und bei den verschiedensten Anlässen feststellen können. Die Gefährlichkeit der jetzigen Situation besteht darin, daß sich diese Form von Gewalttätigkeit das erste Mal gezielt und bewußt gegen Menschen richtet und das Leben dieser Menschen im Bewußtsein der Angreifer offensichtlich nichts mehr zählt. Dies wird verkoppelt mit neuen Naziideologien, mit rechtsradikalen Ideologien. Dies ist der Unterschied zu den gewalttätigen
Gerd Wartenberg ({0})
Exzessen, die wir in der Vergangenheit erlebt haben
Hier gibt es erst einmal nur eine Antwort: Mit harten Polizei einsätzen müssen die Gewalttäter bekämpft werden. Im Vordergrund muß der Schutz der bedrohten Menschen stehen.
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Gleichzeitig müssen die Gewalttäter hart bestraft werden. Bei dieser Gruppe von Menschen wird nur dies eine abschreckende Wirkung haben.
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Der Glaube, daß man bei dieser relativ kleinen Gruppe die Lust an der Gewalt, manchmal mit Ideologie verkoppelt, durch rationale Argumentation eindämmen könne, ist wohl ein Irrglaube.
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Gefährlich an der jetzigen Situation ist, daß der Anlaß der Gewalt, nämlich fremde Menschen anzugreifen und auszugrenzen, von einem Teil unserer Bevölkerung - keinem großen Teil unserer Bevölkerung -, der selbst niemals gewalttätig wird, mit klammheimlicher Zustimmung oder zum Teil mit offener Zustimmung begleitet wird. An diese Menschen müssen wir uns mit unserer Argumentation und auch mit unseren politischen Lösungsansätzen zuerst wenden. Sie sind derjenige Teil der Bevölkerung, dem unsere größte Aufmerksamkeit dienen muß. Seine Probleme müssen ernst genommen werden.
Zur Eindämmung der Gewalt sind natürlich gleich wieder unsinnige Vorschläge gemacht worden. Es wurde sofort eine Sondereingreiftruppe des Bundes gefordert. Dies ist Schwachsinn.
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Wichtig ist, die Instrumentarien, die zur Verfügung stehen, so auszustatten, daß sie wirksam sein können. Im Westteil unseres Landes haben wir damit im großen und ganzen keine Probleme. Im Osten verschärft sich die Situation dadurch, daß die örtliche Polizei sowohl in Ausbildung und Ausrüstung als auch bei Fragen der Logistik noch nicht auf dem Stand ist, der notwendig ist. Dies muß vordringlich von den neuen Bundesländern mit Unterstützung des Bundes geleistet werden.
Der Bund muß allerdings auch den Bundesgrenzschutz, der in besonderen Lagen immer wieder als Hilfsorgan der Polizei herangezogen wird, vernünftig ausstatten. Es kann nicht angehen, daß bei der Neuausrüstung des Bundesgrenzschutzes in den neuen Bundesländern beispielsweise kein einziger Angehöriger mit Schwerstschutz ausgerüstet wird.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben den Polizeibeamten und dem Bundesgrenzschutz gedankt. Das ist in Ordnung; das tun auch wir. Aber noch besser wäre es, der Bundesinnenminister würde dafür sorgen, daß diese Beamten über Schutzausrüstungen verfügen, die sie solche Einsätze ohne Gefahr überstehen lassen.
({5})
Ich habe die Vermerke der Personalräte des Bundesgrenzschutzes Ost gelesen. Das, was dort läuft, kann so nicht weitergehen. Es ist unmöglich, daß im Augenblick nur Westbeamte mit Schwerstschutz ausgerüstet werden und die gesamte Neuausrüstung des Bundesgrenzschutzes Ost nicht für solche Einsätze geeignet ist.
Wenn die These richtig ist, daß es auch Gewalttätigkeit um jeden Preis, um des Erlebnisses willen und mit hohem persönlichem Risiko der Gewalttäter gibt, dann müssen die Beamten, die zur Abwehr eingesetzt werden, auch in größtmöglichem Umfang geschützt werden.
({6})
Wer die Einsatzbereitschaft dieser Beamten langfristig sichern will, darf sie nicht unvorbereitet oder schlecht ausgerüstet in solche Auseinandersetzungen schicken.
({7})
Hier ist ein erhebliches Defizit des Bundes, insbesondere beim BGS-Ost, festzustellen.
Herr Bundesinnenminister, Sie haben vorgeschlagen, den Verfassungsschutz etwa bei der organisierten Kriminalität einzusetzen. Wir als Sozialdemokraten gehören nicht zu denen, die sagen, der Verfassungsschutz müsse grundsätzlich abgeschafft werden. Gerade bei der Bekämpfung der Entwicklung der Rechtsradikalität kann er sogar neue sinnvolle Aufgaben gewinnen.
({8})
Aber eines werden wir nicht mitmachen: daß der Verfassungsschutz polizeiliche Aufgaben bekommt.
({9})
Hier wird das Trennungsgebot der Verfassung nicht beachtet. Diese Diskussion darf nicht weitergeführt werden; sie ist unsinnig und gefährlich. Lassen Sie das! Dies ist wieder eine Fehlentwicklung in der öffentlichen Diskussion bei der Bekämpfung organisierter Kriminalität. Sie darf nicht mit dem Instrument des Verfassungssschutzes geschehen.
({10})
Meine Damen und Herren, die Asyldebatte ist ein Kristallisationspunkt der augenblicklichen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung. Das ist fatal und unangemessen. Wir haben große Probleme in der Überlastung der Infrastruktur durch die hohe Zuwanderung in den letzten beiden Jahren. Nur, dies alles auf die Asylproblematik zu reduzieren, ist untauglich und gefährlich zugleich.
({11})
Gerd Wartenberg ({12})
Die Verengung der Diskussion auf die Veränderung von Rechtsinstrumentarien, insbesondere auf eine mögliche Verfassungsänderung ist unerträglich. Sie ist auch für Leute wie mich, die bereit sind, einer Verfassungsdiskussion nicht auszuweichen, unerträglich.
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Dies darf so nicht weiter geschehen.
Diese Diskussion ist auch deswegen so gefährlich, weil hier Erwartungen geweckt werden, die mit der Änderung von Rechtsinstrumentarien nicht erfüllt werden können.
({14})
Gewiß, die Handlungsspielräume müssen auch im Bereich der Zuwanderung erweitert werden. Aber es muß immer wieder deutlich gesagt werden, daß diese zu schaffenden Handlungsspielräume das Grundproblem der Zuwanderung nicht in dem Maße steuern können, wie es ein Teil unserer Bevölkerung erwartet und wie Koalitionspolitiker es den Menschen einreden.
({15})
Die SPD hat sich immer für ein Gesamtkonzept für die Zuwanderung ausgesprochen. Da geht es um alle Gruppen der Zuwanderung: um Menschen, die unter dem Dach des Asylrechts in die Bundesrepublik Deutschland kommen, um Vertragsarbeitnehmer, um Aussiedler und um spezielle Gruppen wie etwa die Bürgerkriegsflüchtlinge. Wer diesen Gesamtverbund der Problemlösung aufgibt und nur isoliert über das Asylrecht redet, betrügt die Bevölkerung.
({16})
Wenn überhaupt über Asyl gesprochen wird, dann darf eben nicht über das politische Asylrecht gesprochen werden, sondern nur darüber, wie Menschen, die unter dem Dach des Asylrechts als Armutsflüchtlinge in die Bundesrepublik Deutschland kommen, aus dem Asylrechtsinstrumentarium herausgehalten werden können.
Dabei muß gleichzeitig festgestellt werden, daß diese Armutsflüchtlinge nicht Menschen sind, die irgend etwas Ungeheuerliches tun, indem sie unter dem Dach eines für sie nicht geschaffenen deutschen Asylrechts Zuflucht suchen, sondern daß sie dramatische Gründe haben, um sich auf die Wanderschaft zu begeben.
({17})
Es sind die gleichen Gründe, die im letzten Jahrhundert Hunderttausende von Menschen, etwa aus Mecklenburg, veranlaßt haben, in die USA zu gehen.
({18})
Wir dürfen in diesem Zusammenhang auch nicht die Wanderungsbewegungen aus Deutschland in andere Länder vergessen. Auch diese Menschen aus Deutschland hatten damals auf Grund ihrer hoffnungslosen und miserablen Lage in den Armutsgebieten des Deutschen Reiches unerhörte Erwartungen an ein anderes Land.
Gleichwohl müssen wir feststellen, daß nicht alle Armutsflüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen werden können und wir gruppenspezifische Lösungen anbieten müssen. Dabei kann es auch nicht angehen, daß man nur feststellt: Die Armutswanderung wird überhaupt nicht zu stoppen sein, und deswegen müssen wir sie einfach hinnehmen. Es geht auch nicht, zu sagen - wie es Herr Gysi heute morgen getan hat -, erst müsse die Weltwirtschaftsordnung geändert werden, und dann könne man über Einwanderungsquoten reden.
({19})
Auch dies ist eine trügerische Diskussion, ein Ablenkungsmanöver.
({20})
Jeder weiß, daß wir alles daransetzen müssen, die Weltwirtschaftsordnung zu verbessern und die Fluchtursachen zu bekämpfen.
({21})
Aber wir wissen auch, daß dies selbst bei höchstem Einsatz von Mitteln in nächsten Jahrzehnten nur partiell gelingen wird. Der Unterschied zwischen den Industriestaaten und dem Rest der Welt wird sich eher dramatisch vergrößern.
({22})
Insofern darf man hier keine Illusion wecken, wenn man über ein innenpolitisches Problem spricht,
({23})
wenngleich man immer wieder fordern muß, daß die Anstrengung der Industriestaaten zur Stabilisierung der Fluchtländer vordringlich ist.
Wir müssen die Debatte um das Asylrecht und die Zuwanderungsdiskussion auf ihren Kern zurückführen. Die Infrastruktur der Bundesrepublik hat eine Belastungsgrenze erreicht, die es vielen Gemeinden objektiv schwierig macht, immer wieder große Gruppen von Menschen neu unterzubringen. Dies kann man nicht wegdiskutieren. Die Lösung dieses Problems auf eine Verfassungsdebatte zu reduzieren heißt, eine Ersatzhandlung vorzunehmen, an deren Ende nur eine dramatische Enttäuschung und Desillusionierung stehen können.
({24})
Ich verstehe nicht, daß Sie ihren Verfassungsänderungsantrag jetzt - was Ihnen ja zusteht - schon im Oktober zur Abstimmung stellen wollen, ohne einen
Gerd Wartenberg ({25})
Diskussionsprozeß in Gang zu setzen, der in diesem Parlament vielleicht möglich ist.
({26})
Ich sage Ihnen: Das erhöht die Dramatik und die Reduzierung auf die Verfassungsdebatte noch mehr. Sie werden sich wundern, wie die Leute hinterher aufwachen, wenn die Verfassung tatsächlich einmal ergänzt worden ist.
({27})
Ich gehöre zu denjenigen, die meinen, daß wir über das Asylverfahrensgesetz hinaus weitere Handlungsspielräume benötigen. Insbesondere auch im Vergleich zu unseren europäischen Nachbarstaaten müssen wir wohl Handlungsspielräume im Sinne der Praktiken dieser Staaten gewinnen. Aber gerade wenn ich das sage, muß ich immer wieder deutlich machen, daß eine Lösung des Problems auch bei Erweiterung des Handlungsspielraums nicht grundsätzlich gefunden werden kann.
Auch umgekehrt ist es schwer, eine Diskussion zu ertragen, die da meint, eine Diskussion über den Art. 16 des Grundgesetzes sei grundsätzlich unsittlich und eine Aushöhlung des Grundrechts, um dann gleichwohl zu sagen, eine Änderung würde überhaupt nichts bewirken. Auch dies ist ein Widerspruch, der nicht gut ist,
({28})
weil damit die Diskussion um den Art. 16 auf eine reine Symboldiskussion reduziert wird und der eigentliche Grundrechtscharakter minimiert wird. Auch darüber müssen einige von denen nachdenken, die dies so im Verbund diskutieren.
({29})
Wir werden eine Diskussion über Instrumente zu führen haben, die einerseits wirkungsvoll und andererseits vertretbar sind, vertretbar unter dem Aspekt der Aufrechterhaltung des politischen Asyls und vertretbar unter dem Aspekt, daß die Bundesrepublik Deutschland weiterhin Menschen aufnehmen muß, die in Not geraten.
Meine Damen und Herren, wie man ein Thema populistisch dramatisieren und damit Öl in das Feuer gießen kann, hat der Bundesfinanzminister gestern gezeigt.
({30})
Als der Bundesfinanzminister anfing, über die Notwendigkeit der Sparmaßnahmen zu sprechen, hat er an erster Stelle die Asylbewerber genannt.
({31}) Das ist unerträglich.
({32})
Wir haben ganz bestimmt viele Möglichkeiten und Notwendigkeiten, Einsparungen zu machen. Es ist auch legitim, über die Kosten, die uns der Zustrom von Menschen beschert, zu reden. Aber dies sozusagen als
das vordringliche Problem des Bundesfinanzministers darzustellen, kann bei einem nur noch Übelkeit verursachen.
({33})
Lassen Sie mich etwas zur Umsetzung des Asylverfahrensgesetzes sagen. Die Umsetzung dieses Gesetzespaketes, das in Wirklichkeit nur eine Neuordnung der Verwaltungszuständigkeiten ist, ist schwieriger, als sich das manche vorstellen. Die Versäumnisse der Bundesregierung sind gleichwohl eklatant. Die Beamten, die für die Entscheidung der Verwaltungsverfahren notwendig sind, fehlen nach wie vor. Ich weiß, daß für diese Beamten vom Verfassungsgericht hohe Anforderungskriterien gesetzt worden sind.
Die Arbeitsfähigkeit des Bundesamtes für die Ankennung ausländischer Flüchtlinge ist aber insbesondere in der Zeit, als Herr Schäuble Innenminister war, sträflich vernachlässigt worden.
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Auch dies muß hier einmal deutlich gesagt werden: In der Amtszeit des Herrn Schäuble hat sich das Bundesinnenministerium um die Problematik in Wirklichkeit überhaupt nicht gekümmert.
({35})
In dieser Zeit sind keine Vorschläge gekommen. Vier Wochen, bevor Herr Schäuble als Innenminister aufhörte, hat er dazu das erste Mal einen Gesetzesvorschlag gemacht, nämlich diesen Vorschlag zur Änderung der Verfassung, und zwar nur als Morgengabe für seinen Fraktionsvorsitz, den er in vier Wochen erringen sollte.
So einfach kann es sich die CDU nicht machen. Ich kenne die Debatte in den Ausschüssen und in diesem Hause seit langer Zeit. Gerade Herr Schäuble hat die Asylproblematik weitestgehend von sich geschoben und verdrängt.
({36})
Meine Damen und Herren, eine Voraussetzung für das Funktionieren des Beschleunigungsgesetzes ist der Aufbau des Datenverarbeitungssystems AFIS, jenes erkennungsdienstlichen Systems, das bundesweit Asylanträge und Asylbewerber speichert, abrufbar und auswertbar macht.
Immer wieder wird der Mißbrauch des Asylrechts diskutiert und die Frage der Doppelanträge in der Öffentlichkeit angesprochen. Dieses Problem hätte organisatorisch längst gelöst werden können. Nachdem uns im letzten Jahr gesagt worden war, AFIS könnte im Juli in Betrieb gehen, wurde uns im Sommer gesagt, es werde wohl September werden. Heute wissen wir, daß dieses System realistischerweise Mitte nächsten Jahres funktionieren wird. Aber solange AFIS nicht funktioniert, wird auch das AsylGerd Wartenberg ({37})
beschleunigungsgesetz nur unzureichend umzusetzen sein.
({38})
Es kann doch wohl nicht sein, daß zur Schäuble-Zeit im letzten Jahr ein automatisierter Abruf beim Bundeskriminalamt über einen Asylbewerber acht Monate gedauert hat.
({39})
Ich sage Ihnen: Man kann ja versuchen, eine andere Partei dramatisch unter Druck zu setzen, bezogen auf die Verfassung, aber wer seine Schularbeiten nicht gemacht hat, ist kein guter Kronzeuge für den Versuch, die Verfassungsdebatte zu dramatisieren.
({40})
Aber ich will nicht nur die Bundesregierung ansprechen. Wir haben das dringende Problem der Altfallregelung und der Regelung für Bürgerkriegsflüchtlinge. Dies sind Regelungen, die nur zwischen Bund und Ländern gemeinsam getroffen werden können. Es kann nicht angehen, daß die Länder sagen, der Bund solle eine Vorleistung und einen Vorschlag machen, während der Bund sagt, die Länder sollten das machen. Dieser Verschiebebahnhof ist auch eine Form institutionalisierter Verantwortungslosigkeit, die nicht weiter hingenommen werden kann.
({41})
In diesem Bereich sind Bund und Länder gleichermaßen zuständig. Für die Lösung dieses Problems bedarf es nicht einer einzigen Gesetzesänderung durch den Deutschen Bundestag. Mit dem Ausländerrecht, mit Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern wären diese Probleme lösbar. Ich kann es langsam auch an dieser Stelle nicht mehr hinnehmen, wenn bei einem solch schwierigen Problem der Schwarze Peter nur immer hin- und hergeschoben wird.
({42})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Element einer möglichen Zuwanderungsbegrenzung nennen. Seit vielen Jahren kommen viele Aussiedler, insbesondere aus der Sowjetunion, in die Bundesrepublik. Den Sozialdemokraten geht es nicht darum, diesen Menschen grundsätzlich den Weg in die Bundesrepublik abzuschneiden. Aber auch diese Zuwanderungsgruppe kann nicht auf Dauer einen uneingeschränkten Anspruch haben.
({43})
Es muß 50 Jahre nach dem Krieg eine Schlußgesetzgebung geben. Ein Kriegsfolgengesetz ist ein Kriegsfolgengesetz, und es muß dann auch einmal beendet werden. Der Vorschlag, den Sie jetzt Bundesrat und Bundestag vorlegen, klammert dieses Problem wieder aus. Wir werden dabei nicht mitmachen; wir werden es in der übernächsten Woche hier zu debattieren haben. Wer für eine Zuwanderungskonzeption ist, kann sich nicht auf Asyl kaprizieren und andere
Gruppen aus dem Blickfeld verlieren. Das geht nicht.
({44})
Meine Damen und Herren, die Fragen der Zuwanderung sind gewiß schwierig, und die Situation für Bund, Länder und Gemeinden ist nicht einfach. Aber ich bitte Sie alle darum, diese Fragen auf den Kern zurückzuführen und dort, wo Steuerungsmöglichkeiten da sind, es gemeinsam zu versuchen und auch der Bevölkerung vorher zu sagen, welche Steuerungsmaßnahmen denn was bringen können. Dies ist ehrlicher, als Erwartungen zu wecken, die dann nicht eingelöst werden können. Aber in dieser Situation befinden wir uns im Moment leider.
({45})
Meine Damen und Herren, die allgemeine Kriminalitätsentwicklung in der Bundesrepublik ist besorgniserregend. Ich kann dazu nur noch wenige Sätze sagen; aber eines muß hier immer wieder deutlich gemacht werden: Die Fortentwicklung des Sicherheitskonzepts in der Bundesrepublik Deutschland, die Umsetzung neuer Richtlinien und Zielsetzungen ist jetzt über Jahre nicht geschehen. In den 70er Jahren, nämlich 1974, ist das letzte Programm für die innere Sicherheit in der Bundesrepublik Deutschland zwischen Bund und Ländern aufgestellt worden. Seitdem ist nichts mehr gemacht worden. Auch dies, Herr Bundesinnenminister, können Sie so nicht weiter treiben lassen.
Wenn es in der Bevölkerung tatsächlich eine große Beunruhigung darüber gibt, daß die Sicherheitsorgane und die Strafverfolgungsbehörden mit der Kriminalität nicht mehr fertig werden, dann muß auch der Bund reagieren, und zwar nicht mit Einzelmaßnahmen, sondern mit einem neuen sicherheitspolitischen Konzept. Seit 1974 sind inzwischen fast 20 Jahre vergangen. Wir werden Sie daran prüfen, ob Sie in der Lage sind, eine solches Konzept in absehbarer Zeit vorzulegen.
Recht herzlichen Dank.
({46})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Johannes Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Wartenberg, Sie haben 20 Minuten lang in der Asylfrage Gott und der Welt Vorwürfe gemacht, dem früheren Bundesinnenminister Schäuble, dem Bundesamt, dem Bundesinnenminister Seiters und vielen anderen. Es haben gewissermaßen nur noch der Papst und der Präsident von Amerika gefehlt.
({0})
Anschließend stellen Sie sich hin und sagen, es müsse Schluß sein mit den ständigen Schuldzuweisungen.
({1})
Johannes Gerster ({2})
Am Schluß stellen Sie sich hin und sagen, die Parteien sollten sich nicht gegenseitig die Schuld zuweisen. Herr Wartenberg, das sind Mätzchen, das ist es, was die Leute aufregt, gerade von einem Mann wie Ihnen, von dem ja bekannt ist, daß er eine Grundgesetzergänzung im Asylrecht für notwendig hält. Sie verwenden sieben Achtel Ihrer Rede so, als würden Sie ganz woandershin reden.
({3})
Ich bitte Sie, kommen Sie zur Sachlichkeit zurück, am besten schon morgen früh um acht Uhr.
({4})
Meine Damen, meine Herren, diese Rede war durch einen bemerkenswerten Realitätsverlust gekennzeichnet. Was glauben Sie, was 80, 85 oder 90 % der deutschen Bevölkerung denken, wenn sie diese Rede hören? Ich sage Ihnen, das sind keine Ausländerfeinde, das sind keine Leute, die gegen ausländische Mitbürger etwas einzuwenden haben, die etwas gegen Europa haben. Das sind Leute, die viel näher an der Basis stehen und sehen, was schief läuft, als Ihre Vorstellung heute verraten läßt.
({5})
- Vielen Dank für den Beifall eines einzelnen. Meine Fraktion wird hoffentlich noch ein bißchen lebendiger, auch die SPD, so hoffe ich.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen, was eigentlich Sache ist.
({6})
- Ich wollte ganz anders anfangen, aber der Kollege Wartenberg hat mich veranlaßt, dieses Thema vorzuziehen.
Sache ist, daß in diesem Jahr annähernd 500 000 Asylbewerber zu uns kommen. Tatsache ist, meine Damen, meine Herren, daß beim derzeitigen Verfahren, wo wir nach der Ankunft im Verwaltungsverfahren, im Gerichtsverfahren jeweils mindestens einen Dolmetscher brauchen, bei 500 000 Asylbewerbern 1,5 Millionen Dolmetschereinsätze in 50, 60 oder gar 70 Sprachen notwendig wären. Glauben Sie denn, daß diese Dolmetscher überhaupt zur Verfügung stehen? Nein, dies ist überhaupt nicht zu bewältigen.
({7})
Es ist die Wahrheit - und darüber sollten Sie sich auch einmal unterhalten -, daß im letzten Jahr die Koalitionsfraktionen mit der SPD im Bundeskanzleramt zusammensaßen. Die Wahrheit ist, daß wir in diesen Gesprächen immer wieder eine Grundgesetzergänzung für unverzichtbar gehalten haben, daß aber unser Koalitionspartner F.D.P. und Sie nicht bereit waren, darüber zu reden und daß wir nur deshalb dem Asylverfahrens- und -beschleunigungsgesetz zugestimmt haben, dabei deutlich erklärend, daß das nicht die Lösung sein kann. Die Wahrheit ist auch, daß bereits in diesen Gesprächen die Frage eine entscheidende Rolle spielte, wie für die Erstverfahren, wenn der Bund zuständig wird, das Personalproblem gelöst werden kann. Die Wahrheit ist, daß Ihr Parteivorsitzender Engholm damals u. a. zugestimmt hat, daß 500 Einzelentscheide von den Ländern dem Bund zur Verfügung gestellt werden. Er hat. gesagt: Ich mache mich dafür stark, daß diese Vereinbarung und auch dieser Teil davon funktioniert.
Ich finde es unredlich, unglaubwürdig und unverschämt, wenn die Länder, die damals wie heute von der SPD regiert sind, über ihre Parteispitze Zusagen machen, die bis heute nicht erfüllt worden sind,
({8})
und dann hingehen und dem Bundesinnenminister Vorwürfe machen. - Dies ist nicht unwahr. Ich war Zeuge.
({9})
Ich war Teilnehmer dieser Gespräche. Genau so ist dies gelaufen.
Meine Damen, meine Herren, natürlich waren wir damals der Meinung, wir brauchen das Beschleunigungsgesetz und eine Ergänzung des Grundgesetzes. Dem damaligen Innenminister Schäuble ist vorgeworfen worden, er hätte keine Formulierung für eine Grundgesetzergänzung.
({10})
Er hat sie damals einen Tag später vorgelegt. Sie liegt seit dem 20. Februar als Initiative aus unserer Fraktion hier im Bundestag. Deswegen können Sie nicht sagen, es gäbe sie nicht. Sie müssen die Bundestagsdrucksachen wenigstens zur Kenntnis nehmen.
({11})
Tatsache ist, daß wir damals in der Tat glaubten, daß das Beschleunigungsgesetz und die von uns damals vorgeschlagene Ergänzung des Grundgesetzes - auf der Basis von etwa 200 000 bis 250 000 Asylbewerbern - funktionieren könnte.
Meine Damen, meine Herren, wenn wir schon wegen 250 000 Asylbewerbern ein über Monate ausgehandeltes Beschleunigungsgesetz umsetzen und schon damals gesagt haben, daß dazu eine Ergänzung erforderlich ist, dann ist es doch eine Frage der einfachen Mengenlehre, daß bei 500 000 Asylbewerbern das Beschleunigungsgesetz allein gar nicht reichen kann. Wir sind jedoch so offen und ehrlich, zu sagen, daß heute selbst dieses Beschleunigungsgesetz und unsere damals vorgeschlagene Grundgesetzänderung nicht ausreichen würden.
({12})
Wir brauchen also eine Lösung, weil die Zeit weiterläuft.
({13})
Wir haben nicht nur ein weltweites Flüchtlingsproblem, sondern wir haben auch ein europainternes Flüchtlingsproblem. Wenn Sie bedenken, daß derzeit die Asylverfahren in Dänemark, in Frankreich und in Spanien - trotz der Probleme in Nordafrika -, aber
Johannes Gerster ({14})
auch in den kleineren Staaten rückläufig sind, dann muß man doch fragen, warum dies so ist. Frankreich rechnet in diesem Jahr - ich war mit dem Kollegen Bernrath in Paris; er kann das bestätigen - ({15})
- Nicht was Sie denken! Wir haben schön gearbeitet und uns im Ergebnis sehr übereinstimmend geäußert.
({16})
Tatsache ist, daß in Frankreich auf Grund eines neuen Asylverfahrens nach den derzeitigen Zahlen in diesem Jahr weniger als 30 000 Asylbewerber in das übliche Verfahren kommen werden. Ich sage Ihnen, warum dort u. a. die Asylverfahren zurückgehen. Sie gehen zurück, weil Dänemark, Frankreich, die Schweiz und andere Staaten inzwischen dazu übergegangen sind, Asylbewerber, die z. B. aus Deutschland nach Frankreich gelangen, postwendend nach Deutschland zurückzuschicken.
Es ist doch realitätsfern, zu glauben, daß, wenn elf europäische Staaten auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention ihre Asylprobleme lösen, wir nicht ebenso verfahren können. Dabei ist nach den entsprechenden Vereinbarungen, die ratifiziert sind, klar, daß Menschen, die Schutz vor Verfolgung in einem anderen Rechtsstaat gefunden haben, nicht in einem weiteren Rechtsstaat um Asyl bitten dürfen.
({17})
- Herr Kollege Hirsch, Sie werden doch nicht wirklich glauben, daß die höheren Asylbewerberzahlen - bei uns ca. 500 000, in Frankreich 30 000 - etwas mit einer Entfernung von 300, 400 oder 500 Kilometern zu tun haben. Die Wahrheit ist doch, daß bei dem in Deutschland anerkannt höheren Lebensstandard und einem Asylverfahren, das wegen der Vielzahl von Verfahren kaum zu Entscheidungen führt, die Wahrscheinlichkeit, hier bleiben zu können, viel höher ist als in Frankreich.
({18})
Deswegen können wir uns drehen und wenden, wie wir wollen; gemeinsam, getrennt oder in welchem Saal auch immer. Ich habe vor einem Jahr in der gleichen Debatte hier gesagt: So sicher wie das Amen in der Messe wird sich auch die SPD einer Ergänzung des Grundgesetzes nicht verschließen können. Natürlich hat Ihr Parteivorsitzender das inzwischen verstanden. Das gilt auch für Ihren Fraktionsvorsitzenden. Wenn ich es richtig sehe, dann hat es auch Herr Schily schon verstanden.
({19})
Herr Wartenberg hat es auch verstanden.
({20})
Herr Wartenberg praktiziert hier aber einen Spagat. Einerseits hält er eine Ergänzung des Grundgesetzes für notwendig, andererseits geht er aber hin und beschimpft andere - nach dem Motto: Der Dieb auf der Flucht -, weil Sie der gleichen Meinung sind.
({21})
Herr Abgeordneter Duve, da Herr Gerster eine Zwischenfrage zugelassen hat, kann nun der Abgeordnete Hirsch diese stellen.
({0})
Lieber Herr Kollege Gerster!
({0})
- Nein, das war keine Drohung. Das war eine Anrede.
Lieber Kollege Gerster, wenn Sie so über das französische Asylrecht sprechen, dann müssen Sie doch auch sagen, daß Frankreich gerade bei den Flüchtlingen, die wir fast vollständig als Mißbrauchs-fälle betrachten - also Flüchtlinge aus Rumänien und Bulgarien -, Anerkennungsquoten hat, die bei über 20 % liegen. In diesem Zusammenhang müssen Sie doch auch gleichzeitig einräumen, daß die Zuwanderung von Flüchtlingen in die Bundesrepublik fast ausschließlich über unsere östlichen Grenzen erfolgt und unsere westlichen Nachbarn uns mit diesen Folgen der offenen Grenzen allein lassen. Das ist doch die Wahrheit.
Meine Damen und Herren Abgeordneten, das Fragezeichen denken wir uns jetzt hinzu.
Herr Kollege Dr. Hirsch, zum zweiten Teil Ihrer Frage: Sie können doch nicht wirklich glauben - ich wiederhole das -, daß eine Entfernung von 500 Kilometern
({0})
dazu führt, daß wir in Deutschland 500 000 Asylbewerber haben, die Franzosen aber unter 30 000 bleiben.
Weiterhin stelle ich fest: Die Prozentzahl der anerkannten Flüchtlinge ist natürlich um so höher, je weniger kommen. Deswegen können Sie diese Zahl nicht anführen.
Ich habe Ihnen vorhin gesagt: Bleiben Sie anständig, sonst zitiere ich aus einem Brief. Sie, Herr Hirsch, haben vorhin Herrn von Nieding gewissermaßen als Kronzeugen dafür genannt, daß das Bundesamt in Zirndorf nicht funktioniert. Ich muß jetzt leider Gottes seinen Brief vom 3. November 1991, der viele Details enthält, in einer Passage zitieren. Herr von Nieding schreibt wörtlich an Bundesinnenminister Schäuble:
Mehreren Abgeordneten des Deutschen Bundestages und der Landtage der Partei, der ich seit
Jahrzehnten angehöre, habe ich deutlich ge8816
Johannes Gerster ({1})
macht, daß die F.D.P. zur Zeit keine Verantwortung auf Kommunal- und Länderebene in Sozial-und Innenressorts trägt und ihre Vorschläge auf dem Asylsektor immer lebensfremder wirken.
({2})
Weiter heißt es:
Meines Erachtens muß daher das Grundrecht auf Asyl ganz gestrichen und in die Verfassung allenfalls eine Staatszielsetzung aufgenommen werden.
({3})
Ich hätte das hier nicht vorgelesen, wenn nicht seit Monaten Herr von Nieding als Kronzeuge benutzt würde, um Innenminister Seiters Vorwürfe zu machen. Das war nun ein Originalzitat von Herrn von Nieding.
({4})
- Ja, der Herr von Nieding ist ein sehr ordentlicher Mann.
({5})
Der war auf jeden Fall manchen Genossen und sonstigen Zeitgenossen weit voraus.
Meine Damen, meine Herren, wir brauchen, um das klar zu sagen, den Gleichklang des Asylrechts in Europa, und zwar mit dreierlei Wirkung.
Erstens. Wir werden bei der erreichten Zahl von Asylbewerbern bei noch so viel Anstrengungen nicht in der Lage sein, das derzeitige Verfahren durchzuführen. Es hat überhaupt keinen Sinn, diese Frage jetzt vorschnell durch eine Altfallregelung lösen zu wollen; denn wer sagt, diese 350 000 unerledigten Fälle sollten sofort anerkannt werden,
({6})
der ruft einen erfahrungsgemäß nachgewiesenen Nachzug von etwa 900 000 anderen Personen über die Familienzusammenführung hervor.
({7})
Glauben Sie doch nicht, daß sich das nicht herumsprechen würde! Die Leute würden sagen: Jetzt ist Deutschland ganz offen, und wir können alle kommen. - Das ist doch das Problem, das wir nicht lösen können.
Deswegen, meine Damen, meine Herren, brauchen wir ein kursorisches, objektiviertes Verfahren für die offensichtlich unbegründeten Fälle, und wir brauchen das derzeitige Verfahren für die echten Zweifelsfälle mit der Konsequenz, daß politisch Verfolgte schneller anerkannt werden - das ist im Interesse der politisch Verfolgten -, aber die offensichtlich unbegründeten Anträge schneller abgelehnt werden können.
({8})
Zweitens erreichen wir auf diesem Wege die Harmonisierung unseres Asylrechts mit dem Recht, mit dem unsere sämtlichen elf Nachbarstaaten arbeiten und operieren. Erst damit wird auch unser Asylrecht europafähig.
Drittens muß sogar in Zukunft bei offenen Grenzen in Europa eine Verteilung der Lasten innerhalb Europas möglich werden. Das heißt, wir brauchen, so wie wir heute in der Bundesrepublik Deutschland einen gewissen Schlüssel in bezug auf die Zahl derjenigen haben, die die Bundesländer aufnehmen, mittelfristig eine Verteilung auf Europa; denn es kann nicht wahr sein, daß wir zwar offene Grenzen haben, aber auf der anderen Seite die Lasten ungleich verteilt werden.
({9})
Wir behaupten übrigens nicht, daß wir mit der Änderung des Asylrechts alle Probleme lösen. Genauso falsch ist aber die Behauptung, der Zuwanderungsdruck würde mit einer Änderung des Rechts nicht verändert. Nein, der Zuwanderungsdruck generell bleibt, wenn er aber auf ein Recht stößt, das praktisch zu einer ungesteuerten Zuwanderung führt, wird er natürlich größer. Unser Ziel muß sein, unter anderem das Verfassungsrecht auf Asyl einzusetzen, um die ungesteuerte Zuwanderung zumindest zu reduzieren.
({10})
Und wer jetzt sagt, die Angleichung etwa auf der Basis der Genfer Flüchtlingskonvention sei inhuman, der sollte das sehr genau bedenken; denn wer dies sagt, behauptet, die Franzosen seien inhuman, die Engländer seien inhuman, die Spanier seien inhuman, die Luxemburger, die Belgier und wer auch immer. Meine Damen, meine Herren, es kann doch nicht wahr sein, daß auch der Hohe Flüchtlingskommissar akzeptiert, daß diese Länder - ich sehe sie nicht auf der Anklagebank - dieses Verfahren praktizieren, und nur wir sollen ein anderes Verfahren anwenden.
Und wer behauptet, meine Damen, meine Herren, daß wir diese Forderung wegen der schrecklichen, grausamen, unmenschlichen Ausschreitungen in Rostock und anderen Orten jetzt stellen, der verschweigt einfach, daß wir seit Jahren darauf hingewiesen haben, daß ein ungesteuertes Zuwandern auf der Brücke des Asylrechts Ausländerfeindlichkeit begründet und verstärkt.
({11})
Das, was derzeit als Überforderung vor allen Dingen auch bei vielen Menschen in den neuen Bundesländern erfahren wird, führt natürlich zu einer undifferenzierten Betrachtung, wenn ich nicht ausdrücklich Wert auf die Feststellung lege, daß die Mehrheit der Deutschen eben nicht ausländerfeindlich ist, daß sie nur glaubt, daß hier in Deutschland erstens eine Rechtspraxis Platz gegriffen hat, die wegen der Zahl der Zuwanderungen nicht mehr funktioniert, und daß zweitens hier Leistungen durch Personen in Anspruch genommen werden, denen das Asylrecht nicht zur Verfüng steht.
Johannes Gerster ({12})
Deswegen, meine Damen, meine Herren, ist völlig klar: Wir brauchen diese Grundgesetzergänzung, wir brauchen eine neue Regelung. Deswegen war das, Kollege Wartenberg, was Sie gesagt haben, fast ein bißchen rührend. Sie haben gesagt, wir könnten das Ganze nicht auf eine Verfassungsdebatte reduzieren, und wir müßten jetzt einen Diskussionsprozeß in Gang setzen. Also, lieber Herr Wartenberg, die Weimarer Republik ist unter anderem daran gescheitert, daß die Bevölkerung gesagt hat: Die im Reichstag reden und reden und kommen nicht zu einer Entscheidung.
({13})
- Ich weiß, Herr Kollege Duve, und ich erkenne an, daß Sie der Oberparlamentarier sind, der die Moral per se seit Geburt für alle gepachtet hat. Lassen Sie mich wenigstens den Gedanken zu Ende führen!
({14})
Es ist für mich keine Frage, daß wir in Deutschland Rechts- und Linksradikale hatten und haben, und zwar in Ost und West. Es gibt sie in j eder Gesellschaft. Und es ist für mich keine Frage: Wenn die Bürger das Gefühl haben, daß Bedürfnisse, die sie vor Ort bei ganz konreten Mißständen empfinden, von den Politikern nicht beachtet werden, daß sie ihnen nicht gerecht werden, dann ist das die Einstiegsfahrkarte für Menschen, die Radikalen mit ganz einfachen Lösungen nachlaufen.
({15})
Herr Abgeordneter, - Johannes Gerster ({0}) ({1}): Sofort, Herr Präsident.
Das Dilemma besteht hier derzeit darin, daß z. B. in dieser für die Bürger so wichtigen Frage das Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition nicht funktioniert. In den 70er Jahren, als die Herausforderung des Terrorismus kam, hat die damalige CDU/CSUOppositionsfraktion bis in die Krisenstäbe von Mogadischu schwierige Entscheidungen der Bundesregierung mitgetragen. Sie war bereit, ihr eigenes parteipolitisches Interesse gegenüber staatspolitisch und verfassungspolitisch wichtigen Entscheidungen zurückzustellen.
({2})
Das Problem, das im Moment besteht, ist, daß die Bürger längst erkannt haben, daß hier ein Recht mißbraucht wird, daß der Staat dem Mißbrauch dieses Rechts aber keinen Einhalt gebietet. Und jetzt kommt das Entscheidende: Sie legen es vor die Haustür der regierenden CDU/CSU und F.D.P., die es nicht lösen können, und wissen, daß ein rot-grünes Bündnis dieses Problem noch weniger regeln würde. Weil in dieser entscheidenden Frage die Regierung, da sie eine Zweidrittelmehrheit braucht, nicht handlungsfähig ist, die Bevölkerung aber bei einer Abwahl der Regierung von Rot-Grün noch weniger zu erwarten hat, treiben wir mit der Nichtlösung dieser Frage radikalen Vereinfachern, Rattenfängern unzufriedene Bürger in die Scheunen.
({3})
Herr Abgeordneter, ich will noch einmal fragen, weil Sie eben „Einen Moment, bitte" gesagt haben: Wenn Sie nicht antworten wollen, sagen Sie es bitte; dann kann nämlich der Abgeordnete Wartenberg wieder Platz nehmen.
Herr Wartenberg darf die Frage noch stellen, wenn der Präsident erlaubt. Aber das Schlußwort bekommt er nicht.
Dann würde ich ja auch keine Frage stellen, wenn es das Schlußwort von mir wäre!
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Wartenberg.
Herr Gerster, halten Sie es eigentlich für besonders witzig, wenn Sie eben in Ihrem letzten Teil die terroristische Bedrohung und die Handlungsnotwendigkeiten , die sich in den 70er Jahren ergeben hatten, mit der Asylproblematik in einem Atemzug nannten?
({0})
Das ist nicht gut!
Aber das war eigentlich nicht meine Frage. Sie haben gesagt: Die Diskussion ist doch schon lange geführt worden, und jetzt muß gehandelt werden. - Das würde ich auch ganz gern tun, aber wie soll ich einer Fraktion wie der CDU/CSU vertrauen, die vor einem halben Jahr einen Verfassungsänderungsvorschlag gemacht und gestern beschlossen hat, einen völlig anderen, neuen Verfassungsänderungsvorschlag einzubringen. Verfassungsänderungsvorschläge können doch nicht alle halbe Jahre neu formuliert werden! Da scheint doch der Diskussionsprozeß selbst in Ihrer Fraktion noch nicht einmal zu Ende zu sein.
({1})
Herr Kollege Wartenberg, ich nehme an, Sie haben eine Frage gestellt und warten auf eine Antwort. Bitte schön.
Wir machen die zwei Antworten, und dann bin ich, Herr Präsident, ganz schnell bei meinem Schlußsatz.
Kollege Wartenberg, wir kennen uns ja aus vielen Gesprächen und Verhandlungen. Ich bitte Sie wirk8818
Johannes Gerster ({0})
lieh, zu akzeptieren, daß ich zwei politische Vorgänge und nicht inhaltliche Sachfragen verglichen habe. Ich habe darauf hingewiesen, daß es, wenn es eine Not in einer bestimmten Sachfrage gibt, sehr wohl die Pflicht der Opposition ist, den Regierenden in dieser Notsituation zu helfen. Das betraf z. B. die Entscheidung Angriff in Mogadischu auf die Lufthansa-Maschine mit Hunderten von Passagieren, wo die Union gesagt hat: Selbst wenn es schiefgeht und hunderte Menschen sterben, werden wir kein Wort des Vorwurfs sagen. Hier hat die Opposition an einer administrativen Entscheidung im damaligen Krisenstab Schmidt, Genscher, Kohl, Zimmermann und andere mitgewirkt. Ich habe also lediglich ein Verhalten verglichen und nicht Personengruppen. Deswegen sollten Sie mir das auch nicht unterstellen. Herr Kollege Wartenberg, um Gottes Willen nicht! Es geht um einen politischen Vergleich von Sachverhalten, die inhaltlich nichts Gemeinsames haben, sondern nur die Spielregeln zwischen Fraktionen betreffen. Es ist ganz gut, daß Sie diese Frage gestellt haben, denn dadurch konnte ich das klarstellen. Ich bedanke mich bei Ihnen.
Zu dem zweiten Punkt: Wir haben gestern nicht einen neuen Inhalt einer Initiative beschlossen,
({1})
sondern es gab den Willen der Fraktion, nachdem wir seit einem Jahr - seit den Gesprächen damals im Kanzleramt - die Zusicherung der SPD haben, auch über eine Änderung des Grundgesetzes zu reden. Das ist die Wahrheit.
({2})
Ich rufe hier wirklich Zeugen auf, die dabei waren. Es ist die Wahrheit, daß wir jetzt fast ein Jahr auf ein Ergebnis dieser Gespräche warten und daß unsere Fraktion sagt: Wir sind angesichts der Not, die in dieser Frage bei vielen Menschen entstanden ist, nicht mehr bereit, uns weiterhin vertrösten zu lassen.
Ich muß jetzt wirklich einmal sagen - wir sind bei demselben Punkt -: Es müßte einer Partei und Fraktion wie der SPD doch möglich sein, nach den langwierigen Debatten, die wir seit dem Beginn der 80er Jahre führen - wir haben ohne Grundgesetzergänzung die Gesetze siebenmal geändert -, jetzt zu wissen, was man eigentlich will.
({3})
Sie haben sich - nicht Sie als Person; ich schätze Sie sehr als konstruktiven Gesprächspartner, auch andere, und hoffe, daß ich Sie politisch jetzt nicht kaputtgemacht habe - als Partei und Fraktion - ich muß Ihnen das sagen - bisher verweigert und einer Pflicht entzogen, die Sie, da wir eine Zweidrittelmehrheit benötigen, genauso haben wie wir. Wir sitzen gemeinsam im Boot. Wir verlieren gemeinsam als demokratische Parteien und leisten radikalen Kräften gemeinsam Vorschub, wenn wir diese Frage nicht entscheiden.
({4})
Meine Damen, meine Herren, ich muß mitten in meiner Rede aufhören. Die Frage und die lebhaften Zwischenrufe veranlassen mich dazu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Jelpke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Minister Seiters, ich denke, daß Sie an Zynismus kaum noch zu übertreffen sind, wenn Sie sich heute hier hinstellen, von den rechten und faschistischen Übergriffen auf Ausländer sprechen und gleichzeitig ausnahmslos ausländerfeindliche Maßnahmen erneut zur Diskussion stellen. Das fängt für mich bei der Abschaffung des Grundrechts auf Asyl an. Das geht für mich aber weiter, wenn von ständigem Asylmißbrauch gesprochen und Panikmache betrieben wird. Ich finde ganz besonders schlimm, daß hier nicht nur von Minister Waigel, sondern jetzt auch noch von Ihnen gefordert wird, den Ausländerinnen und Ausländern die Sozialhilfe zu kürzen, Polizeimaßnahmen zu verstärken und das Schengener Abkommen möglichst schnell zu ratifizieren, damit Sie das Ganze datenmäßig noch besser unter Kontrolle haben.
Ich denke, daß die Diskussion auch deswegen zynisch ist, weil im Grunde genommen gar nicht über die Opfer, nicht über ihre Angst, in unserem Land überhaupt zu leben, nicht über ihre Situation, in ihren Wohnungen abgefackelt zu werden, draußen zu stehen, keine Sachen mehr zu haben usw., diskutiert wird. Keine Aufklärung passiert. Das ist für mich im Grunde eine Debatte, in der die Opfer zu Tätern gemacht werden. Sie haben hier heute in der Diskussion wieder bewiesen - auch gestern ist das bewiesen worden -, daß es eigentlich nicht darum geht, den Flüchtlingen wirklich zu helfen bzw. die soziale Situation so zu verändern, daß auch für Deutsche eine Möglichkeit entsteht, mit Ausländerinnen und Ausländern zu leben.
Besonders auffällig ist, daß Herr Seiters nicht einmal das Wort „Rechte" oder „Faschisten" in den Mund nehmen kann, sondern daß er von „gewaltbereiter Szene" „Radikalen" und „Extremisten" spricht, um möglichst nicht zu nennen, um wen es sich hier handelt. Ich weiß eigentlich nicht, wie Sie dann die Gefahr von rechts wirklich bekämpfen wollen.
({0})
- Dazu komme ich noch später. Sie wissen selber, was von dieser Stasi-Klamotte zu halten ist.
({1})
Wer so über rechte und neofaschistische Angriffe gegen Ausländer spricht und keinerlei Maßnahmen für die Opfer ergreift, muß sich meiner Meinung nach den Vorwurf gefallen lassen, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit mit zu schüren.
Herr Seiters, da können Sie ständig wiederholen: Deutschland ist nicht ausländerfeindlich. Das hört
man von Ihnen und Ihren Kollegen immer wieder.
Deutschland ist ausländerfeindlich, wenn auch nicht
die gesamte Bevölkerung, aber ein erheblicher Teil.
({2})
Das hat sich insbesondere in Rostock gezeigt.
Aber, meine Damen und Herren, auch der Innenausschuß diskutierte in seiner Sondersitzung nach Rostock ausschließlich über Maßnahmen gegen Flüchtlinge. Innenminister Seiters war in der Sondersitzung des Innenausschusses nicht in der Lage und nicht willens, auch nur eine der neofaschistischen Organisationen zu nennen, die vor und während der Auseinandersetzungen in Rostock aktiv vertreten waren und die noch vor der brennenden ZASt die nächsten Aktionsziele ankündigten nach dem Motto „Heim für Heim fackeln wir ab". Es ist inzwischen müßig, den Verantwortlichen ihre eigenen Sprüche von „asylantenfreien Zonen", „Zigeunerströmen" und ähnlichem vorzuhalten.
Die Vertreibung der Flüchtlinge aus den Heimen wird zum Anlaß genommen, öffentlich zu verkünden, daß ihr Platz nicht in deutschen Wohngebieten sein kann. Ganz „liberale" Hamburger Eltern wehren sich zur Zeit gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in ihrem Viertel mit dem Argument, sie könnten ihren Kindern nicht erklären, wieso Menschen hinter Gittern wohnen.
Ich frage mich, wie Bundespräsident Weizsäcker angesichts dieser Zustände bei seinem Besuch in einem Ausländerwohnheim auf die Idee kommt, die Ausländerinnen und Ausländer aufzufordern, „unsere Rechtsordnung und unsere Lebensgewohnheiten zu achten". Geredet werden müßte davon, daß in der Anhörung des Innenausschusses vor wenigen Monaten exakt die in den Sammellagern herrschenden Zustände als Folge des neuen Asylverfahrensgesetzes vorhergesagt wurden.
({3})
- Natürlich! Sie waren doch dabei. Es fiel sogar das Stichwort „Asylchaos", Herr Hirsch.
Es ist bekannt, daß z. B. mehr Beratung und mehr soziale Hilfe für Flüchtlinge zum richtigen Zeitpunkt billiger sind als die seit langem praktizierten polizeilichen und bürokratischen Maßnahmen. Nichts ist z. B. darüber zu hören, daß der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten durch seine Einsprüche überflüssige Gerichts- und Verwaltungskosten produziert.
Als das neue Asylverfahrensgesetz von allen Expertinnen und Experten in dieser Anhörung zerrissen wurde, beschrieb die „FAZ", die „Frankfurter Allgemeine Zeitung", die CDU- und Regierungspolitik damals als besonders schlau: Es sei politisch notwendig, eine Niederlage zugunsten weitergehender Ziele in Kauf zu nehmen. Es ist klar, daß der Zweck des Asylverfahrensgesetzes die Änderung des Grundgesetzes war. Es wurde und wird mit dem Leib und Leben der Flüchtlinge zugunsten weitgesteckter politischer Ziele gespielt.
Meine Damen und Herren, ich weiß, daß es heute nicht populär ist, die Abschaffung des Verfassungsschutzes und der Geheimdienste zu fordern. Der Öffentlichkeit wird gerade - wir haben das heute wieder von Herrn Seiters gehört - deren Ausbau als Garantie vor weiteren Pogromen und einem weiteren Anwachsen des Neofaschismus verkauft. Gerade jetzt sei der Verfassungsschutz so wertvoll wie nie zuvor.
Das genaue Gegenteil ist meines Erachtens nach wie vor richtig. Der letzte Verfassungsschutzbericht ist ein Dokument der Desinformation und Beschönigung. Jede beliebige antifaschistische Initiative und jede beliebige, jetzt von Pogromen betroffene Ort hätte die reale Gefahr genauer beschreiben können, als dies der Verfassungsschutzbericht tut. Zum Beispiel ist der ganze Bereich der sogenannten neuen Rechten ausgeblendet. In keinem Verfassungsschutzbericht wird jemals auftauchen, daß die F.D.P. in Stuttgart dem Rechtsradikalen Österreicher Haider am Montag dieser Woche ein Forum geboten hat, auf dem er sich vor Republikanern, vor Burschenschaftlern, der Deutschen Liga für Volk und Heimat und Liberalen produzieren konnte.
Verfassungsschutz und Polizei modernisieren ihre alte Linie, die da heißt: Rechtfertigung dieser Innen-und Sicherheitspolitik. Antirassistischer Widerstand wird diskriminiert und kriminalisiert, wie auch heute hier wieder durch Herrn Seiters geschehen. Den Bürgerinnen und Bürgern wird ein wilder Mischmasch an allgemeiner Bedrohung durch wachsende Straßengewalt präsentiert. Selbst die Stasi muß gelegentlich noch herhalten, um die Richtung zu zeigen, aus der die Entwicklung eigentlich gespeist wird. So wird der Ruf nach Ordnung provoziert. Die Öffentlichkeit wird tagelang mit der Schaffung neuer Polizeieinheiten beschäftigt. Dabei ist klar, daß Sondereinheiten des Bundesgrenzschutzes und der Bereitschaftspolizeien der Länder längst existieren. 2 Milliarden DM sind im Einzelplan 06 für BGS und Bundespolizei eingeplant.
Meine Damen und Herren, dieser Haushalt setzt unbeirrt auf polizeiliche und repressive Absicherung der neuen Rolle der Bundesrepublik. Für Bundeskriminalamt und Bundesamt für Verfassungsschutz sind über 700 Millionen DM vorgesehen.
Zerrbilder von organisierter Kriminalität, Ausländerfluten und Straßengewalt müssen herhalten, um den kontinuierlichen Ausbau der inneren Sicherheit und die angestrebten Eingriffe in die Grundrechte zu legitimieren. In all diesen Fragen gibt die SPD ihre Oppositionsrolle auf und beteiligt sich an der Revision der Hausordnung dieser Republik.
Polen soll z. B. gezwungen werden, für Rumänien und Bulgarien die Visumpflicht einzuführen. Bis es soweit sein wird, wird die politische Polizei in Polen mit deutscher Hilfe aufgerüstet und in Warschau eine Schaltstelle zwischen BKA, Grenzschutz und Polizei eingerichtet. Das macht mal eben auf die Schnelle 6 Millionen DM. Dafür fordert Schäuble dann auf dem „Tag der Heimat" Freizügigkeit und Niederlassungsrecht für Deutsche im ehemaligen Ostblock.
Für die Übertragung des deutschen Modells der inneren Sicherheit auf Europa stellt auch dieser Haushalt wieder Millionenbeträge zur Verfügung, z. B.
2 Millionen DM Zuschüsse zur technischen Unterstützungseinheit des Schengener Informationssystems. Allein damit wäre ein Jugendzentrum jahrelang zu finanzieren.
({4})
5,5 Millionen DM gehen an das BKA für Ausbildungs-und Ausstattungshilfe zur Bekämpfung der Rauschgiftkriminalität im Ausland. Darunter fallen vermutlich auch die intensiven Kontakte der deutschen Geheimdienste zum türkischen Partner, der mit deutschen Informationen die kurdische Opposition in der BRD zerschlagen will.
Diese Gelder könnte man besser einsetzen, z. B. für die Information der Bevölkerung über neofaschistische Gruppen und für die Aufklärung über die tatsächliche Lage der Flüchtlinge hier und in den Herkunftsländern. Sie wären besser und humaner eingesetzt zur realen Verbesserung der sozialen Lage der Asylbewerberinnen und Asylbewerber und der Deutschen. Sie könnten zur materiellen und personellen Unterstützung der Gemeinden bei der Unterbringung und Betreuung von Flüchtlingen eingesetzt werden.
Frau Abgeordnete, Sie haben Ihre Redezeit deutlich überschritten. Wie bei allen anderen muß ich auch bei Ihnen darauf achten, daß Sie jetzt zum Schluß kommen.
({0})
Gut, dann höre ich jetzt auf; nur noch ein Abschlußsatz.
({0})
- Sie brauchen nicht zu klatschen. Sie können sich noch Zeit lassen.
Besonders fatal finde ich, daß in diesem Haushalt an Zuschüssen über Wohlfahrts- und Vertriebenenverbände 52 Millionen DM für Aussiedlerinnen und Aussiedler und nur 8 Millionen DM für Flüchtlinge veranschlagt worden sind. Unter anderem auch deshalb werden wir diesen Haushalt ablehnen.
({1})
Das Wort hat nunmehr die Abgeordnete Frau Ina Albowitz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Jelpke, wenn ich wüßte, Ihre Gruppe würde dem Bundeshaushalt zustimmen, dann hätten wir mit Sicherheit etwas verkehrt gemacht. Insoweit beruhigt mich das eigentlich.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, täglich gibt es neue Meldungen über Angriffe auf Asylbewerberheime. Dies macht betroffen. Besonders betroffen machen jedoch nicht allein die steinewerfenden Chaoten, sondern die offene oder stille Sympathie, die ihnen von Teilen der Bevölkerung entgegengebracht wird. Ich verhehle überhaupt nicht, daß mich auch betroffen macht, wie wir hier miteinander über diese Problematik diskutieren. Das gilt für heute morgen, das gilt aber auch für heute nachmittag.
({1})
- Das gilt für alle, Herr Kollege; vielleicht hören Sie wirklich zu.
({2}): Ich höre
zu! Aber Sie sollten nicht kritisieren! Sagen
Sie etwas Besseres, dann werden wir zuhören!)
- Also, ich denke, genauso sollten wir nicht miteinander umgehen. Ich habe meine persönlichen Empfindungen von Debattenbeiträgen hier dargestellt. Ich habe Sie überhaupt noch nicht gehört. Ich denke, wenn Menschen in Brand gesteckt werden, sollten wir nicht so diskutieren, wie Sie es jetzt versuchen.
({3})
Kein Bürger unseres Landes, ob in Ost oder West, darf vergessen, welchen Beitrag die ausländischen Mitbürger seit vielen Jahrzehnten für den Wohlstand der Bundesrepublik leisten und wie wichtig und fruchtbringend die Zusammenarbeit mit ihnen in allen gesellschaftlichen Bereichen ist.
({4})
Wir alle dürfen keine Zweifel daran aufkommen lassen, daß wir ein ausländerfreundliches Deutschland sind. Wir müssen aufpassen, daß auch keine Mißverständnisse aus der Politik entstehen, und sei es nur durch sprachliche Schludrigkeiten.
Keine sprachliche Schludrigkeit, sondern offensichtlich eine wohlüberlegte böse Äußerung war das gestrige Interview von SPD-Geschäftsführer Karlheinz Blessing, in dem er jeden möglichen neuen Anschlag auf eine Asylbewerberunterkunft als KohlKrawall bezeichnete.
({5})
Wer versucht, die zu verabscheuenden Aktionen der steinewerfenden Chaoten so für seine politischen Zwecke zu benutzen, verbündet sich mit den Falschen.
({6})
Blessing liefert den Werfern von Steinen und Brandsätzen ein Motiv für ihr Tun: Seid ihr gegen Kohl, dann stürmt weiter Asylbewerberheime.
Die derzeitige Situation in der Bundesrepublik ist offenbar auch ein Nährboden für fehlgeleitete Feindbilder und eine willkommene Spielwiese für Krawalltouristen aus ganz Europa. An wehrlosen Asylbewerbern entlädt sich der Frust über eigene Existenzängste. Daß der überwiegende Teil der Gewalttäter sehr junge Menschen sind, muß uns nicht nur zum Reden, sondern auch endlich zum Handeln zwingen. Etwa 70 000 Jugendlichen in den neuen Bundesländern,
die einen Ausbildungsplatz suchen, stehen rund 120 000 nicht besetzte Ausbildungsplätze in Westdeutschland gegenüber. Es wird Zeit, daß wir dafür eine konzertierte Aktion ins Leben rufen.
({7})
Wir müssen alle unsere Kräfte darauf konzentrieren, den Menschen wieder mehr Vertrauen in die Politik und dauerhafte Zukunftsperspektiven zu geben.
({8})
Vertrauen muß auch das Ausland in dieses Deutschland haben. Unser Ansehen in der Welt hat nach Hünxe und Hoyerswerda, nach Rostock, Bornheim und Alfter erheblichen Schaden genommen. Wir werden lange brauchen, um dies wieder in Ordnung zu bringen. Die Leserbriefspalte aus dem „Stern", der morgen erscheint, muß uns auch zum Nachdenken bringen. Ich darf mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, zitieren!
Allmächtiger Gott, beschütze uns vor Sturm, Wind und vor Deutschen, die wiedervereinigt sind.
Das schreibt ein Schweizer Bürger. Wenn uns das nicht zum Nachdenken zwingt!
({9})
Meine Damen und Herren, mit der Verabschiedung des Gesetzes zur Neuregelung des Asylverfahrens wurden dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge 2 426 neue Stellen zur Verfügung gestellt. Wir, die dafür verantwortlich sind, wissen, daß die Einstellung von Einzelentscheidern, Sachbearbeitern und Folgepersonal schwierig ist und einige Zeit dauert, zumal die Gauck-Behörde und andere oberste Bundesbehörden ebenfalls Mitarbeiter mit ähnlichem Anforderungsprofil suchen. Das befreit jedoch die Verantwortlichen nicht von der Pflicht, die Vorgaben des Gesetzes und der Allparteienvereinbarung schnellstmöglich umzusetzen und nicht auf Zeit zu spielen.
({10})
Der Bundesinnenminister muß mit seinen Kollegen aus den Ländern umgehend dafür sorgen, daß Vollzugsdefizite ausgeräumt werden - mit den Ländern, meine Damen und Herren! Wir alle, meine Kolleginnen und Kollegen, müssen mit dafür sorgen, daß auf allen Ebenen Druck auf die Verantwortlichen ausgeübt wird, anstatt immer mit dem Finger auf andere zu zeigen.
({11})
Das ist im Interesse der Sache angebrachter, als uns über Presseveröffentlichungen ständig mitzuteilen, welcher Verantwortliche angeblich versagt hat.
Die Bürger in Deutschland erwarten von uns Lösungen. Dazu können wir alle beitragen. Die F.D.P. ist bereit, sich an einer Koordinierungsgruppe von Bund und Ländern zu beteiligen und die Zusammenarbeit zu verbessern, die hilft, das zu beschleunigen. Verstärkte intensive Zusammenarbeit ist notwendig, um den Antragsstau abzuarbeiten, da nur dann das neue Asylverfahrensgesetz, wie beschlossen, in Kraft treten kann.
Meine Damen und Herren, ausgebaut wird im Haushalt 1993 die Förderung von Projekten in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, in denen Deutschstämmige leben. Bei einem Besuch vor Ort habe ich festgestellt, daß viele dieser Menschen nach Deutschland kommen wollen, wenn sich ihre Situation verschlimmert. Ebenso wurde in den Gesprächen aber auch deutlich, daß dies nur als letzter Ausweg bezeichnet wird, weil die eigentliche Lebensperspektiven in Rußland, der Ukraine oder den anderen Republiken liegt. Die 160 Millionen DM, die im Haushalt 1993 für Projekte vor Ort vorgesehen sind, sind nach meiner Auffassung notwendig. Allerdings müssen die Kontrollmechanismen für den Einsatz der Hilfen deutlich verbessert werden.
({12})
Ganz wichtig ist auch, daß die Projekte, die wir initiieren, der Gesamtbevölkerung zugute kommen. Hilfen für die deutsche Minderheit müssen deshalb nach Möglichkeit mit anderen Hilfsmaßnahmen der Bundesrepublik koordiniert werden.
({13})
Meine Damen und Herren, die Übergangsförderung der kulturellen Infrastruktur in den neuen Ländern durch den Bund ist derzeit Gegenstand erheblicher Diskussionen.
({14})
Wir wissen um unsere Verantwortung und sind ihr auch gerecht geworden, indem in den beiden letzten Jahren fast 2 Milliarden DM zur Verfügung gestellt wurden.
({15})
Der Grundsatz, daß die Kulturhoheit der Länder auch für den Bereich der Finanzierung gilt - Herr Kollege, ich meinte nicht die Mittel im Bundeshaushalt für die Kultur insgesamt, sondern nur für den Aspekt - und diese nur vorübergehend über den Bundeshaushalt erfolgen darf, wird auch nicht durch den Einigungsvertrag aufgehoben. Bedauerlich ist allerdings, daß die von mir mehrfach geforderte Kulturkonzeption noch immer nicht vorliegt. Das gilt für Berlin wie auch für die neuen Bundesländer.
({16})
- Herr Kollege, hören Sie doch bitte zu! Ich bin Berichterstatterin für diesen Haushalt. In dieser Funktion habe ich das hier in den Beratungen der letzten Jahre mehrfach gefordert, nicht nur für mich, sondern auch für meine Fraktion. Wenn auch Sie das immer getan hätten, wäre das durchaus hilfreich gewesen.
Wir müssen den Menschen ehrlicherweise sagen, daß wir auf Dauer nicht alles finanzieren können. Deshalb noch einmal meine Bitte und die Aufforderung an die Kultusminister der Länder, sich endlich hinzusetzen und eine Bestandsaufnahme zu erarbei8822
ten. Das nutzt der Kultur in den neuen Ländern mehr als zögerliches Taktieren und Spielen auf Zeit.
({17})
- Sekunde, ich möchte den Gedanken zu Ende führen. - Trotzdem werden wir im Rahmen der anstehenden Haushaltsberatungen den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern zuliebe prüfen, wie es möglich ist, durch Umschichtungen innerhalb des Haushaltes mehr Geld für die Erhaltung und Förderung der kulturellen Infrastruktur zur Verfügung zu stellen.
({18})
Herr Abgeordneter Duve, bitte schön.
Frau Kollegin, Sie haben in liebenswürdiger Strenge gesagt, daß die SPD-Fraktion doch auch solche Konzepte hätte machen sollen, so daß Sie das dann nicht hätten tun müssen.
Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß wir bereits im Dezember 1989 nach dem Wegfall der Mauer einen solchen Antrag hier im Bundestag eingebracht haben und seither alle Fraktionen des Deutschen Bundestages die Politik der Finanzierung durch den Bund im Rahmen des Einigungsvertrages gemeinsam getragen und nicht versucht haben, in einen Wettbewerb um die „leuchtende Fackel" einzutreten, die der eine oder andere getragen hat? Da Sie gesagt haben, Sie hätten die Konzepte, hatte ich mir erlaubt, zu sagen: Ach, Sie waren das. Wenn Sie das getroffen hat, nehme ich das sofort zurück.
({0})
Herr Abgeordneter Duve, dann nehmen wir das mal als eine Art Kurzintervention, weil das Fragezeichen fehlte, und geben der Abgeordneten Albowitz die Möglichkeit, zu antworten. Bitte sehr.
Herr Kollege Wiefelspütz, ich habe das Format von Herrn Duve ja nicht bestritten; das will ich durchaus konzedieren. Nur, ich habe von meiner Eigenschaft als Berichterstatterin gesprochen. Ich habe damit nicht die unterschiedlichen Positionen der Fraktionen oder deren gemeinsame Mühen gemeint, sondern das aus meiner Funktion als Berichterstatterin und der damit verbundenen Verantwortung gefordert. Ich werde das auch weiter tun.
({0})
Ich wiederhole: Trotzdem werden wir uns im Rahmen der anstehenden Haushaltsberatungen weiter um die kulturelle Infrastruktur bemühen. Ich hoffe, daß wir das gemeinsam tun. Nur sollten wir uns keine Illusionen machen! Wir müssen versuchen, dieses Geld in anderen Haushalten einzusparen.
Vor wenigen Wochen, meine Damen und Herren, sind die Olympischen Spiele in Barcelona zu Ende gegangen. Daß unsere Sportler nicht in allen Disziplinen auf dem Treppchen standen, muß eher als Erfolg gewertet werden. Der deutsche Sport hat den Kampf gegen das Doping aufgenommen und ist gegenüber Nationen, die ihrer Verantwortung den Athleten gegenüber offensichtlich nicht gerecht werden, nur vordergründig im Nachteil. Doch Sieger um jeden Preis, vor allem um den der Gesundheit der Sportler, darf es nicht mehr geben.
({1})
Wir müssen wieder lernen, sportliche Leistungen nicht nur an Medaillen und Weltrekorden zu messen.
Wer die Olympiade allerdings nur über die Medien verfolgte, konnte sich manchmal des Eindrucks nicht erwehren, hier ständen statt der Sportler die Funktionäre im Mittelpunkt.
({2})
- Nicht alle, nicht alle. - Bedauerlich ist, daß man bei den derzeit stattfindenden Paralympics fast überhaupt nichts von ihnen hört. Obwohl die Behindertensportler bewundernswerte Leistungen vollbringen, wird dies von Funktionären und Sportverbänden, aber auch von der Öffentlichkeit immer noch nicht ausreichend gewürdigt.
({3})
Meine Damen und Herren, die Gestaltung und Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands verlangt von uns allen in den nächsten Wochen und Monaten außerordentlich viel Sensibilität, Disziplin und Weitblick. Wir sind es den Menschen in unserem Lande schuldig, daß wir mit dem Taktieren, Spekulieren und Schwadronieren endlich aufhören und handeln.
Vielen Dank.
({4})
Nun erteile ich das Wort dem Abgeordneten Dr. Ullmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Innenpolitik heute spielt sich ab in einem Innen, das immer wieder weiter reicht, als unser Bewußtsein es fassen kann.
Im Frühjahr 1945 wurden wir als halbwüchsige Schüler auf die Dresdner Bahnsteige befohlen, die überquollen von flüchtenden Frauen und Kindern. Wir sollten nicht mit ihnen über individuelles Asylrecht diskutieren, sondern ihnen die viel zu schweren Koffer tragen, dorthin, wo sie untergebracht wurden. Da war auch uns Halbwüchsigen klar: Der Weltkrieg fand nicht irgendwo in der Welt draußen statt, sondern mitten in unserer eigenen Welt.
({0})
Als die Flüchtlinge schon 20 Jahre in Deutschland lebten, machte eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland darauf aufmerksam, daß der Friede auch die Heimat der Flüchtlinge umfassen
muß, daß, wenn der Weltkrieg mitten unter uns durch einen wirklichen Frieden abgeschlossen werden soll, dies nicht nur ein Friede mit dem Westen, sondern auch mit dem Osten Europas sein muß.
1989 waren abermals Flüchtlinge mit Sack und Pack auf den Grenzwegen in Ungarn, an den Zäunen der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Die unüberwindlich scheinenden Systemgrenzen fielen und ließen einen bis heute kaum absehbaren Innenraum in Erscheinung treten.
Und wieder fliehen heute Leute von Osten nach Westen. Diesmal sind es nicht die Deutschen, sondern die, denen in Rumänien und Jugoslawien der Nationalitätenstreit das Leben zerstört.
Wir stehen vor der Frage: Muß man diese Menschen nicht genauso unterbringen wie damals die Deutschen? - Aber da bricht auf einmal Panik aus: in Hoyerswerda, in Rostock, in Greifswald, Cottbus und anderswo. Es ist die Panik derer, die die Fassung verlieren, weil sie meinen, da breche lauter Fremdes in ihr Innen, und zwar in die innersten Kreise, ein.
Panikstimmung ist es denn auch, die ihnen den verzweifelten Gedanken der ethnischen Säuberung eingibt; denn die ethnische Säuberung ist um nichts besser als die ideologischen Säuberungen Stalins und die rassistischen Hitlers.
({1})
Die Ergebnisse solcher Säuberungen sind bekannt. Und müssen sie nicht so sein, wie wir sie kennen? Können Menschen noch wie Menschen leben, wenn sie versuchen - jedes Volk -, in einem eigenen abgegrenzten Käfig ihrer Identität zu leben? Darum: Nicht ethnische Säuberung, „Deutschland den Deutschen!", sondern ethische Säuberung, Reinigung und Aufklärung der Herzen und des Bewußtseins muß heute die Hauptlosung der Innenpolitik sein, nicht der „Multikultimüllhaufen", sondern die Kommunikation der Kulturen auf der Ebene der Demokratie, die vielsprachige Kommunikation. Erreicht werden kann sie aber nur aus der Kraft zur Unterscheidung der verschiedenen Rechte derer, die in diesem erweiterten Innen miteinander umgehen sollen. Nichts verwirrt und verdirbt unsere Innenpolitik mehr als die Unfähigkeit, zwischen Asylrecht und Flüchtlingsrecht zu unterscheiden.
Dabei liegt der Gesetzentwurf von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN seit Monaten auf dem Tisch, der mittels eines dreifachen Flüchtlingsbegriffes Wege zu einem Verfahren weist, wie die Rechte der Flüchtlinge mit den Rechten der Aufnehmenden vernünftig abgestimmt werden können.
Asylsuchende sind einzelne, deren Leben mit einem bestimmten Milieu nicht mehr in Einklang gebracht werden kann, wie jene Christen, jene Mediziner, Künstler, denen auch ohne äußere Verfolgung das Leben in der DDR unmöglich wurde.
Herr Gerster, das ist mit Genf eben nicht gedeckt! Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention sind alle, denen ein lebensfeindliches Milieu die physische und die humane Existenz bedroht. Flüchtlinge sind schließlich auch alle, die im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen in unser Land kommen und aufgenommen werden müssen.
Zu solcher Unterscheidung bedarf es nun freilich auch neuer zweckmäßiger und kompetenter Institutionen eines Bundesflüchtlingsamtes, einer Flüchtlingskommission und eines Anerkennungsausschusses. Es sind Rundtischstrukturen, die bürokratische Weltfremdheit durch unmittelbare Erfahrung und Kontaktermöglichung überwinden, so wie es im Freistaat Sachsen auf Anregung von Innenminister Eggert schon vielfach erprobt wurde: zeitgemäße Innenpolitik in einer entgrenzten Gesellschaft.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Freimut Duve.
Herr Ullmann, ich fand den Einstieg außerordentlich bewegend, die Erinnerung an unsere Jugend oder Kindheit, als wir mit Flüchtlingen konfrontiert waren, zusammengelebt haben. Aber eines hat sich inzwischen grundsätzlich geändert - und ich glaube, wir entdecken das erst langsam - : Wir haben seither die Obdachgewährung in einem sehr komplizierten System völlig an die öffentliche Hand, an den Staat abgegeben. Wir leisten das nicht als Bürger, sondern ausschließlich als Steuerzahler. Und wir müssen die humanitäre, die ethische Frage der Übertragung dieser Aufgabe, der Obdachgewährung, an den Staat, die wir gefühlsmäßig, traditionsmäßig und auch als Christen noch in uns empfinden, sehr ernst nehmen. Es sind seinerzeit Menschen aus dem Osten in unseren Wohnungen gewesen. Es war eine Militärregierung, die das angeordnet und organisiert hat, und es war sehr schwierig.
Ich will jetzt nicht zu diesem Thema sprechen, aber ich fand es interessant, daß Sie das hier noch einmal so eindringlich in Erinnerung gerufen haben.
Ich möchte nun auf das eingehen, was der Herr Innenminister, der Herr Bundeskanzler wie auch die verehrte Kollegin Berichterstatterin der Freien Demokraten heute im Laufe der Debatte angedeutet haben, nämlich daß es wohl doch möglich sein werde, jedenfalls im Haushalt 1993, die Mittel für den Bereich Kultur in den fünf neuen Ländern und Berlin besser auszugestalten, als es im Entwurf bisher vorgesehen ist. Ich halte das für eine ganz wichtige Chance. Deshalb will ich auch gar nicht schimpfen und kritisch sein. Wenn es uns gelänge, dieses lebenswichtige Element Kultur in einer Welt zu erhalten, in der die Menschen in einigen Regionen bis zu 40 % Arbeitslosigkeit erleben, in einer Welt, in der sie Rostock zum Teil sogar mitgetragen haben, dann wären wir ein ganzes Stück weiter.
Es ist schlechterdings nicht vorstellbar, daß unsere Städte in den fünf neuen Ländern mit dem Haushalt 1993 gesagt bekommen, daß alle Bundesmittel 1994 „kw" sein sollen.
({0})
Man muß sich bitte vorstellen, was das bedeutet. Bitte,
liebe Wessis, denken Sie daran, was es bedeutet, daß
wichtige öffentliche Begegnungseinrichtungen in Ihren Städten, in Ihren Wahlkreisen ab 1994 mit etwa 30 bis 40 %, in einigen Einrichtungen bis zu 50 oder 60 % „kw" gestellt werden, d. h. auf Null gebracht werden sollen. Die eigentliche Aufgabe jetzt ist es, 1993 mehr zu leisten, aber nicht jetzt schon das Signal zu geben: Ab 1994 ist Schluß. Das können die Gemeinden nicht verkraften, das können die fünf neuen Länder nicht verkraften. Das wäre für die Zukunft eine Katastrophe.
Nun komme ich noch einmal auf das Konzept: Es ist eine große Leistung auch der Mitarbeiter des Innenministeriums - weniger Leute, die nicht nur ein Konzept entwickelt, sondern auch in der Sache etwas getan haben, was man noch nie getan hat -, eine zentralistische Kulturadministration, für die es die neue Trägerschaft überhaupt noch nicht gab, hinüberzuretten mit dem, was wir seinerzeit das „Kaufen von Zeit" mit Bundesmitteln genannt haben, und das hat der Einigungsvertrag versucht.
Wir rechnen uns als SPD-Fraktion mit an, sehr früh auf diese Entwicklung hingewiesen und in diesem Haus gesagt zu haben: Es geht da etwas kaputt, was nicht kaputtgehen darf. Aber, meine Damen und Herren, es sind schon sehr viele Einrichtungen kaputt: Es gibt schon eine Halbierung der Zahl der Kinos, es gibt schon 40 % weniger Jugend- und Kulturbegegnungsstätten. Wenn im Jahre 1994 auf Null gegangen wird, dann bedeutet das möglicherweise eine Fehlinvestition dieser 2 Milliarden DM, von denen der Minister und auch Sie geredet haben. Das heißt, dann war das Ganze umsonst; denn dann bricht auch das zusammen, was an Neuem jetzt noch da ist.
Ich war dabei, als die Stadträte in einigen Gemeinden über Kultur gesprochen haben. Die großen und die kleineren Gemeinden in den neuen Bundesländern haben sich da große Mühe gegeben und auch etwas zustande gebracht. Obwohl es Verwaltungen der Art, wie wir sie jetzt haben, vor zwei Jahren noch gar nicht gab, haben sie es geschafft, einen ganz erheblichen Anteil der Mittel für Theater, für Bildungszentren usw. einzusetzen. Wir dürfen uns hier als Bund nicht zurückziehen.
Ich muß kritisch sein, auch mit den Westländern. Sie haben sich zwar in Einzelfällen, wie etwa meine Stadt Hamburg für Dresden, sehr engagiert, sich aber insgesamt dieser Aufgabe doch ein bißchen entzogen. Wir müssen überlegen, wie wir dann, wenn sich der Bund tatsächlich langsam zurückzieht - auch unsere Meinung ist, daß er sich hier nicht auf ewig engagieren kann -, dort zu einer neuen solidarischen Form kommen. Wir werden eine andere Länderfinanzregelung bekommen. Aber in der Zwischenzeit, in diesen zwei Jahren, dürfen diese Institutionen nicht zum Tode verurteilt werden.
({1})
Ich meine, daß die Kultur in den fünf neuen Bundesländern auf keinen Fall nur als Ornament gesehen werden darf. Sie ist ein Wesenskern einer Gesellschaft, die jetzt eine große Perspektivlosigkeit erfährt, in der die Menschen nicht wissen, wohin es geht, wenn nicht wenigstens kulturelle Begegnungsstätten aller Art, auch neuer Formen, vorhanden sind, in denen man miteinander reden kann.
Die Journalisten, die jetzt hinübergefahren sind, haben berichtet, wie wenig Möglichkeiten der Begegnung es für die jungen Leute dort gibt. Und es ist sicher richtig: Das Sterben der Begegnungsstätten für die jungen Menschen ist fast das Dramatischste überhaupt. Vor der Wende haben sich die Betriebe darum gekümmert. In der Marktwirtschaft wurde ihnen zu Recht gesagt: Ihr könnt das nicht mehr machen; es ist betriebswirtschaftlich völlig falsch, wie ihr das gemacht habt. Dann mußte der Bund es machen, und er muß es nach meiner und unserer Meinung - wir haben es auch in mehreren Anträgen gesagt - mindestens bis Mitte der 90er Jahre, d. h. bis zum Haushalt 1995 tun. Ich bitte hier sehr um Unterstützung der Haushälter.
Sie wissen, ich bin eigentlich viel lieber kritisch und gegen die Regierung feuernd; das ist ja auch meine Aufgabe.
({2})
Aber in diesem Fall habe ich mich von Anfang an bemüht, etwas Gemeinsames hinzukriegen - unabhängig davon, wie der Kanzler heißt, obwohl ich weiß, wie er heißt -, weil es hier wirklich um die Sache geht, die nur gemeinsam gemacht werden kann. Vielleicht kann das auch Modellcharakter haben: nicht einer Koalition, sondern als Möglichkeit parlamentarischer Zusammenarbeit da, wo es brennt und wo es Sinn macht, wo man sehen kann, daß auch die Bundesregierung - in diesem Fall die dafür zuständige Abteilung des Innenministeriums - Anregungen des Parlaments aufnimmt. Das hat sie in hervorragender Weise getan. Niemand hat mehr Besorgnis und Furcht davor, daß ab 1994 Schluß ist, als eben die Kulturabteilung des Innenministeriums, die immer wieder Notsignale gibt.
({3}) Aber auch die Ministerpräsidenten wie Biedenkopf, und alle anderen, die sich in ähnlicher Weise engagieren, sind hier natürlich zu nennen.
Ich habe hier jetzt ausschließlich zu diesem Bereich gesprochen. Und ich sehe an Ihren - mir gegenüber sonst nicht immer so freundlichen - Gesichtern,
({4})
daß wir hier zu einem Konsens kommen.
({5})
Es ist nicht das Mittel, aber eines der Mittel, mit denen wir die Perspektivlosigkeit, über die wir hier in dieser Haushaltsdebatte im wesentlichen gesprochen haben, vielleicht ein bißchen mildern können.
Ich danke für Ihre freundliche Aufmerksamkeit.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Karl Deres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bitte ertragen Sie es,
daß ich in diese hochkarätige innenpolitische Debatte einige haushälterische Korsettstangen einziehe und daran erinnere, daß die eigentliche Beratung jetzt bevorsteht.
Die Bundesregierung hat einen Haushaltsentwurf vorgelegt, der hilft, die Solidität unserer Staatsfinanzen und die Stabilität der D-Mark auf Dauer zu erhalten. Das ist der allerwichtigste Punkt für die Zukunft auch der neuen Länder.
Jeder weiß: Einschränkungen und Einsparungen sind zur Lösung der großen Zukunftsaufgaben unverzichtbar. Ich warne jeden, der jetzt zu diesem Haushalt an jeder Ecke und Kante Erhöhungsanträge einbringt. Ich habe schon zwei große Mappen voll von Erhöhungsanträgen vor der Türe liegen.
Der Regierungsentwurf weist in die richtige Richtung. Mit Ausgaben von rund 8,6 Milliarden DM hat er etwa das gleiche Niveau wie im vergangenen Jahr. Dabei sind Verschiebungen bei den einzelnen Ausgabeblöcken während der Detailberatungen nicht ausgeschlossen, aber bei der engen Anlage des Haushaltes, der in diesem Jahr vorgelegt wird, mit größten Schwierigkeiten verbunden. Sie müssen einmal die schreien hören, die etwas abgenommen bekommen. Sie dürfen nicht immer nur meinen, Sie könnten für diejenigen schreien, die etwas mehr wollen. So einfach ist das nämlich nicht in der Praxis der Detailberatungen.
Wir sind der Meinung: Jeder Posten gehört auf den Prüfstand; und dann werden wir abwägen, wer die besseren Argumente hat.
Wir werden bei den Beratungen alle Aufgabenfelder der Innenpolitik durchleuchten: von der Asylpolitik über die innere Sicherheit bis hin zu Sport und Kultur oder der Frage, was gegenüber den deutschen Aussiedlern zu geschehen hat.
In diesen Tagen beherrscht das Thema Asyl die Schlagzeilen. Nach den jüngsten schrecklichen Gewalttaten gegen Ausländer muß jedem klar geworden sein: Es reicht nicht aus, Ausländerfreundlichkeit mit starken Worten einzufordern. Wenn wir das generell ausländerfreundliche Klima in unserem Lande erhalten wollen, dann dürfen wir den Menschen nicht mehr als das zumuten, was sie auf Dauer tragen können. Wer hier die Grenzen überschreitet, der arbeitet denjenigen in die Arme, die ihr Geschäft mit der Angst betreiben und daraus auch noch politisches Kapital schlagen wollen. Augenmaß und Realismus müssen gerade in der Asylpolitik oberste Richtschnur sein.
Daher haben wir von der Union schon immer auf einer Grundgesetzergänzung bestanden. Nach den SPD-Beschlüssen auf dem Petersberg deutet sich jetzt an, daß es der SPD-Basis aus Bürgermeistern, Kommunalpolitikern usw. gelungen ist, bei ihrer Partei-und Oppositionsführung den längst überfälligen Umdenkprozeß in Gang zu setzen.
({0})
- Gerlinde, das stimmt doch wohl so.
({1})
- Ja, ich hoffe es. Ich hatte gar nicht verstanden, daß es nicht um mein Ohr ging; entschuldige bitte.
Schmerzlich allerdings ist, daß sehr, sehr viel Zeit vergehen mußte, bis sich die notwendigen Einsichten bei der SPD durchgesetzt hatten. Ich erlaube mir, daran zu erinnern, daß ich bei den letzten Etatberatungen, Herr Kollege Hirsch, gesagt habe, daß allein mehr Personal in Zirndorf und damit mehr Geld die Probleme des Asylrechts nicht lösen können.
Daß meine seinerzeitige Einschätzung richtig war, haben die aktuellen Asylbewerberzahlen längst bewiesen. Fast 284 000 Personen haben in den acht ersten Monaten dieses Jahres bereits Anträge in der Bundesrepublik Deutschland gestellt. Damit wird uns das Jahr 1992 abermals einen neuen Rekord an Asylbewerbern bringen. Im Jahr 1991 waren es für das gesamte Jahr etwas mehr als 256 000 Neuzugänge. Wieder werden die Zahlen des Vorjahres deutlich übertroffen. Wieder stellt uns das Asylbewerberproblem vor eine ganz besondere Situation.
Schon vor einem Jahr mußten wir den Haushalt 1992 über einen Berichterstattervorschlag den inzwischen enorm gestiegenen Zugangszahlen von Asylbewerbern anpassen. Wir haben das Stellensoll des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge von 1 176 Ende 1991 auf jetzt 3 599 Stellen aufgestockt. Doch ist es nicht einmal sicher, daß diese Anstrengungen reichen werden. Der Regierungsentwurf basiert auf der Prognose von 210 000 Asylanträgen für 336 000 Personen. Nach jüngsten Schätzungen haben wir aber mit rund 465 000 oder etwas mehr Zuwanderern zu rechnen.
Es liegt auf der Hand, daß das so nicht weitergehen kann. Eine Änderung der Rahmenbedingungen insbesondere bei der Asylgesetzgebung und der Sozialhilfeausstattung ist nach meiner Einschätzung unumgänglich und sehr dringlich. Unsere Bürger erwarten von uns, daß dieses Problem jetzt zügig gelöst wird.
In diesem Zusammenhang erinnere ich noch einmal an die Vereinbarung aus dem vergangenen Oktober: Die Länder haben zugesagt, dem Bundesamt in Zirndorf 500 sachkundige Bedienstete zur Verfügung zu stellen, damit endlich die sich auftürmenden Asylanträge abgearbeitet werden können. Sachkundige Bedienstete! Sachkundige, sage ich noch einmal. Doch wo bleibt die zugesagte Unterstützung der Länder? Außer verbalen Kraftanstrengungen kommt von Länderseite wenig.
Lassen Sie mich das am Beispiel des BAF1 - das ist die übliche Abkürzung für das Bundesamt für die Anerkennung - deutlich machen: Von 37 Bediensteten, die das Land Hessen zur Verfügung stellen wollte, sind dem Bundesamt 14 benannt worden. Gerade sieben von ihnen sind für die Aufgabe geeignet. Angetreten hat davon allerdings noch kein einziger seinen Dienst bis zum 1. September.
Auch Rheinland-Pfalz steht bei der Einhaltung der Zusagen nicht besser da: Von dort hätten 24 Einzelentscheide benannt werden sollen. Dem Bundesamt sind allerdings nur 21 Bewerbungsunterlagen zur Verfügung gestellt worden. Nur 19 Bewerber davon kommen für die Aufgabe in Betracht. Bis zum 1. September hat keiner der Bewerber seinen Dienst ange8826 Deutscher Bundestag - 12. Wahlperiode - 103 Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 9. September 1992
treten. Was aber soll man beim Bundesamt mit Bewerbungsunterlagen anfangen, wo doch von den Ländern tatkräftige Hilfe in Form von Personal versprochen wurde?
In diesem Zusammenhang wüßte ich gerne, was der hessische Ministerpräsident gemeint hat, als er ausgerechnet den Bundesinnenminister wegen wachsender Rückstände beim BAF1 anzuprangern versuchte. All diejenigen, die sich in diffamierender Weise - so wie Eichel oder auch Scharping - äußern, müssen sich an ihrem eigenen Verhalten gegenüber dem BAF1 messen lassen. Sie sollten bedenken, wie jämmerlich sie ihre Zusagen zur Unterstützung des Bundesamtes lin Sand verlaufen lassen. Dafür die Schuld dem Bund und dem Bundesminister zuschieben zu wollen, ist schon ein extrem starkes Stück.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle einige Anmerkungen zur Übergangsfinanzierung zur Erhaltung der kulturellen Substanz im Beitrittsgebiet - wie es im Einigungsvertrag so schön heißt-: 1991 standen hier im Haushalt insgesamt 950 Millionen DM, 1992 noch 830 Millionen DM. In den ersten beiden Jahren, 1990 und 1991, hat es aber ein Ist von insgesamt 1,39 Milliarden DM gegeben. Das ist dem Zwischenbericht im Haushaltsausschuß zu entnehmen. In diesem Haushaltsentwurf der Regierung sind 350 Millionen DM veranschlagt. Dazu werden wir im Haushaltsausschuß sicher noch Rückfragen, Diskussionen und weitergehende Vorschläge erleben. Doch klar ist auch: Die Übergangsfinanzierung war auf dem Weg zur Herstellung der Einheit Deutschlands notwendig. Die vergangenen zwei Jahre haben das gezeigt.
Auch aus der Interessenlage der Länder und Kommunen in den neuen Ländern ist der Wunsch nach einer Fortsetzung der Übergangsfinanzierung verständlich. Doch lassen Sie mich klar sagen: Kultur ist nach unserer Verfassung Ländersache, und Kulturhoheit bedeutet auch Kulturverantwortung. Daher habe ich an der zeitlichen Befristung des Übergangsfinanzierungsprogramms von Anfang an keine Zweifel gelassen.
Herr Abgeordneter, sind Sie bereit, eine Frage des Abgeordneten Duve zu beantworten?
Ich bin mit meiner Zeit schon bei Null angekommen.
Ich werde da großzügig sein, wenngleich ich das Haus darauf aufmerksam machen muß, daß wir die Zeit insgesamt deutlich überschritten haben.
Herr Kollege, es ist meines Wissens das erste Mal, daß im Deutschen Bundestag gegen den Art. 35 des Einigungsvertrags die Länderhoheit in dieser Form ins Spiel gebracht wird. Wir waren uns immer einig, und da gab es überhaupt keinen Unterschied, daß es hier nicht um Bundeshoheit oder um Länderhoheit geht, sondern um eine Verpflichtung, die sich aus dem Einigungsvertrag ergibt und die da lautet: Substanzerhaltung. Damit können natürlich befristet die Länder und Städte in die Chance, in die Kraft geraten, das dann zu tun. Aber daß jetzt aus der Länderhoheit heraus so argumentiert wird, geschieht meines Wissens zum ersten Mal. Wir werden das sehr sorgfältig zur Kenntnis nehmen.
Herr Kollege Duve, ich habe erst den ersten Teil meiner Ausführungen zur Frage der Kulturhoheit dargelegt.
Ich habe soeben sehr gut zugehört. Der Minister hat von Kulturerbe gesprochen, und Sie haben von Kulturleben gesprochen. Jetzt stelle ich Ihnen eine Gegenfrage, die Sie aber nicht beantworten müssen. Ich darf es also in Frageform kleiden. Würden Sie es auch als kulturelles Leben und Förderung des kulturellen Lebens bezeichnen, wenn die kommunistische, kulturell hochstehende Jugendweihe auch in Zukunft weiterhin mit AB-Maßnahmen unterstützt wird?
({0})
- Gut.
({1})
Ich will Ihnen nur sagen, daß es sehr kritische und schwierige Stellungnahmen auch aus dem Kunst- und Kulturbereich in Einzelfällen gibt, daß wir das Wort Substanzerhaltungsprogramm im Grunde genommen sehr ernst nehmen wollen, daß wir etwas tun wollen, aber daß wir das nicht auf Dauer tun können.
Herr Duve, Sie müssen sich die Diskussion im einzelnen vergegenwärtigen. Sie müssen sehen, daß Sie Lander unter Druck setzen müssen, daß sie ihre Anteile von 25 % in einen bestimmten Fonds zahlen. Wir haben bittere Erfahrungen in dem Bereich, gerade was diesen Punkt angeht.
Ich komme in Zeitverlegenheit. Ich bin der Meinung, daß wir die Ansätze bis in die Liste der Objekte hinein besonders kritisch prüfen müssen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt, um es nicht zur Daueraufgabe werden zu lassen.
Ich weise Sie abschließend in einem letzten Satz darauf hin, daß bei uns Berichterstattern vor der Türe andere gesellschaftliche Gruppen stehen, sich unter Berufung auf Kunst und Kultur bei uns um diese außergewöhnlich hohe Förderung bemühen und bitten, daß sie genauso behandelt werden. Das ist dann ein Problem für uns Haushälter.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat nunmehr der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben uns im Lauf des heutigen Tages mehrfach bemüht, über die Überwindung von Perspektivlosigkeit in diesem Lande, insbesondere bei der jungen Generation, zu sprechen. Ich denke, deswegen ist es gut, wenn zwar zum Schluß, aber immerhin, doch noch mit einem speziellen Redebeitrag auf den wichtigen Bereich des Sports eingegangen wird, der 24 Millionen und mehr Menschen in diesem Lande unter
Wilhelm Schmidt ({0})
seinen Dächern versammelt und dafür sorgt, daß gerade diesen Menschen eine Perspektive gegeben wird.
Wir haben uns in der Rolle der Politik hier daran zu orientieren, daß wir zum einen die Autonomie des Sports akzeptieren und anerkennen, zum anderen nicht in der Rolle sind, nur stiller Finanzier zu sein, sondern im Sport auch zur Orientierung beitragen und uns zur Klärung von Strukturen und zur Anpassung an moderne Zeiterscheinungen äußern.
Wir haben in den 70er und 80er Jahren bedauerlicherweise an vielen Stellen einen solchen Prozeß nicht wahrgenommen und ihn oft verdrängt oder geradezu verschlafen. Dies kann nicht ohne Folgen bleiben, zumal dann, wenn es zu einer Verschärfung kommt. Wir werden wahrscheinlich die Folgen leider zu spüren bekommen. Daher müssen wir sehr schnell und sehr konkret gegen solche Entwicklungen angehen.
Der Haushalt 1993 und die Arbeit der Regierung werden diesem Anspruch bedauerlicherweise nicht gerecht. Ich sehe dabei nicht nur die vielfältigen ungelösten Fragen beispielsweise der künftigen Finanzierung des Sports, sondern auch die Fragen der Nachwuchsförderung, die Fragen der Qualitätssicherung auch im Leistungssport und natürlich den Kampf gegen die Leistungsmanipulation.
Um zu differenzieren: Die Finanzierung des Sports mit Hilfe öffentlicher Kassen wird immer schwieriger, und wir wissen dies. Dennoch ist die Aussicht auf eine Umgestaltung der Finanzierungsinstrumente beispielsweise in der Form, daß die Aktivierung kommerzieller Einnahmen erfolgt, nicht in dem Maße zu spüren, wie es notwendig wäre.
Wir brauchen auch in diesem Zusammenhang - ich erinnere an meine Rede an dieser Stelle vor einem Jahr - Solidaritätsregelungen. Wenn dies dem Sport nicht selbst in eigener Verantwortung gelingt, erinnere ich an das, was auch der Vorgänger des jetzigen Innenministers in seiner Eigenschaft als Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU inzwischen Gott sei Dank aufgegriffen hat: Wir müssen notfalls über eine Sportvermarktungsabgabe nachdenken, wenn wir das nicht in den Griff bekommen.
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Es kann ja wohl nicht angehen, daß die Vermarktungsrechte in einer Weise umgesetzt und kommerzialisiert werden, daß es geradezu explodiert. Der Staat hat mit 25 Milliarden DM an Kosten für die Verkabelung seinen Beitrag als Grundlage dafür geleistet, und wir haben am Ende von dem, was z. B. insbesondere Fußball und Tennis an dieser Stelle erlösen, nicht eine einzige Mark für andere Sportförderungsauf gaben.
Ich frage an dieser Stelle: Was macht die Regierung, und was macht sie über diesen Haushalt im Zusammenhang mit dem aktiven Kampf gegen das Doping? Zusätzliche Mittel für Dopingkontrollen sind im Haushalt leider nicht enthalten. Wir alle sind uns klar darüber, Herr Seiters, daß wir sie dringend brauchen und daß wir mehr tun müssen als das, was zur Zeit geschieht, wenn wir sauberen Sport, wie Sie selber und der Bundeskanzler das immer genannt haben, haben wollen, ein Ziel, das auch ich unterstütze.
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- Aber nicht in dem Maße, wie es notwendig ist, Herr Deres. Wir brauchen viel mehr Untersuchungen und Kontrollen als zur Zeit erfolgen. Das ist klar. Darüber sind wir uns zumindest unter den Fachleuten einig. Die Frage ist nur, wie das umgesetzt wird. Daran fehlt es.
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- Dafür bin ich Ihnen fast dankbar, Herr Deres. Freilich müßte das diskutiert werden. Dann müßte das Innenministerium seine Schularbeiten machen, weil die Verbände an dieser Stelle auch mit ihren eigenen Einnahmen, z. B. aus der Vermarktung, erheblich dazu beitragen können; sie haben ja zum Teil Geld aus eigenen Quellen.
Ich halte es auch für sehr wichtig, in diesem Zusammenhang - wir werden in den nächsten Monaten ja mehrere Gelegenheiten haben, das fortzusetzen - auf die Anti-Doping-Charta des Europarats aufmerksam zu machen, deren Ratifizierung, Herr Innenminister, leider immer noch nicht stattgefunden hat, weil die Bundesregierung das Ratifizierungsgesetz noch nicht verabschiedet und uns vorgelegt hat, obwohl diese Charta schon seit November 1989 vorliegt und die Bundesregierung ihr mit großer Verzögerung beigetreten ist. Es gibt also Handlungsbedarf auch auf diesem Sektor.
Wir werden in den nächsten Wochen und Monaten die Gelegenheit - nicht nur im Sportausschuß, sondern auch weit darüber hinaus - nutzen, um auf diese Punkte aufmerksam zu machen und zu einer Lösung in gemeinsamer Arbeit mit dem Sport, der natürlich ursächlich zuständig ist - Herr Deres, Sie haben völlig recht -, beizusteuern.
Wir müssen uns darauf besinnen, daß die Auswüchse der olympischen Bewegung nicht so weitergehen können wie jetzt. Die Kommerzialisierung dieses Bereichs ist einfach nicht mehr hinzunehmen.
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Die Sportlerinnen und Sportler sind an vielen Stellen nur Mittel zum Zweck. Wir müssen die Beherrschung der Kommerzialisierung, nicht nur im Bereich der olympischen Bewegung, sichern, um auf diese Weise dem Sport eine Perspektive zu geben.
Ich erinnere auch an das Chaos und die Reaktionen von der Regierungsseite im Zusammenhang mit der Olympia-Bewerbung Berlins. Dies ist nicht mehr erträglich. Ich will das hier nicht länger ausführen, weil das auf der Hand liegt und selbstverständlich ist.
Es kann nicht angehen, daß der Finanzminister immer wieder als aktiver Gegner dieser OlympiaBewerbung auftritt, daß ihm von der einen und von der anderen Seite in den eigenen Reihen der Koalition
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dann auch Beifall gezollt wird, und daß sich dann der Innenminister und der Außenminister hin und wieder dagegenstellen. Hier fehlt das Kanzlerwort. Es ist einfach nicht vorhanden.
Wir werden Ihnen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen, Gelegenheit geben, bei -spielsweise im Rahmen einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, die wir jetzt eingebracht haben, dafür zu sorgen. Wenn dies nicht erfolgt, sollten wir uns die Kosten für die Olympia-Bewerbung, die noch nicht ausgegeben sind, sparen. Denn dies ist genau der Punkt, auf den wir zusteuern. Wir geben das Geld unnütz aus, wenn diese Regierung nicht hinter der Bewerbung steht.
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Eine ganz besonders wichtige Rolle im Sport spielt die deutsche Einheit. Darauf muß an dieser Stelle mit großem Nachdruck hingewiesen werden. Es ging um die Überwindung von Perspektivlosigkeit. Der Sport kann gerade für junge Menschen ein unglaublich positives Signal setzen. Wir alle müssen dazu beitragen, daß die vorhanden Strukturen des Sports gestärkt werden und daß vor allen Dingen der Ausbau der Strukturen des Sports in den nächsten Monaten und Jahren vorankommt. Wir dürfen nicht hinnehmen, daß der Niedergang des Sports, der zur Zeit in den ostdeutschen Bundesländern festzustellen ist, praktisch widerspruchslos hingenommen wird.
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Wir müssen in diesem Zusammenhang dafür sorgen, daß der Niedergang, der jetzt statistisch feststellbar ist - dahinter stehen ja oftmals auch menschliche Schicksale -, nicht fortschreitet. In Leipzig beispielsweise ist nicht einmal mehr die Hälfte der vormals organisierten Sportler in den Vereinen organisiert. Mehr als die Hälfte der Sporttreibenden wird nicht mehr betreut. Da darf man sich nicht wundern, wenn Hoyerswerda, Rostock und viele andere Entwicklungen Platz greifen.
Wir müssen reagieren. Die SPD-Bundestagsfraktion wird Ihnen zu diesem Zweck im Herbst drei Anträge zu drei verschiedenen Bereichen vorlegen, die entsprechende Vorschläge enthalten, worüber wir in den nächsten Wochen und Monaten hier diskutieren werden. In diesen Anträgen geht es zum einen um den Sportstättenbau, zum anderen - das ist mindestens genauso wichtig - um die Strukturen des Sports. Hier muß eine Übergangsfinanzierung gesichert werden. Wir kommen nicht daran vorbei, auch wenn an mancher Stelle immer wieder auf die Kompetenzlage hingewiesen wird.
In dieser Frage schließe ich mich dem, was Herr Duve zum Thema Kultur gesagt hat, für den Bereich des Sports ausdrücklich an. Wir müssen in diesen schwierigen Zeiten auch dafür sorgen, daß diese Dinge trotzdem übergangsweise aufrechterhalten und gesichert werden. Deswegen brauchen wir für den Sportstättenbau einen Goldenen Plan 2000, und wir brauchen Mittel, die weit darüber hinausgehen.
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Ich will Herrn Oswald und seinen Freunden in der Region Augsburg folgendes sagen: Ich habe sogar einen Finanzierungsvorschlag. Wir brauchen zur Finanzierung eines Hochglanz- und Superprojekts wie des Regenerationszentrums in Königsbrunn nicht 70 % Bundesförderung auszuschütten; das sind fast 30 Millionen DM. Dieses Geld könnten wir sinnvoll zum Aufbau von Sportstätten in Ostdeutschland verwenden. Die bayerische Landesregierung wird Wege finden, um ihr Hochglanzprojekt selber zu finanzieren.
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Ich will zum Schluß hinzufügen: Wir als verantwortungsbewußte Politikerinnen und Politiker dürfen auf der einen Seite doch wohl nicht Beifall klatschen, wenn zwei Drittel aller Medaillen, die in Barcelona gewonnen worden sind, von ostdeutschen Sportlerinnen und Sportlern gewonnen wurden, und uns damit brüsten, daß der OSC Potsdam der erfolgreichste Sportverein der Welt ist, wenn wir auf der anderen Seite all das, was zur Stabilisierung dieser Erfolge beigetragen hat, nun auf einmal zusammenbrechen lassen. Das ist nicht nur inkonsequent, sondern auch zutiefst menschenunwürdig gegenüber denen, die sich im Sport engagieren.
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Wir finden glücklicherweise immer noch nicht nur aktive Sportlerinnen und Sportler, sondern auch ehrenamtlich Tätige, die uns dabei helfen, diese Strukturen im Sport einigermaßen aufrechtzuerhalten. Leisten wir unseren Beitrag, um auf diese Weise diese Motivation aufrechtzuerhalten!
Herr Abgeordneter Schmidt, Sie sind ja so freundlich, frei zu sprechen, wie die Geschäftsordnung es vorsieht. Bitte richten Sie sich auch nach der Redezeit.
Genau dies war mein Schlußsatz, Herr Präsident.
Danke schön. Das ist sehr erfreulich.
Ich wünsche uns allen eine gute Sportberatung.
Ich danke Ihnen.
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Bevor ich der Justizministerin das Wort gebe, erlaube ich mir, nach diesem sportbezogenen Beitrag das Haus darüber zu informieren, daß es in dem Fußballspiel Deutschland - Dänemark 1 : 0 für Deutschland steht.
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Nun haben Sie das Wort, Frau Justizministerin.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Schwerpunkte der Rechtspolitik haben sich seit der deutschen Einheit verschoben: Länger angelegte Reformvorhaben, aufbauend auf wissenschaftlichen Gutachten und Diskussionen in Fachkreisen, standen in den 70er und 80er Jahren im Vordergrund. Heute nehmen die Auswirkungen der Vereinigung zweier rechtsdogmatisch und rechtspolitisch unterschiedlicher Systeme - auf der einen Seite ein Zwangsstaat ohne unabhängige Justiz und ohne Gewaltenteilung, auf der anderen Seite ein über 40 Jahre gewachsener Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten, gut ausgebauten Rechtszügen und einem Bundesverfassungsgericht als Hüter der Verfassung - die erste Priorität ein. Dies führt zwangsläufig dazu, daß umfangreiche Reformen wie z. B. des Kindschaftsrechts und des Rechts der Tötungsdelikte länger dauern.
Die Menschen in den alten Ländern nehmen die komplizierte, umfangreiche und sich ständig vertiefende Regelungsdichte und Regelungsvielfalt als nahezu selbstverständlich hin. Gleichzeitig haben sie sich weitgehend damit abgefunden, daß die praktische Umsetzung dieser Regelung in häufig aufwendigen Verfahren erfolgt und zwangsläufig längere Zeit dauert. Der Grund: Man sieht dies als ein wesentliches Element unserer Rechtsstaatlichkeit an und glaubt, auf diese Weise Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit in optimaler Weise zu verwirklichen.
Müssen wir, so frage ich, von dieser Einschätzung zumindest für eine Übergangszeit einige Abstriche machen? Werden die neuen Bundesländer mit diesem Anspruch filigraner Rechts- und Verwaltungstechnik in der Zeit des Umbruchs, des Aufbaus und der Vollzugsdefizite überfordert, und überfordern wir uns darüber hinaus gemeinsam nicht manchmal mit unserem Anspruch nach Aufarbeitung, Bewältigung und Wiedergutmachung des im materiellen und immateriellen Sinne erlittenen SED-Unrechts? Das sind kritische Fragen und Analysen, deren Antworten ehrlicherweise lauten müssen: Ja; zumindest teilweise ja.
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Aus meiner Sicht sollte man darüber nachdenken, bestimmte Regelungsbereiche mehr zu entschlacken, sie handhabbarer zu machen und weniger komplexe Verfahren zu schaffen. Ich glaube nicht, daß damit eine Einbuße an rechtsstaatlichen Garantien verbunden ist. Mir scheint dieser Verlust an Perfektion durchaus hinnehmbar zu sein, wenn es dadurch in den neuen Ländern schneller aufwärts geht.
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Wir müssen uns auch von der Vorstellung lösen, daß wir die durch politische Unrechtsurteile erlittene Haft, die gravierenden fortdauernden Nachteile durch berufliches Unrecht und das Verwaltungsunrecht wiedergutmachen können. Dies wird uns weder mit Geld noch mit gerichtlicher Kassation oder politischer Rehabilitierung gelingen. Es gibt Dinge, deren Folgen man nicht ungeschehen machen und auch nicht annähernd angemessen entschädigen kann. Vielfach wird es bei einer nur unzureichenden Entschädigung bleiben. Wichtig aber ist: Wir müssen unsere innere
Betroffenheit zum Ausdruck bringen, die Opfer moralisch rehabilitieren und ihnen ihre verlorene Würde zurückgeben.
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Aber es kann eben nicht immer angemessen sein, und ich glaube, man darf diese Erwartung gar nicht erst aufbauen. Es ist ganz wichtig, daß man das im Hinblick auf die vor uns liegenden Gesetzesvorhaben auch an dieser Stelle schon sagt.
Aber nach wie vor sind die komplexen offenen Vermögens- und Eigentumsfragen ein wichtiges Thema in den neuen Ländern. Der Gesetzgeber hat mit der Verabschiedung des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes das jetzt Erforderliche zur Förderung von Investitionen getan. Für Prinzipienstreitereien ist jetzt kein Raum mehr.
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Auch die Wiederholung der Umkehrung des Prinzips verkennt, daß damit nichts schneller voranginge, sondern daß dadurch eher mehr Chaos verursacht würde.
Die noch vorhandenen Probleme, die wir auch nicht leugnen, liegen zum großen Teil in einem Vollzugsdefizit. Das erforderliche qualifizierte Personal ist mit Unterstützung des Bundes und der Länder erst teilweise eingestellt worden, und die notwendige Erfahrung in der Anwendung des auf Grund der komplexen Materie zwangsläufig nicht einfachen Gesetzes kann noch nicht vorliegen. Wir haben Arbeitshilfen und Formularsammlungen erstellt, die den zuständigen Behörden die Anwendung erleichtern sollen.
Wenn Sie - wie ich - in den letzten Wochen viel in .den neuen Ländern unterwegs gewesen sind und viele Ämter zur Regelung offener Vermögensfragen und Grundbuchämter besucht haben, dann sehen Sie, daß eine generelle, unterschiedslose Schwarzmalerei nicht mehr der Realität entspricht. Es gibt viele Ämter, die hervorragend arbeiten; andere hingegen befinden sich im Aufbau. Alles in allem ergibt sich: Die Erledigungsquoten steigen. Die Investitionsentscheidungen haben Vorrang. Rückstände werden - langsam - abgebaut. Hinzu kommt: Die Arbeiten an einer gesetzlichen Entschädigungsregelung unter Federführung des Finanzministeriums sind weit fortgesrhrittPn. Darüber werden wir mit Sicherheit in den kommenden Wochen hier beraten.
Was aussteht, ist die Überführung der dinglichen oder schuldrechtlichen Nutzungsrechte, die in der ehemaligen DDR auf teilweise unsicherer oder fehlender Rechtsgrundlage eingeräumt worden sind, in unser Sachenrechts- und Eigentumssystem. Die sogenannte Sachenrechtsbereinigung soll zur Beruhigung und Sicherheit der Menschen in den neuen Ländern beitragen, ohne die Interessen der Alteigentümer zu negieren. Denn auch dies kann und muß eine wichtige Aufgabe der Rechtspolitik sein: den Menschen Sicherheit und Vertrauen in den Rechtsstaat zu geben. Eckwerte für eine Regelung werden derzeit mit den Vertretern aus den neuen Ländern erörtert.
Meine Damen und Herren, Vertrauen in den Rechtsstaat zu bewahren oder zu erzeugen wird in
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger Zukunft neben aller sachbezogenen Arbeit das dominante Ziel rechtspolitischer Bemühung sein.
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Dieses Ziel dürfen wir auf keinen Fall verfehlen trotz der unvermeidbar großen ökonomisch-sozialen Bürden, die nicht nur, besonders aber auf den Menschen in den neuen Bundesländern lasten.
Zum einen müssen wir noch intensiver dafür sorgen, daß unser Recht von den betroffenen Menschen besser nachvollzogen und verstanden werden kann. Wir müssen aber auch um Einsicht werben, daß Rechtsstaatlichkeit aus gutem Grund manchmal komplizierte Prozeduren fordert. Zum anderen müssen wir versuchen, die immanente Werteordnung besser zu vermitteln, die unserem Rechtsstaat eigen ist. Es muß insbesondere der Jugend deutlich werden, daß Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein Werteraster bilden, das soziale Sicherung und individuelle Freiheit garantiert, das Lebensorientierung liefern kann und für das einzustehen sich lohnt.
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Andererseits muß deutlich werden, daß zum Schutz dieser freiheitlichen Ordnung sowohl der einzelne wie auch der Staat strikt an Recht und Gesetz gebunden sind und das Grundgesetz zu respektieren haben.
Die Chancen einer solchen Demokratisierungsoffensive werden nicht zuletzt davon bestimmt sein, wie überzeugend es der Politik gelingt, die aktuellen rechtspolitischen Probleme kritisch und zugleich auch sachlich zu beraten und der parlamentarischen Entscheidung zuzuführen.
Im Hinblick auf die in Kürze vor uns liegenden Debatten ist mir daran gelegen, auf einige Tendenzen hinzuweisen, die meiner Ansicht nach bezeichnend sind für die allgemeine aktuelle Lage unserer Rechtspolitik.
Erstens. Wir stehen vor der Bewältigung nicht unerheblicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Probleme. Ich sehe, daß sich vor diesem Hintergrund die Tendenz verstärkt, nach Lösungen zu rufen, die im Ergebnis die Beschränkung individueller Rechte mit sich bringen oder - das ist die andere Seite dieser Konsequenz - mit einer Ausweitung staatlicher Gewalt verbunden sind.
Im Bereich der einfachen Gesetzgebung führen wir die Diskussion um die Verlängerung der bis zum Ende dieses Jahres befristeten Kronzeugenregelung. Im Hinblick auf die jüngsten schändlich fremdenfeindlichen Exzesse werden die Verschärfung des Strafrechts und des Haftrechts sowie das Tätigwerden von Sonderstaatsanwälten und Schnellgerichten gefordert. Auf den unterschiedlichsten Feldern der Politik wird mit Vorhaben operiert, die im Ergebnis eine Vielzahl der im Grundgesetz verbrieften individuellen Rechte tangieren. Ohne Einzelheiten zu erläutern, nenne ich die Berufsfreiheit, das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung, die Eigentumsgarantie, das individuelle Grundrecht auf Asyl und die Rechtsweggarantie unseres Grundgesetzes.
Wenn diese aufgezeigten Pläne alle wirklich würden, dann würde dieser Bundestag Parlamentsgeschichte machen;
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denn seit 24 Jahren, seit der Notstandsdiskussion des Jahres 1968, sah sich kein Bundestag veranlaßt, in den Grundrechtskatalog unserer Verfassung einzugreifen.
Zweitens. Wir müssen sehen, daß immer mehr die Auffassung vertreten wird, es seien Eingriffe in fundamentale Individualrechte des einzelnen erforderlich, um aktuelle gesellschaftliche Probleme zu lösen. Das Grundgesetz ist aber kein Relikt vergangener Zeit, das zur Bewältigung anstehender Probleme einer gründlichen und totalen Renovierung bedarf. Wir haben es hier noch vor kurzem alle gemeinsam als Garant fortwährender deutscher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gefeiert.
Ich möchte auch anmerken, daß die Sprache, in der die rechtspolitische Diskussion teilweise geführt wird, nicht immer der Bedeutung der gesellschaftlichen Herausforderung gerecht wird. Es ist nicht angemessen, die Aufgabe bisheriger Grundrechtspositionen als Abwurf von Ballast zu bezeichnen.
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Es ist aber auch nicht angemessen, daß diejenigen, die auf verfassungsrechtliche Risiken hinweisen, als verfassungsrechtliche Bedenkenträger gehänselt werden.
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Wir müssen mit den Möglichkeiten der Verfassungsänderung sehr behutsam vorgehen, um Respekt vor und Vertrauen in den Rechtsstaat nicht zu schmälern. Dies schulden wir unserer Geschichte, unseren Nachbarn und uns selbst. Wir dürfen nicht vergessen, daß fundamentale, im Grundgesetz geschützte Freiheitsrechte auf dem Spiel stehen, die es dem einzelnen nicht nur erlauben, sein Leben nach den eigenen Bedürfnissen einzurichten, sondern die auch konstitutive Fundamente sind, auf denen unser Rechtsstaat ruht. Unsere individuellen Freiheitsrechte sind transzendentale Bedingung dafür, daß Demokratie und Rechtsstaat schlechthin möglich sind und bleiben. Sie stellen verbindliche Leitlinien für die politische Gestaltung auf, von denen abzuweichen nur im Ausnahmefall erlaubt ist.
Deshalb kommt es darauf an, Entschiedenheit zu zeigen in der Abwehr jeglichen Versuches, verbürgte Rechte außer Kraft zu setzen. Wir dürfen dabei jene eines Besseren belehren, die im Zuge der Vereinigung beider Teile Deutschlands skeptisch danach fragten, ob unser demokratisches System auch Krisen überstehen werde oder ob es nur im Wohlstand funktioniere. Es darf einfach nicht sein, daß wir erst wieder anfangen, Bürgerrechte zu schätzen, wenn wir sie nicht mehr haben.
Nun bin ich kein rechtspolitischer Fundamentalist. Auch ich sehe, daß das Prinzip der Unverfügbarkeit
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger individueller Grundrechte kein Freibrief für den hemmungslosen Mißbrauch dieser Rechte ist.
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Primär erwächst daraus jedoch der Anspruch an die Politik, nur jene dieser Rechte zu beschneiden, die sich ihres Mißbrauchs schuldig machen. Auf keinen Fall kann aus dem Mißbrauch individueller Rechte abgeleitet werden, daß das Recht an sich generell entzogen werden muß.
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Auch warne ich davor, im Grundgesetz verbürgte individuelle Rechte einer reinen zweckorientierten Abwägungsdogmatik zu unterwerfen. Es darf nicht sein, daß allein Effektivität oder eine Kosten-NutzenRechnung den Maßstab für den Eingriff in verbürgte Freiheitsrechte bildet. Gefragt ist besonnenes Handeln, das die Balance zwischen der Freiheit des Bürgers auf der einen und dem Schutz des Bürgers vor Mißständen und Gewalt auf der anderen Seite nicht einseitig zu Lasten der Freiheit des Bürgers verschiebt.
Jeder, der es unternimmt, diese Freiheitsrechte einzuschränken, muß gute Gründe haben. Er trägt zumindest die Last des Beweises, daß der von ihm gewollte Eingriff in die individuellen Rechte tatsächlich seinen Zweck erfüllt. Dies sollten wir, meine Damen und Herren, bei all den anstehenden innen-und rechtspolitischen Debatten bedenken. Letztlich werden wir nicht danach bemessen, ob wir zum Handeln fähig sind, sondern danach, ob wir mit Vernunft und Weitsicht handeln. Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete de With.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Minister, wenn ich Ihre Rede verinnerliche, so kann ich sagen: Alles, was Sie dargelegt haben, kann fast ein jeder von uns in seiner Allgemeinheit unterschreiben.
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Nur - das soll nicht mißverstanden werden -, Sie haben auch ein klein wenig den Eindruck vermittelt: Wo es hätte konkret werden können, da gibt es ein Amt, aber keine Meinung. Mir wäre es lieber gewesen - ich denke, vielen von uns -, Sie hätten sich dazu geäußert, was die Rechtspolitik konkret zur Abhilfe tun kann, vornehmlich in bezug auf die Schwierigkeiten, die wir drüben in den neuen Ländern haben.
So frage ich: Welche Möglichkeit gibt es denn, um dem Mangel an Investitionen im Beitrittsgebiet abzuhelfen, mit dem tief deprimierten Gefühl der Menschen drüben, aber auch der hier schon beginnenden depressiven Stimmung fertigzuwerden? Die Antwort wäre eigentlich eine Binsenwahrheit - insoweit schließe ich an das an, was Sie allgemein dargelegt haben -: Ohne leicht anwendbare Gesetze, ohne funktionierende Verwaltung und auch ohne eine positive Grundstimmung lassen sich Investoren nur schwerlich anlocken.
Die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien haben zu lange gebraucht, so meine ich, um diese einfachen Wahrheiten zu verinnerlichen und dementsprechend zu handeln. Ich will jetzt - damit ich nicht mißverstanden werde - keineswegs schwarzweißmalen und etwa den Eindruck erwecken, das alles hätte sich im Handumdrehen regeln können. Nur gibt es hier gravierende Fehleinschätzungen und falsche Handhabungen, die wir der Union und der F.D.P. anlasten müssen.
Ich darf konkret werden. Schon bei dem sogenannten Hemmnisbeseitigungsgesetz vor mehr als einem Jahr - es ging um die Einführung von Vorfahrtsregelungen für Investitionen - haben wir Sozialdemokraten die Kompliziertheit der Gesetze vom Grundsatz her und außerdem gerügt, daß Investoren dann nicht anzulocken sind, wenn sie mit Grundstücksstreitigkeiten über Jahre hinweg rechnen müssen. Wir haben prophezeit, daß binnen Jahresfrist novelliert werden müßte. Genau das ist eingetreten.
Wenn ich mir das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz anschaue, muß ich sagen: Es bringt natürlich eine ganze Reihe von Verbesserungen. Wir haben ja gemeinsam daran mitgewirkt. Nur darf auch vermerkt werden: Man ist mit diesem zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetz noch zu sehr dem alten Grundsatz verhaftet geblieben. Wir meinen, es wäre besser gewesen, dem Prinzip Investitionen vor Rückgabe - so nenne ich es einmal - zum Erfolg zu verhelfen.
Wir Sozialdemokraten haben seit langer Zeit immer und immer wieder das längst fällige Entschädigungsgesetz angemahnt. Sie haben kein Wort dazu gesagt. Es liegt noch immer nicht vor. Solange aber ein Alteigentümer nicht weiß, welche Entschädigung er für seinen Grund und Boden bekommen wird,
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oder gar annehmen muß, daß es relativ wenig sein wird, wird er lieber seine Eigentumsansprüche weiterverfolgen und notfalls prozessieren, ehe er sein Grundstück freiwillig zur Investition gewissermaßen „freigibt".
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Wir fordern die Bundesregierung, d. h. hier den Bundesminister der Finanzen und die Bundesministerin der Justiz sehr nachdrücklich - ich sage: erneut - auf, ihre ganze Kraft für die umgehende Vorlage eines Entwurfs für eine Entschädigungsregelung einzusetz en.
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Ich meine, begriffen haben müßte jeder, daß dieses Gesetz längst fällig ist.
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- Ich freue mich über Ihr zustimmendes Nicken. Aber
es hätte längst dasein müssen. Wäre es dagewesen,
hätte es mit Sicherheit Investitionen beschleunigt,
ganz einfach deshalb, weil Rechtsunsicherheit beseitigt gewesen wäre.
Wir können - wir müssen das einfach feststellen -noch immer nicht registrieren, daß von den inzwischen eingereichten ca. 1,3 Millionen Rückgabeanträgen für rund 2,5 Millionen Grundstücke, Häuser und andere Vermögensgegenstände inzwischen deutlich mehr als 3 % - sage und schreibe 3 % - bearbeitet worden wären.
Wir hatten z. B. beantragt, den Gemeinden in den neuen Ländern deutlich mehr Rechte gegenüber Alteigentümern zu geben, um Infrastrukturmaßnahmen zu ermöglichen. Unsere Vorstöße in diesem Bereich aber wurden einfach abgelehnt. Wir sind gespannt, was die Bundesregierung im neuen Jahr über das zweite Vermögensrechtsänderungsgesetz berichtet, und warten auf die dritten Novellierungsvorschläge.
Mit wenigen Änderungen hätte es die Bundesregierung in der Hand gehabt - um weitere Beispiele zu bringen -, wenigstens einen Teil der Unsicherheit bei den Menschen drüben zu beseitigen und damit das Klima zu verbessern. Sie hätte z. B. für die Inhaber von Überlassungsverträgen, die nicht Eigentümer des Grundstückes sind bzw. keine dinglichen Nutzungsrechte besitzen, das zeitlich befristete Moratorium zu einem unbefristeten machen müssen, das erst dann endet, wenn tatsächlich die Bereinigung der gesamten Rechtsverhältnisse im Grundstücksbereich durch besonderes Gesetz geregelt ist. So aber schwebt über den Nutzern noch immer das Damoklesschwert des Hausverlustes nach Ablauf der Frist, von der niemand so recht weiß, ob sie nun verlängert wird, wenn die Rechtsbereinigung nicht rechtzeitig kommt.
Ich frage Sie: Wann ist denn eine Rechtsbereinigung, die sich wirklich Rechtsbereinigung nennen kann, wirklich rechtzeitig gekommen? Ganz abgesehen davon ist eigentlich nicht ersichtlich, wie diese Rechtsbereinigung aussehen soll.
Um den in dieser Unsicherheit schwebenden Nutzern zumindest ein wenig an Angst zu nehmen, hätte deutlich gemacht werden müssen, daß an Erbbaurechtsregelungen gedacht ist. Diese honorieren einerseits, daß der schon lange in einem solchen Haus lebende Nutzer durch seine Investitionen ein gewisses Recht auf Dauer erworben hat. Andererseits weiß aber der Alteigentümer, daß er durch den Erbbauzins eine angemessene Entschädigung erhält.
Sie sehen, wir kritisieren nicht nur, sondern wir versuchen, konkrete Vorschläge zu unterbreiten.
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- Herr Kollege Kleinert, ich hoffe, daß der zustimmende Zuruf sich demnächst ordentlich umsetzen läßt. Es wäre schön, hätten Sie einige von unseren Vorschlägen wirklich übernommen.
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Durch den Einigungsvertrag haben gewerbliche Mieter einen Schutz vor Kündigung, der am 31. Dezember dieses Jahres ausläuft. Das hat zur Folge, daß gerade kleine Gewerbetreibende wegen einer Kündigung um ihre Existenz bangen müssen.
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Wir werden deshalb einen Gesetzentwurf einbringen, der eine Verlängerung um zwei Jahre gewährleistet und deutlich macht, daß vor Ablauf des Jahres 1994 rechtzeitig geprüft werden muß, welche Maßnahmen dann weiter zu treffen sind. Von der Bundesregierung ist bisher in dieser Hinsicht nichts zu hören gewesen.
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Gerade mit dieser einfachen Maßnahme hätte ein wenig Vertrauen zurückgeholt werden können.
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Eine Wiedervereinigung wie die unsrige lebt nicht nur vom Gelde. Insoweit stimmen wir voll überein. Sie lebt auch davon, daß durch Anerkennung Vertrauen gesetzt wird. Der alte deutsche Spruch „arm am Beutel, krank am Herzen" darf für die neuen Länder nicht wahr werden. Wenn die Menschen drüben das Gefühl haben, sie bekommen unser gesamtes Rechtssystem ohne Wenn und Aber einfach übergestülpt, und dadurch der Eindruck vermittelt wird, es sei früher ganz und gar alles schlecht gewesen, geben wir nur denen Stichworte, die auf der rechten Seite Aggressionen und Haß schüren.
Das Beispiel eines weiteren Versäumnisses: In der DDR gab es an der Kreuzung bei Rot den grünen Richtungspfeil. Wir haben das in den alten Ländern noch immer nicht eingeführt. Angeblich müssen wir erst die Richtigkeit dieser Maßnahme erprüfen. Dabei gibt es derartige Regelungen schon seit langer Zeit in Kanada und in den Vereinigten Staaten. Als ob es dort keinen dichten Straßenverkehr über Jahrzehnte hinweg gäbe! Nein, hier haben es die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien am Feingefühl fehlen lassen.
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Ich wiederhole, was ich vor einem Jahr in der Haushaltsdebatte erklärt habe: Wir Sozialdemokraten sehen den Wiederaufbau in den neuen Ländern - ich füge hinzu: und das Wiedergewinnen der Menschen - als Gemeinschaftsaufgabe an. Die Justizministerin wird immer unsere Unterstützung finden, wenn sie - ich sage das sehr dezidiert - kräftige Schritte unternimmt und Mut zeigt, um es Investoren in den neuen Ländern leichtzumachen.
Wir Sozialdemokraten haben am Ersten SEDUnrechtsbereinigungsgesetz mitgewirkt, auch wenn dieses Gesetz letztlich Bestimmungen enthält, die unserem Willen keineswegs entsprechen. Ich erinnere an unsere gemeinsame Anhörung in Halle. Wir waren froh, als dieses Gesetz endlich verabschiedet werden konnte. Freilich werden wir uns nie damit zufriedengeben, daß derjenige, der drüben unter der SED aus politischen Gründen im Gefängnis saß, grundsätzlich nur mit 300 DM pro Haftmonat abgespeist bleibt.
Wir können nur hoffen und wünschen, daß das Zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz mit der verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung endlich und alsbald folgt.
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Es darf nicht der schale Eindruck entstehen, daß die geldliche Entschädigung Vorrang genießt und diejenigen, die durch Widerstand unaufholbare Lebensnachteile für sich und ihre Familie in der Ausbildung, im Beruf und im sozialen Stand erhalten haben, uns buchstäblich nur als zweitrangig erscheinen.
Ich kann die Ministerin nur bitten, sich zum ständigen Vorreiter der Verbesserung der rechtspolitischen Rahmenbedingungen in den neuen Ländern zu machen und immer und immer wieder beim Bund und bei den Altländern nach personellen Verbesserungen bei Richtern und Staatsanwälten und vor allem Rechtspflegern, aber auch bei den Mitarbeitern in den Vermögensämtern und den Oberfinanzdirektionen aufzurufen.
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Schon Goethe wußte: „Gibt doch die Beschaffenheit der Gerichte und" - Herr Rühe ist leider nicht da - „des Heeres die gesamte Einsicht in die Beschaffenheit irgendeines Reiches."
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Sie haben ja wiederholt auch ein schärferes Vorgehen gegen die rechtslastigen Gewalttäter im Zusammenhang mit Ausländerheimen und gegen die Unterstützung dieser Gewalttäter gefordert. Auch darin sind wir mit Ihnen einig. Nur, einen Grund, die Demonstrationsstrafrechte zu verschärfen oder auszuweiten, sehen wir nicht. Das strafrechtliche Instrumentarium ist vorhanden. Der Strafrahmen reicht bei weitem aus. Er muß nur ausgeschöpft werden.
Ich rufe den Landesjustizministern zu, alles in ihren Möglichkeiten Stehende zu tun, diese Randalierer schnell vor den Richter zu bringen - darunter solche, die sich j a nicht scheuen, mit Brandsätzen den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. In der Weimarer Zeit war die Justiz auf dem rechten Auge blind. Sie darf in unserer Zeit nicht auf dem rechten Bein lahmen.
Es gibt noch einige klassische Felder, auf denen wir Brache feststellen und Rückstände zu rügen haben - auch das sollte man bei einer Justizdebatte nicht ganz außer Betracht lassen -: Wo bleibt ein Gesetzentwurf zur Einführung der Strafbarkeit von Vergewaltigung auch in der Ehe, verbunden mit einer Reform der Vorschriften zu Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Ich verweise auf unsere diesbezüglichen - ich muß schon sagen - langjährigen Vorstöße und unseren Gesetzentwurf. Frau Ministerin, ich hätte gerade von Ihnen - Sie verzeihen, wenn ich das sage - als Frau erwartet, daß Sie hier Ihrer Koalition wirklich Beine machen.
Der Deutsche Juristentag wird sich in der nächsten Woche in Hannover mit der Reform des Kindschaftsrechts befassen. Das Verfassungsgericht hat neue Wege gewiesen. Wie steht es hier mit der Meinungsbildung in der Koalition? Das Interesse des Kindes gehört endlich in den Mittelpunkt. Ideologische
Scheuklappen bei der Frage der elterlichen Personensorge auch dann, wenn die Ehe geschieden ist oder wenn man in einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft lebt, müssen abgebaut werden.
Wir werden der Öffentlichkeit in aller Kürze einen sehr umfänglichen Reformantrag vorstellen. Wir können uns nur wünschen, daß Sie als Justizministerin dem endlich und bald folgen; denn die Hälfte dieser Legislaturperiode ist bereits verstrichen. Ich frage mich, ob wir diese recht komplizierte und umfängliche Aufgabe, wenn wir sie nicht bald angehen, noch in dieser Legislaturperiode bewältigen können.
Die Bundesregierung hat in diesem Jahr nach überlangem Brüten endlich einen Entwurf zur Reform des Insolvenzrechts vorgelegt. Freilich, die Regelungen der Privatinsolvenz sind dürftig, und sie ist als eigenständige Form nur sehr unvollkommen geregelt. Dabei weiß jeder, daß Hunderttausende von Menschen sich und ihre Familien in hoffnungslose Verschuldung verstrickt haben und keine Lebensperspektive mehr sehen. Wir werden uns deshalb bemühen, einen Alternativentwurf vorzulegen, der an die Erfahrungen der Schuldnerberatung und ihre bewährte Praxis mit außergerichtlichen Vergleichen anknüpft.
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Wir haben vor langer Zeit eine Große Anfrage zum strafrechtlichen Sanktionensystem eingebracht. Ich frage: Wo bleibt denn eigentlich die Antwort der Bundesregierung? Der schon erwähnte Deutsche Juristentag hat in der nächsten Woche auch dieses Thema zum Gegenstand. Die Bundesregierung hinkt hier aber wirklich auf beiden Beinen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat vor zwei Wochen eine umfangreiche Anhörung zur Bekämpfung der Massenkriminalität durchgeführt. Schon seit Jahren nehmen die Zahlen der Fahrraddiebstähle, der Straßenräubereien und, wir wissen es alle, auch der Wohnungseinbrüche zu - nicht nur in Großstädten gibt es Straßen, in die sich zu gewissen Tageszeiten ältere Menschen und Frauen nicht mehr hineintrauen -, von den Autoaufbrüchen und den Autodiebstählen ganz zu schweigen.
Auf der anderen Seite wächst die Zahl der sogenannten schwarzen privaten Sheriffs Die Zahl
dieser sogenannten Privatpolizei soll schon heute die der staatlichen übertreffen. Und wer ist betroffen? Betroffen sind in erster Linie die kleinen Leute, aber durchaus auch der Normalbürger. Es mag übertrieben klingen: Aber dort macht sich Furcht breit um das Eigentum, um die Sicherheit, und es schwindet Vertrauen in den Staat. Es ist höchste Zeit - da müssen wir uns alle an die Brust klopfen -, daß wir aufwachen.
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Ich kündige zu diesem Bereich eine Große Anfrage meiner Fraktion an.
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Ich habe schon auf die Anhörung verwiesen, die wir durchgeführt haben. Ich hoffe, Sie haben davon ein klein wenig mitbekommen. Diese Große Anfrage wird freilich etwas tiefer bohren müssen. Es muß auch nach den Ursachen und Hintergründen gefragt werden.
Besonders fatal finden wir es, daß sich die liberale Ministerin gegen eine Reform - das hat sie zwar heute nicht erwähnt, aber in einer Presseerklärung habe ich es gelesen - des Nötigungsparagraphen gewandt hat,
({17})
obwohl doch dessen Mängel im Zusammenhang mit friedlichen Demonstrationen auf der Hand liegen.
({18})
Ich frage: Wo bleibt hier Ihr liberales Element?
Ich könnte diesen Mängelkatalog der Bundesregierung noch erweitern. Ich erinnere nur an die Abgeordnetenbestechung und auch an die sogenannte Abgeschlossenheitsbescheinigung im Mietrecht. Sie als nunmehrige Münchnerin, Frau Minister, wissen, was das bedeutet: für unendlich viele Ungemach, weil sie fürchten müssen, aus ihrer Wohnung herausgeworfen zu werden.
Wenn ich einen Strich ziehe, dann bleibt der fatale Eindruck, daß die Koalition auch in der Rechtspolitik in vielen Dingen blockiert, sich nicht einig, ja verbraucht ist.
({19})
„Packen wir es an" hat der Kanzler einmal gesagt. Aber das war einmal, Herr Rüttgers.
Zu Ihnen, Frau Ministerin: Vergessen Sie nie den liberalen Katechismus von Thomas Dehler, von dem Sie selbst aus Anlaß des 25. Todestags dieses unseres ersten Justizministers der Bundesrepublik Deutschland gesprochen haben.
Die, die mir folgen von seiten der Regierungskoalition, bitte ich, im Gegensatz zur Ministerin etwas konkreter zu werden, damit die Leute draußen wissen, was Sie wirklich vorhaben.
Vielen Dank.
({20})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Geis das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst meiner Verwunderung Ausdruck geben, daß in dieser Debatte niemand von der SPD auf die Fragen geantwortet hat, die heute morgen der CSULandesgruppenvorsitzende Dr. Bötsch und der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Dr. Schäuble wiederholt gestellt haben, ob nämlich die SPD bereit ist, der Einsichtnahme in die SED-Akten zuzustimmen, wo es um Verhandlungen von SPD-Spitzen mit SED-Spitzen um die Frage der Verbesserung der eigenen Wahlchancen gehen soll. Sie sind die Antwort auf diese
Fragen noch schuldig. Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch, daß Sie darauf Antwort geben.
({0})
Sehr verehrte Frau Ministerin, ich möchte Ihrem Hause ausdrücklich Dank sagen für die bisher beim Aufbau der Justiz in den neuen Bundesländern geleistete Arbeit.
({1})
Ich weiß, wieviel von Ihrem Vorgänger getan worden ist, und weiß auch, wie sehr Sie sich einsetzen.
Die Länder haben den Entwurf eines Justizentlastungsgesetzes vorgelegt. Es geht dabei darum, daß der begonnene Aufbau durch Richter und Staatsanwälte auch vom Westen nach Osten weiter fortgesetzt werden kann. Die Länder legen größten Wert darauf, daß dieses Justizentlastungsgesetz nun endlich parlamentarisch behandelt wird. Wir werden auch unsererseits alles tun, daß es im Parlament bald verabschiedet werden kann und daß es nicht so verwässert wird, daß es dann eigentlich unwirksam ist und daß es besser wäre, es überhaupt nicht zu verabschieden.
Ich danke Ihrem Haus aber auch für den Einsatz bei der Vorlage des Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes. Ich weiß, wie in nächtelanger Arbeit dieses Gesetzeswerk vorgelegt und schließlich im Parlament verabschiedet werden konnte.
({2})
Sie wissen, daß es aus dem Hause der Ministerin kam. Wir haben es übernommen, um es parlamentarisch schneller behandeln zu können.
Ich habe kein Verständnis mehr dafür, daß wir immer noch an dem Prinzipienstreit festhalten. Es geht jetzt darum, daß dieses Gesetz in der Administration durchgesetzt wird, daß wir drüben informieren und daß die Beamten dort drüben so schnell als möglich in die Lage versetzt werden, das Gesetz auch zu handhaben. Es bietet nämlich große Möglichkeiten.
({3})
Wenn es richtig angewandt wird, dann ist zumindest auf diesem Feld die Frage „Haben Investitionen Vorrang?" beantwortet.
({4})
Herr Abgeordneter, Herr de With möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Haben Sie, Herr Kollege Geis, mir bei meiner Rede wirklich zugehört? Ich habe nämlich sehr dezidiert gesagt: Investitionen vor Rückgabe.
Sie haben aber damit insistiert, daß das Prinzip Rückgabe vor Entschädigung Investitionen behindert. Wir haben auf Grund
dieses Zweiten Vermögensrechtsänderungsgesetzes Instrumente geschaffen, mit denen auf jeden Fall dort, wo investiert werden soll, auch investiert werden kann, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob Ansprüche eines Alteigentümers bestehen. Diese Instrumentarien sind doch so weit gefächert und so weit vorhanden, daß man eigentlich nicht weitergehen kann.
({0})
- Gut, das mag Ihre Auffassung sein. Wir konnten die Einigung nicht proben. Wir mußten natürlich auch erst einmal einen Lernprozeß durchmachen.
({1})
Es gibt natürlich immer Leute, die vorher schlauer sind. Aber es ist in der Opposition vielleicht auch ein bißchen leichter, Forderungen zu stellen, die dann von der Regierung erst durchgesetzt werden müssen und wo viel Erfahrung dazugehört, praktikable Lösungen vorzulegen.
Frau Ministerin, jeden Satz Ihrer Ausführungen über das Grundgesetz unterstreiche ich genauso wie Herr de With. Ich hoffe, daß das auch von der Verfassungskommission gehört worden ist. Nur entbindet uns das natürlich nicht davon, in aktuellen Fragen wie z. B. beim Asyl, wie z. B. bei der Verfolgung der organisierten Kriminalität zu prüfen, ob wir das Grundgesetz, wie es einmal von seinen Vätern und Müttern geschaffen wurde, überall noch so praktikabel erhalten können, wie wir es brauchen, um diesen Gefahren begegnen zu können.
Die Bevölkerung hat Angst auf Grund der Krawalle in Rostock. Diese Angst ist nicht unbegründet. Es ist natürlich eine Frage, wie wir Herr werden können über den Asylstrom, der auf uns zukommt. Es kommen ja 60 % aller Asylanten und Flüchtlinge, die in den EG-Raum eindringen, zu uns in die Bundesrepublik Deutschland. Das wirft natürlich große Fragen auf. Wenn es so weitergeht, werden diese Fragen noch größer. Die Bevölkerung spürt natürlich, daß die Parteien ganz offensichtlich aus irgendwelchen Gründen nicht in der Lage sind, dieses Problem zu lösen. Wir machen Verfahrensgesetze. Die SPD hat immer darauf gedrängt. Auch wir haben immer darauf
gediängt.Wir haben zur Beschleunigung alles getan.
Ich glaube nicht, daß man auf Grund der jetzigen grundgesetzlichen Lage noch weiter beschleunigen kann.
({2})
Wenn es aber so ist, daß selbst diese Beschleunigung, wie uns die Fachleute sagen - und wie es auch von der SPD-Spitze eingesehen wird; sonst gäbe es ja nicht den Petersberger Beschluß -, nicht ausreicht, um den gewaltigen Strom, der auf uns zukommt, in irgendeiner Weise bändigen zu können und um das Asylrecht wirklich sichern und den Mißbrauch verhindern zu können, dann müssen wir natürlich die Frage stellen, ob die grundgesetzlichen Voraussetzungen es verhindern, gesetzliche Maßnahmen zu treffen, die geeignet sind, Mißbrauch zu verhindern und dem, der Asylanspruch hat, auch wirklich das Asylrecht zu gewähren.
({3})
Darüber, so meinen wir, müssen wir reden. Ich bin froh darüber, daß die SPD-Spitze zu dieser Erkenntnis gelangt ist und Gesprächsbereitschaft signalisiert hat.
({4})
Ich denke, es ist auch höchste Zeit, denn man muß sich immerhin vorstellen: Wir wirtschaften, wenn wir so weiter wirtschaften, in den Bereich der rechtsextremen Parteien. Die Bevölkerung wirft uns doch vor: Ihr seid nicht in der Lage, dieses brennende Problem zu lösen; deswegen wählen wir euch Altparteien nicht mehr, sondern versuchen es einmal mit einer anderen Partei. Das ist doch das Ergebnis. Deshalb ist es richtig, daß wir uns dieser Frage stellen. Wenn wir uns dieser Frage stellen, dann darf es keine halbherzige Lösung geben. Wenn wir schon das Grundgesetz ändern müssen, dann müssen wir es so ändern, daß diese Änderung auch wirklich wirken kann
({5})
und daß auf Grund dieser Änderung ein Gesetz möglich ist, das dann auch tatsächlich den Problemen gerecht wird.
Da stellt sich natürlich die Frage, ob wir beim Individualrecht in der jetzigen Form bleiben können oder - dazu hat sich die Arbeitsgruppe Recht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion in dieser Woche entschieden - ob es nicht zu einer institutionellen Garantie kommen muß. Diese Frage müssen wir in dieser Erörterung, glaube ich, stellen.
({6})
Ein weiteres Problem stellt die organisierte Kriminalität dar. Am 15. September wird das OrgKG, das wir im Sommer verabschiedet haben, in Kraft treten. Wir haben aber, als wir es verabschiedet haben, über die Parteigrenzen hinweg erklärt, daß dies ein erster Schritt ist. Wir alle haben die Option offengehalten, daß wir im kommenden Herbst, in dieser Jahreszeit also. den zweiten Schritt unternehmen müssen. Es geht bei diesem zweiten Schritt darum, daß wir der Polizei den Einsatz technischer Mittel in Wohnungen ermöglichen.
Wir haben damals vor der Sommerpause diesen Schritt deshalb noch nicht getan, weil wir der Meinung waren - und wir haben uns davon überzeugen lassen; ich war zunächst einmal nicht dieser Meinung gewesen -, daß unter Umständen eine Grundgesetzergänzung in Art. 13 notwendig ist. Deswegen müssen wir auch bei dieser Frage prüfen, ob wir nicht gemeinsam das Grundgesetz so ändern, daß wir wirksam die organisierte Kriminalität bekämpfen können. Wir können nicht umhin, Maßnahmen zu treffen, die eine gewisse Waffengleichheit zwischen der verfolgenden Polizei und den Verbrechern schaffen. Wir haben doch jetzt die Situation, daß die Verbrecher weit besser dran sind als die Polizei. Sie können sich z. B.
abhörsichere Telefone anschaffen, und die Polizei ist ausgeschaltet. Deswegen ist natürlich die Frage wichtig, ob wir nicht technische Mittel in den Wohnungen einsetzen können.
({7})
Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage von Professor Meyer zu beantworten? - Bitte schön, Herr Professor.
Herr Kollege Geis, stimmen Sie mir zu, daß Ihre Fragestellung, ob man der Polizei den Einsatz technischer Mittel in Wohnungen ermöglichen solle, das Problem verkürzt und daß wir zunächst über einen ersten Schritt reden müssen? Dieser würde sein, die bereits bestehenden Möglichkeiten des Abhörens von Gesprächen in den Wohnungen nach den Polizeigesetzen und im Zusammenhang damit auch die ausufernde Telefonüberwachung rechtsstaatlich einzuschränken, so daß der zweite Schritt dann erst sein könnte, das eingeschränkte Instrumentarium gegen die organisierte Kriminalität einzusetzen. Stimmen Sie mir darin zu?
Herr Professor Meyer, mir geht es darum, daß wir eine Waffengleichheit zwischen der verfolgenden Polizei und den Verbrechern herstellen können, weil wir es niemandem mehr erklären können - keinem Vater, keiner Mutter, deren Tochter oder deren Sohn dem Rauschgift anheimgefallen ist -, daß es der Polizei verboten sein soll, mit allen Mitteln, auch mit technischen, die Verbrecher einzuholen, und weil wir es niemandem mehr erklären können, daß dann, wenn über die Polizeigesetze solche Erkenntnisse bereits vorhanden sind, diese im Strafprozeß nicht verwertet werden können, weil die Strafprozeßordnung das im Augenblick noch nicht vorsieht.
({0})
Uns geht es darum, daß wir diesen Schritt - Sie mögen ihn als zweiten Schritt bezeichnen - auf jeden Fall unternehmen. Wir lassen mit uns über alles reden. Es geht uns genauso wie Ihnen - das weiß ich - darum, daß wir das organisierte Verbrechen, das für uns und für Sie, für uns alle und - der Bundeskanzler hat es heute morgen gesagt - für ganz Europa in Zukunft eine gewaltige Gefahr darstellen wird, bekämpfen können und daß wir dafür die gesetzlichen Voraussetzungen schaffen.
Sie wollen noch eine Frage stellen, Herr Professor Meyer? Ich möchte das Haus aber sehr bitten, sich restriktiv zu verhalten. Wir werden weit über eine Stunde über die vorgesehene Zeit hinauskommen. - Bitte!
Ich hoffe, Herr Geis beantwortet die Frage mit Ja; dann ist es geklärt. - Herr Geis, verstehe ich Sie also richtig, daß Sie im ersten Schritt das, was ich vorhin an Instrumenten erwähnte, rechtsstaatlicher machen wollen?
Verstehen Sie mich bitte so, daß ich über alles mit mir reden lasse, wenn es darum geht, die Polizei so auszustatten, daß die Verbrechen wirklich bekämpft werden können.
({0})
Lassen Sie mich noch einen weiteren Gedanken anführen. Wir haben in unserer Gesellschaft eine zunehmende Gewalt zu verzeichnen; nicht nur jetzt in Rostock, sondern insgesamt nimmt die Gewaltkriminalität zu. Es mag durchaus sein, daß die Gründe dafür in der Gesellschaft selbst zu suchen sind und daß Psychologie und Soziologie hier eine große Aufgabe haben, daß eine wirkliche Ursachenforschung notwendig ist. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, der Rechtsstaat kann Gewalt nicht akzeptieren. Die erste Aufgabe des Rechtsstaats besteht darin - dafür ist er überhaupt eingerichtet -, dafür Sorge zu tragen, daß der Bürger in Frieden leben kann.
Deshalb müssen wir natürlich Überlegungen anstellen, ob wir die Polizei nicht besser organisieren, mit mehr Personen ausstatten, ob wir nicht auch an eine Änderung des Versammlungsgesetzes denken müssen und ob nicht andere Maßnahmen im organisatorischen und polizeilichen Bereich notwendig sind, um der Gewalt zu begegnen.
Wir müssen uns auch überlegen, ob wir nicht den Strafrahmen anders ziehen müssen. Wer bei uns einen Stein gegen einen anderen aufhebt und wirft, wer den anderen niederschlägt, der gehört - das ist heute morgen schon einmal von Herrn Lambsdorff gesagt worden - ins Gefängnis. Wir müssen in der Gesellschaft ein anderes Verhältnis zur Gewalt bekommen, und das muß sich meiner Meinung nach auch in der Strafgesetzgebung ausdrücken.
Ich danke Ihnen.
({1})
Nunmehr erteile ich dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Sommerpause ist ja nicht nur Pause,
({0})
sondern in dieser Zeit gibt es mehr Möglichkeiten, einmal in die Kreisverbände zu fahren und zuzuhören, was den Bürger drückt, als wir uns das hier in den Sitzungswochen - mit immer noch zunehmender Tendenz - gönnen. Ob diese Tendenz irgendwelchen zusätzlichen Nutzen bringt, mag dahingestellt sein. Jedenfalls kann man bei dieser Gelegenheit lernen, daß es uns ja vielleicht gut gefallen würde, uns einmal über das Insolvenzrecht zu unterhalten, über so richtig wissenschaftlich interessante und auch für die Rechtspolitik hochwichtige Themen von sachlichem Gehalt, fern von Schlagworten und fern von ständigen Angriffen einer zu Recht überreizten Bevölkerung.
Aber die Verhältnisse, die sind nicht so. Deshalb ist es wohl auch angemessen, am Beginn einiger Bemerkungen zu der rechtspolitischen Debatte wieder auf
Detlef Kleinert ({1})
das Asylthema zu sprechen zu kommen, denn es hat nun einmal erste Priorität, und so genau sind an dieser Stelle Innen- und Rechtspolitik wahrlich nicht voneinander zu trennen.
Etwas ist mir - diese Ahnung hat mich schon früher des öfteren dumpf beschlichen - im Zusammenhang mit den Unterhaltungen mit den Bürgern deutlich geworden. Hier gehen wir ja anschließend aus dem Plenum, sitzen dann an den dafür bestimmten Orten und rechnen uns aus, wer wohl in der Debatte einen Punktgewinn bei dem ungewöhnlich geschickten Versuch erzielt hat, dem anderen nachzuweisen, was er gerade mal wieder falsch gemacht hat, handele es sich nun um ein Vollzugsdefizit, um eine noch ausstehende Regelung oder etwas anderes dieser Art. Wenn einer es dann noch so schön formuliert, wie die Kollegen von der Opposition das natürlich können, dann sagen Sie sich hinterher: Heute haben wir aber einen eindeutigen Etappensieg errungen, einen Punktsieg in der Gegend von 18 :17 oder 17 :14 wie beim Basketballspiel.
({2})
Dann sind Sie ganz zufrieden, daß Sie aus einer solchen Debatte einen Punktsieg nach Hause tragen.
Dasselbe gilt natürlich auch für uns. Ich will nicht behaupten, wir seien davon frei, und es handele sich nur um Ihr Hobby. Nein, alle hier im Hause tun das. Wir alle sind doch schon bei den anschließenden Diskussionen dabei gewesen.
Wissen Sie, was die lautere Wahrheit ist? Die Leute sagen nicht, die oder jene waren in der Debatte besser bzw. die oder jene haben zu irgendeiner Einzelfrage besonders schön herausgearbeitet, daß die anderen nicht recht hatten, sondern die Leute sagen: Die da in Bonn kriegen es nicht hintereinander. Und damit sind wir alle gemeint! Nichts von Punkten, nichts von Teilerfolgen; wir alle sind es, die nicht hintereinanderbekommen, was die Menschen drückt und quält und kneift.
({3})
- Es war bei Ihnen auch nicht so üppig. Aber ich bin ja bereit, Ihnen dazu etwas zu sagen.
Wir laufen nun seit 20 Jahren der Entwicklung hinterher, weil wir uns irgendwann einmal gewisse dogmatische Grundsätze eingesungen haben. Dann wird es zur Regel: Dieses und jenes darf man nicht mehr tun, über dieses und jenes wird nicht gesprochen.
Es gibt hier im Hause und überhaupt in unserem politischen Leben Tabuisierungen und Dogmatisierungen. Dazu gehört natürlich auch und gerade Art. 16 des Grundgesetzes. Dann verstellt man sich überhaupt den Blick dafür, daß wir nicht mehr logisch denken, und zwar schon seit vielen Jahren nicht mehr logisch denken. Wir sind der Entwicklung hinterhergelaufen, häufig noch im Streit zwischen Rechts- und Innenpolitikern. Die Rechtspolitiker wollten immer etwas mehr Rechtsstaatlichkeit, Rechtsgarantien - dazu gehören auch Rechtswege - erhalten. Die Innenpolitiker haben sich mehr für die Lösung des praktischen Problems interessiert.
Aber bei allem, was wir gemacht haben, sind wir der Entwicklung hinterhergehinkt. Wir haben sie nie eingeholt. Es sind immer mehr Asylbewerber gekommen, obwohl wir uns jedesmal gedacht hatten: Wenn wir das jetzt machen, werden es weniger, und bei weniger Bewerbern kommen die Verfahren besser in Gang, so daß sich alles zum Guten wenden wird.
Nein, es hat sich immer mehr zum Schlechteren gewendet, weil sich nach wie vor zu Recht weltweit herumspricht, daß man auf Grund gewisser rechtlicher Regeln bei uns - die diejenigen, die hierherkommen, wahrscheinlich noch weniger verstehen als unsere Bürger, denen es auch schon Hekuba genug ist - hier erst einmal einreisen und dann lange dableiben kann. Zum Schluß ist dann keiner mehr bereit, Konsequenzen zu ziehen, die unsere Rechtsordnung an und für sich vorsieht.
Diesen Zustand nehmen wir hin. Dabei haben wir uns - deshalb sagte ich: unlogisch - dazu hinreißen lassen, das Prinzip, die Theorie der Rechtsstaatlichkeit bis zur Unkenntnis zu verstümmeln. Wir freuen uns, daß wir nach wie vor einen Individualanspruch gewähren und diesen nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes mit Rechtsgarantien verfolgen lassen. Daß dies alles in Wirklichkeit gar nicht mehr stattfindet, sondern nur noch formal, nehmen wir bewußt nicht zur Kenntnis, damit nur ja nicht unsere Idee zusammenbricht, wir hätten es ja immer noch rechtsstaatlich geregelt.
Teilen Sie doch einmal die Zahl der Verfahren durch die Zahl der Bearbeiter und die Zahl der Richter. Rechnen Sie sich auf diese Weise einmal aus, wie viele Minuten auf die „gründliche rechtsstaatliche Prüfung" bei diesem rechtsstaatlichen Verfahren, das wir uns hier gegönnt haben, entfallen.
({4})
Dann müssen Sie doch zu dem Ergebnis kommen, daß wir nicht konsequent und nicht hart genug denken und nicht konsequent genug miteinander reden.
({5}) Das ist auch Rechtspolitik.
Wir haben uns das auch so angewöhnt, daß wir es nicht gern ändern möchten. Wir haben es uns angewöhnt, immer noch zu denken: Vielleicht wird es sich nach der nächsten Ecke doch wenden, und dann kann auf einmal der Ansturm nicht mehr so groß sein. Nein, wir machen uns da ständig und immer wieder etwas vor.
Mit den Krawallen, die stattgefunden haben, hat das für mich überhaupt nichts zu tun. Diejenigen, die in diesem Lande Krawalle machen wollen, suchen sich ihre Anlässe. Sie werden sie an den merkwürdigsten Plätzen und bei den merkwürdigsten Themen finden. Sie versuchen, etwas zu finden, mit dem eine gewisse Duldung oder gar eine leise Sympathie in Teilen der Bevölkerung verbunden ist. Aber wenn es das nicht gäbe, würden sie immer noch Krawall machen.
Detlef Kleinert ({6})
Deshalb glaube ich nicht, daß wir wegen irgendeines jüngsten Ereignisses, so dramatisch und ärgerlich - nicht nur ärgerlich, sondern wirklich sehr tragisch - die Dinge gewesen sind und noch zu werden drohen, einen Grund hätten, die Asyldiskussion neu aufzunehmen.
({7})
Nein, ich nehme sie auf, nachdem wir uns 20 Jahre lang etwas vorgemacht haben. Wir haben es einfach nicht geschafft. Das müssen wir endlich einsehen. Das geschieht in geheimen Kränzchen ja auch. Nun fragen die, die an den geheimen Kränzchen beteiligt sind, die stolz darauf sind, daß sie dazugehören und daß sie auch so schön den Mund halten können,
({8})
die jeweils anderen nach ihren Vorschlägen, über die sie seit Wochen schon dauernd reden. Das ist ja auch nicht ganz korrekt.
({9})
Es kommt irgendwann der Punkt, an dem der harte Satz greift: Der Erfolg ist das objektive Urteil über die subjektive Arbeitsmethode. Damit sieht es bei uns in dieser Angelegenheit düster aus.
({10})
Deshalb werden wir uns mit etwas mehr Offenheit - nicht mit dem Versuch, Scharzer Peter zu spielen, uns hinterher hier die Punkte vorzurechnen und uns etwas in die Tasche zu lügen, sondern mit dem Ziel, ein Ergebnis zu erreichen - unterhalten müssen.
Meine Vorschläge sind jetzt auch nicht so sehr konkret. Ich wollte Ihnen eigentlich keine Formulierung für etwaige Grundgesetzänderungen vorlegen. Ich weiß auch, wie sie aussehen, obwohl das alles so schrecklich geheim ist. Es gibt sicher noch bessere; die werden wir auch herausfinden. Nur, eines steht fest: Daß die Idee, „Das Nähere regeln die Gesetze" zu formulieren, nicht das Gelbe vom Ei war, wie man so schön sagt.
({11})
Das fällt auch schon wieder unter das SchwarzerPeter-Spiel; darum tue ich es gleich wieder weg, nachdem ich meinen Spaß gehabt habe, und sage Ihnen: Wir können uns hier keine Späße mehr leisten.
Es tut mir sehr leid, daß ich heute abend über dieses Thema sprechen mußte. Ich wollte uns allen noch einmal vor Augen führen, daß wir wirklich nicht verstanden werden und daß wir in einem Boot sitzen, einschließlich der Opposition.
({12})
Es haben etliche bei Ihnen, mit zunehmender Tendenz, die Sache verstanden. Herr Schily, ich habe vorhin an einer, so glaube ich, sehr beachtlichen Stelle Ihren Gesichtsausdruck und Ihre Mimik ganz richtig verstanden.
({13}) Sie können so scharf denken, wie wir alle zusammen es in dieser ganzen Angelegenheit schon länger hätten tun sollen.
({14})
Wir müssen sehen, daß wir diese Sache jetzt hinter uns bringen, damit wir uns das nächste Mal wieder mit einer Reihe von den etwas pfleglicheren Themen, die uns so schön verbinden und bei denen man sich in der Rechtspolitik wohlfühlen kann, beschäftigen können.
Herr Abgeordneter Kleinert, das Stichwort „hinter uns bringen" veranlaßt mich, Sie daran zu erinnern - ({0})
Aber vor diesen Preis haben die Götter den Schweiß gesetzt.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Heuer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war im Urlaub in Frankreich, in einem Bauernhaus einer befreundeten Familie in der Nähe von Chartres. Es war sehr schön. Dazu trug auch das weitgehende Fehlen deutscher Zeitungen bei. Aber nicht das wollte ich Ihnen berichten.
Eines Tages besuchten wir Angers an der Loire. Dort hatte ich ein ungewöhnliches Erlebnis. Im Schloß von Angers befindet sich der wohl größte Wandteppich der Welt. Der Ende des 14. Jahrhunderts angefertigte Wandteppich stellt die Apokalypse dar, den Übergang von der alten in die neue Welt, abgeschlossen durch das Jüngste Gericht mit seiner Verurteilung und Vernichtung all jener, die das Zeichen des Tieres trugen, auch der Toten. Die Grundlage des neuen Jerusalem war die Verurteilung all jener, die seiner nicht würdig waren. Das Jüngste Gericht war das Ende der Geschichte.
Lange Zeit war dieser Wandteppich unter katastrophalen Bedingungen gelagert; seit 1870 hing er wieder in der Kathedrale, seit 1954 in einer für ihn geschaffenen Galerie im Schloß von Angers. Ich habe lange die naiven Darstellungen des Kampfes zwischen Gut und Böse, Freund und Feind betrachtet, der Strafen, die den Verurteilten zuteil wurden, eines Kampfes, der hin und her wogte, bis das Gericht ihn mit seinem Urteilsspruch ein für allemal beendete, bis alle Feigen, Ungläubigen, Frevler und Mörder im schwefeligen Pfuhl waren und das neue Jerusalem vom Himmel herab kam.
Ich dachte beim Anblick dieses Teppichs an die vielen Versuche in der Geschichte der Menschheit, das Böse endgültig zu vertilgen, eine reinliche Scheidung von Freund und Feind herbeizuführen, an den Versuch der kommunistischen Bewegung, durch die Beseitigung des Privateigentums die Quelle allen Unheils in der Welt ein für allemal zu verstopfen. Ich dachte aber auch an Fukuyamas Buch vom Ende der Geschichte, an das heutige Deutschland, an Versuche, ein endgültiges, letztes Urteil über die DDR zu
sprechen, wieder einmal das Böse durch Gerichtsentscheidungen endgültig zu bestimmen.
Das Vereinigungskonzept der Bundesregierung war von Anfang an nur in einem Bereich wirklich konkret und auf entschlossenes Handeln angelegt: im politisch-moralischen Bereich. Wir haben erlebt, und wir erleben es täglich aufs neue, daß das eigentliche Problem Ostdeutschlands, hinter dem alle anderen wirtschaftlichen, finanziellen und personellen Probleme zurückzutreten haben, in der Ausmerzung der DDR-Vergangenheit in Ostdeutschland zu liegen scheint.
Insofern war bereits der 2. Staatsvertrag in einigen Teilen als ausgefertigtes Urteil eines Gerichts unter Vorsitz von Herrn Schäuble angelegt. Das Feindbild des Kalten Krieges erfuhr seine Umsetzung in Gestalt eines in der deutschen Geschichte, abgesehen von 1933, beispiellosen Rachefeldzuges gegen Links. Warteschleife, Abwicklung, Evaluierung bereiteten die Abstrafung aller derjenigen vor, die sich in der DDR politisch engagiert hatten.
Ansonsten wird ja immer - gerade auch in der laufenden Haushaltsdebatte - so getan, als seien die Schwierigkeiten im Vereinigungsprozeß nur ein finanzielles Problem. In Fragen der Abwicklung jedoch scheute man in keiner Weise die Kosten, betrieb man eine ganz systematische Politik der Beseitigung eines Großteils des intellektuellen Potentials in Ostdeutschland. Etwa 600 000 Menschen im öffentlichen Dienst erhielten mittlerweile ihre Entlassung oder wurden vorzeitig in den Ruhestand geschickt. Herr Duve und andere haben heute darüber gesprochen, was auf kulturellem Gebiet in Ostdeutschland geschehen ist. Der Bundeskanzler hat jetzt erklärt, daß mehr Geld für die Ostkultur von der Verfassung her scheitere. Angesichts der fast wöchentlich wiederholten Wünsche auf Verfassungsänderung - wir haben es zuletzt wieder gehört - halte ich das allerdings für zynisch.
Gerade weil sich Ostdeutschland trotz alledem - wie sollte es auch anders sein - partout nicht in einen blühenden Garten verwandelte, wächst das Bedürfnis, diesen Feldzug immer weiter zu treiben und durch eine ganze Serie von gerichtlichen Verfahren zu legitimieren. Immer neue Personengruppen - Rechtsanwälte, alle Abgeordneten - will man überprüfen und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen. Die Bundesregierung will sich nicht nur als faktischer Sieger im Kalten Krieg sehen; sie will ihren Sieg auch als Sieg allgemeiner Moral und Gerechtigkeit anerkannt wissen. Nur so kann ich mir die Forderungen nach Musterprozessen, nach dem Einsatz der Strafjustiz, die Praxis der Ehrengerichte, Tribunale und nicht zuletzt der parlamentarischen Enquete-Kommissionen erklären. Gesprochen wird bereits von mehreren zehntausend Strafprozessen.
Es geht um Funktionärskriminalität, also auch um den Kommandeur der Grenztruppe, den regionalen SED-Mann oder Polizeioffizier, den Bürgermeister, . . .
wie Manfred Kittlaus in der „Zeit" Nr. 9/1992 zitiert wurde.
Man verfährt augenscheinlich ganz nach dem von Otto Kirchheimer in dem Buch „Politische Justiz" 1965 dargelegten Konzept, daß der bereits ausgeschaltete Gegner auch moralisch besiegt werden müsse. Die „Wirkung des Gerichtsprozesses" soll das angestrebte Bild gewissermaßen auf ein „offizielles, autoritatives, ... neutrales Postament" hinaufheben.
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Aus dieser Sicht vor allem sehe ich auch die verbissene Beharrlichkeit, mit der man den Strafprozeß gegen Erich Honecker vorbereitet. Daß Honecker in den letzten Monaten wie ein Schwerverbrecher gejagt wurde und nunmehr wie einst 1935 in Moabit einsitzt,
({1})
hat offenbar Gründe, die mit seiner Person wenig zu tun haben. Es ging der Bundesregierung bei ihrer Hatz auf Honecker nicht um den Dilettantismus und die fehlende demokratische Moral eines Politikers in der DDR. Es geht ihr augenscheinlich um die prinzipielle gerichtliche Abrechnung mit dem angeblichen Verbrechen DDR.
Kein Justizminister der BRD hat seinerzeit Auslieferungsanträge gestellt oder auf politischen und wirtschaftlichen Druck gesetzt, um die Auslieferung der Massenmörder Eichmann und Mengele zu erreichen. Aber all das tat man, um Erich Honeckers habhaft zu werden.
So sehr Erich Honecker als Politiker aus meiner Sicht versagt hat, so wenig können wir übersehen, daß der Prozeß gegen ihn ein Prozeß zur Kriminalisierung der DDR werden soll,
({2})
die immerhin das wohl bleibende Verdienst hat, Rassismus, Neofaschismus und deutsches Großmachtstreben 41 Jahre lang gezügelt zu haben.
Je mehr sich soziale Konflikte zuspitzen, desto lauter wird vom Unrechtsstaat DDR gesprochen, wird der besiegte Feind immer wieder zum Leben erweckt, um dann wieder in den Pfuhl geschickt zu werden.
Nach dem „Spiegel", Nr. 36/92, redete der Bundeskanzler im Kabinett davon, aller Wahrscheinlichkeit nach sei der Aufruhr in Rostock von ehemaligen Stasileuten angezettelt und generalstabsmäßig geführt worden. Inge Schmidt aus Hamburg geht in einem Leserbrief der „Welt" vom 7. September noch weiter, und hier erreicht die Hysterie ihren Gipfelpunkt. Sie führt den Druck auf die Änderung des Grundgesetzes in der Asylfrage auf Stasimanöver zurück: Herr Seiters als Agent der Stasi!
Die Enquete-Kommission des Bundestages forderte unter Mißachtung der Gewaltenteilung alle Staatsanwaltschaften auf, jegliche unbefugte Beseitigung von Akten in der DDR, da sie die Aufarbeitung der Geschichte behindere, ausdrücklich zu verfolgen und zur Anklage zu bringen.
Es gibt Anzeichen auch in dieser Debatte, daß endlich, viel zu spät, über Sanierung, über Wirtschafts- und Industriepolitik nachgedacht wird. Ich halte es für verhängnisvoll, wenn heute die Frage der Lösung der ostdeutschen Probleme oft auf ein Finanzierungsproblem reduziert wird. Solange das geschieht, werden die Ostdeutschen zu frustrierten Kostgängern und die Westdeutschen zu widerwilligen Spendern gemacht. Der Gedanke, vielleicht jahrzehntelang ein darniederliegendes Land subventionieren zu müssen, muß Geber und Empfänger gleichermaßen verbittern.
Es geht aber um mehr als um Wirtschaftspolitik. Ein Konzept der Vollendung der Einheit, der Herstellung - wenn Sie wollen - gleichwertiger Lebensverhältnisse ist unmöglich ohne ein politisches, kulturelles und moralisches Konzept des Umgangs mit den Ostdeutschen und ihrer Vergangenheit. All das bösartige oder gedankenlose Gerede von verzwergten Menschen, sinnlos verbrachten Jahren, 16 Millionen Schuldigen verhindert wirkliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Zur Verarmung tritt bei vielen Menschen unablässige Demütigung.
Am 3. Oktober 1990 hatte der Bundespräsident davor gewarnt, die Deutschen von Ost und West als Böse und Gute gegenüberzustellen. Ich habe mit großem Interesse bei Minister Waigel gestern von einem Pakt der Vernunft gehört. Gegenüber der RAF wird von Versöhnung gesprochen, und ein CDUAbgeordneter hat im Rechtsausschuß die Versöhnung auch mit der DDR-Elite angemahnt. Unrecht muß gesühnt werden. Aber der Weg, den Sieg der BRD durch eine Art Jüngstes Gericht besiegeln zu wollen, wird kein Ende setzen, wird nur neue Wunden schlagen. Ich meine, daß das, was heute die Frau Justizministerin gesagt hat, mir Hoffnung gibt, daß auch hier ein Versöhnungsprozeß möglich ist. Herr Geis hat gesagt, er unterschriebe jedes Wort von ihr, und er hat dann ihre Ausführungen stark kritisiert. Ich habe ihre Ausführungen als angenehm empfunden und hoffe, daß wir einer Politik der Versöhnung entgegengehen.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Luther.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Haushalt 1993 wird vor dem Hintergrund einer sehr schwierigen Situation im vielleicht schwierigsten Jahr der Schaffung der Einheit Deutschlands geführt. Wenn heute in der politischen Diskussion auf die Aufgaben des Bereiches Justiz und Inneres eingegangen werden soll, dann muß man wissen, daß gerade in den neuen Bundesländern der Rechtsstaat auf Grund des historisch bedingten fehlenden Wissens zur Zeit einen sehr schweren Stand hat.
Um Verständnis für den demokratischen Rechtsstaat zu wecken, ist es notwendig, daß besser informiert wird und um Verständnis für den Rechtsstaat geworben wird. Vieles wird von den Menschen in den neuen Ländern nicht verstanden. Ich denke hier an den Prozeßverlauf gegen Mielke und Honecker, an den offensichtlichen Asylmißbrauch oder an den Umgang mit der organisierten Kriminalität oder daran, warum z. B. gesetzliche Formalien Investitionen verhindern. Der deutsche demokratische Rechtsstaat ist nur so gut, wie er auch von der Masse der Bevölkerung verstanden und mitgetragen wird. Hier gibt es, gerade in den jungen Bundesländern, erhebliche Differenzen. Deshalb müssen alle Kräfte dieses Landes dazu beitragen, diese Kluft zu schließen.
Für den Deutschen Bundestag leiten sich aus dieser Bestandsaufnahme ganz bestimmte Handlungsnotwendigkeiten ab. Über die Frage des Asylrechts wurde schon gesprochen, ebenso über Kriminalität und innere Sicherheit.
Meine Damen und Herren, wenn der Rechtsstaat in den östlichen Ländern wirksam werden soll, dann sind dort natürlich auch die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Die übernommenen Juristen bilden zusammen mit den Neueingestellten sowie den abgeordneten Richtern und Staatsanwälten aus den Partnerländern eine gute Grundlage für den Aufbau der Justiz, so Justizminister Heitmann aus Sachsen. Das heißt, es sind also auf personellem Weg im letzten Jahr erhebliche Fortschritte erreicht worden. Damit konnte ab Juli diesen Jahres mit dem Aufbau des vierstufigen Gerichtssystems in den neuen Bundesländern begonnen werden. In Sachsen werden am 1. Januar 1993 auch im Bereich der örtlichen Gerichtsbarkeit die im Gerichtsverfassungsgesetz vorgesehenen Instanzengerichte wieder eingeführt sein, in Brandenburg 1994. Mit diesem neuen Gerichtsaufbau kann Erhebliches für das Verständnis des Rechtsstaates in den neuen Ländern geleistet werden.
Meine Damen und Herren, einer der in der Öffentlichkeit wichtigen und zentralen Punkte ist die Genugtuung und Wiedergutmachung für die Opfer des SED-Unrechtsregimes. Für die Opfer nach langem zähem Ringen, für den Gesetzgeber jedoch in relativ kurzer Zeit wurde das erste SED-Unrechtsbereinigungsgesetz verabschiedet. Ich finde es schade, daß nach Ablehnung durch die Bundesländer dieses Gesetz jetzt im Vermittlungsausschuß festhängt, weil nach dem Sankt-Florians-Prinzip der Bund gefälligst alles und noch mehr zahlen soll. Leider ist es in der Bundesrepublik Deutschland in 40 Jahren zum politischen Stil geworden, immer die Großzügigkeit der anderen zu fordern. So wird es mit einem Solidarpakt nichts werden. Ich appelliere an die Verhandlungspartner im Vermittlungsausschuß, im Interesse der Opfer schnell zu einer Lösung zu kommen.
Als Referentenentwurf liegt nun auch das zweite SED-Unrechtsbereinigungsgesetz vor, welches sich mit den Themen der verwaltungsrechtlichen und beruflichen Rehabilitierung befaßt. Trotzdem wird auch nach Verabschiedung dieses zweiten SEDUnrechtsbereinigungsgesetzes nur ein Teil der Aufgaben angegangen sein, da für Verständnis des Rechtsstaates nicht nur die Genugtuung und Wiedergutmachung für die Opfer des SED-Regimes notwendig ist, sondern auch die Bestrafung derjenigen, die strafrechtliche Schuld auf sich geladen haben.
Mit der überzeugenden Aufarbeitung des SED-Unrechts formt sich in den Menschen das Bild vom
Rechtsstaat. Nach der Pervertierung des Rechts während der SED-Herrschaft ist die Bildung des Rechtsbewußtseins in den neuen Ländern eine Zukunftsaufgabe von höchstem Rang. Deshalb kann ich schon die Aussage der Konferenz der Häftlingsverbände aus dem Berliner Raum verstehen, die die bisherige Verfolgung des SED-Unrechts als überaus unzulänglich und unzuträglich für die Aufarbeitung der SED-Vergangenheit, besonders aber für das Gerechtigkeitsempfinden der Bevölkerung darstellt. Hier muß weiteres getan werden. Dazu gehört, daß SED-Unrecht nicht plötzlich verjährt sein darf. Der entsprechende Antrag der neuen Bundesländer muß schnell auf die Tagesordnung des Bundestages.
Die Justiz und die Staatsanwaltschaft müssen jedoch auch personell und organisatorisch dazu in die Lage versetzt werden. Dazu dient das Justizentlastungsgesetz, welches schnell verabschiedet werden muß, damit die neuen Bundesländer die großen Aufgaben der dortigen Justiz bewältigen können.
Nicht nur in den eben genannten Bereichen, auch in ganz anderen Bereichen bekommen viele Menschen in den neuen Bundesländern an der Sinnhaftigkeit des Rechtsstaates zur Zeit Zweifel. Es wird sehr viel von Investitionshemmnissen gesprochen.
Meine Damen und Herren, im allgemeinen scheitert ordentliche Investition nicht am Vermögensgesetz. Deshalb ist das Vermögensgesetz kein Investitionshemmnis. Als viel größeres Investitionshemmnis hat sich die in 40 Jahren Entwicklung des Rechtsstaates entstandene Bürokratie, die 1:1 auf die neuen Länder übertragen wurde, herausgestellt. Hier müssen Rechtsvereinfachungen vorgenommen werden. Hier müssen Beschleunigungsgesetze entwickelt werden. Und, Herr Kleinert, Sie haben mir aus dem Herzen gesprochen: Hier müssen die Rechtsschützer dem Maß der Erfordernisse in den neuen Ländern Rechnung tragen.
Meine Damen und Herren, damit das Verständnis für den Rechtsstaat gerade in den neuen Bundesländern wächst, müssen wir die Voraussetzungen schaffen, die zeigen, daß der Rechtsstaat die rechtlichen Probleme der Menschen in den neuen Bundesländern erkennt und anfaßt. Das beginnt bei der SEDUnrechtsbereinigung, geht über die Bestrafung derjenigen, die strafrechtliche Schuld auf sich geladen haben; das geht hin zu den Fragen der organisierten Kriminalität, zu Fragen des Asylrechts bis hin zu dem Bürokratismus, der vieles Handeln verhindert.
Zuletzt darf ich noch einen weiteren wichtigen Aspekt für den Aufbau des Rechtsstaates in den neuen Ländern nennen. Im Wirtschaftsbereich fordern wir, daß die neuen Bundesländer nicht zum Land der Tochtergesellschaften werden. Genauso wie ich von Unternehmen verlange, daß auch Hauptsitze in neue Bundesländer verlagert werden, so verlange ich das auch von Bundesgerichten. Das heißt - meine Forderung kennen Sie -: Der Bundesgerichtshof gehört nach Leipzig.
Danke.
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Nun erteile ich Herrn Dr. Ullmann das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Heuer, bitte fassen Sie es als einen Ausdruck der von Ihnen mit Recht geforderten Versöhnlichkeit auf, wenn ich Sie an ein Faktum erinnere, das meines Erachtens in Ihrem Kommentar zur Anklage gegen Erich Honecker gefehlt hat. Die Anklage gegen Erich Honecker ist nicht von einem Gericht der Bundesrepublik Deutschland, sondern vom Generalstaatsanwalt der DDR erhoben worden.
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Nun, lieber Herr Kollege Kleinert, jetzt wende ich mich zur rechten Seite in diesem Hause und erkläre, daß Ihre amüsanten Satiren mich nicht abhalten werden, jetzt ganz dogmatisch zu reden, nicht aus Verachtung für die praktischen Probleme, auf die Sie eingegangen sind, sondern weil es mir um Gerechtigkeit und um Menschen geht.
Die Gerechtigkeit allein ist Sinn, Ziel und Inhalt allen Rechtes wie alle Rechtspraxis. Ein Staat ist Rechtsstaat, nicht, weil es in ihm Gesetze gibt, sondern deswegen, weil diese Gesetze der Norm der Gerechtigkeit unterworfen und darum Recht sind. So kann Gerechtigkeit auch niemals Sache einer bestimmten Gruppe, z. B. eines Komitees, sein. Sie ist vielmehr Sache aller Verfassungsorgane und gemeinsame Sache aller Bürger und Bürgerinnen der Demokratie.
In unserer innenpolitischen Situation aber fordert die Gerechtigkeit vor allem anderen eines von uns: die Grundrechte so zu konkretisieren, daß ihre Unantastbarkeit gemeinsame Überzeugung der ganzen Gesellschaft und vor allem auch zur Selbstverständlichkeit für eine Jugend wird, deren Zweifel an ihrer eigenen Zukunft sie geneigt macht, alles Leben so verachtungsvoll anzusehen, wie sie das mit ihrem eigenen tun. Zu diesen Grundrechten aber gehört auch das Asylrecht. Es ist jenes Recht, das die biblische Tradition dem Fremdling einräumt, indem sie vorschreibt, gerade ihn als Nächsten zu behandeln. „Denn er ist wie Du", lautet die ebenso knappe wie zwingende Begründung dafür.
Das Grundgesetz kennt Grundrechte, die durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden können. Aber dann muß das in der Verfassung ausdrücklich vorgesehen sein. Die Änderung muß ein wirkliches Gesetz sein und darf nicht nur für den Einzelfall gelten. Genügen die vorgeschlagenen Änderungen oder Ergänzungen oder - wie es uns heute abend wieder angedeutet wurde - gar die Streichung des Asylrechts zu diesen Bedingungen? Sie tun es offenkundig nicht; denn weder gehört das Asylrecht zu den Grundrechten, deren Einschränkung das Grundgesetz vorsieht, noch können Gesetze, die als Änderungsgesetze nur eine besondere bevölkerungspolitische Absicht verfolgen - die kann es ja geben -, als Gesetze im Sinne der geforderten Allgemeinheit anerkannt werden.
Ausdrücklich heißt es: „In keinem Fall darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden. " Was aber ist dieser Wesensgehalt? Art. 1 Abs. 1
Satz 1 Grundgesetz sagt es: die Unantastbarkeit menschlicher Würde. Darum kann auch gar kein Zweifel daran bestehen, daß der Schutz der Ewigkeitsklausel in Art. 79 Abs. 3 mit dem Hinweis auf jenen Satz 1 auch das Asylrecht einschließt; schon deswegen, weil Abs. 2 des Art. 1 in der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit der Menschenrechte die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft sieht.
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Diese Grundsätze haben aber inzwischen noch eine ganz andere, verfassungsrechtliche Bedeutung erlangt. Soll die durch Maastricht gegründete - nicht etwa nur angestrebte - Europäische Union ein Gemeinwesen demokratischen Charakters sein, müssen die Grundrechte in dieser neuen Verfassung einen völlig neuen, fundamentalen Sinn gewinnen, nämlich den der Basis einer neuen, nicht mehr nationalstaatlichen Einheit. Zum Wesensgehalt dieser europäischen Grundrechte gehörte es dann auch, Gleichheit in einem viel umfassenderen Sinne zu bezeichnen und zu begründen, als es je auf nationalstaatlicher Ebene möglich war. Käme es noch darüber hinaus zur Einigung über eine europäische Sozialcharta, so entstünde ein ganz neues Verständnis von Grundrechten als Kernbestand einer Verfassung, deren übriger Inhalt nicht Staatsorganisation, sondern Wirtschafts- und Währungsunion ist.
In welchem Verhältnis aber steht die deutsche Verfassung zu dieser größeren Demokratie? Da die letztere sich laut Maastricht als eine Union versteht, „in der Entscheidungen möglichst bürgernah getroffen werden" , muß die erstere diesem Ziel ebenfalls entgegenstreben. Ist es nicht ein seltsamer Widerspruch, daß alle Welt über Parteienverdrossenheit philosophiert, aber durchaus nicht mit gleicher Intensität die Forderung nach einer Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch die partizipative gefordert wird? Muß es erst dahin kommen, daß Komitees gegen die demokratischen Institutionen gegründet werden, statt Bürgerinitiativen für sie?
Noch in einer zweiten Hinsicht wird die europäische Union zur Herausforderung unserer Verfassung: Ihr Föderalismus gewinnt in dem Maße an Gewicht, wie die Europäische Union eine wirklich politische Union wird, eine Struktur gemeinschaftlich wahrgenommener Souveränität jenseits der klassischen Kategorien von Nationalstaat, Bundesstaat oder Einheitsstaat.
Das gleiche gilt für die verfassungsrechtliche Seite des deutschen Einigungsprozesses. Was nützt der ständig beschworene Beitritt nach Art. 23, wenn dieser Beitritt in einen Status ungleichen Rechtes hineinführt wie den des gespaltenen Rechtes der beiden Anlagen des Einigungsvertrages?
Schwerer noch beeinträchtigt die demokratische Verfaßtheit der Länder jene Sonderfinanzierung der Ostländer, die 1995 in den Länderfinanzausgleich einbezogen werden sollen. Gerade im Hinblick hierauf muß die Dringlichkeit einer Reform der Finanzverfassung unterstrichen werden. Wenn die Gemeinsame Verfassungskommission sich wegen der Kompliziertheit der Materie scheut, Hand anzulegen, dann sollte sie sich des Rates zusätzlicher Experten bedienen, aber auf keinen Fall weiteren Aufschub betreiben; denn eines wissen wir nun schon sehr genau: Es ist dem deutschen Einigungsprozeß schlecht bekommen, daß - umgekehrt wie bei der EG - die Währungs- vor der Wirtschaftsunion gestanden hat und vor allem eine Rechtsunion bisher nur unvollständig oder noch gar nicht zustande gekommen ist. Eigentums- und Vermögensrecht klaffen noch immer auseinander und produzieren eine Hochkonjunktur von Prozessen. Das zweite Vermögensgesetz, Herr Geis, hat wieder ein vierjähriges Moratorium. Ich nehme an, dies wird ebenfalls zu einer Hochkonjunktur neuer Prozesse führen.
Das Wiedergutmachungsrecht wird zwar Gegenstand einer eigenen Gesetzgebung - das hat Herr Luther richtig gesagt -, aber sie läuft darauf hinaus, die alten Regelungen von Lasten- und Chancenausgleich über Stichtage auslaufen zu lassen; als ob nicht die deutsche Teilung die einschneidendste aller Kriegsfolgen und darum die Beseitigung ihrer Folgen die umfassendste aller Lastenausgleichsaufgaben wäre.
Die ungenügende Realisierung der Rechtsunion führt uns wieder in den innenpolitischen Alltag zurück; denn nicht zuletzt ist sie es, die gerade die Jugend der rechtsradikalen Gewalt zutreibt. So stehen Innen- und Rechtspolitik vor der Frage: Wollen sich die großen demokratischen Parteien in die Sackgasse der Ideologen der ethnischen Säuberung treiben lassen,
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in dem Lande, das Thomas Mann, Albert Einstein, Willy Brandt und Walter Benjamin ins Exil getrieben hat? Sollen wirklich die kleinen Bürgerbewegungen die einzigen Wächter der Demokratie sein? Dann stünde es nicht gut urn die Demokratie. Aber wenn uns nichts übrig bleibt, nun gut, dann scheuen wir uns nicht, wie schon oft, die Stimme der Opposition zu erheben und den großen Parteien zuzurufen: Soll alles darauf hinauslaufen, daß - wie Herr Gerster und Herr Geis das heute vorgeführt haben - die Republikaner die CDU vor sich hertreiben und die CDU dasselbe mit der SPD tut? Sollte es nicht gerade jetzt Pflicht aller Demokraten sein, sich schützend vor die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte zu stellen und zu beweisen, wie ernst es uns allen mit dem Bekenntnis zu ihnen ist?
Herr Dr. Ullmann, sind Sie noch bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geis zu beantworten?
Ja, bitte, Herr Geis.
Herr Dr. Ullmann, sind Sie mit mir einer Meinung, daß es auch eine Frage der Gerechtigkeit ist, Mißbrauch eines Grundrechtes zu verhindern?
Das ist gewiß richtig. Unser Streit geht ja um die Frage, wo der Mißbrauch liegt. Ich denke, der Mißbrauch liegt bei denen - da denke ich ähnlich wie
Herr Kleinert -, die ein neues Problem mit einer ungenügenden Gesetzgebung beantworten wollen. Wir brauchen ein Flüchtlings-, ein Einwanderungs-, ein Niederlassungsrecht.
Danke schön.
Meine Damen und Herren, bevor ich die Sitzung schließe, möchte ich das Haus bitten zuzustimmen, daß die Rede des Abgeordneten von Schmude, der weggehen mußte, zu Protokoll genommen werden kann. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Ich berufe nunmehr die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 10. September 9.00 Uhr ein und wünsche Ihnen noch einen angenehmen Restabend.
Die Sitzung ist geschlossen.