Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache über Punkt 1 der Tagesordnung und den Zusatztagesordnungspunkt fort:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989 ({0})
- Drucksache 11/2700 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992
- Drucksache 11/2701 Überweisung: Haushaltsausschuß
ZP Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988
({1}) - Drucksache 11/2650 Überweisung: Haushaltsausschuß
Die Aussprache soll heute etwa gegen 18.30 Uhr beendet werden. Die Mittagspause ist wie üblich von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Ich eröffne die Beratungen. Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
({2})
Herr Präsident! Einen sprintenden Fraktionsvorsitzenden habe ich zum erstenmal im
Bundestag gesehen. Das hätte fast Beifall verdient, jedenfalls von der eigenen Fraktion.
({0})
Meine Damen und Herren, der Bundeswirtschaftsminister ist noch nicht eingesprintet. Deshalb bitte ich seinen Parlamentarischen Staatssekretär - ({1})
- Zwei hat er da, aber der Chef fehlt. Ich wäre Ihnen beiden also dankbar, wenn Sie ihm folgendes sagten: Gestern hat er hier eine Abschiedsrede gehalten.
({2})
Diese Abschiedsrede war heiter und nicht zur Sache. Ich wäre jetzt versucht, Herr Staatssekretär Riedl und Herr Staatssekretär von Wartenberg, ihm nur noch „good bye, Martin" nachzurufen
({3})
- eben nicht Johnny, leider; das hätte noch besser gepaßt - und ihm gleichzeitig zu sagen: Machen Sie es gut in Brüssel! Das letztere will ich tun. Aber eine Würdigung seiner Amtszeit als Bundeswirtschaftsminister scheint mir schon notwendig zu sein, und zwar insbesondere auch deshalb, weil die Öffentlichkeit allgemein der Meinung ist, daß er die Probleme in seinem Amt nicht wirklich angepackt hat.
Keines der tiefgreifenden Strukturprobleme unserer Wirtschaft wurde unter der Amtszeit von Herrn Bangemann tatsächlich der Lösung nahe gebracht. Er hat bei Beginn seiner Regierungszeit erklärt: Hauptziel unserer Wirtschaftspolitik ist die Beseitigung der 2,2 Millionen Arbeitslosen. Am Ende seiner Amtszeit hat er weiterhin 2,2 Millionen Arbeitslose und eine weitere Million nicht registrierter Arbeitsloser.
({4}) Das ist nach vier Jahren so geblieben.
({5})
Die Lebensbedingungen in der Bundesrepublik entwickeln sich weiter auseinander denn jemals zuvor. Wir haben in manchen Regionen der Bundesrepublik Situationen der Vollbeschäftigung und Arbeitslosenzahlen von zur Zeit nahezu 20 %. Diese Re6210
publik hört auf, unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine einheitliche Bundesrepublik Deutschland zu sein, weil sich die Lebensbedingungen dramatisch auseinanderentwickeln.
({6})
Wo bleibt denn eigentlich das Wirtschaftsministerium, wenn Initiativen kommen, um dieses Problem anzupacken?
({7})
Die Albrecht-Initiative - eine Initiative aus den Reihen der CDU - : Im Rahmen des Grundgesetzartikels 104 a Abs. 4 sollte den betroffenen strukturschwachen Ländern zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Seit Wochen streiten Sie sich nun über diese Initiative, und vom Bundeswirtschaftsministerium gibt es nicht einmal eine Meinung zur Sache. Das ist die Realität.
Herr Bangemann predigte in Sonn- und Feiertagsreden stets mehr Markt und mehr Wettbewerb. Dabei gibt es heute weniger Markt und Wettbewerb als jemals zuvor. Das bekennt die CDU/CSU ja übrigens selbst. Denken Sie an die Großfusionen im Handel, an die Verstärkung der Nachfragemacht, an die Tatsache, daß Lieferanten völlig abhängig werden.
({8})
Der Wirtschaftspolitiker Bangemann wird in die Geschichte eingehen als der Stifter einer der größten Unternehmensfusionen in der Bundesrepublik Deutschland. Die Fusion Daimler-Benz mit Messerschmitt-Bölkow-Blohm zum größten Rüstungskonzern wird mit dem Namen von Herrn Bangemann verbunden bleiben. In der Amtszeit von Bangemann hat sich das Wirtschaftsministerium somit endgültig aus der Ordnungspolitik verabschiedet.
Auch aus der sektoralen Strukturpolitik gab es keine Initiativen. Ich erinnere daran, daß die Montanrunde, die die Anpassungsprozesse an Rhein und Ruhr absichern sollte, nicht vom Wirtschaftsministerium vorbereitet und organisiert worden ist, sondern daß es der Kanzleramtsminister Schäuble war, der hier Chef der Sache gewesen ist. Das dokumentiert die Entwicklung im Wirtschaftsministerium ganz eindeutig.
Rolf Düser, Chefredakteur des Wirtschaftsmagazins „Impulse", einer Monatszeitschrift, die sich vor allem dem Mittelstand widmet, schrieb in ihrer letzten Ausgabe - ich zitiere - :
Das Wirtschaftsministerium, das zu Zeiten Ludwig Erhards einst der Star unter den Ministerien war, ist inzwischen kaum noch wichtiger als das Familien- oder Bildungsministerium; es könnte jederzeit aufgelöst und seine Aufgaben könnten anderen Ministerien zugeschlagen werden.
Die Konjunkturbeobachtung wäre auch im Bundeskanzleramt gut aufgehoben, die Gewerbeförderung ließe sich bestens im Forschungsministerium verwalten, das damit sogar aus dem Ruch käme, ein reines Förderungsinstrument für Siemens und andere Großfirmen zu sein. Und die Subventionen für absterbende Branchen würden im Finanzministerium sicher viel kritischer unter die Lupe genommen als im Wirtschaftsministerium...
All das wäre besser mit einer Auflösung des Wirtschaftsministeriums verbunden. Das schreibt eine Mittelstandszeitschrift, die gerade dem Grafen sehr nahesteht, wie wir aus vielen Ausgaben wissen.
Das ist eine vernichtende Aussage über die Amtsführung. Es wäre natürlich ungerecht, diese Kritik auf die Beamten auszudehnen. Das Tragische ist gerade, daß das Wirtschaftsministerium vom Stab her, von der Mannschaft her ais eines der hochqualifiziertesten und besten Ministerien in Bonn gilt. Das ist die Tatsache. Aber am Desinteresse eines Ministers kommt ein Ministerium eben nicht vorbei.
Der eigentliche Krebsschaden ist der folgende: Das Wirtschaftsministerium ist in den letzten Jahren zum Nebenjob des jeweiligen FDP-Vorsitzenden heruntergekommen. Ich befürchte, daß das nach den Neuwahlen wieder so sein wird.
({9})
Ich muß allerdings vorsichtig sein; nicht daß ich Herrn Haussmann zu stark lobe; das könnte ihm dann bei seiner Berufung schaden.
Meine Damen und Herren, viele, auch Europaabgeordnete aus unseren Reihen, haben allerdings anerkannt, daß Martin Bangemann in seiner Zeit als Fraktionsvorsitzender der Liberalen im Europäischen Parlament vorzügliche Arbeit geleistet habe. Ich will das nicht unerwähnt lassen. Meine Hoffnung ist, daß er als Europäischer Kommissar wieder das Engagement zeigt, das er vorher als Fraktionsvorsitzender gezeigt hat. Meine Hoffnung ist, daß er die Interessen der Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Parlament und in der Kommission vertritt. Meine Hoffnung ist, daß er die Durchsetzung des europäischen Binnenmarktes mit vorantreibt. Wir werden ihn auf diesem Gebiet unterstützen.
({10})
[FDP]: Nachdem Sie ihn bei seiner Berufung
beschimpft haben!)
Diese Regierung strotzte gestern geradezu vor Selbstzufriedenheit angesichts der Konjunkturentwicklung. Ich habe schon gesagt: Sie strotzt vor Selbstzufriedenheit in einer Situation, wo die Arbeitslosigkeit genauso hoch ist wie noch vor ein paar Jahren und weiterhin stabil oben bleibt. Das heißt, die Konjunktur ist heute in der Wirtschaftspolitik nicht mehr entscheidend.
Im übrigen, auch unabhängige Beobachter der Bundesregierung finden, daß die Regierung alles getan hat, um der Konjunktur zu schaden. Ich zitiere aus der „Stuttgarter Zeitung" von gestern:
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Monaten nicht allzuviel getan, um stabile und berechenbare Bedingungen für eine Fortführung des Wirtschaftsprozesses zu schaffen. Die leidige Debatte über Steuerreform und Flugbenzin, die Erhöhung der Verbrauchsteuern, das 40-Milliarden-Loch im Haushalt - es gibt allerlei Hinweise
darauf, daß die Konjunktur zur Zeit eher trotz Bonn als dank Bonn läuft.
Das ist das Urteil der „Stuttgarter Zeitung" von gestern.
({11})
Lassen Sie mich noch ein Wort zu den Prognosen vom letzten Jahr und von Anfang dieses Jahres sagen. Sicherlich, die Institute haben sich geirrt, der Sachverständigenrat hat sich geirrt, die Bundesregierung hat sich geirrt, auch wir waren zu pessimistisch, ohne Zweifel.
({12})
Ich finde übrigens, daß die damaligen Prognosen ihren Sinn gehabt haben. Sowohl die amerikanische Zentralbank als auch die Deutsche Bundesbank haben ihre Geldpolitik nach diesen Prognosen völlig geändert. Besonders die Amerikaner haben eine Politik des leichten Geldes gemacht. Die Zinsen sind gesunken, und die gesunkenen Zinsen waren natürlich Voraussetzung für das Anspringen einer gewissen Investitionskonjunktur. Insofern sind realistische Perspektiven und Prognosen zum Status quo manchmal ganz gut, um diesen Status quo zu verändern. Das war der Vorgang, und insofern darf sich da keiner schämen, der gegenüber dieser Entwicklung etwas falsch gelegen ist. Denn wir wollten ja gerade die Politik der verschiedenen Institutionen im letzten Halbjahr verändert haben.
Meine Damen und Herren, Konjunkturpolitik hin oder her - das ist nicht das zentrale Problem. Das zentrale Problem ist das Problem der Massenarbeitslosigkeit. Unser Ziel ist, die Massenarbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen.
({13})
Wir reden weiter von Vollbeschäftigung, meine Damen und Herren.
({14})
- Guten Morgen, Herr Minister.
({15})
- Er schläft noch, ja.
({16})
Im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit gibt es drei strategische Ansatzpunkte: erstens die ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft, zweitens die freiere Gestaltung und die damit verbundene Verkürzung der Arbeitszeit, drittens die durchgreifende Verbesserung der Qualifizierung der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland.
({17})
Die ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft ist keine Aufgabe unter anderen, sondern die zentrale Aufgabe und Chance unserer Zeit. Es kommt darauf an, die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen mit der Entwicklung neuer Dienstleistungen und neuer Industriezweige zu verbinden. Ökologische Erneuerung bedeutet zuerst Forschung für mehr und bessere Investitionen in umweltverträglichere Produkte und Produktionsverfahren.
Ökologische Erneuerung erfordert eine expansive, aber zugleich eine qualitative Wachstumsstrategie. Wir brauchen den Willen zur Gestaltung der Zukunft. Die Forschungs- und Technologiepolitik, die Industriepolitik, die Verkehrspolitik, die Agrarpolitik müssen in den Dienst dieser ökologischen Erneuerung gestellt werden. Wir müssen uns zutrauen, meine Damen und Herren, daß es noch in unserer Generation ein neues Verkehrssystem gibt, das den Tod und die Verletzungen auf den Straßen eindämmt und gleichzeitig die Umwelt schützt. Das kann unsere Generation leisten.
({18})
Und, meine Damen und Herren: Wir können eine neue Chemie erreichen, die die Vergiftung der alten Chemie beseitigt; das ist möglich.
({19})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Und, meine Damen und Herren: Wir können ein neues Energiesystem schaffen, das die bisherigen Beschädigungen der Umwelt, das die bisherigen Zerstörungen der Umwelt überwindet. Das sind Investitionschancen für morgen, und das ist die Aufgabe, die sich die Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag gestellt haben.
({0})
Herr Abgeordneter Roth, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Herr Abgeordneter Stratmann, Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage.
Herr Kollege Roth, können Sie mir erklären, warum eine ökologische Erneuerung - die wir begrüßen - gleichzeitig eine expansive, wenn auch qualitative Wachstumsstrategie erfordern soll, wenn man in dem Beispiel, das Sie soeben genannt haben, u. a. berücksichtigt, daß die Einführung eines ökologischen Verkehrssystems mit einer erheblichen Senkung des privaten Automobilverkehrs und damit auch mit einer erheblichen Senkung der Automobilproduktion einhergehen muß?
Investitionen in eine ökologische Zukunft brauchen einen expansiven Prozeß, brauchen neue Anstrengungen, brauchen neues Kapital, brauchen neue Arbeit in neue Richtungen. Das ist doch ganz einfach. Ihr Zukunftspessimismus gegenüber diesen Investitionen ist völlig unnötig. Wir brauchen bessere Investitionsbedingungen für ein alternatives Verkehrssystem, eine neue Bahn. Man braucht viel
Kapital, um die neue Bahn zu finanzieren. Das ist expansiv und qualitativ erneuernd zusammen.
({0})
Wir brauchen ein neues Steuersystem, das das Investieren begünstigt, ...
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng? - Nicht.
... nicht aber Spekulation und Finanzanlagen. Übrigens geht es um Investitionen bei uns und nicht anderswo.
Wir glauben nicht, daß die Senkung der Spitzensteuersätze für Private die besten Voraussetzungen für die Investitionstätigkeit schafft. Wir sind der Auffassung, daß die Begünstigung der reinvestierten Gewinne bzw. die Förderung der Sachanlagen die beste Voraussetzung für mehr Investitionen darstellt. Deshalb schlägt die SPD einen Umbau des Steuersystems zugunsten der Sachinvestitionen vor.
Ökologische Erneuerung kann nur dann gelingen, wenn es innovative, risikofreudige, eben unternehmende Unternehmer gibt, wenn die ökologische Herausforderung gleichzeitig als Investitionschance im Wettbewerb begriffen wird.
Sicher, wir brauchen auch öffentliche Investitionen. „Arbeit und Umwelt", unser Sondervermögen, ist ein Beispiel dafür. Wir wollen damit die umweltpolitischen Altlasten beseitigen. Da die Verursacher dieser Altlasten heute nicht mehr bestimmbar sind, brauchen wir ein umfassendes Programm zur Sanierung unserer Gewässer, zur Entgiftung unserer Böden, zur Reinigung der Luft. Was ist eigentlich das NordseeProgramm, das der Herr Töpfer vorgeschlagen hat, anderes als eine späte, zu kleine, falsch angelegte Kopie unseres Programms „Arbeit und Umwelt".
({0})
Wir brauchen auch klare staatliche Rahmenbedingungen zum Schutz unserer Umwelt. Ökologische Erneuerung bedeutet die Setzung strikter Umweltnormen und ein starker Staat mit effizienter Kontrolle. In diesen Zusammenhang gehört der Vorschlag der SPD zu einer Verlagerung unserer Steuern von den direkten Steuern, insbesondere den Lohnsteuern, zu einer stärkeren Besteuerung des Energieverbrauchs. Wir wollen ein Steuersystem, das den ökologischen Anforderungen genügt. Wir wollen das Steuersystem nutzen, um ökologisch umzusteuern. Wir wollen nicht mehr einnehmen, sondern die höheren Energiesteuern für die steuerliche Entlastung der Bürger verwenden. Wir werden natürlich auch eine soziale Flankierung dieser Politik in Richtung Rentner oder sozial Schwache beachten.
({1})
Eine Erhöhung der Energiesteuer würde gleichzeitig erfordern, daß beispielsweise Fernpendler an anderer Stelle im Steuersystem entlastet werden.
Jeder kann sicher sein, daß die SPD bei ihrem neuen, anderen Steuersystem diese sozialen Aspekte einer Reformpolitik beachtet. Ich füge hinzu: Der Staat kann nur die Voraussetzung für eine ökologische Erneuerung schaffen. Die einzelnen Lösungen werden im Wettbewerb, werden am Markt erreicht.
Manchmal wird eingewendet, eine derartige ökologische Ausrichtung unserer Wirtschaftspolitik hätte negative Wirkungen auf unsere Wettbewerbsfähigkeit. Ich halte dieses Bedenken für grundfalsch. In allen Ländern - in Nord und Süd, in Ost und West - werden in den letzten Jahren Forderungen nach Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen lauter und lauter. Wer die umweltverträglichsten Produkte herstellt und als erster an den Markt bringt, hat Wettbewerbsvorteile und Wettbewerbschancen in der Zukunft. Umgekehrt wird ein Schuh daraus!
({2})
Insofern, finde ich, sollte man die Diskussion über den Standort Bundesrepublik Deutschland mit der ökologischen Diskussion zusammenführen. Das Zukunftsprojekt „Ökologische Erneuerung der Volkswirtschaft" ist gleichzeitig ein positiver Beitrag zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft.
Meine Damen und Herren, die ökologische Erneuerung muß jetzt in Angriff genommen werden. Jetzt haben wir einen Überschuß an Arbeitskräften. Jetzt haben wir einen Überschuß an Sparkapital. Es kann gut sein, daß auf Grund der demographischen Entwicklung in fünfzehn Jahren die Situation ganz anders ist und wir andere Prioritäten setzen müssen. Deshalb ist ökologische Erneuerung die Aufgabe unserer Generation.
Wenn die ökologische Erneuerung und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit eine Steigerung der Investitionen verlangen, wenn also mehr Produktivkapital in den Unternehmen angesammelt wird und wenn das auf Grund einer drastischen steuerlichen Förderung der Investitionstätigkeit geschieht, dann ist es ein Gebot der Gerechtigkeit, die Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivkapital zu fördern.
({3})
Denn sonst bekäme man wieder Unternehmensvermögenskonzentrationen in wenigen Händen. Wir fordern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften auf, diese Chance zu nutzen.
({4})
Meine Damen und Herren, wir haben auf unserem Parteitag in Münster das Thema Arbeitszeitverkürzung strittig diskutiert. Wir sind der Überzeugung, nicht mit umweltverträglichem Wachstum allein, schon gar nicht mit rein quantitativem Wachstum sind auf absehbare Zeit so viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, daß jeder registrierte oder nicht registrierte Arbeitslose, geschweige denn jene Millionen Frauen, die Arbeit wollen, auch tatsächlich einen Arbeitsplatz finden werden.
Wenn wir als langfristiges Ziel die 30-Stunden-Woche genannt haben, so drückt sich darin die Erwartung aus, daß der Produktivitätsfortschritt weiter schnell sein wird. Es drückt sich die Erwartung aus, daß Rationalisierungen weiterhin auf der Tagesordnung sind. Da wir aus Wettbewerbsgründen zum Produktivitätsfortschritt und zur Rationalisierung ja sagen müssen, brauchen wir auch interne Strategien zur
Umsetzung in der Arbeitszeit. Uns ist auch klar, daß eine 30-Stunden-Woche
({5})
mit einer 30-Stunden-Maschinenlaufzeit nicht vereinbar wäre.
({6})
Deshalb wird es gerade bei einer weiteren Verkürzung der Regelarbeitszeit flexiblere Arbeitszeitregelungen geben als bisher. Eine Diskussion über die Abkoppelung der individuellen Arbeitszeiten von den Maschinenlaufzeiten bzw. Betriebszeiten ist unausweichlich. Das ist die entscheidende Frage. Die entscheidende Frage ist nicht die Sonntagsarbeit. Bei der wollen wir überall, wo es möglich ist, bei der bewährten Regelung bleiben. Ausnahmen hat es auch bisher schon gegeben, wie jeder weiß.
Es wird auch aus einem anderen Grunde eine freiere Arbeitszeitgestaltung geben. Sie erweitert die persönliche Freiheit, sie ermöglicht eine freiwillige, über den jährlichen Produktivitätsspielraum hinausgehende Arbeitszeitverkürzung und damit eine wirkliche Umverteilung von Arbeit und leistet gleichzeitig einen Beitrag zur Vollbeschäftigung. Viele Menschen wollen beweglichere Arbeitszeiten. Ein großer Teil der heutigen Vollzeitarbeitnehmer arbeitet nur unfreiwillig ganztägig. Nach Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit, das wir gern zitieren, entspricht die Summe der unfreiwillig geleisteten Arbeitsstunden rein rechnerisch etwa 3 Millionen Vollzeitarbeitsplätzen in der Bundesrepublik Deutschland. Wir kommen daher den Wünschen der Menschen entgegen, wenn wir uns auf eine freiere Gestaltung der Arbeitszeit einstellen.
({7})
Aber eines ist auch klar: Individuellere Arbeitszeitregelungen bedürfen natürlich des Schutzes, des gewerkschaftlichen Schutzes und des gesetzlichen Schutzes, und der Gleichstellung, was Qualifikation und Bildungsmöglichkeiten betrifft.
Meine Damen und Herren, in den letzten Monaten gab es eine intensive Diskussion über den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland. Wir Sozialdemokraten hielten die pessimistischen Untertöne für völlig verfehlt.
({8})
Wir Sozialdemokraten wollen den Wirtschaftsstandort Bundesrepublik Deutschland sichern, indem wir die Faktoren fördern, die ihn stark gemacht haben: wenig Arbeitskämpfe,
({9})
gut ausgebildete Arbeitnehmer mit hoher produktiver Leistung, gute Hochschulen, wissenschaftliche Einrichtungen, ein international anerkanntes Berufsbildungssystem und eine außerordentlich gute Infrastruktur.
Eine Kosten- bzw. Lohnkostenkonkurrenz mit Billiglohnländern ist für die Bundesrepublik Deutschland der völlig falsche Weg. Er ist ein Weg in die Sackgasse.
({10})
Er führt zu sozialem Unfrieden. Er führt in soziale Konflikte. Er führt dazu, daß letztlich nur Verlierer übrigbleiben.
Dagegen sollten wir im Strukturwandel uns auf die viel wichtigere Qualitäts-, Qualifizierungs- und Innovationskonkurrenz konzentrieren. Sie zu gewinnen haben wir Chancen. Die hohe Qualifikation der Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland wird überall als positiver Standortfaktor genannt.
({11})
Zu Recht; denn den erstklassigen Ruf des „Made in Germany" und den Erfolg unserer Produkte und Dienstleistungen auf den Weltmärkten verdanken wir vor allem erstklassigen Arbeitskräften, und zwar Männern und Frauen in Forschung und Anwendung, in Dienstleistung, Produktion, Marketing und im Verkauf. Ihre beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten zu bilden und ein ganzes Arbeitsleben lang auf der Höhe zu halten, ist kein Ziel neben anderen, sondern das vorrangige Ziel einer verantwortlichen Angebotspolitik. Das aber heißt Wissen und Erfahrung, Intelligenz und Initiative, Leistungsbereitschaft, Leistungsvermögen und Arbeitsfreude der Beschäftigten systematisch zu fördern. Sie dürfen nicht vergeudet, behindert oder beschädigt werden. Es geht um die geistige Infrastruktur unseres Landes als Standortiaktor. Es geht darum, Qualifizierung und Weiterbildung als Zukunftsinvestition zu begreifen.
({12})
Damit bleiben wir im Strukturwandel leistungsfähig, und wir haben zugleich ein Instrument im Kampf um die Vollbeschäftigung. Wir wissen: Besser qualifizierte Arbeitnehmer haben mehr Chancen, ihren Arbeitsplatz auch in Zukunft zu erhalten.
({13})
- Sie seien mal still, in der Ecke.
({14})
- Herr Bundesarbeitsminister Blüm hat bei seinen Streichungen bei der Bundesanstalt für Arbeit gerade die Mittel für Qualifizierung zusammengestrichen. Das ist Politik in die falsche Richtung.
({15})
- Meine Damen und Herren, wir können ja eine Verabredung treffen: Wir gehen in den Haushaltsausschuß, und alle unsere Kollegen und Kolleginnen stimmen mit dafür, daß alle bisherigen Ausgaben für Qualifizierung erhalten bleiben. Da haben Sie unsere Hände sofort oben.
({16})
Wir Sozialdemokraten laden deshalb alle Beteiligten, allen voran die Tarifparteien, Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ein, über die notwendige Modernisierung der geistigen Infrastruktur zu diskutieren und
gemeinsam in einer Art Sozialpakt realisierbare Konzepte zu entwickeln. Wir empfehlen eine bildungspolitische Offensive, die Erwachsenenbildung, Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung auf allen Stufen - auf allen Stufen! - einen ebenso hohen Rang einräumt wie der Schule, der Hochschule und der bisherigen beruflichen Bildung. Qualifizierung als weiteres festes Element unseres Bildungssystems.
Wir Sozialdemokraten wollen das Recht auf Fort- und Weiterbildung in der Arbeitswelt gesetzlich verankern. Die freiere Gestaltung der Arbeitszeit muß den Arbeitnehmern auch mehr Möglichkeiten zur Weiterbildung bieten.
Wir Sozialdemokraten glauben, daß durch eine Erhöhung der Investitionstätigkeit unserer Wirtschaft und eine Ausrichtung dieser Wirtschaft auf die ökologischen Erfordernisse der Zukunft, daß durch bessere Qualifizierung der Arbeitnehmer und die freiere Arbeitszeitwahl bei Arbeitszeitverkürzungen positive Standortvoraussetzungen geschaffen werden, die uns im Wettbewerb mit den anderen Ländern nach vorn bringen.
All dies, meine Damen und Herren, wird schon deshalb notwendig, weil die Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts zu einer realistischen Perspektive geworden ist. Erfreulicherweise hat der Kommissionspräsident Jacques Delors den europäischen Integrationszug wieder ins Rollen gebracht.
Wir Sozialdemokraten haben diesen europäischen Einigungsprozeß stets unterstützt, stets gefordert; jetzt müssen wir uns ihm stellen, auch wenn er an der einen oder anderen Stelle zu Schwierigkeiten führt. Diese Schwierigkeiten wird es geben. Ich denke nur an den Verkehrssektor.
Die Verwirklichung des Binnenmarkts bedeutet mehr Wettbewerb, schärfere Konkurrenz auf den Banken- und Versicherungsmärkten, auf dem Verkehrsmarkt, auf den Industriemärkten, auf dem Energiemarkt. Ich glaube, im Industriesektor brauchen wir den Wettbewerb nicht zu scheuen, aber wir müssen aufpassen, daß nicht nur die großen Unternehmen vom europäischen Binnenmarkt profitieren. Wir müssen darauf achten, daß auch die kleinen und mittleren Unternehmen nicht einfach abgedrängt werden.
({17})
Deshalb brauchen wir mehr Wettbewerbspolitik auf europäischer Ebene. Deshalb brauchen wir eine Politik für den Mittelstand auf europäischer und nationaler Ebene. Es darf keine Schutzzäune geben, aber um so mehr müssen wir dann die Investitionsfähigkeit der Unternehmen stärken. Das paßt wieder mit unserem Steuerkonzept zusammen.
({18})
Meine Damen und Herren, die deutsche Sozialdemokratie hat sich auf ihrem Münsteraner Parteitag ein wirtschaftspolitisches Konzept erarbeitet. Wir werden uns den Herausforderungen stellen. Wir glauben, daß es möglich ist, die Wirtschaft leistungsfähig und stark zu erhalten und ökologisch neu auszurichten.
Vielen Dank.
({19})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Hauser ({0}).
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Roth, als Sie sich zu Beginn Ihrer Rede in der Form, wie Sie es getan haben, mit dem Bundeswirtschaftsminister auseinandersetzten, hatte ich das Gefühl, daß dies in Ermangelung eigener konzeptioneller Gedanken stattfindet; denn das, was Sie kritisch in Richtung des Bundeswirtschaftsministers gesagt haben, ist ja nicht etwa durch Ihre besonderen Ideen in eine andere, positive Richtung verändert worden.
Wir können nur sagen: Der Bundeswirtschaftsminister hat seine Pflicht getan. Er hat mit seinem Haus die Aufgaben erfüllt. Die Konjunkturdaten, die wir heute hier präsentieren können - Sie werden es mir nicht übelnehmen, wenn ich ob dieser Tatsache Schadenfreude empfinde - , sind ja nicht das Ergebnis von Zufälligkeiten, sondern das Ergebnis einer vernünftigen Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Bundesregierung.
({0})
Herr Kollege Roth, Sie haben am 3. März in der Debatte zum Jahreswirtschaftsbericht gefordert: Ein Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist angesagt. Ich kann nur sagen: Wie gut, daß wir diesen Tönen nicht gefolgt sind. Sonst hätten wir heute diese Konjunkturdaten wahrscheinlich nicht vorliegen, sondern müßten uns damit einverstanden erklären, daß die Prognosezahlen, die uns zu Beginn des Jahres serviert wurden, tatsächlich eingetreten sind.
Lassen Sie mich dazu ein Wort sagen. Ich habe mich schon zu einem früheren Zeitpunkt mit diesen Prognosen kritisch auseinandergesetzt. Für mich stellt sich wirklich die Frage, ob diese ganzen Prognosen, die von wissenschaftlichen oder auch pseudowissenschaftlichen Instituten und Persönlichkeiten vorgelegt werden, nicht mehr zur Irritation als zur Klarheit beitragen.
({1})
Diese ganzen Prognosezahlen, die hochgepuscht werden und aus denen man alle möglichen Konsequenzen wie die eben von Ihnen schon zitierten ableitet, führen ja nicht dazu, daß wir zu einer besseren Entwicklung kommen, sondern sie führen nur zu mehr Verwirrung. Wir wissen alle, daß 50 % erfolgreicher Wirtschaftspolitik Psychologie ist. Wenn durch solche Prognosen den Leuten vorgemacht wird, das sei alles sehr schwierig und das werde alles sehr schwierig werden, dann ist es kein Wunder, daß das eine Grundstimmung erzeugt, die zunächst einmal negativ ist.
Wir können festhalten, daß die Steigerungsraten in dem ersten Halbjahr eine Höhe erreicht haben wie seit Beginn der 80er Jahre nicht mehr, und wir können festhalten, daß die Finanz- und Wirtschaftspolitik dieser Bundesregierung gerade daran einen wesentlichen Anteil hat, weil die Kaufkraft unserer Bevölkerung durch die steuerlichen Entlastungen der ersten beiden Stufen der Steuerreform erheblich angewachsen ist.
Hauser ({2})
Als sich die Wirtschaft nach dem Regierungswechsel 1982 wieder aufwärtsentwickelte, haben Sie und auch andere gesagt: Das liegt nur daran, daß wir jetzt einen starken Außenhandelsüberschuß haben, der Export trägt die Konjunktur. Das war auch richtig. Aber heute wissen wir, daß der Binnenmarkt, daß die Konsumgüter die Wirtschaft tragen, und das liegt daran, daß die Leute mehr Geld zur Verfügung haben und die Bedürfnisse besser befriedigt werden können. Insofern hat sich das, was wir finanzpolitisch wollten, hier wirtschaftspolitisch ausgezahlt. Ich meine, dies sollten wir nicht kleinschreiben, sondern wir sollten auf der Grundlage solcher Erkenntnisse und Entscheidungen auch in Zukunft unsere Politik gestalten.
({3})
Ich möchte noch einmal auf meine kritischen Anmerkungen zu der allgemeinen Prognosewut zurückkommen. Die Institute, die sich bemühen, über Monate hinweg Wachstumsraten mit Zehntelprozenten vorherzusagen, tragen, wie gesagt, nicht dazu bei, sondern sie tragen dazu bei, daß so etwas teilweise in die Nähe einer Lohnleitlinie gerückt wird, und es verführt dazu, zu sehr in pauschalen Perspektiven zu denken.
({4})
- Wenn man beispielsweise sagt, das Wirtschaftswachstum in der Bundesrepublik hat sich um 4,5 % positiv entwickelt, dann heißt das, daß das nicht von Schleswig-Holstein bis Bayern oder von Flensburg bis Berchtesgaden gilt, sondern daß wir hier sehr nach Regionen und Branchen unterscheiden müssen und daß wir Branchen haben, die nach wie vor notleidend sind, obwohl wir andere Branchen haben, die weit über dieses Maß hinaus Wachstum haben. Das verstehe ich darunter. Ich hoffe, daß auch Sie das begreifen.
({5})
- Es mag ja sein, daß Sie das so empfinden, aber ich sehe das jetzt einmal im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Entwicklung.
Herr Kollege Roth, Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, daß sich die Entwicklung in der Bundesrepublik sehr unterschiedlich darstellt. Deswegen müssen wir in unserer wirtschaftspolitischen Diskussion hier sehr differenzieren und uns davor hüten, dies alles nur in Bausch und Bogen zu tun. Die Prognosen, die hier immer wieder verkündet werden, verleiten dazu, alles nur global zu sehen und die notwendigen Differenzierungen dabei außer acht zu lassen, und dadurch werden wir auch dazu verleitet, falsche Instrumente anzuwenden.
Die wirtschaftliche Entwicklung verläuft ungewöhnlich günstig, die Preise bleiben stabil. Es ist schon bemerkenswert, daß eine Preissteigerungsrate von 1,2 % mittlerweile schon als eine sensationelle Meldung verkündet wird. Früher haben wir unter Ihrer Regierungsverantwortung Preissteigerungsraten von 5 und 6 % gehabt. Damit haben Sie sich zufriedengegeben. Wenn wir heute eine Änderung der Steigerungsrate von 0,1 oder 0,2 % haben, dann wird das schon als ein Schlag gegen die Preisstabilität empfunden.
Die Preise sind stabil gewesen, und - das halte ich für viel wichtiger - die Unternehmen weisen auch wieder positive Ergebnisse aus. Auch hier ist das nicht von vorne bis hinten überall gleich, aber die jüngsten Bilanzanalysen der Deutschen Bundesbank stellen fest, daß die langjährige Auszehrung der Eigenkapitalausstattung zum Stillstand gekommen ist, daß die Quote jetzt zum erstenmal wieder pauschal über 19 gestiegen ist und daß die Nettokapitalrendite im Jahre 1986 auf über 10 % angestiegen ist. Das heißt, daß durch diese Entwicklung auch die Zahl der Arbeitsplätze um über 800 000 angestiegen ist.
({6})
Es darf ja nicht übersehen werden, daß wir heute eine erheblich größere Zahl an Arbeitsplätzen haben.
({7})
- Sie können jetzt noch so viel dazwischenschreien - ich weiß, daß Sie das nicht gerne hören - das kann an den Sachverhalten nichts ändern; da mögen Sie sich noch so sehr erregen. Unsere Politik hat die Schaffung von 800 000 neuen Arbeitsplätzen möglich gemacht, auch wenn Sie das nicht gerne haben wollen.
({8})
Meine Damen und Herren, diese Arbeitsplätze sind nicht zuletzt im mittelständischen Bereich entstanden. Weil sich hier besonders der Mittelstand hervorgetan hat, sind wir auch so dankbar, daß in dem jetzt wieder vorgelegten Haushaltsplan für 1989 und die folgenden Jahre das Eigenkapitalhilfeprogramm weitergeführt wird.
({9})
Wir wissen, daß dieses Programm in der Diskussion war, aber wir sind sehr dankbar, daß sich die Koalition mit der Regierung darüber verständigen konnte, daß dieses Eigenkapitalhilfeprogramm, in diesem Jahr wieder mit 144 Millionen DM ausgestattet, weitergeführt wird; denn es hat sich als ein Instrument zur Verselbständigung und zur Sicherung und Schaffung neuer Arbeitsplätze bewährt.
({10})
Durch dieses Eigenkapitalhilfeprogramm sind im Schnitt 40 000 neue Arbeitsplätze geschaffen oder gesichert worden. Ich meine, dies ist ein wichtiges Ergebnis.
Meine Damen und Herren, unser Wohlstand, unsere hohen Leistungsansprüche und unser System der sozialen Sicherheit hängen von der Leistungsfähigkeit und von der Ertragskraft der Wirtschaft ab. Der Sozialstaat lebt von der Leistungskraft und der Leistungsbereitschaft seiner Bürger. Er lebt nicht von der Umverteilungsphantasie der Funktionäre und ihrer Bürokratien. Vor allen Dingen sollten wir uns nicht selbst etwas vormachen wie vorhin Herr Kollege Roth, als er von der Entwicklung der Arbeitszeit sprach und glaubte, daß man damit Probleme am Arbeitsmarkt lösen könne.
Hauser ({11})
Sie haben - ich begrüße das - gesagt, daß wir den Industriestandort Bundesrepublik Deutschland nicht kaputtreden dürfen. Wir dürfen ihn aber auch nicht dadurch kaputtmachen, daß hier Bedingungen am Arbeitsmarkt und in der Wirtschaft Fuß fassen, die dazu führen, daß die Arbeit in der Bundesrepublik immer teurer und immer unbezahlbarer wird. Wenn wir auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig bleiben wollen, müssen wir hier Arbeitsbedingungen haben, die konkurrenzfähig sind, und dies nicht zuletzt auch im Blick auf den sich entwickelnden gemeinsamen Markt.
Es wäre gut, wenn man sich in diesem Zusammenhang einmal über die Konsequenzen dessen, was Sie hier eben vorgetragen haben, vor Ort und nicht nur in irgendwelchen Seminaren und irgendwelchen Lehrbüchern orientierte.
({12})
Was Sie hier vorgetragen haben, ist doch nicht die Wirklichkeit vor Ort. Die Wirklichkeit vor Ort ist, daß heute ein Großteil der Selbständigen, vor allen Dingen der Unternehmer im Mittelstand, 60 und 70 Stunden in der Woche arbeiten muß, um ihren Betrieb zu erhalten, um ihre Arbeitsplätze zu sichern, aber Sie diskutieren hier ernsthaft über die 30-Stunden-Woche. Da faßt man sich doch an den Kopf und fragt sich: In welchem Land leben wir denn hier noch?
({13})
Meine Damen und Herren, die Investitionen sind ein wichtiger Bestandteil der Entwicklung unserer Wirtschaft. Die Investitionen sind ja Gott sei Dank auch in den letzten Monaten sehr stark angewachsen. Insofern können wir uns sehr schnell darauf verständigen, daß man die Erträge in Unternehmen, die für Investitionen verwendet werden, steuerlich anders behandelt, als das bisher der Fall war - eine Forderung, die schon bei den letzten Steuerpaketen von Teilen unserer Fraktion in die Diskussion eingeführt worden ist. Ja, so weit, so gut. Nur will ich Ihnen eines sagen: Was Sie gerade auf dem Münsterer Parteitag mit dieser Überlegung verbunden haben, daß nämlich das Modell aus Schweden für Sie dafür Pate gestanden hätte, ist für uns unakzeptabel; denn wenn wir Investitionen begünstigen wollen, dann nicht, damit der Staat vorschreibt, welche Investitionen der Unternehmer zu finanzieren hat,
({14})
sondern dann wollen wir dem Unternehmer freie Entscheidungsgewalt über das geben, was er braucht und für richtig hält.
({15})
Da lassen wir uns weder vom Staat noch von sonst jemandem hereinreden.
Wenn Sie die Diskussion, die in dem Zusammenhang von Ihrem Herrn Farthmann geführt worden ist, noch im Ohr haben, dann werden Sie sich daran erinnern, daß er gesagt hat, daß die marktgesetzliche Organisation ausgedient habe; sie müsse durch die Verfügungsgewalt eines starken Staates ersetzt werden. Genau das ist nicht der Weg, den wir zu gehen bereit sind. Wir setzen auf die freie Entfaltung der Unternehmerpersönlichkeit und seine Entscheidungskraft und auch die seiner Mitarbeiter. Wir brauchen keine Staatsfunktionäre, die uns sagen, wohin es wirtschaftlich gehen soll.
({16})
- Die können es auch nicht; sie haben ja keine Ahnung.
Lassen Sie mich in dem Zusammenhang eine Bemerkung zu einer Entwicklung machen, die ich für außerordentlich bedeutsam halte und die wir alle jetzt mit zum Teil großem Engagement diskutieren. Das ist die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes ab 1993. Meine Damen und Herren, wir müssen den zunächst einmal blutleeren Begriff „Binnenmarkt" mit Leben erfüllen. Wir müssen deutlich machen, daß ein gemeinsamer Raum mit 320 Millionen Menschen hier in Europa entsteht, und wir müssen auch deutlich machen, wie wir dazu beitragen wollen, den Bedarf dieser 320 Millionen Menschen mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu befriedigen.
Der Binnenmarkt ist eine Herausforderung an die deutsche Wirtschaft, sich in diesem Markt den ihr zukommenden Anteil zu sichern. Es soll eine Aufgabe aller politischen Kräfte unseres Landes sein, den Bürgern, aber auch der Wirtschaft und ihren Verbänden die großen Vorzüge und die unglaublichen Chancen eines solchen riesigen Marktes nachdrücklich ins Bewußtsein zu rufen.
Meine Damen und Herren, wir wissen sehr wohl, daß es dabei auch Risiken gibt. Wir wissen sehr genau, daß es dabei Probleme für die verschiedensten Branchen geben kann. Aber wir lösen diese Probleme nicht dadurch, daß wir sie ständig als eine große Herausforderung vor uns hertragen, sondern wir lösen sie, indem wir gemeinsam mit den Organisationen, mit den Firmen darüber nachdenken, wie wir diese Probleme beheben. Wir räumen die Hindernisse aus dem Weg und sorgen dafür, daß die veränderten Bedingungen und Risiken von unseren Unternehmen in gleicher Weise bewältigt werden müssen.
Diese Möglichkeiten und Chancen werden inzwischen in allen Teilen der Welt analysiert und diskutiert, nicht zuletzt auch in sehr entfernt liegenden, aber wirtschaftlich leistungsfähigen Ländern Südostasiens. Meine Damen und Herren, zum Teil werden dort bereits Vorkehrungen getroffen, an diesem gemeinsamen europäischen Markt teilhaben zu können. So hat man sich auf den jüngsten Treffen der Vertreter der ASEAN-Staaten darauf veständigt, in einer gemeinsamen Kommission die wirtschaftlichen Möglichkeiten dieser Region beim Austausch von Waren und Dienstleistungen mit dem europäischen Binnenmarkt zu prüfen und in konkrete Ergebnisse umzusetzen.
Lassen Sie mich zu Südostasien noch eine Anmerkung machen. Ich habe den Eindruck, daß die Investitionsbereitschaft der deutschen Wirtschaft in diesem Bereich außerordentlich unterentwickelt ist. Natürlich darf nicht außer acht gelassen werden, daß es schwierig ist, in einem solch weit entfernten Bereich Investitionen zu realisieren, wo sich die Japaner schon
Hauser ({17})
vor der Haustür befinden. Aber man darf auch nicht übersehen, daß die deutsche Wirtschaft beispielsweise in dem fünftgrößten Land der Erde, in Indonesien, mit 175 Millionen Menschen im vorigen Jahr nicht eine einzige Mark investiert hat
({18})
und daß die deutsche Wirtschaft in einem Land wie Thailand mit wirtschaftlichen Zuwachsraten von 10 % im vorigen Jahr ganze 50 Millionen DM investiert hat. Die Japaner haben dort das 54fache an Investitionen eingesetzt. Deswegen, meine Damen und Herren, meine ich, ist auch das eine Perspektive, die wir sehen müssen.
Ich möchte sagen, daß wir hier in der Bundesrepublik mit den Wirtschaftsbeziehungen zu den verschiedensten Industrieländern und zu den verschiedensten Regionen gerade auch im pazifischen Raum unseren Beitrag für einen offenen Welthandel leisten müssen. Deswegen ist es richtig, daß die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage festgestellt hat:
Die Wirtschaftsbeziehungen zu den Industrieländern der Region
- hier ist wieder Ostasien gemeint sind nach Meinung der Bundesregierung noch entwicklungsfähig. Um an dem wachsenden Handel in und mit der pazifischen Region teilhaben zu können, bedarf die deutsche Wirtschaft der Unterstützung durch die deutsche Außenwirtschaftspolitik.
Genau das ist der Punkt, um den es hier geht. Deswegen müssen wir auch dieser Frage unsere besondere Aufmerksamkeit widmen.
({19})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion teilt die Auffassung der Bundesregierung, daß stetiges Wachstum, Stabilität des Geldwertes und die Schaffung neuer Arbeitsplätze neben der Sicherung der bestehenden herausragende Ergebnisse unseres wirtschaftspolitischen Kurses sind. Dabei mag es in Einzelfragen unterschiedliche Sichtweisen geben, die jedoch nichts an dieser gemeinsamen Zielsetzung ändern. Dies gilt, wenn ich es hier anfügen darf, auch für den bevorstehenden Novellierungsentwurf zum Kartellrecht. Wir sind dankbar, daß die Bundesregierung damit Konsequenzen aus dem immer schwieriger werdenden Wettbewerbsdruck, aus der schädlichen Konzentrationsentwicklung in der deutschen Wirtschaft zieht. Ich meine, es ist notwendig, daß wir hier einen Weg finden, der diese negativen Entwicklungen ausschließt.
({20})
Herr Kollege Roth, Sie haben vorhin von der Notwendigkeit der qualifizierten Ausbildung gesprochen. Ich möchte hier aus ganz aktuellem Anlaß noch eine Bemerkung dazu machen. Ein wesentlicher Teil der Qualität unserer Berufsausbildung ist die handwerkliche Berufsausbildung. Die handwerkliche Berufsausbildung, die auf dem Großen Befähigungsnachweis und dem dualen System sowie auch auf der Grundlage einer bewährten Organisation beruht.
Meine Damen und Herren, ich habe wenig Verständnis dafür, wenn der Große Befähigungsnachweis und die Fragen, die mit der handwerklichen Beruf sausbildung in Verbindung stehen, völlig überflüssigerweise zur Disposition gestellt werden.
({21})
Ich bin dankbar, daß der Bundeskanzler und der Bundeswirtschaftsminister in der vorigen Woche Klarheit geschaffen haben, daß diese Organisationen und diese Basis für sie nicht zur Disposition stehen.
({22})
Deswegen werden wir auch in Zukunft unseren Anteil zur Qualifizierung unserer Mitarbeiter und der Qualität der Fachkräfte in der Bundesrepublik leisten.
({23})
Lassen Sie mich mit folgender Bemerkung schließen. Bei allen Sorgen, die wir haben, wäre etwas mehr Optimismus angebracht. Das Horrorbild über die Zustände in Staat und Gesellschaft, das die Opposition in den letzten Tagen hier zu entwerfen versucht, nimmt Ihnen ja ernsthaft niemand ab. Es kommt darauf an, in welcher Grundhaltung wir alle an die Behandlung und Lösung der anstehenden Probleme herangehen. Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion nehme ich gerne ein Zitat von Ludwig Erhard in Anspruch, der gesagt hat:
Für den Ablauf der Wirtschaft ist es von entscheidender Bedeutung, wie wir uns selbst verhalten, wie wir handeln, ob wir optimistisch oder pessimistisch sind, ob wir à la Hausse oder à la Baisse spekulieren, ob wir sparen oder verbrauchen, alles schlägt sich in wirtschaftlichen Daten nieder. Die Wirtschaft hat nicht ein Eigenleben im Sinne eines seelenlosen Automatismus, sondern sie wird von Menschen getragen und von Menschen geformt.
Wir wollen den Menschen helfen, die Probleme zu lösen, und wir wollen dazu beitragen, daß unsere Wirtschaft auch in Zukunft die positive Entwicklung nimmt, die sie seit der Verantwortung dieser Bundesregierung in der Bundesrepublik Deutschland, seit sechs Jahren, genommen hat.
({24})
Das Wort hat der Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in der Debatte die wirtschaftliche Lage mehr oder weniger rosig gezeichnet. Während ihrer Regierungszeit wird wieder in die Hände gespuckt und das Bruttosozialprodukt gesteigert. Die Expansion hält überraschenderweise auch 1988 an. Ökonomische Erfolgsdaten erscheinen im „Handelsblatt", Berichte über ökologische Zerstörungen erscheinen arbeitsteilig in den Zeitschriften „Natur" und „Ökotest" . Die medienpolitische Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Ökologie wird allenfalls durchbrochen, wenn der ökonomische
Schaden zurechenbar wird - z. B. bei den Kälbermästern - oder wenn die Fremdenverkehrsindustrie an der Nordseeküste den Rückgang der Besucherzahlen auf die verdreckten Flüsse aus dem Hinterland, auch aus Bayern, Baden-Württemberg oder der DDR, zurückführt. Das Robbensterben geht an die sichtbare Substanz des Lebens. Chemieindustrie, Landwirtschaft, Kläranlagen, Autos werden als Verursacher der Luft-, Boden- und Wasserverseuchung identifiziert. Der Schadstoff der Woche heißt einmal PER, einmal Hormone - beim Kälbermastskandal - , einmal Asbest, einmal Formaldehyd, einmal NOX - wegen der Autos - , einmal SO2 - wegen der Kohle und des Heizöls -,
({0}): Sie sehen aber
noch ganz gesund aus!)
einmal FCKW, und einmal geht es um die radioaktive Verseuchung von Tee, Pilzen und Wild. Die Verbraucher/innen registrieren und verdrängen. Die Industrie kennt den Verdrängungszyklus von negativen Nachrichten und setzt auf Imagewerbung.
Die Wirtschaftspolitiker der Regierung frohlocken über das gestiegene Bruttosozialprodukt. Die zerstörerischen Kräfte des wirtschaftlichen Entwicklungstrends werden zwar langsam allgemeines Gedankengut; eine politische Herausforderung ist es jedoch, zu versuchen, den Zerstörungsprozeß in Form von ökologischen und sozialen Folgekosten mittels der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zu quantifizieren.
Diese Bundesregierung sieht bislang nicht die Notwendigkeit, die sich rasant vollziehende Zerstörung unserer Lebensgrundlagen jährlich in einem Bericht zu erfassen bzw. zu schätzen. Wir GRÜNEN fordern einen solchen Bericht. Dann würde beispielsweise herauskommen: Wenn die Regierung 3 % Wachstum des Bruttosozialprodukts bejubelt, heißt das zugleich 6 % Zunahme der ökologischen und sozialen Folgekosten. Schon heute betragen diese ökologischen und sozialen Folgekosten mindestens 200 Milliarden DM oder 10 % des jährlichen Bruttosozialprodukts dieser Volkswirtschaft.
Ökonomische Erfolgsdaten erweisen sich, wenn der stoffliche Prozeß der Güterproduktion und der Güterentsorgung betrachtet wird, als ökologische Katastrophendaten. Allein die Tatsache, daß ein Alltagsgebrauchsgegenstand wie ein Kühlschrank FCKW enthält, das auf dem Schrottplatz entweicht und erheblich zur Zerstörung des Ozons in unserer Luft beiträgt, zeigt exemplarisch, daß unsere Konsumwelt keine ökologische Produktfolgenbewertung kennt. Die Industrie setzt weiter auf moderne Werkstoffe. Kunststoffe ersetzen Metall. Die Chemieindustrie verdrängt die Stahlindustrie. Das Problem des Recyclings heterogener Kunststoffe aus dem Massenprodukt Auto ist ungelöst. Produziert wird auch ohne Entsorgungskonzept. Giftmüll wird über die Weltmeere in die Dritte Welt versandt, steigende Sondermüllkapazitäten werden der Politik aufgedrückt - ohne Lösungsstrategie.
Ökologische Verantwortung kennt der Produzent nicht. Ökonomischer Gewinn des Betriebs erhöht das Einkommen der Manager; volkswirtschaftliche Folgekosten werden auf die Steuerzahler abgeladen. Ökologische Systeme wie ein Fluß oder ein Meer - die Nordsee oder die Ostsee oder das Mittelmeer - werden unaufhaltsam weiter zerstört. Pestizide, Insektizide, Fungizide und Nitrate finden sich im Grundwasser, dann in unserem Trinkwasser wieder. Vielfältige Allergien belästigen vermehrt die Menschen. Synergetische Prozesse von vielen unterschiedlichen chemischen, mit toxischen Wirkungen durchsetzten Stoffen durchlaufen die Nahrungsmittelkette. Der Mensch erlebt ohnmächtig sein Krankwerden.
Die Ursachen bleiben unerklärlich, da synergetische Wirkungen nicht mehr auflösbar sind. Ökonomische Einzelinteressen haben ökologische Kreisläufe zerstört. Die Ökonomie ist dem Fehler verfallen, die Natur, die Luft und das Wasser zum Gratisgut zu erklären. Kapitalkosten und steigende Arbeitskosten werden gegeißelt. Naturkosten kommen in solch einem Bild der Ökonomie überhaupt nicht vor.
Wir sind der Auffassung, daß jeder Produktion eine Produktlinienanalyse und eine Produktfolgenabschätzung gesellschaftspolitisch vorausgehen müssen, bevor ein Produktionsprozeß in Gang gesetzt wird und das Produkt auf den Markt geworfen wird.
({1})
Das heißt, wir müssen uns ein klares Bild über die Rückholbarkeit und die Fehlerfreundlichkeit eines Produktes machen. Es wird dann außerdem klar, daß Atomtechnologie und Gentechnologie zu Götzen des Fortschritts erklärt werden, aber der allgemeine Untergang, der in solchen Technologien steckt, mehr oder weniger nicht mehr wahrgenommen wird.
Industrielle Weltmarktkonkurrenz diktiert Forschung und Entwicklungsförderung auch dieses Wirtschaftsministers. Regenerative Energiesysteme, wie z. B. Sonnenkollektoren, haben so lange keine Marktchance, wie fossile Energiesysteme zu Spottpreisen betrieben werden können und die Atomtechnologie weiter subventioniert wird.
Die Primärenergiepreise geben überhaupt kein Signal für die absolute Endlichkeit dieser Primärenergien. Allein eine Primärenergiesteuer, die die betriebswirtschaftliche Rentabilität von regenerativen Energieanlagen anstrebt und herbeiführt, kann rechtzeitig den Prozeß der Ersetzung von fossilen durch regenerative Energiesysteme herbeiführen. Die Primärenergiesteuereinnahmen sind zweckgebunden für Energiesparinvestitionen und Markteinführungssubventionen, z. B. für die Solarenergie, zu verwenden.
Die Bundesregierung hat Energiesparpolitik in der Zwischenzeit zum Fremdwort erklärt. Im Wirtschaftsetat des Herrn Bangemann werden die Subventionen für Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen und Fernwärmesysteme weiter gekürzt, und das Programm läuft aus.
Demgegenüber kennt diese Bundesregierung überhaupt kein Maß bei folgendem: Kein Ende der Erhöhung der Airbussubventionen. Der Wirtschaftsetat wächst um 20 %. Allein die Förderung der Luftfahrttechnik steigt um 417 Millionen DM auf insgesamt 1 357 Millionen DM. Angebliche Neoliberale treiben harte Industriepolitik im Weltmaßstab. Allein 1988
summieren sich die Airbussubventionen auf 46 000 DM je Arbeitsplatz. Damit könnte man andere Arbeitsplätze schaffen, um den industriellen Umbau zu beschleunigen.
Der Staat betreibt unter der Regie eines CSU-Staatssekretärs, des Herrn Riedl,
({2})
den Raub aus der Staatskasse zugunsten eines finanzkräftigen Multis. Die Fusion von Daimler-Benz und MBB schmiedet einen High-tech-Multi, der überproportional von Staatsaufträgen leben will und der sich außerdem das Weltmarktrisiko im Flugzeugverkauf sozialisieren läßt. Neoliberaler Sozialismus wird dem staunenden Publikum vorgeführt. Das Kartellgesetz untersagt voraussichtlich den Zusammenschluß; aber was ein echter neoliberaler Kommissar ist, der setzt natürlich Marktgesetze außer Kraft.
Wir lehnen solche Subventionen für den Airbus entschieden ab. Die Fusion von Daimler-Benz und MBB muß untersagt bleiben. Einen militärisch-industriellen Komplex, wie ihn Daimler-Benz unter Einbeziehung von MBB, Dornier, MTU und AEG bilden wird, erinnert an den Anteil an zerstörerischer Geschichte von Rüstungskonzernen wie Krupp Stahl oder IG Farben.
({3})
Wenn sich die Politik einen Funken Achtung vor der Wirtschaftsmacht bewahrt hätte, würde sie nicht selber den Multi herbeiführen. Die bundesrepublikanische Wirtschaftspolitik kennt nur den Expansionskurs und die Weltmarktkonkurrenz als Antriebsmotive. Der Bezug der Wirtschaftspolitik auf lokale, regionale und binnenmarktorientierte Entwicklungsstrategien ist im Hause Bangemann unbekannt.
({4})
Eine Wirtschaftspolitik im ökologischen Interesse der hier lebenden und arbeitenden Bevölkerung, eine Politik, wie sie bisher ausschließlich von den GRÜNEN in ihrem Programm zum Umbau der Industriegesellschaft gefordert wird, solch eine Politik setzt auf selektives Wachstum und selektives Schrumpfen von Wirtschaftsbereichen, von einzelnen Branchen im ökologisch-parteilichen Interesse der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen, eine Strategie, die einen Redner vom Schlage des Herrn Bangemann natürlich erschaudern läßt; denn solch eine Politik wie die, die Herr Bangemann vertritt, setzt auf Airbus, ISDN-Netz, bemannte und unbemannte Raumfahrt oder auf Gentechnologie.
Wir GRÜNEN setzen auf eine andere Wirtschaftspolitik. Wir setzen auf Primärenergiesparen, Energiesparinvestitionen, öffentlichen Personennahverkehr statt Straße, ökologischen Landbau, artgerechte Tierhaltung statt chemische Verseuchung unserer Lebensgrundlagen.
({5})
Solch eine ökologisch ausgerichtete Strukturpolitik kann jedoch leider nur einen begrenzten Beitrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit leisten.
Von daher ist es klar, daß wir weiter auf eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit pro Woche setzen müssen. Das heißt, vorrangig muß die Erwerbsarbeitszeitverkürzung Gegenstand der Tarifpolitik bleiben. Es muß dabei erreicht werden, daß die Erwerbstätigkeit und die Einkommen auf alle Menschen so verteilt werden, daß alle ein zufriedenes Leben führen können.
Das heißt mit anderen Worten: Es muß vermieden werden, daß Maschinen länger laufen und dagegen Erwerbsarbeitszeitverkürzung erkauft wird - dies an die Adresse der SPD gesagt -;
({6})
denn wer Expansionsprozesse beschleunigen will, der setzt auf verlängerte Maschinenlaufzeiten. Diese schaffen Absatzprobleme, diese schaffen Ökologieprobleme, und sie schaffen kein besseres Leben für uns.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich bitte die beiden Beamten, mir diese Bemerkung nicht übelzunehmen: Aber ein Blick auf die leere Bundesratsbank bietet ja doch ein seltenes Bild bei einer Haushaltsdebatte. Weswegen fehlen denn diesmal die SPD-geführten Landesregierungen?
({0})
Keine Landtagswahl in Sicht? Ermattung nach Münster? Stellen Sie sich einmal vor, Herr Vogel, Oskar Lafontaine und Johannes Rau wären heute hier. Wäre das nicht ein schönes Bild sozialdemokratischer Eintracht?
({1})
Aber, meine Damen und Herren, nehmen wir doch die wohlwollende Erklärung: Es ist keine Landtagswahl in Sicht. Das gibt ja auch uns, den Liberalen, das gibt auch mir als ihrem heutigen Sprecher ein wenig Abstand und Gelassenheit.
({2})
Ich mache dem SPD-Parteitag von Münster ein Kompliment: Langweilig war er nicht.
({3})
Sie wollen doch keine eingeschlafenen Füße, hat Herr Vogel gesagt. Richtig! Aber aufgeweckte Füße und immer noch eingeschlafene Köpfe, das, meine Damen und Herren, führt eben zum Verlauf einer Diskussion, in der man keinen Faden mehr erkennen kann, nicht einmal einen roten.
({4})
Rappe gegen Hauff, Spöri gegen die eigenen Steuerpolitiker, Glotz gegen den DGB.
({5})
- Das ist eine völlig ordnungsgemäße und klare Auseinandersetzung und Wahlsituation. Das wissen Sie ja auch, Herr Vogel.
Steinkühler gegen Lafontaine.
({6})
Apel dankt ab, Dreßler gegen die Hobbypolitiker und Oskar gegen alle. Meine Damen und Herren, das ist nicht Eintracht in Vielfalt, das ist Zwietracht in Einfalt.
({7})
Vor sechs Jahren, meine Damen und Herren, hat die SPD ihre wirtschaftspolitische Kompetenz verloren, genauer gesagt: Verloren hatte sie sie schon früher, aber der Wähler hat es Ihnen bestätigt.
({8})
Jetzt beschließen Sie einen Leitantrag nach dem Motto: Wer vielen gibt, wird jedem etwas geben. Für 1989, Herr Roth, kündigen Sie ein wirtschaftspolitisches Grundsatzprogramm an. Sieben Jahre nach dem Verlust der Regierungsverantwortung wollen Sie endlich die Frage nach Ihrer wirtschaftspolitischen Kompetenz beantworten. Nach heutigem Erkenntnisstand läßt sich sagen: Der SPD fehlt es immer noch an Mut und Konsequenz in der Wirtschaftspolitik, nicht anders als in der Finanzpolitik. Von einem eindeutigen Bekenntnis zum Markt ist sie noch meilenweit entfernt. Mehr Ausgaben, mehr Schulden, mehr Steuern sind immer noch die Stichworte.
({9})
Wo ist die klare Absage an die Ergänzungsabgabe, an Energiesteuern, an staatliche Konjunktur- und Beschäftigungsprogramme?
Herr Sellin von den GRÜNEN schlägt uns heute die Primärenergieabgabe vor. Wollen Sie das in der Bundesrepublik Deutschland alleine besorgen, und haben Sie sich überlegt, was das für Auswirkungen auf Wettbewerbsfähigkeit und Arbeitsmarkt hat?
({10})
Wollte man das weltweit tun, dann könnte man durchaus darüber diskutieren,
({11})
ob auf diese Weise eine Preislenkungsfunktion der Primärenergiepreise, die es kaum gibt, hergestellt werden kann.
({12})
Aber alleine? Auf einer Insel doch wohl nicht.
Die Sozialdemokratische Partei ist immer noch dem staatlichen Interventionismus verhaftet, und statt Wettbewerb setzt sie auf staatliche Umverteilung. Unserem Leitbild, persönliche Leistung wieder zu honorieren, wird weiter Gleichmacherei entgegengesetzt. Und da bleibt der Markt dann wirklich nur noch als bloße Schönwetterveranstaltung übrig. Retter in der Not soll allein der Staat sein, obwohl sich doch die
Untauglichkeit dieses Rezepts in vielen praktischen Fällen immer wieder erwiesen hat.
Sie wissen, Herr Roth - und Ihre Kollegen wissen es auch - , daß diese Ansätze verfehlt sind. Sie sind doch fast die letzten in der Welt, die an solchen Positionen festhalten. Martin Bangemann hat gestern zu Recht auf den weltweiten Wandel der Wirtschaftspolitik sozialdemokratischer und sozialistischer Parteien verwiesen. Das geht ja noch einen Schritt weiter, als er es gestern dargestellt hat. In der UdSSR, in Ungarn, in anderen Ländern des Ostblocks setzt man zwar nicht auf Marktwirtschaft - das verbietet die Ideologie -, wohl aber auf möglichst alle Instrumente einer marktwirtschaftlichen Ordnung, nicht zuletzt auf Wettbewerb, freie Preise, ja in beschränktem Umfang sogar auf privates Eigentum. Es kann überhaupt keinen Zweifel mehr geben: Der Sozialismus hat in der Wirtschaftspolitik abgewirtschaftet.
({13})
Die Ungarn haben die unnachahmliche Gabe so etwas witzig auf den Punkt zu bringen: Karl Marx erscheint wieder auf der Erde, bittet um einen Termin für ein Statement im ungarischen Fernsehen und erklärt: Proletarier aller Länder, verzeiht mir.
({14})
Der saarländische Ministerpräsident hat ein Verdienst: Er hat das Dogma von SPD und DGB in Frage gestellt, wonach Tarifverträge, Tarifabschlüsse mit dem Beschäftigungsstand nichts zu tun haben. Sie haben dieses Dogma über die Jahre hinweg wie eine Monstranz vor sich her getragen, weil ihnen das ermöglichte, die Folgen verfehlter Tarifpolitik nicht sich selbst, nicht den verantwortlichen Tarifvertragsparteien, sondern der Regierung zuzuschieben. Die Tarifpartner sind verantwortlich für die Folgen der Sockellohnerhöhung, die in unserer Arbeitsmarktstatistik abgelesen werden kann, und nicht die Bundesregierung.
({15})
Seit Jahren sagt die FDP, daß die weitere Verkürzung der Arbeitszeit schnurstracks zur 6-Tage-Woche führen wird. Haben Sie es jetzt auch begriffen? Bei Herrn Roth war das heute herauszuhören. Was haben Sie vor wenigen Jahren noch gesagt, Herr Roth, als wir dieses Thema zur Diskussion gestellt haben? Aber hören Sie bitte genau hin - bei Ihnen habe ich zugehört und fand es gut - : Ich spreche nicht wie Oskar Lafontaine Schlichtweg von Wochenendarbeit. Wir werden um restriktiv gehandhabte Sonntagsarbeitszeit, z. B. in der Textilindustrie, nicht herumkommen. Aber der Sonntag darf nicht zum gewöhnlichen Werktag werden.
({16})
Hier hat Johannes Rau recht und nicht Oskar Lafontaine.
Ihre Politik, meine Damen und Herren von der sozialdemokratischen Opposition, hat der Kollege Peter Glotz in einen Satz gefaßt. Ich finde übrigens, daß er
ein schlimmes Opfer dieser Quotenpolitik ist. Wer will bei Ihnen eigentlich noch Medienpolitik machen und verantwortlich formulieren? Die bayerischen Delegierten sind klüger als die auf dem SPD-Parteitag, wenn Sie sich sein gestriges Wahlergebnis ansehen.
({17})
Ihre Politik hat Peter Glotz in einen Satz gefaßt: „Was geht, ist nicht sozialdemokratisch, und was sozialdemokratisch ist, geht nicht."
({18})
Meine Damen und Herren, Ihrer verworrenen Diskussion setzt die Koalition positive wirtschaftspolitische Resultate entgegen. Diese wirtschaftspolitischen Resultate sind zu einem guten Teil, Herr Roth, auf die Arbeit des Kollegen Bangemann zurückzuführen.
({19})
Er hat gestern keine Abschiedsrede gehalten. Aber wenn Sie das benutzen, um Ihrerseits eine Abschiedserklärung unfreundlicher Art - ich komme aber auch noch auf den freundlichen Teil zu sprechen - zum besten zu geben, dann will ich heute hier auch sagen, daß wir Martin Bangemann dankbar sind für die Arbeit, die er in diesen Jahren in der Bundesrepublik geleistet hat.
({20})
daß er die Wirtschaftspolitik dieses Landes in einer schwierigen Phase gestalten mußte, daß sein unverwüstlicher Optimismus, den manche von uns für übertrieben gehalten haben, recht behalten hat, wenn wir uns heute die Entwicklung ansehen,
({21})
daß er sich in den schwierigen Fragen von Kohle und Stahl alle Mühe gegeben hat, zu einer Lösung der Probleme beizutragen. Er weiß genau wie jeder andere, der ein solches Amt verläßt, daß man nicht nur auf besonnte Vergangenheit zurücksieht, und auf das, was man da alles angerichtet oder nicht angerichtet hat. Es gibt keinen, der da herausgeht und sagt: Ich war der ideale Mann, ich habe alles vollständig richtig gemacht.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Kollege Roth!
Graf Lambsdorff, ich habe hier ein Papier vom 9. September 1982 - ich brauche das für meine Frage - , über dem steht: Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Gutes Papier! Gut, daß Sie es immer noch lesen.
Meine Frage ist: Wie können Sie diese Rechtfertigung der Politik von Herrn Bangemann kundtun, wenn hier auf Seite 9 geschrieben wird - wörtliches Zitat von Otto Graf Lambsdorff - :
Wichtig aber ist, daß die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als die
- gesperrt gedruckt politische Aufgabe Nummer 1 in den nächsten Jahren allgemein anerkannt wird und daß daraus die notwendigen Schlußfolgerungen gezogen werden?
Gibt es mehr oder gleichviel Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Jahre 1984, als der Minister antrat?
Herr Roth, ich komme selbstverständlich auf das Problem Arbeitslosigkeit zu sprechen. Ich will Ihnen nicht zumuten, hier jetzt eine lange Antwort dazu anzuhören; darauf komme ich später. Aber auch das gehört natürlich zu den Teilen
- das gilt für Martin Bangemann wie für alle, die wir hier auf der Seite der Koalition sitzen - , mit deren Ergebnissen wir nicht zufrieden sind. Wer bestreitet das denn? Hat denn irgend jemand gesagt, er fände es gut, daß wir zwei Millionen Arbeitslose haben?
({0})
- Ja, darauf komme ich gleich zu sprechen, mein Herr.
Was sich Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann vorgenommen hat, in ganz entscheidender Weise gestaltet hat - was natürlich zu Hause nicht viel bringt, das bringt keine Wählerstimmen, das bringt keine Delegiertenstimmen, und Lob im Bundestag bringt es auch nicht - , ist die außenwirtschaftliche Sicherung der Position der Bundesrepublik Deutschland, ist sein entscheidender Beitrag zum Zustandekommen der Uruguay-Runde und zur Weiterarbeit am GATT. Übersehen Sie das nicht.
({1})
Sie haben gerechterweise seine Tätigkeit im Europäischen Parlament gelobt. Ich freue mich darüber, Herr Roth; das hebt sich angenehm von dem ab, was Herr Vogel hier zum besten gegeben hat, als die Bundesregierung den Bundeswirtschaftsminister Martin Bangemann zum Mitglied der Kommission vorgeschlagen hat.
Im übrigen will ich meinem Freund Bangemann sagen: Seien Sie ganz beruhigt. Wenn Sie ein paar Monate weg sind, wir wollen einmal sagen: ein halbes Jahr, werden Sie im Blick der Opposition ein fabelhafter Wirtschaftsminister gewesen sein. Das ist immer so.
Meine Damen und Herren, ich sagte, wir setzen Ihren verworrenen Diskussionen positive wirtschaftspolitische Resultate entgegen. Ich frage unsere Kritiker:
Stimmt es, daß wir nach der Rezession der Jahre 1981/82 jetzt ununterbrochenes wirtschaftliches Wachstum haben?
Stimmt es, daß wir nach Preissteigerungsraten von fast 7 % im Jahre 1981 jetzt seit Jahren Preisstabilität haben?
Stimmt es, daß die Deutsche Bundesbank die Stabilität der Deutschen Mark erfolgreich sichert und sich durch ungerechtfertigte SPD-Kritik nicht hat beirren lassen?
Stimmt es, daß der deutsche Export seine Weltstellung nicht nur halten, sondern ausbauen konnte?
Stimmt es, daß die Steuerreform den mittleren Einkommensbereich - Stichwort: Beseitigung des Mittelstandsbauchs - um 25 Milliarden DM entlasten wird?
Stimmt es, daß die Steuersenkungen zu Beginn dieses Jahres den überraschend guten Konjunkturverlauf 1988 stimuliert haben und ihn stützen?
Stimmt es schließlich, daß in den letzten Jahren 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden sind?
- Ja, meine Damen und Herren, das alles stimmt.
({2})
Ich füge hinzu: Es stimmt aber auch, daß im Bereich der Umweltpolitik und des Umweltschutzes noch ungeheur viel zu tun ist. Ich füge aber gleichzeitig hinzu, daß im Vergleich mit fast allen Nachbarländern in Europa und darüber hinaus die Bundesrepublik Deutschland sich mit ihren umweltpolitischen Fortschritten und Verbesserungen durchaus sehen lassen kann, unbeschadet der Tatsache, daß noch längst kein befriedigender Zustand erreicht ist.
({3})
Wenn Sie, Herr Sellin, hier sagen, ökonomische Erfolgsdaten sind ökologische Katastrophendaten, dann gehen Sie einmal in die Länder, die keine ökonomischen Erfolgsdaten haben, und sehen Sie sich einmal an, wie dort überhaupt kein Umweltschutz betrieben wird und betrieben werden kann.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Ja.
Bitte sehr.
Herr Lambsdorff, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß deutsche Unternehmen vermehrt Exportinvestitionen vornehmen, in der Dritten Welt Industrieansiedlung betreiben, ohne den Umweltstandard einzuhalten, den sie hier, zumindest nach der gesetzlichen Vorgabe, einhalten müßten Dr. Graf Lambsdorff ({0}): Hier, bei uns?
- ja - , dort aber nicht einzuhalten brauchen, weil es solche Gesetze dort nicht gibt, und es hier bei uns häufig natürlich auch nicht tun?
Auch dort werden Sie im internationalen Vergleich feststellen - nicht in allen Fällen - , daß sich ein Großteil der deutschen Unternehmen, die im Ausland investieren, an Umweltschutzüberlegungen und an Umweltschutzvorkehrungen halten, die den dortigen Standard weit übertreffen.
({0}) Aber allein der weiße Rabe in einem fernen Land zu sein, in dem sich kein anderer daran hält, und sich im Straßenverkehr auf der Wüstenpiste der Sahara so zu verhalten wie auf dem Marktplatz in Bonn, das können Sie von keinem vernünftigen Menschen erwarten, und das tut auch niemand.
({1})
Es stimmt aber auch, meine Damen und Herren, daß wir immer noch zu viele Arbeitslose haben. Die FDP sagt noch einmal - und hier, Herr Roth, beginnt doch die Diskussion zwischen uns; sie beginnt doch nicht bei der Frage, ob wir die Arbeitslosen haben wollen oder nicht - Ohne differenzierte, flexible Tarifverträge, ohne Steuersenkung, Deregulierung und Begrenzung von Lohnzusatzkosten ist dem nicht beizukommen. Von Ihnen höre ich heute ein lobendes Wort - Herr Roth, erinnern Sie sich einmal, was Sie viele Jahre lang gesagt haben - zur Angebotspolitik. Ich dachte, ich höre nicht recht. Die Angebotspolitik haben Sie gelobt. Ich weiß ja, daß Sie schon seit langem nicht mehr über die Wirtschaftspolitik des Herrn Reagan und der Frau Thatcher herziehen. Warum wohl? Weil die Arbeitslosigkeit dort in einer Weise zurückgeht, wie ich es gerne auch bei uns sähe. Das bestätigt meine alte Position: Mehr Angebotspolitik in der Bundesrepublik Deutschland hätte uns bei diesem Thema weitergeholfen.
({2})
Wir müssen aufhören, meine Damen und Herren, darüber am Sonntag als das Problem Nummer 1 zu sprechen und von montags bis freitags alles zu tun, was zur Lösung dieses Problems nichts beiträgt. Da setzen wir dann nämlich andere Prioritäten. Wir müssen aufhören, daß Tarifparteien und Politik die Arbeitsplatzbesitzer fördern, die Arbeitslosen aber benachteiligen.
({3})
Die FDP unterstützt ausdrücklich den Hinweis des Bundeskanzlers, daß die Zumutbarkeitsregelungen im Arbeitsförderungsgesetz überprüft und verschärft werden müssen. Der ständige und nachweisbare Mißbrauch - das Beispiel aus dem Kultusministerium des Landes Nordrhein-Westfalen, das hier gestern vorgetragen worden ist, stinkt - auf deutsch gesagt - zum Himmel; ich wollte eigentlich sagen: spricht Bände, aber diese Formulierung wäre zu schwach - ist ein Ärgernis für alle Mitbürger, die ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung bezahlen. Es ist erst recht ein Ärgernis für die Arbeitslosen, die arbeiten wollen und keinen Arbeitsplatz bekommen können.
({4})
Eine solche Politik ist ohne unpopuläre Vorschläge nicht möglich. Ich habe einen Vorschlag zum Stichwort Kündigungsschutz für Behinderte gemacht. Sie haben das Echo gehört: lautstarke Kritik. Hat sich, meine Damen und Herren, eigentlich einer der vorschnellen Kritiker die Frage gestellt, warum ausgerechnet ich Behinderte benachteiligen sollte? Soweit ich sehen kann - erlauben Sie mir diese persönliche Bemerkung - , ist mein eigener Behinderungsgrad höher als der aller meiner Kritiker. Es geht mir nur darum, die Frist für Probearbeitsverträge zu verlänDr. Graf Lambsdorff
gern, damit ein Arbeitgeber und ein Behinderter es gründlicher miteinander versuchen können. Heute scheitert das daran, daß der qualifizierte Kündigungsschutz zu schnell eintritt. Das ist ein Einstellungshindernis, das will ich beseitigt sehen. Ist das Arbeitsmarktpolitik zu Lasten Behinderter?
In einem Brief, den ich jetzt erhalten habe, heißt es wörtlich:
Mit großem Interesse habe ich Ihre Aussagen über den besonderen Kündigungsschutz für Behinderte vernommen. Daß Sie damit keine Lobeshymnen der Behindertenfunktionäre und der scheinbar wohlmeinenden Öffentlichkeit geerntet haben, wundert mich nicht.
Ich bin selbst seit dem 22. Lebensjahr erblindet und weiß, wie hinderlich dieser Behindertenschutz oder das, was man dafür hält, ist.
Für eine solche Zustimmung von den Betroffenen selbst, meine Damen und Herren, nehme ich die Kritik einiger nichtbetroffener Verbandsfunktionäre gerne in Kauf.
Meine Damen und Herren, der Bundeshaushalt 1988 beschert uns ein höheres Defizit als erwartet; der Bundesfinanzminister hat die Gründe dafür genannt. All diese Ausgaben sind unabweisbar. Das gilt in besonderem Maße für die Aufnahme der Deutschen - nicht der Deutschstämmigen, Herr Vogel; wenn ich Sie übrigens so sehe und mich daran erinnere, wie Sie gestern von Kabinettsberatungen sprachen, dann machen Sie mit Ihrer Parteivorstandssitzung dahinten ruhig weiter -,
({5})
die jetzt zu uns kommen. - Die FDP steht voll zu dieser Verpflichtung. Sie erwartet, daß den Menschen sinnvoll und zielgerichtet geholfen wird. Ich will ein Beispiel nennen: Es darf keine Aussiedlerstädte geben, in denen Arbeitsplätze nicht zu erwarten sind, so daß unsere Landsleute einem Leben ohne Zukunft entgegensehen. Es wäre uns lieber gewesen, die Bundesregierung hätte sich stärker der Mittel besonnen, mit denen Ludwig Erhard in der Nachkriegszeit eine für die Menschen sinnvolle Ressourcenlenkung erreicht hat. Steuerliche Mittel wirken schneller und führen an die richtigen Stellen, wo diese Wohnungen gebaut werden müssen, wo sie auf Dauer vermietet werden können und wo es dann auch Arbeitsplätze gibt.
({6})
Die Mehrausgaben des Jahres 1988 sind aber nicht nur schicksalhaft über uns gekommen. Seit 1986 steigt die Neuverschuldung in Bund, Ländern und Gemeinden kräftig. Mit Recht nennt die Gemeinschaft zum Schutze der deutschen Sparer den Grund: Es ist uns nicht gelungen, die Ausgabendisziplin durchzuhalten, die von 1982 bis 1985 den staatlichen Kreditbedarf Jahr für Jahr sinken ließ und die Staatsquote allmählich zurückführte.
Die FDP unterstützt den Bundesfinanzminister bei seiner Absicht, die Konsolidierungszügel wieder stärker anzuziehen.
({7})
Die Sanierung der Staatsfinanzen kann nur dann vollständig gelingen, wenn Ausgabendisziplin über einen sehr viel längeren Zeitraum durchgehalten wird.
Die Koalitionsfraktionen haben die Verbrauchsteuererhöhungen trotz aller berechtigten Bedenken letztlich aus finanzplitischen Gründen mitgetragen. Für die FDP-Fraktion ist aber Bedingung, daß die Koalition bis zum Wahltermin ihr Ausgabeverhalten an den wirtschafts- und finanzpolitischen Erfordernissen und Möglichkeiten ausrichtet. Dazu gehört, daß überplanmäßige Mehreinnahmen für die Rückführung der Nettoneuverschuldung oder die Rückführung der Belastung mit Abgaben und Steuern verwendet werden müssen.
Herr Kollege Hauser, ich will gern mit Ihnen noch einmal über das Thema Steuerbegünstigung des für Investitionen verwendeten Gewinns sprechen, auch unter den Stichworten Gewinnverwendungsfreiheit und Fehllenkung von Kapital. So einfach, wie es hier dargestellt worden ist, ist das nämlich steuersystematisch und ökonomisch nicht.
Neue Leistungsgesetze und weitere Erhöhungen der Abgabenlasten sind nicht am Platze. Sie verhindern neue und vernichten bestehende Arbeitsplätze.
Das Verbrauchsteuerpaket ist in seinen Eckwerten durch Beschluß der Koalitionsfraktionen festgeschrieben. Ein Wiederaufrollen wird es nicht geben. Wohl aber werden wir in den Ausschüssen zu prüfen haben, wie sich die Beschlüsse im einzelnen strukturell auswirken. Ich halte es für selbstverständlich und auch wünschenswert, daß das Parlament sich dabei im Rahmen einer Anhörung ein eigenes Bild über die wettbewerbspolitischen Wirkungen der einzelnen Parameter verschafft.
Der großen Mehrheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland geht es besser, als es den Deutschen in ihrer Geschichte jemals gegangen ist. Unsere Eltern und Großeltern hätten es sich nicht träumen lassen, einmal in solchem Wohlstand und solcher individueller Freiheit leben zu können, wie es uns vergönnt ist. Über die Hälfte unserer Mitbürger bewerten ihre persönliche wirtschaftliche Lage als gut oder sehr gut. Bleibt das so, dann muß die Opposition sich noch gewaltig anstrengen, Herr Wieczorek. Genießen Sie ruhig die jetzigen Meinungsumfragen. Am Wahltag sieht das anders aus. Schon zu Zeiten Konrad Adenauers hieß der theoretische Bundeskanzler in der Mitte der Legislaturperiode immer Erich Ollenhauer. Am Wahlabend war es dann wieder der amtierende Bundeskanzler. Auch 1990 wird es so sein.
({8})
Die Koalition hat bis dahin noch viel Arbeit zu leisten. Gesundheitsreform, Rentenreform, Postreform, Betriebsverfassung, Datenschutz sind nur einige Stichworte. Der Bundeskanzler hat sich gestern zu den wesentlichen geäußert. Wir stimmen ihm zu.
Über 1990 hinaus stellen sich wichtige Fragen. Wenn wir unseren jetzigen Wohlstand unseren Kin6224
dern erhalten wollen, dann bedarf es einiger vorausschauender Eingriffe. Die damit verbundenen Belastungen sind erträglich. Unterlassen wir die Korrekturen, so können spätere bruchartige Entwicklungen sehr viel schwerer erträglich werden. Das reicht von Umweltpolitik national und international bis zu der Frage, wie wir darauf reagieren, daß in wenigen Jahren 30 % der Deutschen älter als 60 Jahre sind.
Wir werden die Zukunft unseres Landes nur dann gestalten, wenn wir die Gegenwart meistern. „Zukunft kommt von selbst" war das bemerkenswerte Motto des Parteitags der SPD in Münster. Erst hat man die Zukunftsvoraussetzungen für die Bundesrepublik nicht unerheblich verschlechtert. Dann hat man sich jahrelang nicht um Zukunft gekümmert.
({9})
Jetzt stellt man parteiamtlich fest, daß diese sowieso von allein kommt.
({10})
Zukunft kommt eben nicht von allein. Eine Zukunft haben wir nur, wenn der Staat, wenn die Gesellschaft und vor allem wenn jeder einzelne etwas dafür tut, wenn wir dafür arbeiten.
({11})
Zukunft ist nicht das schlichte Dämmern eines täglich neuen Tages. Zukunft ist die möglichst große Zahl von Chancen und Optionen für die Menschen, die in der Gesellschaft von morgen vernünftig leben wollen.
Die Gestaltung der Zukunft, das ist eine große, schwere, sicher aber auch eine reizvolle Aufgabe. Kann es etwas Wichtigeres für Politik und Politiker geben? Die Freie Demokratische Partei, die Liberalen werden alles in ihren Kräften Stehende tun, um ihren Beitrag zur Bewältigung dieser Aufgabe zu leisten.
Danke.
({12})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Martiny.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Graf Lambsdorff, ich bin Ihnen im Namen meiner Fraktionskolleginnen und -kollegen außerordentlich dankbar, daß Sie sich so ausgiebig mit unserem Parteitag beschäftigt haben. Die Haushaltsdebatte ist dafür eigentlich nicht der richtige Platz. Aber es ist trotzdem in unserem Interesse. Denn noch vor drei Jahren hat man unsere Papiere überhaupt nicht gelesen und gesagt, es sei sowieso alles Quatsch. Jetzt werden sie wenigstens für diskussionswürdig erachtet. Der Zeitpunkt wird noch kommen, wo Sie die Papiere ausgiebig lesen und vielleicht sogar sagen müssen, wir haben recht.
({0})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein. Ich möchte meinen Gedanken zu Ende führen. Sonst wird meine Polemik nicht so verletzend, wie sie sein soll.
Mir ist immer deutlich gewesen, daß Sie mit Herrn Lafontaine denselben Anfangsbuchstaben im Namen haben. Mir war noch nie so deutlich wie heute, daß Sie auch die gleiche Begabung zu arrogant präsentierter Polemik haben. Da sind Sie ihm sogar noch überlegen.
({0})
Was ich jetzt vorhabe, ist kühn, Graf Lambsdorff. Wenn nämlich eine jüngere Frau einem älteren Herrn einen politischen Rat geben möchte, ist das vielleicht verwegen. Aber ich tue es trotzdem: Wer Parteivorsitzender werden will, braucht nicht bloß die Begabung zur Polarisierung, sondern der braucht die Begabung zur Integration. Vielleicht denken Sie über diesen Satz einmal nach.
({1})
Wie weit man mit Polarisierung kommt, hat beispielsweise Oskar Lafontaine an seinem Abstimmungsergebnis festgestellt.
({2})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Nein.
Grundsätzlich nicht?
Ich habe nicht soviel Redezeit, weil Herr Roth etwas länger geredet hat, als er eigentlich sollte.
Ich rechne Ihnen das nicht auf die Redezeit an. Wenn Sie aber keine Zwischenfrage zulassen wollen - Frau Dr. Martiny-Glotz ({0}): Wenn sich Graf Lambsdorff mit mir anlegen möchte, bitte.
Sie lassen trotzdem eine zu?
Frau Kollegin, darf ich jetzt auf Ihre Anfangsbemerkung zurückkommen und Sie vielleicht daran erinnern, daß ich wirklich keiner besonderen Auszeichnung dafür bedarf, daß ich mich um den SPD-Parteitag in Münster gekümmert habe? Denn Sie erinnern sich sicher daran, wie intensiv ich mich schon mit dem Parteitag in München beschäftigt habe und daß ich SPD-Parteitage immer mit besonderem Interesse zur Kenntnis genommen habe.
Das bedarf keines Kommentars. Infolgedessen verlängert es auch meine Redezeit nicht. - Vielen Dank.
Vergegenwärtigen wir uns einmal die Reaktionen auf die Haushaltseinbringung bei Leuten auf der Straße; die sieht man in der Bannmeile nicht so sehr, aber anderswo in Bonn gibt es sie durchaus. Ich habe mich gestern und vorgestern mal umgehört.
({0})
Die Leute sagen einem, das sei immer dasselbe Gelaber, sterbenslangweilig. Eine Frau hat mir gesagt: Ich
verstehe das Ganze sowieso nicht; alles Wichtige im Umweltschutz und für Familien mit Kindern lassen sie schleifen. Wofür geben sie das ganze Geld eigentlich aus?
Die Sache mit dem Dollar, dem Bundesbankgewinn und der Nettokreditaufnahme ist in der Tat nur etwas für Spezialisten. Daß das das „Schicksalsbuch unserer Nation" bestimmen soll, ist dem Normalmenschen schwer begreiflich zu machen. Aber eines wissen die Menschen: Ökologisch rennen wir in die Katastrophe. Das weiß beispielsweise jede Mutter, die Babynahrung mit Mineralwasser zubereiten muß, weil das normale Trinkwasser zu stark mit Nitrat belastet ist.
({1})
Das sieht man an den toten Robben, am sterbenden Bergwald und am Müllnotstand der Kommunen. Die Kommunalpolitiker klagen, daß sie für den Bau von Kläranlagen oder Regenrückhaltebecken kein Geld mehr haben, weil die ominöse Steuerreform sie ein weiteres Mal schröpft.
({2})
Ich habe mich mit dem Wirtschaftshaushalt auseinanderzusetzen. Herr Bangemann, diese sympathische Plaudertasche, wie wir gestern wieder festgestellt haben, war im vergangenen Jahr noch so entgegenkommend, ein „Quick"-Interview zu geben, in dem er ankündigte, drei bis vier Milliarden DM an Subventionen könnte er allein in seinem Haushalt streichen. Das ist ihm im vergangenen Jahr nicht gelungen und wird ihm fürs nächste Jahr auch nicht gelingen.
Nun sind wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten keine heurigen Häsinnen und Hasen, das heißt, wir haben Verständnis dafür, daß die Manövriermasse im Bundesministerium für Wirtschaft nach wie vor klein ist. Die großen Brocken, Kokskohle, Stahl, Werften, Airbus, regionale Wirtschaftsförderung sind ja unverändert geblieben. Auch wir haben ein Interesse daran, daß die Traditionsbranchen Kohle und Stahl national überleben können und daß die alten Industrieregionen nicht zugrunde gehen. Allerdings möchten wir bei der regionalen Wirtschaftsförderung unverändert den Indikator Arbeitslosigkeit gern stärker berücksichtigt sehen. Es kann nicht angehen, daß sich hier eine Schraube immer weiter in Richtung absoluter Hoffnungslosigkeit bewegt. Wir müssen anders herum drehen.
({3})
Aber als Herr Stoltenberg vorgestern davon sprach, daß ein Subventionsabbau erfolgt sei, kann er an den Airbus ja wohl nicht gedacht haben. Es kann nicht angehen, daß die Geschäftsverteilung zwischen Daimler-Benz, MBB und dem Staat so aussieht, daß die Privaten den sicheren Profit für sich verbuchen, während der Staat voll ins Risiko einsteigen muß. Das ist mit uns Sozialdemokraten nicht zu machen.
({4})
Aus Graf Lambsdorffs Lieblingskind, den Personalkostenzuschüssen für Forschung und Entwicklung, ist jetzt ein Auslaufmodell geworden. Diese Zuschösse sterben einen stillen Tod. Ich rede auch nur noch deshalb davon, weil dies ein Musterbeispiel für Unzuverlässigkeit und Unstetigkeit in der Mittelstandsförderung ist.
({5})
Erst weckt man große Erwartungen, und hinterher löst man sie nicht ein.
Die staatlichen Ansparhilfen für Existenzgründungen im Mittelstandsbereich nehmen sich damit verglichen geradezu lachhaft aus,
({6})
sowohl hinsichtlich ihres Volumens als auch hinsichtlich der dahinterstehenden Philosophie. Warum steigt das Wirtschaftsministerium nicht ein in ein Programm, das intelligente Umwelttechnologien fördert? Fachzeitschriften wie „High-Tech" und „Manager-Magazin" berichten allmonatlich, was in diesem Markt für Entwicklungsmöglichkeiten stecken. Aber nicht jedes mittelständische Unternehmen hat eine so gute Kapitalausstattung, daß es Investitionen über einen längeren Zeitraum in die Entwicklung solcher Technologien überstehen kann. Unser Programm „Arbeit, Umwelt und Investitionen" könnte Ihnen Anregungen geben, Herr Bangemann.
Japan ist doch wohl deshalb zum Vorreiter für Umwelttechnologien geworden, weil hier die staatliche Förderung mit den Industrieunternehmen zusammengearbeitet hat, um das zu bewerkstelligen. Es geht nicht an, immer nur dann nach Japan zu gucken, wenn es um die Einschränkung von Arbeitnehmerrechten und um Lohnnebenkosten geht. Man könnte doch auch mal die Risikobereitschaft der Unternehmen oder die wirtschaftliche Führungskunst der Regierungen miteinander vergleichen.
Herrn Stoltenbergs Hinweis auf das Wachstum, den er vorgestern brachte, erscheint mir vor dem Hintergrund unserer Umweltkatastrophen geradezu kindlich-naiv. Wir wollen doch nun wirklich mal wissen, was da denn eigentlich wachsen soll. Die wachsende Zahl von Autobahnkarambolagen oder Krankenhaustagen oder wachsende Milchseen, Getreideberge, Pharmaprodukte und wachsende Pestizidexporte sind nicht das Wachstum, das wir wollen. Wir wollen ein ökologisch vertretbares Wachstum, einen Umbau der Marktwirtschaft in ein System, das sozial und ökologisch tauglich ist.
({7})
5 Millionen DM für die Umweltberatung, die die SPD für den Haushalt 1988 bereits gefordert hat, sind in diesem Zusammenhang mehr als Peanuts. Sie wären ein Zeichen dafür, daß die Bundesregierung anerkennt, wie notwendig für eine ökologisch orientierte Marktwirtschaft gezielte Nachfrage der Konsumentinnen und Konsumenten ist. Wir werden dieses Geld erneut fordern.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte, Herr Stratmann.
Bitte sehr.
Frau Kollegin, können Sie im Unterschied zu Ihrem Kollegen Roth mir die Frage beantworten, mit welcher Sicherheit Sie behaupten, daß der angestrebte ökologische Umbau, den wir gemeinsam wollen, unter dem Strich Wachstum bedeutet?
({0})
Also, im Rahmen meiner Redezeit kann ich dies nicht. Aber wir werden im Wirtschaftsausschuß sicherlich Gelegenheit haben, unsere Argumente zu messen. - Vielen Dank.
({0})
Im Zusammenhang der Beratung sitzen Verbraucher und Mittelstand übrigens in einem Boot. Auch für die mittelständischen Unternehmen ist es schwierig, oft sogar unmöglich, über die Kenntnisse zu verfügen, die nötig sind, um in der Marktwirtschaft zu bestehen. Auch für die mittelständischen Unternehmen ist es dringend erforderlich, daß sie mehr Beratungshilfe erhalten, um sich auf die ökologischen Erfordernisse der Zukunft einstellen zu können.
In diesem Zusammenhang ein zweiter Punkt. Der Cecchini-Bericht weist darauf hin - Herr Stoltenberg hat das auch erwähnt - , daß der vergrößerte Markt ab 1992 für die Wirtschaft positive Auswirkungen haben dürfte. Wir müssen aber Vorsorge treffen, Herr Stoltenberg und Bangemann, daß nicht lauter rechtzeitig angebahnte Elefantenhochzeiten dem deutschen Mittelstand den Garaus machen. Das heißt, der Mittelstand braucht Beratungshilfe, Finanzierungshilfe, Umstrukturierungshilfe im Hinblick auf die ab 1992 einsetzende Entwicklung.
({1})
Ein Punkt macht uns dabei besondere Sorge - darauf ist mein Kollege Roth ausgiebig eingegangen -, und zwar die Qualifizierung, Weiterbildung und Umschulung gerade in der mittelständischen Wirtschaft. Wir beklagen wirklich die völlig ausgepowerte Bundesanstalt für Arbeit. Statt weiterzuqualifizieren und Umschulungslehrgänge anzubieten, um die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf einen sicheren Weg in die Zukunft führen zu können, tut diese Bundesregierung alles, aber auch wirklich alles, daß die Arbeitslosigkeit bloß noch verwaltet werden kann. Mit dieser Fehlentwicklung muß im Haushalt 1989 endgültig aufgeräumt werden.
({2})
Wenn sich die Bundesregierung jetzt im Zusammenhang mit der Rentenreform Gedanken darüber macht, daß die Menschen länger arbeiten sollen - angesichts von mehr als 3 Millionen Arbeitslosen ja ohnehin eine ziemlich absurde Vorstellung - , damit die Löcher in der Rentenversicherung nicht immer weiter wachsen, dann sollte sich dieselbe Bundesregierung bitte auch Gedanken darüber machen, wie sie ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in diesem Arbeitsprozeß halten kann. Von solchen Überlegungen findet sich im Wirtschaftshaushalt aber nicht der geringste Ansatz. Es ist staatliche Fürsorgepflicht, dafür zu sorgen, daß die Marktwirtschaft nicht brutal ganze Jahrgänge und bestimmte Gruppen aus dem Arbeitsprozeß ausgrenzt.
Mein letzter Punkt: Herr Stoltenberg begrüßte vorgestern das ;,geringere Steigen des Staatsverbrauchs" . Ich verstehe nicht, was daran - so absolut hingestellt - so begrüßenswert sein soll. Es ist doch immer wieder die Frage, wofür der Staat das Geld braucht. Der Staat ist der größte Unternehmer, den unsere Gesellschaft hat. Bei dieser Bundesregierung gebärdet er sich aber als der größte Unterlasser, weil er eben alles unterläßt, was Arbeitsplätze schafft oder schaffen könnte.
Seit kurzem liegt eine Ifo-Untersuchung zu Kunst und Kultur als Wirtschaftsfaktor vor, die - in diesem Fall verdienstvollerweise - der Bundesinnenminister in Auftrag gegeben hat. Ich möchte diese Untersuchung exemplarisch zitieren.
Das Ergebnis dieser Untersuchung lautet: 680 000 Arbeitsplätze finden wir in dem Gebiet Kunst und Kultur, die Bruttowertschöpfung ist so groß wie in der Energiewirtschaft, das Investitionsvolumen ist so hoch wie beim Maschinenbau. Damit leisten Kunst und Kultur einen wichtigen Beitrag zum Strukturwandel in unserer Wirtschaft, den man offensiv gestalten muß. Wir sind mehr und mehr eine Dienstleistungsgesellschaft und müssen daraus die Konsequenzen ziehen.
Gerade in Regionen wie dem Ruhrgebiet, in denen die Produktionsbereiche im Zusammenhang mit Stahl und Kohle leider gesundschrumpfen müssen, kommt den Dienstleistungen wachsende Bedeutung zu: den Universitäten, den Theatern, der Filmwirtschaft, den Medien insgesamt, Museen und Orchestern, aber auch Sportstätten, Vergnügungsparks und Freizeiteinrichtungen.
In diesem Zusammenhang ist es absurd, daß die Steuerreform und die Arbeitslosigkeit den Kommunen die Investitionsspielräume für Investitionen in solchen Gebieten und für Subventionen solcher Einrichtungen zunehmend beschneiden und daß sich die Familien mit Kindern einen solchen Luxus auch kaum mehr leisten können.
Wenn der Bundeswirtschaftsminister nun 11,5 Millionen DM für Kulturwirtschaft in seinen Haushalt neu einstellt - im vergangenen Jahr waren es nur 1,5 Millionen DM - , dann begrüße ich das im Prinzip. Ich finde es richtig, daß nun anerkannt wird, daß unsere nationale Filmwirtschaft im internationalen Wettbewerb und angesichts des Wettbewerbsdrucks gegenüber den amerikanischen Medienkonzernen nur bestehen kann, wenn staatliche Hilfe gegeben wird.
11,5 Millionen DM sind dabei natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In Tornado-Dimensionen gemessen, ist es vielleicht ein Flügel.
Aber ich kritisiere, daß die Konzeption, was mit diesem Geld gemacht werden soll, eigentlich überhaupt noch nicht richtig sichtbar ist. Wenn es nur nach der Devise geht „von allem ein bißchen mehr", dann reicht das bei weitem nicht aus. Dann sind diese 11,5 Millionen DM in den Sand gesetzt.
Ich habe noch zwei Fragen: Ist die Bewertung von Rambo III als „besonders wertvoll" ein besonderer Liebesdienst für unseren früheren Kollegen Wohlrabe, oder soll das etwa der Qualitätsmaßstab für die Kultur in dieser Branche für die Zukunft sein? Dann sind die 11,5 Millionen DM erst recht in den Sand gesetzt.
Die zweite Frage: Wann wird es endlich dazu kommen, daß auch die privaten Fernsehveranstalter in die Abgabepflicht für die Spielfilmproduktion einbezogen werden, wie das von uns schon vor zwei Jahren gefordert worden ist und wie die Bundesregierung versprochen hat, es in diesem Jahr zu prüfen? Vielleicht sind Ihre Beamten, Herr Bangemann, imstande, dieses möglichst rasch zu klären oder gar zustande zu bringen.
Nachdem ich mir in den Sommerferien den Haushalt im Detail von den Beamten des Wirtschaftsministeriums habe erläutern lassen und die freundliche Präsentation durch den Minister gestern gehört habe, komme ich zu dem Schluß: Herr Bangemann, wir könnten das besser, wir wollen das auch gern wieder machen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Rossmanith.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Martiny, dann hätten Sie etwas mehr dazu aussagen müssen, wie Sie das machen wollen. Aber ich glaube, Ihre letzte Aussage, die Sie an diesem Podium getroffen haben, nehmen Sie selbst gar nicht so ernst, weil auch Sie sich darüber im klaren sind, daß angesichts der Wirtschaftspolitik, die wir betreiben, und der Erfolge in allen Bereichen die Gefahr nicht gegeben ist, daß Sie 1990 wieder politische Regierungsverantwortug tragen müßten.
({0})
Selbst jetzt, wo die Erfolge in der Wirtschafts- und der Finanzpolitik mehr als offensichtlich sind, haben Sie nicht den Mut, Fehler, Fehlaussagen und -prognosen, die Sie früher gestellt haben, auch einzugestehen. Ich weiß nicht, ob die ökonomische Realität für Sie so unerträglich ist, daß Sie sie mehr oder weniger verdrängen müssen. Ich kann es an sich nur als Ausdruck Ihres schlechten Gewissens sehen, das Sie in Erinnerung an Ihre eigene fehlgeschlagene Wirtschafts- und Finanzpolitik natürlich haben müssen.
Unter Ihrer Regierungsverantwortung von 1975 bis 1982 sind die Bundesausgaben um nicht weniger als 56 % gestiegen,
({1})
und das - man muß sich daran erinnern - vor dem Hintergrund einer wirtschaftlichen Stagnation. Von 1983 bis 1990, also in einer Zeit des permanenten Wirtschaftsaufschwungs, der Preisstabilität und niedriger Nominalzinsen, beträgt der Anstieg der Bundesausgaben bei uns lediglich 19 %. Im ersten Halbjahr 1988 - ich glaube, das muß man immer wieder betonen, weil sich darin auch wieder ein ganz wesentlicher Erfolg unserer Politik zeigt - lag die Zuwachsrate des realen Sozialprodukts bei annähernd 4 %, wobei die Bruttoinvestitionen mit 11 % fast dreimal so stark gestiegen sind. Es deutet alles darauf hin, daß wir in diesem Jahr ein Wachstum von mindestens 3 % erzielen werden. Ich glaube, angesichts dieser eindrucksvollen Zahlen sollte die Opposition ihre eigene, in Münster allerdings allzu offensichtliche wirtschaftspolitische Orientierungslosigkeit erkennen und daraus endlich auch die richtigen Schlüsse ziehen.
Herr Roth, bei Ihnen waren einige Ansätze erkennbar, und es hat mich auch gefreut, daß Sie Herrn Bundesminister Bangemann, zumindest was seine europäische Leistung betrifft, gewürdigt haben. Ich möchte aber hier für meine Fraktion noch einmal deutlich unterstreichen, daß wir Ihnen, Herr Bundesminister Bangemann, herzlich für Ihre Arbeit danken, die Sie mutig, fair und vor allem mit großem Erfolg geleistet haben.
({2})
Mit dem von uns konsequent verfolgten marktwirtschaftlichen Kurs werden wir auch weiterhin ein stabiles Wachstum schaffen. Wir haben ein hohes Maß an Preisstabilität erzielt, und wir haben wirkungsvoll zum Abbau der außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte beigetragen.
Ich möchte angesichts dieser Erfolge auch noch einen Satz zu der immer wieder von der SPD zitierten und vorgebrachten vermeintlichen Investitionsschwäche trotz guter Gewinne sagen: Meine sehr verehrten Damen und Herren, sicherlich gibt es keine Automatik in dem Sinne „mehr Erträge gleich mehr Investitionen". Das hat auch niemand so behauptet. Richtig aber ist, daß die realen Bruttoanlageinvestitionen der Unternehmen von 1982 bis 1987 um 20 % stärker gewachsen sind als der private Verbrauch oder das Sozialprodukt insgesamt.
Ich möchte in diesem Zusammenhang aus dem Monatsbericht der Deutschen Bundesbank vom Juli 1988 zitieren:
Dem verfügbaren Material der Jahresabschlußstatistik zufolge konnte im Zeitraum 1983 bis 1986 die in den siebziger Jahren eingetretene und zu Beginn der achtziger Jahre verschärfte Erosion der Ertragsbasis und Finanzierungsverhältnisse weitgehend überwunden werden. Die jährliche Ausweitung der Bruttoanlageinvestitionen mag man im Hinblick auf die Gewinnentwicklung als gemäßigt ansehen. Den Unternehmen ging es aber in den ersten Jahren des Aufschwungs wohl zunächst vordringlich darum, durch eine Konsolidierungspolitik ihre finanziellen Reserven wieder auf einen angemessenen Stand zu bringen, um auf diese Weise die Grundlage ihrer Investitionstätigkeit wiederherzustellen.
Dieser Stellungnahme der Deutschen Bundesbank
braucht man nichts hinzuzufügen. Sie läßt an Deutlichkeit und im Hinblick auf die Folgen der Wirt6228
schaftspolitik der heutigen Opposition nichts zu wünschen übrig.
Herr Roth, ich will nicht verhehlen, daß die Situation auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor äußerst unbefriedigend ist. Zwar konnten seit dem Herbst 1983 fast 800 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, allein in den letzten zwölf Monaten rund 150 000,
({3})
doch müssen wir in diesen Bereichen natürlich noch verstärkte Anstrengungen unternehmen. Wir werden jedoch nicht unser Heil, wie Sie es in Verkennung der katastrophalen Folgen solcher Maßnahmen immer wieder empfehlen, in staatlichen Ausgabeprogrammen suchen.
({4})
Das beschäftigungspolitische Gebot der nächsten Jahre kann nur lauten: Stärkung der Marktkräfte, Erleichterung des Strukturwandels, Flexibilisierung des Arbeitslebens und Abbau von Beschäftigungshemmnissen. Auch hier sind wir auf dem richtigen Weg.
({5})
Die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes bis 1992 verlangt selbstverständlich noch weitere Anstrengungen. Vordringlich ist es, die strukturelle Anpassung zu beschleunigen und die Leistungsbereitschaft der Unternehmen weiter zu stärken. Ein zentraler Teil dieser offensiven wirtschaftspolitischen Strategie ist die Steuerreform. Insbesondere mit ihrem Kernstück, dem neuen leistungsgerechten Steuertarif, haben Bundesregierung und Koalition wichtige Rahmenbedingungen für mehr Wachstum und Beschäftigung in den kommenden Jahren geschaffen. Wir setzen eben auf Eigenverantwortung und Privatinitiative, nicht auf dirigistische staatliche Problemlösungen, auch wenn man sie, nach einem Besuch in Schweden, verpackt in marktwirtschaftliche Prozesse, umzusetzen versucht.
Das wirkt sich sicherlich nicht immer zum Wohle der Funktionäre aus - auch das will ich sagen -, aber zum Wohle der Menschen, und darum geht es uns, um nichts anderes
({6})
In dem jetzt vorliegenden Haushaltsentwurf bildet die Förderung der mittelständischen Unternehmen wiederum einen wesentlichen Schwerpunkt. Der selbständige Mittelstand bildet und bleibt das Rückgrat unserer Wirtschaft. Daß dieses Rückgrat stabil ist, zeigt sich nicht zuletzt an der anhaltend hohen Zahl von Unternehmensgründungen. Darin kommt das Vertrauen in eine positive Entwicklung unserer Wirtschaft zum Ausdruck.
({7})
Wichtig ist aber auch, daß mit jedem neu gegründeten Unternehmen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen werden. Dies führt zu einer dauerhaften Entlastung auf dem Arbeitsmarkt, die gesamtwirtschaftlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Kollege Hauser hat ja die Zahl von 46 000 neu geschaffenen Arbeitsplätzen genannt.
Ich begrüße es deshalb auch, daß die Bundesregierung eine Verlängerung des Eigenkapitalhilfeprogramms um zunächst drei Jahre beschlossen hat. Für die Verlängerung dieses Programms hat sich ja insbesondere die CDU/CSU immer mit besonderem Nachdruck eingesetzt.
Die Förderung von Existenzgründungen ist ja ein Eckpfeiler unserer Mittelstandspolitik. Daran wird sich auch in Zukunft nichts ändern. Der Mut zur Selbständigkeit muß weiter gestärkt werden. Die kleinen und mittleren Unternehmen in Handwerk, Handel und Gewerbe sind ein Motor des Wettbewerbs und für das Funktionieren unserer freiheitlichen Wirtschaftsordnung unverzichtbar.
({8})
Man muß ihnen nur die geeigneten Rahmenbedingungen schaffen, damit sie sich auch entsprechend entfalten können.
Die Beseitigung des sogenannten Mittelstandsbauches im Einkommensteuertarif - von der SPD ja bezeichnenderweise abgelehnt - ist ein mittelstandspolitischer Meilenstein.
({9})
- Natürlich haben Sie unser Steuerkonzept und unser Steuerreformgesetz abgelehnt, Herr Roth. - Durch diese steuerliche Entlastung werden eben neue Investitionsspielräume eröffnet, die die Unternehmen in eigener Verantwortung ausfüllen können. Dies ist allemal besser und wirksamer, als sie durch immer neue Subventionstöpfe am Gängelband des Staates zu halten.
Ich möchte zusammenfassen. Eine konsequente marktwirtschaftliche Politik ist eben der wirkungsvollste Weg zur Bewältigung des strukturellen Wandels.
({10})
- Ja, so ist es, Frau Martiny. - Bundesregierung und Koalition können mit Recht auf die Erfolge dieser Politik in den vergangenen sechs Jahren verweisen. Wir befinden uns in einer anhaltenden Aufschwungphase, und so wird es auch bleiben. Durch konsequente Ausgabendisziplin werden wir auch beim Haushalt 1989 unserer Wirtschaft weiterhin positive Impulse geben und unsere erfolgreiche Politik fortsetzen.
Wenn ich mir Ihre letzten Beiträge vor Augen führe, dann fällt mir ein Satz ein, den ein alter weiser Staatsmann einmal geprägt hat. Er hat die Opposition mit einer Ziege verglichen.
({11})
- Es stammt nicht von mir, ich zitiere nur. - Er meinte, sie erfülle ihre Pflicht ja schon durch Mekkern; Milch sollte man von ihr nicht auch noch erwarten.
Danke schön.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wer sich an eine realistische Bestandsaufnahme unserer Umwelt begibt, der muß nüchtern feststellen, daß sich unsere Natur, wie auch der Bundesumweltminister kürzlich festgestellt hat, in einem desolaten Zustand befindet. Zu Recht hält deshalb die Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger den Umweltschutz nach der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit für die wichtigste politische Gestaltungsaufgabe.
({0})
Viele von ihnen reagieren mit Betroffenheit, mit Ohnmacht, mit Wut und Hilflosigkeit, wenn sie feststellen müssen, wie begrenzt unsere bisherigen Anstrengungen waren, die drohenden Gefahren für Natur und Umwelt abzuwenden.
({1})
Viele Bürgerinnen und Bürger erwarten von Politik, Industrie und von jedem einzelnen eine radikale Umkehr. Worte und Reden haben sie genug gehört. Jetzt erwarten sie Taten.
({2})
Wir müssen handeln, meine Damen und Herren, um Natur und Umwelt zu retten, und zwar schnell.
Seit langem besteht Übereinstimmung, daß wir eine vorsorgende Umweltpolitik brauchen, die verhindern soll, daß Schäden an Natur und Umwelt überhaupt auftreten. Aber noch immer werden wir in regelmäßigen Abständen von ökologischen Katastrophen scheinbar überrascht, wiewohl diese meist lange vorhersehbar waren.
({3})
Die Nordseekatastrophe ist dafür nur ein Beispiel. Immer wieder werden eilig zusammengezimmerte Sofort- und Notprogramme erforderlich, die uns deutlich machen, daß die Umweltpolitik in weiten Bereichen über Flickschusterei bisher nicht hinausgekommen ist. Das ist die nüchterne, das ist die bittere Wahrheit.
({4})
Es gehört im übrigen wenig prophetische Gabe zu der Vorhersage, daß angesichts gewaltiger und globaler Risiken wie der einer drohenden weltweiten Klimakatastrophe mit den Gefahren für das ganze Ökosystem Erde die Umweltpolitik auch weiterhin den zunehmenden Problemen mit unzulänglichen Mitteln atemlos hinterherlaufen wird. Abwenden können wir eine solche Entwicklung nur, den Übergang vom nachsorgenden Reparaturbetrieb zur vorsorgenden Umweltgestaltung werden wir nur schaffen, wenn die Umweltpolitik nicht mehr als lästiges Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung betrachtet wird, sondern wenn wir die ökologischen Zielsetzungen zur Voraussetzung und zum festen Bestandteil unseres wirtschafts- und finanzpolitischen Denkens und Handelns machen. Das ist der Punkt, auf den es ökologisch und ökonomisch ankommt.
({5})
Güter müssen in Zukunft so produziert und Dienstleistungen so erbracht werden, daß damit nur ein Minimum an Energie- und Rohstoffeinsatz verbunden ist und daß auch die Nutzung der Produkte und ihre Entsorgung ohne Schaden für die Umwelt erfolgen kann. Wir müssen unserer Wirtschaft eine Struktur geben, in der umweltverträgliche und ressourcenschonende Produkte und Produktionsverfahren die alten Dinosauriertechnologien ablösen. Das ist die zentrale politische Gestaltungsaufgabe, national, in der Europäischen Gemeinschaft und auch weltweit.
({6})
Die Bundesregierung hat die sich hierzu bietenden Möglichkeiten verpaßt. Warum hat sie nach Sandoz nicht die Chance für die Entwicklung einer umweltverträglichen Chemiepolitik genutzt? Wo hat sie angesichts der Nordseekatastrophe im Gewässerschutz wirklich und wirksam gehandelt? Ihr Zehn-PunkteKatalog, Herr Töpfer, ist unzureichend, wie Ihnen alle Fraktionen dieses Hauses, auch Ihre eigene, bescheinigen.
({7})
Wo hat die Bundesregierung nach Tschernobyl in der Energieversorgung umgesteuert? Wo sind Ihre Anstrengungen zur Förderung der rationellen Energieverwendung und des Energieeinsparens? Wo sind Ihre Anreize zur verstärkten Förderung der erneuerbaren Energiequellen? Wo hat die Bundesregierung eine Steuerpolitik betrieben, die auch ökologischen Belangen Rechnung trägt? Fehlanzeige auf allen diesen Feldern!
({8})
Dieser Bundesregierung - das ist unser Hauptvorwurf an Sie - fehlt in der Umwelt- und Energiepolitik Gestaltungswillen und Gestaltungskraft; sie wärmt sich statt dessen am Strohfeuer niedriger Energiepreise.
({9})
Meine Damen und Herren, ich denke, es besteht Übereinstimmung in diesem Hause - zumindest bei den Umweltpolitikern - wenn ich sage, wir haben bisher auf Kosten der Natur gelebt. Wenn wir diesen Weg weitergehen, wird dies zum ökonomischen und ökologischen Zusammenbruch führen.
Wir haben bisher gemeinsam Umweltpolitik überwiegend mit Geboten und Verboten, mit Grenzwerten und Richtwerten betrieben. Diese Mittel behalten auch in Zukunft ihren Wert, aber sie reichen für eine Politik der Umwelt- und Zukunftsvorsorge, für eine Politik des notwendigen ökologischen Umbaus der Industriegesellschaft nicht aus. Wir Sozialdemokraten wissen, daß der ökologische Umbau der Industrie6230
Schäfer ({10})
gesellschaft auch über den ökologischen Umbau des Steuer- und des Abgabensystems erfolgen muß.
({11})
Lassen Sie mich etwas zu Möglichkeiten, Mitteln und Notwendigkeiten marktwirtschaftlicher Instrumente sagen. Die Regierung beschwört die Marktwirtschaft. Sie redet auch viel von marktwirtschaftlichen Instrumenten im Umweltschutz. Nur, Herr Töpfer, Herr Baum, Schein und Sein, Reden und Handeln fallen weit auseinander. Das wirksame, unverzichtbare und zugleich marktwirtschaftliche Instrument einer umweltgerechten Steuerung der Wirtschaft, nämlich ökologische Steuern und Abgaben, wird bei Ihnen sträflich vernachlässigt.
({12})
Die Bundesregierung hat es bis zur Stunde nicht fertiggebracht, Steuerpolitik und Umweltschutz wirksam zu verbinden. Auch gezielte marktwirtschaftlich wirkende Umweltabgaben lehnt sie ab. Die bewährte Abwasserabgabe, Kollege Baum, haben wir während unserer gemeinsamen Regierungszeit durchgesetzt. Die Kraft für neue Abgaben, die marktwirtschaftlich pro Umwelt wirken, fehlt leider dieser Regierung in der Wirklichkeit ihrer Politik.
({13})
Aus der konservativen Ecke der Politik - und leider auch aus Teilen der Industrie - tönt es: Der Industriestandort Bundesrepublik ist gefährdet, auch wegen angeblich zu hoher Umweltschutzauflagen. Das Gegenteil ist richtig. Auf Dauer hat die Volkswirtschaft die Nase vorn, die umwelt- und gesundheitsverträglich produziert. Das ist die politische Gestaltungsaufgabe, der wir uns alle stellen müssen.
({14})
Wir wissen, die ökologische Erneuerung ist die Voraussetzung für qualitatives Wachstum und für eine zukunftssichere Entwicklung. Nicht nur aus ökologischen, nein, gerade auch aus ökonomischen Gründen brauchen wir eine Umkehr in der Umwelt- und Energiepolitik.
Die ökologische Schadensbilanz belegt dies doch überdeutlich. Die jährlichen Schäden liegen allein in der Bundesrepublik Deutschland bei über 100 Milliarden DM. Davon entfallen allein 48 Milliarden DM auf Schäden durch Luftverschmutzung, die in erster Linie Folge des zu hohen Energieverbrauchs ist. Diesen Umweltschäden von Jahr für Jahr über 100 Milliarden DM stehen Investitionen und Aufwendungen für Umweltschutz von ca. 30 Milliarden DM pro Jahr gegenüber. Dieses Mißverhältnis können wir uns auch aus ökonomischen Gründen nicht leisten.
({15})
Eine Umkehr ist notwendig. Die Güter der Natur - Luft, Wasser und Boden - dürfen nicht länger zum Nulltarif genutzt werden. Sie müssen endlich ihren Preis bekommen. Sie sind kostbar und für das Überleben der Menschheit unersetzlich. Diese Tatsache muß sich auch in den Bilanzen der Unternehmen widerspiegeln.
Die Politik muß umweltfreundliche Produktion und umweltfreundliche Güter begünstigen, umweltschädliche und umweltbelastende Produkte und Verhaltensweisen verteuern. Mit anderen Worten: Umweltschonendes Produzieren und umweltschonendes Konsumieren müssen sich rechnen, umweltschädliches Produzieren und umweltschädliche Produkte dürfen sich nicht weiterhin lohnen. Um ein Beispiel zu geben: Die Plastikflasche, die PET-Flasche, muß erheblich teurer werden als die Glaspfandflasche. Auf diesem Wege steuern wir den ökologischen Umbau.
({16})
Was hat diese Regierung auf diesem Feld getan? Sie hat die Chance nicht genutzt, marktwirtschaftliche Instrumente zugunsten der Umwelt einzusetzen. Sie hat nicht einmal Ansätze eines steuerpolitischen Konzeptes, das die ökologischen Notwendigkeiten mit den klassischen Prinzipien des Steuerrechtes, nämlich Leistungsgerechtigkeit und ökonomische Effizienz, verbindet. Auch von Ihnen, Herr Töpfer, ist kein Vorschlag in dieser Richtung bekannt geworden. Im Gegenteil, Sie haben tatenlos zugesehen, wie diese Regierung steuerliche Maßnahmen für Umweltschutz und Energieeinsparung abgeschafft hat.
Ich nenne einige Beispiele: Mit dem § 7 d des Einkommensteuergesetzes wurden allein 1986 Umweltschutzinvestitionen von über 8 Milliarden DM ausgelöst.
({17})
Mit der Abschaffung zum 1. Januar 1991 fallen diese Anreize weg. Dies ist Bestandteil Ihrer Steuerreform. Das ist eine Steuerreform, die sich gegen die Umwelt und gegen die Interessen der nach uns kommenden Kinder auswirkt.
({18})
Herr Abgeordneter Schäfer, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein.
Ich nenne die Abschaffung des Investitionszulagengesetzes. Ich nenne die Abschaffung steuerlicher Sonderabschreibungen für Energieeinsparmaßnahmen in Gebäuden zum 1. Januar 1992, und ich nenne die Abschaffung von Sonderabschreibungen für Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen zum 1. Januar 1990, wodurch den erneuerbaren Energietechniken eine unerläßliche Hilfe zur Markteinführung entzogen wird.
Mit all diesen Maßnahmen betreibt die Bundesregierung den steuerpolitischen Kahlschlag beim Umweltschutz, bei der Energieeinsparung und bei den erneuerbaren Energien. Sie, Herr Töpfer, sind mitverantwortlich für diese drastische Verschlechterung der staatlichen Rahmenbedingungen für den Umweltschutz und für eine umweltverträgliche Energienutzung. So breit, Herr Töpfer, sind die Schultern von Herrn Dr. Stoltenberg gewiß nicht, daß sich der Umweltminister hinter ihnen verstecken könnte.
({0})
Schäfer ({1})
Wir haben bereits 1983 mit dem Konzept „Arbeit und Umwelt" die Anhebung von Steuern auf den Energieverbrauch ökologisch begründet, um neue und dauerhafte Arbeitsplätze in der Umweltschutzindustrie zu schaffen und um Umweltschäden zu beseitigen. Sie haben das abgelehnt und so die Chance verpaßt, aus der Umweltschutzindustrie eine Wachstumsindustrie zu machen. 400 000 neue Arbeitsplätze hätten hier entstehen können, wenn Sie unseren Vorschlag seit 1983 für ein Sonderprogramm „Arbeit und Umwelt" aufgegriffen hätten. Statt dessen ist die Massenarbeitslosigkeit gestiegen, nicht zuletzt auch als Folge Ihrer umweltpolitischen Untätigkeit.
Ich will aus umweltpolitischer Sicht noch etwas zu unserem aktuellen Vorschlag zur Besteuerung nicht erneuerbarer Energieträger sagen. Dieser Vorschlag beruht auf der Einsicht, daß für Umweltschutz, für rationelle Energieverwendung, für Energieeinsparung und für erneuerbare Energiequellen mehr getan werden muß. Angesichts der gewaltigen Probleme, vor denen wir stehen, muß doch die Zeit der schönen Worte und der kosmetischen Operationen vorbei sein.
Die Politik der Gegenwart - darüber sind wir uns doch zumindest theoretisch einig - darf nicht ein Anschlag auf die Zukunft sein. Wir würden unserer Verantwortung sonst nicht einmal annähernd gerecht werden.
Immer mehr Menschen begreifen dies. Sie begreifen, daß wir im Interesse unserer Kinder und unserer Kindeskinder umweltgerecht und energiebewußt leben müssen. Unser Vorschlag einer Energiesteuer ist das genaue Gegenteil dessen, was die Koalition mit ihren Verbrauchsteuerhöhungen bezweckt. Sie von der Koalition erhöhen die Verbrauchsteuern, um Haushaltslöcher zu stopfen
({2})
und ökonomisch unsinnige Steuergeschenke für Groß- und Spitzenverdiener zu finanzieren. Die 8 Milliarden DM, die Sie durch die Verbrauchsteuererhöhungen mehr einnehmen, geben Sie dafür aus, um die Steuerentlastung der einen Million Spitzen- und Großverdiener zu finanzieren. Das ist die bittere Wahrheit und nichts anderes.
({3})
Ziel und Zweck unseres Vorschlags ist der ökologische Umbau unserer Industriegesellschaft durch rationelle und umweltgerechte Erzeugung und Verwendung von Energie. Das Aufkommen aus diesen Steuern soll nicht dem Fiskus zugeführt werden, also lediglich die Staatseinnahmen verbessern. Es soll nach unserer Vorstellung den Bürgern an anderer Stelle, beispielsweise durch eine Entlastung bei der Lohn- und Einkommensteuer, zurückgegeben werden.
Noch eines, damit keine Mißverständnisse auftauchen und Sie von den Koalitionsfraktionen keine Legenden weben können: Im Gegensatz zu Ihnen und dem, was Sie Steuerreform nennen, werden wir für diejenigen, die von der Energiesteuer belastet werden, durch eine Senkung bei der Lohn- und Einkommensteuer wegen ihres geringen Einkommens aber nicht entlastet werden können - Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose und viele Rentnerinnen und Rentner zahlen z. B. keine Steuer - , einen sozialen Ausgleich schaffen.
Unser Vorschlag zielt auch auf den EG-Binnenmarkt und auf die Diskussion um die Harmonisierung der indirekten Steuern. Statt sich hinter Richtlinienentwürfen der Kommission zu verstecken, statt diese als Alibi für eigene Untätigkeiten vorzuschieben, müssen wir darauf drängen, daß die Notwendigkeiten der Umweltvorsorge und einer umweltverträglichen Energiepolitik endlich auch in die Steuerharmonisierung innerhalb der EG Eingang finden.
({4})
Das ist eine umwelt-, eine steuer- und eine wirtschaftspolitische Aufgabe, der wir uns innerhalb der EG zu stellen haben.
Ich will ein weiteres Feld kurz streifen, bei dem deutlich wird, daß bei Ihnen, Herr Töpfer, Schein und Sein, Reden und Handeln auseinanderfallen. Ich komme zur Energiepolitik. Am 17. Mai 1988 sagten Sie vor der Kerntechnischen Gesellschaft zur Kernenergie
({5})
- ich zitiere -:
Eine Technologie mit dem Anspruch Zukunftstechnologie kann und darf nicht gegen die Bevölkerung durchgesetzt werden.
Dieser Satz ist richtig. Nur, in Ihrer Politik halten Sie sich nicht daran. Heute müssen wir leider feststellen, daß Sie Ihre eigenen Grundsätze, wenn es um konkrete Entscheidungen bei der Kernenergie geht, nicht befolgen. Sie reden beispielsweise von einer Zukunft ohne Kernenergie und setzen gleichzeitig in Ihren politischen Entscheidungen, in Ihrem Handeln auf Technologien, die nur bei langfristiger Nutzung Sinn machen, wenn man nämlich langfristig auf Kernenergie setzen will.
Sie setzen beispielsweise immer noch auf den Schnellen Brüter, eine international absterbende Technik,
({6})
und wollen die Landesregierung Nordrhein-Westfalen vor das Verfassungsgericht zerren, nur weil es diese Landesregierung ernst meint mit dem Prinzip: Sicherheit geht vor anderen Interessen.
({7})
Das gleiche gilt, Herr Töpfer, für Ihre Haltung zur Wiederaufarbeitung. Sie setzen unverdrossen auf die Durchsetzung dieser gefährlichen und überflüssigen Technik,
({8})
und zwar gegen den erklärten Willen der Bevölkerung.
Dazu paßt beispielsweise Ihr Verhalten zum Abbruch des Anhörungsverfahrens zur Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf.
({9})
Schäfer ({10})
Was haben Sie getan, um das Bürgerrecht auf Beteiligung zu schützen, das die bayerische Landesregierung in absolutistischer Manier mit Füßen getreten hat?
({11})
Sie haben bis heute, Herr Töpfer, zu diesen skandalösen Vorgängen geschwiegen. Warum? Ich frage Sie: Warum? Für mich ist Ihr Schweigen nur als Zustimmung zu deuten.
(Roth ({12})
Oder haben Sie etwa Angst, erneut von Franz Josef Strauß gedeckelt zu werden?
Ein weiteres Beispiel für Ihre Politik des Nachgebens gegenüber den Interessen der Industrie ist der Fall Brokdorf. Wer kann noch, Herr Töpfer, Ihren schönen Reden und schönen Schwüren glauben, Sicherheit gehe Ihnen vor Wirtschaftlichkeit, nachdem Sie Druck auf eine Landesregierung ausgeübt haben, die den Grundsatz „Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit" bei der Kernenergie ernst nimmt? Sie haben in Brokdorf Ihren sicherheitspolitischen Sündenfall erlebt. Sie haben die Interessen der Betreiber vor die Interessen der Bevölkerung gestellt.
({13})
Ihre Pflicht wäre es gewesen, dem Betreiber aufzuerlegen, sofort die Sicherheitsmängel in Brokdorf zu beseitigen. Sie sollten, Herr Töpfer, endlich damit aufhören, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwekken, Sie wären für eine Zukunft ohne Kernenergie.
In Wahrheit - dafür stehen Ihr konkretes Handeln und die Beispiele Kalkar, Wackersdorf und Brokdorf -, in der Wirklichkeit Ihrer Politik, nicht in Ihren Reden, unterscheiden Sie sich keinen Deut von Ihrem Amtsvorgänger. Auch Sie sind ein Atomminister.
({14})
Die Kluft zwischen Sein und Schein, zwischen Reden und Handeln, wird auch deutlich, wenn man sich anschaut, was aus den vollmundigen Ankündigungen der Koalitionsvereinbarungen zum Umweltschutz bisher auf den Weg gebracht wurde. Es liegt z. B. kein neues Umwelthaftungsrecht vor, die Novelle zum Chemikaliengesetz steht noch immer aus - um nur zwei Beispiele zu nennen. Selbst Herr Baum beklagt, daß die wichtigsten Gesetzentwürfe fehlen und daß eine Gesetzesoffensive nötig ist. Ich verweise auf die Presseerklärung, Herr Baum, vom 2. September 1988.
Auch Ihre Haltung zur Verankerung des Umweltschutzes im Grundgesetz, Herr Töpfer, kann man unter der Überschrift Schein und Sein, Reden und Handeln abhandeln. Während Sie in Festreden gerne - ich füge hinzu: zu Recht - das Eigenrecht der Natur hervorheben, schweigen Sie beharrlich zu einem Vorschlag des Justizministers, der nicht nur auf den Schutz des Eigenrechtes der Natur verzichtet, sondern sogar durch einen Gesetzesvorbehalt das Staatsziel Umweltschutz zu einem Staatsziel zweiter Klasse machen will.
({15})
Einen solchen Etikettenschwindel werden wir nicht mitmachen.
Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch, beispielsweise für eine nationale Anstrengung zur Rettung der Nordsee und der Gewässer, für eine sichere Energieversorgung ohne Atomkraft. Wir haben Konzepte erarbeitet und vorgelegt zur Erhöhung der Energieproduktivität, zur umweltfreundlichen Kohlenutzung und zur Förderung erneuerbarer Energiequellen. Wir halten unbeirrt am Jahrhundertvertrag fest. Wir erwarten, daß der Bundeswirtschaftsminister endlich die finanzielle Absicherung dieses Vertrages bis 1995 jetzt, heute unter Dach und Fach bringt.
Unser Energieprogramm bedeutet den Abbau der Gefahren, die mit der Atomkraft verbunden sind, und zeigt Wege aus der Gefahr der Klimakatastrophe. Unsere Vorschläge liegen vor für eine umweltverträgliche Chemiepolitik, die nicht neue chemische Zeitbomben produziert und die die Arbeitsplätze in der chemischen Industrie zukunftssicher macht, weil sie sie umweltverträglich und gesundheitsverträglich gestaltet.
Unser nationales Programm zur Sanierung der Altlasten liegt vor, ebenso unsere Vorschläge für ein neues Umwelthaftungsrecht, das eine umweltverträgliche Produktion in einzelnen Unternehmen ohne bürokratischen Aufwand, marktwirtschaftlich gleichsam, ermöglicht.
Schließlich liegt eine ökologisch orientierte Steuerreform von uns auf dem Tisch, die umweltverträgliche Produktion und umweltverträgliches Verhalten fördert und schädliches Verhalten verteuert. Wir wollen, daß das ökologisch Notwendige das ökonomische Handeln bestimmt. Wir wollen den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz ohne Wenn und Aber verankert wissen.
Ich komme zum Ausgangspunkt meiner Rede zurück. Wir haben wenig Zeit. Wir müssen handeln, und zwar jetzt. Die Zeit der Ankündigungen muß vorbei sein. Unsere Konzepte liegen auf dem Tisch. Wir Sozialdemokraten sagen - und wissen uns der Unterstützung der Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger sicher - : Die ökologische Erneuerung unserer Industriegesellschaft duldet keinen Aufschub.
Ich bedanke mich bei Ihnen.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Schäfer, ich gebe Ihnen recht: Der Umweltschutz hat sich in den letzten Jahren zu einem zentralen Thema in der Öffentlichkeit entwickelt.
({0})
Die Bürger sind sensibel geworden. Das geschieht mit Recht.
In keinem anderen Land hat eine Regierung so nachdrücklich und umfassend ein umweltpolitisches
Gesamtkonzept in Angriff genommen und Zug um Zug umgesetzt wie bei uns. Wenn Sie von hinterherlaufen reden, dann will ich nicht die alte Trickkiste aufmachen zu sagen, daß es für andere immer notwendig ist hinterherzulaufen, wenn irgendwo einer zuwenig tut. Das war in der Tat eines unserer großen Probleme in diesem Bereich.
({1})
Dieser umweltpolitische Kraftakt wäre - das möchte ich heute auch sagen - nicht möglich gewesen ohne eine hervorragende Zusammenarbeit unter den Koalitionspartnern. An dieser Stelle herzlichen Dank auch an die Kollegen, die hier in den letzten Jahren maßgeblich mitgestaltet haben wie z. B. Herr Dr. Laufs, Herr Baum. Das gilt ebenfalls für die Zusammenarbeit mit den jeweiligen Ministern, auch für Minister Professor Klaus Töpfer. Das war eine gute Zusammenarbeit in den letzten Jahren.
Lassen Sie mich Bilanz ziehen, eine nüchterne Bilanz, wie dies auch Herr Schäfer tun wollte. Ich finde, selbstgefällige Zufriedenheit kann es im Umweltschutz in der Tat nicht geben, weder heute noch morgen. Hier gilt es stets, neue Hindernisse aus dem Weg zu räumen, um voranzukommen, und zwar national wie auch international. Der Kollege Lambsdorff hatte heute morgen gesagt: Hier sind wir noch nicht am Ende; wir haben das Ziel noch nicht erreicht.
Wie haben in den vergangenen Jahren ein Kernstück im Bereich der Luftreinhaltepolitik auf den Weg gebracht. Herr Kollege Schäfer, diese Umwelt, die Sie beschreiben, läßt sich sehr wohl auch anders beschreiben. Ich möchte Ihnen deutlich machen, daß im Bereich der Großfeuerungsanlagen-Verordnung statt zwei Millionen t Schwefeldioxidausstoß im Jahre 1982 heute nur noch 0,7 Millionen t ausgestoßen werden, also zwei Drittel weniger, daß statt einer Millionen t Stickoxide pro Jahr wie 1982 heute nur noch 0,6 Millionen t ausgestoßen werden, also fast die Hälfte weniger. Ich finde, dies sind meßbare Erfolge, und diese Erfolge werden sich fortsetzen.
Welche enormen Umweltinvestitionen durch unsere Politik ausgelöst wurden, möchte ich Ihnen an diesem Beispiel in Erinnerung rufen: 23 Milliarden DM an Investitionskosten alleine im Bereich der Großfeuerungsanlagen-Verordnung.
Wenn Sie heute die Presse lesen, Herr Kollege Schäfer, werden Sie feststellen - ich darf zitieren - :
Auf den Straßen der Bundesrepublik fahren in der Jahresmitte 8,4 Millionen schadstoffreduzierte Autos.
Ich finde, auch dies ist ein Erfolg dieser Bundesregierung.
({2})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Bitte sehr.
Ist Ihnen bekannt, daß der Herr Innenminister damals gescheitert ist, das 3-Wege-Katalysator-Auto zum Umweltstandard der EG zu machen, und von daher unter der Zahl der schadstoffarmen Autos nur ein Bruchteil mit 3-Wege-Katalysator ausgestattet ist, der Umweltschutz also auf der Strecke geblieben ist?
Ich will Ihnen sagen, daß es völlig falsch ist, was Sie hier erzählen und in Frageform kleiden. Wir haben heute 2,2 Millionen Fahrzeuge mit Katalysator.
({0})
Wir haben erreicht, daß sich dieses Fahrzeug europaweit durchsetzt. Dies ist das Ergebnis einer Strategie, der die Opposition noch im Jahre 1985 in umfangreichen Verbalschlachten im Deutschen Bundestag den Bankrott voraussagte. Es ist unser Erfolg. Wenn Sie die Zahlen hören wollen: Bei den Neuzulassungen erhöhte sich der Anteil schadstoffreduzierter Pkws von 14,4 % im Januar 1986 auf 72,5 % zu Beginn des Jahres 1988. Dies spricht deutlich für unsere Politik und für unsere Strategie.
({1})
Das gleiche gilt im übrigen auch für das bleifreie Benzin. Der Markt reagierte hier wesentlich schneller, als die Kassandrarufe der Opposition verhallten. Heute haben wir ein flächendeckendes Netz, eine flächendeckende Versorgung mit bleifreiem Benzin und das Ergebnis: 1 500 t weniger Bleiemissionen in diesem Jahr. Ich finde, dies ist ein Erfolg, dies ist ein Erfolg für unsere Umwelt.
Im Bereich der Luftreinhaltung wurde während unserer EG-Präsidentschaft ein weiterer Fortschritt erzielt: Ich darf Sie an die Übernahme der Großfeuerungsanlagen-Verordnung erinnern. Hier gilt es natürlich weiterzugehen. Unser Ziel heißt hier: Stand der Technik. Unser Ziel heißt: 3-Wege-Katalysator europaweit. Unser Ziel heißt: Partikelwerte in Europa von 0,8 Gramm/Test und weniger durchzusetzen. Unser Ziel heißt, partikelfreie Emissionen auch von Lkws und schweren Nutzfahrzeugen europaweit. Wir sind auf diesem Wege. Wir sind nicht in der Diskussion; hier gibt es bereits die ersten Beschlüsse. Wir wollen die Einführung der Rußfiltertechnik. Wir wollen, daß die Industrie auch national hier freiwillig weitergeht. Ich halte dies für viel wichtiger als Anzeigen eines Autoindustrie-Verbandes, die ich einmal bezeichnen will - nach eigener Aussage, wie es nachzulesen war - als plump und platt. Solche Anzeigen nützen der Umwelt nichts. Wir wollen, daß die Industrie freiwillig vorangeht, nicht Anzeigenkampagnen, die die Dinge konterkarieren und uns überhaupt nicht weiterhelfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, drohende Klimaveränderungen durch den Treibhauseffekt sowie die zu erwartenden Folgen des Ozonabbaus in der Stratosphäre zeigen uns in der Tat eine neue Dimension der Gefährdung. Wir müssen Sorge haben, daß diese Entwicklung so weitergeht und wir keine Möglichkeiten finden, diese Entwicklung zu
stoppen. Die Schwierigkeit besteht darin, Änderungen im Bereich einer äußerst komplexen Problematik durchzusetzen, die als Bedrohung plastisch nicht dargestellt werden kann und deren negative Auswirkungen erst viel später für uns alle sichtbar werden. Auf unsere Initiative hin wurde eine Enquete-Kommission eingesetzt, mit der Mehrheit der Stimmen aller hier im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien. Dies war gut so, dies war ein erster Schritt.
({2})
Der Bundeskanzler hat den Schutz der Erdatmosphäre sowohl in seiner Regierungserklärung als auch auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Toronto und auf dem EG-Gipfel in Hannover zu seinem Thema gemacht. Und in der Tat: Treibhauseffekt und stratosphärischer Ozonabbau erfordern gewaltige nationale und internationale Anstrengungen.
Auf Grund der bisherigen Erkenntnisse der Enquete-Kommission ergibt sich für uns alle eine Pflicht zum Handeln. Es muß alles unternommen werden, um den Treibhauseffekt zu stoppen. Im einzelnen zeichnen sich folgende politische Forderungen für uns ab:
Es ist ein weltweites Rahmenabkommen zum Schutz der Erdatmosphäre, zur Vermeidung und Reduzierung aller beteiligten Spurengase aufzustellen und spätestens zu Beginn der 90er Jahre auf den Weg zu bringen. Dies muß vor allem Strategien für die zukünftige weltweite Energieversorgung enthalten, um die Emissionen dieser Spurengase zu verringern. Und hier, Herr Kollege Schäfer, haben wir in der Tat viel Diskussionsbedarf: Wo geht dieser Weg hin? Wie müssen wir dies anpacken?
Das Wiener Übereinkommen und das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht sind richtige und wegweisende internationale Vereinbarungen. Dies reicht nicht aus. Wir wissen heute alle - und auch dies gilt für die Aussagen der Enquete-Kommission - , daß eine 50%ige Reduzierung bis 1999 nicht ausreicht. Dies muß weitergehen. Wir brauchen eine mindestens 90%ige Reduzierung der Fluorchlorkohlenwasserstoffe bis zum Jahre 2000. Wir schließen uns den Forderungen der Enquete-Kommission an, das Montrealer Abkommen zu verschärfen, zu aktualisieren, fortzuschreiben.
Zur Rettung der tropischen Regenwälder müssen so schnell wie möglich wirksame Maßnahmen getroffen werden, um der weiteren Entwicklung in diesem Bereich Einhalt zu gebieten. Mitglieder des Parlaments konnten sich davon überzeugen, was es heißt, in einem Jahr 20 Millionen Hektar tropischer Regenwälder zu roden - 20 Millionen Hektar, 200 000 Quadratkilometer. Das heißt: Wir haben Rauchwolken von 1,5 Quadratkilometer Ausdehnung in diesen Bereichen am Amazonas.
({3})
Die Bundesregierung hat auch hier, Herr Kollege Schäfer, Maßnahmen ergriffen, die weit über die völkerrechtlichen Verpflichtungen nach dem Wiener Übereinkommen und dem Montrealer Protokoll hinausgehen. Wir haben freiwillige Vereinbarungen erzielt, die zu einer 90%igen Reduzierung in einem Anwendungsbereich führen. Dies war der Minister Töpfer, von dem Sie vorhin sagten, er mache nur Ankündigungen. Nein, dies ist ein Minister, der handelt. Wenn Sie Beispiele brauchen, so kann ich Ihnen die hier in einer langen Liste aufzählen.
Wir haben dieses Abkommen national umgesetzt. Dieser Minister hat dafür gesorgt,
({4})
daß im europäischen Bereich über Montreal hinaus eine Entschließung gefaßt worden ist, daß sich Europa bereit erklärt hat, mehr zu tun als notwendig. Das war auch eine der Initiativen dieses Ministers.
({5})
Herr Abgeordneter, bevor ich die Frage an den Redner stelle, ob er eine Zwischenfrage zulassen will, müssen Sie es dem Präsidenten überlassen, wann er den Abgeordneten, der am Rednerpult steht, unterbricht. Das ist nicht Ihre, sondern allein die Entscheidung des jeweils amtierenden Präsidenten.
Und dann, wenn Sie die Frage gestellt haben, bitte ich Sie, so lange am Mikrophon zu verharren, bis auch die Antwort gegeben ist. Das ist in diesem Hause üblich. - Bitte sehr.
Herr Präsident, darf ich darauf aufmerksam machen, daß die Uhr jedes Mal um mehrere Minuten weitergelaufen ist. Ich möchte also im Augenblick keine weiteren Zwischenfragen zulassen.
Wollen Sie diese Frage zulassen?
Nein, ich möchte jetzt keine Zwischenfrage zulassen.
Bitte sehr, fahren Sie fort.
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Umweltpolitik ist der Gewässerschutz. Wir haben in der vergangenen Legislaturperiode in vielen Diskussionen die Wassergesetze auf den Weg gebracht: Wasserhaushaltsgesetz, Abwasserabgabengesetz, Waschmittelgesetz. Damit, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist der Grundstein für die Wasserreinhaltung gelegt. Die Wassergesetze müssen jetzt umgesetzt, fortentwickelt werden. Die besten Vorschriften nützen wenig, wenn ihre Einhaltung nicht ausreichend überwacht wird. Alle Möglichkeiten der Verbesserung der Vollzugspraxis sind auszuschöpfen. Dazu gehört, daß die Länder ihre Daten dem Bund geben und mit dem Bund zusammenarbeiten.
Wir befürworten die Absicht der Bundesregierung zum 10-Punkte-Katalog. Herr Kollege Schäfer, ich empfinde ihn als eine hervorragende Basis unserer weiteren Beratungen. Auch wenn Sie dies in der Presse nach der gemeinsamen Besprechung nicht so deutlich artikulieren konnten, wollen wir gemeinsam
mit Ihnen versuchen, auf dieser Basis voranzukommen.
({0})
Wir begrüßen die Zusage des Bundeskanzlers, möglichst rasch ein zusätzliches Luftüberwachungssystem der zweiten Generation für die Nordsee zu beschaffen und einzurichten. Denn wir finden, die Regelungen zum Schutz der Gewässer der Nordsee und der Ostsee müssen aktualisiert werden. Dazu gehört - Herr Kollege Baum hat das in seiner Presseerklärung ja bereits veröffentlicht - die Novellierung des Abgabenabwassergesetzes durch die Einführung neuer Parameter: Phosphor und Stickstoff. Die Begrenzung gefährlicher Stoffe nach dem Stand der Technik in industriellen Abwässern ist unabdingbar. Gewässerrandstreifen müssen vorrangig aus Düngung und Pflanzenbehandlung herausgenommen werden. Hierzu erwarten wir von der Bundesregierung ein Gewässerrandstreifen-Programm.
({1})
- Wenn ich Ihnen dazu gleich die Antwort geben darf: Ich finde, ein hoher Prozentsatz des Strukturhilfeprogramms sollte für Umweltschutzmaßnahmen besonders im Gewässerbereich verwendet werden.
Doch mit nationalen Maßnahmen allein läßt sich die Nordsee nicht sanieren. Deshalb haben wir den Schutz der Nordsee bereits 1984 zu einem internationalen Thema gemacht. Jedem hier sind die Anstrengungen bekannt. Jeder weiß, daß wir die Ziele noch nicht erreicht haben. Jeder weiß, daß wir zwar national wesentlich weiter sind, daß es aber noch nicht gelungen ist, alle Anliegerstaaten hier zu einem gemeinsamen richtigen Pakt der Vernunft für die Nordsee zu gewinnen. Wir fordern, daß an der nächsten internationalen Nordseeschutz-Konferenz 1990 auch die Länder teilnehmen, die bislang nicht unmittelbar teilgenommen haben, wohl aber an der Umweltbelastung der Nordsee einen erheblichen Anteil haben und die Nordseeverschmutzung erheblich mitverursachen.
Wir wollen eine Konvention zum Schutz der Elbe und eine trilaterale Kommission, die von der Bundesrepublik Deutschland, der CSSR und der DDR gebildet wird, um durchgreifende Änderungen der Gewässergüte der Elbe zu erreichen. Im Gegensatz zur Opposition ist für uns die Legislaturperiode, Herr Kollege Schäfer, noch nicht zu Ende. In Kürze werden wir auch die Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes im Parlament beraten. In Kürze werden wir auch das Chemikaliengesetz von 1980 novellieren. Und in Kürze werden wir den Regierungsentwurf zur Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes einbringen.
({2})
Der von der Bundesregierung dem Bundesrat bereits zugeleitete Gesetzentwurf der Umweltverträglichkeitsprüfung wird von uns ausdrücklich begrüßt. Wir werden in Kürze in diesem Haus das Gesetz zur Errichtung des Bundesamts für Strahlenschutz beraten.
Herr Kollege Schäfer, darf ich Ihnen zum Schluß noch etwas zu Ihrem Thema Kernenergie sagen. Im Bereich der Kernenergie ist die SPD jede Antwort schuldig geblieben, wie sie bei einem Ausstieg aus der friedlichen Nutzung der Kernenergie die zu erwartenden zusätzlichen Belastungen für die Umwelt vermeiden will. Selbst der Hamburger Energiesenator Kuhbier hat bei der Vorlage des Gutachtens des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung am 26. August 1988 zugeben müssen, daß der mit dem Verzicht auf die Nutzung der Kernenergie verbundene Anstieg der Kohlendioxidbelastung ein ernstzunehmendes Problem ist. Aus dem Gutachten hat Kuhbier die Erkenntnis gewonnen, daß ein Ausstieg nur bundeseinheitlich erfolgen könne, wobei der Bund die Entschädigungen zu zahlen habe. Wie hat doch eine bedeutende deutsche Tageszeitung dies zutreffend kommentiert? Ich zitiere: „Dem vielzitierten kleinen Moritz wäre wohl auch nicht mehr eingefallen. Eine politische Bankrotterklärung von hohem Seltenheitswert! " Herr Kollege Schäfer, überlegen Sie sich dies sehr gut.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Daniels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist eigentlich nicht der Rede wert, über den Haushalt eines Ministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu beraten,
({0})
der mit 1,8 Promille des Bundeshaushalts ein Schattendasein fristet.
({1})
Seine überproportionale Steigerung entspricht darüber hinaus nicht plötzlicher politischer Einsicht, sondern ist nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
({2})
allein zur Entsorgung mehrerer Dutzend Güterwaggons mit radioaktivem Molkepulver notwendig geworden.
({3})
Das Forschungsministerium hantiert immerhin mit 880 Millionen DM für Aufgaben oder Maßnahmen mit sogenannter umweltverbessernder Wirkung. Töpfer muß mit 530 Millionen DM seinen Gesamtbetrieb schmeißen. Das zeigt mir: Das Kabinett begreift das Umweltministerium vorrangig als seine Public-Relations-Abteilung für Umweltkrisen.
({4})
Sie wollen der zu Recht beunruhigten Bevölkerung vorgaukeln, daß sie auf die tagtäglichen Umweltkatastrophen reagieren. Ihre tatsächliche Aufgabe, Herr Töpfer, ist es aber, die eingewöhnte Politik mit ihrer Fixierung auf wirtschaftliches Wachstum zu dekken und andererseits als Baldrian der Nation Betroffenheit zu zeigen, Beschwerden entgegenzunehmen
Dr. Daniels ({5})
und ununterbrochen Zuversicht auszustrahlen. Sie schauen einer toten Robbe ins Maul, tauchen durch den toten Rhein, stellen sich besorgten Eltern als Konfliktberater zur Seite und geben Weisheiten zur Atomenergie zum besten:
Wir müssen eine Zukunft ohne Kernenergie erfinden; aber wir können doch heute nicht verzichten, wenn diese Zukunft noch nicht da ist.
Finden Sie nicht auch, Herr Töpfer, daß es eine traurige Rolle ist, die Sie da übernommen haben? Sie wissen selbst sehr genau, wie wenig Sie in diesem Geschäft am Grundsätzlichen ändern können. Sie können höchstens damit rechnen, bei jeder Katastrophe scheibchenweise einen Einflußzuschlag durchzudrücken. Nur deswegen konnten Sie z. B. mit dem Transnuklear- Skandal das Bundesamt für Strahlenschutz erfinden, das am Ende leider wieder nur die Nuklearindustrie vor der Bevölkerung schützt.
({6})
Ich frage Sie: Was hat Ihnen der Bundeskanzler geantwortet, als Sie in diesem Sommer mit dem Blick auf die bevorstehenden Haushaltsberatungen ein Veto des Umweltministers gefordert haben? Er hat Ihnen wahrscheinlich gar nicht zugehört. Wie unverzichtbar diese Forderung ist, will ich an einigen Beispielen erläutern.
Im Landwirtschaftshaushalt ist immer noch die Flurbereinigung vorgesehen, mit der lebenswichtige Biotope zerstört werden. Erstmals werden Mittel für die Einstellung landwirtschaftlicher Betriebe bereitgestellt. Damit wird die Konzentration zu den Agrarfabriken, z. B. den Kälbermastfabriken, vorangetrieben. Die Flächenstillegung wird mit weiteren 250 Millionen DM finanziert. Sie wird entgegen den Regierungsverlautbarungen die kleinen Betriebe nicht vor der Pleite bewahren und auch keine Umweltentlastungen mit sich bringen. Wo war hier Ihr Veto, Herr Töpfer?
({7})
Im Verkehrsbereich wird mit mehr als 4 Milliarden DM der Ausbau des umweltzerstörenden Autobahnnetzes vorangetrieben. Über 5 Milliarden DM sollen in das völlig unsinnige Transrapid-System gesteckt werden, und weitere 300 Millionen DM werden in den Rhein-Main-Donau-Kanal versenkt. Wo war hier Ihr Veto, Herr Töpfer?
({8})
Im Forschungshaushalt wird die Gentechnik massiv gefördert, ganz zu schweigen vom Energiebereich. 700 Millionen DM gibt es für die Atomenergie und noch einmal 200 Millionen DM für die Kernfusion.
Dieser Bundeshaushalt ist deswegen ein ökologischer Schadenshaushalt.
({9})
Er trägt zur Fortsetzung der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen bei. Dieser Haushalt hält erst recht keiner Umweltverträglichkeitsprüfung stand.
({10})
Ihr Haushalt gibt also nichts her für eine Wende in der Umweltpolitik.
Aber auch die Instrumente, Herr Töpfer, die im Zentrum Ihrer Umweltpolitik stehen, tragen dazu nichts bei. Ihr Kooperationsprinzip, das Sie neben dem Vorsorgeprinzip und dem Verursacherprinzip zur Grundlage Ihrer Bemühungen erklärt haben, verbirgt eine der großen Lebenslügen dieser Bundesregierung. Das Wort Kooperation heißt ja zunächst nichts anderes als Zusammenarbeit, ist also positiv besetzt. Bezogen auf die Umweltpolitik müßten also diverse Interessengruppen zur Bewältigung der ökologischen Krise kooperieren. Ich frage Sie: Wer kooperiert denn derzeit in der Umweltpolitik mit wem? Kooperation à la Töpfer heißt, daß sogenannte freiwillige Absprachen ausschließlich zwischen staatlichen Organisationen und der Industrie ausgemauschelt werden. Den krassen Mißerfolg dieses Instrumentes haben wir im Abfallbereich und bei den Treibgasen gesehen.
Würde dieser Begriff ernstgenommen, so müßte über ökologische Belange und Zielvorstellungen ein gesamtgesellschaftlicher Diskussionsprozeß in Gang gesetzt werden. Das ist deswegen unverzichtbar, weil Ihre Technologie-, Wirtschafts- und Umweltpolitik auf die Schaffung einer synthetischen Umwelt, die Schaffung einer kümmerlichen, wirtschaftlich absolut verwertbaren und patentierbaren Umwelt hinausläuft.
({11})
Einer der Repräsentanten dieser Zielvorstellung und Stichwortgeber, dem die Regierung folgt, ist der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Hubert Markl. So behauptete er vor kurzem, die Ursache der ökologischen Krise sei nicht so sehr das exzessive und räuberische Wirtschaften, sondern die Normalität der evolutionären Entwicklung; denn Raffgier, Habgier und Bedenkenlosigkeit beschleunigten nur das, was durch die Evolution eh geschehe. Er sieht eine große Chance zur Bewältigung dieser Krise in der Anwendung der Gentechnik und und hält es für völlig übertrieben, darin gleich einen Frevel an der eigens „heilig gesprochenen" Evolution zu sehen.
Also, wagen wir doch den Sprung in die synthetische Plastikwelt mit den manipulierten Lebewesen. Professor Markl dürfte fasziniert sein über eine kleine künstlich erzeugte Welt, die im amerikanischen Bundesstaat Arizona entwickelt wird. Dort soll unter einer Glashaube eine Art zweite Biosphäre für das Leben nach dem Zusammenbruch unseres Ökosystems geschaffen werden: der Mensch in einer Arche, die ihm im Weltraum oder auf der Erde zum Überleben verhelfen könnte. Nachahmer findet dieses Projekt aber auch in der Bundesrepublik.
Zynisch werden die zerstörten Lebensgrundlagen als wissenschaftliche Konstante hingenommen. Menschsein ist nichts anderes mehr als technischer Faktor im wissenschaftlichen Fortschritt. Diese Art Zukunftsbewältigung werden wir bekämpfen.
({12})
Die Gefahren einer auf Wissenschaftsgläubigkeit basierenden Technik sind nicht kalkulierbar. Wir wissen nicht, ob der Satellit mit den 50 kg Uran in der Bundesrepublik aufschlagen wird oder anderswo. Wir wissen nicht, wann bei den wahnsinnigen Tiefflügen ein Atomkraftwerk hochgehen wird. Wir wissen auch
Dr. Daniels ({13})
nicht, ob sich in den nächsten 20 Jahren Tschernobyl wiederholen wird. Es nützt uns nichts, daß Ihre Wissenschaftler versuchen, mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung diese Gefahren wieder aus dem Bewußtsein der Menschen herauszutransportieren.
Wir GRÜNEN sind die Rufer in der Wüste. Wir werden weiter vor Fehlentwicklungen und drohenden Katastrophen warnen. Wir empfinden wahrlich keine Befriedigung, wenn unsere Befürchtungen, wie jetzt zuletzt geschehen, in schrecklichen Katastrophen Wirklichkeit werden.
Es gibt keinen Automatismus in die Katastrophe. Wir können uns auch anders entscheiden. „Anders entscheiden" meint, früher für zukünftige Entwicklungen ökologische Weichenstellungen vorzunehmen. Eine solche Weichenstellung will ich Ihnen exemplarisch an der Verschmutzung unserer Flüsse und Meere erläutern.
Im 19. Jahrhundert wurden die Flüsse zur Vorflutern und die Nordsee als Abfalleimer für unsere Scheiße verwertet. Heute, hundert Jahre später, erleben wir das Desaster. Es gab vor hundert Jahren bereits eine ausgereifte andere Technik. Die Scheiße sollte nicht aus den Wohnungen weggeschwemmt, sondern samt Gerüchen aus den Wohnungen abgesaugt werden, um sie anschließend zu kompostieren. Sie brauchen nicht die Nase zu rümpfen, ich will Ihnen nur deutlich machen, daß damals von Politikern die Weichen falsch gestellt worden sind.
Heute, in diesem Haushalt, geht es um die Frage, wie die Nordsee saniert werden soll, auf welche Weise die Kosten für die dringend notwendige Phosphateliminierung aufgebracht werden. Sie schlagen vor, daß die dazu notwendigen 15 Milliarden DM von den Kommunen aufgebracht werden. Wie wir in dieser Debatte schon oft gehört haben, sollen die Kommunen, die durch die Steuerreform ohnehin in Finanzschwierigkeiten gebracht worden sind, diese zusätzlichen Mittel dadurch aufbringen, daß sie die Haushalte mit hohen Abwasserabgaben belegen. Das macht pro Haushalt 300 DM im Jahr mehr aus. Natürlich haben wir im Prinzip nichts dagegen, daß Umweltschutz uns alle etwas kostet, vor allem von allen bezahlt werden muß. Aber Ihre Weichenstellung führt nur dazu, daß wir Bürger mehr bezahlen müssen und daß sich die wachsende Umweltreparaturindustrie eine goldene Nase verdient.
Bleiben wir bei den Phosphaten. Soll die Algenblüte, also die Eutrophierung der Gewässer, jetzt gestoppt werden, dann müßten 96 % des Phosphats eliminiert werden. Ihre Entscheidungen, die jetzt eingeleitet werden, bringen allenfalls 75 % Eliminierung der Phosphate. Das ist zwar viel, rettet die Nordsee aber keinesfalls, weil die Algenblüte so nicht eingedämmt werden kann. Dabei sind die für eine vollständige Eliminierung der Phosphate notwendigen Schritte längst bekannt. Zusätzlich wäre es sinnvoll und notwendig, daß nach einer Eliminierung der Phosphate diese selbst in Dünger weiterverarbeitet werden, anstatt wie bisher daran festzuhalten, cadmiumbelasteten Phosphatdünger zu importieren.
Nicht nur an diesem Beispiel, sondern auch an einigen anderen zeigt sich die falsche Grundstruktur Ihrer Politik. Nehmen wir die Biozide. Ich will Ihnen hier keinen Vortrag über die Verseuchung des Grundwassers mit Pflanzenmittelrückständen halten. Sie können das in den Zeitungen lesen. Unüberhörbar hat der Bundesverband der Gas- und Wasserwerke Alarm geschlagen. Der Absatz an Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik beträgt wertmäßig 1 Milliarde DM. Die Reinigungskosten für die Wasserwerke, um wenigstens die in Kürze gültigen Grenzwerte einhalten zu können, belaufen sich dann auf 7 Milliarden DM. Das wird natürlich wieder der Verbraucher bezahlen. Was sagt der Bundeshaushalt dazu? - Fehlanzeige. Die BBA, die biologische Gesundbetungsanstalt für Biozide in Braunschweig, wird brav weiterfinanziert. Die Vergiftung wird staatlich sanktioniert.
Weitere Beispiele lassen sich beliebig anführen. Denken Sie nur an das Transrapid-System, den Hochtemperatur-Modulreaktor als sogenannten Notausgang für die Atomindustrie und den Jäger 90. In 10, vielleicht in 20 Jahren darf dann ein Nachfolger von Ihnen, Herr Töpfer, unsere Kinder mit dann vielleicht 3 000 DM für eine Reparatur zur Kasse bitten, und das nur deshalb, weil Sie, ohne auf die Einwände in der Öffentlichkeit einzugehen, den gigantischen HighTech-Durchbruch wider alle Vernunft organisieren und finanzieren wollen.
Es geht uns heute nicht mehr darum, mit Millionen zwischen verschiedenen Haushaltstiteln zu jonglieren, damit Sie, Herr Töpfer, mit Ihrem Umwelthaushalt Ihr Klassenziel, die Zwei-Promille-Marke, endlich erreichen. Nein, heute müssen ökologische Weichen für die Zukunft gestellt werden. Der ökologische Umbau unserer Gesellschaft wird zur vorrangigen Aufgabe für die letzten Jahre unseres 20. Jahrhunderts. Ökologische Politik zielt auf einen übergreifenden Ansatz. Sie versteht sich als ein Gesamtpaket, in dem Wirtschafts-, Finanz- und Strukturpolitik unter ökologischen Gesichtspunkten einheitlich definiert werden.
Meine Damen und Herren, im Spannungsfeld von ökologischer Verträglichkeit, sozialer Gerechtigkeit und volkswirtschaftlicher Finanzierbarkeit muß die Weichenstellung erfolgen, die den Grundstein für eine ökologische Gesellschaft legt. Das heißt für hier und jetzt, daß alle wirtschaftlichen und umweltbelastenden Unternehmungen unseres Industriesystems auf ihre ökologische Tauglichkeit zu untersuchen sind.
({14})
Zu begreifen, daß die Umwelt die Grundlage allen wirtschaftlichen Handelns bildet und durch die gegenwärtige Entwicklung global gefährdet ist, ist dieser Regierung - nach allem, was wir gehört haben - offenbar nicht möglich.
Meine Damen und Herren, grüne Umweltpolitik setzt im Gegensatz zu den Beschwichtigungsversuchen dieser Regierung auf ein differenziertes Instrumentarium. Drei Elemente möchte ich hier kurz erläutern.
Erstens. Eine ökologisch und sozial orientierte regionale Strukturpolitik, um eine selbstbestimmte und
Dr. Daniels ({15})
dezentrale Entwicklung wieder möglich zu machen, die Verpflichtung von Unternehmen zur Aufstellung von Umweltbilanzen und eine Umstrukturierung des Finanzsystems, hin zu einer steuerlichen Belastung von Umweltnutzung. Vorschläge zu einer ökologischen Steuerreform, die im Gegensatz zu Ihrer Steuerreform ihren Namen verdient, liegen seit längerem auf dem Tisch. Ich verweise auf die Studie des Heidelberger Umweltprognoseinstituts.
Zweitens. Ordnungspolitische Maßnahmen - dazu gehören Verbote und Gebote - sowie eine ökologische Umverteilung der Staatsausgaben. Forschungsförderung zugunsten der Umwelt, Umweltverträglichkeitsprüfungen sowie Maßnahmen zur Sanierung bestehender Umweltschäden, um nur einige Stichworte zu nennen. Selbstverständlich gehört in diesen Zusammenhang der in einer vielbeachteten Anhörung von uns vorgestellte Entwurf zum Umwelthaftungsrecht.
Drittens. Eine Öffnung der Politik durch Bürgerbeteiligung. Dazu gehören die Mobilisierung eines ökologisch verantwortlichen Verbraucherverhaltens und die Schaffung von Transparenz in der Verwaltung. Dazu hat meine Fraktion bereits einen Gesetzentwurf zum Akteneinsichtsrecht vorgelegt, der hier hoffentlich bald beschlossen werden kann.
Meine Damen und Herren, natürlich wissen auch wir GRÜNE heute nicht, wie die ökologisch ausgerichtete Gesellschaft im dritten Jahrtausend im Detail aussehen wird, aber eines ist gewiß: Entweder werden die Weichen für eine ökologische Entwicklung heute gestellt, oder wir hinterlassen unseren Nachkommen den größten Dreckhaufen der Menschheitsgeschichte.
({16})
Ich glaube persönlich, daß zu dieser neuen ökologischen Politik auch gehört, daß sich die Menschen zu neuen ethischen Werten hinwenden, die Fähigkeit entwickeln, nach innen zu sehen, und die Intelligenz ihrer Herzen neu entfachen.
({17})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nordsee, Treibhauseffekt, Ozonschicht, Vernichtung der Regenwälder, all dies zeigt, daß die Gefährdungen der Lebensgrundlagen auf dieser Erde nicht zu Ende sind. Im Gegenteil, der globalen Dimension vieler Umweltgefahren kann allein mit nationalen Maßnahmen nicht begegnet werden. Die anhaltende Bevölkerungsexplosion in der Dritten Welt, die anhaltende Übernutzung natürlicher Ressourcen, vor allem durch uns, die Industrieländer, drohen in der Tat zu einer entscheidenden Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Ökosystems dieser Welt zu werden.
Auch das fortschreitende Aussterben von Pflanzen- und Tierarten ist ein irreparabler Verlust, der nicht nur die Vielfalt unserer Welt ärmer macht, sondern den genetischen Reichtum zerstört und damit zugleich die Lebensmöglichkeiten der Menschen beeinträchtigt. Ich meine und meine Fraktion meint, daß diese Situation die Staaten der Welt zu gemeinsamen Handeln und zu neuen Formen internationaler Kooperation veranlassen muß. Wir unterstützen die Bundesregierung, die auf diesem Felde auf verschiedenen Ebenen bei verschiedenen Konferenzen Anstöße gegeben hat. Weltweit sind Luft, Wasser, Boden, Rohstoffe und Landschaft nur endliche Ressourcen. Wir müssen in den internationalen Organisationen neue Instrumente entwickeln, damit die Umweltbelastung zurückgeht.
Regionale und globale Umweltprobleme zeigen, daß nicht nur die Menschen Umweltansprüche haben, sondern auch Pflanzen und Tiere. Alle diese Ansprüche müssen wir bei Festlegung von Schutzniveaus und Zielen berücksichtigen, und dies ist eine riesige Aufgabe, die klare Prioritäten, regionale Umweltpläne und eine auf längere Sicht angelegte Strategie erfordert. Immer wieder neue wissenschaftliche Erkenntnisse - wir haben heute sehr viel mehr Erkenntnisse als vor etwa 10 Jahren - sind von der Politik einzubeziehen, aber die notwendige politische Entscheidung kann die Wissenschaft der Politik nicht abnehmen. Die reichen Länder der Erde müssen beim Umweltschutz eine Vorreiterrolle einnehmen. Weltweite Belastungsgrenzwerte, wie für Fluorchlorkohlenwasserstoff, dürfen nur als absoluter Minimumstandard für Umweltschutz verstanden werden. Die Montrealer Grenzwerte reichen eben nicht aus. Dies alles gilt auch für die Europäische Gemeinschaft.
Wenn ich dies in aller Nüchternheit sage, so mache ich keine Vorwürfe an die Bundesregierung. Ich mache die Bundesregierung und auch sonst niemanden für diesen Zustand verantwortlich. Es ist eine Aufgabe der gesamten Menschheit, ein mühevoller Prozeß und nicht nur die Aufgabe des Gesetzgebers, nicht nur die Aufgabe des Staates, diesen Nachholbedarf geltend zu machen. Die Bundesregierung setzt die Politik früherer Regierungen fort, nämlich die Politik einer entschiedenen, realistischen und berechenbaren, Prioritäten setzenden Umweltpolitik. Sie ist auf dem richtigen Weg und hat unsere Unterstützung, auch wenn wir manchmal eine schnellere Gangart, Herr Töpfer, anmahnen.
({0})
Die Nutzung von Umweltgütern wie Luft, Wasser und Boden muß in unserem Wirtschaftssystem noch stärker zum spürbaren Kostenfaktor werden, damit ein ständiger ökonomischer Impuls zur Vermeidung von Umweltbelastungen und für die Weiterentwicklung umweltfreundlicher Techniken sorgt.
({1})
Meine Damen und Herren von der SPD, ich habe gerade in die „Zeit" von heute hineingeschaut, da wird Ihnen, wie von vielen anderen, bescheinigt, daß Ihr Parteitag kein wirtschaftspolitisches Konzept gebracht hat, auf dem Sie Umweltpolitik aufbauen können. Ein verläßliches wirtschaftspolitisches Konzept, ich möchte sagen, marktwirtschaftliches Konzept, ist die Grundlage für effizienten Umweltschutz. Sie können nicht einen Teil der Steuerpolitik mit Ihren Vorschlägen herauslösen, auf der anderen Seite aber durchaus selbstkritisch feststellen, daß Sie kein umBaum
fassendes Steuerkonzept haben. Wenn Sie uns jetzt mit Vorschlägen zu einer dramatischen Erhöhung der Energiesteuern überziehen, so ist dies ein Vorschlag, den wir nicht akzeptieren können. Er ist viel zu undifferenziert. Er berücksichtigt nicht die Wettbewerbsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich. Viele Kritiker haben Ihnen zu Recht vorgehalten, daß solche Dinge nur europäisch abgestimmt werden können. Sie verkennen, daß wir durch das Verursacherprinzip den Verursachern erhebliche Lasten auferlegt haben: Der Strom ist teurer geworden, Milliarden sind investiert worden. Meine Damen und Herren, dies ist kein tragfähiges Konzept, um ökonomische Anreize in die Wirtschaft hineinzubringen.
({2})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Blunck? - Bitte sehr.
Herr Kollege Baum, ist Ihnen bekannt, daß die „Zeit" von vor drei Wochen der Regierung und den die Regierung tragenden Parteien bescheinigt hat, daß sie kein ökologisches Konzept haben, und daß Ihnen das abgefordert wird, besonders im Hinblick auf den Nordseeschutz?
Ich habe das gelesen, Frau Kollegin, und ich komme jetzt gleich auf Defizite zu sprechen.
Ich bin der Meinung, daß wir natürlich ökonomische Anreizmöglichkeiten wie Abgabenlösungen und Instrumente wie Haftungsrecht und Steuervergünstigungen brauchen. In Übereinstimmung mit dem Bundesrat erwarten wir von der Bundesregierung, daß, soweit wichtige Förderungsinstrumente ab 1990 nicht mehr gelten, eine andere Konzeption, ein Ersatz geliefert wird. Ich meine z. B., daß erneuerbare Energien weiterhin verstärkt Hilfen brauchen, und zwar nicht nur für Forschung, Entwicklung und Erprobung, sondern auch für die Markteinführung.
({0})
Wir dürfen also auf das Steuerrecht als ein steuerndes Element in der Marktwirtschaft zugunsten des Umweltschutzes nicht verzichten. Das wird von der Bundesregierung zu leisten sein. Der Bundesrat mahnt dies auch an. Im übrigen sind wir hier nicht im Niemandsland. Wir haben ja solche Instrumente. Beim Benzin-Blei-Gesetz setzen wir sie bei der Spreizung ein. Wir haben ein solches Instrument im Abwasserabgabenrecht. Dieses Instrumentarium ökonomischer Anreize muß genutzt werden. Im Prinzip sind wir uns einig, nur über die Art und Weise werden wir streiten. Wir haben dort andere Vorstellungen. Ihre drastische undifferenzierte Energiesteuer ist für uns kein tragfähiges Konzept.
({1})
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Wolfgramm und ich haben vor der Sommerpause unser Nordseeprogramm vorgelegt. Auch wir sehen das, was Sie, Herr Töpfer, vorgelegt haben, als eine Basis an. Wir werden das anreichern und wollen, wenn es irgend geht, zu einem gemeinsamen Konzept hier im Hause kommen. Darüber führen wir ja Gespräche. Wir wollen auch prüfen, inwieweit der Bund die Kommunen hier unterstützen kann.
Wir erwarten die Gesetzentwürfe zum Wasserhaushaltsgesetz, zum Abwasserabgabengesetz. Meine Damen und Herren, wir müssen im Wasserbereich - im Trinkwasser-, im Grundwasserbereich - eine ähnliche Kraftanstrengung unternehmen, wie wir sie im Bereich der Luftreinhaltung unternommen haben. Das ist das nächste Ziel, und wir erreichen es durch die notwendigen gesetzgeberischen Vorschriften.
Die Abwasserabgabe muß wieder erhöht werden. Das Konzept zum Schutz des Grundwassers muß realisiert werden. Eine grundwasserverträgliche Anwendung von Dünger, Klärschlamm und Pflanzenschutzmittel ist in der Landwirtschaft notwendig. Wir müssen zu einem Verbot der Verwendung besonders problematischer Pflanzenschutzmittel kommen, und wir müssen eine Sanierung unserer schadhaften Kanalnetze in Angriff nehmen. Das sind Riesenaufgaben, die hohe Investitionen erfordern. Der Bürger und die Industrie werden hier herangezogen werden. Vielfach ist der Wasserpreis zu niedrig. Wasser ist ein kostbares Gut. Deshalb geht kein Weg daran vorbei, daß wir den Bürger auch unmittelbar an der Abwasserreinigung beteiligen.
({2})
Wir unterstützen nachdrücklich die Auffassung des Bundesrates, wonach grundsätzlich nur solche Mittel und Chemikalien verwendet werden dürfen, deren Abbaubarkeit im Boden zuverlässig nachgewiesen sind. Mit dem Bundesrat fordern wir, die Anwendung aller anderen Mittel zu verbieten.
Wir erwarten also eine Gesetzgebungsoffensive im Rahmen der Koalitionsvereinbarung. Das bedeutet, wir erwarten die Vorschläge der Bundesregierung im Wasserrecht, im Naturschutzrecht, im Chemikalienrecht und im Immissionsschutzrecht.
Noch eines, meine Damen und Herren: Das Abfallgesetz muß umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat hier bereits einiges in die Wege geleitet. Schadstoffe müssen nach Möglichkeit schon bei der Warenherstellung vermieden werden. Diese Möglichkeiten haben wir der Bundesregierung in dem neuen Abfallgesetz an die Hand gegeben. Wir haben auch die Voraussetzung für eine Abfallwirtschaft geschaffen. Die Ziele der Abfallwirtschaft müssen vorgegeben werden. Wir müssen ferner den Giftmülltransport und den Giftmüllexport stoppen.
Wir brauchen ein Umwelthaftungsrecht und eine Überarbeitung des Umweltstrafrechts.
Meine Damen und Herren, das alles ist Koalitionsprogramm, und wir werden die Bundesregierung bei der Realisierung dieses Programms tatkräftig unterstützen.
({3})
Die Ozonschicht ist in Gefahr. Es muß daher sichergestellt werden, daß der Verbrauch von Fluorchlorkohlenwasserstoffen - das ist meine Sorge - nicht
von einem Verwendungsbereich, also der Spraydose, in andere Verwendungsbereiche geht. Wir haben bis heute vergeblich versucht, die Produktionszahlen zu bekommen. Ich sage hier noch einmal ganz deutlich: Wenn wir hier keine Klarheit bekommen, werden wir das realisieren, was in der Koalitionsvereinbarung steht: notfalls eben ein nationales Verbot von Fluorchlorkohlenwasserstoffen, wenn uns die Hersteller nicht endlich die Ziele und die Zahlen auf den Tisch legen.
({4})
Wir begrüßen, daß die Bundesregierung den Gesetzentwurf zur Umweltverträglichkeitsprüfung vorgelegt hat. Es gibt über hundert Änderungsanträge im Bundesrat, mit denen wir uns auseinandersetzen.
Wir fordern - Herr Töpfer, ich glaube, das ist ganz wichtig - den Abbau der Vollzugsdefizite im Umweltschutz. Es nützt ja nichts, wenn wir hier die schönsten Gesetze beschließen und immer wieder feststellen, daß die Umsetzung in den Ländern nicht stattfindet. Deshalb meine ich, daß die Bundesregierung - wie das auch vereinbart ist - notfalls in Form einer Stellungnahme des Sachverständigenrates einmal prüfen sollte, wie die umweltrechtlichen Vorschriften des Bundes durch die Länder und Gemeinden umgesetzt werden und wo die - unbestreitbar vorhandenen - Defizite liegen.
Meine Damen und Herren, wir müssen auch konkret zu deutsch-deutschen Umweltabkommen kommen. Wir haben ja das Rahmenabkommen, und ich meine, Herr Töpfer, wir sollten der DDR jetzt konkrete Modellprojekte anbieten,
({5})
an denen wir uns auch technisch und finanziell beteiligen. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wir könnten auf Grund der Erfahrungen, die wir hier in der Bundesrepublik Deutschland über Technik und finanziellen Aufwand gemacht haben, den Hauptverursachern der Quecksilberbelastung der Elbe - diese befinden sich auf DDR-Gebiet - ein Angebot für ein Modell machen und hätten damit die Quecksilberbelastung der Elbe, die von einem oder zwei großen Verursachern herrührt, in den Griff bekommen.
({6})
Wir begrüßen, daß der Umweltminister zielstrebig die Gründung des Bundesamtes für Strahlenschutz vorantreibt. Ich habe allerdings eine Frage zu einem anderen Teil des Haushalts, die ich nur einmal aufwerfen will: Ist es richtig, daß für den Brüter zwar 35 Millionen DM in den Haushalt des Forschungsministers eingesetzt worden sind, daß aber die deutsche Energiewirtschaft bisher nicht bereit ist, ihren Anteil von 35 Millionen DM zu zahlen? Da stellt sich natürlich die Frage: Wie wird denn bei den künftigen Kosten - die sind wesentlich höher - die Bereitschaft der deutschen Energiewirtschaft sein, sich zu beteiligen?
({7})
Ich stelle diese Frage nur einmal in den Raum, denn sie betrifft, Herr Weng, diesen Haushalt.
Das Staatsziel Umweltschutz, meine Damen und Herren, gehört ins Grundgesetz. Das ist eine zentrale Forderung meiner Partei, und ich wiederhole sie hier.
({8})
Wir haben unseren Vorschlag vorgelegt. Die CDU hat sich auf einen Kompromiß hinbewegt, und wir haben das auch getan. Wir erwarten nun, Herr Kollege Schäfer, auch von Ihrer Partei Kompromißbereitschaft. Es wird nämlich; wenn wir uns nicht zusammenraufen - das ist ganz klar absehbar -,
({9})
über lange Zeit keine verfassungsändernde Mehrheit im Bundestag und im Bundesrat mehr geben. Ich appelliere an Sie: Machen wir einen gemeinsamen Versuch!
({10})
Ich sage Ihnen: Wenn Sie den Gesetzgebungsvorbehalt so apodiktisch ablehnen, gehen Sie an der Anhörung des letzten Jahres vorbei. Der von uns, dem Kollegen Vogel damals als Justizminister und von mir als Innenminister, beauftragte Sachverständige Professor Denninger hat sich im Hinblick auf einen Ausgestaltungsvorbehalt durchaus positiv geäußert. Ich plädiere dafür, daß wir uns zuammensetzen, die SPD auch an den Tisch kommt und wir uns über eine Formel auseinandersetzen, die wir gemeinsam tragen können. Lehnen Sie das, was wir Ihnen vorschlagen, bitte nicht ab, sondern sprechen Sie mit uns!
({11})
Meine Damen und Herren, auch ich möchte an die ökologische Verantwortung unserer Bürger appellieren. Wir brauchen eine bessere Umweltethik, eine Verstärkung der Umwelterziehung. Nur wenn sich die Menschen als Teil der Natur verstehen, werden sie die notwendigen Verhaltensänderungen vornehmen. Wir brauchen wirklich eine Umstrukturierung unserer ganzen Gesellschaft hin zu umweltfreundlicherem Verhalten.
Ich möchte zum Schluß herzlichen Dank den Mitarbeitern des Umweltministeriums und des Umweltbundesamtes sagen. Sie stehen unter einer sehr hohen dauernden Arbeitsbelastung. Ich möchte ihnen versichern, daß wir uns weiterhin für eine Personalaufstokkung einsetzen werden, auch wenn wir sehen, daß in diesem Haushalt bereits einiges geschehen ist. Aber ich sehe nicht ein, daß für einen sicherlich wichtigen Zweck wie die Milchforschung etwa 250 öffentlich Bedienstete in der Bundesrepublik tätig sind, das Bundesumweltamt aber nicht einmal 500 Mitarbeiter hat. Hier stimmen die Relationen nicht mehr. Sie haben, Herr Töpfer, unsere volle Unterstützung bei dem Ausbau nicht nur Ihres Ministeriums, sondern auch der nachgeordneten Behörden.
Ich möchte Ihnen, Herr Töpfer, für Ihre Arbeit danken. Ich möchte Ihnen versichern, daß wir bei der
Umsetzung der Koalitionsvereinbarung tatkräftig mitarbeiten werden, manchmal auch, wenn es notwendig ist, mahnen und fordern. Die Zusammenarbeit mit den Kollegen der Koalitionsfraktionen war gut; wir möchten sie fortsetzen.
Vielen Dank.
({12})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man sollte glauben, daß die Konservativen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, am ehesten in der Lage sein müßten, eine erfolgreiche Umweltpolitik zu machen,
({0})
die Umwelt, die Natur wirksam und nachhaltig zu schützen, denn den Konservativen soll ja das Bewahren und Erhalten von Bewährtem und Nützlichem besonders am Herzen liegen.
({1})
Unsere natürlichen Lebensgrundlagen Luft, Wasser und der Boden mit seinen Früchten sind ja nicht nur nützlich und bewährt für den Menschen, sondern sind auch unverzichtbar. Leider haben sich die deutschen Konservativen dazu verschrieben, statt des Überkommenen das Überholte zu bewahren; statt die guten, bewährten und nützlichen Werte zu erhalten, jagen sie Wertvorstellungen von gestern nach.
({2})
Die Nostalgie bestimmt ihre Wertvorstellungen. Was wäre schöner für einen deutschen Konservativen, würde sich im Jahre 6 der Regierung Kohl wenigstens ein kleines Wirtschaftswunder wiederholen!
So liegt das Elend des deutschen Konservativen in seinen antiquarischen Zielen. Wer beim Wort Wachstum nur auf die Zahlen des Bruttosozialproduktes schielt, wem Menge vor Qualität geht, wer Produzieren nicht in seiner Gesamtheit betrachtet, also mit den Folgen, sondern nur nach dem Mengenausstoß und nach dem Absatz beurteilt, wer negative Folgen der Produktion für die Umwelt isoliert bekämpfen will und nicht über die Produktion in ihrer Gesamtheit nachdenkt, der wird es, Herr Töpfer, in der Umweltpolitik einer modernen, ökologischen Industriegesellschaft nie zu etwas bringen. Herr Daniels, ganz gleich, wieviel Geld Sie dem Menschen als Minister geben, er begreift es nicht.
({3})
Das Elend der Konservativen in der Umweltpolitik ist ihre programmierte Handlungsunfähigkeit.
({4})
Sie sind in einer Ideologie gefangen, die Ihnen nur die Verwaltung der Wachstumsgesellschaft erlaubt,
({5})
in einer Ideologie, die Ihnen nach Ihrem Politikverständnis, Herr Kollege, höchstens ein Reagieren auf Umweltschäden erlaubt
({6})
und die Ihnen den Blick nur auf den Schadstoff lenkt, nicht auf seine Entstehung, auf die es ankommt.
({7})
Der Irrglaube, Umweltschutz schade der Wirtschaft, fesselt diese Bundesregierung und macht ihr eine politische Steuerung im Umweltschutz nahezu unmöglich.
({8})
Ihr Irrglaube, eine Bundesregierung als Büttel einer möglichst freien und ungehemmten wirtschaftlichen Entwicklung nutze der deutschen Wirtschaft, treibt uns in eine verheerende umweltpolitische Abwärtsspirale.
({9})
Die Konservativen in der Bundesrepublik und überall in der Welt mit ihrer falsch verstandenen Rückendeckung für die Wirtschaft werden uns zu Tode verwalten,
({10})
und das weltweit. Teilweise ist der Präsident des BDI, Herr Necker, ja weiter als Sie.
Meine Damen und Herren, Ihre Irrlehre, wirtschaftliches Handeln sei bereits für sich ein Gesamtinteresse, nicht nur ein Teilinteresse, macht die Politik zum bloßen Organisator eines möglichst ungestörten und politikfreien Wirtschaftens. Die Erkenntnis, daß die Wirtschaft in Wahrheit zwar eine zentrale Rolle in der modernen Industriegesellschaft spielt, aber dennoch nur ein Teilinteresse ist, unterscheidet Konservative und Sozialdemokraten wesentlich und unterscheidet deshalb auch ihre Ansätze in der Umweltpolitik voneinander.
({11})
Wir Sozialdemokraten sehen wirtschaftliches Handeln in seiner gesamten Komplexität, sehen umweltverträgliches Produzieren als neuen Qualitätsbegriff, sehen die Chancen einer modernen, ökologischen Industriegesellschaft in ihrer Erträglichkeit für die natürlichen Lebensgrundlagen
({12})
und sehen die Chance für unsere Wirtschaft und unsere Gesellschaft in der Devise „Klasse statt Masse".
({13})
Unser Verständnis von einer angemessenen und erfolgversprechenden Umweltpolitik ist nicht von der Darstellung eines energischen Krisenmanagements bei der Bekämpfung des „Schadstoffs des Monats" geprägt, wo sich, Herr Töpfer, die vorgeblichen Macher in gutgestylten Konferenzen zur besten Fernsehzeit, wie es sich gehört, ihre Papiere über den Tisch reichen und letztendlich doch nichts ändern, auch gar nichts ändern wollen.
({14})
Meine Damen und Herren, unsere Umweltpolitik, die Umweltpolitik der Sozialdemokraten, wird von der Überzeugung eines möglichen Einklangs zwischen modernem Produzieren und intelligentem, kreativem und kraftsparendem Erhalten der Natur geprägt. Unser Bild von einer modernen und ökologischen Volkswirtschaft ist nicht mit den Farben der Krisenmanager und der Durchführungsverordnungen gemalt. Wir wollen Sicherheit und Verläßlichkeit für die deutsche Wirtschaft, wollen international verbindliche Konzepte, wollen verantwortliches, vorausschauendes Handeln für mehrere Generationen.
({15}) Dies ist unsere Politik!
Für die Wirtschaft der Bundesrepublik ist auf die Bundesregierung auch in umweltpolitischer Hinsicht kein Verlaß. Die bundesdeutsche Wirtschaft hat keine Sicherheit über die umweltpolitischen Ziele dieser Bundesregierung. Die Wirtschaft weiß nicht, was diese Bundesregierung umweltpolitisch will, weil die Konservativen selber keine Ziele formulieren können.
({16})
In der Bundesrepublik gilt die Regel, daß der Lobbyschrei nicht nur Luft verschafft, sondern auch und vor allem Zeit schindet, und Zeit ist Geld. Nehmen wir als Beispiel die Automobilindustrie. Ich darf mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, einen BMW-Sprecher laut „Spiegel" aus dieser Woche zitieren:
Wenn es gelingt, das Tempolimit damit um zwei bis drei Jahre hinauszuschieben, hat sich der Beschluß gelohnt.
So der Sprecher!
({17})
Um welchen Beschluß geht es? Es geht um die freiwillige Selbstbeschränkung des BMW-Vorstands auf eine Spitzengeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern bei seinem neuesten Modell, das eigentlich viel schneller fahren könnte. Das ist kein Einzelfall. Andere Automarken sind auf einem ähnlichen Weg.
Die Autos aller Klassen werden immer schneller. Ist das das umweltpolitische Signal aus sechs Jahren Regierung Helmut Kohl an die Automobilwirtschaft: ein Tempolimit bei 250 Stundenkilometern? Ist das, was wir umweltpolitisch brauchen, Herr Töpfer, eine freiwillige Vereinbarung auf 250 Stundenkilometer?
({18})
Freie Bürger leicht gedrosselt mit 250 Stundekilometern beim Kunstflug auf der Autobahn - ist das Ihre Politik, Herr Töpfer? Und das, obwohl unser Stickoxidausstoß bis zur Jahrtausendwende steigen wird und obwohl wir im ersten Halbjahr 10 % mehr Unfalltote als im Vergleichszeitraum des Vorjahres haben
({19})
und obwohl alle modernen Industriestaaten ein Tempolimit mit großem Erfolg durchgesetzt haben? Weniger Tote, weniger Leid und weniger Dreck aus dem Auspuff - dies müßte Ihre Politik sein, Herr Töpfer.
({20})
Gibt es, meine Damen und Herren, ein besseres und traurigeres Beispiel dafür, wie diese Bundesregierung die umweltpolitische Apokalypse nur noch verwaltet, als wolle sie den Niedergang der modernen Industriegesellschaft in vollen Zügen genießen? Sitzt denn Nero im Kanzleramt? Es gibt noch andere Beispiele für das Unvermögen der Konservativen, Regeln zugunsten der Menschen herauszugeben.
Schon mehrmals habe ich von dieser Stelle Unternehmen aufgezählt, die im Vertrauen - ich betone: im Vertrauen - auf eine schärfere Fassung der Technischen Anleitung Luft ihre Anlagen gebaut haben, die ihre Ingenieurkunst mit Stolz gezeigt haben und dann enttäuscht feststellen mußten, daß der Gesetzgeber hinter den technischen, investiven, wirtschaftlichen, hinter den machbaren Möglichkeiten zurückgeblieben ist.
({21})
Statt dessen haben wir in den letzten Jahren, als wäre es ein Konzept, Herr Kollege, zusehen müssen, wie die steuerliche Förderung umweltschonender Technik nahezu vollständig gestrichen wurde,
({22})
wie deutscher Erfindergeist mit der Streichung der Erfinderpauschale bestraft wurde und wie Abschreibungen umweltpolitischer Investitionen, die eindeutig im Gesamtinteresse lagen, erschwert oder verhindert wurden.
Statt, meine Damen und Herren, die wachsende Bereitschaft der Menschen zu nutzen, die persönlich mehr für den Umweltschutz tun wollen, können Sie sich noch nicht einmal auf eine klare Linie bei dem kleinen Problem der Getränkeverpackung festlegen. Immer mehr Bundesbürger tragen ihre leeren Flaschen zum Glascontainer und ihre Pfandflaschen zum Händler. Die Bundesregierung ist aber nicht bereit, mit einem einfachen Federstrich die Pfandverpakkung von Getränken zu fördern und damit das Abfallaufkommen in der Bundesrepublik Deutschland drastisch zu senken.
Die Bürger sehen die verheerenden Folgen Ihrer Handlungsunfähigkeit und Ihrer Verstrickung in eine veraltete Ideologie. Sie sind nicht in der Lage, klare politische Linien vorzugeben, die Intelligenz deutscher Ingenieure, deutscher Wissenschaftler und deutscher Arbeitnehmer zu nutzen. Sie sind nicht in der Lage, die Bereitschaft der Menschen in der Bundesrepublik, persönlich mehr für den Umweltschutz zu tun, überhaupt zu nutzen.
({23})
Gibt es eigentlich etwas Schlimmeres, meine Damen und Herren, für einen Politiker, Herr Töpfer, als Verzicht auf diese Möglichkeiten, die einem geboten werden?
Was wir brauchen, sind nationale, internationale und globale Konzepte. Was wir brauchen, ist Wettbewerbssicherheit auch nach 1992, wenn die Schranken für die Menschen und Wirtschaftsgüter in der Europäischen Gemeinschaft fallen.
({24})
Welch eine Chance ist damit verbunden, mit Umwelttechnologien auch Geschäfte zu machen und den Standort Bundesrepublik Deutschland mit seiner Innovationskraft zu halten. Welch eine Chance eröffnet sich uns zu beweisen, daß Umweltschutz nicht nur unverzichtbar für den Menschen ist, sondern auch gut für die Bilanzen sein kann.
Der europäische Binnenmarkt wird auch für die Umweltpolitik epochale Veränderungen mit sich bringen. Für solch große Umwälzungen sind die verbleibenden drei Jahre eine kurze Zeitspanne. Bis heute haben wir nichts auf dem Tisch liegen, was wie ein Konzept der Bundesregierung für diesen Weg aussieht.
Die Umweltpolitik dieser Bundesregierung ist der beste Beweis: Die Konservativen haben zwar ungebrochene Freude an der Macht, aber keine Freude mehr an der Verantwortung. Im Ressort- und Koalitionsgrabenkrieg, Herr Kollege Baum, wird das kleinste Umsteuern, das kleinste Umdenken sofort verhindert.
Die umweltpolitische Realität der Bundesrepublik ist düster, ohne Lichtstreif am Horizont.
Beispiel Luft: Stickoxide aus Kfz steigen weiter an bis zum Jahre 2000. Die Bundesrepublik weiß bis heute nicht, welche Mengen an Fluorchlorkohlenwasserstoffen in der Bundesrepublik produziert werden. Manchmal habe ich den Eindruck, Herr Kollege Töpfer, Sie wollen es gar nicht wissen. Herr Nader vom Verband der Chemischen Industrie hat mir diese Woche nochmals bestätigt, daß Sie nicht bereit sind, diese Zahlen bekanntzugeben. Wir warten schon über ein Jahr auf die freiwillige Vereinbarung, Herr Kollege. Äußern Sie sich einmal dazu! Handlungsbereitschaft ist gefragt, Handeln, nicht Reden.
({25})
Trotz großer technischer Möglichkeiten heizen unsere Haushalte noch wie in der Steinzeit: Jeder entfacht sein eigenes Feuer, das eine qualmt mehr, das andere weniger. Die Fernwärme-Fördermittel hat die Bundesregierung gestrichen. Was bleibt, sind miese Luft und vergeudete Energie.
Beispiel Boden: Der Eintrag von Pflanzengiften in den Boden, die kein Mensch nachweisen kann, wird schulterzuckend geduldet. Bei der dringend notwendigen, umfassenden Sanierung unserer Altlasten zeigt die Bundesregierung mit dem Finger auf die Länder. Eigeninitiative: null.
({26})
Bei der Versiegelung unseres Bodens, von dem wir in der Bundesrepublik Deutschland ja wahrhaftig nicht zu viel haben, gilt offensichtlich die Devise: Hauptsache, es wird gebaut.
Beispiel Wasser: Gift im Trinkwasser wird auch in Zukunft nicht verhindert. Die Bauern sind gezwungen, zu düngen und zu spritzen, was der Traktor hergibt. Die Bundesregierung sieht zu. In der Abwasserreinigung verzichtet die Bundesrepublik auf den Einsatz moderner Technik. Bäche, Flüsse und die Nordsee haben geantwortet, meine Damen und Herren, und werden weiterhin antworten. Wir stehen zu einer konzertierten Aktion. Wir Sozialdemokraten sind bereit, ein gemeinsames Programm - falls es den Namen „Programm" verdienen sollte - mitzutragen.
({27})
Meine Damen und Herren, ich habe von Verantwortung, von Sicherheit und Verläßlichkeit für die Wirtschaft, von der Notwendigkeit von Wegweisern gesprochen. In einer vermutlich unfreiwilligen Aufrichtigkeit haben Sie, Herr Töpfer, in einem Artikel für die Zeitschrift „Die Sonde" aus dem Februar dieses Jahres eine zusätzliche Forderung für die Umweltpolitik gestellt. Ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident:
Dem Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit muß das Umweltwunder für die verbleibenden Jahre dieses Jahrtausends folgen.
Treffender, Herr Minister, konnten Sie die umweltpolitischen Notwendigkeiten der nächsten Jahre nicht beschreiben. In der Tat: Sechs Jahre konservativer Handlungsverzicht in der Umweltpolitik - da hilft bei Gott nur noch ein Umweltwunder.
Ich danke Ihnen.
({28})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Manchmal wünschte man sich, daß Reden, die gehalten werden, gar nicht gehalten würden, Herr Lennartz.
({0})
Ich hatte bei Ihnen den Eindruck, daß Sie der Ernsthaftigkeit des Themas Umwelt nicht gerecht geworden sind.
({1})
Wer erklärt, daß die Konservativen nicht die Bereitschaft gehabt hätten, etwas zu tun,
({2})
und daß die progressiven Sozialisten ungeheuer fleißig gewesen sind - das ist ja die Schlußfolgerung daraus -, dann ist es, meine ich, berechtigt, Ihnen einmal zu sagen, daß Sie in 13 Jahren Regierungsverantwortung die Hände in den Schoß gelegt haben.
({3})
- Lieber Herr Schäfer, wer so in den Wald hineinruft, braucht sich nicht zu wundern, daß es auch so herausschallt.
Was war denn mit dem Katalysator? Den hat Ihnen doch der Bundeskanzler gestern schon vorgeworfen. Sie haben in dieser Frage doch 13 Jahre lang nichts unternommen und wollen jetzt, Herr Lennartz, sagen: Die Konservativen, die das gemacht haben, hätten nichts getan. Ich muß sagen, Sie waren ungeheuer progressiv in diesen Zeiten.
({4})
Schmitz ({5})
Meine Damen und Herren, man ist ungeheuer progressiv, wenn man in all den Feldern, z. B. Großfeuerungsanlagen-Verordnung, 13 Jahre nichts getan hat und sich dann, Herr Lennartz, darüber beschwert, daß ein Restrisiko bei den Stickoxiden noch nicht technisch beherrschbar ist. Sie wissen doch selber, daß das RWE - in diesem Falle nenne ich das Unternehmen - in der ersten Phase gesagt hat: Das geht nicht, das können wir nicht, das ist zu teuer. Schlußendlich ist es gemacht worden. Jetzt haben wir es. Seien Sie doch froh darum, daß Konservative das getan haben.
({6})
Herr Abgeordneter Schmitz, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl ({0})?
Nein, ich habe so wenig Zeit, lieber Herr Stahl. Ansonsten können wir uns draußen gerne noch über das Thema unterhalten.
Die Bilder der Nordseeverschmutzung, das Algenwachstum und das Robbensterben haben uns sicherlich alle sehr berührt. Umwelt ist ein Thema, das an die Seele geht. Bei allen, meine ich, die wir uns heute über diese Frage sehr erregen, ist auch durch diese Bilder etwas ausgelöst worden, was sehr mit dem Menschen und seinem Wesen zusammenhängt, nämlich dem Leben. Auch hier will ich Ihnen ein Beispiel sagen, das zeigt, was es heißt - wenn Sie so wollen, von mir aus, Herr Lennartz, bin ich gerne stolz darauf, konservativ zu sein - zu handeln.
Im Jahre 1980, als Sie in Bonn die Verantwortung trugen, wurden immerhin noch 1,5 Millionen Tonnen Dünnsäure in die Nordsee verklappt. In diesem Jahr sind es - das ist immer noch schlimm genug, sicherlich - nur noch 0,9 Millionen Tonnen. Das ist eine Verringerung um 40 %. Konservativ, wenn Sie so wollen. Und im nächsten Jahr wird die Verklappung ganz eingestellt. Konservativ, Herr Lennartz. Ich frage mich: Wo war Ihre progressive Haltung in all den Jahren?
Abgesehen von der Tatsache, daß Sie damals wie auch heute außer Sprüchen nichts geleistet haben, meine ich, es ist richtig, daß die Bundesregierung hier konsequent handelt und daß diese Dünnsäureverklappung - ({0})
- Frau Kollegin, durch Dauerzwischenrufe wird das auch nicht besser.
({1})
Der Nebeneffekt ist dabei natürlich auch zu betrachten. Wenn wir das nicht gemeinsam in einer Nordseekonferenz durchsetzen bzw. durchgesetzt hätten, wären wahrscheinlich andere auf die Idee gekommen, diese Produktion weiterzuführen. Deswegen ist es wichtig, daß hier gemeinsam gehandelt worden ist.
Der von Bundesminister Töpfer vorgelegte 10Punkte-Katalog zum Schutz der Nordsee zeigt Realitätssinn und sollte so rasch wie möglich umgesetzt werden. Da kann man natürlich auch wieder sagen: Das ist zuwenig, das ist zu spät. Ich kann nur darauf verweisen: richtig, konsequent und auch mit Augenmaß gehandelt.
({2})
All das verlangt natürlich finanzielle Opfer.
Wenn ich dann als Haushälter höre, wer die Forderungen im einzelnen aufstellt, wenn ich feststellen muß, lieber Herr Schäfer, wer das alles bezahlen soll, wenn ich mir gleichzeitig vor Augen halte und weiß. wieviel Kompetenzen der Bundesumweltminister hat, und wenn ich dann die Länder höre
({3})
- nicht Herrn Stoltenberg -, die natürlich krampfhaft an ihren Kompetenzen festhalten, weil sie damit auch finanzielle Dotationen verbinden,
({4})
muß ich sagen, daß Ihre Aussage absolut falsch ist.
Deswegen, meine ich, ist Umweltpolitik der Bundesregierung unter Bundeskanzler Kohl und unter Herrn Töpfer richtig, mit Augenmaß und vernünftig gemacht worden, auch unter der EG-Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland.
({5})
- Das ist natürlich Äpfel mit Birnen verglichen. Das wissen Sie selber. Ich hätte Sie nicht für so kleinkariert gehalten. Tut mir leid.
Die Großfeuerungsanlagen-Verordnung, die Verabschiedung der Richtlinie über Partikelgrenzwerte für Diesel-Pkw, die Ratifizierung des Montreal-Protokolls, die Verbesserung des Gewässerschutzes durch Begrenzung der Einleitung einer Reihe weiterer Stoffe der schwarzen Liste, die Annahme politischer Leitlinien, die Einschränkung der Einbringung von Abfällen aus angesprochenen Produktionen in die Gewässer - das alles sind, meine ich, Beschlüsse, die sich sehen lassen können. Dafür sind wir Ihnen, Herr Minister - Sie sind ja so oft gescholten worden -, von seiten der Koalition herzlich zum Dank verpflichtet. Sie haben sich konsequent, beharrlich und berechenbar durchgesetzt. Das halte ich für richtig.
Natürlich darf kein Stillstand erfolgen. Das wissen wir. Es ist alles in der Entwicklung. Nur, wenn ich mir ansehe, was sich z. B. zum Thema Reaktorsicherheit in der Bundesrepublik Deutschland abspielt, seitdem Herr Jansen dort oben in Kiel verantwortlich ist,
({6})
muß ich sagen, lieber Herr Schäfer: Ich habe, auch als Sportler, volles Verständnis dafür, daß man das alles taktisch und auch strategisch macht.
({7})
Schmitz ({8})
Aber was sich Herr Jansen da geleistet hat, ist noch nicht einmal - ich will es einmal so sagen - mit List und Tücke zu umschreiben.
({9})
Das war für meine Begriffe schon ein Maß an Verschlagenheit - ich benutze bewußt diesen Begriff -, das kaum noch zu überbieten ist.
({10})
- Ja, das ist so. Deswegen, meine ich, sollten wir Umweltpolitik daran messen, was real ist. Real ist, daß dieser Haushalt um 11,8 % wächst auf rund 530 Millionen DM.
({11})
- Ich bin stolz darauf, Bauer zu sein, Herr Kollege Waltemathe. Falls das von Ihnen negativ gemeint ist, weise ich eine solche Beleidigung meiner Berufskollegen durch Sie, der keine Ahnung hat, zurück.
Ich möchte darauf hinweisen, daß unter den Voraussetzungen diese Steigerungsrate doppelt so hoch ist wie die Steigerung des Gesamthaushalts. Dies kann sich sehen lassen. Wir können dies im einzelnen nicht allein an der Zuwachsrate des Haushaltes des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit beurteilen. Dies ist auch eine Frage nach dem Querschnitt in den Bundeshaushalten. Hier sieht es in der Tat so aus, daß wir, wenn wir es genau ausrechnen, bei den Umweltmaßnahmen des Bundes immerhin in die Größenordnung von 2,2 Milliarden DM kommen. Dies kann sich sehen lassen. Ich bin gerne bereit, mit Ihnen noch in die Einzelheiten einzusteigen, wenn Sie dies wünschen.
Meine Damen und Herren, man kann mit Sicherheit darüber reden, ob in den einzelnen Bundesressorts
- ob das nun Forschung ist, ob das nun Verkehr ist, ob das Landwirtschaft ist und anderes mehr - die Zielrichtung an einigen Stellen nicht geändert werden sollte. Wir laden Sie gerne ein, mit uns über bestimmte Fragen ins Gespräch zu kommen.
Ich denke also daran, daß wir unter diesen Voraussetzungen z. B. einmal über den internationalen Gewässerschutz sprechen müssen. Hier ist von Ihnen und von allen Seiten angesprochen worden, bei der Elbe Vorkehrungen zu treffen. Dieses Problem können wir sicherlich nicht alleine lösen. Das können wir nur gemeinsam mit der CSSR und der DDR lösen. Das ist ein Ansatz.
Wir haben im Haushalt beschlossen - Herr Kollege Waltemathe, Sie hatten gedacht, das sei „tricky" gewesen - , was den internationalen Gewässerschutz angeht, einmal einen grenzüberschreitenden Katalog zu erstellen. Die Arbeit ist im Gange; dafür sollten wir uns sicherlich Zeit nehmen.
({12})
- Ja, das ist auch richtig. Denn wer eine gute Sache abliefern will, braucht genügend Zeit dafür.
({13})
- Ich bitte Sie, Sie wissen doch selber, wie schwierig es ist, von den Staaten des Ostblocks genaue Daten zu bekommen.
Meine Damen und Herren, ich kann nur feststellen, daß unter den derzeitigen Bedingungen alle Ansätze dafür da sind, die Umweltpolitik der Bundesregierung Helmut Kohl unter Töpfer so zu entwickeln, daß sie auch, lieber Herr Lennartz, Maßstäben standhält, die nach unserer Auffassung progressiv sind. Wenn Sie meinen, daß Sozialisten, die 13 Jahre lang nichts getan haben, hier den Anspruch erheben könnten, sie seien progressiv gewesen, dann haben Sie sich selber entlarvt.
Vielen Dank, meine Damen und Herren, fürs Zuhören.
({14})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Lesung des Bundeshaushalts gibt mir die gute Gelegenheit, eine Standortbestimmung unserer Umweltpolitik vorzunehmen, das Erreichte zu kennenzeichnen und ebenfalls die vor uns liegenden Aufgaben. Dabei ist es immer richtig, wenn man von einer realistischen Analyse ausgeht. Die realistische Analyse zeigt, daß wir wohl wirklich die Wachstumsprozesse der Nachkriegszeit deutlich subventioniert haben über Natur, daß wir ganz erhebliche Hypotheken in unsere Umwelt aufgenommen haben und daß wir die Preise für unser wirtschaftliches Wachstum nicht so ausgezeichnet haben, wie sie hätten ausgezeichnet werden müssen, um alle Kosten, die dabei entstehen, auch zu berücksichtigen.
({0})
Dies ist die Voraussetzung, die Begründung dafür, daß wir uns heute mit Altlasten herumzuschlagen haben. Denn Altlasten sind nichts anderes als verdrängte Kosten früherer Produktion. Deswegen, meine Damen und Herren, möchte ich zum ganzen Hohen Hause sagen: Allein der Begriff Altlasten sollte allen Warnung sein, mit zu großer Selbstgefälligkeit jetzt zu richten, wenn gearbeitet wird.
({1})
Das ist eine wichtige Frage der intellektuellen Redlichkeit.
Ich ziehe noch einmal ganz nachhaltig diese Altlasten heran, die wir in den Deponien früherer Jahre genauso haben wie in kontaminierten Industriestandorten, die wir in belasteten, in sterbenden Wäldern haben, die wir in der Belastung von Grundwasser haben, die wir in überdüngten Fließgewässern bis hin zur Nordsee haben. Wenn wir dies erst einmal klarmachen, müssen wir doch festhalten: Umweltpolitik hat zwei wichtige Aufgabenfelder:
Sie hat sich einmal damit zu beschäftigen, diese Altlasten in Boden und Wasser, aber auch die Altlasten, wie sie in den Roten Listen der aussterbenden Tiere und Pflanzen zum Ausdruck kommen, zu beseitigen, also sanierend zu wirken. Jeder, der in einer Industrienation hochentwickelter Art Umweltpolitik macht, muß sich zunächst dieser Aufgabe stellen. Wir tun das.
Und eine zweite Aufgabe hat die Umweltpolitik: daß wir nämlich Vorsorge dafür treffen, daß wir bei der gegenwärtigen Produktion unseres Wohlstands alle mit dieser Produktion und dem Verbrauch verbundenen Kosten in den Preisen wirklich ihren Niederschlag finden lassen, die wir heute dann auch zahlen.
Ich habe mit Interesse nachgelesen, was auf dem SPD-Parteitag gesagt worden ist, daß wir nämlich aus dem, was der Club of Rome gesagt habe, keine Schlußfolgerungen gezogen hätten. Jeder, der sich mit dieser Studie einmal wirklich beschäftigt, weiß, daß es eine der entscheidenden Status-quo-Projektionen ist, zum Handeln anzuregen und nicht zu sagen, es kommt so, sondern so zu handeln, daß es nicht so kommt,
({2})
also zu einer Entkoppelung von Energie und Wachstum, zu einer Entkoppelung von Wachstum und Umweltbelastungen zu kommen. Und wenn dann heute im Laufe dieses Tages, meine Damen und Herren, jemand sagt, der, der wirtschaftliches Wachstum nachweise, weise damit die ökologische Katastrophe nach, dem sage ich, er hat von diesen Zusammenhängen leider Gottes noch keine Ahnung bekommen.
({3})
Wichtig ist - das ist für mich entscheidend, und daran lasse ich mich gerne messen - , ob uns dieser Prozeß der Entkoppelung von wirtschaftlichem Wachstum und Umweltbelastung wirklich gelungen ist. Ich sage: Daran müssen wir noch ein gut Stück zusätzlich arbeiten. Aber, meine Damen und Herren, auch das muß doch dazu gesagt werden: Dies ist nicht eine isolierte Aufgabe eines Bundesumweltministers,
({4})
sondern das ist doch - ich greife sehr gerne auf, was Sie gesagt haben - nun wirklich eine wesentliche Herausforderung für alle staatlichen Institutionen. Deswegen, meine Damen und Herren, möchte ich sehr nachhaltig für diese Gemeinsamkeit aller staatlichen Ebenen plädieren.
Ich möchte auch hier noch einmal sagen, um das nicht untergehen zu lassen: Da wird - ich greife hinsichtlich der Nordseebelastung nur zwei Beispiele heraus - angemahnt, daß wir die Dünnsäureverklappung sofort, gleich beenden sollen. Das wird auch von der SPD gefordert,
({5})
von derselben SPD, die in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen den Umweltminister stellt, in dem von den soeben angesprochenen 900 000 Tonnen Dünnsäure, die verklappt werden, zwei Drittel erzeugt werden. Und der Umweltminister dieses Landes sagt gemeinsam mit mir: Wir müssen diesen Prozeß bis nächstes Jahr durchstehen, weil wir die Nordsee damit nämlich mittel- und langfristig wirklich entlasten und nicht nur zu einer Produktionsverschiebung von der Bundesrepublik Deutschland in andere EG-Staaten kommen, die dann die Nordsee auf Dauer, länger belasten. Das, Herr Abgeordneter Schäfer, ist intellektuelle Redlichkeit, dies auch an dieser Stelle ganz genauso zu sagen.
({6})
Ich bringe Ihnen ein zweites Beispiel. Da wird vom Bundesumweltminister eingefordert, daß er die Verbrennung von Schadstoffen auf hoher See möglichst heute, gleich beendet. Ich bin ein gut Stück - ich will nicht sagen: stolz - zufrieden, daß wir die Verbrennung von Schadstoffen auf hoher See im Jahre 1988 um immerhin 30 % zurückgeführt haben, nachdem es über viele Jahre hinweg auf der Höhe von 55 000 Tonnen verblieben ist. Ich habe - denn für die Abfallbeseitigung, meine Damen und Herren, sind nun wirklich Bundesländer und Kommunen verantwortlich - die Kollegen aus Baden-Württemberg und aus Nordrhein-Westfalen - das sind nämlich die beiden Länder, aus denen die auf hoher See zu verbrennenden Abfallstoffe vornehmlich kommen ({7})
hier hergeholt und mit ihnen gesprochen. Sie sind mit mir einer Meinung, daß wir ein außerordentlich anspruchsvolles Programm durchsetzen, wenn wir die Verbrennung auf hoher See bis Anfang der 90er Jahre wirklich weghaben, und daß das eben nur geht, wenn wir nachhaltige Anstrengungen zur Vermeidung und zur Wiederverwertung unternehmen und vor dem Problem nicht wegtauchen, umweltverträgliche Abfallbeseitigungsanlagen zu erstellen. Das ist die Meinung nicht nur des Bundesumweltministers und des Kollegen Matthiesen. Das ist die Meinung auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Ich bitte, hier deutlich werden zu lassen, daß wir dies nicht nur im Bundestag erörtern, sondern am Ort gemeinsam mittragen, damit der Industriestandort Bundesrepublik Deutschland Perspektive hat.
({8})
Lassen Sie mich auch dies aufgreifen: Es ist zu bedauern und ein gutes Stück wahr, daß sich den Bürgern in unserem Land Umweltpolitik immer wieder so darstellt, als wäre sie nur auf die Bewältigung neuer Skandale und Katastrophen bezogen. Wir hatten in den letzten zwölf Monaten wieder die Pflicht, ob es Transnuklear ist, ob es massenhafte Algenentwicklung war oder ob es das Robbensterben ist, uns einen Augenöffner vorsetzen zu lassen, wo wir für den Bürger möglicherweise nur kurzfristig reagiert haben. Natürlich, Herr Abgeordneter Lennartz, erweckt es manchmal den Eindruck, als wiesen wir nur den Schadstoff des Monats nach. Es ist eine Frage der intellektuellen Redlichkeit, wenn man sagt: Erst machen wir den Schadstoff des Monats, und hinterher beklagen wir, daß ihr ihn nicht richtig bewältigt.
Auch das ist eine Vorgehensweise, die wir nicht ganz gern sehen.
({9})
Deswegen sage ich noch einmal: Ich hoffe mit allen Kollegen in den deutschen Bundesländern und mit allen, die hier im Hohen Hause vertreten sind, daß uns solche Skandale und Katastrophen erspart bleiben, damit deutlich wird, daß wir alle eine vorsorgeorientierte Umweltpolitik betreiben, die aber nicht schlagzeilenträchtig in die Presse kommt, weil ihr Erfolg ja gerade darin besteht, daß es nicht zum Skandal kommt.
Warum sagen Sie nicht: Wir haben auf einer guten Basis, die wir aus sozialliberaler Koalition fortgeführt haben, in der Bundesrepublik Deutschland Luftreinhaltepolitik weitergeführt, die sich weltweit nirgends zu verstecken hat.
({10})
Bis zu 50 Milliarden DM sind dafür investitiert worden. Der Abgeordnete Lennartz weiß das aus seiner kommunalpolitischen Tätigkeit und aus weiteren Tätigkeiten sehr gut. Herr Abgeordneter Lennartz, darf ich zurückfragen:
({11})
Wieviel D-Mark von diesen 50 Milliarden haben sich im Haushalt irgendeines Bundesumweltministers niedergeschlagen? Null. Wenn Sie vom Volumen des Bundeshaushalts her die Kriterien anlegen, müßte ich Ihnen sagen: Die deutsche Luftreinhaltepolitik ist grandios gescheitert. Denn es hat noch nie auch nur eine Mark dafür im Umwelthaushalt gestanden.
({12})
Das Gegenteil ist der Fall. Überall dort, wo ich gezwungen werde, den Bundeshaushalt in Anspruch zu nehmen, bringe ich den Beleg dafür, daß ich in der Durchsetzung des Verursacherprinzips gescheitert bin und zur Gemeinlast übergehen muß. Das ist der Zusammenhang; nichts anderes.
({13})
Diese Zusammenhänge möchte ich allerdings sehr gern fortsetzen. Für mich hat vorsorgeorientierte Umweltpolitik dann Erfolg, wenn es uns gelingt, die 9 Milliarden DM, die allein von der Industrie aufgebracht werden müssen, um Nährstoffe aus ihrem Abwasser durch Direkteinleiter und Indirekteinleiter herauszuholen, nicht mit einer einzigen Mark in den Haushalt gelangen, sondern sich allein in den Bilanzen der Unternehmen niederschlagen.
({14})
Für mich hat vorsorgeorientierte Umweltpolitik dann
erfolgreich gearbeitet, wenn es gelingt, daß diese
9 Milliarden DM, die erforderlich sind, um die gefährlichen Stoffe nach § 7 a des Wasserhaushaltsgesetzes aus den industriellen Abwassern herauszubekommen, sich mit keiner Mark im deutschen Bundeshaushalt, sondern in den Bilanzen der Unternehmen niederschlagen, die dieses Abwasser produzieren.
({15})
Das hat - Sie wissen es - eine faszinierende zusätzliche Wirkung. Denn diese Gelder, die in den Bilanzen stehen, meine Damen und Herren, sind die besten Anreize um das Nachdenken über Vermeidung auf den Sprung zu bringen. Das ist Marktwirtschaft.
({16})
Wer hier herkommt und sagt, wir machen eine marktwirtschaftliche Umweltpolitik, und dann die Steuern erhöhen will, der kann vorher zwar „Marktwirtschaft" gesagt haben, aber mit Marktwirtschaft hat das zunächst einmal nichts zu tun.
({17})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Waltemathe?
Herr Bundesminister, abgesehen davon, daß ich gar keinen Dissens entdecken konnte, was Ihre Ausführungen über die 9 Milliarden DM betraf - Herr Lennartz hat genau dasselbe gesagt -,
({0})
darf ich nach Ihren Ausführungen, daß sich keine Mark im Bundeshaushalt findet, schließen, Sie haben für zusätzliche Umweltpolitik, die staatlich finanziert, angereizt, subventioniert oder erforscht werden muß, gar keine Mark von Herrn Stoltenberg gefordert, so daß er gar nichts ablehnen konnte? Habe ich das bis jetzt richtig verstanden: Sie haben überhaupt nichts eingefordert, selbst das nicht - das will ich doch erwähnen - , was der Haushaltsausschuß im letzten Jahr verlangt hat, nämlich daß der Investitionstitel um den Betrag erhöht wird, um den die MARPOL-Entsorgung in deutschen Seehäfen diesen Topf in Anspruch nimmt?
({1})
Herr Abgeordneter Waltemathe, es ist immer gut, wenn man in der Mitte seiner Ausführungen unterbrochen wird. Das hat zwei gute Vorteile. Man kann darüber nachdenken, ob man alles, was man bis hierhin sagen wollte, schon gesagt hat, und sich auf das konzentrieren, was kommt. Was Sie erwähnt haben, ist genau die Konzentration auf das, was kommt. Ich habe zunächst einmal deutlich gemacht, was mein Ziel ist, was ich im Bundeshaushalt nicht haben will.
({0})
Dann kommt der zweite Teil, in dem ich sage, was ich im Bundeshaushalt haben will. Genau darauf möchte ich gern eingehen.
({1})
Es war für mich ganz bedeutsam zu sehen - ich freue mich sehr darüber - , daß in diesem Hohen Haus mit mir die Meinung vertreten wird, die Qualität der Umweltpolitik in einer Marktwirtschaft ist daran abzulesen, daß das Verursacherprinzip nahtlos durchgesetzt wird. Denn dadurch kann man zwei Punkte verbinden. Mit der Durchsetzung des Verursacherprinzips bekommt man automatisch die Anreize, die man für einen umweltsparenden technischen Fortschritt braucht.
({2})
Daß wir das haben, zeigt Ihnen jede Messe in Hannover. Die letzte Hannover-Messe, Herr Abgeordneter Lennartz, hat uns das schon gebracht, was Sie uns anempfehlen. Sie stand unter dem Motto: Umwelttechnologien. Zum erstenmal hatte der Bundesumweltminister die Schirmherrschaft über eine Industriemesse in Hannover übernommen. Warum? Weil Umwelttechnologien aus der Bundesrepublik Deutschland bereits zu dem Exportschlager geworden sind, von dem Sie glauben, wir müßten ihn erst demnächst bewirken. So ist die Situation.
Lassen Sie mich, bevor ich weiterfahre, einen Punkt aufgreifen, der für mich - ich sage das mit einiger Betroffenheit - doch zentral ist. Da wird gesagt: Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland verantwortliche Minister, die für Reaktorsicherheit zuständig sind. Die wollen bestimmte Reaktoren oder Einrichtungen der Kernenergie nicht mehr ans Netz gehen lassen, weil sie Sicherheit vor Wirtschaft stellen, und dann kommt dieser Bundesumweltminister und macht das Gegenteil. Er setzt Wirtschaft vor Sicherheit. - Das ist - Herr Abgeordneter Schäfer, Sie können es in Ihrem Manuskript nachlesen; es wäre aber besser, wenn Sie es nicht dort, sondern nur noch im Protokoll nachlesen könnten - an der Grenze dessen, was man hinnehmen darf. Denn das bedeutet, daß man diesem Minister unterstellt, er nähme bewußt Gesundheits- und Lebensrisiken in Kauf.
({3})
Ich muß Ihnen ganz deutlich eines sagen: Für mich steht unzweifelhaft fest, daß eine wie auch immer geartete Sicherheitsfrage erst geklärt sein muß, bevor überhaupt daran gedacht werden kann, irgendeinen Reaktor wieder ans Netz zu nehmen. Aber genauso unzweifelhaft muß doch sein, daß wir das Ziel, aus der Kernenergie auszusteigen, nicht dadurch erfüllen, daß wir aus der Verantwortung für die Kernenergie aussteigen. Und genau das macht der Kollege Jansen.
({4})
Er steigt nicht aus der Kernenergie aus, sondern er
steigt aus der Verantwortung für die Kernenergie aus.
Man muß sich das auf der Zunge zergehen lassen. Am 11. August bekommt der Kollege Jansen das Gutachten vom TÜV Norddeutschland. Am 12. August schreibt er mir, daß er sich diesem nicht anschließe, weil er Sicherheitsbedenken habe. Und er fügt hinzu, er bitte um Stellungnahme oder Weisung. Das steht in dem Brief drin.
Wir haben das sachgerecht überprüft und sind zu demselben Ergebnis gekommen wie der Gutachter des Ministers, der mir diesen Brief schrieb und um Weisung bat. Wir haben alle anderen Sachverständigen mit herangezogen und sind zu dem Ergebnis gekommen, daß es kein Sicherheitsrisiko ist. - Und nun kommen Sie hierher und sagen, ich setzte die Wirtschaftlichkeit vor die Sicherheit. Dies ist nicht mehr akzeptabel.
({5})
Deswegen mit allem Nachdruck: Ich bin der festen Überzeugung, daß wir politisch gute Argumente dafür haben können, Herr Abgeordneter Schäfer, daß jemand aus der Kernenergie aussteigt. Aber wenn er das damit tut, daß der schleswig-holsteinische Wirtschaftsminister seiner Wirtschaft sagt: keine Sorge, die Strompreise bleiben so; denn wir haben dort in Bonn einen, der auch dann wieder anstellt, wenn unser Herr Jansen, der ja aussteigen will, das nicht mehr machen will, dann hat das mit Sicherheit nichts zu tun, sondern das hat dann etwas damit zu tun, die Verantwortung für Kernenergie abzulehnen, nicht die Kernenergie selbst.
({6})
Meine Damen und Herren, wenn sich das weiter durchsetzt, dann bitte ich um hohes Verständnis dafür, daß wir uns darüber Gedanken machen müssen, wie wir denn Zuständigkeit und Verantwortung wieder zusammenfassen. Auch das ist damit verbunden.
Herr Abgeordneter Lennartz, wer das hohe Wort Verantwortung in den Mund nimmt - Sie haben das hier mehrmals getan - , kann diese Verantwortung nicht bereits dann als erfüllt ansehen, wenn er aus einer zugegebenermaßen schwierigen Technologie seinen Abschied nimmt und anderen die Probleme hinterläßt, sondern darf das erst dann tun, wenn er sich auch fragt, wie die damit verbundenen Probleme gelöst werden sollen. Auch das ist Verantwortung. Darauf sollten wir Wert legen.
({7})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Daniels?
Gerne, ja.
Bitte sehr.
({0})
Das ist keine weitere Zwischenfrage, sondern meine erste.
Entschuldigen Sie mal, Herr Waltemathe hat schon eine gestellt. Und dann ist das eine weitere Zwischenfrage.
Das bezog sich nicht auf mich, gut. - Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht kritisieren.
Herr Töpfer, wenn ich bei Ihnen das Wort Verantwortung höre, möchte ich Sie fragen, ob Sie mit einer Darstellung übereinstimmen, die mein bayerischer Kollege Gerhard Polt zu dem Thema Verantwortung geliefert hat. Er verglich Herrn Töpfer mit einem Mitglied einer Firma, die professionell Verantwortung übernimmt. Wenn Krisen auftreten, schickt man den Herrn Töpfer nach vorn, und er sagt dann: Ich übernehme die Verantwortung, ich übernehme die Verantwortung. - Und wenn es kritisch wird, werden Sie wieder zurückgezogen.
Also, bei aller Bereitschaft mitzudenken, habe ich den Sinn einer Frage nicht gesehen.
({0})
Aber dies, Herr Präsident, soll keine wie auch immer geartete Kritik sein. Ich habe hiermit zur Kenntnis genommen, daß es die Darstellung dieses Herrn gibt.
({1})
Aber zurück zum Thema: Das ist für den Bundesumweltminister schon von großer Bedeutung in diesem Haushalt. Wir haben eine ganze Reihe von Aufgaben, bei denen ich sage: Natürlich brauchen wir eine Unterstützung, damit nicht dort, wo im Zusammenhang mit dem Verursacherprinzip sonst etwas notleidend wird, nicht gehandelt wird. Deswegen bin ich natürlich nachhaltig daran interessiert, daß wir die von Ihnen angesprochenen Mittel in den Haushalt hineinbekommen.
({2})
- Lassen Sie mich doch weitersprechen. - Deswegen bin ich also nachhaltig daran interessiert, daß wir von den Mitteln, 2,4 Milliarden DM, die in diesem Haushaltsjahr erstmals an finanzschwache Länder gehen, ein möglichst hoher Anteil für solche Maßnahmen reserviert wird, die dem Umweltschutz dienen. In der Saar-Konferenz ist das bereits mit aller Nachdrücklichkeit festgehalten worden, daß für die Sanierung grenzüberschreitender Gewässer, vor allem aber für die Sanierung der Abwasserbeseitigungsanlagen im Saarland - das nach wie vor nur zu etwas über 50 % mit biologischen Kläranlagen ausgerüstet ist; von dritter Reinigungsstufe ganz zu schweigen - gerade diese Mittel eingesetzt werden sollen. Man kann an dieser Stelle sicherlich festhalten, daß ein Umweltminister auf diesem Gebiet gern noch mehr hätte. Aber eines steht fest: Die Qualität seiner Umweltpolitik kann ich daran nicht ablesen, sondern diese kann ich an der Tatsache ablesen, ob er wirklich, wie es in seinem Konzept vorgegeben ist und wie er es für richtig hält, verursacherorientiert die Umwelt durch Sanierung und Vorsorge entlastet. Das ist das Kriterium.
({3})
- Zu MARPOL habe ich doch gerade etwas gesagt. Dennoch, Frau Abgeordnete, ist das ein guter Hinweis. Ich habe mich zumindest ein gutes Stück mit darüber zu freuen, daß das, was wir auf der Londoner Nordseekonferenz beschlossen haben, nämlich daß keine Müllentsorgung von Schiffen aus mehr vorgenommen werden darf, auch Beschlußlage der IMO, der internationalen Vereinigung der Meteorologen, ist. Das ist ein wichtiger Schritt, den wir durch unsere Aktivität ermöglicht haben.
Weil ich das Verursacherprinzip durchsetzen muß, ist es für mich so wichtig, daß sich von den etwas über 800 neuen Stellen, die der Haushalt insgesamt ausweist, gut 200 Stellen in meinem Haushalt niederschlagen. Mein Aufgabengebiet ist nämlich arbeitsintensiv. Ich muß in besonderer Weise Mitarbeiter dafür bekommen. Ich bedanke mich nachhaltig, Herr Abgeordneter Baum, daß Sie gesagt haben: Wir wollen Ihnen im personellen Bereich behilflich sein.
Ich muß meinen Mitarbeitern - das sage ich ohne falsche Untertöne - nachhaltig danken; denn sie sind diejenigen, die die jeweiligen aktuellen Krisen und Skandale abzuarbeiten haben, ohne Rücksicht auf ihre Arbeitszeit. Ich muß sagen, daß sie das im letzten Jahr mit hoher Qualität und mit großem Engagement getan haben.
({4})
Ich bin froh darüber - lassen Sie mich auch das sagen -, daß es uns zum erstenmal gelungen ist, Mittel für die Förderung umweltverträglicher Investitionen in meinem Haushalt zu erhalten und daß sie in gewissem Umfang für Maßnahmen in der DDR verwendet werden können. Sie können natürlich sagen: Diese Tür müßte weiter geöffnet werden. Daran werden wir weiter arbeiten. Wichtig ist, daß wir diese Tür überhaupt geöffnet haben; die Projekte in dieser Beziehung sind ja bekannt. Es wurde - ich glaube, vom Abgeordneten Baum - im Zusammenhang mit der Quecksilberbelastung die Alkali-Chlorid-Elektrolyse angesprochen. Das ist eines der fünf ganz konkreten Projekte, die mit Hilfe unserer Umwelttechnologie, die auf Grund einer engagierten Umweltpolitik bei uns entwickelt werden mußte, durchführbar sind.
Wir werden auch finanziell ein Stück daran mitwirken. Wir haben diese Tür im Haushalt ein Stück aufbekommen. Wir haben über die Kreditanstalt für Wiederaufbau ({5}) und die Deutsche Ausgleichsbank die Möglichkeit, daran weiterzuarbeiten. Es ist unbedingt notwendig, daß wir in Buna die zirkulierende Wirbelschichtfeuerung für salzhaltige Braunkohle mit fördern. Das wollen wir auch tun. Es ist notwendig, daß wir zur Reinigung chemischer Abwässer die bei uns vorhandene Technologie mit Turmreaktoren anbieten und mit finanzieren. In dieser Richtung müssen wir vorankommen. Wir dürfen nicht in die Situation geraten, daß diese Probleme mit politischen Fragen vermischt werden, etwa mit Grenzfragen. Das ist nämlich etwas anderes.
Wir brauchen im innerdeutschen Bereich eine Umweltpolitik, die sich an den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der heutigen Generation und der kommenden Generationen orientiert. Lassen Sie mich deutlich sagen: Wir sollten hier nicht mit wechselseitigen Vorwürfen Konflikte schaffen; das tun wir ja in vielen Sachdiskussionen auch nicht. Muß es denn so sein, daß jemand sich unbedingt dadurch bemerkbar macht, daß er dem anderen zunächst einmal vorwirft, dieser packe überhaupt nichts an und sei der letzte bezüglich Konzeption und Durchführung? Aber im Ausschuß setzen wir uns hinterher zusammen und sagen: Wir können überall ein Stück des Weges gemeinsam gehen.
Aus dieser Diskussion im Deutschen Bundestag über die Umweltpolitik sollte die kleine Botschaft nach außen dringen, daß es in der Verantwortung für Natur, Umwelt und Schöpfung ein gutes Stück Gemeinsamkeit gibt, der wir uns in unseren Programmen, die wir durchführen, Herr Abgeordneter Baum, im neuen Bundesnaturschutzgesetz, im neuen Bundes-Immissionsschutzgesetz und in der Weiterentwicklung des Chemikaliengesetzes zu widmen haben. Wir haben es in der Störfallverordnung getan. Wir haben die Kleinfeuerungsanlagen-Verordnung verabschiedet. Wir haben bei Diesel- und anderen Brennstoffen den Schwefelgehalt reduziert. Es ist gearbeitet worden - das ist festzuhalten -, aber es gibt weiß Gott noch viel zu tun, und ich erhoffe mir die Unterstützung des ganzen Hauses dafür, denn diese Aufgabe wird in dieser Generation nicht endgültig erledigt.
Ich danke Ihnen sehr herzlich.
({6})
Meine Damen und Herren, wir sind mit diesem Abschnitt der Beratungen über den Haushalt zu Ende.
Interfraktionell ist vereinbart worden, nach der Mittagspause um 14 Uhr zunächst mit der Beratung über eine Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu beginnen. Es geht um die Einwilligung in die Veräußerung einer bundeseigenen Wohnsiedlung bei Helmstedt.
Im Anschluß daran werden wir etwa gegen 14.30 Uhr die Haushaltsberatungen fortsetzen. Wir treten in die Mittagspause ein.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Die Sitzung wird weitergeführt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({0}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung gemäß § 64 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung zur Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung in Mariental-Horst bei Helmstedt
- Drucksachen 11/2301, 11/2561 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Struck Roth ({1})
Frau Vennegerts
Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2874 vor.
Interfraktionell ist für die Beratung ein Beitrag bis zu 5 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Roth ({2}).
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nicht wenige von uns werden vermutlich darüber verwundert gewesen sein, daß diese Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses hier im Plenum des Hauses erneut zur Aussprache gestellt wird. Der Haushaltsausschuß hat nämlich am 22. Juni 1988 mit großer und eindeutiger Mehrheit, nämlich mit den Stimmen der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD, in die vom Bundesfinanzminister beantragte Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung Mariental-Horst bei Helmstedt eingewilligt. Meine Damen und Herren, dies ist nach sorgfältiger Beratung, Prüfung und Abwägung geschehen, insbesondere im Blick auf die beiden Kernfragen, die sich hier stellen, ob nämlich die Grundstücke für Zwecke des Bundes entbehrlich sind und ob zum anderen die Belange der betroffenen Mieter gebührende Beachtung gefunden haben. Beide Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nach allem, was vorgetragen wurde, offenbar gegeben, so daß nicht der geringste Anlaß besteht, der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses nicht zu folgen.
Worum geht es in der Sache, meine Damen und Herren? Die Wohnanlage Mariental befindet sich außerhalb der geschlossenen Ortslage auf dem Gelände eines früheren Fliegerhorstes. In vier ehemaligen Mannschaftsunterkünften, um 1938 erbaut, wurden nach dem Kriege 204 sogenannte Schlichtwohnungen geschaffen, und zwar in überwiegend kleinen Wohneinheiten. Diese Liegenschaften werden nun für die Wohnungsfürsorge oder für sonstige Aufgaben des Bundes nicht benötigt, weil, wie Sie wissen, die allgemeine Wohnraumversorgung der Bürger nicht zu den Aufgabenstellungen des Bundes in eigener Trägerschaft gehört.
Meine Fraktion unterstützt deshalb seit langem die Bemühungen der Bundesregierung, sich Zug um Zug von entbehrlichem Wohnungsbestand zu trennen. Wir erwarten allerdings ebenso, daß im Einzelfall die Mieterbelange sorgfältig gewahrt werden.
({0})
Dazu gehört auch, daß die entbehrlichen Bundeswohnungen den Mietern zunächst selbst zum Erwerb angeboten werden. In Mariental-Horst haben entsprechende Mieterbefragungen allerdings keine sichtbare Resonanz gehabt. Auch die Gemeinde oder der Landkreis oder sonstwie in Betracht kommende Wohnungsbaugesellschaften haben kein Kaufinteresse
Roth ({1})
geäußert, so daß die Liegenschaften schließlich öffentlich zum Verkauf ausgeschrieben worden sind.
In seinem notariellen Kaufangebot hat der unter 22 Interessenten letztlich ausgewählte Kaufbewerber die im einzelnen zum Schutz der Mieter geforderten Auflagen der Bundesvermögensverwaltung akzeptiert und sich dazu verpflichtet, die Mietverhältnisse für die nächsten sechs Jahre fortzusetzen. Was dort im einzelnen festgelegt wurde, geht deutlich über die bestehenden gesetzlichen Regelungen und über das soziale Mietrecht, den Mieterschutz, hinaus. Schon diese aber stellen ja bekanntlich sicher, daß der Käufer einer vermieteten Wohnung keine zusätzlichen Kündigungsrechte erwirbt. Er kann auch keine Mieterhöhungen aussprechen, zu denen nicht schon der vorherige Eigentümer - in diesem Fall der Bund - selbst berechtigt gewesen wäre.
Sichergestellt ist darüber hinaus auch, daß innerhalb dieser sechs Jahre keine aufwendigen Modernisierungen durchgeführt werden, es sei denn zur Einsparung von Heizenergie oder zur Herstellung eines allgemein üblichen gebrauchsfähigen Zustandes dieser Wohnungen.
Die Erwerber haben im übrigen ausdrücklich versichert, die Wohnanlage weiter zur Vermietung vorzuhalten und keine Eigentumswohnungen zu bilden. Vielleicht interessiert Sie auch, meine Damen und Herren, daß zur Zeit elf Wohnungen überhaupt nicht vermietet sind und daß unter den 179 vorhandenen Mietparteien der Anteil der Wohngeld- und Sozialhilfeempfänger relativ gering ist. Andererseits besteht der Kreis dieser Mieter fast zur Hälfte aus Rentnern und Pensionären. Deshalb erscheint es meiner Fraktion und auch mir selbst sehr vernünftig, daß hier mit den Erwerbern entsprechende Abmachungen zur Bestands- und Substanzerhaltung getroffen worden sind. Dies ist wichtig.
Meine Damen und Herren, der Haushaltsausschuß hat sich, wie aus dem Gesagten deutlich wird, seine Prüfung nicht leichtgemacht; er hat sorgfältig beraten. Es ist sicherlich auch unsere parlamentarische Pflicht, darauf zu bestehen und darüber zu wachen, daß die betroffenen Mieter in ihren Rechten Beachtung finden und daß sie ausreichend unterrichtet werden. Um so mehr wenden wir uns allerdings gegen die sachfremde Polemik von seiten der GRÜNEN an Ort und Stelle, mit der versucht wird, nun Unruhe in den Kreis dieser Mieter hineinzutragen.
Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, der Vorlage zuzustimmen.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Müntefering.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Wohnungspolitik der Bundesregierung paßt angesichts der Situation auf dem Wohnungsmarkt wie die Faust aufs Auge. Das gilt in bezug auf die Modernisierung, die Sie gestrichen haben. Das gilt in bezug auf die Förderung des Wohnungsbaus überhaupt, der reduziert worden ist und der ja auch 1988/89 weiter reduziert wird. Das gilt für die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Das gilt für das, was Sie jetzt für den Aussiedlerbereich vorgeschlagen haben, wo nach dem System der kommunizierenden Röhren der eigentliche Haushalt reduziert, der Aussiedlerhaushalt ein bißchen aufgestockt wird, wobei aber in Wirklichkeit gar nicht mehr herauskommt. Zu dieser Wohnungspolitik gehört auch, daß Sie teilweise - nicht an allen Stellen, aber teilweise, auch in dem konkreten Fall, um den es hier geht - Wohnungen in einer Situation verkaufen, in der das höchst zweifelhaft ist.
Es geht um 200 Wohnungen, die verkauft werden, und um ungefähr 50 000 m2 Grundstücksfläche. Jede Wohnung: 20 000 DM; das ergibt umgerechnet 20 DM pro m2 Grundstücksfläche. Der Bund will die Wohnungen nicht mehr haben. Die Gemeinde wollte die Wohnungen nicht haben. Die Wohnungsbaugenossenschaften wollten die Wohnungen nicht haben. Die Mieter wollten auch nicht kaufen. Nun darf man ja wohl fragen, weshalb nicht. Offensichtlich kann man mit dem Objekt, so wie es dort steht, keinen Gewinn machen. Nun verkauft der Bund aber an einen Privaten, und ich frage Sie: Was glauben Sie wohl, aus welchen Motiven heraus Private diese Wohnungen kaufen? Sie werden dort Gewinn machen wollen, und sie werden auch Gewinn machen. Die Methode, mit der man das macht, ist bekannt: Man erhöht die Mieten, und man kann sie im ersten Jahr um 30 % erhöhen, weil man jedes Jahr um 10 % erhöhen kann. Man verdrängt die Mieter, man modernisiert, und zwar so, daß diejenigen, die in diesen Wohnungen wohnen, die Miete nicht mehr bezahlen können und herausgehen. So kann man Geld an solchen Wohnungen verdienen; das ist klar.
Weil das aber so ist und weil wir nicht möchten, daß die Mieter unter diesen Druck kommen - wir haben uns in der letzten Woche vor Ort noch einmal ausführlich umgesehen; der Kollege Seidenthal, der aus dieser Region kommt, hat sich noch einmal mit den Mietern und mit den Betroffenen besprochen - , möchten wir nicht, daß diese Wohnungen jetzt verkauft werden mit dem Risiko, daß die Mieter, die zum Teil 30 Jahre und länger in diesen Wohnungen wohnen, verdrängt werden.
Nun sind zwei Kriterien aufgezeigt worden, die gerade noch einmal angesprochen worden sind, die angeblich den Mieterschutz in besonderer Weise betonen. Dazu will ich Ihnen aber sagen: Die Formulierung, daß man erst nach sechs Jahren kündigen kann, ist keinen Pfifferling wert, denn wenn die neuen Eigentümer anfangen, die Wohnungen zu modernisieren, gibt es kein privates Mittel, das aufzuhalten. Die Formulierung, daß das nur in dem üblichen Umfang geschehen wird, bedeutet ja nicht, daß nicht modernisiert wird. Es sind offensichtlich Wohnungen, die nicht in einem besonders guten Zustand sind. Wenn man jetzt anfängt, Heizungen einzubauen und zu modernisieren, wird das dazu führen, daß die Mieten explosionsartig steigen und gerade die älteren Menschen, die Rentner, die sozial Schwachen, die darin wohnen, in besonderer Weise belastet werden.
Weil das alles so ist, schlagen wir vor, daß wir den Beschluß des Haushaltsausschusses zurücknehmen und hier gegen den Verkauf der Wohnungen entscheiden.
Allerdings spreche ich micht auch dagegen aus, den Änderungsantrag der GRÜNEN anzunehmen. Darin ist ergänzend zu dem richtigen Vorschlag, nicht zuzustimmen, vorgeschlagen worden, wir sollten von dieser Stelle aus der Bundesregierung vorschlagen, die Modernisierung dieser Wohnungen zu beginnen. An dieser Stelle frage ich uns einmal als Parlamentarier, ob es vernünftig ist, daß wir über Objekte dieser Größenordnung hier entscheiden müssen, oder ob wir nicht einmal in einer konzentrierten Diskussion in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages dafür sorgen müssen, daß wir Klarheit bekommen.
({0})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Nein, ich bin sofort fertig.
Insgesamt ist es eine interessante Größenordnung an Wohnungen, die noch in Frage steht. 25 000 Wohnungen, so hat man uns angekündigt, sollen noch verkauft werden. Unser Vorschlag ist heute, dem Verkauf nicht zuzustimmen und dafür zu sorgen, daß in den zuständigen Ausschüssen des Bundestages ausführlich darüber gesprochen und eine Regelung dafür gefunden wird, nach der das Verkaufsvorhaben der Bundesregierung entweder gebremst oder zumindest so ausgestaltet wird, daß es für die Mieter erträglich ist.
Vielen Dank.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Zywietz.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich meine, die Debatte zu diesem Punkt hier im Plenum ist vollkommen überflüssig.
({0})
Wir hätten ohne sie in der Sache nichts versäumt, aber wir hätten gute parlamentarische Arbeitszeit gespart, die ja keineswegs so üppig ist, wie manche in der Öffentlichkeit derzeit glauben machen wollen.
({1})
Der Sachverhalt ist doch klar und auch im Haushaltsausschuß unter den beiden Aspekten, die Kollege Roth hier deutlich gemacht hat, seriös beraten worden. Ist dieses Eigentum für den Bund entbehrlich? Die Antwort ist ganz klar: Ja, wir brauchen an dieser Stelle keine Kaserne. Auch die Belange der Mieter - das ist dargelegt worden - sind in anständiger und gebührender Weise gewahrt worden. Von daher ist das, wie wir das in diesem Hause zu nennen pflegen, von der Sache her eigentlich ein Selbstgänger. Das einzig Neue und Bemerkenswerte ist, daß die SPD offensichtlich aus taktischen und nicht aus sachlichen Gründen ihre Meinung geändert hat, denn im Haushaltsausschuß gab es nur eine Enthaltung und eine Gegenstimme, und die SPD hat in ihrer Mehrheit mitgestimmt. Das scheint jetzt nicht mehr so zu sein.
Obwohl der Sachverhalt keine neuen Aspekte hergibt, ist jetzt ein anderes Verhalten angezeigt.
Ich will es uns ersparen, Kollege Müntefering, daß wir an solch einem Punkt, der von der Größenordnung her doch vollkommen unangemessen ist, eine wohnungspolitische Grundsatzdebatte über die wohnungspolitische Versorgung in dieser Republik führen; sie wird an diesen 200 Wohnungen, wenn sie schlecht sein sollte, nicht genesen, aber sie ist noch nicht einmal schlecht.
({2})
- Die bleiben ja auch dort wohnen
({3})
Es ist dargelegt worden, wie die vertraglichen Regelungen aussehen und daß innerhalb von sechs Jahren keine Kündigungen erfolgen. Daß die Wohnungen modernisiert werden: Wer will denn etwas dagegen haben, wenn Wohnungen besser gemacht werden, um dem humanen, dem ganz normalen Bedarf adäquat hergerichtet zu werden? Für Energieeinsparungen sind wir hier doch alle. Ich weiß doch, das ist einer der wenigen Punkte, bei dem SPD, GRÜNE, CDU und FDP einer Meinung sind: Energiesparen muß sein. Wenn in bezug auf Energiesparen modernisiert wird, dann ist es das Beste, was geschehen kann. Daß das auch einen Kostenansatz zur Folge hat, ist genauso klar.
Ich kann eigentlich nur feststellen, daß dies hier ein ausgesprochen sinnvolles Unterfangen ist, daß darüber seriös beraten wurde und daß die FDP dafür ist, daß die Wohnungen verkauft werden. Hier werden bisher im Eigentum der Bundesrepublik befindliche entbehrliche Gebäude und nicht irgendein Tafelsilber verkauft, das man nicht aus der Hand geben sollte. Wir stimmen zu.
Ich bedanke mich.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Brauer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dem sehr kleinen niedersächsischen Ort Mariental-Horst besitzt der Bund ehemalige Kasernenanlagen aus dem Zweiten Weltkrieg, die zu Wohnungen umgebaut wurden. Mehr als 200 sollen nach dem Willen des Finanzministeriums verkauft werden. Einige Wohnungen entsprechen dem Standard des sozialen Wohnungsbaus; viele sind äußerst renovierungsbedürftig. Obwohl sie zum Teil in einem desolaten Zustand sind, werden sie auf Grund des großen Mangels an preisgünstigem Wohnraum unter menschenunwürdigen Bedingungen bewohnt. Zehn bis fünfzehn Wohnungen sind in einem so katastrophalen Zustand, daß sie einfach nicht bewohnbar sind. Viele verfügen über keine Kücheneinrichtungen; es fehlen Bäder und Heizmöglichkeiten. Zum Duschen muß in eine Gemeinschaftsdusche im Keller gegangen werden, der im Winter noch unter Wasser steht. Ich habe mir die Wohnungen selber angeschaut und muß ganz deutlich feststellen: Der Bund hat seine
Instandhaltungs- und Instandsetzungspflicht grob vernachlässigt.
Meine Damen und Herren, es ist ein Skandal, wie die Regierung öffentliches Eigentum herunterkommen läßt und was sie Menschen zumutet, die auf diese bundeseigenen Wohnungen in diesem kleinen Ort angewiesen sind. Dabei hat der Bundesminister für Raumordnung, Städtebau und Bauwesen erst vor kurzem, nämlich am 19. Juli und am 8. August, erklärt, gerade die Unternehmen der öffentlichen Hand würden nach Aufhebung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes ihren Sozialauftrag ohne Einschränkungen fortführen, sie würden mit besonderer Aufmerksamkeit betrachtet, ihr Verhalten würde Signalfunktion haben, und sie würden mit gutem Beispiel vorangehen. Wie muß das erst bei bundeseigenen Wohnungen gelten, wo die Bundesregierung - wie im Fall Mariental-Horst - direkt verantwortlich ist?
Meine Herren vom Finanz- und Bauministerium, ich frage Sie: Ist das der Sozialauftrag? Sind solche Zustände das gute Beispiel? Ist das die Signalfunktion, preisgünstige Wohnungen herunterkommen zu lassen und sie dann zu privatisieren?
Meine Damen und Herren, an diesem konkreten Beispiel wird wieder einmal der Gegensatz zwischen Verlautbarungen der Regierung und dem tatsächlichen Handeln deutlich. Eine ganze Wohnanlage wird vernachlässigt und dann an eine ortsfremde Person abgestoßen. So geht immer mehr preisgünstiger Wohnraum auf dem freien Wohnungsmarkt zum Nachteil der Mieterinnen und Mieter verloren. Dieser Fall Mariental-Horst paßt sich damit in die Regierungspolitik ein, nämlich in die unsoziale Politik, in die Politik der Umverteilung von unten nach oben. Hier wird dem Spekulantentum Tür und Tor geöffnet.
({0})
Das befürchten auch die Einwohner von MarientalHorst, die sich beinahe vollzählig gegen den Verkauf ausgesprochen haben.
Ich teile diese Befürchtung und fordere ganz konkret für die Wohnanlage Mariental-Horst:
Erstens. Die Wohnanlage mit gut 200 Wohnungen wird - gerade aus der sozialen Verpflichtung heraus - nicht verkauft.
Zweitens. In Absprache mit den Mieterinnen und Mietern und unter Berücksichtigung der sozialen Verhältnisse müssen die Gebäude saniert werden, so daß dort in allen Wohnungen menschenwürdige Zustände hergestellt werden.
Drittens. Ab sofort werden keine weiteren der bis jetzt leerstehenden Wohnungen vermietet, bis diese grundlegend umgebaut und mit Kücheneinrichtung, Bad und Heizung versehen sind.
Eines möchte ich noch anfügen: Es ist doch ganz erstaunlich, daß in der ersten Woche nach der Sommerpause, in der eigentlich nur die Generaldebatten des Haushalts stattfinden, dieser Punkt dazwischengeschoben wurde und daß über ihn ohne Debatte abgestimmt werden sollte. Meine Herren vom Finanzministerium, sagen Sie doch einmal ganz ehrlich:
Warum haben Sie es mit dem Verkauf so eilig? Gibt es schon befristete Verträge, so daß mit dieser Abstimmung nur noch nachvollzogen wird, was schon längst ohne Beteiligung des Parlaments beschlossen wurde? Dann wäre es auch verständlich, daß keine Zeit mehr blieb, die Mieterinnen und Mieter rechtzeitig zu informieren, worüber sie sich berechtigterweise beschweren. Eine Mieterversammlung hat bis heute nicht stattgefunden.
Ich beantrage, über die Nr. 1 aus unserem Änderungsantrag, über den Nichtverkauf, hier jetzt sofort abzustimmen und den zweiten Teil unseres Änderungsantrages in die Fachausschüsse zu überweisen.
({1})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Voss.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der Veräußerung der bundeseigenen Wohnsiedlung Mariental-Horst bei Helmstedt setzt der Bund seine Bemühungen fort, sich von entbehrlichem Wohnungsbestand zu trennen. Denn es kann nur Aufgabe des Bundes sein, diejenigen Wohnungen in seinem Eigentum und in seinem Besitz zu halten, die er zur Erfüllung seiner Aufgaben braucht. In den vergangenen fünf Jahren sind jährlich rund 500 bis 600 Wohnungen verkauft worden. Dabei sind, Herr Müntefering, nicht die Befürchtungen eingetreten, die Sie hier an die Wand gemalt haben.
Der Sachverhalt ist im einzelnen von den Kollegen Roth und Zywietz bereits geschildert worden, so daß ich das, um Wiederholungen zu vermeiden, hier nicht noch einmal tun will.
Ich will nur feststellen, daß, wie bei allen Verkäufen, der Bund auch hier die Belange der Mieter wahren wird. Die Käufer verpflichten sich über soziales Mietrecht hinaus zu verstärktem Mieterschutz für die Dauer von sechs Jahren. Das heißt, es gibt grundsätzlich keine Kündigungen, es gibt keine Modernisierungen, und es gibt keine unvertretbaren Mieterhöhungen. Die Mieter bleiben darüber hinaus durch die sonstige soziale Sicherung wie Wohngeld und Sozialhilfe gesichert. Alle Verpflichtungen der jetzigen Käufer gehen auch auf Folgeerwerber über, so daß der Bund mit Recht davon ausgehen kann, daß die Mieter auch bei Eigentümerwechsel in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können.
Wie bereits erwähnt, wollte die Gemeinde nicht erwerben. Sie hat aber ihrerseits keine Bedenken dagegen, daß der Bund dieses Objekt veräußert. Die Mieter sind im übrigen eingehend informiert worden. Auch die haushaltsrechtlichen Voraussetzungen sind gegeben.
Im übrigen - auch das ist bereits gesagt worden - haben der Haushaltsausschuß und der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau diese Angelegenheit eingehend diskutiert, und sie haben mit Mehrheit für die Veräußerung gestimmt.
So darf ich auch Sie, meine Damen und Herren, bitten, Ihre Einwilligung zu dieser Veräußerung zu geben.
Ich danke Ihnen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zur Abstimmung.
Ich lasse zuerst über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/2561 und dann über den zweiten Absatz des Antrages der GRÜNEN abstimmen.
Ich lasse also jetzt über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/2561 abstimmen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP und gegen die Stimmen der GRÜNEN und der SPD angenommen.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der GRÜNEN. - Nein, verzeihen Sie, Sie hatten mir freundlicherweise gesagt, daß der zweite Teil überwiesen werden soll. Damit ist das Haus ja einverstanden. - Danke schön.
({0})
- Moment mal, das ist nicht erledigt. Das steht ja nicht in der Beschlußempfehlung, sondern es ist ein besonderer Teil des Antrags der GRÜNEN.
({1})
- Nein, da kann ich nicht zustimmen.
({2})
- Moment mal, der Antragsteller hat ursprünglich gebeten, über die beiden Absätze gesondert abstimmen zu lassen. Das geht aber nicht, weil wir hier sonst doppelt abstimmen müßten, nämlich über die Beschlußempfehlung und über den Antrag auf Ablehnung. Es geht geschäftsordnungsmäßig nicht, zweimal über dieselbe Sache abstimmen zu lassen. Das ist ein Gebrauch des Hauses.
({3})
- Bitte, zum Entschließungsantrag. Das können Sie ja sofort umwandeln, wenn Sie wollen.
({4})
- Er zieht ihn zurück. Dann ist es sehr viel einfacher; dann ist der Fall erledigt. Der Beschluß ist entsprechend gefaßt.
Danke schön.
({5})
Meine Damen und Herren, wir setzen nunmehr die Aussprache über die Beratung des Haushaltsgesetzes 1989, des Finanzplanes 1988 bis 1992 und des Nachtragshaushaltes 1988 fort.
Das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Zimmermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es war mehrfach von der zu erwartenden Zahl der Aussiedler bei uns die Rede. Der drastische Anstieg, über den sich alle einig waren, ruft uns erneut ins Bewußtsein, daß mehr als 40 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch Millionen Deutsche in den Gebieten jenseits von Oder und Neiße und in Ost- und Südosteuropa leben. Von ihnen wollen Hunderttausende zu uns kommen, weil sie da, wo sie jetzt leben, keine Möglichkeit haben, ihre kulturelle Identität zu bewahren, ihre Traditionen, ihre Sprache und ihre Kultur zu pflegen. Es sind also Deutsche, die bis heute unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges besonders schwer zu leiden haben und jetzt als Deutsche unter Deutschen leben wollen.
Ich möchte ausdrücklich feststellen: Sie sind uns herzlich willkommen. Wir werden sie mit Verständnis und Solidarität empfangen und gemeinsam mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bei ihrer Eingliederung helfen.
({0})
Der Bund hat nach dem Anstieg der Aussiedlerzahlen im letzten Sommer sofort reagiert und seitdem die Mittel für die Eingliederungsmaßnahmen beträchtlich erhöht sowie eine Reihe personeller und organisatorischer Sofortmaßnahmen ergriffen, um insbesondere die Situation in den Aufnahmestellen zu verbessern.
In der vergangenen Woche hat das Bundeskabinett ein Sonderprogramm verabschiedet, das in Zusammenarbeit mit den Ländern und Gemeinden zur schnellen und wirkungsvollen Eingliederung beitragen soll. Die Schwerpunkte dieses Programms liegen in der Erhöhung der Aufnahmekapazitäten in Friedland, Unna-Massen und Nürnberg, in der Sicherstellung der notwendigen Sprachförderung - die einer der wichtigsten Schritte der Integration ist - , in der Intensivierung der schulischen und beruflichen Eingliederung, in der Aufstockung der Mittel für die Vertriebenen- und Wohlfahrtsverbände zur individuellen Betreuung und Beratung, schwerpunktmäßigen Finanzhilfen an die Länder zur Sicherung und Verbesserung der Wohnungsversorgung.
({1})
- Ich sage es Ihnen gleich. - Insgesamt sollen im Jahre 1989 unter Einschluß der Leistungen aus dem Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit über 1,7 Milliarden DM bereitgestellt werden. Das sind 370 Millionen DM mehr, als im Haushaltsentwurf vorgesehen. Hinzu kommen die Leistungen des Lastenausgleichs, die mehr als 1 Milliarde DM betragen werden. Schließlich sind noch die Aufwendungen des Bundes für den Wohnungsbau für 1989/90 in Höhe von 1,125 Milliarden DM zu berücksichtigen, die den
Ländern als Finanzhilfen zur Verfügung gestellt werden sollen.
({2})
- Für 1989 und 1990.
Außerdem ist das ein Programm, über dessen Aufstockung, wenn sich im Laufe des nächsten Jahres herausstellen sollte, daß es nicht reicht, selbstverständlich gesprochen werden kann.
({3})
Ich bitte Sie alle im Interesse unserer neuen Mitbürger, bei den laufenden Beratungen dieses Programm zu unterstützen. Ich bin davon überzeugt, daß das Geld gut angelegt ist. Die Aussiedler kommen mit dem Willen, sich durch harte Arbeit hier bei uns eine neue Existenz aufzubauen.
Allerdings ist die finanzielle Hilfe nur ein Aspekt der Eingliederung. Die Aussiedler können nur dann ein Teil unserer Gemeinschaft werden, wenn wir alle gemeinsam - auch jeder einzelne - Verständnis für ihre schwierige Situation zeigen und diese gesamtgesellschaftliche Herausforderung annehmen.
({4})
In einem anderen Schwerpunktbereich der Innenpolitik, der inneren Sicherheit, stehen wir noch unter dem Eindruck des Gladbecker Geiseldramas. Es ist in der Debatte mehrfach angesprochen worden.
({5})
Es wurde uns erstmals auf dem Bildschirm vorgeführt, mit welcher Dreistigkeit und Brutalität zu allem entschlossene Verbrecher Straftaten begingen. Ich halte es für unerträglich, wenn Vertreter der Medien die Grenze der Berichterstattung überschreiten und Mördern als Sprachrohr dienen, durch das diese ihre erpresserischen Forderungen unmittelbar in alle Öffentlichkeit tragen können.
({6})
Der Ablauf des Geiseldramas wirft darüber hinaus viele Fragen auf, die bereits öffentlich und in internen Beratungen gestellt worden sind. Sie sollten Anfang Oktober auch Gegenstand der Erörterungen in der Innenministerkonferenz sein. Bei dieser Diskussion darf nichts ausgeklammert werden, wie es vielleicht Kollege Vogel nach seiner gestrigen Rede gerne sehen würde. Es kann nicht nur darum gehen, aufzuarbeiten, ob bei dem Einsatz über Länder- und Staatsgrenzen hinweg organisatorische Probleme aufgetreten und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Insbesondere über die politische Grundlinie, die Herr Vogel aus verständlichen Gründen mit Stillschweigen übergehen möchte, wird zu reden sein.
Man wird darüber sprechen müssen, inwieweit eine unzureichende politische Rückendeckung z. B. in der bedeutsamen Frage des finalen Rettungsschusses die Strategie der Polizei beeinflußt und sie dazu veranlaßt hat, auf günstigere Eingriffssituationen zu hoffen, anstatt mit kalkulierbarem Risiko die Geiselnahme frühzeitig zu beenden.
({7})
Das sind Kernfragen, über die man nicht einfach hinweggehen kann.
Allgemein ist die Situation im Bereich der inneren Sicherheit gekennzeichnet durch einen stetigen, in manchen Deliktbereichen bedrohlichen Kriminalitätsanstieg, durch neue Verbrechensformen und durch eine zunehmende Internationalisierung. Erfreulich sind der nach den Änderungen des Strafrechts und dank der Wachsamkeit und den Erfolgen der Sicherheitsbehörden zu verzeichnende deutliche Rückgang politisch motivierter Brand- und Sprengstoffanschläge im ersten Halbjahr dieses Jahres und die Tatsache, daß wir von terroristischen Anschlägen verschont blieben. Das ist kein Anlaß zur Entwarnung. Wir müssen weiter von einer ernst zu nehmenden Bedrohung ausgehen, wie die jüngsten Anschläge auf Personen und Einrichtungen der britischen Rheinarmee belegen.
Auch wenn im Bereich der allgemeinen Kriminalität die Schäden durch Diebstahl oder Vandalismus im Einzelfall nur gering sein mögen, die Bedrohung durch das Ausmaß dieser Massendelikte darf nicht verharmlost werden. Sie wirkt sich unmittelbar auf die Rechtssicherheit aus. Die Zunahme der Massenkriminalität steht zudem in engem Zusammenhang mit einer Veränderung des Rechtsbewußtseins. Die bewußte Verletzung von Strafvorschriften, etwa durch Schwarzfahren, Ladendiebstahl, Häuserbesetzung, Gewalt bei Demonstrationen, ist ideologisch gerechtfertigt worden und ist einhergegangen mit einem Wertewandel bei einem nicht geringen Teil von jungen Leuten.
Es ist unsere Aufgabe, eine wirkungsvolle Bekämpfung aller Formen der Kriminalität durchzuführen, wieder das Gefühl von Rechtssicherheit zu vermitteln, das Rechtsbewußtsein wachzuhalten und zu stärken.
Die Entwicklung der organisierten Kriminalität gibt Anlaß zu Wachsamkeit. Die Gefährlichkeit dieser Kriminalitätsform liegt zum einen in ihrer besonderen Sozialschädlichkeit, zum anderen in der Schwierigkeit ihrer Bekämpfung. Mit dem Eindringen des organisierten Verbrechens in die Geschäftswelt werden die Grenzen zwischen legalem Streben nach Gewinn und illegaler Geschäftemacherei verwischt.
Besorgniserregend ist insbesondere die Zunahme des Rauschgifthandels. Im ersten Halbjahr starben bereits 281 Menschen an einer Überdosis Rauschgift, 80 % mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Die Zahl der festgestellten Erstkonsumenten harter Drogen ist um mehr als 80 % gestiegen.
Ein Ergreifen der Täter ist wegen der verschiedenen Funktionsebenen in der Verbrechensorganisation und ihrer Abschottungsprinzipien schwer. Zur Bekämpfung dieser Kriminalitätsformen sind verschiedene Maßnahmen ergriffen worden. Informationsgewinnung und -verarbeitung sind verbessert worden und müssen weiter verbessert werden. Der Einsatz verdeckter Ermittler ist unverzichtbar und muß
ebenso wie die Observation, die Beobachtung und die Rasterfahndung bei der anstehenden Novellierung der Strafprozeßordnung entsprechend geregelt werden. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Regelungen über die Einziehung und den Verfall von Verbrechensgewinnen zu verbessern.
Die Bekämpfung der organisierten, aber auch der allgemeinen Kriminalität kann darüber hinaus nur wirksam erfolgen, wenn ihre internationalen Bezüge berücksichtigt werden. Das setzt eine enge bilaterale und multilaterale Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Kriminalität und der Fahndung voraus.
Im Hinblick auf den bevorstehenden Abbau der Binnengrenzen ist es wichtig, daß eine Harmonisierung der Rechtsbereiche erfolgt. Die Zusammenarbeit mit anderen Staaten erfolgt nicht nur im Rahmen der TREVI-Kooperation oder der Verhandlungen zur Umsetzung des Schengener Abkommens, sondern ist sowohl mit den westeuropäischen Staaten als auch mit anderen Ländern außerhalb Westeuropas zügig ausgebaut worden.
Meine Damen und Herren, in Kürze beginnen die Olympischen Spiele. Die Bundesregierung hat sowohl für die Vorbereitung als auch für die Entsendung der Athleten beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Durch die Einrichtung von 14 Olympia-Stützpunkten ist ein wichtiger Schritt zur Intensivierung der Betreuung der Athleten getan worden.
Der Sport selbst bezeichnet die Förderungsmaßnahmen als für alle Belange des Spitzensports ausreichend. Ich habe bei meinen letzten Besprechungen unmittelbar vor Seoul mit den zuständigen Präsidenten die notwendigen Gespräche auch über den zeitlichen Ablauf nach Seoul und über die Bilanz, die wir dann zu ziehen haben werden, geführt.
Wir alle freuen uns, wenn die Sportler der Bundesrepublik Deutschland Medaillen gewinnen. Wir sollten allerdings nicht vergessen, daß die Idee der Olympischen Spiele ist, dabei zu sein, und daß Sport nur eine Nebensache, wenn auch die wichtigste der Welt ist.
Im kommenden Jahr begehen wir das 40jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Das ist Anlaß, die freiheitliche und demokratische Entwicklung unseres Staates in wichtigen Politik- und Lebensbereichen durch zahlreiche Veranstaltungen darzustellen, die unter dem Leitmotiv stehen: 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland, 40 Jahre Frieden und Freiheit.
Wir werden keine Jubelfeier der Staatsorgane veranstalten, sondern ein Jubiläum unseres Gemeinwesens begehen, das von den Bürgern mitgestaltet wird. Dabei geht es nicht nur um einen Rückblick und eine aktuelle Bestandsaufnahme; das Jubiläum soll zugleich auch Anlaß sein für einen Ausblick auf die vor uns liegenden Aufgaben, auf die Bewältigung neuer Probleme und die Sicherung der in vier Jahrzehnten von allen gemeinsam aufgebauten wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Grundlagen unseres Staates.
Ich bitte Sie alle schon heute, aktiv an den geplanten Veranstaltungen mitzuwirken.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Penner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu den Kernzuständigkeiten des Innenministers gehört die innere Sicherheit. Herr Bundesinnenminister Dr. Zimmermann hat das selber vorhin betont. Nach sechs Jahren, Herr Dr. Zimmermann, ist die Anzahl der Straftaten nicht gesunken, sondern gestiegen; das haben Sie selber gesagt. Die Zuwachsraten bei schwerem Diebstahl, bei Umwelt- und Rauschgiftkriminalität sind enorm, und die Aufklärungsquote geht ständig zurück. Die Zahl der Drogentoten weist im Jahr 1988 gegenüber dem Vorjahr steil nach oben; auch dies haben Sie eingeräumt. Die terroristische Gewaltkriminalität ist nach wie vor ein Thema. Die Bilanz der inneren Sicherheit ist vernichtend. Herr Minister Dr. Zimmermann, als Spitzenmanager der Wirtschaft wären Sie längst Ihre Stellung los,
({0})
auch wegen Ihrer albernen Methoden der Therapie zur Verbrechensbekämpfung und -verhinderung. Was versprechen Sie sich eigentlich von Ihrem ungeordneten Sammelsurium von Strafverschärfungen, vom Erfinden sinnloser und rechtspolitisch kaum verantwortbarer neuer Rechtsvorschriften in der Auseinandersetzung mit Gewaltkriminalität und Terrorismus speziell?
Kommen wir zur Drogenbekämpfung. Nehmen Sie denn nicht zur Kenntnis, daß die USA bei der Drogenbekämpfung am Ende des harten repressiven Weges angelangt sind und zur Eindämmung von Vorfeld- und Folgekriminalität die Legalisierung der Drogenabgabe nicht mehr tabuisieren? Meinen Sie, daß auf diesem für unsere Gesellschaft so wichtigen, so lebenswichtigen Gebiet weiterhin praktizierte Verweigerung und Untätigkeit verantwortbar sei? Wo bleibt die Erfüllung Ihres Programms Rauschgiftverbindungsbeamte im Ausland, das die Entsendung von 37 Fachbeamten vorsah? Bis heute ist nicht mehr als ein Drittel Ihrer Soll-Vorstellungen realisiert worden. Meinen Sie, es reiche aus, mit dem Finger auf den Verursacher Auswärtiges Amt zu zeigen und sich im übrigen selbstzufrieden zurückzulehnen? Wissen Sie überhaupt, daß die Anbauländer von Rauschgiftpflanzen es leid sind, von den Konsumentenländern in Amerika, Europa und anderswo an den Pranger gestellt zu werden; daß diese Länder nicht zu Unrecht darauf verweisen, ohne Konsumenten gäbe es keinen Anbau; daß diese Länder darauf verweisen können, die Rauschgifterlöse würden überwiegend in den Steuer- und Bankenparadiesen der westlichen Welt plaziert.
({1})
Sollte Ihnen völlig entgangen sein, Herr Minister, daß die Spur der für die Herstellung von Kokain benötigten Basisstoffe wie Äther, Aceton und Schwefelsäure auch nach Europa führt und daß uns dies in
Südamerika auch entgegengehalten wird? Und entspricht es nicht den Tatsachen, daß die Drehscheiben des Drogenhandels außerhalb der Produzentenländer in Gang gehalten werden? Begreifen Sie, Herr Dr. Zimmermann, nicht, daß daraus auch für uns eine finanzielle Mithaftung für die Verhinderung und Beseitigung des Drogenproblems folgt, daß wir ernst zunehmende Bemühungen von Anbauländern, wie beispielsweise jüngst Bolivien - die haben im Juli ein Antidrogengesetz beschlossen, dessen Studium ich Ihnen mal empfehlen würde - , unterstützen müssen, damit sie andere Produkte anbauen und verkaufen können?
Haben Sie eigentlich das Ausmaß der Gefahr der Drogen für unsere Gesellschaft begriffen? Ich fürchte, nein. Mit Ihrer Fixierung auf Fahndung, Polizei und Strafen - nur wenig überzeugt und überzeugend -, ergänzt um eine gewisse Bereitschaft zur Therapie-rung Drogenabhängiger, behandeln Sie bestenfalls Symptome dieser Pest, aber Sie haben keine Chance, grundlegend zur Besserung beizutragen.
({2})
Herr Minister Zimmermann, Sie sind nicht zum Garanten innerer Sicherheit geworden.
({3})
Sie sind es nie gewesen. Sie stehen vor den Trümmern einer Politik, die weniger Kriminalität versprach, mehr Straftaten als bisher akzeptieren mußte und den Frieden in der Gesellschaft nicht gefördert hat. Damit sind Sie - auch unter Zugrundelegung der eigenen Maßstäbe - untauglich für das Amt des Sicherheitsministers.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die geplanten Gesetzesinitiativen der Regierungskoalition zur inneren Sicherheit sind keine Antwort auf die Herausforderung und Schwierigkeiten unserer Zeit. Die Koalition ist auf dem Wege zur Einführung eines Gesinnungs- und Verdachtsstrafrechts.
({4})
FDP, CDU und CSU wollen Strafbarkeit auf Bereiche vorverlagern, die nach den bisher anerkannten Grundsätzen des Strafrechts nicht strafbar gewesen sind.
({5})
Sie wollen dem Demonstrationsrecht zentimeterweise den Garaus machen, indem sie die Veranstalter von Demonstrationen reglementieren und mit einem behördlich festgelegten „Erörterungstermin" einschüchtern.
({6})
Wir werden diesen Weg nicht mitgehen. Und wir erwarten auch, daß die Kolleginnen und Kollegen der FDP zu ihren liberalen Grundsätzen zurückkehren
({7})
und endlich einmal zu dem stehen, was sie so oft lautstark nach draußen verkündet haben,
({8})
nämlich der von der Union systematisch betriebenen Schwächung des Rechtsstaats und der Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten zu widerstehen.
({9})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Gesetzgebungspläne der Koalition, besonders die Kronzeugenregelung für Terroristen, eine Art Vor-beugehaft für früher wegen Landfriedensbruchs in Erscheinung getretene Teilnehmer an einer Demonstration sowie die Einführung einer generellen Strafbarkeit von Vermummung und Schutzbewaffnung, sind auf große Skepsis bis schroffe Ablehnung, vom Deutschen Richterbund bis zur Gewerkschaft der Polizei, gestoßen.
Die Koalition hört einfach nicht auf die, die mit diesen unsäglichen Kompromißprodukten der Koalition später umzugehen haben. Es ist ja auch so einfach, Gesetze zu beschließen und spätere Fehlschläge Polizei und Gerichten anzulasten.
({10})
Ich glaube übrigens nicht, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, daß der gesetzgeberische Heißhunger der Konservativen nach immer neuen Gesetzen damit gestillt wäre.
({11})
Jedes noch so abscheuliche Verbrechen wird wie in der Vergangenheit als Beweis immer neuer Gesetzeslücken herhalten müssen. Und die so wie jetzt beschaffene FDP wird daran nichts ändern, weil die Zimmermänner am längeren Hebel sitzen. So ist das.
Ich möchte noch ein Wort zu dem Geiseldrama von Gladbeck sagen. Ich habe Abstand zu Verbrechen und Verbrechern vermißt. Ob Nachrichtenbeschaffer oder Nachrichtenkonsumenten ({12})
wir alle haben uns auf Komplizenschaft zubewegt und dabei die Opfer in ihren Nöten, ihrem Leiden, ja auch im Tod schmählich benutzt. Das darf sich nicht wiederholen. Wenn eigentlich selbstverständliche Selbstbeschränkung dafür nicht reicht, dann müssen die Ordnungskräfte des Staates das künftig verhindern, auch damit die Polizei ihre Pflicht reibungslos versehen kann.
({13})
Die Instrumentalisierung der bayerischen Polizei durch die bayerische Staatsregierung zur Diffamierung des politischen Gegners ist unverantwortlich.
({14})
Wir können nicht, ja wir dürfen nicht über mehr Verrohung und Kriminalität und die Sensationsgier der
Medien Klage führen, wenn das Sittengesetz von Staats wegen so mißachtet worden ist, wie das die bayerische Staatsregierung im Anschluß an das Drama von Gladbeck und Bremen mit allen Anzeichen abstoßender Selbstgerechtigkeit und Showeffekten getan hat.
({15})
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt den Abbau der Personenkontrollen an den EG-Grenzen. Wir fragen aber Bundesinnenminister Zimmermann, wie er die damit verbundenen Sicherheitsfragen auffangen will. Wie will der Bundesinnenminister verhindern, daß sich Kriminelle demnachst ihre Waffen in Frankreich besorgen, einem Land, das kein so striktes Waffenrecht wie die Bundesrepublik Deutschland kennt?
({16})
Wie soll verhindert werden, daß künftig Rauschgift aus den Niederlanden unkontrolliert in die Bundesrepublik Deutschland eingeführt werden kann?
({17})
Wo sind, Herr Bundesinnenminister, Ihre Initiativen zur Vereinheitlichung oder wenigstens Anpassung des Waffenrechts, des Betäubungsmittelrechts, der Sichtvermerkspolitik und der Vereinfachung der Rechtshilfe? Wo gibt es Initiativen zur Verbesserung der Information über Straftäter? Sie haben einer europäischen Fahndungsunion das Wort geredet. Ich kann nur sagen: Bei dem Echo, das Ihnen bei unseren westeuropäischen Nachbarn entgegengeschlagen ist, wäre ich in hohem Maß vorsichtig, solche Initiativen zu wiederholen.
({18})
Wie wollen Sie, Herr Bundesinnenminister, sicherstellen, daß beim intensiveren europäischen Datenaustausch zwischen den Sicherheitsbehörden die deutschen datenschutzrechtlichen Bestimmungen gewährleistet sind? Oder soll etwa Europa dafür herhalten, daß das Datenschutzrecht nivelliert werden soll? Und wie soll das deutsche Asylrecht fortbestehen, wenn die Personenkontrolle nur an den EG-Außengrenzen durchgeführt wird?
Der Bundesminister des Innern hat auch beim Zivil- und Katastrophenschutz keine Erfolge vorzuweisen. Und das ist ein ganz wichtiges Gebiet. Es herrscht Stillstand. Mit Ausnahme des vor der Sommerpause vom Bundesinnenminister so stolz verkündeten neuen Krisenmanagements zur Bewältigung großflächiger und besonders folgenschwerer Gefahrenlagen gibt es keine nennenswerte Fortentwicklung. Selbst dieses Management ist erst erstellt worden, nachdem die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und entsprechende Beschlüsse der Innenministerkonferenz, des Bundestags-Innenausschusses und des Bundeskabinetts gewissermaßen nötigend ihn dazu gezwungen zu haben.
Die Notfallvorsorge, ein ganz wichtiger Bereich, ist in einem völlig unzulänglichen Zustand. Beispielsweise soll die Stärke des erweiterten Katastrophenschutzes 1 % der Bevölkerung gleich 600 000 Helfer betragen. Tatsächlich fördert der Bund aber nur ein Personalvolumen von ca. 200 000 Helfern, wovon etwa 150 000 des sogenannten Verstärkungsteils voll und etwa 50 000 Helfer des sogenannten Ergänzungsteils teilweise finanziert werden.
({19})
Das einzige in den letzten Jahren einigermaßen erfolgreiche Konsolidierungsprogramm hat noch die sozialliberale Koalition beschlossen. Mit ihm wurde das technische Material erneuert. Das Programm läuft 1989 aus. Eine Fortschreibung ist nicht in Sicht.
Wir erwarten vom Bundesinnenminister ernsthafte Verbesserungen in diesem Bereich. Unsere Vorstellungen gehen dahin, daß das Ziel konkreter Verbesserungsmaßnahmen nur erreicht werden kann, wenn es eine einheitliche, umfassende Überprüfung aller in diesem Bereich tätigen Einrichtungen gibt. Alle am Zivil- und Katastrophenschutz beteiligten Organisationen gehören an einen Tisch. Es muß ein gemeinsames Konzept erarbeitet werden.
Herr Minister, es ist symptomatisch für die gegenwärtige Situation, daß es einen massiven Streit zwischen Ihnen und dem Deutschen Feuerwehrverband über die Frage der künftigen Aufgaben für das Technische Hilfswerk gibt. Klare Aufgabenabgrenzungen und Zuständigkeiten mit gesicherten Finanzierungen sind gefragt und gefordert.
({20})
Herr Minister, auch im Bereich der Datenschutzpolitik sind Sie gescheitert. Vielleicht sind Sie unwillens, vielleicht ist es auch eine politische Zurückhaltung, daß Sie nicht den Auflagen Folge leisten, die das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen zum informationellen Recht der Selbstbestimmung aufgestellt hat. Sie halten sich nicht an die Vorgaben des Verfassungsorgans Bundesverfassungsgericht. Damit enthalten Sie Millionen von Bundesbürgern ihre Grundrechte vor. Sie verstoßen damit gegen die Pflicht aller staatlicher Gewalt, die Grundrechtspositionen des einzelnen zu schützen und im Lichte neuerer Entscheidungen weiterzuentwickeln und auszubauen.
({21})
Herr Dr. Zimmermann, Sie belasten damit in unerträglichem Maße das Gebot der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, zu dem Sie gerade aufgerufen sind.
Für den gesamten Sicherheitsbereich gibt es keine tragfähigen Rechtsgrundlagen, soweit Informationserhebung, -speicherung und -verarbeitung in Rede stehen. Mehr und mehr Verwaltungsgerichte ziehen die rechtlichen Konsequenzen daraus. Herr Minister, mit Ihrer Art von Untätigkeit
({22})
gefährden Sie damit die rechtmäßige Arbeit der Sicherheitsbehörden, die ja nicht mehr wissen, was sie tun sollen, weil sie sich auf unsicheren Rechtsgrundlagen bewegen.
Sie haben im Jahre 1987 in einem bisher einmaligen Verfahren, ohne Abstimmung mit den Ressorts der Bundesregierung sogenannte „unabgestimmte Referentenentwürfe" in die Öffentlichkeit gebracht, nämlich eine Novelle des Bundesdatenschutzgesetzes, eine Novelle des Verfassungsschutzgesetzes und einen Entwurf eines Verfassungsschutzmitteilungsgesetzes, das an die Stelle des in der vergangenen Legislaturperiode diskutierten Zusammenarbeitsgesetzes treten soll. Die jetzt in Umlauf gesetzten Entwürfe begegnen denselben Bedenken wie ihre Vorgänger der letzten Wahlperiode. Sie werden in keiner Weise den Anforderungen gerecht, die das Verfassungsgericht zur Wahrung des Rechts nach Art. 1 und 2, zur Wahrung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und zur Wahrung des Rechts auf Menschenwürde, entwickelt. Sie verstoßen überdies in eklatanter Weise mit Ihren Entwürfen gegen das verfassungsmäßige Gebot zur Trennung von Polizei und Diensten. Die Aufgabenbeschreibung in beiden Gesetzentwürfen ist ungenau und ermöglicht deshalb auch keine Durchführung des Bindungsgrundsatzes. Die Befugnisnormen, die Sie aufstellen, sind generalklauselartig und damit rechtswidrig gefaßt.
Beim Bundesdatenschutzgesetz geht es um dieselben Bedenken, die von Fachleuten in der letzten Legislaturperiode aufgestellt sind. Sie wollen es einfach nicht wahrhaben, daß das informationelle Selbstbestimmungsrecht unabhängig davon besteht, in welcher Form die Daten erhoben und gespeichert werden. Sie wollen nicht wahrhaben, daß die Kontrollrechte des Bundesbeauftragten für den Datenschutz weitergehen müssen, als sie das vorsehen. Im nichtöffentlichen Bereich wird bei Ihnen die Datenverarbeitung für Zwecke der Wirtschaft erleichtert. Als ob da die Grundrechte nicht gelten würden! Es fehlen Arbeitnehmerdatenschutzvorschriften. Entgegen der wiederholt und öffentlich verkündeten Behauptung, das Bundesdatenschutzgesetz würde den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts im Volkszählungsurteil angepaßt, geht der vorliegende Entwurf in Einzelbereichen noch hinter geltendes Recht zurück. Die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder sowie der Datenschutzkommission Rheinland-Pfalz hat es am 6. Juni zwar moderat und vornehm im Ton, doch vernichtend für Sie in der Sache beurteilt. Und dem ist nur hinzuzufügen, daß die Datenschutzbeauftragten der Länder eine parteipolitisch gemischte Gesellschaft sind.
Frau Präsident, meine Damen und Herren, ich möchte noch ein paar Worte zum Ausländerrecht verlieren: Das gegenwärtige Ausländergesetz aus dem Jahre 1965 wird der Tatsache nicht gerecht, daß die Bundesrepublik bis zum Anwerbestopp 1973 de facto Einwanderungsland war. 4,6 Millionen ausländische Staatsangehörige, von denen 60 % mehr als zehn Jahre bei uns leben, haben einen Anspruch auf eine bessere rechtliche Absicherung als bisher, Herr Minister.
({23})
Herr Minister, Sie kennen die Unzulänglichkeiten des geltenden Rechts; jedenfalls gehe ich mal davon aus. Herr Dr. Zimmermann, Sie beschränken sich darauf, einen „unabgestimmten Referentenentwurf" - wie bei anderen Fachgebieten auch - zum Thema an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, der bemerkenswerte Nähe zum deutsch-nationalistischen Sumpf verrät
({24})
und von der Arbeiterwohlfahrt bis zur katholischen Kirche scharf abgelehnt worden ist.
({25})
Besonders auffällig ist dabei die Distanz, Herr Dr. Zimmermann, die Sie zu den Belangen der Familien der Ausländer entwickelt haben,
({26})
als ob es politisch und rechtlich, aber auch moralisch zu rechtfertigen wäre, wenn Familien je nach Nationalität besser oder schlechter gestellt werden ({27})
und das durch einen Spitzenpolitiker der CSU, die nicht müde wird, den Wert der Familie herauszustellen.
({28})
Noch eines ist bei Ihrer Ausländerpolitik brüchig, Herr Minister. Ich denke an das Ausländerwahlrecht. Wir haben es in der Vergangenheit und in diesen Tagen wieder erlebt: Der Bundeskanzler propagiert unermüdlich das politische Europa und nivelliert über das Schengener Abkommen Staatsgrenzen. Wir sind dabei, den Binnenmarkt für EG-Europa zu schaffen, und eine europäische Währung ist nicht mehr bloße Utopie. Die EG-Kommission einigt sich über das kommunale Wahlrecht für EG-Europäer, und Sie, Herr Bundesinnenminister Dr. Zimmermann, verharren mit Ihrem kategorischen Nein politisch in Stammtischpositionen. Wie gesagt, auch hier: Eingraben, Einmauern, wo Offenheit und Perspektive vonnöten wären.
({29})
Der jammervolle Umgang mit den Asylanten und Flüchtlingen kennzeichnet den Weg von Ihnen, Herr Dr. Zimmermann, als kleinlich, menschenfeindlich, inhuman und skrupellos.
({30})
Es geht um sage und schreibe 75 000 rechtskräftig anerkannte Asylberechtigte, um 290 000 Flüchtlinge, die aus humanitären oder politischen Gründen bei uns sind. Auch wenn man noch Familienangehörige hinzuzählt, Herr Minister, sollten wir nicht in der Lage sein, mit den Schicksalen dieser Menschen auf anständige Weise zurechtzukommen?
({31})
Ist die einzige Antwort des Bundesinnenministers darauf die bürokratische Vernetzung menschlicher Daten und die schmähende politische Etikette, „Wirt6260
schaftsasylanten" genössen nicht den Schutz des ohnehin aus seiner Sicht fragwürdigen Art. 16 des Grundgesetzes, was unbestreitbar ist?
Nein, Herr Minister, mit dieser Art von Politik gehen Sie gegen ein Element unseres Staates vor, das für manche - und es sind nicht die Schlechtesten in unserem Staat - gerade Grund genug ist, für den Staat zu sein.
({32})
Es kann auch nicht verschwiegen werden, daß die beschämende, ja auch chaotische Lage der Aussiedler und Übersiedler von Ihnen, Herr Minister, mit zu verantworten ist; denn Sie sind zuständig dafür. Ich glaube, daß Sie es versäumt haben, rechtzeitig Vorbereitungen zu treffen, nachdem wir ja jahrelang darum geworben haben, daß Menschen aus den östlichen Nachbarländern zu uns kommen sollten. Wenn allein in diesem Jahr, Herr Minister, über 200 000 Deutsche aus anderen Ländern zu uns kommen und bei uns leben wollen, dann muß dies auch innenpolitisch verkraftet werden. Bei diesen Zahlen wird es ja nicht bleiben.
({33})
Bis 1990 erwartet das Deutsche Rote Kreuz den Zuzug von insgesamt 600 000 Menschen aus den Staaten des Ostblocks.
({34})
Vor uns liegt also eine gewaltige nationale Kraftanstrengung, und das Programm, Herr Bundesminister, das Sie angesprochen haben, reicht dafür nicht aus. Wir brauchen mehr und bessere Leistungen. Das wird auch Geld kosten, z. B. beim Wohnungsbau - das haben Sie angesprochen -, bei den Übergangsheimen, vielleicht für ein zusätzliches viertes Grenzdurchgangslager, bei der Verlängerung der Sprachkurse auf zwölf Monate und der Verlängerung der Förderungsdauer aus den sogenannten Garantiefonds auf 48 Monate. Die Bundesanstalt für Arbeit muß Finanzmittel bekommen, die Fortbildung und Umschulung in der gebotenen Weise gewährleisten.
({35})
Dafür, Herr Minister, muß der Bund geradestehen, weil Städte und Gemeinden, aber auch viele Länder finanziell damit überfordert sind.
Damit nicht genug: Wir sind angewiesen auf die Unterstützung von Verbänden und Institutionen, wir sind angewiesen auf die Unterstützung der Kirchen, der Jugendsozialarbeit und der freien Wohlfahrtspflege. Wir rechnen auch auf die Hilfe jedes einzelnen, damit Reserve nicht umschlägt in Abneigung oder gar Haß. Wir alle haben dafür einzustehen, daß diese Menschen nicht wie Parias behandelt werden, sondern als Nachbarn bei uns ihren Platz finden können.
({36})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesminister des Innern ist auch für den öffentlichen Dienst zuständig. Auch hier stehen Initiativen aus. Wann endlich kommen Sie, Herr Minister, mit dem Strukturbericht über, dessen Vorlage schon seit langem ansteht?
({37})
Was sind Ihre Vorstellungen für die Beamten bei Problemen der Alterssicherung, die nicht nur solche der Arbeiter und Angestellten sind? Was haben Sie im Zusammenhang mit § 55 Beamtenversorgungsgesetz vor? Trifft es zu, daß die Herabstufung der Eingangsämter für einzelne Laufbahngruppen rückgängig gemacht werden soll? Herr Minister, wir erwarten Antworten und nicht mehr oder minder offizielle Hinweise, daß der Bundesminister der Finanzen noch kein grünes Licht gegeben habe.
({38})
Wir werden nicht abseits stehen, Herr Minister, wenn die Neuordnung der Beamtenversorgung ins Haus steht, weil offenkundig ist, daß die Schwierigkeiten der Alterssicherungssysteme gemeinsame sind und daher auch nur gemeinsam gelöst werden können. Wir sind bereit, mit den Regierungsparteien nach den besten Lösungen zu suchen und sie auch durchzusetzen, weil die anstehende Strukturreform der Alterssicherungssysteme einschließlich der Beamtenversorgung einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung bedarf.
({39})
Der Kollege Hans Gottfried Bernrath, Vorsitzender des Innenausschusses, hat zu diesem Thema bei der jüngsten beamtenpolitischen Arbeitstagung des Deutschen Beamtenbunds bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Sie können sicher sein, daß sie nicht nur seine Ansichten und Überlegungen wiedergeben.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wie sonst, so auch heute: Herr Dr. Zimmermann wird nicht müde zu betonen, auch Sportminister zu sein. Es ist leider nicht die Zeit, das immer neue und alte Thema Hochleistungssport in unserer Gesellschaft unter, wie ich meine, dramatisch veränderten Bedingungen zu beleuchten. Ich denke dabei nicht nur an die Bedeutung der Chemie, die nach Äußerungen von Sachkennern wie Edwin Moses, aber auch anderen doch größer sein muß, als bisher befürchtet wurde.
Nein, ich denke, es ist vorrangig und an der Zeit zu prüfen, auch unter politischen Gesichtspunkten zu prüfen, ob der Breitensport tatsächlich noch vom Hochleistungssport inspiriert wird oder sich die Elite im Leistungsvermögen so weit von den anderen entfernt hat, daß deren Leistungsvermögen auf andere eher hinderlich denn anspornend wirkt.
Wir können nicht daran vorbeigehen, daß es viele Vereine im Gegensatz zu früher fast als Erleichterung empfinden, wenn ein Talent zum anderen, finanziell leistungsfähigeren Verein wechselt, weil die eigenen finanziellen und technischen Möglichkeiten nicht ausreichen und für den Breitensport, der auch Wettkampfsport sein kann, voll genutzt werden müssen.
Herr Minister, es ist nicht zu übersehen, daß der Hochleistungssportler immer mehr zum Subjekt wie zum Objekt sich ständig verdichtender Wirtschafts- und Marktprozesse wird, was übrigens nicht zu tadeln ist, aber unweigerlich mit einer Loslösung von der
Sportbewegung im überkommenen Sinne verbunden ist.
({40})
Nach meinen Erfahrungen und Wahrnehmungen stehen wir bei immer mehr Freizeit, ständig steigenden Gesundheitsbedürfnissen, aber auch im Hinblick auf den zunehmenden Wirtschaftsfaktor Sport vor Entwicklungen, die auch politisch und gewiß steuerrechtlich zu begleiten sind, und da kommt auf die Vereine sehr viel zu.
Was Sie, Herr Dr. Zimmermann, sich beim Thema Sportvereinsbesteuerung geleistet oder besser nicht geleistet haben,
({41})
ist für die 60 000 Sportvereine und die ehrenamtlichen Helfer in ihren Auswirkungen verheerend.
({42})
Vor der Wahl wurden mehr oder minder deutliche Zusagen an alle, die es anging, für Verbesserungen, z. B. auch der Übungsleiterpauschale, in Aussicht gestellt. Danach stellte der Bundesfinanzminister eine Kommission zur Gemeinnützigkeit zusammen, die - anscheinend wie bestellt - jedenfalls wegen ihrer Zusammensetzung die Gemeinnützigkeit der Sportvereine generell bezweifelte, was dann ein eindeutiges Dementi der Bundesregierung provozierte. Nur, von den versprochenen steuerlichen Verbesserungen wurde kaum oder nur noch vage gesprochen. Die Verbesserungen für Übungsleiter wurden von dieser Stelle aus ausdrücklich glatt abgelehnt.
Zu alledem haben Sie geschwiegen, Herr Dr. Zimmermann, Sie haben nichts gesagt, obwohl die Vereine gerade in steuerlichen Fragen auf einen Fürsprecher angewiesen sind, der klarmacht, wie lebenswichtig die steuerlichen Fragen in materieller, aber auch in formeller Hinsicht für die Sportvereine sind, damit sie für Jugend, Alter, Familie, Gesundheit und sinnvolle Freizeitgestaltung weiter ihren Beitrag leisten können.
({43})
Beim Thema Sport, Herr Minister, möchte ich noch auf das ungelöste Problem Deutsches Sportmuseum mit Sitz in Köln hinweisen. Im Gegensatz zu dem einmütigen Votum des Sportausschusses und der früheren Zusage des FDP-Innenministers Baum verhindert Herr Dr. Stoltenberg eine Beteiligung des Bundes an diesem Projekt, das ohne finanzielle Hilfe des Bundes nicht errichtet werden kann. Dabei ist das Interesse des Bundes eindeutig gegeben. Ich denke, daß es ein großer Fehler wäre, auf das Sportmuseum zu verzichten. Die Darstellung und Pflege der Sportgeschichte sollte nicht allein Sache des anderen deutschen Staates sein, der sich daran macht, in Berlin ein zentrales Sportmuseum zu errichten. Vielleicht nimmt sich der Bundeskanzler selbst einmal dieses Themas an, der sich auch sonst um Museumsfragen kümmert.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir sind an eigenen Initiativen nichts schuldig geblieben - wir haben uns nicht aufs Opponieren allein verlegt - , übrigens auch auf Feldern, die als steinig bekannt sind. Wir halten es für unerläßlich, daß ein neu gestaltetes Ausländerrecht den Betroffenen eine überschaubare und zuverlässige Grundlage für ihre Lebensplanung gibt. Unsere Vorschläge zum Ausländerrecht sehen folgende Neuerungen vor:
Erstens. Bei der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wird künftig nach dem Aufenthaltszweck differenziert.
Zweitens. Eine Verfestigung soll stufenweise eintreten und nach fünfjährigem Aufenthalt in die Aufenthaltsberechtigung münden.
Drittens. Nach achtjährigem Aufenthalt soll ein Niederlassungsrecht erworben werden, das eine prinzipielle Gleichstellung in Rechten und Pflichten mit einem Deutschen bewirkt. Ja, Herr Minister, bringen Sie das erstmal! Versuchen Sie, es doch mal durchzusetzen!
({44})
- Das ist es. Er hat gerade gesagt, er wolle das gar nicht, er dächte gar nicht daran. Das ist die Einstellung dieser Bundesregierung, das ist weltoffen, und das entspricht der politischen Wirklichkeit des Jahres 1988, und so soll ein politisches Europa mit deutscher Beteiligung geschaffen werden!
({45})
Viertens. Ehegatten erhalten ein eigenes Aufenthaltsrecht. Die Wartefrist von einem Jahr für den nachziehenden Ehegatten soll entfallen.
Fünftens. Der Nachzug der Kinder von Ausländern soll bis zum 18. Lebensjahr ermöglicht werden.
Sechstens. Kindern von Ausländern wird eine Rückkehroption eingeräumt.
Siebtens. Darüber hinaus sollen auch Ausländer, die länger als zehn Jahre in der Bundesrepublik gelebt haben, unter bestimmten Voraussetzungen zurückkehren können.
Achtens. Die Tatbestände der Ausweisung werden begrenzt und klarer geregelt.
Das war alles nicht ganz einfach, und die Schwierigkeiten sind ja bekannt. Aber, Herr Minister, wenn Sie das so weitermachen, daß Sie glauben, die Probleme nach berühmtem Vorbild aussitzen zu können, dann werden wir spätestens in den 90er Jahren auf dem Pulverfaß großer gesellschaftspolitischer Schwierigkeiten stehen. Ich will Ihnen noch etwas sagen: Erinnern Sie sich doch bitte an die einschlägigen Worte des Bundesministers im Bundeskanzleramt, Herrn Schäuble, der schon prognostiziert hat, in den 90er Jahren könne die Bundesrepublik zum Einwandererland werden.
({46})
Beim Asyl- und Flüchtlingsrecht stehen wir vor der abschließenden Beratung. Folgende Schwerpunkte zeichnen sich ab:
Erstens. Die europäischen Staaten müssen ihre gemeinsame Verantwortung in einem koordinierten Prozeß gegenüber den Flüchtlingen in Europa wahr6262
nehmen und die Arbeit des UN-Flüchtlingskommissars noch mehr als bisher unterstützen, und wir sollten erwägen, weil es sich um eine gesamteuropäische Angelegenheit handelt, ein europäisches Flüchtlingsamt zu errichten.
Zweitens. Die Asylverfahren müssen drastisch verkürzt werden. Dabei sind einerseits weitere personelle und organisatorische Maßnahmen ohne Eingriffe in rechtsstaatliche Garantien notwendig, andererseits muß das Bundesamt von unnötigen Asylanträgen entlastet werden.
Drittens. Die soziale Situation der Asylbewerber ist zu verbessern. Das sind schließlich alles Menschen. Die Unterbringung von Asylbewerbern und die aufenthaltsrechtlichen Regelungen, Arbeitserlaubnis und Sozialhilfe müssen so ausgestattet sein, daß sie der humanitären Zielsetzung des Asylrechts gerecht werden. Vor allem müssen wir uns aber um die Lage der großen Zahl der De-facto-Flüchtlinge kümmern. Sie haben meist nur den unbefriedigenden Duldungsstatus, und sie können und werden damit zu Außenseitern, sozial wie wirtschaftlich. Das ist einmal menschlich nicht hinnehmbar, bedeutet aber auch gesellschaftliche Spannungen, die sich auf uns alle entladen können. Herr Dr. Zimmermann, da hilft nicht verbissene Abwehr, Verneinung und Hohn, da fordern wir auch von Ihnen politisches Gestalten ein.
({47})
Bei der anstehenden Novellierung des Datenschutzrechts werden wir es nicht bei einem Antrag über Eckdaten bewenden lassen, sondern wir werden einen kompletten Gesetzentwurf vorlegen. Er wird folgende wesentliche Neuerungen erhalten:
Erstens. Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz soll wie der Wehrbeauftragte Kontrollorgan des Parlaments werden und vom Bundestag mit Zweidrittelmehrheit gewählt werden. Die bisherige Zuordnung des Datenschutzbeauftragten zum Bundesminister des Innern als Selbstkontrollorgan der Exekutive hat sich nicht bewährt.
Zweitens. Arbeitnehmerschutzrechte auf diesem Sektor sollen auch durch Stärkung der Rechtsposition der betrieblichen Datenschutzbeauftragten verbessert werden.
Drittens. Herr Minister, der Gesetzentwurf bezieht sich nicht nur auf Dateien, sondern auch auf Akten im herkömmlichen Sinn.
Viertens. Nicht zuletzt wird der Schutz der Bürger über einen verschuldensunabhängigen Schadensersatzanspruch und erweiterte Auskunftsrechte gegenüber Behörden ausgedehnt.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, sozialdemokratische Innenpolitik versteht sich wie auch sonst nicht allein auf das Opponieren. Mit um so größerer Berechtigung müssen wir darauf drängen, daß Herr Dr. Zimmermann endlich den Notwendigkeiten persönlicher und politischer Präsenz gerecht wird. Wenn er das nicht kann oder will, dann muß er gehen.
({48})
Das Wohl und Wehe unseres Staates hängt auch davon ab, daß Politiker, auch und gerade Amtsträger, sich nicht versagen, sondern mittun, weil es sonst nicht geht.
Schönen Dank.
({49})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Seiler-Albring.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Penner, die Tour d'horizon, die Sie hier in 40 Minuten vorgenommen haben, macht deutlich, für wie viele Bereiche der Innenminister zuständig ist. Ich werde mich auf Grund meiner Redezeit auf drei Bereiche konzentrieren, möchte vorher aber doch noch eine Bemerkung machen. Sie haben sich zu Beginn Ihrer Rede so außerordentlich gegrämt wegen des liberalen Wächteramtes und haben sich Sorgen darüber gemacht, ob es auch weiterhin in guten Händen ist. Ich kann Ihnen versichern, es ist in guten Händen. Meine drei Kollegen, die dort sitzen, sind weiterhin Garant hierfür, auch wenn das manchen vielleicht nicht behagen mag.
({0})
- Es freut mich, daß Sie dies auch freut, meine Damen und Herren.
({1})
- Haben Sie Zweifel daran, daß der Kollege Kleinert hier ein Garant für den Rechtsstaat und innenpolitische Positionen der FDP ist? Das wollen Sie hier doch nicht behaupten.
({2})
Meine Damen und Herren, die Zahl der Aussiedler
- der Innenminister ist vorhin schon darauf eingegangen - ist seit dem Sommer 1987 sprunghaft angestiegen. Bis 1986 kamen jährlich ca. 40 000 Aussiedler in die Bundesrepublik. In diesem Jahr erwarten wir 200 000 Menschen, die zu uns kommen wollen.
Die Integration dieser Menschen stellt Bund, Länder und Kommunen vor große organisatorische Aufgaben. Das Sonderprogramm „Aussiedler", das von einer interministeriellen Arbeitsgruppe unter Leitung des Bundesinnenministeriums erarbeitet wurde, begrüßen wir Liberalen im Grundsatz. Der Bundeskanzler hat in seiner gestrigen Rede in eindringlichen und eindrucksvollen Worten, für die ich an dieser Stelle ausdrücklich danken möchte, auf unsere selbstverständliche moralische Pflicht hingewiesen, den Menschen, die bis heute unverschuldet unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges leiden, zu helfen. Diese Menschen haben sich allen Widrigkeiten zum Trotz zu ihrer deutschen Herkunft und Kultur bekannt. Die meisten kommen ja nicht, weil es sich bei uns so bequem leben läßt, sondern sie kommen, weil etwa in Rumänien ihre Dörfer erbarmungslos dem Erdboden gleichgemacht werden, sie kommen, weil sie nach jahrzehntelangem Warten aus der Sowjetunion ausreisen dürfen. Sie kommen zu uns, weil sie zu unserem Volk gehören und in ihrem Land keine Zukunft für sich und ihre Kinder sehen. Sie sind auch keine BedroFrau Seiler-Albring
hung unseres Wohlstandes. Ich finde, er stünde wahrhaftig auf tönernen Füßen, wenn 200 000 Menschen, die hier ja keine „soziale Hängematte" erwarten, ihn gefährden könnten.
Es ist gut, daran zu erinnern, daß wir Deutschen ja schon einmal eine ähnliche Aufgabe unter viel widrigeren Umständen sehr erfolgreich bewältigt haben. Deshalb appellieren wir an unsere Mitbürger, diesen Menschen mit Toleranz und Aufgeschlossenheit zu begegnen und ihnen bei der Eingewöhnung in eine ersehnte, aber doch fremde neue Heimat zu helfen.
Der Staat - hier kommt der Haushalt zur Sprache - muß die finanziellen und organisatorischen Voraussetzungen erbringen. Das Sonderprogramm ist im Grundsatz richtig angelegt. Es gibt für uns Freie Demokraten auch keinen Zweifel daran, daß zu einer menschenwürdigen Aufnahme auch eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum gehört. Dennoch behalten wir uns eine Überprüfung hinsichtlich Effizienz und Ausführung vor. Dem finanziellen Volumen stimmen wir ausdrücklich zu.
Bei der Bewältigung dieser großen innenpolitischen Herausforderung werden wir unsere liberalen Kernforderungen im Auge behalten: keine Ghettoisierung, Dezentralisierung der Mittel und Lasten, Förderung der Privatinitiative, Absage an zusätzliche Subventionstatbestände für die großen Wohnungsbauunternehmen.
Daneben bleibt es Aufgabe aktiver Aussiedlerpolitik, langfristig die Lebensbedingungen der Deutschen in den Ostgebieten erträglich und menschenwürdig zu gestalten, ihnen damit zu helfen, in ihren Siedlungsgebieten zu bleiben. Erste Ansätze - zumindest im Bereich der Rußlanddeutschen - sind zu pflegen und behutsam zu intensivieren.
Ein anderes Thema, das aber auch unter dem Stichwort „politische Verfolgung" abzuhandeln ist, ist die Frage der Rückführung der Asylanten und Asylbewerber. Seit Beginn des Bürgerkrieges in Sri Lanka haben etwa 42 000 Personen bei uns Asyl beantragt. 26 000 Tamilen sind zur Zeit noch im Bundesgebiet.
Meine Damen und Herren, die FDP-Haltung zum Art. 16 des Grundgesetzes ist bekannt und unverändert. Um ihn tragfähig zu halten, gibt es aber keinen Zweifel daran, daß dann, wenn die Tatbestände der politischen Verfolgung nicht mehr gegeben sind, die Rückführung von Flüchtlingen in ihr Heimatland zu fördern ist. Dies entspricht dem Konzept, das der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in Abstimmung mit der internationalen Gemeinschaft erarbeitet hat. In Übereinstimmung mit diesen Grundsätzen wurde bereits mit der freiwilligen Rückführung von Tamilen aus Indien begonnen. Der Hohe Flüchtlingskommissar hat erklärt, daß auch die westeuropäischen Aufnahmeländer demnächst mit der Repatriierung beginnen könnten. Wir werden deshalb dem Beitrag an das Zwischenstaatliche Kommitee für Auswanderung für ein Sonderprogramm „Rückführung nach Sri Lanka" zustimmen. Verknüpfen werden wir dies aber mit der Bedingung, daß eine sorgfältige Einzelfallprüfung gewährleistet ist. Hilfen und Förderung der freiwilligen Rückkehr ja, Zwangsrückführung nein.
({3})
Denn der Widerruf des Asylrechtes ist dann nicht vertretbar, wenn sich ein Flüchtling nach jahrelangem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland auf die Lebensverhältnisse hier eingestellt und sich und seine Familie voll integriert hat und die Zwangsabschiebung zu einer nicht vertretbaren Härte werden würde.
Wenn die Erwartungen des Innenministeriums zutreffen, daß 1989 und 1990 jeweils 10 000 Tamilen das Angebot annehmen, dann stehen den Kosten von 30 Millionen DM hohe Einsparungen der Länder und Gemeinden bei den Sozialhilfeleistungen in Höhe von mindestens 100 Millionen DM jährlich gegenüber.
Abschließend möchte ich auf einen Punkt eingehen, der eine Gruppe von Bundesbürgern betrifft, die größtenteils in ehrenamtlichem Einsatz seit vielen Jahren im erweiterten Katastrophenschutz tätig sind: die Mitarbeiter und Helfer im Technischen Hilfswerk. Der Bundesrechnungshof hat das Technische Hilfswerk geprüft und in einer Prüfmitteilung vom April mitgeteilt, daß nach seiner Ansicht die Probleme des Technischen Hilfswerks am besten dadurch gelöst werden könnten, daß man es auflöst und seine Aufgaben anderen Rettungs- und Hilfsorganisationen zuführt. Normalerweise ist es ja so, daß solche Bemerkungen erst einmal mit dem Betroffenen diskutiert und ihm die Möglichkeit gegeben wird, sich darauf einzustellen und eine Stellungnahme abzugeben.
Meine Damen und Herren, ohne der abschließenden Würdigung und Diskussion vorgreifen zu wollen, muß festgestellt werden, daß die FDP die Ansicht des Bundesrechnungshofs nicht teilt, daß sich die Gesamtheit der Probleme dadurch lösen läßt, daß man die Aufgaben des Technischen Hilfswerks anderen Hilfsorganisationen überträgt. Es ist auch in meiner Fraktion unbestritten, daß es in der Abstimmung mit den Aufgaben mit den anderen Hilfsorganisationen - ich nenne hier ausdrücklich die Feuerwehr - Schwierigkeiten gibt, die gelöst werden müssen, nach unserer Meinung aber auch gelöst werden können. Ich denke, daß die zu erwartende Kabinettsvorlage zum Ergänzungsgesetz zum Gesetz zum erweiterten Katastrophenschutz hier für eine abschließende Klärung sorgen wird.
Ich meine, daß eine so wichtige Aufgabe wie die des Zivilschutzes bei sparsamer Haushaltsführung, für die wir ja eintreten wollen und müssen, nur erfüllt werden kann, wenn sich die damit betrauten Einrichtungen und die in ihnen haupt- und ehrenamtlich tätigen Helfer der tatkräftigen Unterstützung durch das Parlament sicher sein können. Wir werden unseren Beitrag hierzu auch künftig leisten.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Olms.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich schon manchmal ge'6264
fragt, wie Kultur und innere Sicherheit in einem Ministerium zusammenpassen. Die Antwort kam jetzt aus München. Dort ließen die beiden Sicherheitshelden Lang und Gauweiler die Sondereinsatzkommandos der Polizei kurzerhand zu Laienschauspielern umfunktionieren. Ihre makabre Aufführung: „Der finale Todesschuß". An den deutschen Stammtischen sproßen die Lynchphantasien, und am größten dieser Stammtische, mit Sitz in Bonn, haben von Heiner Geißler bis Jürgen Möllemann alle den Colt gezogen.
Das Geiseldrama hat einen Teil der politischen Kultur bloßgelegt, u. a. die Kultur des Innenministeriums, gesellschaftliche Konflikte nicht politisch, sondern möglichst gewaltsam zu bearbeiten. Wer gewaltsame Strukturen aufbaut und perfektionieren will, der braucht knallharte Feindbilder. Der Bundesinnenminister geht davon aus, daß bereits jedes Kind zunächst einmal als ein potentielles Sicherheitsrisiko anzusehen ist, als ein potentieller Feind dieses Staates.
Mit 13 oder 14 Jahren fängt das „Sicherheitsrisiko" mit dem Kiffen und der Auflehnung gegen das Elternhaus an. Mit 18 Jahren wird ein Haus besetzt, und ein paar Jahre später wird aus dem Kiffer ein böser Terrorist. Diese Wahnvorstellungen hat Innenminister Zimmermann unter anderem in der Zeitschrift des Bundesgrenzschutzes vom August dieses Jahres zum besten gegeben.
({0})
Und daß der Feind in diesem Land seit eh und je links steht, offenbarte ein anderes Ereignis der letzten Wochen: Ein bundesdeutsches Gericht sprach den Mann mangels Beweisen frei, der beschuldigt wurde, den Kommunisten Ernst Thälmann in Buchenwald ermordet zu haben. Die Begründung: Eine direkte Tatbeteiligung konnte dem Angeklagten nicht nachgewiesen werden.
Auf der anderen Seite sind etliche der sogenannten Terroristen zu mehrmaligen lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilt worden, ohne daß ihnen eine konkrete Tatbeteiligung nachgewiesen zu werden brauchte. Der § 129a macht's möglich. Wie viele ehemalige SS-Sturmbann- und -Gruppenführer wurden aus gesundheitlichen Gründen von einem Prozeß verschont, während inhaftierte RAF-Mitglieder wie Bernd Rössner und Günter Sonnenberg schwerkrank in ihren Gefängnistrakten liegen und keine Haftverschonung erhalten?
Besorgniserregend ist, daß in der letzten Zeit weite Teile der linken Opposition, die mit der RAF absolut nichts zu tun haben, unter den Bann des Terrorismus fallen. Dafür schuf das Innenministerium neue Tatbestände und einen neuen Begriff: die sogenannten anschlagsrelevanten Themen. Da wurden zwei Frauen, Ulla Penselin und Ingrid Strobl, verhaftet, weil sich die eine mit Freudinnen zur Erstellung einer Zeitung getroffen und die andere einen Wecker gekauft hatte. „Anschlagsrelevant" sind Themen, die sich kritisch mit den Gen- und Reproduktionstechnologien auseinandersetzen, und das probate Hausmittel zur Kriminalisierung jeglicher Opposition in diesem Land, der § 129a, macht aus den beiden Frauen Terroristinnen - die eine, weil ein Treffen mit Bekannten angeblich ein konspiratives Treffen war, und die andere, weil sie einen Wecker kaufte, der sich als Zeitzünder umfunktionieren ließe. Im Falle von Ursula Penselin brach die absurde und wahnhafte Konstruktion in sich zusammen; dennoch läßt die Bundesanwaltschaft von einer weiteren Strafverfolgung nicht ab.
Die neue Qualität der sogenannten Anti-TerrorGesetzgebung besteht schlicht und einfach darin, daß das Feindbild über die RAF hinaus erheblich erweitert werden mußte, um ein viel breiteres politisches Spektrum der Opposition in diesem Lande einzuschüchtern und zu kriminalisieren. Daß nach den amtlichen Statistiken nur etwa 5 % der nach § 129 a Verfolgten auch verurteilt werden, belegt nachdrücklich, daß nicht Straftaten, sondern politische Gesinnung verfolgt werden.
Meine Damen und Herren, in nunmehr rund 15 Gesetzesanläufen seit 1970 versucht die CDU/CSU, die Demonstrationsstrafvorschriften aus der Kaiserzeit wiederherzustellen. Als Zwischenschritt wurde ein Vermummungsverbot eingeführt, juristisch ein reiner Verdachtsparagraph, politisch ein Kleiderordnungsparagraph. Er gilt selbstverständlich nur für Menschen, die sich gern in schwarz kleiden - der Frack des Kollegen Möllemann ist damit natürlich nicht gemeint; wo ist eigentlich Möllemann? - , aber er gilt nicht für die vielen weißen Westen in unser Republik, die Steuern hinterziehen, illegale Waffengeschäfte abwickeln, Plutonium verschieben oder Dünnsäure verklappen.
All die in Kraft getretenen und noch geplanten sogenannten Sicherheitsgesetze sollen dazu dienen, „das Problem der gestiegenen Demonstrationsbereitschaft" in den Griff zubekommen, wie Staatssekretär Spranger dies schon 1984 auszudrücken pflegte, der gleiche Herr Spranger übrigens, der neulich völlig unbehelligt die Hamburger Hafenstraße entlang promenieren konnte.
({1})
Meine Damen und Herren, noch haben wir den alten Landfriedensbruchparagraphen nicht, aber der Countdown läuft, und wir können damit rechnen, daß die nächsten Initiativen ergriffen werden.
Für 12 500 Polizisten und 1 000 Banker soll während der Jahreshauptversammlung des IWF und der Weltbank in West-Berlin Freizügigkeit herrschen, während auf kritische Bürger und Bürgerinnen dieses Landes mit präventiven Sicherheitsmaßnahmen und der Anwendung des Kontrollstellenparagraphen 111 StPO reagiert wird.
Nicht nur, daß seriöse und aufklärende antiimperialistische Stadtrundfahrten in Berlin von der Polizei überwacht und deren Teilnehmer und Teilnehmerinnen kontrolliert werden, so wie es auch mir passiert ist. Mit den in Berlin und an den Grenzübergängen nach Berlin eingerichteten Kontrollstellen nach § 111 StPO werden auf dem Vorwege Menschen kontrolliert und in Verbindung mit § 163 StPO datenmäßig erfaßt.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lüder?
Nein, diesmal nicht.
Nach Ihren übersteigerten Sicherheitsplanungen wird es wohl Einreiseverbote für Bürgerinnen und Bürger aus der Bundesrepublik geben, die die Jahrestagung kritisch begleiten wollen.
Meine Damen und Herren, die GRÜNEN lehnen die bereits bestehenden Antiterrorgesetze ebenso ab wie die noch geplanten Maßnahmen im Rahmen der Artikelgesetze.
({0})
Mit immer weiteren Sondergesetzen, weiterer Polizeiaufrüstung und der Perfektionierung staatlicher Überwachungsmaßnahmen haben Sie ein staatliches Gewaltpotential geschaffen, das völlig untauglich zur Lösung gesellschaftlicher Probleme ist.
Meine Damen und Herren, ich möchte angesichts der kurzen Zeit nur noch auf den Bereich der Aussiedler- und Ausländerpolitik eingehen. Wenn in diesem Jahr 200 000 von Kanzler Kohl so definierte „Landsleute" zu uns kommen, dann ist das großartig. Wenn andererseits in diesem Jahr 100 000 Flüchtlinge zu uns kommen müssen, dann wird dieses Land angeblich überflutet und überfremdet. Der Unterschied zwischen einem 24jährigen Polen und einem gleichaltrigen Tamilen ist einzig und allein der, daß uns der Pole willkommen ist, wenn seine Vorfahren Deutsche in den Grenzen des alten Reiches gewesen sind.
Doch wer und was ist eigentlich deutsch? Ich will hier die deutschen Sekundärmerkmale wie Treue, Fleiß, Sauberkeit, Ordnung usw. einmal beiseite lassen und zum Kern vorstoßen. Das Problem wurde nach dem Krieg durch den Art. 116 des Grundgesetzes gelöst, in dem zu der deutschen Staatsangehörigkeit noch die deutsche Volkszugehörigkeit eingebaut wurde. Unsere Volkszugehörigen sind also Flüchtlinge oder Vertriebene, die nach dem Stand vom 31. Dezember 1937 Aufnahme im damaligen Reich gefunden haben. Leicht haben es also diejenigen Aussiedler, deren Vorfahren Nazis waren, vermeldete die „Zeit" in ihrer Ausgabe vom 12. August; denn in solchen Fällen sei die Reinheit der Rasse schnell über das Berlin Document Center in Erfahrung zu bringen.
Deutsches Blut, also die Abstammung, und deutscher Boden mit dem Stand von 1937, um nicht auch noch unsere Landsleute aus Lateinamerika oder den USA bei uns aufnehmen zu müssen,
({1})
definieren also den Status eines Aussiedlers, der bei uns willkommen ist.
So ganz nebenbei gibt das Innenministerium auch zu, daß die Bundesrepublik in den fünfziger Jahren ein Einwanderungsland war, was immer bestritten wird, wenn Flüchtlinge ohne deutsche Ahnengalerie hierherkommen.
Im Rahmen einer Politik der offenen Grenzen begrüßen die GRÜNEN es, wenn Menschen, ganz gleich welcher Staatsangehörigkeit, Hautfarbe und aus welchen Gründen auch immer in die Bundesrepublik kommen und kommen müssen. Wir begrüßen es auch, wenn den Aussiedlern, sei es auch unzureichend, geholfen wird. Der deutsch-nationale Pathos, den die Bundesregierung da angestimmt hat, ist jedoch entschieden zu bekämpfen. Denn die Betonung des Deutschtums schadet bereits einem Teil der Aussiedler selbst.
({2})
An vielen deutschen Stammtischen wird dieser rassistische Faden weitergesponnen, und polnische Aussiedler, die die deutsche Sprache nicht sprechen, werden als „falsche Deutsche" oder als Polen bezeichnet, die sich die Einwanderung nur erschlichen hätten. TÜV-überprüfte Aussiedler mit deutschem Ahnenpaß dürfen herein, Ausländer und Flüchtlinge außerhalb der Europäischen Gemeinschaft müssen draußen bleiben; so lautet die Philosophie aus dem Hause Zimmermann. Ihre Referenten, Herr Zimmermann, deutschen so deutsch, daß es deutscher schon gar nicht mehr geht. Ihr Ministerium zur Bewahrung des nationalen Charakters hat es auch ohne Ihr geplantes neues Ausländerabschreckungsgesetz erreicht, den Art. 16 Abs. 2 vollständig auszuhöhlen. Sie haben es tatsächlich geschafft, vor allem die Flüchtlinge aus den Ländern der Dritten Welt nicht hereinzulassen. Bekanntlich stammen die meisten Flüchtlinge jetzt aus Polen, Jugoslawien und der Türkei.
Maßnahmen wie das Abkommen mit der DDR über eine faktische Einreisesperre für Flüchtlinge über den Flughafen Schönefeld, Paß- und Visazwang, verschärfte Grenzkontrollen, eine Beschleunigung sogenannter aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch Einrichtung von zentralen Abschiebestellen für Flüchtlinge im neuen Asylverfahrensgesetz usw. haben Sie bis jetzt schon dazu geführt, ein Ziel des geplanten Ausländerrechts im Vorwege zu realisieren, nämlich künftig den weiteren Zuzug von Ausländern aus der Dritten Welt zu begrenzen.
Meine Damen und Herren, Aussiedler bekommen eine sofortige Arbeitserlaubnis, ihnen werden Wohnungen zugewiesen, und für sie gilt die diskriminierende Ausländergesetzgebung nicht. Flüchtlinge hingegen werden größtenteils nur geduldet. Die Ausländergesetze behandeln die Flüchtlinge aus einem reinen Gnadenakt. Zu einer demokratischen Kultur eines Landes gehört auch, eine multikulturelle und multinationale Gesellschaft als eine Bereicherung zu betrachten. Von einer solchen Kultur ist diese Republik noch meilenweit entfernt.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Laufs.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Haushaltsentwurf 1989 sieht für den Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern Ausgaben in Höhe von 4,2 Milliarden DM vor. Das sind 250 Millionen DM oder 6,2 % mehr als in diesem Jahr. Annähernd die Hälfte dieser Ausgaben, nämlich 1,9 Milliarden DM werden für die Freiheit und Sicher6266
heit der Bürger im Innern, für den Bestand unseres Staates, bereitgestellt.
Die wachsende Bedrohung unserer inneren Sicherheit, die der Bundesinnenminister im einzelnen soeben dargestellt hat, durch organisierte Kriminalität, Rauschgifthandel, Terrorismus oder Gewalt bei Demonstrationen erfordert erhöhte Anstrengungen von uns. Wir haben es mit gut organisierten, technisch versierten und ebenso intelligent wie skrupellos und brutal vorgehenden Verbrechern zu tun. Unser Staat muß gerüstet sein, sich dieser Verbrecher zu erwehren. Wir werden das Strafrecht gegen die Gewalt und die Möglichkeiten der Strafverfolgung verbessern. Wir werden aber auch für das kommende Haushaltsjahr beträchtliche Mittel einsetzen, damit weiteres modernstes technisches, insbesondere auch elektronisches Gerät für unsere Sicherheitsbehörden angeschafft werden kann, für das Bundeskriminalamt ebenso wie für das Bundesamt für Verfassungsschutz und den Bundesgrenzschutz.
Der geplante Abbau der Kontrollen an den EG-Binnengrenzen wird die Sicherheitsbehörden vor zusätzliche enorme Probleme stellen. Wir unterstützen deshalb den Bundesinnenminister nachdrücklich, wenn er im Zusammenhang mit dem Schengener-Abkommen Maßnahmen verhandelt und vereinbart, die Sicherheitsdefizite ausgleichen können, z. B. das Recht, Verbrecher auch über Staatsgrenzen hinweg verfolgen zu können. Alle europäischen Vertragspartner müssen polizeiliches Nationalstaatsdenken überwinden. Eine spezielle Eurokriminalität, die den freien Wechsel über die Grenze nutzt, um Fahndungen unmöglich zu machen, darf sich nicht entwickeln. Die Absprachen der EG-Minister auf der TREVI-Konferenz in München im Juli dieses Jahres über die Öffentlichkeitsfahndung nach Schwerstkriminellen und über den Austausch von Verbindungsbeamten zur Rauschgiftbekämpfung sind für uns ein wichtiger Erfolg auf diesem Weg. Wir danken Ihnen, Herr Bundesinnenminister.
Meine Damen und Herren, jeder noch so hohe materielle Aufwand für die Kriminalitätsbekämpfung bleibt letztlich wirkungslos, wenn es uns nicht gelingt, das in Teilen unserer Bevölkerung empfindlich gestörte Rechtsbewußtsein wiederherzustellen. Die in 20 Jahren mehr als verdoppelte Zahl der in der jährlichen Kriminalstatistik erfaßten Straftaten auf heute über 4,4 Millionen ist ein alarmierendes Zeichen. Darin stimmen wir, Herr Kollege Penner, überein.
Rechtsbewußtsein muß schon bei Jugendlichen in Elternhaus und Schule erzeugt werden. Wie sollen Jugendliche von einem Rechtsstaat überzeugt sein, wenn eben dieser Rechtsstaat durch seine Repräsentanten mit Rechtsbrechern paktiert, wie das an der Hamburger Hafenstraße geschehen ist.
({0})
Wer sich Rechtsfrieden erkauft, macht das Recht zur Handelsware.
Am Ende einer derartigen Entwicklung kann dann eine Polizei stehen, die nicht mehr weiß, wen sie schützt, und resigniert aufgibt.
({1})
Dazu dürfen wir es nicht kommen lassen. Jeder Polizeibeamte muß wissen, daß der Staat, in dessen Auftrag er Gesetze ausführt, ihn sowohl in seiner Stellung als Polizeibeamter als auch in seiner rechtmäßigen Amtsausübung stützt.
Auch die Medien müssen sich ihrer besonderen Verantwortung bewußt sein. Ihre Zurückhaltung im jüngsten Entführungsfall vor zwei Tagen verdient Dank und Respekt. Aber die Vermarktung eines schweren Verbrechens, wie sie vor drei Wochen von einigen Medien bundesweit um das Geiseldrama vorgeführt worden ist, die Verharmlosung dieses Verbrechens, indem die Geiselgangster während ihrer Tat geradezu kumpelhaft begleitet und mitten im grausigen Geschehen locker interviewt worden sind, sind der bisherige Höhepunkt an öffentlich zur Schau gestelltem Fehlen an Rechtsbewußtsein in unserem Land. Darüber kann man nur entsetzt sein.
Dieses Medienspektakel ergänzte auf seine Weise die fehlende Strategie der Sicherheitspolitik in Nordrhein-Westfalen und Bremen, die den Tätern unangemessene Spielräume läßt. Es sind schwere Fehlentscheidungen getroffen worden. Eine unsere Bevölkerung erregende Frage ist bis heute ohne Antwort geblieben: Wer trägt dafür die politische Verantwortung, und wer zieht daraus welche Konsequenzen? Dazu hätten wir, Herr Kollege Penner, neben all Ihrer Polemik hier ein Wort erwartet.
({2})
Polizei ist und bleibt nach dem Grundgesetz Sache der Länder. Niemand will das ändern. Aber auch die Bundespolitik kann nicht zur Tagesordnung übergehen. Der Fall muß auch hier aufgearbeitet werden. So muß z. B. der Bundesminister der Justiz im Zusammenwirken mit den Landesjustizministern alles tun, um wirksame Vorsorge dafür zu treffen, daß künftig kein Hafturlaub gewährt werden kann, wenn die Gefahr besteht, daß der Hafturlaub für neue Straftaten genutzt wird.
({3})
Wir alle wollen, daß die Sicherheitsbehörden personenbezogene Daten zurückhaltend bearbeiten. Das böse Wort der Opposition von der „Sammelwut der Sicherheitsbehörden" entspringt aber einer hysterischen Fehleinschätzung der polizeilichen Tätigkeit und hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Der Datenschutz wird als selbstverständliche Pflicht akzeptiert. Bei der nun bevorstehenden Novellierung des Datenschutzrechts werden wir vielmehr darauf achten müssen, daß die Kräfte der Sicherheit nicht durch unangemessenen und unnötigen bürokratischen Aufwand belastet und damit geschwächt werden.
Die Handhabung personenbezogener Daten im staatlichen Bereich muß neu geregelt werden. Der Übergangsbonus nach dem Volkszählungsurteil von
Ende 1983 beginnt auszulaufen. Darüber gibt es zwischen uns allen keine Meinungsunterschiede.
({4})
Die vorbereitenden Arbeiten für ein umfassendes Gesetzgebungsprogramm sind nahezu abgeschlossen. Die politische Diskussion und die Bewertung der Gesetzentwürfe können noch in diesem Jahr beginnen. Wir sind entschlossen, sie in dieser Legislaturperiode zu verabschieden.
Das Volkszählungsurteil enthält bindende Vorgaben für den Persönlichkeitsschutz bei der zwangsweisen Erhebung personenbezogener Daten und im übrigen viele programmatische rechtspolitische Aussagen, die wir soweit wie möglich umsetzen wollen, vor deren Überbewertung aber der verstorbene Bundesverfassungsgerichtspräsident Zeidler und der amtierende jetzige Präsident Roman Herzog gewarnt haben. Das, Herr Kollege Penner, sollten Sie sich einmal zu Gemüte führen, bevor Sie so ungeheure Vorwürfe erheben, wie Sie das gerade an diesem Pult getan haben.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, wollen in Ihrem Gesetzentwurf den eigentlichen Datenschutz zum Informationsschutz und geradezu grenzenlos auch auf Akten, Bild- und Tonträger ausweiten und alle Informationsflüsse von der Erhebung bis zur Löschung gesetzlichen Vorschriften unterwerfen. Ohne der Beratung vorgreifen zu wollen, möchte ich doch die Vermutung äußern: Diese Informationsverkehrsordnung würde entweder im praktischen Leben völlig leer laufen oder zu einer gigantischen staatlichen Kontrollapparatur mit ständiger Strafverfolgung führen und damit ebenfalls scheitern.
Meine Damen und Herren, alles deutet darauf hin, daß 1988 weit über jede Erwartung hinaus mehr als 100 000 Asylbewerber zu uns kommen und über 64 000 Asylanträge stellen werden. Wir werden uns deshalb im Laufe der parlamentarischen Beratungen dafür einsetzen, dem Bundesamt in Zirndorf so viele neue Planstellen und Stellen für Angestellte zuzuwenden, wie erforderlich sind, um eine Verlängerung der augenblicklichen Verfahrensdauer von zwölf Monaten zu verhindern. Die derzeitige personelle Kapazität des Bundesamtes reicht nur für etwa 52 000 Asylverfahren jährlich aus.
Von einer Entspannung der Asylproblematik kann keine Rede sein. Solange die Anerkennungsverfahren Jahre in Anspruch nehmen und solange die Bundesländer rechtskräftig abgelehnte Asylbewerber nicht konsequent abschieben oder abschieben können, bleibt die Bundesrepublik Deutschland das in Europa begehrteste Asylland.
Ich halte diese Entwicklung auch deshalb für unerträglich, weil der Anteil der Mißbrauchsfälle extrem hoch geworden ist. Nur 10 % der Asylbewerber können als politisch Verfolgte anerkannt werden. Ich sehe keine Chance mehr, unterhalb des Art. 16 des Grundgesetzes, dessen Änderung ich im Gegensatz zu Ihnen, Frau Kollegin Seiler-Albring, für notwendig halte, durchgreifende rechtliche Maßnahmen gegen den Mißbrauch unseres einzigartigen Asylrechts zu ergreifen. Die Asylproblematik wird nicht zur Ruhe kommen. Die Verschärfung des Asylrechts in unseren
Nachbarstaaten erhöht schon jetzt den Druck auf die Bundesrepublik Deutschland. Auch deshalb ist eine Harmonisierung der Asylverfahren in den EG-Staaten, in einem Europa ohne Grenzen, notwendig.
Die Bundesregierung muß die bereits begonnene Diskussion mit den EG-Partnern intensivieren und beschleunigen, um zu einer verbindlichen und einheitlichen Regelung des Asylverfahrensrechts für die gesamte EG zu gelangen.
({5})
Ich bedaure, daß kein Konsens mit der Opposition darüber möglich erscheint, daß das Gebot der Humanität gegenüber Ausländern, zu dem wir uns alle bekennen, seine Grenzen an der Belastbarkeit und Überforderung der Bürger in unserem Land finden muß. Dabei ist offenkundig, daß wir alle in absehbarer Zeit in völlig neue Zugzwänge kommen können. Denn die aus dem Ostblock nach Deutschland zurückkehrenden deutschen Aussiedler, über die hier schon viel gesagt worden ist, treten faktisch in unseren Gemeinden in einen Verdrängungswettbewerb mit den hier lebenden Asylbewerbern. Das ist nicht nur eine Frage des Finanziellen. Unsere Aufnahmefähigkeit hat ihre Grenzen, auch wenn Sie von der Opposition das nicht zur Kenntnis nehmen wollen.
Unstreitig ist, daß unsere Landsleute aus dem Osten unsere ganz besondere Hilfsbereitschaft erfahren müssen. Sie gehören zu uns, und jeder Aussiedler soll wissen, daß wir ihn gerne aufnehmen.
({6})
Meine Damen und Herren, in der Sommerpause hat die SPD eine Diskussion über die Altersversorgung der Beamten angefacht, die deutlich macht, daß die Opposition das Berufsbeamtentum überhaupt in Frage stellt.
({7})
Dazu will ich gleich etwas sagen. Zunächst, unsere Politik stützt sich auf zwei klare Positionen:
Erstens. Ein unabhängiges Berufsbeamtentum ist unabdingbar für das Funktionieren unseres demokratischen Gemeinwesens.
({8})
Wir stellen weder das Beamtenrecht noch das Tarifrecht der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst in Frage.
({9})
Zweitens. Es genügt nicht, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst ihren Rechtsstatus zu garantieren. Ihre Einkommensbedingungen müssen ihrer Funktion entsprechen und auch dem Vergleich mit der gewerblichen Wirtschaft standhalten.
Mit der Besoldungs- und Versorgungsanpassung für die Jahre 1988 bis 1990 werden wir die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst für die Beamten und Versorgungsempfänger ohne Abstriche übernehmen. Außerdem wollen wir die Besoldungsstruktur verbessern. Für den einfachen Dienst werden wir ein neues Spitzenamt, A 5 + Zulage, schaffen. Im mittleren Dienst wird das Eingangsamt für beamtete Meister und staatlich geprüfte Techniker von A 5 auf A 6 an6268
gehoben. Die für den höheren und gehobenen Dienst abgesenkte Eingangsbesoldung wird in zwei Stufen zurückgenommen. Ob und inwieweit die Lehrer hierbei einbezogen werden, ist noch nicht entschieden. Wir warten das Votum der Länder ah, die von den Folgekosten der Rücknahme der abgesenkten Eingangsbesoldung im Lehrerbereich allein betroffen wären.
Die Eigenständigkeit der Beamtenversorgung, die sich bewährt hat, steht für uns nicht zur Debatte. Ich will aber auch mit gleicher Deutlichkeit feststellen: Wenn die Leistungen unserer Alterssicherungssysteme in der Folge des Geburtenrückgangs überprüft werden müssen, bleibt die Beamtenversorgung davon nicht ausgenommen.
({10})
Aber - und das ist entscheidend - : Alle etwaigen Änderungen müssen sich ganz im Rahmen des Beamtenversorgungsrechts halten.
({11})
In Münster hat die SPD die Forderung beschlossen, von den Beamten Beiträge zur Alterssicherung zu verlangen, wie wenn diese nicht schon in deren Gehältern berücksichtigt wären. Erklären Sie bitte den Beamten, insbesondere den Beamten, die mehrheitlich den Laufbahnen des einfachen und mittleren Dienstes angehören,
({12})
ob Sie deren Einkommen entsprechend kürzen wollen. Oder wollen Sie die Gehälter erst anheben und dann in gleicher Höhe Beiträge einbehalten? Und wohin sollten dann solche Beiträge fließen?
({13})
- Das sind nur Fragen, Herr Nöbel. ({14})
In die Rentenversicherung, aus der die Beamten keine Leistungen erhalten? Der Steuerzahler hätte von all diesen Manipulationen keinen Gewinn. Was wollen Sie eigentlich?
({15})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte, Herr Penner.
Verehrter Herr Kollege Laufs, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß das Parlament zu diesen Fragen mit Recht Vorstellungen des Beamtenministers, nämlich Herrn Dr. Zimmermann, erwarten kann?
Die Vorstellungen der Bundesregierung sind bekannt.
({0})
Sie decken sich mit diesen Vorstellungen, die ich hier entwickelt habe. Wir tasten das Berufsbeamtentum nicht an,
({1})
was Sie in Münster aber gemacht haben und in Ihren Reden immer wieder zum Ausdruck kommt. Muß ich Sie an Ihren Irseer Programmentwurf erinnern? Muß ich Sie an das erinnern, was Ihr Herr Lafontaine in Münster an Beamtenbeschimpfung von sich gegeben hat?
Meine Damen und Herren, wir haben den Eindruck, daß Sie versuchen, das Berufsbeamtenrecht durch die Hintertür letztlich zu beseitigen.
({2})
Die SPD kann mit einem unabhängigen Berufsbeamtentum innerlich offenbar wenig anfangen; es ist ihr wesensfremd.
({3})
- Ja, diskutieren Sie Ihren Programmentwurf, Ihren Irseer Programmentwurf mal mit uns. - Dieses Berufsbeamtentum ist vielen bei Ihnen ein Dorn im Auge.
({4})
Und so nebenbei schüren Sie mit Ihren Angriffen auch eine gewisse Antipathie gegen Beamte. Indem Sie funktionsbedingte Besonderheiten des Beamtenrechts aus dem Zusammenhang reißen und als Privilegien ausgeben,
({5})
machen Sie die Beamten zum Gegenstand des Neids.
({6})
- Herr Nöbel, Sie haben über die Beamtenschaft auch schon schlimme Dinge gesagt. Ich stelle fest: Sie bringen mit Ihren Äußerungen - und manche sind nicht zitierfähig - den öffentlichen Dienst, auf dessen Loyalität wir uns, auf dessen Loyalität sich alle Bürger verlassen können und müssen, ohne Grund ins Gerede.
({7})
Wir werden den öffentlichen Dienst vor Ihren unfairen Angriffen schützen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende der innenpolitischen Runde möchte ich in Abstimmung mit der Frau
Kollegin Seiler-Albring ein paar Bemerkungen machen.
Frau Olms, zu Ihrer Rede: Sie leben in einer anderen Welt. Jeder Gedanke stirbt an seiner definitiven Übertreibung.
({0})
Ich finde zu dem, was Sie sagen, keine Brücke mehr. Ich kann das nachvollziehen; aber ich kann dann nicht mehr argumentieren.
({1})
Ich mache ein paar Bemerkungen zum Schengener Abkommen. Es ist völlig richtig, daß die Harmonisierung auf einer Reihe wichtiger Gebiete außerordentlich notwendig ist: Drogenrecht, Waffenrecht, Ausländer- und Asylrecht, Zusammenarbeit der Polizeien. Das alles ist jedenfalls dann um so schwieriger, wenn man den Zuwachs an persönlicher Freizügigkeit, an wirtschaftlicher Bewegungsfreiheit, den wir ja in Europa erwerben wollen, nicht durch einen Zuwachs an Kontrollen, Überwachungen, Beobachtungen im Inland erkaufen und wenn man ein freies, nicht ein bürokratisches Europa haben will. Schon die Vorstellung, sozusagen als Sicherheitsausgleich an den Außengrenzen in Zukunft jeden einzelnen Reisenden zu kontrollieren, ist nicht nur eine Illusion, sondern es ist auch nicht wünschenswert, derartiges zu machen.
Weniger Bürokratie und mehr Offenheit, das ist natürlich auch gegenüber den Ausländern angebracht, die bei uns leben und die wir nicht auf Dauer als Fremde betrachten können, sondern die wir in ihrem menschlichen Schicksal ebenso ernst wie in ihren familiären Bindungen nehmen müssen. Ich hoffe doch sehr, daß wir noch in dieser Wahlperiode wenigstens zu akzeptablen Teillösungen der Novellierung kommen.
Wir bieten die Mitarbeit bei den Folgen des Schengener Abkommens an. Dazu benötigen wir im Innenausschuß eine größere und intensivere Information,
({2})
eine intensivere Begleitung bei den Verhandlungen, die geführt werden, die um so intensiver sein muß, je näher sie sich grundrechtsrelevanten Bereichen nähert,
({3})
sei es im Asylrecht, sei es beim Datenschutz, wo Sie ja die Hilfe des Ausschusses und des Parlaments in Ihren Verhandlungen nutzen können, um den europäischen Partnern auch die Grenzen des politischen Bewegungsspielraums deutlich zu machen. Denn an dem Satz wird man ja wohl wenig ändern können und wollen: daß ein größeres Europa auch ein freieres Europa sein muß und nicht mit dem Verzicht auf Grundrechte erkauft werden darf.
({4})
- Verehrte Frau Kollegin, es kommt doch nicht darauf an, ob er sie benötigt, sondern darauf, ob er bereit ist, die Hilfe der Liberalen und des Parlaments in seiner Gesamtheit in Anspruch zu nehmen. Und er ist gut beraten, wenn er sich dafür entscheidet.
Zur inneren Sicherheit. Es ist nicht meine Aufgabe, hier im einzelnen zu polizeilichen Vorgängen im Rahmen eines Landes Stellung zu nehmen. Dazu hätte es in der Vergangenheit, bezogen auf viele Bundesländer, von Schleswig-Holstein bis Bayern, ausreichend Gelegenheit und Anlaß gegeben, wenn wir das hätten tun wollen.
Ich bin der Überzeugung, daß wir in allen Bundesländern, auch in Nordrhein-Westfalen, eine hervorragend ausgebildete und ausgerüstete Polizei haben, die ihre Aufgabe mit großem Engagement löst, die weder in der Bundesrepublik noch sonstwo international irgendeinen Vergleich zu scheuen braucht, die mit großer Professionalität und großem Rechtsstaatsbewußtsein arbeitet und seit vielen Jahren, auch in Nordrhein-Westfalen, beweist, daß Liberalität und Durchsetzung des Rechtsstaats keine Gegensätze sind.
Die Polizei hat Erfolge, und sie hat Mißerfolge. Die muß man analysieren, um künftige Arbeiten zu verbessern. Aber wenn man vom Bund her an der inneren Sicherheit und am inneren Frieden interessiert ist, muß man zuerst die Polizeien aus dem politischen Streit heraushalten.
({5}) Man muß ihre Zusammenarbeit fördern.
({6})
Man muß die Polizeien vor politischer Besserwisserei schützen.
({7})
Man darf nicht eine Polizei gegen die andere ausspielen. Das ist eine Todsünde.
Ich habe es außerordentlich begrüßt, daß nicht nur der niedersächsische Ministerpräsident Albrecht, sondern auch Innenminister einer ganzen Reihe anderer Bundesländer, beispielsweise von Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz, genau davor gewarnt haben, die Polizeien in eine politische Diskussion hineinzutreiben und sie in eine Art politischen Wettbewerb hineinzuführen. Das kann nicht gutgehen.
({8})
Die bundeseinheitliche Dienstvorschrift über polizeiliches Handeln, auch die polizeiliche Taktik müssen überprüft werden. Das ist unbestreitbar. Aber zur inneren Sicherheit gehört auch die intensive inhaltliche und persönliche Zusammenarbeit der Führungskräfte der Polizeien in Hiltrup. Ich warne davor, ideologische Differenzen nach Hiltrup hineinzutragen. Es bedarf darüber hinaus in der Tat dringend der Harmonisierung des Polizeirechts. Hier kommt es nicht in erster Linie auf die Frage an, wann ein Täter erschossen werden darf. Denn auch die bayerische und die rheinland-pfälzische Rechtslage ändern nichts daran, daß der handelnde Polizeibeamte eine individuelle und strafrechtliche Verantwortung hat.
({9})
Sie ändern auch nichts daran, daß das Erschießen eines Täters nicht das erstbeste Mittel, sondern nur das letzte Mittel sein darf, um Leben zu retten. Aber es bedarf dringend der Verbesserung der informationellen Zusammenarbeit der Polizeien und der Regelungen auf diesem Gebiet: im Bereich des Bundeskriminalamtes, im Bereich der Zusammenarbeit der Länderpolizeien. Ich appelliere an den Innenminister, seine Schlüsselrolle, die er in der Innenministerkonferenz von Bund und Ländern hat, zu benutzen - ({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege Hirsch?
Wenn sie nicht angerechnet wird, gerne.
Ich mache es auch ganz kurz, Herr Kollege. - Darf ich angesichts des Usus, daß im Parlament immer eine Koalitions- mit einer Oppositionsrede im Wechsel gegeben wird, aus der Tatsache, daß Sie nun nach dem Kollegen Laufs sprechen, den Schluß ziehen, daß auch Sie der Meinung sind, daß angesichts der Politik des Innenministers und des Justizministers im Parlament und außerhalb des Parlaments die Opposition dringend gestärkt werden muß?
Herr Kollege, ich finde das eine ziemlich alberne Frage. Natürlich bin ich nicht dieser Meinung, sondern ich bin der Überzeugung, daß eine liberale Innenpolitik in dieser Koalition gemacht werden kann und gemacht werden sollte. Wir tragen nach Kräften dazu bei, daß das auch geschieht.
({0})
Ich möchte aus dieser ziemlich dumpfen Polemik heraus. Es muß möglich sein, auch im Bereich der inneren Sicherheit an die Zusammenarbeit zu appellieren, die wir über viele Jahre gehabt haben, die wir in der Innenministerkonferenz gehabt haben, auch über die Grenzen der Parteien hinweg. Das, was ich hier sagen will, ist doch, daß mit der Polarisierung Schluß sein muß, die zwischen den Ländern ein Maß erreicht hat, wie es niemals vorher der Fall war,
({1})
und daß der Bund seine Möglichkeit nutzen muß, zu einer besseren Zusammenarbeit und zu einer Harmonisierung der gemeinsamen Anstrengungen um die innere Sicherheit in unserem Lande zu kommen: heraus aus der Polarisierung, hin zur Zusammenarbeit, Überwinden der parteipolitischen Grenzen, mehr Rechtssicherheit auch im Bereich der polizeilichen informationellen Zusammenarbeit, mehr Rechtssicherheit für Bürger und Polizei.
Das heißt natürlich, daß aus dem Volkszählungsurteil, das eine enorme Bedeutung für das Vertrauensverhältnis des Bürgers zum Staat hat, Konsequenzen gezogen werden müssen, gesetzgeberische Konsequenzen, nicht, Herr Kollege Laufs, weil der Übergangsbonus anfängt auszulaufen, sondern weil der
Übergangsbonus nach dem Volkszählungsurteil vorbei ist. Er ist zu Ende.
({2})
Wir müssen endlich zu politischen Entscheidungen kommen.
Letzte Bemerkung: zum Beamtenrecht. Kollege Laufs, Sie haben die gemeinsamen Überlegungen dargestellt, die wir für die beamtenrechtliche Zukunft angestellt haben, also auch über das, was wir nun hoffen, offiziell von der Bundesregierung als Strukturbericht für den öffentlichen Dienst in absehbarer Zeit zu bekommen. Sie haben selbstverständlich recht - darüber kann es keinen Zweifel geben - , daß wir das Berufsbeamtentum nicht antasten werden. auch nicht antasten lassen, auch nicht in dem wichtigen Bereich der Versorgung. Denn es ist in der Tat ein Rückgrat unseres Rechtsstaates, und wir wollen den Standard unserer Verwaltung erhalten, um den uns viele andere Länder beneiden.
Vielen Dank.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
({0})
Ein fast rechtloser, Herr Fellner.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, Ihnen meinen Sachvortrag hier zu Ohren kommen zu lassen. Ich habe bislang, bei der Erwiderung zur Regierungserklärung z. B., versucht, die gesamte Palette der Innenpolitik abzudecken, wie es Herr Penner vorhin für die SPD getan hat. Ich habe daraus gelernt, daß dieses bei der zur Verfügung stehenden Zeit ein bißchen problematisch ist, und konzentriere mich jetzt nur auf ein einziges Thema, das auch in der eben angeführten Rede ein besonderes Gewicht hatte, nämlich die Drogenproblematik.
Ich gehe dabei von dem kriminal- und rechtspolitischen Ansatz aus, den ich auf Grund meines Zivilberufes sehr stark in meine parlamentarische Arbeit einbringe, und beginne mit einem Zitat - die Quelle nenne ich Ihnen gleich - :
Die polizeiliche Kriminalstatistik wird geprägt von den Diebstahlsdelikten, besonders Einbrüche/Aufbrüche in/aus Wohnungen und Kraftfahrzeugen sowie Diebstähle in Geschäften und Sachbeschädigungen.
Dieses Zitat, meine Damen und Herren, stammt aus dem Bericht des Bundeskriminalamtes vom 15. Dezember 1987 zur Kriminalitätsentwicklung und Situation der Verbrechensbekämpfung in der Bundesrepublik Deutschland.
Ein zweites Zitat leitet genau zu dem Thema, das ich mir gewählt habe, über:
Bei Wohnungseinbruch und Diebstahl aus Kfz
jedoch könnten die besonders günstigen Tatumstände und wachsende Teile von IntensivtäWüppesahl
tern, z. B. unter den Drogenabhängigen, vorerst noch einen weiteren Anstieg bewirken.
Dieses drückt aus, was viele in der Praxis Tätige sowieso längst wissen: Die Kriminalisierung von Drogen und jede weitere Verstärkung der Repression, wie sie von seiten der Bundesregierung sowohl innerhalb unserer Republik als auch international und im besonderen in bezug auf die Harmonisierung des EG-Binnenmarktes ab 1992 werbend betrieben wird, ist nicht bloß kriminalpolitisch ineffizient, rechtspolitisch fragwürdig und bietet gesellschaftspolitisch Einfallstore zur Erteilung von Eingriffsermächtigungen, sondern ist aus ihrer inneren Logik heraus längst kontraproduktiv.
Das BKA, Herr Zimmermann, schätzt den Anteil der sichergestellten illegalen Drogen auf 7 bis 8 % des Gesamtumschlages. Es geht dabei von gut 50 000 Drogenabhängigen in der Bundesrepublik aus. Da diese Zahl tatsächlich mehr als verdoppelt werden muß, liegt die Erfolgsziffer zwar nicht im Promillebereich des Gesamtumschlages, aber überspringt mit Sicherheit nicht die 5-%-Hürde.
Trotz gelegentlicher Sicherstellungserfolge kann das Drogenproblem polizeilich nicht entschärft werden. Selbst wenn es gelänge, die sichergestellten Mengen quantitativ zu steigern, würden die Konsumenten, wie gleichfalls überall belegt, so lange auf andere Drogen wie z. B. Kokain und Pharmazeutika umsteigen, wie die Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft Menschen zu der Entscheidung drängen, Drogen zu konsumieren.
Nichts belegt die Ineffizienz gerade der polizeilichen Arbeit - und damit ist nicht irgendwelche fachliche Inkompetenz der Kollegen draußen gemeint, sondern einfach die Unmöglichkeit, das mit repressiven Mitteln in den Griff zu bekommen - stärker als die aktuelle Situation. Wir haben zur Zeit eine Verdoppelung der sichergestellten und beschlagnahmten Drogen. Gleichzeitig ist der Marktpreis, der eigentlich auf Grund einer solchen Entwicklung steigen müßte, erheblich gesunken. Deutlicher läßt sich das, glaube ich, nicht vermitteln.
Das Erschrecken über die ungefähre Verdoppelung der Zahl der Drogentoten in den verstrichenen Monaten dieses Jahres basiert auf Unkenntnis: Fast alle starben nicht auf Grund des Gebrauchs von Drogen, sondern weil die Droge, von der sie abhängig sind, kriminalisiert wird und die Rahmenbedingungen, unter denen diese Drogen beschafft und konsumiert werden müssen, den Grund für ihren Tod darstellen.
Allein aus diesem kriminalpolitischen Ansatz folgt zwingend und wird nicht nur in der Bundesrepublik bestätigt, sondern auch dadurch, daß in den anderen Ländern wie USA und Niederlande tendenziell ähnliche Gedanken verfolgt werden und auch bereits Gesetzeswerke formuliert sind, daß bei der Drogenbekämpfung eine Vorgehensweise mit polizeilichen oder polizeiähnlichen Mitteln - z. B. Zoll - das Problem nicht lösen kann. Provokant oder zugespitzt formuliert können wir sogar behaupten, daß durch den verstärkten Einsatz repressiver Mittel die Drogensituation verschärft worden ist. Das Betäubungsmittelgesetz jedenfalls hat kraß versagt.
Rechtspolitische Gesichtspunkte: Das im Betäubungsmittelstrafrecht angelegte engmaschige Netz einander überschneidender Begehungsformen mit der Tendenz einer Vorverlagerung der Strafbarkeit durch die Ausgestaltung der Tatbestände sogar als abstrakte Gefährdungsdelikte, die Strafbarkeit des Versuchs, die Normierung von Vorbereitungs- und Teilnahmehandlungen als eigene Tatbestände sowie die Schaffung von Fahrlässigkeitstatbeständen sprechen im Grunde bereits für sich. Sie sprechen für sich in bezug auf das, was auf dem rechtspolitischen Terrain an erkämpften Freiheiten und Grundrechten aufgegeben wird.
Strafprozessual stellt die sogenannte Bekämpfung der Drogenkriminalität das im klassischen Feld der Politik und ({0}) gesamtgesellschaftlich im höchsten Maße legitimierte Einfallstor für Ausnahmeregelungen, Pilotversuche und sogar Einbrüche in herrschende Rechtsdogmen dar. Das gilt für die erleichterte nächtliche Hausdurchsuchung, eine schnellere Anordnung der Untersuchungshaft mit dem möglichen Haftgrund der Wiederholungsgefahr bei Btm-Delikten, den Einsatz von V-Leuten und Vorfeldermittlungen bis hin zu der nach entsprechender Bearbeitung vom Bundeskriminalamt durch das Haus Engelhard regierungsamtlichen Ankündigung des abenteuerlichen, Hilflosigkeit wiederspiegelnden und bereits jetzt als nahezu wirkungslos zu prognostizierenden Versuchs, die Beweislastumkehr einzuführen.
So war bei der Schaffung des Betäubungsmittelgesetzes im Jahre 1971 und beispielsweise der Einführung der sogenannten Kronzeugenregelung in § 31 des Betäubungsmittelgesetzes seit Anfang 1982 eine ähnliche Hilflosigkeit bei der Analyse des kriminalisierten Drogenkonsums in unserer Gesellschaft Ursache für die Einführung solcher Eingriffsermächtigungen. Auch damals gingen die Zahl der Drogentoten und die Zahlen in anderen Feldern explosionsartig hoch. In dieser Hilflosigkeit wurden solche abstrusen Mittel kreiert.
Wurden noch in den 60er Jahren - das ist dann die „Erfolgsbilanz", die Sie in diesem Bereich vorweisen können - durch die Polizei jährlich durchschnittlich unter 1 000 Betäubungsmitteldelikte und Tatverdächtige registriert, so beläuft sich ihre Zahl in den 80er Jahren auf über 50 000.
Was ist dabei herausgekommen? Ich erwähne das Beispiel des Kronzeugen, Herr Engelhard, ein Rechtsinstitut, das jetzt auch noch in andere Rechtsgebiete übernommen werden soll. In § 31 des Betäubungsmittelgesetzes wird das Ziel verfolgt, die Beweissituation und Ermittlungseffizienz gegenüber anderen Tatbeteiligten oder anderen Betäubungsmittelstraftätern zu verbessern. Aus Gründen strafrechtlicher Effizienz bzw. zwecks Erhaltung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege - was beides nicht gewährleistet werden konnte - sind Verfahrensgrundsätze aufgegeben worden, die ja gerade um der Zähmung dieser Effizienz willen erdacht worden sind.
Es ist wirklich abenteuerlich, was ein liberaler Justizminister hier alles mitzutragen gewillt scheint.
Untersuchungen, beispielsweise von M. Jäger ({1}), belegen, daß die Regelung des § 31 BtmG in der Praxis eher selten Anwendung findet und daß dann, wenn dies der Fall ist, im wesentlichen nur von der Strafmilderungsmöglichkeit nach § 49 StGB Gebrauch gemacht wird, er insofern also überflüssig ist. Soweit er im Betäubungsmittelbereich Anwendung findet, betrifft es wirklich Klein- und Kleinstdealer, häufig sogar Konsumenten, die noch ausgequetscht werden sollen. Es wird aber nicht das Klientel getroffen, das erreicht werden sollte, nämlich die großen Händler.
Was geschieht mit den ca. 300 Milliarden US-Dollar-Gewinn pro Jahr, die mit dem Drogengeschäft erwirtschaftet werden? Wodurch werden sie eigentlich ermöglicht?
Ich stelle ein Zitat aus derselben Studie des BKA voran:
Umgekehrt sind beim organisierten Verbrechen verstärkte Tendenzen zu beobachten, die gewaltigen illegalen Profite - zum Beispiel aus dem Drogengeschäft - in den legalen Wirtschaftskreislauf einzuschleusen und so zu waschen.
Meine Damen und Herren, hier steht etwas von Tendenzen. Die Herren vom BKA und diejenigen, die die Studie geschrieben haben, drücken sich vorsichtig aus. Das, was dort als Tendenz beschrieben ist, findet in dieser Gesellschaft statt. Wenn sich hier jemand hingestellt und die Frage gestellt hat, mit wem man sich beim IWF einläßt, dann kann ich nur sagen, daß dieser Staat schon zu erheblichen Teilen von solchen Gruppen getragen wird. Was sich da an Kapital akkumuliert hat, ist gewaltig und hat natürlich einen entsprechenden Einfluß auch auf Ihre Politik hier in Bonn.
Weltweit werden - ich habe es gesagt - ca. 300 Milliarden US-Dollar Gewinne durch das Geschäft im illegalen Drogenbereich gemacht. Ich behaupte: Unsere Gesetze bewirken diesen Gewinn und überhaupt diese Profitmöglichkeit. Wären die illegalen Drogen über Konzessionen oder Rezepte zu verkaufen oder zu erhalten - ich plädiere nicht einmal für einen solchen Gebrauch, wie er bei Alkohol, Nikotin oder anderen legalen Drogen ermöglicht wird - , so wäre diesen Organisationen der Nährboden entzogen - eine für die meisten von Ihnen bedauerlicherweise noch unakzeptable und nahezu mit einem Denkverbot belegte Möglichkeit.
Es geht aber noch weiter. Wenn Sie ständig darüber jammern - das ist wirklich ein hilfloses Jammern -, wie wenig man im Bereich der organisierten Kriminalität zuwege bringt, dann nehmen Sie bitte zur Kenntnis, daß genau diese Organisationen, die sich aus solchen handelnden Personen, die im Drogengeschäft tätig sind, zusammensetzen, mit der gleichen bekannten Skrupellosigkeit im Bereich der organisierten Kriminalität und damit in wesentlichen Wirtschaftsbereichen unserer Gesellschaft bereits längst tätig sind! Dies ist keine Theorie, dieser Mechanismus findet längst statt, und das bereits Geschehene ist auch nicht mehr reversibel. Egal, was Sie machen, ob Beweislastumkehr oder noch weitere Eingriffe in die Freiheitsrechte, Sie werden nicht in der Lage sein, noch an diesen Kapitalfluß heranzukommen. Das gilt für alle Bereiche, ob staatliche Organe oder andere gesellschaftliche Gruppen. Man kommt dort nicht mehr heran. Das einzige, was Sie noch machen können, ist, diese Kanäle von Kapital, Waren und in Personalunion Handelnden ins Hellfeld unserer Gesellschaft zu ziehen, und das geht in der Tat nur über eine Entkriminalisierung und in bestimmten Feldern sogar Legalisierung der bislang illegal konsumierten Drogen.
Gesundheitspolitisch - ich möchte das nur sehr kurz streifen, weil wir uns im Rechts- und Innenbereich aufhalten - ist es doch frappierend, daß inzwischen von allen Gesundheits- und Innenministern in Westeuropa die so stark verteufelte Niederlande als Vorzeigeland im Bereich der Drogenpolitik gehandelt werden, weil nur dort tatsächliche Erfolge zu verzeichnen sind, z. B. das Austrocknen der Jahrgänge bis zu 25 Jahren - die tauchen dort als Drogenabhängige praktisch nicht mehr auf - oder im Bereich einer wirksamen AIDS-Prophylaxe, wo wir gerade im Bereich der Drogenabhängigen wirklich hilflos zu Werke gehen und wo pragmatische Vorschläge gleich verketzert werden.
Glauben Sie bitte auch nicht, daß Sie durch irgendwelche Maßnahmen im Ausland - sei es Substitution oder Rauschgiftverbindungsbeamte, die Sie, Herr Penner, bedauerlicherweise so intensiv eingeklagt haben - irgend etwas großartig bewegen können. Ins Ausland gehören keine Rauschgiftverbindungsbeamte des BKA, dorthin gehören Sozialwissenschaftler, Ethnologen und andere Fachbereiche, die in der Lage wären, diesen Ländern, ihren kulturellen Eigenheiten entsprechend, solche Ratschläge zu geben, die dann tatsächlich einen Effekt bewirken können und nicht unsere abstruse Drogenpolitik über Kapitalabhängigkeit von oben überstülpen.
Wenn Sie glauben, Sie können mit Substitution die Bauern dazu motivieren, im Ausland andere Dinge anzubauen, und damit den Drogenanbau zu bremsen, dann ist das doch genauso lächerlich. Selbst wenn das in Einzelbereichen wie in Thailand erfolgreich möglich gewesen ist, so ist es doch kein Problem, bei den Preisen, die die Drogenorganisation zahlen kann, andere Bauern zu motivieren, wieder die gleichen Produkte anzubauen. Selbst wenn es gelingen sollte, flächendeckend alle Bauern zu erreichen, wird es genauso einfach sein, den Preis für die von diesen Organisationen gewünschten Produkte, also im wesentlichen Opium, so hochzusetzen, daß der Anreiz für diese Bauern immer höher ist als läppische Kaffeebohnen oder einfache Bohnen anzubauen.
Das sind alles Sackgassen, die Sie dort begehen, womit Sie auch der Öffentlichkeit, Herr Zimmermann, Herr Engelhard, vorgaukeln, daß Sie jetzt gerade irgendeinen großen neuen Anlauf in der Bekämpfung der Drogenkriminalität gemacht haben und vielleicht weitergehende Erfolge vorzeigen könnten.
Das einzige, was zur Zeit in der aktuellen Politik ein bißchen Hoffnung gibt, sind die Methadon-Programme. Nur sind da die Schwellen für die Aufnahme in das Programm dermaßen hochgesetzt, daß der
Kreis, der eigentlich erreicht werden müßte, gar nicht in die Methadon-Programme aufgenommen wird. Aber selbst wenn wir ein vollständig funktionierendes Methadon-Programm wie in den Niederlanden hätten - mit Bussen, mit mobilen Angeboten, mit stationären Angeboten - , dann wäre auch das nur eine Nuance in der Bekämpfung der Drogenproblematik. Sie werden nicht umhinkommen, sich intensiver, wie das auch von der SPD zum Ausdruck gebracht worden ist, mit der Möglichkeit der Legalisierung, der Entkriminalisierung zu beschäftigen.
Ich behaupte so absolut, wie sich das erstmal ein wenig vermessen anhören mag: Nur über diese Gedankenfolge - die Argumentationslinie ist doch weiß Gott schlüssig - wird es möglich sein, echte Erfolge im Bereich der Drogenpolitik vorzuweisen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Innenpolitik stehen nach meiner festen Überzeugung drei große Herausforderungen vor uns, die hier zum Teil angesprochen worden sind, zum Teil noch durchleuchtet werden müssen: Erstens die Aufnahme und Integration deutscher Aussiedler aus Südost- und Osteuropa, zweitens die Neuregelung unseres Ausländerrechts hin zu einer Ausgewogenheit sehr unterschiedlicher Interessen und drittens die Bewahrung des inneren Friedens als notwendige Voraussetzung für Freiheit und Entfaltung der Bürger. Lassen Sie mich zu diesen drei Punkten -Herr Kollege Penner, Bedeutung läßt sich nicht durch langes Reden und nicht durch ein Sammelsurium, einen Bauchladen, belegen, sondern durch das Setzen von Prioritäten; das haben Sie nicht getan - in aller Kürze wenige Gedanken sagen:
Erstens. Man muß hier, weil in der Bevölkerung offenbar Mißverständnisse aufgetreten sind, feststellen: Die CDU/CSU, diese Bundesregierung, wirbt keine deutschen Aussiedler an und keine ab. Wer aber als Deutscher in unserem Land in Freiheit leben will, wird selbstverständlich nicht abgewiesen. Wer, oft nach jahrzehntelangen Bemühungen, als deutscher Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa endlich zu uns kommen kann, hat dann auch Anspruch auf eine anständige Aufnahme und auf eine Startchance, welche ihm den Aufbau einer neuen Existenz ermöglicht.
({0})
Wenn diese volle Einigkeit, um diesem Zwischenruf der SPD zu begegnen, wirklich besteht, dann, finde ich, können Zustände, wie sie in der „Bonner Rundschau" vom 6. September 1988 über das Aufnahmelager in Unna-Massen beschrieben sind und wie es auch eine Dame, die vor 13 Jahren aus Oberschlesien zu uns kam, in einem sehr langen Brief beschreibt, nicht so weitergehen, übrigens Zustände, die ausschließlich in der Verantwortung des Landes Nordrhein-Westfalen liegen. Ich zitiere aus diesem Brief:
Warum aber muß man sich neben notwendigen bürokratischen Prozeduren auch noch die Unverschämtheiten, Dummheit und Arroganz der Lagerleitung gefallen lassen und auch noch miterleben, unter welchen menschenunwürdigen Bedingungen unsere Mitbürger dort nicht untergebracht, sondern hingehalten werden? Wer wie wir an einem Wochenende in Unna-Massen auftaucht, entdeckt vielleicht einen Beamten, der dort versteckt die Stellung hält und allenfalls aus dem Fenster heraus einige wohlmeinende Ratschläge von sich gibt, man möge sich doch bitte an den Bundeskanzler wenden und die Aussiedler dort abladen, ansonsten gebe es für die Ankömmlinge ja weit hinten im Lager zwei Zelte. In der Tat, dort standen zwei Überreste von Zelten, offensichtlich aus dem Jahre 1957, Stempelaufdruck, ohne Boden, ohne Sitze, ohne Betten. Das Übernachten in diesen Zelten ist äußerst angenehm, besonders bei Regen. Dafür hat man wenigstens das ganze Wochenende Ruhe vor den Behörden und den Betreuern, denn es kommen keine.
Meine Damen, meine Herren, derartige Zustände müssen abgestellt werden.
Herr Penner, Sie sollten sich an Ihren Parteifreund Rau wenden, ihn daran erinnern, daß es nicht bei Bibelsprüchen bleibt, sondern daß auch Politiker daran gemessen werden, ob sie diese Sprüche befolgen und sich human verhalten.
({1})
Wir brauchen, meine Damen, meine Herren, hier mehr Großmut und Optimismus, auch in weiten Teilen der Bevölkerung. Wir brauchen eine zügige Durchsetzung des Programms des Bundes, und wir werden auch als Bund dieses Programm fortschreiben müssen, wobei ich nach wie vor der Meinung bin, Herr Minister, daß wir unverzüglich eine weitere, vierte zentrale Aufnahmestelle brauchen.
Zweites Thema, meine Damen, meine Herren: Ausländer. Es ist kein Geheimnis, und wir vergeben uns auch nichts, wenn wir zugeben, daß wir uns in der Koalition schwertun, hier ein ausgewogenes Gesetz hinzubekommen. Dies ist aber auch nicht verwunderlich, weil es natürlich einerseits um menschliche Einzelschicksale geht, andererseits gibt es erhebliche Schwierigkeiten angesichts des Mißbrauchs und des weiterhin vielfachen Mißbrauchs unseres sehr großzügigen Grundrechts auf politisches Asyl. Sie können sich darauf verlassen, daß sich diese Koalition verständigen wird und daß wir mehr leisten werden als Sie in 13 Jahren Regierungszeit - auch damals war bereits eine Novellierung des Ausländerrechts geboten - und daß wir mehr leisten werden als Sie mit sehr partiellen Vorschlägen wie auf der einen Seite etwa der Rückkehroption für Jugendliche - nicht falsch, aber eben nur partiell - und auf der anderen Seite mit einem Wahlrecht für Ausländer, das die Integration bekanntermaßen eher erschwert, als daß es den Ausländern nutzt, und das hier staatsbürgerliche Rechte in einem Maße auftrennt, was letzten Endes weder den Ausländern noch den Deutschen zugute kommt.
({2})
Gerster ({3})
Dritter Bereich - meine Damen, meine Herren, hier möchte ich etwas umfangreichere Ausführungen machen - : Bewahrung der inneren Sicherheit. Der Kollege Penner hat hier wortgewaltig festgestellt, die Bilanz der Politik der inneren Sicherheit des Herrn Zimmermann sei vernichtend. Herr Penner, ich muß Ihnen sagen: Es gehört nach den Fehlplanungen, den Fehlentscheidungen, den erheblichen Mängeln, die zwei sozialdemokratische Innenminister respektive -senatoren bei dem Geiseldrama von Gladbeck zu verantworten haben, schon viel dazu, sich hier hinzustellen und diesem Innenminister Vorhaltungen machen zu wollen. Kehren Sie vor der eigenen Tür. Ihre Partei sitzt im Glashaus.
({4})
Lassen Sie mich doch einige Bemerkungen zu diesem Fall anschließen, wobei klar ist: Was die Polizei dort im einzelnen getan oder unterlassen hat, ist Untersuchungsgegenstand der Landesparlamente. Aber es scheint mir dennoch notwendig zu sein, auf den politischen Hintergrund hinzuweisen, der deutlich macht, daß das Ergebnis dieses Geiseldramas natürlich viel mit der heutigen Einstellung der Sozialdemokraten zu Fragen der inneren Sicherheit zu tun hat.
Ich will nur eine Frage stellen, die bisher nicht beantwortet wurde. Ich frage: Wenn es wirklich richtig war, die Geiselgangster in Gladbeck entgegen den Polizeivorschriften ziehen zu lassen, wieso kann dann eigentlich der Zugriff auf der Autobahn zwischen Köln und Frankfurt richtig sein - unter bedeutend schlechteren Bedingungen, unter bedeutend größeren Gefahren für die Geiseln, unter bedeutend schlechteren objektiveren Bedingungen, als dies am Tatort möglich gewesen wäre? Entweder war das Ziehenlassen in Gladbeck richtig - dann war der übereilte Zugriff auf der Autobahn in jedem Fall falsch -oder umgekehrt. Tatsache ist doch, daß die politische Führung Nordrhein-Westfalens es hier ganz offensichtlich an der Rückendeckung für die Polizisten in Gladbeck hat fehlen lassen und plötzlich vor dem Hintergrund, daß die GSG 9 auf rheinland-pfälzischem Boden stand und dieses Problem gelöst hätte, in einer Panikreaktion nachholen wollte, was tagelang vorher versäumt worden ist.
({5})
Daß dies kein Zufall ist, beweist ja die Konzeption der nordrhein-westfälischen Landesregierung zur Gewährleistung der inneren Sicherheit, die in sechs Grundsätzen festgehalten ist. Ich lese sie vor: 1. Humanität; 2. Liberalität; 3. Rechtsstaatlichkeit; 4. Verhältnismäßigkeit; 5. Bürgernähe. - 6. heißt es dann lapidar: Wenn diese Grundsätze eingehalten werden, verspricht das Wirksamkeit der Maßnahmen.
Damit kein Zweifel besteht: Diese Grundsätze sind wunderbar; sie sind gut. Ich kann sie alle nachdrücklich unterschreiben. Nur, meine Damen, meine Herren, diese Grundsätze kann man als Handlungsmaxime für jedes Krankenhaus, für jedes Altersheim, ja, für das Müttergenesungswerk aufstellen. Natürlich sind wir für Humanität, für Menschlichkeit, für Rechtsstaatlichkeit, aber hier bei diesem Konzept wird ein entscheidender Faktor übersehen, nämlich daß polizeilicher Einsatz etwas mit Rechtsbrechern, mit Gewaltkriminellen, ja, auch mit skrupellosen Mördern zu tun hat und daß Polizei und Gerichte den Verfassungsauftrag aus Art. 20 des Grundgesetzes nur erfüllen können, wenn sie Unrecht nicht dulden und Strafsachen wirksam und konsequent bekämpfen. Von dieser Aufgabe ist im polizeilichen Sicherheitskonzept Nordrhein-Westfalens nichts zu lesen, es wird lediglich auf die anderen Gesichtspunkte hingewiesen, die ich hier vorgetragen habe.
Wer, wie in diesen Grundsätzen geschehen, der Polizei einseitig nur Grenzen ihres Einsatzes vorschreibt, so als könne man Gewalttätern mit sozialtherapeutischen Maßnahmen begegnen, darf sich nicht wundern, wenn die örtliche Polizei Geiselgangster mit ihren Geiseln laufen läßt.
({6})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn es auf die Redezeit nicht angerechnet wird, Herr Präsident, gern.
Das geht auf die Gesamtzeit.
Wird es angerechnet?
Nein.
Nein, es wird nicht angerechnet.
Herr Kollege Gerster, darf ich Sie fragen, welche Vorschrift Sie gerne gehabt hätten, um die von Ihnen gewünschte schnellere Schußfähigkeit der Polizei zu gewährleisten? Sie haben ja die sechs Punkte akzeptiert. Was hätte Ihrer Meinung nach denn gefehlt, damit die Polizei schneller schießt, was Sie ja unbedingt wollen?
({0})
Wenn man der Polizei ausschließlich vorschreibt, diese Humanitätsgebote zu beachten, und ihr die Notwendigkeit vorenthält, in der konkreten Situation zu entscheiden, notfalls auch gewaltsam vorzugehen - ich werde zu diesem Thema noch kommen - , dann unterläßt man es, eine ausgewogene Entscheidung bei der Polizei sicherzustellen.
({0})
Ich möchte das jetzt an einem Beispiel deutlich machen. Innenminister Schnoor hat nach dem blutigen Ende des Geiseldramas großzügig die politische Verantwortung übernommen. Sehr schön von ihm, aber das ist völlig nichtssagend, denn wer sollte sonst politisch verantwortlich sein, wenn nicht der Minister? Die Frage, ob er politisch verantwortlich war, stellt sich überhaupt nicht, er war es. Die Frage war und ist doch ausschließlich, ob er seiner politischen VerantworGerster ({1})
tung gerecht geworden ist. Sehen Sie, meine Damen, meine Herren, hier gibt es eine Reihe von Fragen, die gestellt werden müssen,
({2})
und zwar nicht nur landespolitisch in den Parlamenten, wie Sie gleich sehen werden. Innenminister Schnoor ließ nach dem Tod von drei unschuldigen Menschen verlauten, er habe den gezielten Rettungsschuß zur Rettung der Geiseln für verantwortbar gehalten. Er, der eine gesetzliche Regelung des finalen Rettungsschusses ablehnt, Polizeibeamten also eine gesetzliche Grundlage in dieser schwierigen Frage vorenthält, bekennt sich nach dem blutigen Ende des Dramas plötzlich und öffentlich zu dem, wozu er in der akuten Notlage nicht bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Er hat den Polizeibeamten in schwerwiegenden Entscheidungsfragen und -lagen die politische Rückendeckung verweigert.
Ich möchte sein Versagen an einem Beispiel aus der jüngeren Geschichte deutlich machen, daß das vielleicht auch für Sie erklärbar macht.
({3})
Herr Schnoor kann vom früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt und den damaligen Oppositionsführern Helmut Kohl und Friedrich Zimmermann sehr viel lernen. Vor der Befreiung der Lufthansa-Maschine in Mogadischu haben damals Bundesregierung und sogar die Opposition, die dazu keinerlei verfassungsrechtliche Verpflichtung hatte, gemeinsam die Verantwortung für die gewaltsame Befreiungsaktion übernommen. Sogar der Auftrag zur Geiselbefreiung kam von den politisch Verantwortlichen, die signalisiert haben, daß sie hinter der GSG 9 auch dann stehen werden, wenn diese Aktion scheitern würde und zum Tod unschuldiger Menschen führen würde. Ich frage mich: Wird Ihnen, meine Damen, meine Herren von den Sozialdemokraten, nicht deutlich, wie jämmerlich dagegen die Rolle ist, die Herr Schnoor letzthin in diesem Drama gespielt hat?
({4})
Er hat ganz offenkundig die konkrete Verantwortung für eine notfalls gewaltsame Geiselbefreiung nicht übernehmen wollen. Statt dessen flog er bei noch akuter Lebensgefahr für Geiseln nach Holland, um den zuvor bereits befreiten Geiseln aus dem Bus sehr showbewußt die Hände schütteln zu können.
„Erstens Geiseln befreien, zweitens die Täter ergreifen und vor Gericht stellen, drittens die Fähigkeit des Staates sichern, seine Bürger gegen Gefahren zu schützen, das Vertrauen der Bürger ... in diese Schutzfunktion unseres Staates zu wahren. "
Nach dem Geiseldrama von Gladbeck sind drei Unschuldige tot. Der Staat ist seiner Schutzfunktion nicht gerecht geworden. Das Vertrauen der Bürger, daß der Staat ihr Leben und ihre Rechtsgüter schützt, hat erheblichen Schaden genommen. Der Rechtsstaat hat Vertrauen eingebüßt, und dies bleibt mit den Namen unfähiger Innenminister, der Herren Schnoor und im übrigen auch Meyer aus Bremen, verbunden.
({0})
Lassen Sie mich hier noch zwei Zitate anführen, die für Ihre Überlegungen vielleicht ganz hilfreich sind. Der Innenminister Schnoor hat am 5. November 1987 im Deutschen Bundestag, als es um die Frage des Vermummungsverbots ging, gesagt:
Schieben Sie nicht dem örtlichen Einsatzleiter die Verantwortung zu!
Genau dies versuchte er beim Geiseldrama von Gladbeck.
Ein zweites Zitat stammt vom damaligen und heutigen Fraktionsvorsitzenden Vogel. Er sagte in der Debatte vom 3. September 1985 hier im Bundestag, und zwar nachdem damals Herr Tiedge in die DDR verschwunden war, in Richtung Bundesinnenminister:
Herr Zimmermann trägt als zuständiger Ressortminister für den Vorgang und seine Folgen die politische Verantwortung. Diese Verantwortung ist nach gefestigter parlamentarischer Übung unabhängig von der Frage des persönlichen Fehlverhaltens. Die politische Verantwortung ist ein Grundelement des demokratischen Parlamentarismus und der politischen Hygiene. Die politische Verantwortung erfordert den Rücktritt, wenn ein schwerwiegendes Ereignis im Zuständigkeitsbereich eines Ministers das Vertrauen in die Amtsführung seines Ressorts erschüttert hat.
({1})
Ich halte diese Auffassung nicht für richtig. Ich halte sie nicht für richtig, weil danach ein Minister für ein Verhalten, von dem er unmittelbar nichts wissen kann, einstehen soll.
({2})
Im Falle des Geiseldramas von Gladbeck war eine ganz andere Situation gegeben. Der Herr Schnoor hat sich seiner Verantwortung entzogen, einer Verantwortung, die in den 70er Jahren die damalige Bundesregierung und die damalige Opposition gemeinsam übernommen haben.
({3})
Ich empfehle Ihrem Fraktionsvorsitzenden,
({4})
entweder dieses Zitat von damals als falsch zurückzunehmen oder aus diesem viel weiterreichenden Zitat jetzt in einem Fall die Konsequenzen zu ziehen, in dem Herr Schnoor viel mehr unmittelbare Verantwortung trug, als dieser Minister sie damals hatte.
({5})
Herr Abgeordneter Gerster, Ihre Redezeit ist weit überschritten!
Die Zeit ist zu Ende. Ich bedanke mich, Herr Präsident, für Ihre Großmut, die es erlaubt hat, daß ich kurz überziehen durfte, und bedanke mich bei Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Herr Abgeordneter Häfner, weil die Redezeit abgelaufen war, konnte ich Ihnen nicht mehr zu einer Zwischenfrage das Wort erteilen.
Jetzt erteile ich dem Herrn Bundesminister der Justiz das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Warum stehe ich hier? Nicht nur deshalb, weil mir der Herr Präsident das Wort erteilt hat, sondern auch deswegen, weil ich Wert darauf lege, daß in dieser verbundenen Debatte zum Etat des Bundesinnenministers und zum Etat des Bundesjustizministers zumindest ein Politiker aus dem Rechtsbereich hier ans Pult tritt.
Ich bedaure, daß die Entwicklung einer etwas unaufmerksamen Organisation es so weit gebracht hat, daß die vorgesehenen zwei Stunden voll von den Innenpolitikern in Anspruch genommen wurden. Warum? Ich bedaure das nicht aus Eifersucht, sondern deshalb, weil ich, aber auch andere meiner Kollegen zur Rechtspolitik einiges durchaus Wichtige und Bedeutsame mitzuteilen gehabt hätten. Denken wir etwa an den vor wenigen Tagen von mir vorgestellten Diskussionsentwurf zum neuen Insolvenzrecht, der durchgängig und quer durchs Land mit großem Beifall bedacht wurde.
({0})
Denken wir an die Neuregelung des Entmündigungs-, des Vormundschaftschafts- und des Pflegeschaftsrechts, zu der vor wenigen Tagen bereits 50 Verbände angehört wurden und durch die Bank nur Beifall und Zustimmung kamen. Denken wir etwa an einen Gedanken von mir, den ich hier einführen wollte, daß es auch im bürgerlichen Recht hoch an der Zeit ist, klarzumachen, daß das Tier ein Mitgeschöpf des Menschen,
({1})
ein Begleiter auf seinen Wegen ist und daß hier mit wenigen Strichen, ohne das Bürgerliche Gesetzbuch auszuhebeln, viel Gutes und Richtiges getan werden kann.
Dies alles hier zu sagen geht nicht. Ich bedauere dies besonders deshalb, weil das, was in der vorausgehenden Zeit gegen die Bundesregierung an Attakken geritten wurde, teilweise etwas schwächlich und kränklich war. Als ich Herrn Kollegen Dr. Penner zuhörte, dachte ich mir: Da fällt jedem im Grunde etwas Besseres ein, was man sagen könnte. Man möchte sich fast unentgeltlich als Oppositionsberater zur Verfügung stellen.
({2})
Meine Damen und Herren, der Respekt vor den rechtspolitischen parlamentarischen Kollegen verbietet es mir, als Erst- und als Letztredner die mir zur Verfügung stehende Zeit in Anspruch zu nehmen. Wir wollen deswegen auf eine Gelegenheit warten, bei der man auch Antworten und Widerspruch bekommt, um bei einer der nächsten Debatten auch der Rechtspolitik wieder den ihr gemäßen Platz hier im Hause einzuräumen.
Herzlichen Dank.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren!
Es ist aus zwei Gründen wichtig, daß wir Bilanz ziehen, einmal um Anspruch und Wirklichkeit miteinander zu vergleichen, also Reklame und Ware, und zweitens auch um aus Erfahrung klüger zu werden, um einer neuen Politik eine Chance zu geben.
Dieser Satz wurde am 11. Dezember 1979 im Deutschen Bundestag gesprochen. Der Abgeordnete Blüm war der Redner.
Es war von „Anspruch und Wirklichkeit", „Reklame und Ware" und „einer neuen Politik eine Chance . . . geben" die Rede. Die Debatte um den Bundeshaushalt bietet Gelegenheit für eine Bestandsaufnahme. Wird der Bundeshaushaltsentwurf den Anforderungen gerecht? Finden wir Ansätze, um einer neuen Politik eine Chance zu geben?
Trotz gegenwärtig vergleichsweise guter gesamtwirtschaftlicher Entwicklung steigt die Massenarbeitslosigkeit weiter. Wie lange der frühzeitige, möglicherweise vorgezogene Herbstaufschwung trägt, das ist die Frage. Schon jetzt aber ist erkennbar: Er geht, wie die saisonale Belebung am Anfang des Jahres, am Arbeitsmarkt vorbei.
Die Politik der Bundesregierung hat die Probleme nicht gelöst, sondern im Gegenteil verschärft. Durch die Achte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes wurde der Bundesanstalt für Arbeit 1 Milliarde DM an Mitteln entzogen. Völlig systemfremd sind seitdem die Beitragszahler zur Förderung benachteiligter Jugendlicher, für die Berufsausbildungsbeihilfen und für die Sprachförderung von Aussiedlern zuständig. Gerade dadurch, d. h. durch den Mittelentzug, ist die Qualifizierungsoffensive in die Defensive geraten.
Die Bundesregierung schiebt die Probleme vor sich her. Die finanzielle Schieflage der Bundesanstalt für Arbeit wurde auch dann noch geleugnet, als sie schon mit den Händen greifbar war. Der Bundesarbeitsminister hat noch am 21. April dieses Jahres in der von uns beantragten Aktuellen Stunde folgendes erklärt:
Wir diskutieren heute über ein mögliches Defizit der Bundesanstalt, von dem niemand weiß, ob es eintritt und wie hoch es eintritt.
({0})
Schon wenige Wochen später mußte der Bundesfinanzminister einen Zuschuß von rund 1 Milliarde DM
zugestehen. Natürlich reicht das nicht. Im nächsten Jahr steigt die Finanzlücke der Bundesanstalt bis auf 6 Milliarden DM, vorsichtig gerechnet unter Einschluß der Aussiedlerzahlen. Die Bundesregierung bleibt mir ihrer Kalkulation wirklichkeitsfremd mit einer Milliarde DM darunter. Ich sage Ihnen: Diese Position werden Sie nicht einmal bis zur Verabschiedung des Haushaltsgesetzes durchhalten. Warum also jetzt wieder falsche Zahlen? Nur Lust an der Methode des Tarnens und Täuschens kann Sie dazu verleiten.
Mit der 9. Novelle zum AFG kassieren Sie erneut ab, z. B. bei den jugendlichen Arbeitslosen, denen das Arbeitslosengeld gekürzt wird, aber auch bei den Ländern. Die Kürzung des ABM-Zuschusses hat verheerende Folgen, z. B. in Nordrhein-Westfalen. Herr Blüm, Sie haben ein merkwürdiges Verständnis von Ihrer Aufgabe als Landesvorsitzender der CDU in diesem Bundesland. Sie machen Politik gegen Nordrhein-Westfalen,
({1})
Sie entlasten sich, den Bund, und belasten die Länder, allein das Land Nordrhein-Westfalen mit schätzungsweise 80 Millionen DM. Ihnen sind die Folgen offensichtlich völlig egal.
Der gesamte bundesrepublikanische Sachverstand - natürlich ausgenommen die Mitglieder der Bundesregierung - ist sich einig: Fortbildung und Umschulung müssen großgeschrieben werden, gerade in Zeiten steigender Massenarbeitslosigkeit.
({2})
Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie haben es zugelassen, daß die Auftragsmaßnahmen der Arbeitsämter im Bereich Fortbildung und Umschulung massiv zurückgegangen sind und daß qualitativ schlechte Einzelmaßnahmen zum Teil an deren Stelle getreten sind. Nachdem alles aus dem Ruder gelaufen ist, fällt Ihnen nur noch ein, den Rechtsanspruch auf Sachkostenerstattung abzuschaffen und statt dessen eine Förderung nach - immer enger werdender - Kassenlage vorzunehmen. Mit sinnvoller Arbeitsförderung, Herr Blüm, hat das immer weniger zu tun.
Mit Ihren Abkassierungsgeschäften treffen Sie auf unseren knallharten Widerstand. Wenn Sie allerdings endlich auf die Vorschläge der Evangelischen Kirche Deutschlands zur Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose eingehen würden, hätten Sie garantiert die Unterstützung der SPD-Bundestagsfraktion. Wenn es nämlich darum geht, den Menschen zu helfen, sind wir stets zur Zusammenarbeit bereit. Uns geht es nicht um Opposition als Selbstzweck. Wir unterstreichen, daß zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit eine breite gesellschaftliche Initiative notwendig ist.
({3})
Eine gemeinsame Initiative dieses Parlaments zur Erarbeitung einer Strukturreform im Gesundheitswesen hatte die SPD-Fraktion ebenfalls frühzeitig vorgeschlagen. Wir erleben hingegen, daß ein besonders eindrucksvolles Beispiel von Etikettenschwindel im Verantwortungsbereich des Arbeitsministers mit der
Vorlage eines sogenannten Gesundheitsreform-Gesetzes geliefert wurde. Wer in diesem Hause wüßte nicht, meine Damen und Herren, daß unser Gesundheitswesen dringend der Reform bedarf. Wir alle stehen hier in der Pflicht. Ich bedaure, daß Herr Bundesminister Blüm unser Angebot, gemeinsam eine Lösung für eine wirkliche Strukturreform des Gesundheitswesens zu suchen, brüsk zurückgewiesen hat.
Wenn die Alternative wirklich „Reform oder Ruin" heißen würde, wie Herr Blüm behauptet, wenn es wirklich, wie er gesagt hat, darum geht, daß sich dieses Parlament gegen ein Tanzfest des Lobbyismus behauptet, warum haben Sie dann unser Gemeinsamkeitsangebot zurückgewiesen? Ich will es Ihnen sagen: Weil Sie wußten, daß die Zustimmung der Sozialdemokraten zu einem Projekt, das einseitig die Versicherten belastet und die Anbieter schont, nie und nimmer zu erhalten war.
({4})
Weil Sie wußten, Herr Blüm, daß wir nicht Kostenumverteilung, sondern eine wirkliche Reform wollen, die die strukturellen Mängel wirklich beseitigt.
Das Tanzfest des Lobbyismus gibt es wirklich. Der Auftaktwalzer dazu wurde allerdings in der Koalition gespielt. Sie haben doch die Lobbyisten in den eigenen Reihen, ja am Kabinettstisch sitzen sie.
Meine Damen und Herren, nachdem bekanntgeworden ist, daß 68 % der Bundesbürger die Arbeit der Bundesregierung negativ bewerten, nachdem klar ist, daß noch nie eine Bundesregierung von Wählerinnen und Wählern derart schlecht eingeschätzt wurde, suchten und fanden CDU/CSU und FDP endlich Außerungen von SPD-Mitgliedern, mit denen Sie - es sei Ihnen vergönnt - von Ihrem desolaten Zustand ablenken können. Daß ich auch zu den Auserwählten der Union und der FDP gehöre, freut mich.
({5})
- Damit kein Mißverständnis entsteht: Wenn diese Regierung, Herr Kollege Scharrenbroich, bis zu den Ohren im Schlamm steht und wenn die Beschimpfungen zwischen CDU/CSU und FDP justitiablen Charakter angenommen haben, hat eine innerparteiliche Diskussion in der SPD über eine Vervollkommnung unseres politischen Programms eine andere Qualität.
({6})
Dann mache ich mir Sorgen, weil ich nicht will, daß der Eindruck entsteht, die Sozialdemokratie könne während dieser Diskussion die zurückgewonnene Kompetenz für unsere Gesellschaft zum Teil einbüßen. Dann mache ich mir Sorgen, weil ich nicht will, daß auch von der SPD der Eindruck ausgehen könnte, daß ein Hobbyverhältnis wie in der CDU/CSU zu den Problemen der Arbeitnehmer in meiner Partei Platz hätte.
Routinemäßig haben uns Bundeskanzler Kohl und Herr Kollege Dregger in diesen Tagen vorgeworfen, wir hätten kein Konzept zur Gesundheitsreform. Aber gleichzeitig diffamieren die Herren Blüm und Geißler unser Konzept, das wir angeblich gar nicht haben, als Gesundheitssowjet. Ich nenne das christde6278
mokratische Arbeitsteilung, die wir lange kennen. Sie wissen natürlich, daß wir ein Konzept haben. Sie mögen es nur nicht, weil es Sie mit einigen unangenehmen Wahrheiten konfrontiert.
Zu all den wirklichen Strukturfragen des Gesundheitswesens, um deren Beantwortung Sie sich herumdrücken, präsentieren wir Antwortvorschläge. Ist Ihnen eigentlich bewußt, was Ihre Drückebergerei konkret bedeutet?
({7})
Herr Blüm kennt doch die Alarmrufe vieler Krankenkassen. Diese schreiben doch ihre Briefe nicht nur an mich, sondern auch an ihn Er hat doch auch ein Schreiben der AOK Hamburg erhalten, in dem Beitragssätze von 16,5 % oder 17 % für das kommende Jahr angekündigt werden, wenn die strukturellen Verwerfungen, etwa die Nord-Süd-Problematik, nicht gelöst werden. Wo sind dazu die Lösungsvorschläge der Regierung, Herr Blüm?
({8})
Richten Sie sich darauf ein: Sie werden Gelegenheiten bekommen, zu allen Fragen Stellung zu nehmen. Wir werden Ihnen Gelegenheit geben, sich zu entscheiden, zwischen Ihrem Abkassierungsmodell und einem wirklichen Reformkonzept, das die Strukturprobleme lösen kann.
Ein weiteres grundlegendes Minuspaket dieser Koalition ist der Generalangriff auf die jahrelang bewährte Betriebsverfassung.
({9})
Ein Kriterium für die Leistungskraft unserer Wirtschaft war bisher immer ein konsensfähiges Fundament: Produktivität, Innovationskraft, qualifizierte Arbeitskräfte, ein leistungsfähiger Sozialstaat und eine kooperative Konfliktbewältigung. Dieses soziale Fundament war Teil unseres Erfolges.
Das Betriebsverfassungsgesetz von 1972 und die Montan-Mitbestimmung haben das erst ermöglicht. Mit der Montan-Mitbestimmung ist der Strukturwandel in wirtschaftlich schwierigen Zeiten gestaltet worden. Weil Minister Blüm nicht fähig war, in der letzten Legislaturperiode die Montan-Mitbestimmung zu sichern, hat er der FDP die Möglichkeit gegeben, den Preis hochzutreiben.
({10})
In dem jetzt vorgelegten Artikelgesetz zur Betriebsverfassung und zur Montan-Mitbestimmung hat Herr Blüm und haben die Sozialausschüsse die MontanMitbestimmung mit einer Demontage des Betriebsverfassungsgesetzes bezahlt.
({11})
Die gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen für leitende Angestellte und die Zerschlagung der betrieblichen Interessenvertretung sind der Preis, den die FDP verlangt hat und den die CDU/CSU bezahlen will. Wir wissen uns mit den Gewerkschaften und den Unternehmern einig: Die Zerschlagung der einheitlichen betrieblichen Interessenvertretung hilft nicht den Arbeitgebern und schon gar nicht den Arbeitnehmern. Sie dient lediglich einer kleinen Gruppe Privilegierter und gewerkschaftlich unbedeutenden Splittergruppen. Sie, Herr Blüm, tragen die Verantwortung für dieses unselige Junktim.
({12})
Wie wollen Sie eigentlich an Rhein und Ruhr erklären, welcher Zusammenhang zwischen der Sicherung der Montan-Mitbestimmung und dieser Demontage des Betriebsverfassungsgesetzes besteht? Es ist wie immer: Statt die wirtschaftlichen Partner an einen Tisch zu bringen, um mit ihnen gemeinsam nach Wegen aus der Beschäftigungskrise zu suchen, haben Sie eine arbeitnehmerfeindliche Politik weiterentwikkelt. Sie haben den Jugendarbeitsschutz abgebaut. Sie haben das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz mit seinen schlimmen sozialen Folgen eingeführt. Sie haben im Schwerbehindertengesetz den besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte abgebaut und den Zusatzurlaub gekürzt. Sie haben ohne Not mit der Änderung des § 116 den schwersten Sozialkonflikt der letzten Jahre vom Zaun gebrochen. Sie müssen darüber hinaus das Arbeitsförderungsgesetz in einer Geschwindigkeit novellieren, die nichts als Unsicherheit bringt, weil Sie mit der heißen Nadel Gesetzentwürfe nähen, Löcher stopfen und gleichzeitig andere aufreißen und in der Konsequenz zu schwach sind, um Herrn Stoltenbergs Abkassierungsgebaren Einhalt zu gebieten.
({13})
Das nächste ungelöste Kapitel heißt: illegale Beschäftigung, Sozialversicherungsausweis. Die illegale Beschäftigung, der Mißbrauch der Leiharbeit und die Schwarzarbeit haben kriminelle Ausmaße angenommen. Über den Umfang gibt es unterschiedliche Zahlen. Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit sprach von mindestens 100 000 Arbeitsplätzen.
Verschärft hat sich die Situation allerdings, weil sich der Arbeitsmarkt geändert hat. Unternehmer schmelzen ihre Stammbelegschaften ab. Nur für den Kernbereich ihrer Produktion behalten sie in der Regel fest angestellte Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Andere anfallende Arbeiten werden an Fremdfirmen vergeben. Das bedeutet, die Arbeiten werden immer noch auf dem Gelände der Firma ausgeführt, aber die dort Beschäftigten arbeiten zu höchst unterschiedlichen Bedingungen, viele von ihnen im Rahmen von Werkverträgen oder legaler Arbeitnehmerüberlassung, einige sind in die Scheinselbständigkeit getrieben worden, und andere sind illegal beschäftigt.
Die unter sozialliberaler Regierung verabschiedeten Gesetze, das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz vom August 1972 und das Gesetz zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung vom Dezember 1981, waren Schritte in die richtige Richtung.
Die SPD hat auch in der Vergangenheit immer wieder auf diese Problematik aufmerksam gemacht, so durch die Große Anfrage zur Bekämpfung der illegalen Beschäftigung und des Mißbrauchs der Arbeitnehmerüberlassung in der letzten Legislaturperiode und durch einen Antrag zum gleichen Thema in der vorletzten Legislaturperiode. Die Regierung hat allerDreßler
dings außer schönen Sprüchen nichts zu bieten. Unsere Vorschläge wurden immer wieder abgeblockt.
In dieser Legislaturperiode liegt uns nun ein Entwurf zur Einführung eines Sozialversicherungsausweises vor. Aber wieder einmal zeigt sich: Aus dem Verantwortungsbereich des Arbeitsministers kommt nichts, was die Probleme wirklich löst und das Übel an der Wurzel packt. Hauptzielgruppen dieses Gesetzes sind nämlich Arbeitnehmer, die illegal beschäftigt werden und damit sogenannten Leistungsmißbrauch betreiben. Verfolgt werden also diejenigen, deren Not schamlos ausgenutzt wird.
Maßnahmen, die mit gleicher Härte gegenüber Auftraggebern und Arbeitgebern vorgehen, wird man in diesem Gesetzentwurf nicht finden.
Die Bundesregierung glaubt, die illegale Beschäftigung bekämpfen zu können, wenn sie Arbeitnehmer diszipliniert. Außer acht läßt sie aber, daß Auftraggeber und Arbeitgeber an der Beschäftigung billigster Arbeitskräfte ein großes Interesse haben. Hier muß man ansetzen, meine Damen und Herren.
Illegale Beschäftigung darf sich wirtschaftlich nicht mehr lohnen. Die kriminellen Machenschaften skrupelloser Menschenhändler fordern durchgreifende gesetzliche Maßnahmen. Arbeitnehmer müssen vor Ausbeutung geschützt werden, und es muß sichergestellt werden, daß ihre Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abgeführt werden.
Diese Ziele sind mit dem von Herrn Blüm vorgelegten Gesetzentwurf nicht zu erreichen. Der Sozialversicherungsausweis ist für diese Ziele kein geeignetes Mittel. Seine Fälschungssicherheit ist nicht vorgeschrieben. Der Verwaltungskostenaufwand wird enorm sein. Fachleute sprechen von 230 Millionen DM. - Die Summe ist so unglaublich, daß Herr Kolb nur noch lachen kann, aber er lacht ja bei jeder Art von Mark-Beträgen. - Die Bundesanstalt für Arbeit, die in erster Linie die Überwachungsbehörde sein wird, ist angesichts ihrer von der Bundesregierung verursachten katastrophalen Finanzlage nicht fähig, ihren Aufgaben nachzukommen. Ich muß mit Bedauern feststellen: Wieder einmal hat Minister Blüm eine Chance vertan. Wenn er wirklich den Willen und wirklich den Mut hätte, erfolgreiche Bekämpfung der illegalen Beschäftigung zu praktizieren, hätte er unsere lange vorliegenden Vorschläge aufnehmen und hier im Parlament gemeinsam beraten und zur Abstimmung stellen müssen.
({14})
Einer der größten Flops des Arbeitsministers ist der Vorruhestand.
({15})
Das ohnehin bescheidene Vorruhestandsgeldgesetz von 1984 soll abgeschafft werden. Unter dem Druck der öffentlichen Meinung hat Herr Blüm dann versprochen, Ersatz zu schaffen.
In den letzten Wochen sind die Umrisse des neuen Modells sichtbar geworden. Wir alle wissen es jetzt: Die neue „Alters-Teilzeit" ist ein winziges und armseliges Feigenblatt für den betriebenen Sozialabbau.
Die Zahlen, die der Kollege Scharrenbroich vorgelegt hat, zeigen, daß die vorgesehene Zuschußleistung an die Bundesanstalt derart dürftig ist, daß die öffentlichen Kassen nicht nur keinen nennenswerten Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten, sondern sogar noch ein beträchtliches Geschäft machen. Mehr als 5 000 DM jährlich an Entlastung der öffentlichen Kassen pro Teilvorruhestandsfall hat der Kollege Scharrenbroich errechnet.
Kein Wunder, daß das neue Modell für die Arbeitgeber nicht attraktiv sein kann und daß es für die Gewerkschaften nicht tariffähig ist.
({16})
Vernünftigerweise kann man nicht erwarten, daß Gewerkschaften unter Verzicht auf sonst mögliche Lohnzuschüsse das neue Modell mit Tarifabschlüssen ausschöpfen, die im Ergebnis mehr die öffentlichen Kassen auffüllen als den Arbeitslosen zugute kommen.
Am 25. Februar 1988 habe ich hier zum Thema „Renten" u. a. folgendes erklärt:
Man weiß in der Tat nicht, was provozierender ist: die Dreistigkeit der Verharmlosungsversuche oder die Dickfelligkeit beim Versäumnis der elementaren Regierungspflichten. In beidem jedenfalls stehen die Bundesminister Blüm und Stoltenberg einander in nichts nach . . .
Soweit das Zitat vom 25. Februar.
({17})
Seit 1984 warnen wir vor den Schwierigkeiten der Rentenfinanzen ab 1991. Seit 1984 liegt dem Deutschen Bundestag das SPD-Konzept für eine Strukturreform der Alterssicherungssysteme vor.
Die politischen Aktivitäten des zuständigen Arbeitsministers bestanden einerseits aus Ankündigungen und andererseits aus teuren Plakataktionen, die eine beispiellose Verharmlosungskampagne über die Finanzen der Rentenversicherung auf Kosten der Steuerzahler bedeuteten. Auch hier das Regierungsmotto: tarnen und täuschen.
Und heute? Das Finanzloch der Rentenversicherung vor Augen, sucht die Regierung nach einer Konzeption.
Meine Damen und Herren, es gehört zur Bestandsaufnahme, uns alle an folgendes zu erinnern: Herr Blüm hat 1983 nicht nur zugelassen, sondern vorgeschlagen, die Rentenkassen zur Entlastung des Bundeshaushalts und zur Finanzierung von Steuersenkungen massiv heranzuziehen. An den Folgen dieses Aderlasses krankt die Rentenversicherung noch heute.
({18})
Fünf Milliarden Deutsche Mark fehlen auf diese Weise alljährlich. Bis 1990 - Herr Kolb, zum Mitrechnen - werden der Rentenkasse dadurch 40 Milliarden Deutsche Mark entzogen.
({19})
Vier Spargesetze mit empfindlichen Leistungskürzungen mußte Arbeitsminister Blüm durchziehen, um die von ihm selbst aufgerissenen Löcher wenigstens kurzfristig und notdürftig zu stopfen. Aber die langfristigen Finanzierungsprobleme der Alterssicherung sind immer noch ungelöst. Im eigenen Rentenanpassungsbericht der Bundesregierung summieren sich die Fehlbeträge im 15-Jahre-Prognosezeitraum bis auf die unfaßbare Größenordnung von 360 Milliarden Deutsche Mark.
Wir brauchen endlich eine umfassende Reform, die sich nicht auf Teilkorrekturen und Finanzverschiebungen beschränkt, sondern das Alterssicherungssystem insgesamt und seine Strukturen umfaßt. Wir Sozialdemokraten sind bereit, an einer solchen Reform gemeinsam mit den Koalitionsparteien mitzuarbeiten.
({20})
Denn wir sind der Überzeugung, daß nur eine mit breiter parlamentarischer Mehrheit verabschiedete Reform das erschütterte Vertrauen in die Sicherheit der Altersversorgung wiederherstellen kann. Wir haben unser Konzept für eine solche Reform der Öffentlichkeit vorgestellt.
Für Verhandlungen über eine gemeinsame Rentenreform haben wir Vorbedingungen gestellt: erstens den Willen auf der Regierungsseite zu einer deutlichen Erhöhung des Bundeszuschusses. Das ist für uns der Dreh- und Angelpunkt. Alle Kenner der Materie nennen eine Mindestanhebung auf 20 %. Zweitens: Verzicht auf einen Gesetzentwurf der Bundesregierung zugunsten eines gleichberechtigten gemeinsamen Antrags aller beteiligten Fraktionen.
Wir haben in den letzten Tagen Anzeichen zur Kenntnis genommen, daß maßgebende Politiker der Koalitionsfraktionen bereit zu sein scheinen, diese SPD-Forderungen zu erfüllen. Wie weit die Übereinstimmung in bezug auf ein Gesamtkonzept geht, werden wir im Verlauf der Verhandlungen feststellen.
Fest steht allerdings, daß die SPD ihr Rentenkonzept hat. Dazu gehören u. a. die Verbesserung der Rente nach Mindesteinkommen, der Einstieg in die Harmonisierung der verschiedenen Alterssicherungssysteme, die Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit und das Konzept einer sozialen Grundsicherung bei Invalidität und im Alter.
Zusammenfassend will ich meine Position mit einem Zitat von Herrn Blüm vom 26. Februar 1983 erklären: „Mit mir gibt es keine Rentenpolitik gegen die sozial Schwächeren. "
Die SPD ist verhandlungsbereit, um einer neuen, besseren Politik eine Chance zu geben.
Ich danke Ihnen.
({21})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bedanke ich mich bei der Kollegin Frau Hasselfeldt, daß sie mir die Möglichkeit verschafft hat, jetzt schon zu sprechen, da ich wegen der Krankheit des Kollegen Westphal gleich noch in anderer Funktion tätig sein soll.
Der Sozialunternehmer Staat steht vor neuen Herausforderungen in der Alterssicherung, in der Gesundheitspolitik und in anderen Bereichen der sozialen Sicherheit. Es geht darum, die Grenzen dafür neu zu bestimmen, was staatliche und gesellschaftliche Aufgaben sind, was der einzelne zu leisten hat, was der einzelne leisten kann. Wer dem Staat oder den Sozialversicherungsträgern immer mehr Aufgaben aufbürdet,
({0})
darf sich nicht wundern, wenn Steuern und Sozialabgaben steigen. Der Bundeshaushalt ist ebensowenig eine unversiegbare Melkkuh wie die Sozialversicherung. Steuern und Beiträge sind schwer erarbeitete Groschen der Bürger. Die Konsolidierung der Sozialversicherungssysteme ist unausweichlich notwendig, um der Sicherheit der Sozialsysteme selbst willen, aber auch, um Überbelastungen durch Steuern und Beiträge zu vermeiden. Vergessen wir nicht: Von der breiten Akzeptanz, z. B. im Falle der Rentenversicherung - der Kollege Dreßler hat eben darauf hingewiesen -, hängt es ab, ob dieses System funktioniert.
Deswegen unternehme ich den redlichen Versuch, in dieser Frage Konsens auch mit den Sozialdemokraten herbeizuführen.
Wenn die Sozialdemokraten unser beitrags- und leistungsbezogenes Alterssicherungssystem erhalten wollen, dann sollten sie mit ebensoviel gutem Willen in diese Diskussion mit uns eintreten, wie ich bereit bin, es zu tun.
({1})
- Bis jetzt habe ich den Eindruck. Ich bestreite das ja gar nicht. Im Gegenteil, ich fordere dazu auf, Herr Kollege Heyenn, und möchte eigentlich eher eine versöhnliche Note hereinbringen. Das bedeutet aber auch, Herr Kollege Heyenn, daß in Wahlkämpfen auf Rentnerverunsicherung verzichtet wird, wie es die jeweilige Opposition, egal, wer gerade Opposition war, immer getan hat.
({2})
Die Rentenversicherung ist für die Mehrheit unserer Bevölkerung die bewährte Basis ihrer Alterssicherung. Wer hier zu knauserig, zu kleinkariert fiskalisch an die Dinge herangeht, zerstört das notwendige Vertrauen. Deswegen ist es meines Erachtens notwendig und richtig, daß nicht nur der Beitragszahler, sondern auch der Steuerzahler einen angemessenen Anteil zur Stabilisierung dieses Sicherungssystems leistet. Im Prinzip, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, besteht über die Anhebung des Bundeszuschusses ein breiter Konsens: vom Finanzminister bis zur SPD. Strittig allerdings sind Höhe und Zeitpunkt. Deshalb möchte ich auf folgendes hinweisen.
Zu Beginn der 90er Jahre stehen kurzfristig nur die Parameter Anhebung des Bundeszuschusses, nettoähnliche Rentenanpassung sowie Steigerung der BeiCronenberg ({3})
tragssätze zur Verfügung. Notwendige strukturelle Veränderungen, z. B. die Neuordnung beitragsloser Zeiten, Verlängerung der Lebensarbeitszeit, auch Senkung des Rentenniveaus, können erst langfristig greifen. Ich plädiere daher dafür, beim Bundeszuschuß nicht zu kleckern.
({4})
So halte ich es persönlich für wichtig, den Beitragssatz möglichst lange, wie es im Gesetz steht, bei 18,5 % zu belassen. Dafür sprechen meines Erachtens zwei gewichtige Gründe.
Erstens. Gerade im Interesse von mehr Beschäftigung müssen wir, soweit möglich, Erhöhungen der Beitragssätze und damit Lohnnebenkosten vermeiden.
({5})
Zweitens. Da die eigentlichen demographischen Probleme erst nach dem Jahre 2000 auftreten, ist es meines Erachtens falsch, zu früh den ohnehin begrenzten Spielraum für Beitragssatzerhöhungen auszunutzen. Einer solchen Überlegung, so hoffe ich, werden sich auch längerfristig denkende Finanzpolitiker nicht entziehen können.
({6})
Gestatten Sie mir im Zusammenhang mit den Lohnnebenkosten einen kurzen Exkurs betreffend den Arbeitsmarkt. Intensive Bemühungen um Beitragssatzstabilisierung sind zugleich ein wichtiger Beitrag zu einer aktiven Beschäftigungspolitik. Nach wie vor bin ich der Auffassung, daß wir die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen können, wenn wir weniger arbeiten. Glaubt denn jemand ernsthaft, daß wir dann, wenn Dreher, Werkzeugmacher oder Ingenieure deutlich weniger arbeiten als ihre japanischen Kollegen, unsere Position auf dem Weltmarkt halten können?
({7})
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, machen Sie sich einmal bewußt: Ein japanischer Entwicklungsingenieur arbeitet 500 Stunden im Jahr länger als ein deutscher. Das heißt, bis zum Jahre 2000 sind das 3 1/2 Arbeitsjahre, und das unter Zugrundelegung der 38,5Stunden-Woche. Was bei der angestrebten 30-Stunden-Woche dabei herauskommt, verehrte Kollegen von der SPD, rechnen Sie sich bitte einmal selber aus.
({8})
Natürlich habe ich mich gefreut, daß anscheinend auch einige Sozialdemokraten bereit sind, die Bedingungen für kleine und mittlere Unternehmen zu verbessern. Aber kleine und mittlere Unternehmen können nicht existieren, wenn die Arbeitnehmer, wie es offensichtlich gewollt ist, künftig nur noch 30 Stunden in der Woche arbeiten können.
Zurück zur Rentenversicherung. Für die Motive und Vorschläge des Kollegen Schwarz-Schilling habe ich viel Verständnis. Die Vorschläge selbst halte ich für nicht akzeptabel. Der Aufbau eines Kapitalstocks mit erheblichen Kosten bei tendenziell zurückgehender
Zahl von Beitragszahlern führt zu einer nicht erträglichen Doppelbelastung und zu einem auch konjunkturell außerordentlich problematischen Ansparprozeß.
({9})
- Richtig, Herr Kollege Heyenn. - Eine Beitragsstaffelung nach Kindern wird die schwierige Finanzierung der Renten um keinen Deut besser gestalten und widerspricht im Prinzip auch der beitrags- und leistungsbezogenen Rente. Zur Vermeidung von Mißverständnissen: Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die für Kinder nichts übrig hat. Allerdings ist die Rentenversicherung nicht das geeignetste Instrument, um einen Familienlastenausgleich vorzunehmen.
({10})
Notwendige Einsparungen in der Rentenversicherung auf Grund der demographischen Entwicklungen müssen auch ihre Entsprechung in anderen Alterssicherungssystemen finden, die ganz oder in erheblichem Umfang aus Steuermitteln finanziert werden. Insofern besteht nach meiner festen Überzeugung Handlungsbedarf auch bei der Beamtenversorgung. Aber nicht nur dort, auch im gesamten öffentlichen Dienst ist Handlungsbedarf. Hier kann ich nur meiner Hoffnung in die Bereitschaft der Tarifpartner Ausdruck verleihen, dieses zu berücksichtigen.
Meine Damen und Herren, ich möchte in dem Zusammenhang auch nicht verhehlen, daß ich die nicht mehr sachgerechten Regelungen in der Knappschaft auf dem Prüfstand sehen möchte.
({11})
Meine Damen und Herren, einige Stichworte zur Gesundheitspolitik: Bei allem Geplänkel, bei allem Geschrei einzelner Gruppen möchte ich festhalten, daß sich die Mehrzahl der Beteiligten verantwortungsbewußt verhält und sich die Diskussion insbesondere nach der Anhörung versachlicht hat. Die Bereitschaft der Verbände, mit Verantwortung zu tragen, ist für mich z. B. ein positives Ergebnis der Anhörung.
({12})
Auf Grund dieser Anhörung werden wir Korrekturen, z. B. beim Datenschutz oder hinsichtlich der Kostenübernahme bei Noteinsätzen durch den Rettungsdienst, vornehmen.
({13})
Wir nehmen auch die Bedenken der Kassen zur Finanzierbarkeit der Pflegeleistungen durchaus ernst.
Das höchst sensible Solidarsystem gesetztliche Krankenversicherung wird auf Dauer nur funktionieren, wenn auch ein angemessener Anteil an Eigenverantwortung und Eigenvorsorge eingebracht wird. Bei der erfreulich verbesserten Einkommen- und Vermögenssituation müssen sich die Leistungen der Pflichtversicherung auf die wirklichen Risiken beschränken. Dies ist um so notwendiger, als in den nächsten Jahren durch erfreulich längere Lebenserwartung und er6282
Cronenberg ({14})
freulichen medizinischen Fortschritt die Kosten insgesamt zwangsläufig steigen werden.
Wer die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit des Gesundheitswesens erhalten und festigen will, muß hei aller Kritik im Detail unseren Reformvorschlag unterstützen. Einen anderen durchsetzbaren Weg sehe ich nicht.
Im Mittelpunkt aller Bemühungen steht das freiheitliche Gesundheitssystem mit angemessener Versorgung der Patienten, freier Arztwahl, Therapiefreiheit und einer Vielzahl freiberuflicher Leistungserbringer. Wenn wir jetzt nicht reformieren, meine Damen und Herren, werden sich die Probleme potenzieren, und letztlich ist der Weg in eine gigantische Planwirtschaft vorgezeichnet. Vorschläge in dieser Richtung gibt es bedauerlicherweise mehr als genug. Wer ein freiheitliches Gesundheitssystem im Interesse aller, insbesondere der Patienten, erhalten will, der muß sich zur Verantwortung für das Ganze und zum Mitwirken an dieser Reform bekennen. Alle sind zu einer verantwortungsbewußten Mitarbeit aufgerufen, auch jetzt noch die Opposition.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Leider ist jetzt hier der Usus eingetreten, daß sich die Minister erst nach der Debatte äußern. Ich fand es umgekehrt besser, weil man dann auf sie antworten konnte.
({0})
Jedenfalls ist vorherzusehen, was er uns erzählen wird. Er wird uns erzählen, daß der Etat Arbeit und Sozialordnung um 8,3 % erhöht worden ist, d. h. 66,9 Milliarden DM. Nimmt man Erziehungsgeld, Kindergeld und Wohngeld hinzu, so sind es 95 Milliarden DM, so daß fast ein Drittel des gesamten Bundeshaushalts für soziale Aufgaben aufgewandt wird.
Trotzdem - das ist es, womit wir uns auseinandersetzen müssen - gibt es in diesem Land Millionen von Menschen, die am Rand stehen, die von sozialer Normalität und Teilhabe ausgeschlossen sind: die Alten, für die Alter mit bitterer Armut verbunden ist; die Behinderten und Erwerbsunfähigen, die ausgegrenzt und isoliert werden; die Erwerbslosen, denen kein Weg zurück ins Arbeitsleben eröffnet wird; die Kranken und Pflegebedürftigen, die in unseren Kliniken und Heimen oft mehr schlecht als recht versorgt werden und die bei oft schmalem Geldbeutel von Zuzahlung bedroht sind, weil es keine vernünftige finanzielle Regelung für die Pflege gibt.
Angesichts dieser Tatsachen langweilt der schon sattsam bekannte Schlagabtausch zwischen der SPD und der Regierungsbank; denn wir wissen doch alle, daß Verschiebebahnhöfe, Finanzierungstricks und
Sparmaßnahmen im sozialen Bereich auch die SPD in ihrer Regierungszeit schon eingeleitet hat.
({1})
Es ist keine Frage: Was diese Regierung als epochale soziale Reformen anpreist, was sie als notwendigen Umbau des Sozialstaats verkauft, ist eine schamlose Umverteilung von unten nach oben, die von der SPD mit dieser Unverfrorenheit nicht durchgezogen worden wäre;
({2})
denn Sie gestalten nicht Sozialpolitik, sondern Sie betreiben die Konsolidierung der Finanzen mit der Folge zunehmender Ausgrenzung, Entrechtung und sozialer Kontrolle.
Die Debatte um soziale Politik erstarrt jedoch zu einem langweiligen Ritual, wenn hier nicht begriffen wird, daß die Höhe der Sozialausgaben nicht gleichzusetzen ist mit Wohlfahrt, daß wir den Kosten immer nur hinterherlaufen werden, wenn nicht endlich den wohlstandszerstörenden Aktivitäten dieser Gesellschaft zu Leibe gerückt wird.
Das, was diese Regierung als Wachstum feiert - ich behaupte, daß Sie sich als Sozialdemokraten von diesen Denkmustern auch nicht gelöst haben
({3})
- dazu kommen wir gleich - , beinhaltet neben wohlstandsschaffender Produktion in zunehmendem Maße wohlstandszerstörende Aktivitäten, und die nachsorgenden und reparierenden Kosten explodieren.
Dieser Sachverhalt erklärt die Armut, die sich hinter den relativ hohen Ausgaben des Sozialministeriums trotzdem verbirgt.
({4})
Wenn wir uns nicht endlich von der Ebene der Symptomkuriererei wegbewegen, wenn nicht endlich die Ursachen von Krankheit, Erwerbslosigkeit und Armut im Mittelpunkt der Diskussion stehen, werden wir die kommenden Jahrzehnte über die explodierenden Kosten im Sozialsektor weiter verhandeln, ohne wirklich soziale Politik gestalten zu können.
Lassen Sie mich diese These an einigen Bereichen belegen, die die sozialpolitische Debatte zur Zeit bestimmen. Ich nenne zunächst das Gesundheitswesen. Ich lasse hier die sattsam bekannte Tatsache beiseite, daß sich viele an Krankheit gesundstoßen: die Pharmaindustrie, die hohen Ärzteeinkommen, die Kurmittelindustrie usw., und daß Sie mit Ihrem sogenannten Reformgesetz die chronisch Kranken, die Rentnerinnen, die schwachen Einkommensschichten zur Kasse bitten; denn diese Debatte ist an anderer Stelle geführt worden und wird in diesem Hause noch geführt werden.
Ich möchte heute einen anderen fundamentalen Gedanken ansprechen. Statt über die Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu lamentieren, müssen wir über die Ursachen von Krankheit reden.
Da haben wir z. B. die Kosmetikindustrie, einen blühenden Industriezweig. Jahrelang wurde dort FormalFrau Beck-Oberdorf
dehyd als Konservierungsmittel eingesetzt, ein krebserregender Stoff, wie Sie alle wissen. Was geschieht nach dessen Verbot? Hinter dem Rücken der Konsumentinnen, auch hinter dem Rücken der Ärzte und Ärztinnen setzt die Kosmetikindustrie nun Kathon zu, einen in höchstem Maße allergieerregenden Stoff. Das Katz-und-Maus-Spiel nimmt seinen Lauf: Menschen erkanken an Allergien, die Medizinmaschine läuft an, Ärzte machen sich auf die Suche nach den allergieauslösenden Substanzen, und schon steht wieder die Chemieindustrie mit ihrem Angebot an nun heilenden Medikamenten auf der Matte. Das ist die wahnwitzige Logik unserer Industriegesellschaft - ein widersinniger Kreislauf.
Wenn heute vermeldet wird, daß das Bruttosozialprodukt um 3,9 % gewachsen ist, der Anteil der Chemieindustrie an diesem Wachstum mit 5,7 % sogar noch überproportional hoch ist, verbirgt sich hinter diesem Wachstum ein Gutteil destruktiver Kraft, die bei Ihnen, Herr Blüm, als Kostenexplosion im Gesundheitswesen wieder auftaucht.
Da ist mein Vorwurf an die Sozialdemokratie, daß sie sich mit solchen Sachen nicht auseinandersetzt. Herr Rappe ist meines Wissens Mitglied Ihrer Partei und forciert genau diese Politik des Wachstums der Chemieindustrie.
Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern. So müßte der Hormonskandal bei der Kälbermast und die dahinter stehende Erzeugung mit chemischen Substanzen versetzter Nahrung eigentlich die Gesundheits- und Sozialpolitiker interessieren, denn unsere an der Profitmaximierung ausgerichtete Agrarpolitik, die nichts mehr mit Nahrungsmittelerzeugung zu tun hat, verursacht Kosten im Gesundheitswesen. Wachstum und Profit heißen aber auch: Verdichtung von Arbeitsprozessen, Leistungsdruck, Streß am Arbeitsplatz, Lärm, Umgang mit giftigen Stoffen, Nachtarbeit, Schichtarbeit, die Sie mit Ihrer Politik gerade ausweiten. Das alles steigert das Bruttosozialprodukt, und das alles fordert seinen Tribut sowohl von der Natur als auch vom Menschen.
Die sogenannten Volkskrankheiten, wie Allergien, Krebs, Neurodermitis, Rheuma, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems, das alles taucht als Teil des Bruttosozialprodukts auf, als Teil des vermeintlich gewachsenen Wohlstandes, aber in Wirklichkeit schlägt es auf der Kostenseite zu Buche, sowohl menschlich als auch fiskalisch. Daß die Reparaturkosten immer höher werden, interessiert zumindest die Unternehmen nicht, denn sie können die Kosten ja externalisieren. Sie als Politiker übernehmen die Aufgabe, die Kosten von krank machendem Leben und Arbeiten auf die davon betroffenen Menschen auch noch zu verteilen.
({5})
Jede Regierung, egal, ob schwarz oder rot, wird stets im Kampf um die explodierenden Kosten des Gesundheitswesens verharren, wenn wir die von mir benannten Zusammenhänge nicht endlich zum Gegenstand der Debatte und politischen Gestaltens machen.
({6})
Nicht anders sieht es bei der mit viel Getöse eingeleiteten Rentenreform aus. Auch dieses gesellschaftspolitisch so wichtige Vorhaben bleibt auf der Ebene fragwürdiger finanztechnischer Korrekturen stehen. Jede von uns weiß, was herauskommen wird: eine Absenkung des Rentenniveaus bei gleichzeitig höherer Belastung der Erwerbstätigen und die Heraufsetzung der Altersgrenze. Bevor wir aber in die Debatte um Bundeszuschüsse, Beitragssätze und ähnliches einsteigen, stellen wir GRÜNE unmißverständlich fest: Die erste Aufgabe jeder Reform wäre es, allen Menschen im Alter eine Grundversorgung zukommen zu lassen, die ein Altern in Würde und ohne Not überhaupt gestattet. Von Ihnen, Herr Blüm, stammt der Satz, daß Rente Alterslohn für Lebensarbeit ist. Bedeutet das also, daß die 13 % der älteren Menschen, die angeben, gar kein eigenes Einkommen zu haben - das sind fast nur Frauen -, daß die 28 % mit einem Einkommen von unter 1 000 DM im Monat in Ihren Augen nicht gearbeitet haben? Die 1 Million Frauen, die weniger als 600 DM Rente beziehen, die 1,7 Millionen Frauen, die zwischen 600 und 1 000 DM zur Verfügung haben, sind das alles Menschen, die nicht oder nur wenig gearbeitet haben? Diese Zahlen entstammen übrigens einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung.
({7})
Das werden Sie wohl kaum zu behaupten wagen. Dennoch gibt es aus Ihrem Hause keine Überlegungen, wie zunächst allen Menschen im Alter ein Sockel, eine Grundrente für ein würdevolles Alter eingerichtet werden kann.
Es ist ein Hohn, daß Frauen, selbst wenn sie neben der Kindererziehung und Hausarbeit noch erwerbstätig gewesen sind und in die Rentenversicherung eingezahlt haben, dennoch mit ihren Rentenansprüchen oft unter den Sozialhilfesätzen liegen, weil Frauenlöhne immer noch so schamlos niedrig sind. Altersarmut ist vor allem Frauenarmut. Die Chance der späten Freiheit, von Altersforschern gerade den Frauen, deren Leben oft in Aufopferung für andere bestanden hat, in Aussicht gestellt, scheitert an ihrer Armut, denn Armut und Freiheit schließen sich aus. Auch da sind diese Lieblingswörter des Kanzlers wirklich nur Wortgetöse. Armut und Alter bedeuten bei uns Isolation, Einsamkeit, Ausgeschlossensein von Kultur und Öffentlichkeit und damit von der Gesellschaft.
Wir werden uns nicht an einer Debatte beteiligen, die von der Alterslast redet und damit vor allem schon einmal die Stimmung verbreitet, eigentlich seien die Alten kaum finanzierbar, sondern wir fordern die Verständigung auf den Grundkonsens, daß keiner und keine in dieser Gesellschaft Angst vor Armut im Alter haben dürften.
Ihr Kollege Fink ist da ein bißchen weiter als Sie. Er formuliert zumindest die Aufgabe, daß alte Menschen von unwürdiger Sozialhilfeabhängigkeit befreit werden müßten, daß alte Menschen nicht mehr auf ihre Kinder verwiesen werden dürften. Nur bewegen sich seine Vorschläge auf einem viel zu niedrigen Niveau. Dieser Gedanke spielt jedoch in der bevorstehenden Rentendebatte offensichtlich keine Rolle.
Ich wiederhole, Sie werden keine Rentenreform, sondern nur eine schlechte Rentenreparatur vornehmen. Solange nicht jeder alte Mensch in dieser so reichen Gesellschaft mit wenigstens einem Minimum von 1 200 DM ausgestattet wird, kann von Sozialstaat nicht die Rede sein.
({8})
Das alles ist finanzierbar. Allerdings würde das ein anderes Verteilungsmuster verlangen; es würde bedeuten, an Privilegien zu rütteln, an denen der Beamten z. B., auch an denen der Selbständigen, und es verträgt sich vor allem nicht mit einer Gesellschaftspolitik, die sich, wie z. B. die Steuerreform zeigt, den Wohlhabenden verschrieben hat.
Ganz und gar zynisch ist in diesem Zusammenhang der Vorschlag der FDP, wenn sie von privater Altersvorsorge spricht. Der Herr Graf ist leider nicht da, aber ich möchte ihn trotzdem fragen, wie er denn den Frauen mit einem Einkommen von 440 DM die private Altersvorsorge empfehlen kann?
({9})
Mit besonderer Spannung aber werden wir beobachten, auf welche Seite sich die SPD schlagen wird. Wie nicht selten sehen wir hier ein doppeltes Spiel. Der Parteitag hat soeben die Idee einer Grundsicherung festgeschrieben,
({10})
und die Damen und Herren der Fraktion buhlen bereits um die Aufnahme in den großen Kompromiß der Reformer, die jede Form einer Grundversorgung ablehnen: ein typischer SPD-Spagat.
({11})
Glauben Sie tatsächlich, meine Damen und Herren von der SPD, Ihre zukünftige Regierungsfähigkeit dadurch unter Beweis stellen zu können, daß Sie in einer derart existenziellen Frage klein beigeben? Wir werden uns noch sprechen.
({12})
Wir werden sehen, wie das bei Ihnen weitergeht.
Am Rand stehen in diesem Lande vor allem auch die, die landläufig als arbeitslos bezeichnet werden, die aber nur ohne Erwerb sind. Auch hier hilft Ihre satte Zufriedenheit über das wirtschaftliche Wachstum nicht. Fast 4 % Wachstum, und die Zahl der Erwerbslosen nimmt nicht ab! Wollen Sie die Männer und Frauen, die Jugendlichen, die angeblich nicht gebraucht werden, auf 10%iges Wachstum vertrösten? Es gibt keine Ansätze von Ihnen, das Selbstverständlichste der Welt anzusteuern, nämlich allen Menschen Erwerbsmöglichkeiten zu bieten, und das, obwohl die notwendigen Aufgaben überall sichtbar sind, die Betreuung der Alten und Kinder, die Beseitigung von Luft- und Müllnotstand, die Sanierung der Kläranlagen und und und. Statt dessen liegt Arbeitskraft brach, während andere durch Überstunden und Mehrarbeit fast erdrückt werden.
Diese Regierung bleibt tatenlos, was die Umverteilung von Arbeit angeht, nein, sie hat sie sogar bekämpft. Sie haben mit Ihrer Reform der Arbeitszeitgesetzgebung die historische Chance zur Umverteilung von Arbeit auf alle vertan. Ebenso hat Herr Zimmermann in der letzten Tarifrunde für den öffentlichen Dienst die Möglichkeit dieser Umverteilung von Arbeit und Einkommen blockiert. Statt dessen treiben Sie die erwerbslosen Menschen in Verzweiflung. Offensichtlich halten Sie das für politisch gefahrlos, solange es Ihnen weiterhin gelingt, die Erwerbslosen zu marginalisieren.
Es kommt sogar noch schlimmer. Im Hause Blüm wird bereits die nächste schamlose Umverteilungsorgie eingeläutet, die da heißt: 9. AFG-Novelle, mit der Sie ein weiteres Mal beweisen, daß Ihre Phantasie keine Grenzen kennt, wenn es darum geht, die steigenden Kosten der Erwerbslosigkeit die Erwerbslosen selbst tragen zu lassen.
({13})
Welche Kürzungen hier anstehen, geht bereits durch die Presse, obwohl wir als Parlamentarier die Vorlage skandalöserweise noch nicht einmal haben.
Die CDU in Bremen startet gerade eine Kampagne gegen das zunehmende Betteln auf der Straße. Der Anblick bettelnder Menschen paßt wohl nicht in das Bild der so aufgeräumten Bundesrepublik. Armut soll unsichtbar bleiben. Der erste Schritt gegen ihre Politik muß in der Sichtbarmachung von Armut und Ungerechtigkeit bestehen. Im zweiten werden die Menschen sich hoffentlich zur Wehr setzen.
({14})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hasselfeldt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn der Arbeitsminister am Schluß der Debatte spricht, Frau Beck-Oberdorf, dann war dies der ausdrückliche Wunsch der Fraktionen und war so mit allen Fraktionen abgestimmt. Ich empfehle Ihnen, daß Sie sich künftig, bevor Sie so etwas öffentlich kritisieren, sachkundig machen.
({0})
Die beiden Reden der Oppositionspolitiker veranlassen mich, gleich am Anfang eines deutlich festzustellen: Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ging es der Bevölkerung so gut wie heute. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik konnten wir auch den sozial Schwachen und Schwächeren in unserer Gesellschaft so tatkräftig unter die Arme greifen wie bisher, und ich erkläre Ihnen das auch.
({1})
Wir verfügen über steigende Realeinkommen. Wir verfügen über steigende Renten. Allein in den Jahren zwischen 1985 und 1987 sind die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte um real 8,5 % gestiegen.
Wir verfügen über Preisstabilität. Während Ihrer Regierungszeit in den 80er Jahren hatten wir eine
Inflationsrate von etwa 6 %. Preisstabilität kommt allen Bürgern unseres Landes - insbesondere den sozial Schwächeren - zugute.
({2})
Wir verfügen nun schon im sechsten Jahr über ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum, von dem Sie während Ihrer Regierungszeit nur träumen konnten und nicht einmal das. Wirtschaftswachstum gewährleistet uns allen den Wohlstand und soziale Sicherheit.
Meine Damen und Herren, es wundert angesichts dieser Fakten niemanden, daß wir wegen dieser wirtschaftlichen Entwicklung, wegen unseres Wohlstandes und auch und im besonderen wegen unserer Sozialleistungen auf der ganzen Welt beneidet werden. Wir haben dies nicht dadurch erreicht, daß wir nach den Vorstellungen der Opposition der Allmacht des Staates vertraut hätten. Nein, wir haben es erreicht, weil wir nie den Zusammenhang zwischen einer funktionierenden Wirtschaft auf der einen Seite und sozialpolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auf der anderen Seite aus den Augen verloren haben.
({3})
Nur dann nämlich, wenn es uns gelingt, unsere Wirtschaft leistungsfähig und wettbewerbsfähig zu erhalten, haben wir auch den Spielraum, um den sozial Schwächeren zu helfen, und den sozial Schwächeren gilt auch künftig unser Augenmerk. Es gilt den Arbeitnehmern. Es gilt steigenden Realeinkommen, Herr Dreßler. Es gilt den Rentnern, die vertrauensvoll in die Zukunft blicken können. Bis in die 90er Jahre hinein verfügt die Rentenversicherung über ein solides Finanzpolster. Darüber, was danach kommt, werden wir uns noch unterhalten.
Unser Augenmerk gilt im besonderen auch den Familien, die während Ihrer Regierungszeit völlig außen vor gelassen wurden.
({4})
Wir haben durch die Einführung des Erziehungsgeldes, durch die Anrechnung der Erziehungszeiten in der Rentenversicherung und durch die steuerlichen Erleichterungen für die Familien Marksteine gesetzt, von denen Sie während der sozialliberalen Koalition wirklich nicht einmal geträumt haben, weil es die Familie als sozialpolitisch zu förderndes Objekt überhaupt nicht gegeben hat.
({5})
- Und unser Augenmerk gilt natürlich den Arbeitslosen, gilt dem Arbeitsmarkt.
({6})
Wir haben auch hier zu mehr Beschäftigung und zu einer Verbesserung der Situation der Arbeitslosen beigetragen, und zwar durch berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, durch die Besserstellung der älteren Arbeitslosen beim Bezug von Arbeitslosengeld.
({7})
- Meine Damen und Herren, ich verstehe schon sehr gut, daß Sie etwas aufgebracht sind, wenn man diese Fakten objektiv darstellt. Diese Erfolge lassen sich messen. Sie lassen sich im besonderen an Ihrer sozialpolitischen Konzeptionslosigkeit messen, die Sie ja auch in Münster wieder unter Beweis gestellt haben.
({8})
So wie Sie es dort gemacht haben, kann man seine Regierungsunfähigkeit natürlich auch unter Beweis stellen.
({9})
Wissen Sie, es ist schon bedeutsam, wenn sogar ein Mann wie Herr Steinkühler, der ja wirklich nicht im Verdacht steht, daß er uns nahesteht, sagt, die SPD sei in der Sozialpolitik kopflos. Das muß Ihnen doch zu denken geben.
({10})
Ich verhehle nicht, meine Damen und Herren, daß auch mir die Zahl der Arbeitslosen zu hoch ist. Dahinter verbergen sich schwere Schicksale. Ich frage mich aber: Muß es nicht verwundern, daß es in allen Teilen unseres Landes nicht wenige Betriebe gibt, die ihren Bedarf an Arbeitskräften trotz der vielen arbeitslos Gemeldeten nicht decken können? Angesichts dieser Tatsache müssen wir uns doch überlegen, ob das vorhandene Instrumentarium bezüglich der Zumutbarkeit dem Gedanken der Solidarität in der Arbeitslosenversicherung noch gerecht wird.
({11})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Abgeordnete Hasselfeldt?
Nein.
Es geht auf jeden Fall aufwärts. Wir haben seit 1983 die Zahl der versicherungspflichtig Beschäftigten um fast eine Million erhöht.
({0})
Dies bedeutet nicht nur mehr Beiträge in der Sozialversicherung, sondern es bedeutet auch mehr Hoffnung für eine Million Menschen und ihre Familien.
({1})
Dies haben wir durch eine vernünftige Wirtschafts- und Finanzpolitik, aber auch durch arbeitsmarktpolitische Maßnahmen wie beispielsweise die Qualifizierungsoffensive erreicht. Wir werden diese fortsetzen, auf hohem Niveau, aber wir müssen auch darauf achten - ich sage das ganz bewußt - , daß die Mittel auf die Zielgruppen des Arbeitsmarktes konzentriert werden
({2})
und daß alle Bildungsmaßnahmen auch so angelegt sind, daß anschließend eine echte Vermittlungsaussicht besteht.
({3})
Klar ist auch: Berufliche Bildung darf nicht primär Angelegenheit der Beitragszahler und der Bundesanstalt für Arbeit sein. Die Verantwortung für gut ausgebildetes Personal liegt vorrangig bei den Arbeitgebern, bei denen, die dieses Personal beschäftigen.
({4})
Die Bundesanstalt darf nicht zum Auszahlautomaten degradiert werden.
({5})
Lassen Sie mich aber auch ein Wort, meine Damen und Herren, an das von Ihnen angesprochene Problem der Schwarzarbeit, der illegalen Beschäftigung verlieren. Ich stimme Ihnen zu, daß dies ein großes Problem in unserer Gesellschaft, auf unserem Arbeitsmarkt ist. Ich denke, daß wir uns auch darüber einig sind, wo einer der Gründe liegt, nämlich in den zu hohen Lohnnebenkosten.
({6})
Wenn wir uns hier nicht einig sind, macht mir das gar nichts; meine Meinung bleibt trotzdem.
Hauptgrund oder einer der wesentlichen Gründe sind zu hohe Lohnnebenkosten. Daran arbeiten wir,
({7})
nicht nur kurzfristig. Als ein Mittel zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und der illegalen Beschäftigung sehen wir in der Tat den Sozialversicherungsausweis.
({8})
Er ist kein Allheilmittel, das wissen wir. Aber er ist ein Schritt auf dem richtigen Weg.
Meine Damen und Herren, wenn wir von mehr Humanität in der Gesellschaft reden, dann müssen wir auch an die Vereinbarkeit von Familie und Beruf denken; dabei spielen die Teilzeitarbeit sowie der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben nach den Erziehungsjahren eine wesentliche Rolle. Wir können für uns in Anspruch nehmen, daß wir die Förderungsvoraussetzungen beim Wiedereinstieg nach der Erziehungstätigkeit verbessert haben.
({9})
Wir werden auch in unseren Bemühungen um noch mehr Teilzeitarbeitsplätze nicht lockerlassen. Aber es wäre zu erwarten, daß hier auch die Gewerkschaften endlich aus ihrer Ecke herausgehen und mit ihren abqualifizierenden Bemerkungen gegenüber der Teilzeitbeschäftigung endlich aufhören und ihre starre Haltung hier aufgeben.
({10})
- Bei der SPD habe ich schon langsam Schwierigkeiten, Herr Kollege, ein gemeinsames, für alle Kollegen
geltendes Konzept in der Sozialpolitik, im besonderen im Arbeitsmarkt zu erkennen.
({11})
Ich möchte nur das Stichwort - ich könnte auch andere Kollegen mit nennen - Lafontaine anführen.
({12})
Der Parteitag hat wieder deutlich gemacht, daß hier wirklich kein Konzept vorliegt, sondern ein großer Dissens.
Die Situation unseres Arbeitsmarktes erfordert eine differenzierte Betrachtungsweise. Wir haben einen Mangel an Facharbeitern, an qualifizierten Angestellten, wir haben einen hohen Anteil an unqualifizierten und zum Teil nicht qualifizierbaren oder nicht so, wie der Arbeitsmarkt es erfordert, qualifizierbaren Arbeitslosen. Wir haben eine zunehmende Immobilität der Arbeitslosen, überhaupt der Arbeitnehmer, aus welchen Gründen auch immer, und wir haben auch einen zunehmenden Anteil an gesundheitlich Eingeschränkten. Das alles sind Probleme, denen wir uns zu stellen haben, Fakten, die wir sehen müssen. Deshalb gibt es hier auch kein Patentrezept, und deshalb sind auch die von der Opposition geforderten Beschäftigungsprogramme genauso sinnlos wie all jene Programme, die Sie schon während Ihrer Regierungszeit in dieser Richtung mit aufgelegt haben. Das, was wir am Arbeitsmarkt brauchen, sind differenzierte Maßnahmen. Das, was wir brauchen, ist ein Klima zur Schaffung von mehr Arbeit, meine Damen und Herren.
({13})
Wir haben ja bewiesen, daß wir dieses Klima geschaffen haben, sonst könnten wir diese zusätzlich Beschäftigten gar nicht verzeichnen. Während Ihrer Regierungszeit haben Sie keine zunehmende Erwerbspersonenzahl gehabt, sondern im Gegenteil eine abnehmende Zahl.
({14})
Nun, eines der wichtigsten und schwierigsten sozialpolitischen Reformvorhaben in dieser Periode ist die Reform des Gesundheitswesens. Dabei steht eines fest: Diese Reform ist längst überfällig und hätte schon während der sozialliberalen Koalition in Angriff genommen werden müssen. Aber wie war es damals? Sie haben nur geredet, Sie haben nicht gehandelt.
({15})
Heute ist es so: Wenn wir nicht handeln, werden die Beitragssätze weiter steigen. Wenn wir nicht handeln, lassen wir zu, daß die Erfolge in der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik durch ungezügeltes Ausgabenwachstum in der Krankenversicherung beeinträchtigt werden. Wenn wir nicht handeln, bricht das System unserer im Ansatz guten Krankenversicherung zusammen. Meine Damen und Herren, deshalb handeln wir!
({16})
Wir ermöglichen Beitragssatzsenkungen, die den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern gleichermaßen
zugute kommen und zur Begrenzung der viel zu hohen Lohnnebenkosten beitragen. Wir setzen auf mehr Vorsorge und Eigenverantwortung. Wir entlasten die Solidargemeinschaft von nicht notwendigen Leistungen, und wir sorgen für mehr Wettbewerb.
Meine Damen und Herren, wir handeln auch in der Pflege, in einem Bereich, der von der SPD zerredet, aber nicht angepackt worden ist.
({17})
- Sind Ihnen eigentlich, wenn Sie da so lachen, Herr Kollege, die Familien ganz egal, die nicht in Urlaub fahren können, z. B. deshalb, weil es gilt, einen pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen?
({18})
Uns sind sie nicht egal! Wir wissen um die starke Belastung, die ein schwerer Pflegefall für die Familien, ihre Hilfsbereitschaft und ihren Opferwillen mit sich bringt. Hier wirken Menschen im stillen, ohne großes öffentliches Aufsehen. Nur haben sie eben einen Fehler: Sie haben keine Lobby. Aber es darf doch in unserem Staat nicht länger so sein, daß immer nur die Lauten, die, die schreien können, gehört werden.
({19})
Mit dieser neuen, dringend notwendigen Pflegefallregelung vollziehen wir einen gesellschaftspolitischen und sozialpolitischen Durchbruch ersten Ranges, vergleichbar mit der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Auch das war ein gesellschafts- und sozialpolitischer Durchbruch. Wir schließen damit das einzige in der sozialen Sicherung noch vorhandene Loch.
({20})
Nun sagen einige Leute, die es gut mit uns meinen - auch die gibt es - : Eine einzige große Reform in der Legislaturperiode reicht. Unsere Antwort darauf ist: Wir müssen tun, was die Verantwortung für diese Bevölkerung, für die soziale Sicherheit dieser Bevölkerung, uns gebietet, und eine der größten Herausforderungen ist heute die Auswirkung der demographischen Entwicklung auf unser Rentensystem. Unsere Gesellschaft wird älter. Die Beitragszahler werden weniger, die Leistungsbezieher mehr. Wir wissen, daß es sich bei denjenigen, die heute in Rente gehen, um eine Generation handelt, die diesen Staat aufgebaut hat, die den Weg für unseren Wohlstand bereitet hat, und wir werden deshalb dafür sorgen, daß die zusätzlichen Lasten ausgewogen auf alle Beteiligten, nämlich auf die Beitragszahler, die Leistungsbezieher und den Staat, verteilt werden.
Dabei haben sich die bisherigen Prinzipien der Rentenversicherung bewährt. Diese gilt es zu stärken. Nicht aus dem Auge verloren werden darf der Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung. Das ist ein wesentliches Prinzip gerade der Rentenversicherung. Die Höhe der Beiträge muß die Höhe der späteren Rente auch bestimmen. Ich hoffe, daß wir in dieser Frage einen Konsens aller demokratischen Parteien erreichen können; ich hoffe, daß in dieser für uns alle so wichtigen Frage keine parteipolitischen Unterschiede vorhanden sind.
Frau Beck-Oberdorf, ein Wort zur Frauenarmut, die Sie angesprochen haben: Sicher ist das Einkommen der Frauen, gerade der Rentnerinnen, geringer als das ihrer männlichen Kollegen. Das hängt auch damit zusammen, daß das System eben auf Beiträge ausgerichtet ist. Aber ich möchte bei dieser Gelegenheit schon einmal deutlich darauf hinweisen, daß wir es waren, die die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt haben, eine Regelung, von der die Frauen, gerade die älteren Frauen, profitieren, daß wir es waren, die diese Regelung für die Frauen, gerade für die älteren Frauen, für die Frauen, die Jahre ihres Lebens der Erziehung von Kindern gewidmet haben, durchgesetzt haben und daß wir es sind, die in dieser Richtung auch weiterdenken werden.
({21})
Lassen Sie mich auch ein Wort zur Kriegsopferversorgung sagen. Wir haben nicht nur zum 1. Juli 1988 die Renten der Kriegsopfer um 3 % angehoben, sondern auch strukturelle Verbesserungen zum 1. Januar 1989 in Höhe von jährlich 26 Millionen DM beschlossen. Dies ist angesichts der Belastungen, denen der Bundeshaushalt ausgesetzt ist, wirklich keine unbedeutende Summe.
Ich möchte nun aber noch einige grundsätzliche Positionen anfügen. Im Mittelpunkt, meine Damen und Herren, unserer Sozialpolitik
({22})
steht das Streben nach sozialem Frieden, nach sozialer Gerechtigkeit und nach sozialer Sicherheit. Diese Ziele sind nicht mit billigen Neidparolen, mit abschreckenden Horrorgemälden, mit Schwarzmalerei oder auch Klassenkampf zu erreichen. Wir brauchen dazu eine leistungsfähige Wirtschaft. Wir brauchen die Eigenverantwortung aller Bürger sowie ein realistisches Denken bei der Verteilung von Lasten und von Wohltaten.
Maßstab unserer Sozialpolitik ist nicht die Höhe des ausgegebenen Geldes, wenngleich wir in diesem Haushalt auf 66,9 Milliarden DM verweisen können. Maßstab ist die Situation der Bürger in diesem Land. Mit dieser Situation können wir heute zufrieden sein. Diese Situation auf dem erreichten Niveau zu halten und dort, wo möglich und wo nötig, zu verbessern, das ist unsere Verpflichtung.
Meine Damen und Herren, es ist auch ein Irrtum, anzunehmen, daß bei der Sozialpolitik nur an Geld zu denken ist. Solidarität und Eigenverantwortung, finanzielle Hilfe und die helfende Hand - all das muß zusammengefaßt und zusammengeführt werden zu dem, was wir uns alle miteinander wünschen, nämlich zu einer Gesellschaft mit einem menschlichen Gesicht.
Ich danke Ihnen.
({23})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich
will der Versuchung widerstehen, auf die hundertste Wiederholung der gleichen Vorwürfe zum hunderterstenmal zu antworten.
Ich möchte die Gelegenheit dieser Haushaltsdebatte nutzen, unsere Sozialpolitik im Zusammenhang darzustellen. „Wandel" , „Wende", „Reformen", das sind ja Lieblingsworte unserer Zeit. Aber was sie bezeichnen, ist nicht neu. Immer gab es Veränderungen, und mit manchen Veränderungen begann eine neue Epoche.
({0})
Einschneidende Veränderungen waren immer Antworten auf große Herausforderungen. Das Bewußtsein, oft noch diffus, daß sich unsere Welt wieder einmal verändert, daß sie sich häutet, ist weit verbreitet.
Schon beginnt der Streit über die Bezeichnung des neuen Abschnitts. Mit Worten und über Worte läßt sich ja bekanntlich trefflich streiten. Der Erfindungsreichtum der Terminologen hinkt allerdings der Bereitschaft zur realen Veränderung hinterher. Es ist leichter, Worte auszuwechseln, als Besitzstände aufzugeben, und seien es nur Gewohnheiten.
Meine Damen und Herren, wir leiden nicht an einem Mangel an Reformvorschlägen. Wie im Feuerwerk tauchen täglich neue Ideen auf, die schon wenig später im Dunkel des Vergessens verschwinden. Wir haben es mit einem vagabundierenden Einfallsreichtum zu tun, dem die Unfähigkeit anhaftet, an einem Konzept festzumachen.
Die Opposition kann sich den Luxus leisten, Politik mit der Summe von Einwänden zu verwechseln. Regierungen müssen entscheiden. Wir können nicht nur sagen, wogegen wir sind; wir müssen sagen, wofür wir sind; wir müssen handeln.
Die Notwendigkeit der Gesundheitsreform beispielsweise wird von niemandem bestritten; ich kenne niemanden. Ich kenne aber tausend Einwände gegen unsere Vorschläge. Nur, ich sehe keine einzige geschlossene Alternative zu unserer Gesundheitsreform. Die zunehmende Diskussionswut ist nur eine andere Form von feiger Entscheidungsflucht.
({1})
Der verdanken wir, daß diese Reform eher zu spät als zu früh kommt.
Die Umstellung, die uns abverlangt wird, folgt der Einsicht. Sie folgt nicht der unmittelbaren elementaren Not. Entscheidungen unter vitaler Existenznot sind möglicherweise leichter. Umstellungen sind in Wohlstandsgesellschaften offenbar schwerer zu bewerkstelligen als in Armutsgesellschaften. Wir stellen nicht unter vitaler Existenznot um wie in früheren Zeiten, sondern unter der Last der Verantwortung für die Zukunft.
Die Antworten auf die großen Katastrophen der Vergangenheit standen unter dem Zwang der augenblicklichen Rettung: Jetzt handeln. Dieses Gefühl der augenblicklichen Rettung ist in unserer Gesellschaft nicht verbreitet. Leidet - so frage ich - darunter unsere Fähigkeit zur Umstellung? Aber wir können uns ja keine Katastrophe wünschen, um wieder veränderungsfähig zu werden. Also muß die Vernunft ersetzen, was der Überlebenswille in der Vergangenheit, beispielsweise in der Nachkriegszeit, besorgte.
Aber die Vernunft ist ein Waisenkind im Interessengerangel. Hier besteht die Gefahr, daß Lautstärke mit dem Gewicht der Argumentation verwechselt wird. Das Spektakel der Proteste und Demonstrationen ist unterhaltsam, aber es trägt die Züge einer Traumreise, die von der Härte der Realität nicht erfaßt ist. Wir haben es mit einer skandalierenden Emotionalität zu tun, die sich an wechselnden Aufregungen des Tages berauscht und den Blick für die großen Linien verliert. Wir werden von einer hektischen Flatterhaftigkeit geplagt, auch wir in der Politik, ohne den großen Atem fur Perspektive, Ausdauer und Durchblick zu haben.
({2})
Deshalb will ich versuchen, die großen Linien unserer Sozialpolitik kurz darzustellen.
In der Kranken- und Rentenversicherungsreform kreuzen sich zwei Linien unseres Sozialstaates. Deshalb folgen beide Reformen ganz unterschiedlichen Richtungen.
Während es in der Krankenversicherung darum geht, einen Grundstandard solidarisch abgesicherter Versorgung zu schaffen und so unsere Krankenversicherung vor kollektiver Überforderung und Verschwendung zu bewahren, geht es in der Rentenversicherung nicht um Grundstandard, Grundsicherung, sondern um ein Alterseinkommen, das dem Lohn entspricht, den sich der Versicherte ein Leben lang erarbeitet hat. Das sind ganz unterschiedliche Ansätze von Krankenversicherungs- und Rentenversicherungsreform.
Die soziale Krankenversicherung sichert die fundamentalen Gesundheitsrisiken ab. Sie ist nicht für jedweden denkbaren Gesundheitswunsch zuständig. Die Rentenversicherung folgt dem Lebenslohn. Während die Krankenversicherung das Notwendige garantiert, soll die Rentenversicherung den erarbeiteten Lebensstandard absichern.
Die Krankenversicherung arbeitet vornehmlich nach dem Sachleistungsprinzip, die Rentenversicherung nach dem Geldleistungsprinzip. Das sind zwei ganz unterschiedliche Methoden.
Die Reformen im Gesundheitswesen und in der Rentenversicherung sind unterschiedlicher Bauart. Ich nenne sie nochmals: solidarische Absicherung des Notwendigen in der Krankenversicherung, Leistungsgerechtigkeit für die Rentner in der Rentenversicherung.
({3})
- Die Leistungsgerechtigkeit ist eine geradezu emanzipative Gerechtigkeit, weil ein Anspruch auf eigener Leistung beruht und nicht von Dritten gewährt wird.
Beide Reformen haben mit dem demographischen Wandel, dem veränderten Bevölkerungsaufbau, zu tun. Deshalb unsere Anstrengung, die Generationenbalance mit der Reform der Rentenversicherung zu
wahren. Deshalb unser Bemühen, mit der Gesundheitsreform Antworten auf die Pflegeproblematik zu finden.
Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sind die beiden großen tragenden Sozialprinzipien. Sie dürfen sich nicht wechselseitig verdrängen, sondern müssen sich ergänzen. Dort, wo die Leistungsgerechtigkeit ein soziales Problem lösen kann - sie kann nicht alle sozialen Probleme lösen -, sollte sie nicht von der Barmherzigkeit verdrängt werden.
Wer ein Leben lang gearbeitet, Beiträge gezahlt hat, dem sichert die Rentenversicherung einen entsprechenden Lebensstandard im Alter. Sie folgt dem Äquivalenzprinzip: Leistung für Gegenleistung.
Die Krankenversicherung dagegen kann nicht diesem Leistungsprinzip folgen. Der hilfsbedürftige Kranke hat Anspruch auf unsere Hilfe ohne Rücksicht auf seine Leistungsfähigkeit. Die großen Gesundheitsrisiken, die über die Kraft des einzelnen gehen, müssen solidarisch gemeistert werden. Das Notwendige muß ohne jede Zuzahlung geleistet werden.
Wir dürfen die Systeme und Prinzipien nicht durcheinanderwirbeln, so daß zu guter Letzt niemand mehr weiß, wem er wessen Anspruch verdankt und von wem was bezahlt wird. Die große Konfusion ist das Feld der Manipulateure. Deshalb muß die Durchschaubarkeit der Systeme verbessert werden.
Die Sparzwänge - ich gebe es zu - helfen uns auf die Sprünge. Aber unsere Reformen sind nicht lediglich Antworten auf Geldfragen.
Wollen wir - so frage ich - ein Gesundheitssystem - das hat mit Geld noch nichts zu tun -, das sich anmaßt, dem Menschen alle Probleme abzunehmen, eine wohltemperierte Gesellschaft, die alle Schwierigkeiten therapeutisiert,
({4})
um uns in einer künstlichen Gleichgewichtslage zu wiegen? Abends gelbe Tabletten zur Beruhigung und morgens blaue Tabletten zur Vitalisierung?
({5})
Die Sparzwänge können eine hilfreiche Rückbesinnung dazu einleiten, daß nicht für jedes Problem ein anderer zuständig ist. Die Mitverantwortung beginnt mit der Selbstverantwortung, und die Selbstverantwortung schützt die Solidarität vor Überlastung.
Arbeit verliert in der nachindustriellen Gesellschaft ihre alles, über Jahrhunderte beherrschende Dominanz. Aber sie ist deshalb nicht weniger lebenswichtig. Das Schlaraffenland gibt es auch in der postindustriellen Gesellschaft nicht. Das Schlaraffenland gehört der Märchenwelt an, die sich auch in Zukunft von der Realität unterscheidet. Es gibt auch in Zukunft keine menschenwürdige Gesellschaft ohne Arbeit und Anstrengung. Wir wollen sie auch nicht, weil sie eine glücklose Gesellschaft wäre, weil Glück auch die Erfahrung ist, mit Problemen fertig zu werden, sie überwunden zu haben.
({6})
Aber die Versuchung, andere für sich arbeiten zu lassen, die in früheren Zeiten auf eine Handvoll Privilegierter beschränkt war, wird zur Massengefahr. So erscheint die Ausbeutung am Horizont der Zukunft anders als im 19. Jahrhundert: Ausbeutung nicht von oben, sondern von nebenan. Nicht mehr „Reiche" beuten „Arme" aus, ist die alles dominierende Verteilungsfrage in der Wohlstandsgesellschaft, sondern möglicherweise: Die Faulen beuten die Fleißigen aus. Auch das ist Ausbeutung.
({7})
- Wissen Sie, die Malocher, die, die sich 40 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, die bezahlen den Sozialstaat. Daß sie ihn bezahlen für die Hilfsbedürftigen, für die, die nicht arbeiten können, gehört zur Solidarität. Aber ich frage mich, ob alle, die den Sozialstaat in Anspruch nehmen, nicht können oder ob das nicht in einer nachindustriellen Gesellschaft eine schicke Art und Weise ist, die Dummen, die Fleißigen auszubeuten.
({8})
Gegen diese neue Schickeria, in welchem Gewand sie auch auftritt, müssen wir vorgehen. Deshalb muß unser Sozialsystem Widerstände gegen diese Ausbeutungsgefahr einbauen.
Die Idee der Grundrente hat eine eingebaute Versuchung, Gott einen guten Mann und die Arbeitenden die Dummen sein zu lassen. 800 DM Grundrente - Sie haben sie ja heute auf 1 200 DM gesteigert -: dafür muß ein Durchschnittsverdiener 22 Jahre Beiträge zahlen, um durch Arbeit und Lohn diese Rente zu erwerben. Warum sollte er sich 22 Jahre morgens zur Arbeit schleppen, wenn er 800 DM auch ohne Arbeit bekommen kann? Und will er gar für seine Frau in der Hinterbliebenenversorgung 800 DM erreichen, muß er 35 Jahre lang arbeiten. Ich frage mich, warum soll jemand überhaupt noch arbeiten, wenn er auch ohne Arbeit das gleiche erreichen kann?
Ich berufe mich in der Verteidigung unserer leistungsbezogenen Rente auf die Regierungserklärung von Bundeskanzler Helmut Kohl zu Beginn unserer Legislaturperiode; ich zitiere:
Die Bürger können darauf vertrauen, daß sie im Alter als Gegenleistung für die während ihres Arbeitslebens gezahlten Beiträge eine angemessene Rente erhalten.
Das Wort ist gegeben. Wir wollen und werden dieses Wort halten.
Das Rentenniveau darf auch nicht in die Nähe des Sozialhilfesatzes kommen, weil sich Arbeit sonst nicht mehr lohnt. Soziale Hilfen, aus welchen Gründen auch immer, wie auch Lohnersatz müssen immer etwas niedriger sein als der Lohn, weil sonst die Versuchung groß ist, mit Lohnersatz das Leben zu gestalten. Dann sind wir gezwungen, geradezu polizeistaatlich zu überwachen, ob jemand arbeiten kann oder nicht. Wir wollen diese schreckliche Version eines Überwa6290
chungsstaates nicht. Deshalb dürfen in das Sozialsystem keine Einladungen eingebaut sein, sich auf Kosten anderer zu bedienen.
Es wäre auch eine besondere Pointe des historischen Augenblicks: Während Gorbatschow und die Seinen in ihr Sozialsystem verstärkt Leistungsregulatoren einbauen, würden wir im gleichen Augenblick, in dem unser System weltweit an Attraktion gewinnt, auf den Versorgungsstaat zumarschieren. Grundrente wäre sozusagen die Gegenrichtung zu einer leistungsbezogenen, auch in der Sowjetunion zunehmend an Attraktivität gewinnenden Organisation unserer Gesellschaft.
Die Leistungsgerechtigkeit bleibt die Leitlinie der Rentenversicherung. Aber wir beschränken sie nicht eng auf die Erwerbsleistung.
Kindererziehung ist für die Rentenversicherung eine Überlebensleistung; denn ohne Kinder heute gibt es keine Beitragszahler morgen. Deshalb haben wir Kindererziehungszeiten in das Rentenrecht eingeführt. - Herr Kollege, waren das auch Kürzungen? Sie haben doch gesagt, ich hätte nur gekürzt. - Heute beziehen 1,8 Millionen Mütter eine Rente, in der Kindererziehungszeiten enthalten sind. Besonders wichtig ist: 200 000 beziehen eine Rente, die nur auf Kindererziehungszeiten beruht.
({9})
In wenigen Wochen, am 1. Oktober, werden etwa eine Million Mütter, die den Geburtsjahrgängen 1907 bis 1911 angehören, ihre Kindererziehungsleistungen von 28 DM monatlich für jedes Kind erhalten. Im Durchschnitt werden diese Mütter etwa 70 DM monatlich bekommen. Bis 1990 werden die noch fehlenden Jahrgänge in den Bezug der Kindererziehungszeiten kommen. Dann werden sechs Millionen Mütter nach hundert Jahren Rentenversicherung ihre Erziehungsleistungen, ihre Erziehungsarbeit zum erstenmal in der Rentenversicherung anerkannt erhalten haben.
({10})
Gesundheits- und Rentenreform finden in einem gegensätzlich politischen Umfeld statt. Während in der Gesundheitsreform - darüber ist gesprochen worden - der Konflikt vorherrscht, sind in der Rentenreform die Chancen - ich sage Chancen, nicht mehr - für einen Konsens gut. So könnten beide Reformen auch den Anschauungsunterricht für eine politische Kultur abgeben, in der Konflikt und Konsens zu Hause sind und wir zu beidem fähig sind. Es würde unsere Konflikte entdramatisieren, wenn wir mit der gleichen Opposition, mit der wir in Sachen Gesundheitsreform in harten Auseinandersetzungen stehen, in der Rentenversicherung Konsens schaffen würden. Denn auf beides ist die Demokratie angewiesen: auf die Fähigkeit zur harten Konfrontation, zum Konflikt, wie auf die Fähigkeit zur Kooperation. Es muß die Sache entscheiden, welcher Weg genommen wird, und nicht die parteipolitische Scheuklappe unsere Richtung bestimmen. Wenn die Teilnehmer des demokratischen Spiels zwischen Konsens und Konflikt wechseln können, schützen Sie den Konsens vor der Verwechslung mit der Kumpanei und den Konflikt vor der Verwechslung mit der bornierten Aggression. Sind wir konfliktfähig, oder kuschen wir vor den Lobbyisten? Das ist die Testfrage der Widerstandsfähigkeit des Gemeinwohls, auf das wir verpflichtet sind. Die Diskussion um die Gesundheitsreform zeigt, daß es Verbandsfunktionäre gibt, denen keine Verdrehung zu schade und die Wahrheit nichts wert ist, wenn es um ihre Kasse geht.
Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten jedweden Arzneimittelpreis zu zahlen. Die Krankenversicherung ist nicht in der Lage, mit den Beiträgen der Versicherten Umsatzgarantien für alle Anbieter zu geben. Auch hier muß der Wettbewerb entscheiden. Bezahlt wird die Krankenversicherung nämlich von den Beitragen derjenigen, die arbeiten, und wir sparen nicht zum Selbstzweck. Wir sparen, um Freiräume für neue Notwendigkeiten zu schaffen.
({11})
Die Hälfte dessen, was wir sparen, wollen wir der Pflege zugute kommen lassen. Wir haben ein Sozialsystem, wie es kaum ein zweites in der Welt gibt. Und wir werden alle Hände voll zu tun haben, es zu erhalten.
Aber es gibt in diesem Sozialsystem noch weiße Flecken auf der Landkarte. Und einer ist die Lage der Pflegebedürftigen. Während wir jährlich 3 Milliarden DM für Medikamente ausgeben, die im Mülleimer verschwinden, während medizinische Apparate laufen, weil sie sich bezahlt machen müssen, während Taxis Versicherte zum Arzt fahren, obwohl die Straßenbahn nebenan fährt, werden Mütter mit schwerbehinderten Kindern alleingelassen. Hier wollen wir helfen. Wir sparen auf der einen Seite, um auf der anderen Seite helfen zu können. Das ist eine Sozialpolitik, die neue Prioritäten setzt. Und nichts ist wichtiger als der Mut zur Priorität. Man kann es nicht allen recht machen.
({12})
Und die Testfrage, ob wir fähig sind, Besitzstände abzubauen, ist auch die Testfrage, der sich jeder Abgeordnete stellen muß. Es geht - meine Damen und Herren, wozu die ganze Aufregung? - um bescheidene 14 Milliarden DM aus dem großen, fast 130 Milliarden DM umfassenden Kuchen der Krankenversicherung. Diese 14 Milliarden DM, die wir jetzt unter großer Anstrengung gegen alle Widerstände sparen, sind so viel wie das Steigerungsvolumen von vier Jahren. Das ist nichts anderes, als was durch Beitragserhöhungen seit vier Jahren mehr eingenommen wurde. Hätten wir vor vier Jahren mit der Beitragssteigerung Schluß gemacht, brauchten wir jetzt diese 14 Milliarden DM nicht zu sparen. Wir nehmen also nur das Steigerungsvolumen von vier Jahren zurück - und welch ein Geschrei!
2 Milliarden DM wollen wir im Arzneimittelbereich einsparen - 2 Milliarden, nicht mehr -, in dem großen Bereich der Arzneimittel, deren Hersteller ja schließlich nicht nur von der Krankenversicherung leben, sondern auch vom Export und von Arzneimitteln, die mit der Krankenversicherung gar nicht verrechnet werden. Die Arzneimittelpreise auf der Herstellerebene sind seit 1982, meine Damen und Herren,
um 14,5 % gestiegen. Hätten sich die Hersteller der Arzneimittel seit 1982 auch nur auf dem Preisniveau der übrigen Industrie bewegt, nur die Preissteigerungen der übrigen Industrie gehabt, brauchten wir heute für Arzneimittel 1,8 Milliarden DM weniger auszugeben.
Ich will mit diesem Beispiel nur die Proportionen zurechtrücken und die Rückfrage stellen, ob die Kampagne, die hier entfacht wird, als ginge es um den Zusammenbruch einer Industrie, den Anlaß rechtfertigt. Wir sparen nicht mehr, als durch einen Gleichklang in der Preisentwicklung zwischen Arzneimittelherstellern und den industriellen Herstellern erreicht worden wäre - und welch ein Geschrei!
Wie nachgiebig das jetzige System unserer Krankenversicherung gegenüber Konsumwünschen ist - und Konsumwünsche sind nicht immer identisch mit Gesundheitsbedarf -, zeigt das, was unter dem Namen „Blüm-Bauch" in die Sozialgeschichte eingeht: die horrenden Ausgabensteigerungen aus dem ersten Halbjahr dieses Jahres. Wenn es in manchen Sektoren zu massiven Ausgabensteigerungen kam - Zahnersatz: +16,8 %, Hörhilfen: +22 % -, und zwar in einem halben Jahr, dann ist das doch der Beweis, daß das nicht einem gestiegenen Gesundheitsbedarf entspricht,
({13})
sondern daß man offenbar nur abholen muß, daß das System überhaupt keine Widerstände hat. Denn hätte es Widerstände, dann müßte es sich doch gegen eine solche Springflut der Ausgaben wehren können. Es wird doch wohl niemand sagen, die Ausgaben für Hörhilfen seien um 22 % gestiegen, weil die Hörfähigkeit der Bevölkerung in einem halben Jahr um 22 abgenommen hat. Oder will das jemand behaupten? Das gleiche gilt für die Sehhilfen.
({14})
Das zeigt, daß dieses System geradezu hilflos ist, daß es ausgebeutet werden kann.
Aber, meine Damen und Herren, wir sollten uns von der schäumenden Agitation nicht beeindrucken lassen. Denn es gibt mehr Bürger mit Einsicht, als in den Festungen des Lobbyismus bekannt ist. Vor wenigen Tagen schrieb mir ein Hals-, Nasen-, Ohrenarzt aus Essen - ich erwähne das als Beispiel für viele andere Briefe -:
Die 30 Essener Hals-, Nasen-, und Ohrenärzte haben es in ihrer Frühjahrssitzung abgelehnt, gegen den Plan, die Patienten an den Hörgerätekosten zu beteiligen, zu opponieren und Plakate auszuhängen. Wir sind im Gegenteil der Meinung, daß eine Beteiligung an den Hörgerätekosten, wenn sie 800 oder 900 DM überschreiten, richtig ist. Bekanntlich werden die Hörgeräte zur Zeit nach fünf Jahren schlagartig unbrauchbar ({15}), während Privatpatienten durchaus noch nach zehn Jahren mit ihrem Hörgerät zufrieden sind. In diesem Jahr wird der Hörgeräteverkauf sich verdoppeln.
Auch das ist eine Stimme eines Arztes. Das ist die Stimme der vielzitierten Basis vor Ort und nicht der Hochmut der Funktionäre, der auf dem Marktplatz zu hören ist.
({16})
Deshalb lassen Sie sich nicht irritieren! Ich glaube, die Einsicht in die Notwendigkeit, auch an Besitzstände mächtiger Gruppen zu gehen, ist in der Bevölkerung weiter verbreitet, als den Lobbyisten lieb ist.
Ich rufe die großen Sozialverbände um Unterstützung für unsere Reformbestrebungen auf. Ich fordere die Arbeitgeberverbände auf, uns zu unterstützen. Denn es sind nicht die Blüm'schen Lohnnebenkosten, die wir reduzieren wollen, sondern die Lohnnebenkosten, unter denen viele Unternehmen, besonders kleine und mittlere Betriebe, leiden. Ich fordere die Gewerkschaften auf, uns zu unterstützen. Denn je höher die Beiträge steigen, um so geringer werden die Spielräume der Löhne, von denen die Arbeitnehmer leben. Der Höchstbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung bei durchschnittlichen Beitragssätzen betrug 1970 98 DM. 1970! Das ist kein Jahrhundert her! Heute beträgt er 585 DM. Und das in 17 Jahren! Wenn wir nicht bremsen, fressen die Beiträge die Löhne auf. Und was die Gewerkschaften durch Lohnerhöhungen herausholen, sackt die Krankenversicherung wieder ein.
Ich fordere die großen Behindertenverbände auf, sich zur Einführung der Pflege zu äußern. Ich bitte den VdK, der in der nächsten Woche in Bonn eine große Demonstration zur Gesundheitsreform durchführen will, sich zu äußern, ob er den Durchbruch zur Pflege verhindern oder mit schaffen will.
Die Ärzte und Zahnärzte müssen sich entscheiden, ob das freiheitliche System die Zukunft ihrer Berufe weiterhin begleiten soll, oder ob sie sehenden Auges in den Konkurs dieses freiheitlichen Systems steuern wollen.
Und das sage ich mit allem Selbstbewußtsein: Wenn diese Reform scheitert, dann gibt es keinen Umbau durch Reform, sondern nur noch Abriß nach Ruin. Dann wird das System erst nach einem Ruin umgestellt, und ich fürchte, ein staatliches Gesundheitssystem wird der Erbe sein.
Wir sind keineswegs am Ziel aller Reformen. Der Krankenhausbereich, die Frage der Krankenkassenorganisation und die Entwicklung der Arztzahlen verlangen nach weitergehenden Antworten als denen, die in dieser Reform enthalten sind.
Doch wenn wir diese bescheidene Umstellung - ich nenne sie bescheiden -, in der es um nicht mehr als 14 Milliarden DM geht, nicht schaffen, dann wird es keinen Arbeitsminister geben, der nach mir die Krankenversicherung noch reformieren wird. So selbstbewußt bin ich. Wenn wir 14 Milliarden nicht schaffen: Nach mir wird es keinen geben, der diese Reform zustande bringen wird. Jetzt oder nie! Jetzt oder Ruin! Jetzt oder Gesundheitssystem! Das sind die wirklichen Alternativen.
({17})
Sie haben doch 13 Jahre Zeit gehabt - und nichts ist geschehen.
Die Arbeit ist der Fundus, aus dem alle soziale Sicherheit bezahlt wird. Verteilungsexperten übersehen den elementaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum, Arbeit und sozialer Sicherheit.
Ich plädiere nicht für ein hirnloses expansives Wachstum, sondern für ein geradezu organisches Wachstum, in dem Bedürfnisse nicht staatlich festgeschrieben und hochgerechnet werden, sondern sich ständig ändern. Und ein Wald, der wächst, verbindet mit seinem Wachstum keineswegs nur Ausdehnung, sondern auch Veränderung. Deshalb sind wir auch im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit auf Strukturwandel angewiesen, allerdings auf einen sozial gebändigten. Hier haben wir - ich sehe Gerhard Stoltenberg - zusammen mit ihm mehr Geld für Kohle und Stahl und deren soziale Bewältigung ausgegeben als je zuvor. Ich will das einmal angesichts der Vorwürfe sagen, die Blüm als großen Kürzer und Stoltenberg als Haushaltspolitiker hinstellen. Wir haben zusammen für Kohle und Stahl, für die Kumpels an Rhein und Ruhr, für die Stahlkocher, für die Werftarbeiter mehr ausgegeben als je zuvor, nicht, um den Strukturwandel zu behindern, sondern um ihn sozial zu bändigen. Deshalb ist es eine Unverschämtheit, Herr Dreßler, so zu tun, als hätten wir die Kumpels an Rhein und Ruhr im Stich gelassen, eine Unverschämtheit!
({18})
Das große Thema heißt Qualifikation. Lebenslanges Lernen darf nicht Privileg der sogenannten höheren Bildung bleiben, sondern muß fester Bestandteil in den Betrieben werden. Wir haben für die Qualifizierungsoffensive mehr Geld ausgegeben als alle Regierungen vorher zusammen einschließlich der SPD-Regierungen. Wir haben die Ausgaben für den Arbeitsmarkt verdoppelt, und die Zahl der Teilnehmer an Bildungsmaßnahmen hat sich ebenfalls verdoppelt. Die Qualifizierung war erfolgreich. Zwei Drittel der Teilnehmer haben spätestens ein Vierteljahr nach Abschluß der Bildungsmaßnahmen wieder Arbeit gefunden. Wir haben eine Rekordhöhe erreicht, die um der Solidität willen nicht weiter gesteigert werden sollte. Denn es zeigt sich, meine Damen und Herren - das ist eine wichtige Erkenntnis -, daß der Anteil der Arbeitslosen, für die die Qualifizierung die Qualifizierung der Bundesanstalt, in erster Linie gedacht ist, sinkt. 1986 lag dieser Anteil bei 66 %. Bis Mitte dieses Jahres waren es nur 58 %. Es werden zunehmend Personen gefördert, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen. Läßt sich da nicht der Verdacht formulieren, daß die Unternehmer den bequemen Ausweg suchen, bei der Bundesanstalt qualifizieren zu lassen - was eigentlich ihre Aufgabe im Betrieb wäre? Die Aufgabe der Arbeitgeber erschöpft sich nämlich nicht darin, neue Maschinen anzuschaffen, sondern sie müssen auch ihre Arbeitnehmer qualifizieren. Die Bundesanstalt darf nicht die Pflichten der Betriebe übernehmen.
Die Ausweitung der sogenannten freien Maßnahme auf dem Markt der Förderung der beruflichen Bildung hat wahrscheinlich dieses Ausweichmanöver befördert. Die entsprechenden Träger haben das verständliche Bestreben, ihre Kapazitäten zu füllen. Dafür werben sie in der Öffentlichkeit und nehmen, wen sie finden können, also auch diejenigen, die eigentlich in ihren Betrieben weitergebildet werden sollten.
Im ersten Halbjahr 1987 waren 47 % der Neueintritte in Maßnahmen zur beruflichen Bildung auf freie Bildungsangebote verteilt. Im ersten Halbjahr dieses Jahres war ihr Anteil bereits auf 60 % geklettert. Dabei lag der Anteil der Arbeitslosen nur bei 31 % der Teilnehmer bei diesen Trägermaßnahmen. Bei den gezielten Auftragsmaßnahmen der Arbeitsämter betrug der Anteil der Arbeitslosen dagegen 92 %.
Hier wollen wir in der 9. Novelle die Proportionen wieder geraderücken. Ich denke, in den Betrieben wird auch deshalb besser weitergebildet, weil der ältere Arbeitnehmer seine Weiterbildung am vertrauten Ort betreiben kann. Wir haben aus der Lehrlingsausbildung die Erfahrung, daß der Ernstfall des Lebens der beste Schulort für den Beruf ist. Diese Erfahrung aus der Jugendbildung kann auch für die berufliche Erwachsenenbildung genutzt werden.
Das zweite große Thema heißt Entkrampfung unserer Arbeitszeit. Hier liegt die Hauptverantwortung bei den Tarifpartnern. Die starren Arbeitszeitgewohnheiten sind eine der härtesten Fremdbestimmungen der Arbeitnehmer. Maßarbeit muß auch bedeuten, daß Arbeitszeiten nach dem Maß des Menschen angeboten werden. Die Arbeitszeitbedürfnisse eines 60jährigen sind sicher anders als die Arbeitszeitbedürfnisse eines 20jährigen.
Mehr Teilzeitarbeitsplätze ist eine der Antworten. Ich meine das keineswegs nur in der einfachen Form der Tagesteilung, sondern ich denke auch an Wochenteilung, Monatsteilung, Jahresteilung. Im August 1988 suchten 241 000 Arbeitslose eine Teilzeitbeschäftigung. Nur 21 000 offene Stellen waren registriert. Der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Klaus Murmann, sagte neulich in einem „Zeit"-Gespräch:
Wir könnten, glaube ich, aus dem Stand weit über 1 Million Teilzeitarbeitsplätze zusätzlich schaffen.
Gut. Mein Appell: Ans Werk. Dann fangt mal an!
({19})
Die Mutter oder der Vater, die kleine Kinder erziehen, verlangen nach anderen Arbeitszeitmaßnahmen als alleinstehende Männer und Frauen. Die große Kolonnenorganisation, die wir seit 150 Jahren mit uns schleppen, hat ausgewirtschaftet. Die moderne Technologie bietet neue Chancen der Individualisierung. Die Technik bietet neue Chancen der Selbstbestimmung auch der Arbeitszeit und Möglichkeiten, der alten Idee gerecht zu werden, Leben und Arbeit miteinander zu versöhnen, auch in einem Arbeitsrhythmus, der dem Lebensrhythmus entspricht. Menschen haben einen anderen Rhythmus als Maschinen, die angeknipst werden und wieder abgestellt werden. Deshalb können die Erwerbsphasen nicht so schroff voneinander abgeschottet werden, sondern hier muß mehr Freiheit ins Spiel gebracht werden.
({20})
Vielleicht brauchen wir auch Jahresarbeitszeiten, mehr Entscheidungsspielräume vor Ort und für den einzelnen.
Aus dieser neuen Arbeitszeitmischung sollte allerdings mit aller Kraft und - soweit es geht - der Sonntag herausgehalten werden.
({21})
Es ist eine uralte Lebensweisheit, daß der Zeitverlauf feste Punkte braucht. So wie das Jahr durch Festtage gegliedert wird, so muß die Gesellschaft auch Wochentage haben, an denen sie durchatmet, einen Tag anders als die anderen. Der Sieben-Tage-Rhythmus ist keine Erfindung der Neuzeit, er ist eine uralte Kulturerfahrung. Ihn einzuebnen hieße die Gesellschaft plattwalzen und den Menschen in einem Zeitbrei der Orientierung verlustig gehen zu lassen. Es muß halt einen Tag in der Woche geben, der anders ist als die sechs anderen.
Meine Damen und Herren, die Sozialpolitik und unsere Zeit haben große Aufgaben. Wir leben in einer spannenden Zeit, in einer Zeit der Veränderung. Die Politik braucht Mut, Klugheit, Gerechtigkeit und Maß.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das war ein Beispiel dafür, wie man einen Vortrag für die Bonner Volkshochschule zum Thema „Die philosophischen Unterschiede zwischen Kranken- und Rentenversicherung " ausweiten kann auf ein Stammtischniveau,
({0})
zu Neid, Mißgunst und mißbräuchlicher Inanspruchnahme, um dann überraschend zu Gorbatschow zu kommen und einige Unwahrheiten zu verkünden, z. B., daß die Bundesregierung die Kindererziehungszeiten finanziere, obwohl das in Wahrheit diejenigen tun, die treu und brav ihre Beiträge zur Arbeitslosenversicherung entrichten,
({1})
bis hin zu den Unwahrheiten über den tatsächlich vorhandenen Blüm-Bauch; denn der Blüm-Bauch bedeutet ja nicht, daß jedermann Zugriff auf die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung hat. Der Zugriff wird den Versicherten durch Verordnungen der Ärzte verschafft.
({2})
Und dieser Zugriff wird jetzt angestrebt, weil die Versicherten Angst haben vor den unsozialen Selbstbeteiligungen und Leistungskürzungen, die die Regierung für das nächste Jahr angekündigt hat.
({3})
Lieber Herr Blüm, ich glaube, das war eine Viertelstunde Redezeit zuviel.
({4})
Meine Damen und Herren, die Alterssicherung in der Bundesrepublik muß einer Strukturreform unterzogen werden. Rudolf Dreßler hat eindeutig darauf hingewiesen. Eine einvernehmliche Regelung ist gefragt. Wir sind dazu bereit, auch weil wir nach der Steuerreform und nach der Gesundheitsreform einen dritten Trümmerhaufen in dieser Legislaturperiode verhindern wollen.
({5})
Im Interesse der Rentner und im Interesse der Versicherten ist es geboten, nicht ein Reparaturgesetz für die nächsten Jahre, sondern eine Strukturreform für die nächsten Jahrzehnte zu verabschieden. Unabdingbar sind dabei unsere Forderungen nach einer Anhebung des Bundeszuschusses auf 20 % der Rentenausgaben und nach einem gemeinsamen Gesetzentwurf der Fraktionen von CDU/CSU, FDP und SPD.
Unsere weiteren Vorschläge zur Rentenreform sind seit langem bekannt: Wiederherstellung voller Rentenversicherungsbeiträge der Bundesanstalt für Arbeit; Ausbau der Rente nach Mindestsicherung; soziale Grundsicherung; Wertschöpfung; Teilkorrektur bei den Zugangsvoraussetzungen für den Renten wegen Erwerbsunfähigkeit und die Aufhebung der Geringfügigkeitsgrenze. Wenn es zu gemeinsamen Lösungen kommen soll, meine Damen und Herren, dann muß sich natürlich auch ein wahrnehmbarer sozialdemokratischer Anteil in diesem Reformwerk erkennen lassen.
Vor allem ist folgendes wichtig: Wenn Gemeinsamkeit einen Sinn haben soll, dann muß sie dazu führen, daß auch heikle Themen, daß auch schwierige Probleme angefaßt werden. Wenn schon eine Reform mit 90 % der Mitglieder des Deutschen Bundestages verabschiedet wird, dann muß mehr dabei herauskommen als Klientelpolitik. Dann muß dieses Parlament auch den Mut haben, sich gegenüber gut organisierten Interessengruppen durchzusetzen.
({6})
Dabei denke ich vor allem an die Harmonisierung der Altersicherungssysteme. Jetzt ist die Gelegenheit zu einer wirklichen Reform, bei der die unvermeidbaren demographischen Belastungen nicht nur bei den Rentnern der gesetzlichen Rentenversicherung und den beitragszahlenden Arbeitern und Angestellten abgeladen werden.
Ich empfehle Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, eine Lektüre unserer Parteitagsbeschlüsse aus Münster. Sie werden dabei feststellen, daß wir die Eigenständigeit der beamtenrechtlichen Versorgung nicht antasten wollen, wie manche aus Ihren Reihen unsinnigerweise unterstellen. Uns kommt es darauf an, daß sich auch in der Beamtenversorgung die Belastungen aus der demographischen Entwicklung widerspiegeln. Das wird im Grunde auch von niemandem mehr bestritten, nicht einmal von Herrn Zimmermann oder auch nicht einmal vom Beamtenbund. Wir legen besonderen Wert darauf, daß die strukturellen Anpassungen in diesem Gebiet zusammen mit der Rentenreform vorgenommen werden. Wir wollen dabei, daß die sozialen Be6294
lange der Beamten der unteren und mittleren Besoldungsgruppen besonders berücksichtigt werden.
Nun ein Wechsel vom Konsensthema zu einem Konfliktthema, meine Damen und Herren. Lothar Späth wird immer lustloser, je länger die Diskussion um das Gesetz dauert. So sagt er, und er meint das sogenannte Gesundheitsreformgesetz. Fürs Fernsehen sagt der Bundesarbeitsminister: Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag zur Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung leisten; die Reform darf nicht mit einseitigen Belastungen verbunden werden. In Wirklichkeit - das ist eben wieder betont worden - werden 14 Milliarden DM bei den Versicherten abkassiert. die in der Tat krank sind.
Wir hatten Ihnen, Herr Blüm, hier Gemeinsamkeit angeboten. Eine Enquete-Kommission des Bundestags, hochkarätige Wissenschaftler und fachkundige Abgeordnete sollten dafür eine Grundlage erarbeiten. Aber Sie lehnen ab. Es geht Ihnen im Zweifel nicht mehr um die Schwachen, sondern es geht Ihnen um das Geld der Schwachen. So ist Ihr Gesetzentwurf aufgebaut.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat in einem mehr als 40stündigen Anhörungsmarathon nahezu 200 Sachverständige zum Blüm-Entwurf befragt. Das Ergebnis bestätigt unsere Forderung: Dieser Gesetzentwurf muß zurückgezogen werden. Lesen Sie, Herr Blüm, unsere Beschlüsse im Sozialpolitischen Programm von Münster, lesen Sie einmal nach, wie Strukturen verändert werden können und wie ein ständiger Abkassierungsvorgang, den Sie einführen wollen, verhindert werden kann.
Die „Welt" schrieb am 31. August zu Blüms angeblichem Kampf gegen die Interessenverbände:
Er werde nicht vor den Interessengruppen in die Knie gehen, hat Blüm gesagt. Es scheint, als habe er es unterlassen, wieder aufzustehen. Denn um die anfänglichen allseitigen Widerstandsdrohungen ist es still geworden. Niemand protestiert mehr. Experten bestätigen, daß Blüms ursprüngliches Konzept erledigt sei.
Nach einem Hinweis auf ihre Überforderung heißt es dann:
Dennoch sollte lieber nichts geschehen, als daß etwas Falsches geschieht, nur damit überhaupt etwas geschieht.
({7})
- Dazu komme ich, Herr Blüm.
Selbst Konservative sagen also: So nicht, Norbert Blüm! Offenbar geht es Ihnen nur noch ums Durchhalten und darum, das Gesicht nicht zu verlieren,
({8})
denn die Zweifel in Ihren eigenen Reihen mehren
sich, ob dieser Entwurf sozial noch vertretbar ist. Der
Wind der öffentlichen Meinung bläst Ihnen ins Gesicht.
({9})
- Ein wenig Geduld, Herr Blüm, ich komme dazu. 60 % der Bürger sagen, diese Reform belastet ausschließlich die Versicherten.
({10})
- Ist es Ihnen peinlich, was ich sage?)
Mehr Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln, mehr Selbstbeteiligung bei Heil- und Hilfsmitteln
({11})
- den Bürger mit der typischen Kassenbrille werden wir alle bald wieder auf der Straße erkennen können -, mehr Selbstbeteiligung beim Zahnersatz, Selbstzahlen der Fahrt zum Arzt, höhere Selbstbeteiligung bei Fahrten ins Krankenhaus, Kürzungen der Zuschüsse beim Kururlaub, Streichen des Sterbegeldes für die Jüngeren, damit werden die Kranken und die Hinterbliebenen bestraft.
({12})
- Sie zahlen mit ihren Opfern spätere Leistungen im Pflegebereich. Das machen Sie mit dem Geld.
({13})
Die Kranken zahlen Pflegeleistungen aus der zusätzlichen Selbstbeteiligung, und Sie stehlen sich aus der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung, die Sie für den Pflegebereich haben.
({14})
- Das Ganze, Herr Blüm, nennen Sie „Solidarität neu bestimmen". Ich kann dazu nur sagen: Mit dem Begriff „Solidarität neu bestimmen" verhöhnen Sie die Opfer Ihrer Politik.
({15})
Vom Solidaritätsbeitrag, meine Damen und Herren, der Pharmaindustrie in Höhe von 1,7 Milliarden DM
- ohne den wollten Sie den Gesetzentwurf hier gar nicht vorlegen ({16})
ist keine Rede mehr. Kaum etwas passiert im Krankenhausbereich, dem kostenträchtigsten Teil der Krankenversicherung. Hier fehlte der Mut. Auch zur Organisationsstruktur hat der Gesetzentwurf die zentralen Probleme ausgeklammert.
1 000 DM, 1 400 DM im Jahr mehr an Beitrag für den Arbeitnehmer, in Norddeutschland gegenüber einem Arbeitnehmer in Süddeutschland,
({17})
der gleiche Betrag mehr an Arbeitgeberanteil für einen Arbeitgeber, der seinen Versicherten bei der AOK in Norddeutschland versichert hat, gegenüber einem in Süddeutschland bei einer Allgemeinen Ortskrankenkasse Versicherten! Sind das nicht unerträgliche Beitragsunterschiede?! Aber Sie, Herr Blüm, haHeyenn
ben nicht den Mut, institutionelle Erbhöfe anzutasten.
({18})
Insgesamt die Note „mangelhaft" für diesen Gesetzentwurf! Für mich bedeutet das Festhalten an diesem Machwerk schon das Aufzeigen irrationaler Züge.
({19})
- Gesellschaftliche Prävention, das ist die Alternative. Inhaltliche Orientierung für das Gesundheitswesen, das ist die Alternative.
({20})
Feststellen im regionalen Bereich, welcher Bedarf vorhanden ist, wo Überversorgung besteht, wo Unterversorgung besteht.
({21})
- Die Beteiligten, die Krankenkassen als Vertreter der Versicherten, die Leistungsanbieter, die kommunal gewählten Vertreter stellen das fest.
Modernisierung der Krankenversicherung, neue Rechte für die Selbstverwaltung, eine vernünftige Zahl an Medikamenten zu vernünftigen Preisen, das sind Inhalte aus unserem Programm, die sich der Bundesarbeitsminister nicht anhören mag, denn unser Programm stellt den Menschen und nicht die Abkassierung des Versicherten in den Mittelpunkt.
({22})
- Haben Sie eben zugehört?
({23})
Ich will, weil Norbert Blüm unsere Vorschläge ansonsten mit dem Hinweis auf den Gesundheitssowjet diffamiert, kurz auf das unheimliche Verwirrspiel eingehen, das er mit den Patienten treibt, auf die gigantische Bürokratie, die er schafft. Norbert Blüm hat eben gesagt, die Durchschaubarkeit der Systeme müsse verbessert werden. Ich will auf die Arzneimittelversorgung kurz eingehen, immerhin die häufigste Leistung im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung. Hier wird der Patient in einen Nebel getaucht, damit man ihm das Geld besser aus der Tasche ziehen kann.
Nehmen wir an, ein Patient geht in die Apotheke. Vier rezeptpflichtige Arzneimittel will er kaufen, alle vom Arzt verordnet. Das Abführmittel muß er als Bagatellarzneimittel voll bezahlen. Für ein anderes Mittel, das ihm vom Arzt, abweichend von den Festbetragspräparaten, empfohlen worden ist, zahlt er die Preisdifferenz zum Festbetrag. Für ein drittes Mittel, wo es noch keinen Festbetrag gibt, zahlt er eine Rezeptblattgebühr von 3 DM, und schließlich das Monopräparat mit Festbetrag, das bekommt er kostenlos. Hier ist doch die Verwirrung vollkommen. Medizinisches Versorgungssystem und Krankenversicherung scheinen nur noch bedingt etwas miteinander zu tun zu haben.
Ein anderes Beispiel: Zahnersatz, wo jetzt systemwidrig die Kostenerstattung eingeführt wird. Der Versicherte muß das vorher auslegen, und er weiß nicht, wann er es von der Kasse zurückbekommt. Sie unterscheiden, es gibt differenziert Zuschüsse. Für zahntechnisch aufwendige Versorgungsformen gibt es einen Zuschuß von 40 %, für mittlere Versorgungsformen einen Zuschuß von 50 % und für einfache Versorgungsformen einen Zuschuß von 60 %. Die Krankenkasse muß nun aber noch in die Reihe bekommen, daß die Gesamtaufwendungen für Zahnersatz 50 % nicht überschreiten dürfen. Je nachdem, wie aufwendig der notwendige Zahnersatz nun ist, erhält der Versicherte unterschiedliche Zuschüsse. Wie kann er das wissen? Wie kann er seine mittelfristige Finanzplanung einrichten, es sei denn, der Schwerpunkt der zahnärztlichen Behandlung wird auf die ausführliche Erläuterung der Gebührenordnung verlegt?
Damit aber nicht genug, wenn der Patient regelmäßig jedes Kalenderjahr zur Untersuchung beim Zahnarzt war, kann sich der Zuschuß um 10 % erhöhen. Wenn er in den letzten 10 Jahren halbjährlich beim Zahnarzt war, kann er sich um 15 % erhöhen. 40, 50, 60 Prozent plus 10 Prozent plus 15 Prozent:
({24})
Abgesehen davon, daß dies ein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm für Zahnärzte ist, müssen also Versicherte und Krankenkassen lebenslänglich die Zahnarztbesuche kontrollieren. Wer weiß von uns noch, ob er im Oktober 1980 beim Zahnarzt war?
Ich muß Ihnen zugestehen, Herr Blüm, dieses GRG hat auch eine bildungspolitische Komponente, denn der Patient muß nicht nur gesund werden wollen, er muß aufschreiben, notieren, er muß lesen, er muß rechnen, er muß sein Tagebuch führen, um mit Ihren 40, 50, 60 Prozent, mit Ihren 10 und 15 Prozent zurechtzukommen. Bürokratie im Übermaß! Auch dies ist ein deutlicher Hinweis auf die Unsinnigkeit dieses Gesetzes.
Noch einmal fordere ich die Koalition und den Bundesarbeitsminister auf: Haben Sie Mut und trennen Sie sich von diesem Abkassierungsmodell, öffnen Sie sich einem wirklichen Konzept zur Reform, öffnen Sie sich einem Konzept, das die Strukturprobleme löst und das den Menschen und seine Gesundheit in den Mittelpunkt stellt.
Vielen Dank.
({25})
Meine Damen und Herren, ich bin nicht böse, daß ich jetzt feststellen darf: weitere Wortmeldungen liegen für die heutige Sitzung nicht vor.
Die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages berufe ich auf morgen, Freitag, den 9. September 1988, um 9 Uhr ein.
Ich wünsche den Damen und Herren einen angenehmen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.