Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, wir setzen die Aussprache über Punkt 1 der Tagesordnung und den Zusatztagesordnungspunkt fort:
1. a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1989 ({0})
- Drucksache 11/2700 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Der Finanzplan des Bundes 1988 bis 1992
- Drucksache 11/2701 Überweisung: Haushaltsausschuß
ZP Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1988
({1}) - Drucksache 11/2650 Überweisung: Haushaltsausschuß
Die Aussprache soll heute etwa gegen 18 Uhr beendet werden. Die Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Wir treten in die Beratungen ein. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte meine Rede ebenso wie gestern Herr Kollege Wieczorek mit einem
Wort des Dankes und der Hochachtung für Hans Apel beginnen.
({0})
Ich bedaure die Entscheidung, die er getroffen hat, aber ich respektiere sie. Und ich danke ihm auch für die noble und faire Art, in der er diese Entscheidung begründet hat.
Ich danke aber auch dem Bundesfinanzminister, Herrn Kollegen Stoltenberg, für das, was er gestern zu Hans Apel gesagt hat. Das war guter Stil; das war fair.
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Andere aus den Reihen der Union, die Hans Apel jetzt gegen seine Partei und seine Fraktion auszuspielen versuchen, sind von dieser Fairneß leider weit entfernt. Ich frage Sie, meine Damen und Herren: Hat es denn nicht auch in Ihren Parteien und Fraktionen Wahlentscheidungen gegeben, die für die Betroffenen schmerzlich und bitter waren? Und haben die so Betroffenen stets mit der Souveränität reagiert, die Kollege Apel an den Tag gelegt hat? Ich meine, ein jeder sollte vor seiner Türe kehren. Es erscheint auch wenig überzeugend, wenn jetzt gerade diejenigen ihr Herz für den Kollegen Apel entdecken, die ihn noch gestern kritisiert und aufs schärfste verurteilt haben.
({2})
Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Politik kritisiert werden - und dazu besteht ja in diesen Monaten mehr Anlaß denn je - , dann vermeiden Sie es in aller Regel, auf die Kritik und die konkreten Fragen einzugehen, die in diesem Zusammenhang gestellt werden. Sie sind kein Freund solcher Dialoge. Statt dessen antworten Sie stereotyp ein um das andere Mal mit dem Vorwurf, die Kritiker malten ein Horrorgemälde, das mit der Realität nicht übereinstimme, so auch gestern in einer langen Passage.
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- Ich freue mich, daß Sie meiner Bewertung des Verhaltens des Bundeskanzlers, das ich kritisiere, zustim6114
men, meine Damen und Herren. Das hatte ich an der Stelle nicht erwartet.
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Dieser Vorwurf, Herr Bundeskanzler, greift nicht. Er ist, was uns betrifft - um es mit Ihren eigenen Lieblingsworten zu sagen -, dumm, absurd und töricht. Sicher, wir haben wenig Anlaß, Sie zu loben.
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- Na hören Sie, ich darf doch den Bundeskanzler zitieren. Das ist doch sein Lieblingsspruch: dumm, absurd und töricht. Warum darf ich das nicht?
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Wir haben wenig Anlaß, Sie zu loben oder Sie gar gegen die Kritik aus Ihren eigenen Reihen in Schutz zu nehmen. Wir finden auch Ihre Selbsteinschätzung, Ihre Regierung sei die erfolgreichste Europas, eher anmaßend als erheiternd. Aber wir stimmen mit denen überein, die sagen, daß die Bundesrepublik schon unter den sozialdemokratischen Bundeskanzlern Brandt und Schmidt eines der reichsten Länder der Erde war und das bis heute geblieben ist. Das ist die Wahrheit.
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Daß unser Bruttosozialprodukt in den letzten fünf Jahren um 385 Milliarden DM gestiegen ist, zeigt, was unsere Volkswirtschaft ungeachtet aller Schwierigkeiten bis heute zu leisten vermag und mit welchem Fleiß und mit welcher Qualifikation die am Wirtschaftsprozeß Beteiligten tätig sind. Wir haben allen Grund, denen, die auf diese Weise auch die Mittel erarbeitet haben, über die wir in diesem Haushalt verfügen wollen, für ihre Anstrengungen zu danken. Das tue ich im Namen meiner Fraktion,
({8})
vor allem an die Adresse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch an die Adresse der Männer und Frauen in den Unternehmensleitungen und an die Adresse der Selbständigen, der Handwerker und derer, die als kleine und mittlere Unternehmer in ihren eigenen Betrieben tätig sind.
Dem werden Sie kaum widersprechen. Aber wahrscheinlich empfinden Sie schon die Feststellung als störend, daß zur Steigerung unseres Sozialprodukts in beträchtlichem Umfang günstige Außenbedingungen wie etwa die gesunkenen Öl- und Rohstoffpreise beigetragen haben. Daß also ein Teil unseres Wohlstandes aus Einbußen, ja, aus dem Hunger und der Not der Dritten Welt stammt.
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Daß unsere Lebenshaltungskosten vor allem auch deshalb relativ stabil geblieben sind, weil die Einkommen der Menschen in anderen Teilen der Erde drastisch gesunken sind und noch weiter sinken.
Das zu sagen ist nicht populär. Aber es ist die Wahrheit, eine Wahrheit, die übrigens gerade im Vorfeld der Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Berlin nicht verschwiegen werden darf, und eine Wahrheit, aus der konkrete Folgerungen gezogen werden müssen.
Ebenso notwendig sind zwei weitere Hinweise. Nämlich einmal der Hinweis darauf, daß das gestiegene Sozialprodukt nicht automatisch mit einer Steigerung des sozialen Nutzens gleichgesetzt werden kann, weil eben in die herkömmliche Berechnung des Sozialprodukts beispielsweise die Schäden, die bei seiner Erzeugung in der Umwelt verursacht, und die Belastungen, die den kommenden Generationen auferlegt werden, gar nicht eingehen. Erfreulicherweise arbeitet das Statistische Bundesamt an einem neuen Berechnungsverfahren, das diese negativen Aspekte, aber auch die positiven, der in Familie und Haushalt geleisteten Arbeit, die auch nicht in dieses Sozialprodukt eingerechnet werden, einbeziehen soll. Beides entspricht unseren Forderungen. Wir sollten die daran Beteiligten deshalb ausdrücklich ermutigen und uns als Bundestag über den Stand der Arbeiten bald unterrichten lassen. Denn gerade für politische Entscheidungen gilt, daß sie nur dann konstruktiv sein können, wenn sie von zutreffenden und vollständigen, nicht aber von lückenhaften oder manipulierten Sachverhalten und Zahlungsgrundlagen ausgehen können.
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Der zweite Hinweis - dazu habe ich gestern, Herr Kollege Stoltenberg, Ausführungen vermißt - zielt darauf, daß die weltwirtschaftliche Gesamtsituation, in der unsere Volkswirtschaft ihre Ergebnisse erarbeiten muß, nach wie vor labil ist. Viele haben den 19. Oktober 1987, den Tag des internationalen Börsenkrachs, sehr schnell aus dem Gedächtnis verdrängt. Aber die Fakten, auf denen die Instabilitäten beruhen, sind nach wie vor existent, ja, sie haben zum Teil noch an Gewicht zugenommen. Das gilt für die hohen Leistungsbilanzüberschüsse Japans und der Bundesrepublik, für die Überschuldung der Dritten Welt - ein Instabilitätsfaktor ersten Ranges - ebenso wie für die latenten Handelskonflikte zwischen den USA und der EG, die unter Kontrolle gebracht werden müssen. Das gilt aber auch - das sagen ich bei aller Freundschaft - für die gigantischen Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite der USA, die in den letzten zwölf Monaten erneut gewachsen sind und die inzwischen zu einer fast unvorstellbaren Außenverschuldungssumme der Vereinigten Staaten in Höhe von ungefähr 550 Milliarden US-Dollar geführt haben.
Wir sind gut beraten, uns darauf einzustellen, daß der nächste amerikanische Präsident die Dinge nicht weiter treiben lassen, sondern einschneidende Maßnahmen ergreifen wird. Denn wer auch immer der Präsident sein wird, er weiß: Amerika kann nicht mehr lange in der bisherigen Weise über seine Verhältnisse leben.
({11}) Das ist eine Frage, die die ganze Welt betrifft.
Aber mit diesen Feststellungen enden die Fragen nicht, die wir an Sie zu stellen haben. Hier beginnen sie. So frage ich zunächst einmal, Herr Bundeskanzler, was denn mit dem Reichtum geschehen ist, den die vielen in gemeinsamer Anstrengung geschaffen haDr. Vogel
ben. Wozu wurde er denn verwendet? Wem ist er denn zugute gekommen? Sie sagen, Leistung lohne sich jetzt wieder. Herr Bundeskanzler, welche Leistungen meinen Sie da eigentlich? Offenbar doch nicht die Leistungen, die von der Arbeitnehmerschaft erbracht werden; denn der Anteil der Einkommen aus unselbständiger Arbeit am Nettovolkseinkommen ist seit Ihrem Regierungsantritt von mehr als 66 % auf unter 57 % gesunken.
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Gestiegen ist hingegen der Anteil der Unternehmens- und Vermögenserträge von 34 auf über 43 %. Allein die Unternehmensnettogewinne - ich nehme ausdrücklich die Zahl, bei der die Steuern und Abgaben der Unternehmen bereits abgezogen sind - haben im Durchschnitt der letzten fünf Jahre um jährlich 12 To zugenommen,
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und das bisher bei konstant sinkenden Investitionsraten und ebenso konstant steigenden Geldanlagen - nicht Investitionen im Ausland, sondern Geldanlagen der deutschen Wirtschaft im Ausland.
Sie können sagen, was Sie wollen, Herr Bundeskanzler: Die Zahlen beweisen, daß in Ihrer Regierungszeit die einschneidenste Einkommensumverteilung in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland stattgefunden hat,
({14})
und zwar von unten nach oben, und daß der umverteilte Reichtum nicht - dies wäre dann ja noch eine Entlastung - in dem erforderlichen Maß zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zum Schutz der bedrohten und zur Wiederherstellung der zerstörten Umwelt oder für die ökologische und strukturelle Erneuerung unserer Volkswirtschaft eingesetzt worden ist, daß er vielmehr im Übermaß in zinsträchtige Auslandsdepots geflossen ist. Es fehlt nicht an den Mitteln. Es fehlt am politischen Willen, diese Mittel auf die Aufgaben zu konzentrieren.
({15})
Durch Ihre Steuergesetzgebung haben Sie diese Umverteilung noch beschleunigt und verschärft. Und den öffentlichen Händen das Geld genommen, das sie so dringend für die Erfüllung elementarer Aufgaben brauchen. Das ist der eigentliche Skandal. Natürlich gibt es viele zusätzliche Detailskandale, etwa die Sache mit dem Flugbenzin über die Sie auf Grund des von uns eingebrachten Gesetzentwurfs - wir helfen der Bayerischen Staatsregierung, die das ja im Bundesrat in Gang setzen will; wir sind ja gar nicht so - noch vor der Verabschiedung des Haushalts erneut abstimmen und befinden können. Die Rückkehrer, die diesmal anders stimmen, die diesmal mit uns stimmen, werden herzlich begrüßt. Herzlich willkommen!
({16})
Ein Detailskandal, der bisher nicht so richtig bemerkt worden ist, ist auch die Amnestie für diejenigen, die ihre Zinsen nicht versteuert haben und die jetzt erstmals nicht nur von der Strafe, sondern auch von der Nachentrichtung der hinterzogenen Steuern
freigestellt werden, und zwar auch dann, wenn es sich um Beträge in Millionenhöhe handelt. Über Amnestie kann man mit uns reden. Aber daß nicht nur die Strafen, sondern als Prämie auch noch die hinterzogenen Steuern erlassen werden, das ist ein Skandal, der dem mit dem Flugbenzin nahekommt.
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Ein Detailskandal ist auch die Aufhebung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Ich höre gerne, daß gerade die Bayerische Staatsregierung hier einen vergeblichen Kampf geführt hat, aber letzten Endes haben ja auch Sie, Herr Kollege Waigel, und die CSU-Abgeordneten der Beseitigung der Wohnungsgemeinnützigkeit zugestimmt.
({18})
Ich frage mich, ob nicht gerade in Anbetracht der Aussiedler und der Wohnungsnot, die neuerdings entsteht,
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diese Beseitigung der Wohnungsgemeinnützigkeit eine verheerende Geschichte war!
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Diese Detailskandale sind schlimm genug. Sie sagen etwas über die Interessenlage derer, die Derartiges beschließen. Aber daß wir uns alle - das gilt auch für uns - so intensiv damit beschäftigen, lenkt eigentlich vom Kern der Sache ab. Der Kern der Sache liegt darin, daß Sie die Verbrauchsteuern - - Herr Kollege Bangemann, ich möchte die Kabinettsberatungen auf der Regierungsbank nicht stören.
(Zustimmung bei der SPD -
Sie wissen doch, daß das keine Kabinettsberatung ist!)
- Nein, das ist keine Kabinettsberatung, sondern offenbar eine Elefantenrunde.
({0})
Ich muß den Gedankengang noch einmal beginnen: Der Kern der Sache liegt darin, daß Sie die Verbrauchsteuern im Jahre 1989 um rund 10 Milliarden DM erhöhen, während Sie die Einkommensteuer der Steuerpflichtigen mit mehr als 100 000 DM Jahreseinkommen ab 1990 um den gleichen Betrag, um 10 Milliarden DM, senken. Das heißt, die breiten Schichten derer, die Mineralöl, Erdgas oder Tabak verbrauchen, also auch Rentner und Arbeitslose, müssen das aufbringen, was Sie den Beziehern hoher und höchster Einkommen zuwenden. Das ist der eigentliche Skandal.
({1})
Herr Bundeskanzler, haben Sie eigentlich eine Vorstellung,
({2})
was sich Normalverbraucher denken, wenn sie jetzt von einer Automobilfirma in Anzeigen mit folgendem Text zum Kauf eines „Panda" zum Preis von 20 000 DM aufgefordert werden. Da steht - Herr Bundeskanzler, ich überreiche es Ihnen dann auch gerne - : „Nach der Steuerreform spart" - jetzt kommt wohl
nackter Hohn - „ein nicht ganz durchschnittlicher Angestellter mit einem Jahreseinkommenm von 220 000 DM jedes Jahr einen Panda". Unten geht es weiter: „Für alle, die durch die Steuerreform weniger oder nicht sparen, hat die Kreditbank ein besonderes Angebot bereit."
({3})
Meine Damen und Herren, das ist doch eine offene Verhöhnung.
({4})
- Ich lese es gerne noch einmal vor, wenn Sie Zweifel haben.
Wie sagte doch Herr Kollege Stoltenberg an dieser Stelle vor einem Jahr? Er sagte, man müsse schon sehr weit von der Lebenswelt der arbeitenden Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen entfernt sein, um ständig wahrheitswidrig zu behaupten, diese Steuerpolitik diene den Reichen. Herr Stoltenberg, gerade auch auf Grund dieser Anzeige wiederhole ich die Behauptung: Diese Steuerreform dient den Reichen, denen, die nicht zur Kreditbank gehen müssen, sondern sich als nicht ganz durchschnittliche Angestellte mit 220 000 DM Jahreseinkommen jedes Jahr zusätzlich einen „Panda" kaufen können.
({5})
Ähnlich, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, treiben Sie es mit den Ländern und Gemeinden. Während der Bund 1990 aus dem Saldo Ihrer Steueränderungen noch einen Vorteil von rund 500 Millionen DM zieht - bei all diesen Operationen, die ja keiner mehr so richtig durchschaut, hat der Bund am Schluß 1990 500 Millionen DM mehr - , bezahlen Länder und Gemeinden die Zeche mit bitteren Einbußen. Länder und Gemeinden verlieren 1990 mehr als 11 Milliarden DM. Denn, von den Verbrauchsteuererhöhungen - listig ausgeguckt - erhalten die Gemeinden keinen Pfennig - sie müssen sogar noch zahlen - und die Länder nur rund 870 Millionen DM. Die sogenannte Albrecht-Initiative, die inzwischen in allerlei CDU-internen Zirkeln und Runden immer mehr verwässert wird - am Sonntagabend in dem vorgezogenen Präsidium hat es ja wieder keine Einigung gegeben, so hören wir -, ist doch nur eine Notwehr der Länder und des Herrn Albrecht gegen diesen Anschlag.
({6})
Aber selbst wenn diese Notwehr halbwegs gelingt, stehen die strukturschwächeren Länder nach den ganzen Steueroperationen schlechter da, als sie ohne diese unvernünftigen Steuersenkungen dastehen würden. Also selbst wenn die Albrecht-Initiative gelingt, dann stehen Niedersachsen und die anderen Länder immer noch schlechter da als vor der Steueroperation. Das zeigt doch den ganzen Widersinn und die Konzeptionslosigkeit Ihrer Steuer- und Finanzpolitik.
({7})
Sie spüren inzwischen selbst, daß Ihre sogenannte Steuerreform von allen Seiten abglehnt wird. Und zwar auch von den Begünstigten. Ich muß sagen: Es
ist ein gutes Zeichen für den sozialethischen Zustand unserer Gesellschaft, daß sich auch Begünstigte gegen diese Geschenke wehren.
({8})
Herr Rommel, über den Sie jetzt gerade lachen, ist ja nicht der einzige, der das ausdrücklich sagt und erklärt, er wolle den ihm zuteil werdenden Steuernachlaß in Höhe von rund 20 000 DM gar nicht haben; er wolle lieber, daß seine Stadt und die Gemeinden das notwendige Geld für ihre Aufgaben behalten.
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Daß hier ein problematischer Punkt liegt, Herr Bundeskanzler, konnte man auch an Ihrem Schriftwechsel mit dem Präsidenten des Bundes der Steuerzahler erkennen. Sie meinen, das komme alles daher, daß die Sache von den Herren Ost und Stoltenberg schlecht verkauft worden sei. Dann sagen Sie, daß die Leute neidisch seien und daß sie nicht Bescheid wüßten. Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Sie täuschen sich auch hier. Die allgemeine Ablehnung beruht nämlich gerade darauf, daß die Leute sehr gut Bescheid wissen. Und wenn noch mehr Anzeigen dieser Art kommen, dann wissen die Leute noch besser Bescheid - sie haben die soziale Ungerechtigkeit und die ökonomische und finanzpolitische Unvernunft Ihrer Steuergesetzgebung erkannt. Nicht die Verpackung ist schlecht. Herr Ost müht sich doch redlich Tag und Nacht um die Verpackung. Er ist doch Tag und Nacht mit einem wachsenden Stab tätig. Nicht die Verpakkung ist schlecht, die Ware taugt nichts, die Sie verkaufen!
({10})
Mit Ihren Steueroperationen steht die Entwicklung der Verschuldung in engem Zusammenhang. Herr Kollege Wieczorek hat sich damit und auch mit den ungedeckten Risiken des vorliegenden Haushaltsentwurfs in Milliardenhöhe bereits gestern sorgfältig auseinandergesetzt. Ich beschränke mich deshalb auf zwei Feststellungen.
Herr Stoltenberg und auch Sie, Herr Bundeskanzler, wollen nach Ihrer Finanzplanung in neun Jahren mehr Schulden machen als die sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen Brandt und Schmidt vorher in 13 Jahren. 1988 verzeichnen Sie die höchste Schuldaufnahme in der Geschichte der Bundesrepublik. Herr Stoltenberg, es wäre hoch an der Zeit, daß Sie sich für die maßlosen Vorwürfe der Jahre 1980 und 1981 bei Hans Matthöfer und bei Hans Apel entschuldigen und sagen, daß Sie jetzt in genau der gleichen Lage sind.
({11})
Übrigens, damit Sie uns dann nicht etwas vorhalten, wenn Sie wieder in der Opposition sind
({12})
- das hat der Herr Stoltenberg in Schleswig-Holstein auch gesagt; seien Sie da vorsichtig! -:
({13})
Wir lehnen Kreditaufnahme nicht grundsätzlich ab;
sie können vernünftig, ja, sogar notwendig sein, aber
dann - hier trennen sich unsere Wege - für investive, für arbeitsplatzschaffende Zwecke, nicht zur Finanzierung von Steuergeschenken. Das ist der Unterschied.
({14})
Die nächste Frage ist die nach der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit. Die Zahlen, auch die jüngsten vom 31. August dieses Jahres - wir freuen uns über jeden, der einen Arbeitsplatz bekommt -, sind nach wir vor bedrückend - das werden auch Sie nicht bestreiten - , insbesondere die Zahl derer, die länger als ein Jahr arbeitslos sind. Das sind rund 800 000 Männer und Frauen. Auf Grund der Denkschrift der Kammer für soziale Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich der Arbeits- und Sozialausschuß des Bundestages vor der Sommerpause mit dem Schicksal gerade der Langzeitarbeitslosen befaßt und nach einer eindrucksvollen Anhörung eine gemeinsame Initiative in Aussicht genommen. Ich begrüße das ausdrücklich und bitte, daß aus dieser Absicht bald eine konkrete Aktivität wird.
Meine Damen und Herren, wir wollen im nächsten Jahr das 40jährige Jubiläum der Bundesrepublik feierlich begehen. Ich meine, über diese Feier fiele ein schwerer Schatten, wenn wir bis dahin für diese Menschen in ihrer verzweifelten Lage nicht einen deutlichen Fortschritt erzielt hätten.
({15})
Vieles von dem, was bei dieser Gelegenheit über den Sozialstaat Bundesrepublik oder Solidarität und Mitmenschlichkeit gesagt werden wird, hätte sonst einen überaus schalen Beigeschmack. Ich meine, wir würden uns als Bundesrepublik Deutschland das schönste Geschenk machen, wenn wir durch eine gemeinsame Anstrengung wenigstens für diese Menschen einen sichtbaren Fortschritt bis zum Jubiläum erreichen.
({16})
Aber das ist nur ein Teilaspekt. Es geht um die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit insgesamt und um eine Wirtschaftspolitik, die sich an diesem Ziel orientiert. Unsere Vorschläge für eine solche Politik liegen auf dem Tisch. Sie waren Gegenstand lebhafter und auch kontroverser Diskussion, auch in unseren eigenen Reihen und zwischen uns und den Gewerkschaften. Manche haben sich über diese Diskussion verwundert und beunruhigt gezeigt. Andere haben gemeint, sie könnten bei dieser Gelegenheit wieder einmal ein parteipolitisches Süppchen kochen. Denen sage ich:
Erstens. Streit an sich ist weder positiv noch negativ, es kommt darauf an, worüber gestritten wird. Sie, meine Damen und Herren, haben wochenlang darüber gestritten, ob Hobbyflieger von der Steuer befreit werden, wir ringen darum, wie die gesellschaftliche Krankheit der Massenarbeitslosigkeit geheilt werden kann. Das zeigt, welches Thema wem wichtig ist.
({17})
Zweitens. Die wirtschaftspolitische Diskussion, vor allem aber die Diskussion über die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, wird seit Monaten nahezu - auch kontrovers - von Sozialdemokraten und Gewerkschaftlern bestritten. Sie spielen dabei jetzt eher eine Zuschauerrolle und begnügen sich mit mehr oder weniger geistreichen Zwischenrufen. Wo bleiben denn eigentlich Ihre inhaltlichen Positionen? Bis auf Herrn Biedenkopf, der sich in einer sehr bedenkenswerten Weise geäußert hat, erscheinen Sie zu dieser Debatte nahezu sprachlos.
({18})
- Genügt denn schon die Nennung des Namens Biedenkopf, daß Sie in Heiterkeit ausbrechen, meine Damen und Herren? Denken Sie an das, was ich zu Beginn über den Umgang gesagt habe!
({19})
Drittens. Hoffen Sie nicht darauf, Sie könnten aus diesen Kontroversen Honig saugen! Ich sage Ihnen, Sie schneiden sich immer ins eigene Fleisch, ganz gleich, ob Sie im konkreten Fall Herrn Steinkühler oder Herrn Lafontaine zustimmen. Für Sie kommt da nie etwas Gutes und Positives heraus.
Außerdem sollten Sie sich nicht täuschen: Sozialdemokratie und Gewerkschaften respektieren wechselseitig ihre jeweils eigene Verantwortung. Die deutschen Gewerkschaften - ich sage das auch von dieser Stelle aus - sind Einheitsgewerkschaften, keine Parteigewerkschaften, und die SPD ist keine Gewerkschaftspartei.
({20})
Ich muß wirklich sagen: Ihre emotionalen Bedürfnisse sind mit geringen Beiträgen zu befriedigen - wenn ich Ihre Heiterkeitsausbrüche richtig zuordne.
({21})
Sie müssen schon ziemlich down sein, daß Sie glauben, schon an diesen Stellen lachen zu können. Es kommt noch eine Stelle, da werden Sie in besonders große Heiterkeit ausbrechen. Warten Sie mal ab!
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Sie sollten sich nicht täuschen: Wir wissen, daß Gewerkschaften und Sozialdemokratie aus der gleichen Wurzel hervorgegangen sind, und wir wissen auch sehr gut, daß die Schwächung des einen in aller Regel auch die Schwächung des anderen und zumeist eine Stärkung der konservativen, wenn nicht sogar der reaktionären Kräfte in unserem Volk bedeutet.
({23})
Darum werden wir Sozialdemokraten Konflikte, zu denen es im Einzelfall immer wieder kommen wird, stets so austragen, wie es der Grundsatz der Solidarität gebietet.
Ich sagte, unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; wir haben sie in Münster beschlossen. Wir wissen, daß die Massenarbeitslosigkeit nicht allein mit staatlichen Mitteln überwunden werden kann. Aber auch der Staat muß seine Mittel einsetzen. Was wir hierzu fordern, etwa unser Programm „Arbeit, Umwelt und Investitionen", findet inzwischen auch in ihren Reihen Unterstützung, zuletzt bei Herrn Franke, dem Präsidenten der Bundesanstalt in Nürnberg, der uns mit
seiner Forderung nach einem 100-Milliarden-DMProgramm sogar noch übertrifft. Ein solches Programm wäre ohne weiteres finanzierbar gewesen, wenn Sie auf die unvernünftigen Steuersenkungen verzichtet hätten. Jetzt ist die Finanzierung schwieriger, denn was Sie an Steuergeschenken an Hochverdienende verpulvern, steht eben für andere Aufgaben nicht mehr zur Verfügung. Das ist die Realität, die wir sehen. Sie haben nicht die Kraft, das zu korrigieren; das werden wir mit Maßnahmen tun müssen, die der Größe der Herausforderung, um die es hier geht, entsprechen.
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In diesem Zusammenhang denken wir auch an die Verschiebung der Steuerlast von den Löhnen hin zum Energieverbrauch, natürlich mit entsprechenden sozialen Absicherungen und - wohlgemerkt - zur Unterstützung des ökologischen Umbaus unserer Industriegesellschaft, nicht um kurzfristig Haushaltslöcher zu stopfen, weil man sich in der Prognose geirrt hat.
({25})
Außerdem sollten höhere Bundesbankgewinne - das ist eine Anregung, eine Bitte - , wenn es wirklich wieder dazu kommt - keiner kann ja den Dollarkurs einigermaßen zuverlässig voraussagen, wie wir gelernt haben - , in erster Linie hier, also zum Schutz der Umwelt und zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit, eingesetzt werden. Das würde auch dem entsprechen, was Herr Stoltenberg in der Opposition gesagt hat, wo er bekanntlich gesagt hat, es sei nicht in Ordnung und nicht solide, den Bundesbankgewinn überhaupt in den Haushalt aufzunehmen. Also treffen wir uns, und verwenden wir diese Gewinne für Maßnahmen auf diesem Gebiet!
Wir sehen nicht nur die staatliche Verantwortung, wir sehen ebenso die Verantwortung der Wirtschaft. Unsere Konzepte beschäftigen sich nicht nur mit der gerechten Verteilung des Sozialprodukts, sondern auch mit der ökologischen, ökonomischen und humanen Optimierung seiner Erzeugung. Auch das hat unser Parteitag in Münster u. a. mit seinen Vorschlägen zur Arbeitszeitverkürzung, zur weiteren Entwicklung der Einkommensstrukturen und zur individuelleren Gestaltung der Arbeitszeit deutlich gemacht.
Damit kein Mißverständnis entsteht: Wir wissen, daß Arbeitszeit und Betriebszeit nicht deckungsgleich sein können. Wir sind dafür, daß hier eine stärkere Flexibilität Platz greift. Aber nun kommt wieder der entscheidende Unterschied: Diese stärkere Flexibilisierung als Ausfluß einer wachsenden Zeitsouveränität der Arbeitnehmer und nicht als Mittel der Anpassung der Arbeitszeiten an die Bedürfnisse der Maschinen.
({26})
Das mag sich im Ergebnis in weiten Bereichen dekken, aber der Ausgangspunkt muß klar im Auge behalten werden.
({27})
- Das stammt aber nicht aus Australien.
({28})
Diese Optimierung wird im Zeichen der europäischen Einigung noch dringender; denn von der technologischen Entwicklung und der rasch voranschreitenden weltweiten Verflechtung geht ein immer stärkerer Zwang zu Strukturveränderungen aus. Nur eine ökologisch erneuerte Wirtschaft kann unsere natürlichen Lebensgrundlagen bewahren, statt sie weiter zu belasten oder zu zerstören.
Deshalb verfolgen wir die sogenannte Standortdebatte, die bemerkenswerterweise nicht während unserer Regierungszeit, sondern nach sechs Jahren Regierungszeit der Kohl-Koalition in Gang gekommen ist, mit Aufmerksamkeit. Das vor allem auch deshalb, weil wir Sozialdemokraten wissen: Das Kapital kann seinen Standort wechseln und tut es ja auch. Es kann morgen in einem anderen Land oder in einem anderen Kontinent investieren, wenn ihm das nützlich erscheint. Es muß unserem Volk deutlich gesagt werden: Die Arbeitnehmer können das nicht. Sie können nicht nach Spanien oder nach Singapur oder nach Südkorea übersiedeln. Die Arbeitnehmer zahlen die Zeche, wenn der Standort Bundesrepublik heruntergeredet wird oder im Gesamtvergleich tatsächlich zurückfällt. Darum sind wir für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit.
({29})
- Was wollen Sie denn mit Ihrem Geschrei? Wir haben doch die Standortdebatte nicht angefangen. Es sind doch Ihre Freunde in den Verbänden, die der Regierung ständig die Leviten lesen. Was schreien Sie denn mich an?
({30})
Daß unsere Volkswirtschaft zu den leistungsfähigsten der Welt gehört, liegt zuallererst am Leistungsvermögen, am Leistungswillen und an den fachlichen Fähigkeiten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Deshalb muß alles geschehen, um die günstige Kombination zwischen relativ hohen Löhnen - niemand bestreitet das - und der sehr hohen Arbeitsproduktivität zu bewahren, was ja dazu führt, daß wir mit den Lohnstückkosten im Mittelfeld liegen und dadurch wettbewerbsstärker sind.
Es muß alles geschehen, das hohe Niveau von Forschung und Entwicklung weiter zu verbessern und die beachtliche Qualifikation unserer Arbeitnehmerschaft noch weiter zu steigern. Hier sind aber ganz besonders auch die Unternehmen selbst gefordert, vor allem das Handwerk, das hier bisher schon Wesentliches leistet und dem ich an dieser Stelle für seine Qualifikationsleistungen ausdrücklich danke.
({31})
Gerade deshalb, Herr Bundeskanzler, ist es schlecht, daß die Bundesregierung - in welcher Weise auch immer - den Großen Befähigungsnachweis des Handwerks - (
Das stimmt doch gar nicht, Herr Vogel!)
- Lassen Sie mich doch erst einmal ausreden. Sie wissen ja noch gar nicht, was ich sagen will.
(
Es ist doch unwahr, was Sie sagen!)
- Herr Bundeskanzler, seien Sie doch ein bißchen geduldiger. Sie wissen ja noch gar nicht, wie der Satz endet.
(
Doch, das wissen wir! - Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Doch!)
- Na, machen Sie einmal einen Vorschlag. Wie soll er denn enden? ({0})
Nachdem mir der Bundeskanzler nicht helfen will, muß ich den Satz selbst zu Ende bringen: Gerade deshalb ist es schlecht, daß die Bundesregierung - auf welche Weise auch immer - den Großen Befähigungsnachweis zu einem Thema hat werden und ins Gerede hat kommen lassen. Wir jedenfalls halten ihn weiterhin für notwendig. Das möchte ich dem Handwerk von dieser Stelle sagen.
({1})
Im Auge behalten müssen wir die Lohnnebenkosten. Ich stimme zu, daß die Lohnnebenkosten ein Faktor in der Wettbewerbsfähigkeit sind. Aber die Lohnnebenkosten sind doch noch nie so drastisch gestiegen wie seit 1982. Gucken Sie doch einmal in die Statistik unter Ihrer Regierungszeit.
({2})
- Jetzt ist schon wieder Kabinettsberatung.
({3})
Wer, wie Sie das tun, die Finanzierung von Leistungen, die der Bund zu erbringen hat, aus fiskalischen Gründen der Bundesanstalt für Arbeit oder den gesetzlichen Krankenkassen oder durch ungenügende Zuschüsse - da hat nämlich Bayern recht - der Rentenversicherung aufbürdet, der ist doch dafür verantwortlich, daß die Lohnnebenkosten weiter steigen.
({4})
Also kritisieren Sie sich erst einmal selber, bevor Sie die Tarifparteien hier mit Vorwürfen belegen.
Wichtig ist weiter die Überwindung der gegenwärtigen Investitionsschwäche. Es ist erfreulich, ich begrüße es, daß die Zahlen für das letzte Vierteljahr besser sind. Aber dieses Vierteljahr ist doch noch keine Antwort auf die Entwicklung, die sechs Jahre und mehr angedauert hat.
Eine der Ursachen für die Investitionsschwäche
- das sage ich klipp und klar - ist die Tatsache, daß die Teile des Gewinns, die für Investitionen verwendet werden, steuerlich schlechter behandelt werden als Geldanlagen. Das muß geändert werden,
({5})
im übrigen auch durch die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage für Klein- und Mittelbetriebe.
({6})
Die Beweglichkeit und der Einfallsreichtum, aber auch die Arbeitsplatzstabilität der kleinen und mittleren Unternehmen sind für unsere Volkswirtschaft unentbehrlich.
({7})
Es kann nicht oft genug daran erinnert werden - ich nehme an, wir sind uns hier einig - , daß rund zwei Drittel aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer der Bundesrepublik in Betrieben mit weniger als 500 Beschäftigten tätig sind.
Ein entscheidender Standortvorteil - nicht ein Nachteil - ist die soziale Stabilität als eine Folge des hohen Maßes an sozialen Sicherungen und Arbeitnehmerrechten einschließlich der Mitbestimmung, die in unserem Land im Laufe von Generationen erkämpft worden ist. Wir haben Ihnen bisher stets Widerstand geleistet, wenn Sie diese sozialen Errungenschaften in Frage stellten und eingeschränkt haben. Wir werden das mit Entschiedenheit auch künftig tun, ganz gleich, unter welchen Tarnworten Sie zu Werke gehen. Wir tun das zur Bewahrung der sozialen Gerechtigkeit, aber auch zur Sicherung unserer Wettbewerbsfähigkeit, die durch diese soziale Stabilität nicht beeinträchtigt, sondern gesteigert wird.
({8})
Daß die Wettbewerbsfähigkeit des Standortes Bundesrepublik behauptet werden muß, gilt auch für die Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes bis 1992. Wir bejahen übereinstimmend mit Ihnen die Schaffung des Binnenmarktes, weil sie unserer Wirtschaft zusätzliche Chancen bietet und weil die Einigung Europas nur auf diese Weise und durch die schrittweise Schaffung einer gemeinsamen Währung vorangebracht werden kann.
Mit der gleichen Entschiedenheit muß jedoch auch der Sozialraum Europa verwirklicht werden, dessen Regeln sich an den erprobten und bewährten Standards der Bundesrepublik orientieren. Da, wo dies nicht möglich ist - wir sind keine Illusionisten -, sollten wir jedenfalls für unseren Bereich diese Regeln beibehalten. Das wird nicht ohne Konflikte abgehen. Deshalb wäre es gut - ich wüßte nicht, wer dem widersprechen wollte -, wenn sich die Arbeitnehmerorganisationen auf europäischer Ebene genauso straff und wirksam zusammenschließen würden, wie das auf der Kapitalseite und auf der Arbeitgeberseite schon lange geschehen ist.
({9})
Wir brauchen, damit der bewährte Mechanismus funktioniert, gleichwertige Gesprächspartner und auch Gegenpositionen. Jacques Delors ist hier als Präsident der Kommission auf richtigem Wege. Wenn Sie ihn unterstützen, Herr Bundeskanzler, dann haben Sie auch unsere Unterstützung. Vor allem sollten Sie das Thema des europäischen Sozialraumes auf die Tagesordnung der nationalen Binnenmarktkonferenz setzen, zu der Sie vernünftigerweise einzuladen beabsichtigen und die wir nachdrücklich unterstützen.
Wenn wir für effektive soziale Sicherungen in Europa eintreten, müssen wir zunächst im eigenen Land unsere großen Systeme der sozialen Sicherheit in Ordnung halten und durch Reformen zukunftssicher machen. Bei der sogenannten Gesundheitsreform ist Ihnen das bisher in exemplarischer Weise mißlungen.
Viele Experten sagen Ihnen voraus, daß Sie ein ähnliches Desaster erleben werden, wie bei der sogenannten Steuerreform. Dann schimpfen Sie nicht wieder die Propagandisten, sondern fragen sich selber, was Sie an der Sache falsch gemacht haben.
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Noch wäre es Zeit, diesen verfehlten Versuch abzubrechen und, gestützt auf die Erkenntnisse der Enquete-Kommission, die doch vernünftig gearbeitet hat, ein neues Konzept auszuarbeiten, das auch die Anbieter heranzieht und die Selbstverwaltung stärkt und nicht ausgerechnet - bitte, Herr Bundeskanzler, ich spreche Sie persönlich an, lassen Sie sich das noch einmal durch den Kopf gehen - das Sterbegeld abschafft. Ich kann keinen vernünftigen Grund für diesen Eingriff erkennen, der auch eine sozialethische Komponente hat.
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Wir Sozialdemokraten wären dabei zur Mitwirkung genauso bereit, wie wir es bei der Reform der Alterssicherung sind. Auch bei dieser Reform muß ein Konzept gefunden werden, das den Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit entspricht. Dazu gehört ein ausreichender, ein angemessener Bundeszuschuß. Die Zahlen, die jetzt genannt werden, sind für uns nicht akzeptabel.
Dazu gehört - ich spreche das mit Bedacht aus -, daß in den verschiedenen Alterssicherungssystemen vergleichbare Tatbestände zu vergleichbaren Belastungen und zu vergleichbaren Leistungen führen.
Ich hoffe, daß Sie, Herr Bundeskanzler, Herrn Kollegen Blüm in dieser Frage bald öffentlich an die Seite treten und bald für Klarheit sorgen. Sie wissen: Unser Angebot zur Zusammenarbeit besteht; Gespräche finden ja statt. Aber die Teilnahme an einem Verwirrspiel, wie Sie es bei der Steuergesetzgebung mit Ihrer eigenen Partei und ihren Koalitionspartnern veranstaltet haben, können Sie von uns nicht erwarten.
({12})
Die Haushaltsdebatte bietet Gelegenheit, auch Fragen aufzuwerfen, die nicht unmittelbar zum Etat gehören, für die politische Entwicklung jedoch von Bedeutung sind. Das trifft in besonderem Maße für die Umweltpolitik zu. Ich meine, alle Parteien haben Grund, selbstkritisch festzustellen, daß sie ihre Positionen aus den 50er und 60er Jahren in tiefgreifender Weise korrigieren mußten. Ebenso ist es einfach ein Gebot der Ehrlichkeit einzuräumen, daß die Ökologiebewegung einen wesentlichen Beitrag zur Veränderung und Verschärfung unseres Bewußtseins geleistet hat. Das ist einfach die Wahrheit.
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Ich konzediere auch Herrn Kollegen Töpfer, daß er für das, was er heute etwa in bezug auf die Reinhaltung der Gewässer fordert, noch vor fünf Jahren aus Ihren eigenen Reihen als industriefeindlicher Systemveränderer, wenn nicht sogar als Systemzerstörer diffamiert worden wäre. Herr Strauß ist ja nach dem, was er so gelegentlich von sich hören läßt, wohl heute noch der Meinung, daß Herr Töpfer ein gefährlicher Mann sei.
Allerdings: Was Herr Töpfer jetzt fordert, genügt nicht. Sie wollen ihm ja noch nicht einmal das geben.
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Was da noch übrigbleibt, reicht insbesondere in keiner Weise aus, um der schleichenden Naturzerstörung Einhalt zu gebieten, die nicht in Katastrophenform auf einmal eintritt, sondern sich im Laufe langer Zeiträume durch die Kumulation, durch die Verbindung vieler schädigender Einwirkungen vollzieht. Das Sterben der Nordsee ist dafür nur ein Beispiel, die drohende Klimakatastrophe ein anderes.
Ich weiß: Für den Übergang zu einer sicheren Energieversorgung ohne Atomkraft gibt es heute in diesem Hause noch keine Mehrheit. Natürlich sind auch bei Ihnen die Bedenken gewachsen. Sogar bei Herrn Töpfer hört man Zwischentöne. Viele von Ihnen - manche trauen sich, andere trauen sich nicht recht - zweifeln doch inzwischen auch daran, ob es vernünftig, ja ob es überhaupt verantwortbar ist, mit der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf einen Sachverhalt zu schaffen, dessen Auswirkungen über Tausende von Jahren hinweg nicht mehr korrigiert werden können.
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Aber es wird wohl wieder einige Jahre dauern, bis Sie sich mit dem üblichen zeitlichen Abstand unserer Position anschließen.
Um so dringender appelliere ich an Sie, in zwei anderen Fragen endlich mit uns gemeinsam zu handeln. Schreiben Sie mit uns noch in diesem Jahr den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen als Staatsziel ins Grundgesetz,
({16})
und zwar ohne Einschränkungen durch Abwägungsklauseln und Gesetzesvorbehalte. Der Umweltschutz darf kein Staatsziel zweiter Klasse werden.
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Wenn all die Reden für die Umwelt einen Sinn haben, dann ist dieser Schritt längst überfällig. Ich fordere uns alle auf, daß wir das noch in diesem Jahr leisten.
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Meine zweite Bitte: Verabschieden Sie gemeinsam mit den Küstenländern und den Bundesländern ein Notprogramm für die Nordsee. Wir sind zur Mitarbeit bereit. Sie kennen unsere Vorschläge. Ein Investitionsprogramm für die Modernisierung kommunaler Kläranlagen, bei dem der Bund ein Drittel der Kosten übernehmen würde, wäre zugleich ein Einstieg in unser Programm „Arbeit, Umwelt und Investitionen".
Ein weiteres Feld von aktueller Bedeutung ist das der inneren Sicherheit. Auf diesem Feld - ich bedaure das - haben Sie, Herr Bundeskanzler, und andere Repräsentanten der Union versucht, aus dem Gladbecker Geiseldrama parteipolitisches Kapital zu schlagen; Sie mit Worten, in denen Sie uns Sozialdemokraten insgesamt in böser Weise verdächtigten und uns mangelnde Bereitschaft vorwarfen, unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger vor verbrecherischen Anschlägen zu schützen. Die Herren Strauß und GauDr. Vogel
weiler, indem sie unter Mißbrauch junger Polizeibeamter eine unsägliche Schaustellung inszenierten und mit blutigem Ernst ein schlimmes Spiel trieben. Und das zu einem Zeitpunkt, in dem zwei der drei Toten noch nicht einmal begraben und unter der Erde waren.
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Dazu kann ich nur sagen: Wer zu solchen Mitteln greift, läßt erkennen, wes Geistes Kind er ist. Ich wiederhole: Gott schütze uns und unseren Staat vor solchen „Schützern", die vor solchen Mitteln nicht zurückschrecken.
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Ihre Vorwürfe, Herr Bundeskanzler, weise ich zurück. Für uns sind die Wahrung der Schutzfähigkeit unseres Staates und die Wahrung der Liberalität keine Gegensätze. Wir spielen sie nicht gegeneinander aus, und wir stehen an der Seite der Polizeibeamten und der politisch Verantwortlichen, die auch in schwierigen Situationen an dieser Grundlinie festhalten.
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Nordrhein-Westfalen hatte bis zu dem Gladbecker Geiseldrama in den letzten elf Jahren 31 Geiselnahmen zu bewältigen. In einem Fall wurden zwei Geiseln getötet, in zwei Fällen wurde je ein Geiselnehmer, ein Täter, getötet. 28 Geiselfälle hat die nordrhein-westfälische Polizei in diesen 11 Jahren unblutig gelöst, ohne daß der jeweiligen Geisel auch nur ein Haar gekrümmt worden ist.
Herr Bundeskanzler und meine Damen und Herren, die Sie kritisieren: Was haben Sie eigentlich an dieser Bilanz auszusetzen? Doch wohl nicht, daß zuwenig Blut geflossen und zuwenig geschossen worden ist.
({22})
- Schade, daß die Zuschauer nicht im Originalton wahrnehmen können, an welcher Stelle „Frechheit" und „Pfui" geschrieen wird.
({23})
- Herr Bötsch, ich glaube, wir beide sollten über Ihr Niveau nicht in eine Aussprache eintreten.
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Ich wiederhole: Über die Lehren und Erkenntnisse, die sich aus den Ereignissen ergeben haben, kann man mit uns reden, über die Grundlinie, die sich bewährt hat, nicht.
Persönlich füge ich noch hinzu, weil ich höre, daß das heute im Laufe der Debatte eine Rolle spielen
wird: Ich habe mich 1977 im Einklang mit den Beschlüssen meiner Partei dafür ausgesprochen, das, was im Strafgesetzbuch als Notwehr und Nothilfe geregelt ist, ins Polizeirecht zu übernehmen. Die Erfahrungen der letzten zehn Jahre haben mich davon überzeugt, daß dies so nicht notwendig ist, daß vielmehr die allgemeinen Regeln über das Nothilferecht ausreichen. Damit befinde ich mich übrigens in bester Gesellschaft, etwa auch in der Gesellschaft des Landes Baden-Württemberg, das mit guten Gründen bis heute darauf verzichtet hat, spezielle Regeln über Nothilfe und Notwehr in sein Polizeirecht aufzunehmen.
In ganz anderer Weise hat ein anderes Ereignis die Frage nach der Sicherheit und dem Schutz von Menschen aufgeworfen. Ich meine die Katastrophe von Ramstein, die bis zur Stunde 52 Menschen das Leben gekostet hat und wohl, so ist zu befürchten, noch weitere Menschen das Leben kosten wird. Die Ursachen der Katastrophe und die Verantwortlichkeiten werden mit aller Sorgfalt zu untersuchen sein. Erst wenn das geschehen ist, werden wir unsere Konsequenzen ziehen. Aber auch bei der Auseinandersetzung darüber - ich wäre froh, wenn das auch im Gladbecker Fall geschehen wäre - werden wir das Leid der Hinterbliebenen und der Verletzten, die ihr Leben lang an den Folgen der Katastrophe zu tragen haben, nicht aus den Augen verlieren. Das ist auch eine Lehre, die wir aus diesen Ereignissen ziehen müssen.
Deshalb beschränke ich mich auf folgende Feststellung: Die deutsch-amerikanische Freundschaft, die auch uns wichtig ist, hängt nicht von Veranstaltungen ab, die das Leben von Menschen in tödliche Gefahr bringen.
({25})
Zu diesen Menschen rechnen übrigens auch die Piloten.
Auf Waffen, auch auf Kampfflugzeuge werden wir noch auf längere, auf lange Zeit nicht völlig verzichten können. Aber ich möchte deutlich aussprechen: Nicht nur für uns Sozialdemokraten sind Waffen in dieser Zeit ein notwendiges Übel. Sie sollten deshalb - man muß Ansätzen wehren - nicht zu Objekten einer Art Götzenverehrung gemacht werden. Notwendiges Übel, ja!
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Man wird Warnungen nicht immer befolgen können. Auch wir haben, in der Verantwortung stehend, zu Warnungen schon nein gesagt und waren hinterher klüger. Das muß man ehrlich aussprechen. Aber mit Ernst und Sorge vorgetragene Mahnungen und Warnungen verdienen, insbesondere wenn es um Leben und Gesundheit von Menschen geht, eine ernste Würdigung und eine ernste Antwort, nicht jedoch selbstgerechte Zurückweisung oder gar überheblich diffamierende Polemik. Diese Umstände im Vorfeld der Ramsteiner Katastrophe machen das Geschehen noch bedrückender. Wir registrieren sorgfältig, wer sich nach der Katastrophe daran erinnert, daß es Warnungen gegeben hat, und dies auch dann unterstreicht, wenn er anderer Meinung war. Auch das gehört nämlich zur Aufarbeitung eines solchen Geschehens in einer demokratischen Gemeinschaft.
Wir werden uns zu fragen haben, wo die tatsächlichen Grenzen der deutschen Souveränität liegen, inwieweit wir nicht nur rechtlich, sondern auch faktisch die letzte Entscheidung darüber haben, was auf unserem Territorium geschieht. Da bedarf manches der Klärung. Ich füge hinzu: Befriedigende Antworten auf diese Fragen sind für die Stabilität des Bündnisses von essentieller Bedeutung.
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Schließlich ist einmal mehr die Fehlbarkeit von Menschen und die Unbeherrschbarkeit dessen deutlich geworden, was leichthin „Restrisiko" genannt wird, das man ruhig in Kauf nehmen könne. Ich hoffe, Ramstein hat uns alle und auch diejenigen nachdenklich gemacht, die auf allen möglichen Gebieten die Harmlosigkeit des Restrisikos betonen. „Weiter so", das kann und darf nach dieser Katastrophe noch weniger die Antwort sein als vorher.
Auf wichtigen Feldern der Außen- und der Friedenssicherungspolitik ist es ähnlich wie in der Umweltpolitik: Es dauert lange, meistens zu lange, bis Sie sich auf den Weg begeben, den wir schon vor Jahren eingeschlagen haben. Damit meine ich nicht den Bundesaußenminister. Er bemüht sich in nicht wenigen Fragen, an den Konzeptionen der sozialliberalen Bundesregierungen festzuhalten und diese fortzuentwikkeln. Das bekommt er ja auch zu spüren. Ich freue mich im übrigen, Herr Kollege Genscher, daß Sie gesundheitlich wiederhergestellt sind und an der Debatte teilnehmen können.
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Ich meine nicht den Bundesaußenminister; ich meine Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre engere und weitere Entourage, Ihre engere und weitere Begleitung. Sie haben zu lange gebraucht, Herr Bundeskanzler, bis Sie zumindest verbal auf die Linie unserer Ostpolitik eingeschwenkt sind. Herr Bundeskanzler, damit Sie es nicht vergessen: Sie haben die jüngste Entwicklung in der Sowjetunion noch zu einem Zeitpunkt als Propaganda abgetan, als sie von uns und von anderen bereits - wie sich gezeigt hat, zutreffend - als ein revolutionärer Vorgang von historischen Dimensionen bewertet worden war.
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Als eine Entwicklung, die es erstmals möglich erscheinen läßt, daß die beiden Weltmächte und die von ihnen angeführten Bündnisse den Krieg als Mittel der Politik überwinden, daß die gesellschaftlichen Systeme ohne Verwischung ihrer Unterschiede und Gegensätze friedlich miteinander konkurrieren, daß der gigantischen Verschwendung materieller Ressourcen in einem wahnwitzigen Rüstungswettlauf ein Ende gemacht wird und die Völker sich in einer immer rascher schrumpfenden Welt gemeinsam der Lösung der Menschheitsaufgaben zuwenden, von deren Bewältigung das Überleben der Gattung auf diesem Planeten abhängt.
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Wir hoffen, daß Sie von dieser Einschätzung ausgehen, wenn Sie demnächst nach Moskau reisen. Wir hoffen ebenso, daß Sie alles tun, um diese Chance zu nutzen, eine Chance, an deren rascher und vollständiger Realisierung wir Deutschen ein ganz besonderes Interesse haben, daß Sie alles dafür Notwendige im Verhältnis zur Sowjetunion tun, aber auch innerhalb unseres Bündnisses.
Herr Bundeskanzler, machen Sie beispielsweise mit dem unschlüssigen Zögern gegenüber den Abrüstungsvorschlägen Gorbatschows und des Warschauer Paktes ein Ende.
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Abbau der Asymmetrien, Reduzierung der konventionellen Streitkräfte auf ein Maß, das beide Seiten zur Verteidigung fähig macht, zum Angriff aber strukturell unfähig werden läßt, Verringerung der nuklearen Waffensysteme mit dem Ziel weiterer Null-Lösungen, Angebote vom Warschauer Pakt - das ist doch ein Programm, das gerade unseren Interessen in vollem Umfang entspricht und das Milliarden freimacht, die dann für friedliche Zwecke, etwa auch für einen neuen, weltweiten Marshallplan, für ein Zukunftsprogramm für die Dritte Welt, verwendet werden können.
Dazu gehört auch, daß Sie in der sogenannten Modernisierungsfrage endlich Farbe bekennen. Es wäre nachgerade unverantwortlich, unter dem Deckwort der Modernisierung in einem Zeitpunkt neue Raketen aufzustellen, in dem vorhandene Raketen endlich abgebaut werden.
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Mit der Leerformel vom Gesamtkonzept, das erst noch ausgearbeitet werden müsse, können Sie dem doch nicht länger ausweichen. Das einzige Gesamtkonzept, das diesen Namen verdient, sind jetzt die schrittweise beiderseitige Abrüstung und die schrittweise Entmilitarisierung des Verhältnisses zwischen den Weltmächten und ihren Bündnissen.
In einem solchen Konzept braucht dann auch nicht mehr gegen die demographischen Fakten und mit einem unvernünftigen finanziellen Aufwand - wir haben es vom Bundesfinanzminister gestern gehört - an Präsenzstärken festgehalten zu werden, die in den Zeiten des Kalten Krieges mit ganz kurzer Vorwarnzeit einmal ihren Sinn gehabt haben, inzwischen diesen Sinn aber zunehmend verlieren.
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Es wäre gut, wenn Sie vor Ihrem Besuch in Moskau das gemeinsame Streit- und Dialogpapier von Mitgliedern der Grundwertekommission meiner Partei und von Repräsentanten der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED sorgfältig lesen würden. Dort finden sich Ansätze für eine neue Qualität des Wettstreits zwischen den Gesellschaftsordnungen und für eine neue Art des Umgangs miteinander, für einen Umgang, der die Vergangenheit und die schlimmen Opfer nicht beschönigt, aber die alten Feindbilder verblassen und ein Geflecht von Beziehungen und Kooperationen entstehen läßt, in dem die wechselseitigen Drohungen mit der Auslöschung zumindest unseres Kontinents, aber auch Mauern aus Stein und aus Vorurteilen - es gibt
außer dieser schlimmen Mauer aus Stein auch Mauern aus Vorurteilen - keinen Platz mehr haben.
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Sicher, Herr Bundeskanzler, werden Sie der sowjetischen Führung dafür danken, daß sich die Zahl der Ausreisegenehmigungen für Deutschstämmige so erhöht hat,
({35})
wie alle Fraktionen das immer wieder gefordert haben. Ich begrüße, daß Sie unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in letzter Zeit mehrfach gebeten haben, diese Landsleute verständnisvoll zu empfangen.
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Ich stimme in diesem Punkt mit Ihnen - ich hoffe, mit dem ganzen Haus - überein.
({37})
Jetzt ist es aber notwendig, die Programme rasch zu verwirklichen, die für die Integration dieses Personenkreises, vor allem für ihre Wohnungsversorgung, erforderlich sind. Dabei, Herr Bundeskanzler, wäre es sinnvoll, in diese Wohnungsprogramme auch Familien einzubeziehen, die hier schon seit langem auf eine Wohnung warten,
({38})
also eine Mischung vorzunehmen. Das würde helfen, Spannungen zu verhindern, die sonst nahezu unvermeidlich sind und uns alle miteinander belasten.
Herr Bundeskanzler, meine Damen und Herren, ich habe in zahlreichen Punkten Ihre Politik und Ihre Amtsführung kritisiert. Damit habe ich nicht nur die Besorgnisse und das Unbehagen der stärksten Oppositionspartei ausgedrückt. Ich habe vielmehr ein Unbehagen artikuliert, das sich gerade in den letzten zwölf Monaten immer stärker auch in Ihren eigenen Reihen ausgebreitet hat.
Die Überzeugung, daß Ihre Regierung verbraucht ist, daß sie von der Hand in den Mund lebt, daß sie ihre Aufgaben immer häufiger schon rein handwerklich nicht bewältigt, daß die Koalition nicht mehr durch gemeinsame Perspektiven, sondern nur noch durch die Angst vor dem Machtverlust zusammengehalten wird, daß Entscheidungen, wenn sie denn fallen, in obskuren Zirkeln und nicht in den Parlamentsfraktionen und im Kabinett zustande kommen, ist heute allgemein.
Am besten, Herr Bundeskanzler, hat das am vergangenen Montag - es sind ja genügend Ohrenzeugen da - einer aus Ihren Reihen, Herr Kollege Abelein, zum Ausdruck gebracht. Nach unwidersprochenen Meldungen sagte er, die gegenwärtige Unionsfraktion sei die bedeutungsloseste, die es in der Geschichte der CDU/CSU je gegeben habe.
({39})
Sie sei in Entscheidungen nicht eingebunden und
werde von den Oberen in Fraktion und Regierung mitunter wie eine Gruppe - jetzt bitte ich um Entschuldigung, ich lese nur vor - von Deppen behandelt.
({40})
Wie beim Flugbenzin werde die Fraktion ständig vorgeschickt und hinterher desavouiert. Weiter hat er gesagt: Er wisse nicht, ob die Entscheidungen von Koalition und Union in Elefantenrunden, Expertengesprächen, Koalitionszirkeln oder in der Regierung getroffen würden; in der Fraktion fielen sie jedenfalls nicht. Dann ist hier noch zu lesen: Für diese Ausführungen erhielt Abelein demonstrativen Beifall.
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Ich bin wirklich ratlos, was ich zur Beschreibung dieser Situation dem als Oppositionssprecher hinzufügen könnte. Da ist alles gesagt.
Die Frage, ob Sie das Vertrauen Ihrer eigenen Mehrheit haben, ist deshalb nicht so abwegig, wie tüchtige und mitunter auch witzige Öffentlichkeitsarbeiter, etwa Herr Seiters, das darzustellen versuchen. Ja, das war gut, Seiters; das war gut.
Bekanntlich haben Ihnen, Herr Bundeskanzler, schon bei Ihrer Wahl zum Bundeskanzler im März 1987 15 Stimmen aus dem eigenen Lager gefehlt. 253 Stimmen: das waren nur 4 mehr, als das Grundgesetz verlangt. Nach dem Flugbenzin- und Steuerdesaster hätten Sie wahrscheinlich bei freier Entscheidung Ihrer Fraktion noch nicht einmal die Kanzlermehrheit erreicht. Die verbalen Treuebekundungen während der Sommerpause - auch ich habe da meine Erfahrungen ({42})
ändern doch an der Situation gar nichts. - Lachen Sie erst später, wenn alles vorbei ist!
Daß sich der Mißmut in Ihrer Partei und in Ihrer Fraktion in der Person des Herrn Kollegen Dregger, wie man in den Zeitungen lesen konnte, im Sommer einen neuen Adressaten gesucht hat, bestätigt doch nur die Einschätzung.
Um es in Anlehnung an einen Karawanen-Vergleich - Sie schätzen ja Vergleiche aus dem Tierreich und volkstümliche Vergleiche - meinerseits in einem volkstümlichen Bild auszudrücken, ohne den Herren zu nahe zu treten: Mit den Schlägen, die da ausgeteilt werden, ist doch der Esel gemeint und nicht der Sack.
({43})
Nein, Herr Bundeskanzler: das Vertrauenskapital, mit dem Sie - das ist sicher wahr - vor sechs Jahren angetreten sind, ist sehr weitgehend verbraucht. Die Hoffnung, an die Sie sich klammern, es werde sich bis zum November oder Dezember 1990 aufs neue bilden, ist trügerisch. Denn es geht nicht nur um flüchtige Enttäuschungen, die morgen wieder vergessen sind. Es geht um dauerhafte Änderungen im Wahrnehmungs- und Meinungsbild unseres Volkes. Ich nenne nur vier von ihnen:
Erstens. Der Kitt des Antikommunismus Adenauerischer Prägung, der die Union in ihren auseinandergehenden Flügeln über Jahrzehnte zusammengehalten
hat, bröckelt in dem Maß, in dem sich die Sowjetunion wandelt.
Zweitens. Das Vertrauen in die finanz- und haushaltspolitische Kompetenz der Koalition ist spätestens durch die Erfahrungen der letzten zwölf Monate erschüttert.
Drittens - da kann ich mich auf Herrn Geißler berufen - : Die programmatische Kraft der Union ist erschöpft. Das Vertrauen, sie werden kommende Herausforderungen zur rechten Zeit erkennen und dann durch Gestaltung bewältigen, ist geschwunden.
Viertens. Die Erwartung, die Union werde - so wie Sie es persönlich versprochen haben - die Politik geistig-moralisch erneuern, ist bitter enttäuscht, die Glaubwürdigkeit der Politik in den sechs Jahren stärker beschädigt worden als je zuvor, und das nicht nur in Schleswig-Holstein.
({44})
Wir geben uns nicht damit zufrieden, das festzustellen. Wir verstärken und konkretisieren unsere Anstrengungen, beispielsweise unsere Anstrengungen um die stärkere Beteiligung der Frauen an der Formulierung und der Durchsetzung politischer Konzepte; eine Beteiligung, die ihrem Anteil an unserem Volk entspricht und die - das ist genauso wichtig - stärker Grunderfahrungen und Denkstrukturen der Frauen in unsere Gesellschaft und in unsere Politik einbringt. Eine solche Entwicklung kann uns allen nur guttun.
({45})
Wir haben dazu in Münster unseren Schritt, einen, wie wir glauben, entscheidenden Schritt, getan. Sie mögen den Weg, den wir gewählt haben, kritisieren - das ist Ihr Recht - , auch wenn Sie damit zunächst wohl nur davon ablenken, daß Sie den Übergang vom Reden zum Handeln, der auch bei uns lang gedauert hat, noch nicht geschafft haben. Ich sage Ihnen voraus: Der Stein, den wir da ins Wasser geworfen haben, wird auch in Ihren Gewässern Wellen schlagen. Die Frauen werden auch in Ihren Parteien und in anderen Großorganisationen auf ihrem Anspruch bestehen. Sie werden sich nicht mehr beschwichtigen lassen. Und das ist gut so. Das begrüßen wir.
({46})
Ein Grundprinzip der parlamentarischen Demokratie ist der Wechsel. Sie haben dazu als Oppositionssprecher, aber auch als Bundeskanzler, völlig zutreffende Ausführungen gemacht. Dieses Grundprinzip und der Wechsel verhindern, daß die Schwäche und der Niedergang einer politischen Kraft das Gemeinwesen insgesamt in Mitleidenschaft zieht. Es ist die Pflicht der Opposition, diesen Wechsel anzustreben und sich auf diesen Wechsel vorzubereiten. Wir nehmen diese Pflicht ernst, und wir sind entschlossen, für unsere Bundesrepublik aufs neue Verantwortung zu übernehmen.
({47})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Waigel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Vogel, ich darf Ihnen den Rat geben, mit großer Gelassenheit die Zukunft zu betrachten. Gelassenheit ist ja das Verhalten zu dem, was Sie nicht ändern können, oder, um es in die Worte des Münchener Philosophen Spaemann zu kleiden: „Gelassenheit ist die Haltung dessen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines Handelns in sein Wollen aufnimmt, der diese Grenzen akzeptiert. "
Sie werden wieder Kanzlerkandidat und bleiben es über das Jahr 1990 hinaus, und das muß man mit Gelassenheit sehen. Das ist nach diesem Parteitag wichtig für die SPD, das ist gut für die Koalition, und es ist richtig für das politische Geschehen in der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Sie haben sich vorher - ich will einige Dinge gleich aufnehmen - zur Ertragssituation geäußert. Niemand sonst als der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt hat gesagt, die Gewinne von heute seien die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Offensichtlich haben Sie davon Abstand genommen. Sie sollten aber wenigstens dem folgen, was der Präsident der Bundesbank, Herr Pöhl, zu dieser Situation gesagt hat, der diese Entwicklung als notwendig in den Berichten der Bundesbank herausstellt, der das als natürlich ansieht. In den Berichten der Bundesbank kommt auch heute noch zum Ausdruck, daß damit die Normalsituation der 60er und des Anfangs der 70er Jahre noch nicht einmal erreicht wurde und daß dieser veränderte Trend dringend notwendig war und ist, um die Ertragssituation zu verbessern, um die Eigenkapitalsituation zu verbessern und damit die Betriebe in unserer Zeit wieder in die Lage zu versetzen, Investitionen stärker aus eigener Kraft und nicht mit Fremdfinanzierung durchführen zu müssen. Wir haben auch heute noch nicht den Stand erreicht, der von der Ertragssituation her eigentlich notwendig wäre und der dem internationalen Vergleich mit unseren Wettbewerbern auf dem Weltmarkt entspricht.
Dann haben Sie sich zur Gemeinnützigkeit geäußert. Herr Kollege Vogel, wir haben nicht die Gemeinnützigkeit abgeschafft, sondern die Steuervergünstigung für die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau. Jeder von Ihnen, auch Ihr Nachfolger in München als Oberbürgermeister, kann sich in den gemeinnützigen Gesellschaften so verhalten, daß er keine Steuern zu bezahlen braucht.
({1})
Er braucht überhaupt nicht davon abgehalten zu werden, sich so zu verhalten und im Interesse der Mieter alles zu tun, damit keine Mieterhöhungen notwendig sind. Es liegt allein bei Ihnen, das Instrument nicht zu mißbrauchen.
({2})
Übrigens, bei den Bundesbankgewinnen kommen wir Ihnen sehr entgegen. Wenn sie sich - das hoffen Sie ja, und das hoffen wir - etwas günstiger entwikkeln sollten, als sie im Haushaltsentwurf eingesetzt
sind, verwenden wir sie zur Tilgung von Altschulden, die Sie gemacht haben. Damit tilgen wir also einen Teil der Sünden, die Sie mit begangen haben.
({3})
Schwachsinnig sind offensichtlich Sie, der Sie solche Zwischenrufe machen.
({4})
- Ich höre hier den Zwischenruf „Schwachsinnig". Er schlägt auf den, der ihn gesprochen hat, zurück.
({5})
Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie sich um den großen Befähigungsnachweis des Handwerks Sorgen machen. Sie können versichert sein: Das Handwerk und der große Befähigungsnachweis des Handwerks, die Handwerksordnung sind bei uns, bei dieser Koalition, in allerbesten Händen.
({6})
- Das gilt auch für Herrn Bangemann. Das gilt für diese ganze Koalition.
Wenn eine Kommission, nicht die Regierung, an die entsprechenden Verbände Fragen stellt, um aus den Antworten entsprechende Konsequenzen zu ziehen, dann ist das nicht in irgendeiner Form ein Angriff auf den großen Befähigungsnachweis. Der Bundeskanzler und alle Mitglieder der Regierung haben dazu das Notwendige gesagt. Dies wird für uns auch innerhalb der EG ein Essential sein. Daran wird nicht gerüttelt werden. Darauf können Sie sich verlassen.
({7})
Wenn Sie aber jetzt so die Liebe zum Handwerk entdecken, dann denken Sie doch einmal darüber nach, was in der Zeit, als Sie in der Regierung waren, Herr Dr. Vogel, in Sachen duales Ausbildungssystem und in vielen anderen Dingen dem Handwerk gegenüber geplant wurde. Denken Sie einmal darüber nach, welch verheerende Rolle Sie bei der Beseitigung und Bekämpfung des besten Ausbildungssystems für die Jugend, für den Nachwuchs im Bereich der Wirtschaft gespielt haben. Sie hätten allen Grund, darüber nochmals nachzudenken und uns dankbar zu sein, daß wir das aus der Opposition heraus damals, Gott sei Dank, verhindern konnten.
({8})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude?
Bitte schön.
Herr Kollege Schmude.
Herr Kollege Waigel, da ich mich u. a. aus meiner Zeit im Bundesbildungsministerium nur daran erinnere, daß wir das duale System
bejaht und durch viele Maßnahmen gestärkt haben, bitte ich Sie um Belege für die Behauptung, daß wir es beschädigen, abschaffen oder beeinträchtigen wollten.
({0})
Einer Ihrer Vorgänger, Herr Kollege Schmude - es war auf jeden Fall der frühere Bildungsminister Dohnanyi - , hat versucht, gerade im Bereich der beruflichen Bildung die Akzente ganz entscheidend in Richtung schulische Ausbildung zu verändern
({0})
und die berufliche Bildung stärker aus der konkreten Praxis herauszunehmen. Jeder, der diesem Hause seit dem Jahre 1972 angehört, kann sich daran genau erinnern. Es wäre für Sie ein Leichtes, die Belege aus Ihren eigenen Reihen zu sammeln und nicht mich fragen zu müssen.
({1})
Übrigens, Herr Kollege Vogel, was volkstümliche Vergleiche anbelangt, wäre ich ganz vorsichtig. Ich jedenfalls möchte nicht zitieren, was der Kollege Wehner, einer Ihrer Vorgänger, an volkstümlichen Vergleichen alles losgelassen hat und was damals offensichtlich auch Sie mit betroffen hat. Ich möchte das also lieber nicht zitieren.
({2})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, vor gut einer Woche zog Dr. Hans-Jochen Vogel gen Münster mit dem Ziel, endlich die wirtschafts- und finanzpolitische Kompetenz seiner Partei, nach Vogels eigener Meinung der entscheidende Hebel zur Übernahme der Regierung in Bonn, unter Beweis zu stellen. Dieser Versuch endete mit einem Fiasko.
({3})
Zur Verabschiedung eines in sich geschlossenen Alternativkonzepts zur Wirtschafts- und Finanzpolitik der Bonner Koalition war die SPD nicht fähig. Statt der angekündigten neuen Ideen, der Botschaft der Zuversicht blieb es einmal mehr beim Griff in die wirtschaftspolitische Mottenkiste. In Münster sprach der Kollege Vogel davon, die SPD sei noch lange kein Museumsstück. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist sie jedoch drauf und dran, ein solches zu werden.
({4})
Oskar Lafontaine, der sich angesichts der Strukturprobleme im Saarland offensichtlich ernsthaft und aufgeschlossen mit den wirtschafts- und finanzpolitischen Herausforderungen der kommenden Jahre befaßt hat und dessen Finanzminister selbst die Gehälter von Lehrern und Polizeibeamten im Saarland zum Teil nur noch über Kredite finanzieren kann
({5})
- ich sage nur ein Faktum - , wurde als profilierungssüchtiger Quertreiber abserviert. Hier haben
noch einmal die für einen Parteivorsitzenden notwen6126
digen Sekundärtugenden über Primärtugenden gesiegt.
({6})
Die Abwahl des finanzpolitischen Sprechers Hans Apel - darüber dürfen wir nach Ihren Belehrungen eigentlich nicht reden; ich werde es aber dennoch tun, denn es ist ein weiterer Racheakt an denen, die zur Politik von Helmut Schmidt auch noch nach einigen Jahren stehen - verdeutlicht neben der sachlichen Konzeptionslosigkeit das personelle Manko der SPD ill den Bereichen Wirtschaft und Finanzen.
({7})
Selbst die „Frankfurter Rundschau" sieht hierin die ganze personelle, aber auch politische Misere der größeren Oppositionspartei. Ich habe im übrigen großen Respekt vor dem Kollegen Apel, mit dem wir uns hier manches harte Gefecht geleistet haben. Er selber war nicht zimperlich, wir ihm gegenüber auch nicht. Aber er hat nach der Devise gehandelt: Sich selbst treu zu bleiben ist wichtiger als die Treue zu einer Partei, die in grundlegenden Fragen den richtigen Kurs verloren hat.
Beim Kurswechsel in Godesberg verfügte die SPD noch über herausragende Persönlichkeiten wie Deist, Schiller, Müller und Arndt.
({8})
Heute schickt die SPD Querdenker wie Apel und Glotz bereits in die Wüste.
Die SPD mag Kompetenzen besitzen, wenn es um die Verteilung des Volkseinkommens geht. Wenn es jedoch um die Steigerung der Produktivität, um die Verbesserung der Leistungsbereitschaft, um Anreize für Investitionen und Innovationen, wenn es also um die Erwirtschaftung und nicht um die Verteilung des Sozialprodukts geht, dann herrscht seitens der SPD seit Jahren absolute Fehlanzeige.
({9})
Mit einer Erhöhung der Steuerbelastung der Träger der wirtschaftlichen und technischen Leistung, wie von der Opposition gefordert, können weder die Realeinkommen unserer Bürger erhöht noch neue Arbeitsplätze geschaffen und auch die soziale Absicherung nicht auf eine solide Grundlage gestellt werden. Mit einer Ergänzungsabgabe für die Leistungsträger - ich bin gespannt, wie sich dieses Instrument weiterentwickelt -, mit zusätzlichen Arbeitsmarktabgaben, mit neuen Subventionen aus einem Schattenhaushalt, Sondervermögen „Arbeit und Umwelt" genannt, sowie mit einer rigorosen Verteuerung des Produktionsfaktors Arbeit durch massive Arbeitszeitverkürzungen kann die SPD niemanden überzeugen, am allerwenigsten die, die neue Arbeitsplätze schaffen sollen.
Der völlige Realitätsverlust der SPD zeigt sich bereits in der Beurteilung der jeweiligen Wirtschaftslage. Ginge es nach den Prognosen der SPD, befände sich unsere Wirtschaft im Sommer 1988 bereits in der dritten Rezession seit dem Regierungswechsel 1982.
Für 1984 prognostizierte der Kollege Roth einen Wachstums- und Beschäftigungseinbruch. Das Gegenteil war der Fall. Gleiches hätte sich nach der Einschätzung der Opposition zum Jahreswechsel 1986/87 vollziehen müssen. Tatsächlich brach damals jedoch nur die Neue Heimat zusammen. Nach den weltweiten Turbulenzen auf den Aktien- und Devisenmärkten im Herbst 1987 frohlockte die SPD: Der Aufschwung ist am Ende; die Notwendigkeit staatlicher Ausgabenprogramme zur Stärkung der Gesamtnachfrage ist unabdingbar. - Ich kann der Opposition nur empfehlen, endlich zur Realität zurückzukehren. Sie sollten die wirtschafts- und finanzpolitische Diskussion mit Fakten statt mit Phrasen führen.
({10})
Wie sieht nun die wirtschaftliche Bilanz im September 1988 aus? Während die SPD Jahr für Jahr über Wirtschafts- und Beschäftigungseinbrüche phantasiert, befindet sich unsere Wirtschaft seit dem Regierungswechsel im Herbst 1982 tatsächlich in einer sich selbst tragenden, nicht auf kurzfristigen konjunkturellen Spritzen des Staates beruhenden Aufwärtsbewegung. Während Arbeitnehmer und Rentner zu Beginn der 80er Jahre erhebliche Realeinkommensrückgänge hinnehmen mußten, sind allein von 1985 bis 1987 die verfügbaren Einkommen aller privaten Haushalte real um 8,5 % angestiegen. Lag die Inflationsrate zu Beginn der 80er Jahre noch bei rund 6 % - mit entsprechenden Kaufkraftverlusten der Verbraucher und Substanzeinbußen der Sparer - , so haben wir das Stabilitätsziel praktisch erreicht.
Während von 1979 bis 1982 nahezu 1 Million Arbeitsplätze abgebaut wurden, liegt die Zahl der Erwerbstätigen gegenwärtig um gut 800 000 über dem Tiefpunkt der Beschäftigungskrise.
Von 1982 bis 1987 stiegen die Geldvermögen der privaten Haushalte von 1,7 auf rund 2,4 Billionen DM, woraus die privaten Haushalte Zins- und Kapitalerträge von nahezu 110 Milliarden DM bezogen. Das entspricht rund 10 % der volkswirtschaftlichen Lohn- und Gehaltssumme.
Nach den Gewinneinbrüchen zu Beginn der 80er Jahre, die für den Abbau der rund 1 Million Arbeitsplätze entscheidend waren, hat sich im vergangenen Jahr die Ertragslage der Unternehmen Gott sei Dank grundlegend verbessert. Dank einer von 65 auf 75 gestiegenen Eigenfinanzierungsquote sind unsere Unternehmen zunehmend in der Lage, Investitionsvorhaben aus eigener Kraft zu finanzieren. Seit 1982 stiegen die privaten Anlageinvestitionen stetig mit einer Jahresrate von rund 5 %.
Die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen haben sich entscheidend verbessert. Die Staatsquote konnte von rund 50 auf gut 46 % gesenkt werden, und durch die dreistufige Steuerreform einschließlich der begrenzten Anhebung von Verbrauchsteuern wird die Steuerquote bis 1990 auf 22,7 % gedrückt. Das ist der niedrigste Wert in den letzten 25 Jahren.
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Wer wie die Opposition diese grundlegende Verbesserung der Wirtschaftslage nicht zur Kenntnis nehDr. Waigel
men will, darf sich nicht wundern, wenn er in der wirtschafts- und finanzpolitischen Diskussion national wie international nicht mehr ernstgenommen wird.
Diese grundlegenden Verbesserungen wurden nicht durch kurzfristige kreditfinanzierte Ausgabenprogramme, nicht durch kurzfristige Konjunkturspritzen, nicht durch Wiederholung der verfehlten Stopand-go-Politik der 70er Jahre erreicht, sondern durch eine langfristig angelegte, kalkulierbare Wirtschafts- und Finanzpolitik, in deren Mittelpunkt die Rückführung der Staatsquote, die schrittweise Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die Reduzierung der Steuerbelastung für Arbeitnehmer und Unternehmen, ergänzt durch eine offensive Arbeitsmarktpolitik, eine behutsame Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie zusätzliche Maßnahmen zur Privatisierung und Deregulierung, stehen.
Wir haben uns in all den Jahren von den Forderungen der Opposition, aber auch der Gewerkschaften und einiger Forschungsinstitute nach Rückkehr zu einem kurzatmigen konjunkturpolitischen Aktionismus nicht beirren lassen. Auch heute besteht aus der Sicht der Bonner Koalition - die Kollegen Bangemann und Graf Lambsdorff wie auch der Bundesfinanzminister haben dies zu Recht mehrfach unterstrichen - kein Anlaß zu einem wirtschaftspolitischen Kurswechsel, denn die aktuellen Daten sprechen für sich: Die Auftragseingänge beim verarbeitenden Gewerbe liegen gegenwärtig deutlich über 10 % über dem Vorjahresstand. Die Produktion in der Industrie wie im Baugewerbe übertrifft deutlich die Vorjahreswerte. Nach den Berechnungen des Statistischen Bundesamtes ist die Inlandsnachfrage im ersten Halbjahr 1988 gegenüber dem Vorjahreszeitraum um real 4,6 % gestiegen. Das Bruttosozialprodukt lag im zweiten Quartal 1988 um real 3,9 % über dem Vorjahreswert. Damit ist bei realistischer Einschätzung der Lage, ohne daß man gleich in Jubelstürme oder in Euphorie verfallen dürfte, im laufenden Jahr ein reales Wirtschaftswachstum von 3 % möglich. Das wäre gleichzeitig die bisher höchste reale Steigerungsrate in den 80er Jahren. Meine Damen und Herren, man erinnere sich noch an die Kassandrarufe Ende des vergangenen und Anfang dieses Jahres, als wir uns sehr vorsichtig zu den Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts geäußert haben!
({12})
Das, Herr Kollege Vogel, sind die Fakten. Es ist aber offensichtlich ein prinzipielles Dilemma sozialistischer Politik, die Realitäten richtig zu sehen.
({13})
Vor welcher Situation stehen wir? Wir haben mittlerweile den längsten Urlaub und die kürzesten Arbeitszeiten. Die Zahl der Auslandsurlaube deutscher Bürger steigt von Jahr zu Jahr. Unser System der sozialen Sicherung von der Unterstützung der Arbeitslosen bis hin zum Nettorentenniveau wird weltweit als hervorragend bezeichnet. Ungeachtet vieler Probleme - niemand wird sie leugnen - haben wir auch im Kampf gegen die Umweltverschmutzung entscheidende Fortschritte erzielt. Wir stehen dabei in Europa
und weltweit mit an der Spitze mit unseren Bemühungen, auch andere dafür zu gewinnen.
({14})
Gerade wenn wir die Lage bei uns mit der in kommunistischen und sozialistischen Staaten vergleichen, sind wir Spitze. Aber auch mit jedem anderen Nachbarland können wir es aufnehmen. Dennoch ist dies alles noch zu wenig; darüber sind wir uns im klaren.
({15})
Bei der anhaltenden wirtschaftlichen Aufwärtsbewegung werden wir am Ende dieses Jahrzehnts den Arbeitsplatzverlust von einer Million zu Beginn der achtziger Jahre ausgeglichen haben. Dennoch bleibt der Arbeitsmarkt die größte wirtschaftspolitische Herausforderung, vor der wir stehen. Mit der Rückkehr zu staatlichen Ausgabenprogrammen können wir dieses Problem jedoch nicht lösen.
Wie die jüngsten Daten zeigen, fehlt es nicht an gesamtwirtschaftlicher Nachfrage. Wie Karl Schiller schon vor Jahren zu Recht betont hat und wie Oskar Lafontaine dazugelernt hat, ist der Einsatz des keynesianischen Instrumentariums nicht angebracht. Wir stehen vor strukturellen Problemen in den Krisenbranchen. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es erhebliche sektorale und regionale Differenzen zwischen Angebot und Nachfrage. Trotz einer Vielzahl arbeitsmarktpolitischer Initiativen der Koalition ist es bislang nicht gelungen, insbesondere die Langzeitarbeitslosen beruflich so zu qualifizieren und auszubilden, wie es dem Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft entsprechen würde.
Wer wie die SPD heute wieder vermeintliche Patentrezepte vorlegt, die innerhalb eines Jahres die Schaffung von 400 000, 800 000 oder gar einer Million neuer Arbeitsplätze versprechen, betreibt schlichtweg Volksverdummung.
({16})
Wenn Sie, Herr Kollege Vogel heute dem Leiter oder Inhaber eines mittelständischen Betriebs oder einem Handwerker erklären, mit der Haushaltspolitik der SPD, sprich: Subventionen aus dem Sondervermögen Arbeit und Umwelt, und mit der Steuerpolitik der SPD, sprich: Ergänzungsabgabe, Arbeitsmarktabgabe und höhere Unternehmensbesteuerung, ließen sich innerhalb eines Jahres hunderttausende neue Arbeitsplätze schaffen, dann werden Sie doch nicht für voll genommen. Sie werden als Antwort erhalten: Schon heute können meine Kollegen und ich größtenteils nicht jene Arbeitskräfte finden, die wir dringend benötigen. Das ist die Realität.
({17})
- Nein, nicht nur in München. Ich komme jetzt gleich auf ein Beispiel, das draußen auf dem Lande spielt, Herr Kollege Vogel.
Wie die tatsächliche Lage vor Ort aussieht, hat jüngst ein Unternehmer aus Wangen im Allgäu in
einer Leserzuschrift an eine führende deutsche Wirtschaftszeitung deutlich gemacht.
({18})
- Es ist gut, daß Sie den „Bayernkurier" als eine führende deutsche Wirtschaftszeitung bezeichnen. Ich werde es dem Chefredakteur weitergeben.
({19})
- Doch, er glaubt es. Er nimmt es in die Werbung auf, weil wir bei den sozialdemokratischen Lesern noch ein gewisses Defizit haben.
({20})
Aber ansonsten ist die Auflage des „Bayernkurier" größer als die des „Vorwärts", und seine Resonanz ebenfalls.
({21}) Ich zitiere den Unternehmer:
Meine Firma beschäftigt 200 Leute. Ich könnte 10 Mitarbeiter mehr beschäftigen. Im Kreis Ravensburg gibt es mehr als 2 000 Arbeitslose. Aber die 10 Leute sind nicht zu finden. Das Arbeitsamt Wangen ließ uns in den letzten vier Wochen 20 schriftliche Zuweisungen zugehen, wonach sich diese Leute vorzustellen hätten. 2 haben sich vorgestellt. Diese haben wir auch eingestellt. Die anderen hielten es nicht für nötig, sich vorzustellen.
Auch das ist Realität, die bei der Diskussion über die Aussagekraft der monatlichen Arbeitslosenquote und über die Verbesserung der Effizienz der Arbeitsverwaltung ganz offensichtlich manchmal nicht zur Kenntnis genommen wird.
({22})
Steuerpolitisch blieb die SPD auf ihrem Parteitag in Münster jegliche konkrete Alternative schuldig. Die Mehrheit will höhere Energieverbrauchsteuern, der Kollege Apel meldet Bedenken an. In der Steuerdebatte des Bundestages kritisiert die SPD die angeblichen Steuergeschenke für die Unternehmen, lehnt die Herabsetzung des Körperschaftsteuersatzes für einbehaltene Gewinne ab, um in Münster wieder einen kleinen Kurswechsel zu vollziehen und über die Begünstigung nicht entnommener Gewinne nachzudenken. Auf dem Parteitag fordert Herr Vogel die Aufrechterhaltung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit des Industriestandortes Bundesrepublik Deutschland und verschweigt die Reduzierung der Steuerbelastung der Unternehmen bei allen unseren Handelspartnern im Westen.
({23})
Wie der Kollege Stoltenberg mehrfach betont hat, gilt dies auch für Staaten mit sozialistischer Regierung. Was die Haltung der SPD zur Reform der Unternehmensbesteuerung betrifft, so ruft dies international nur noch Kopfschütteln hervor. Gleiches gilt für die Arbeitszeitverkürzung, von der beispielsweise die französischen Sozialisten nach ihrem wirtschaftspolitischen Desaster zu Beginn der 80er Jahre längst Abstand genommen haben.
Mit dem heute zur Beratung stehenden Entwurf des Bundeshaushalts 1989 und des Nachtragshaushalts 1988 hat die Bonner Koaltion erneut ihre Handlungsfähigkeit auch unter schwierigen Rahmenbedingungen unter Beweis gestellt und einen entsprechenden Schritt zur Fortsetzung unserer soliden Finanzpolitik geleistet. Die vor Jahresfrist noch nicht absehbaren Haushaltsprobleme auf der Einnahmenseite durch den Wegfall des Bundesbankgewinns und durch die höheren Zuweisungen an die EG sowie auf der Ausgabenseite durch die Finanzhilfen für die strukturschwachen Länder und die Sicherung der Finanzgrundlagen der Bundesanstalt für Arbeit werden durch eine maßvolle Anhebung vor allem der Energieverbrauchsteuern, was im Hinblick auf die erheblich gesunkenen Energiepreise gesamtwirtschaftlich vertretbar ist, teilweise aufgefangen. Ein Anstieg der Neuverschuldung auf rund 50 Milliarden DM, wie vom Kollegen Vogel noch vor wenigen Monaten prognostiziert, findet nur in der Phantasie der Sozialdemokraten, nicht aber in der Realität statt.
Wer im übrigen, wie die SPD, die steigenden Zuweisungen für den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft mitzutragen bereit ist und im Bundesrat lautstark Hilfen für strukturschwache Bundesländer fordert, im Gegenzug die dafür erforderliche Anhebung einiger indirekter Steuern ablehnt, obwohl wieder auf dem Parteitag von der notwendigen Strukturverbesserung im Steuersystem durch eine Verschiebung von den direkten zu indirekten Steuern gesprochen wird, der verdeutlicht auch damit seine finanzpolitische Unglaubwürdigkeit.
({24})
Auch unter dem Gesichtspunkt der Notwendigkeit eines ausgewogeneren Verhältnisses zwischen direkten und indirekten Steuern ist es erforderlich und hinnehmbar, die Verbrauchsteuern in einem begrenzten Umfang anzuheben. Wenn dann am Schluß dieser Legislaturperiode eine Gesamtentlastung des Steuerzahlers von etwa 42 Milliarden DM herauskommt, dann wird klar, daß diese Koalition eine Steuersenkungskoalition ist wie keine Koalition zuvor.
({25})
Auch in den anderen Bereichen der Politik kann sich die Bilanz der Bonner Koalition sehen lassen. Seit 1987 wurde eine Vielzahl von schwierigen Vorhaben angepackt bzw. auf den Weg gebracht. Ich darf mich auf wenige Beispiele beschränken.
Die weltweiten Herausforderungen auf dem Gebiet der Telekommunikation machen eine Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens unumgänglich.
({26})
Es geht keineswegs darum, bewährte Strukturen aufs Spiel zu setzen oder die Daseinsvorsorge der Bundespost einzuschränken. Im Gegenteil, Liberalisierungen werden dort vorgenommen, wo sie angesichts der veränderten Wettbewerbsverhältnisse und den technologischen Veränderungen im TelekommunikationssekDr. Waigel
tor erforderlich sind. Der einzige, der das bisher bei der SPD begriffen hat, ist Peter Glotz gewesen, und offensichtich ist auch das ein Grund, daß er bei Ihnen keine Mehrheiten mehr erhält.
In der Agrarpolitik, in einem schwierigen Feld, wurden die Weichen mit dem Ziel neu gestellt, die Produktionsüberschüsse zu drosseln, den Strukturwandel in der Landwirtschaft sozial zu flankieren und eine möglichst große Zahl selbständiger bäuerlicher Familienbetriebe zu erhalten. Die Agrarpolitik der EG wurde mittlerweile wieder auf eine sichere finanzielle Grundlage gestellt. Eine Politik, die einseitig auf Preissenkungen setzt, ist gleichbedeutend mit einem Mansholt-Plan durch die Hintertür und wird von uns abgelehnt. Mit der Produktionsaufgaberente und dem Flächenstillegungsprogramm wurde der Einstieg in den Jahrhundertvertrag erreicht. Der nächste Schritt besteht in der Umwandlung eines Teils der Vorsteuerpauschale in eine direkte Einkommenshilfe.
({27})
Die Bauern wissen, wir lassen sie nicht im Stich, und Ignaz Kiechle ist ein hervorragender Landwirtschaftsminister, der in schwierigster Zeit seine Pflicht tut und erkennen läßt, daß seine ganz Liebe den Bauern gilt.
({28})
In der Familienpolitik wurden in den vergangenen Jahren die Weichen neu gestellt. Die Mittel für die Familien, vor allem Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub, Kindergeldzuschläge und Kinderfreibeträge im Steuerrecht sowie die Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung wurden dabei um rund 15 Milliarden DM aufgestockt. Wann hat es je in einem Zeitraum von fünf bis sechs Jahren familienpolitische Weichenstellungen gegeben, die insgesamt Umschichtungen und Erhöhungen zugunsten der Familie in allen Bereichen in dieser Größenordnung gebracht hätten? Darauf sind wir stolz.
({29})
Wichtige und zukunftsweisende Vorhaben für den Bereich der Sozialpolitik sind in den Koalitionsvereinbarungen vom März 1987 vorgesehen, und wir verwirklichen sie Schritt für Schritt. Wir knüpfen damit an die erfolgreiche und richtungsweisende Politik in der letzten Legislaturperiode an. Schritt für Schritt setzen wir dieses Koalitionsprogramm um. Wir haben das Arbeitslosengeld für ältere Arbeitnehmer verlängert, wir haben die Erziehungszeitenregelung auf ältere Frauen ausgedehnt. In einer ersten Stufe wurde die Montan-Mitbestimmung gesichert. Wir haben ein Gesetz über den Minderheitenschutz im Betriebsverfassungsgesetz auf den Weg gebracht. Die Renten wurden pünktlich zum 1. Juli 1987 sowie zum 1. Juli 1988 um jeweils 3 % angehoben. In der Kriegsopferversorgung haben wir neben der laufenden Anpassung der Renten auch strukturelle Verbesserungen mit aufgenommen. Die bisherige Jugendvertretung in Betrieben und Behörden wurde in eine Jugend- und Auszubildendenvertretung umgewandelt. Die Koalition erweist sich damit auch auf diesem Gebiet als voll handlungsfähig.
Eines der großen Ziele in dieser Legislaturperiode ist es, das System der sozialen Sicherung mit dem gesamtwirtschaftlichen Leistungsvermögen in Einklang zu bringen und in Einklang zu halten. Soziale Sicherungssysteme sind in die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eingebettet. Wirtschafts- und Sozialpolitik ergänzen und begrenzen sich gegenseitig. Wirtschaftspolitik ohne soziale Gerechtigkeit verfehlt den sozialen Frieden, Sozialpolitik ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beraubt sich selbst ihrer finanziellen Grundlagen. Wir wollen das Gleichgewicht zwischen Wirtschaft und Sozialsystem dauerhaft sichern. Nur dort, wo sich die Leistungsfähigkeit und der Leistungswille des einzelnen optimal entfalten kann, nur dort, wo der einzelne nach Kräften auch für sich selbst sorgen kann, kann das erwirtschaftet werden, was zur solidarischen Hilfe für Schwache und Bedürftige in unserer Gesellschaft notwendig ist. Dies ist kein Sozialabbau oder eine Umverteilung von unten nach oben, es geht vielmehr darum, das soziale Netz auf eine solide und auf Dauer finanzierbare Grundlage zu stellen, etwas, was unter Ihrer Regierungszeit ins Wanken geraten ist.
({30})
Wir haben mit dem Bundesarbeitsminister das Gesundheits-Reformgesetz auf den Weg gebracht. Unser Gesundheitswesen gilt als eines der besten der Welt; es lohnt sich, dieses System zu erhalten. Es war bisher gekennzeichnet von einer ständig steigenden Ausgabenentwicklung, einer unglaublichen Dynamisierung, wobei ohne Zweifel Wirtschaftlichkeitsreserven vorhanden sind. Ohne die gesundheitliche Versorgung der Versicherten zu beeinträchtigen, ist es möglich und notwendig, Einsparungen zu erreichen.
Zum einen sollen neue Schwerpunkte in unserem Gesundheitswesen gesetzt werden - zu nennen ist der Gedanke der Prävention und der Vorsorge - , und zum anderen soll die Absicherung des Pflegefallrisikos behutsam erstmals in finanzierbarer Form aufgenommen werden. Die Reform ist vor allem notwendig, um die davongaloppierenden Beiträge wieder einzufangen. Die gesetzliche Krankenversicherung kostet die Beitragszahler inzwischen 125 Milliarden DM, fünfmal soviel wie im Jahre 1970. Der durchschnittliche Beitragssatz ist inzwischen von 8,2 % auf 13 % geklettert. Immer weiter steigende Beiträge belasten Beitragszahler und Arbeitgeber und stehen dem Ziel entgegen, neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Wir haben uns bei dieser Frage bisher für eine Linie der Vernunft eingesetzt und haben die Vorschläge und die Diskussionen von allen Beteiligten sehr ernst genommen. Die Versicherten können sich darauf verlassen, daß eine sachgemäße, qualitativ hochwertige Versorgung auch weiterhin garantiert ist. Wer krank ist, wird auch weiterhin die erforderliche Hilfe erhalten.
Herr Kollege Vogel hat in diesem Zusammenhang den Bundeskanzler persönlich wegen des Sterbegeldes angesprochen. Wir wissen, daß das natürlich ein emotionales Thema sein kann, das von Betroffenen, ja von allen sehr sensibel aufgenommen wird. Es fällt uns nicht leicht, in diesem Zusammenhang Sparmaßnahmen durchzuführen. Ich glaube aber, daß es sinnvoller ist, neue Herausforderungen solidarisch anzu6130
nehmen und z. B. ein Problem anzupacken, das bisher nicht gelöst worden ist, nämlich die Pflege schwer behinderter, schwer beschädtigter junger, aber auch älterer Menschen teilweise mitzufinanzieren. Dieser Dienst an den Kranken, an den Schwerkranken, an den Schwerbehinderten scheint mit wichtiger zu sein als die Auszahlung für etwas, was Erben, die meistens nicht in schlechten Verhältnissen leben, als selbstverständliche Pflicht ihren Toten gegenüber bezahlen und finanzieren können.
({31})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher?
Nein danke.
Ich meine, daß wir uns diesem Thema ohne Emotion mit einer klugen Abwägung zuwenden und versuchen sollten, das sachgerecht zu lösen. Ich glaube, wenn man die Alternative so sieht, dann ist man auch bereit, diese nicht einfache Einsparung mitzutragen.
Eine weitere große Herausforderung auf sozialpolitischem Gebiet ist die Rentenversicherung. Hier wird eine in der Zukunft eintretende Entwicklung, die auch andere Gebiete berührt, besonders deutlich, nämlich die Bevölkerungsentwicklung. Ich glaube, daß wir uns in vielen Bereichen der Politik überhaupt noch nicht im klaren darüber sind, was hier in den nächsten Jahrzehnten auf uns zukommt. Durch die demographische Kurve verschiebt sich das Verhältnis zwischen Beitragszahlern und Leistungsempfängern in einer beträchtlichen Weise.
Verstärkt wurden diese Probleme durch eine Verlängerung der Ausbildungszeiten auf der einen Seite, durch eine stetige Vorziehung des Renteneintrittsalters auf der anderen Seite. Das zahlenmäßige Verhältnis zwischen jüngeren und älteren Menschen wird sich umkehren; unsere Bevölkerung wird älter.
Solidarität, gepaart mit dem Gedanken der Subsidiarität, gibt uns nicht nur im Gesundheitswesen Halt und Orientierung. Auch für die Neuordnung des Alterssicherungssystems wird dadurch die Zielrichtung angegeben.
In der Rentenversicherung gilt es, den Generationenvertrag zu sichern. Eine Reform ist nicht nur notwendig, sie ist auch dringlich. Die absehbare finanzielle Entwicklung duldet keine Vertagung.
Meine Damen und Herren, es zeichnet diese Koalition gegenüber anderen Regierungen aus, daß wir das, was auch nach dem Wahltag notwendig ist, rechtzeitig in Angriff nehmen und beschließen. Eine SPD-Regierung würde diese Frage mit Sicherheit erst nach dem Wahltag 1990 beschließen.
(
Sehr gut!)
Eine SPD-Regierung wäre mit Sicherheit nach dem Wahltag an die Verlängerung des Wehrdienstes herangegangen. Wir sagen den Bürgern vor den Wahlen die Wahrheit und unterscheiden uns damit von Ihrer Politik in den 70er Jahren.
({0})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Penner?
Nein. - Wir wollen bei der Reform an dem bewährten Rentensystem mit lohn- und beitragsbezogener Alterssicherung festhalten. Teile der Reform - wir treten dabei vor allem für einen deutlich höheren Bundeszuschuß ein - müssen bereits Anfang der 90er Jahre stufenweise in Kraft gesetzt werden. Auch Maßnahmen, die erst langfristig wirksam werden. müssen beizeiten klar sein. Der Versicherte soll seine Lebensplanung darauf einstellen können. Das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der Rentenversicherung muß erhalten bleiben, Belastungen müssen gleichmäßig verteilt werden. Die Rentenreform wird um so besser gelingen, je mehr sich die Betroffenen solidarisch verhalten. Wir brauchen die Freundschaft zwischen den Generationen. Das große Reformwerk kann nur gemeinsam bewältigt werden. Wir würden es begrüßen, wenn es hier zu einer gemeinsamen Lösung unter den demokratischen Parteien und den Tarifpartnern käme.
Ein wichtiger Punkt ist für uns der Schutz des Lebens, auch der Schutz des ungeborenen Lebens. Wir werden weiter auf die Verabschiedung des Beratungsgesetztes drängen. Gerade in diesem Bereich kommt der Schutzgedanke, der einer Politik aus christlicher Verantwortung zugrunde liegt, deutlich zum Ausdruck. Hier ist auch der Verantwortungsbereich der Kirchen berührt, an die ich appelliere, uns hier wie bisher zu unterstützen oder zu kritisieren, wenn es notwendig ist.
Herr Kollege Vogel, Sie sind laut Handbuch des Deutschen Bundestages seit 1952 Mitglied der ÖTV. Was geht eigentlich in dieser Organisation vor, wenn nur noch ein Bewerber, der sich ausdrücklich zur bedingungslosen Freigabe der Schwangerschaftsabbrüche bekennt, die Möglichkeit erhält, in den Vorstand dieser Organisation gewählt zu werden? Sie sind doch ein Mann, der sonst immer für die politische Kultur im Lande eintritt. Warum haben Sie sich damals zu dieser Frage als Mitglied der ÖTV eigentlich nicht geäußert?
({0})
- Herr Vogel, wenn ich es nicht weiß, dann wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie es mir mitteilen könnten. Ich werde dann für die Verbreitung sorgen, die Sie bisher unterlassen haben.
({1})
- Durchaus.
In schwierigen Gebieten der Innenpolitik hat die Bonner Koalition ihre Handlungsfähigkeit ebenfalls unter Beweis gestellt. Das Artikelgesetz zur inneren Sicherheit wurde auf den Weg gebracht. Wir stehen zum Demonstrationsrecht, wir sind jedoch nicht bereit, gewalttätige Demonstrationen tatenlos hinzunehmen. Wer vermummt oder bewaffnet an einer Demonstration teilnimmt, steht nicht unter dem Schutz
des Grundgesetzes, sondern gehört in den Anwendungsbereich des Strafrechts.
({2})
Wer Zustände, wie wir sie in der Hafenstraße in Hamburg erlebt haben, akzeptiert oder hinnimmt, darf sich nicht wundern, wenn das Rechtsbewußtsein breitester Schichten unserer Bevölkerung ins Wanken gerät.
Auf dem Parteitag in Münster und heute wieder sprach der Kollege Vogel von der politischen Ausbeutung des Geiseldramas. Wer die zuständigen Landesinnenminister für die fatalen Fehler dieses Dramas in die politische Verantwortung nehmen will, verstößt nach den moralischen Vorstellungen des Kollegen Vogel gegen die Mindeststandards politischer Kultur. Ich kann Ihnen darauf nur antworten: Wir sind nicht bereit, den Täterschutz vor den Opferschutz zu stellen.
({3})
Herr Kollege Vogel, ich kann mich gut erinnern, wie Sie vor zwei Jahren bei der Flucht des Spions Tiedge den Bundesinnenminister persönlich und politisch angegriffen haben, einen Untersuchungsausschuß verlangt haben und in einer an Schäbigkeit nicht mehr zu überbietenden Form Vorwürfe gemacht haben. Hier ausgerechnet sind Sie nicht bereit, die politische Verantwortung derer, die wirklich wußten, was geschieht, und Einflußmöglichkeiten hatten, zu akzeptieren.
({4})
Daß Sie in diesem Zusammenhang Gott anrufen, er möge uns vor gewissen Menschen schützen, das ist eine unglaubliche Blasphemie, für die Sie sich schämen und entschuldigen sollten.
({5})
In die Ost-West-Beziehungen ist seit dem Amtsantritt Gorbatschows Bewegung gekommen. Die Bonner Koalition hat entscheidend zur Verbeserung der Beziehungen zwischen Ost und West beigetragen. Wir stehen fest im westlichen Bündnis und verwirklichen auf dieser Grundlage eine Politik des Dialogs und der politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas und sind deshalb auch ein für die östliche Supermacht kalkulierbarer Gesprächspartner.
Obwohl die Spannungsursachen fortbestehen, ist die Zeit der offenen Konfrontation vorüber. Der bevorstehende Besuch Bundeskanzler Kohls in Moskau und der Besuch des Generalsekretärs Gorbatschow in Bonn werden ein deutlicher Beweis für den erreichten Fortschritt in den gegenseitigen Beziehungen sein.
Eine neue Eiszeit in den Ost-West-Beziehungen, wie sie von der Opposition befürchtet worden war, fand ausschließlich in den Köpfen einiger Sozialdemokraten und am Nordpol und am Südpol statt. Das Gegenteil ist eingetreten. Das Ergebnis bei den Abrüstungsverhandlungen der beiden Großmächte im Bereich der Mittelstreckenflugkörper wäre ohne die feste Haltung dieser Bundesregierung und ohne den
Vollzug des NATO-Doppelbeschluses nicht möglich gewesen.
({6})
Durch unsere konsequente Politik konnte mehr Abrüstung erreicht werden, als die SPD je gefordert hat. Wäre es nach der SPD gegangen, hätten die Sowjets keine einzige ihrer SS-20-Raketen vernichten müssen. Der Verlauf der Verhandlungen bei den Mittelstreckenraketen hat gezeigt: Nicht mit Vorleistungen, nicht mit einseitigen Abrüstungsschritten, nicht mit bedingungsloser Übernahme sowjetischer Verhandlungspositionen, sondern einzig und allein durch die Demonstration von Entschlossenheit, durch Berechenbarkeit und Realismus sind echte Fortschritte im Bereich der Abrüstung und der Rüstungskontrolle möglich.
({7})
Zu abrüstungspolitischen Vorleistungen besteht kein Anlaß. Immer wieder muß daran erinnert werden: Abrüstung, Rüstungsbeschränkung und Rüstungskontrolle sind kein Selbstzweck, sondern müssen der Verbesserung der Sicherheit und der Sicherung des Friedens dienen. Eine Abrüstungspolitik, die das sowjetische Übergewicht festschreibt oder sogar neue Ungleichgewichte schafft, dient diesem Ziel nicht. Sie würde vielmehr die Bedrohung von Frieden und Freiheit verstärken.
Solange noch keine weiteren ausgewogenen Abrüstungsverträge vorliegen, dürfen wir in unseren Anstrengungen für Frieden und Sicherheit nicht nachlassen. Die Erhöhung des Verteidigungshaushalts im Haushaltsjahr 1989 ist dafür ein deutliches Signal. Die Soldaten der Bundeswehr haben einen Anspruch darauf, zur Erfüllung ihres schwierigen Auftrags zur Sicherung des Personalumfangs der Streitkräfte und für die Materialbeschaffung ausreichende Finanzmittel zu erhalten.
Auch mit der Deutschlandpolitik können wir im Rahmen dessen, was ereichbar ist, zufrieden sein. Heute genau vor einem Jahr begann Erich Honecker seinen Besuch in der Bundesrepublik Deutschland. Ein großer Teil der Vorhaben, die vor Jahresfrist vereinbart worden waren, konnte verwirklicht werden.
Die Bundesregierung ist in dem Bemühen vorangekommen, die schmerzlichen Folgen der Teilung unseres Vaterlandes zu lindern und die Menschen einander näherzubringen. Das Bewußtsein für die Einheit der Nation ist wach wie eh und je, und der Wille, sie zu bewahren, ist ungebrochen.
Ein deutliches Zeichen der Verbesserung der OstWest-Beziehungen ist die sprunghaft gestiegene Zahl der Aussiedler. Mit der Bereitstellung von Sondermitteln im Bereich des Wohnungsbaus hat die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag zur Eingliederung der Aussiedler geleistet.
Es geht jedoch nicht nur um die Bereitstellung finanzieller Mittel, um diesen Deutschen ein menschenwürdiges Leben in der Bundesrepublik
Deutschland zu ermöglichen. Entscheidend ist vielmehr - und hier stimme ich dem Bundeskanzler und auch dem Oppositionsführer zu - , manche Verwirrung in der Offentlichkeit zu beseitigen. Allen muß klar sein: Aussiedler sind Deutsche. Sie sind Deutsche, die bis heute unter den Folgen des Zweiten Weltkriegs besonders schwer zu leiden haben.
({8})
Es ist beschämend, wenn die Aussiedler, die sich allen Widrigkeiten und Schwierigkeiten zum Trotz immer wieder zu ihrer deutschen Herkunft und Kultur bekannt haben, von manchem als Belastung für die Bundesrepublik Deutschland empfunden werden oder ihnen mit Gleichgültigkeit oder manchmal sogar mit Ablehnung gegenübergetreten wird. Einer wirtschaftlich gesunden Bundesrepublik Deutschland muß es möglich sein, diese Deutschen einzugliedern, wie es der Bundesrepublik Deutschland in ihrer Aufbauphase mit rund 12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen aus dem Osten gelungen ist.
({9})
Angesichts dieser unbestreitbaren Leistung in einer schwierigen Zeit des Aufbaus der Bundesrepublik bin ich mir der Zustimmung der Bürger unseres Landes, die diese Integrationsleistung selbst erlebt und durch ihre Arbeit ermöglicht haben, und ihrer Aufnahmebereitschaft für die Ausiedler sicher. Den Jüngeren unter uns muß dieses Vorbild Ansporn und Verpflichtung sein. Wir werben niemanden ab, wir gewähren aber denen Heimat, die in ihrer bisherigen Heimat heimatlos geworden sind.
({10})
Viele dieser Aussiedler würden es sicherlich vorziehen, in ihrer bisherigen Heimat zu bleiben. Was sie zur Ausreise bewegt, ist nicht nur die Hoffnung auf einen materiell höheren Lebenstandard, sondern vor allem der Mangel an Freiheit als das grundlegende Kennzeichen jeden Systems des real existierenden Sozialismus. Ob sich an diesem Zustand in den kommenden Jahren Entscheidendes ändern wird, werden wir in der Sowjetunion und in anderen Völkern beobachten können.
Weite Teile der Weltöffentlichkeit sind gegenwärtig fasziniert von den innenpolitischen Vorgängen in der Sowjetunion. Glasnost und Perestroika sind für viele Menschen Ausdruck der Hoffnung auf innere Reformen, Liberalisierung, Demokratisierung, vielleicht auch Marktwirtschaft innerhalb des kommunistischen Systems der Zentralverwaltungswirtschaften. Gorbatschows Ziel ist es, die wirtschaftliche Effizienz in den Staaten des real existierenden Sozialismus zu steigern.
Es stellt sich die Frage, warum Glasnost und Perestroika erforderlich sind, warum eine Steigerung der wirtschaftlichen Effizienz im Laufe der Jahre zu einer Überlebensbedingung des kommunistischen Machtbereichs unumgänglich geworden ist. Die Antwort liegt auf der Hand: Glasnost und Perestroika sind Ausdruck der grundlegenden politischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen im real existierenden Sozialismus. Ein politisches System, in dem alle Lebensbereiche vom Staat gesteuert werden, in dem die Volkswirtschaft unter einen zentralen Plan gestellt wird, in dem eine offene politische Willensbildung fehlt, ist nicht in der Lage, die Probleme von heute und morgen zu lösen. Es ist eigentlich kein Wunder, wenn diese Systeme in praktisch allen zivilen Sektoren der Technik mit Ausnahme der Weltraumforschung, in der Produktivität der Arbeit und des eingesetzten Realkapitals, in den Bemühungen zur Bekämpfung der Fehlentwicklungen im Umweltbereich zunehmend den Anschluß an die Entwicklungen im Westen verloren haben. In allen diesen Bereichen haben sich die freiheitlichen Systeme des Westens gegenüber dem real existierenden Sozialismus im Osten als eindeutig überlegen erwiesen. Dies sollte all jenen politischen und gesellschaftlichen Gruppierungen zu Denken geben, die unser System mit all seinen kleineren und größeren Fehlern teilweise oder ganz in Frage stellen, wirtschaftliche und soziale Gleichheit prinzipiell vor die Freiheit stellen und bei der Lösung politischer, wirtschaftlicher und sozialer Probleme ausschließlich auf die Allmacht des staatlichen Apparates setzen.
({11})
Inwieweit Glasnost und Perestroika Wirklichkeit werden, hängt von den innenpolitischen Kräftekonstellationen in der Sowjetunion ab. Wir können Gorbatschows Kurs nicht durch einseitige Vorleistungen oder wirtschaftliche Geschenke unterstützen. Wir können ihn jedoch unterstützen, indem wir die Aufrechterhaltung unserer Verteidigungsfähigkeit mit der Bereitschaft zur Kooperation in wirtschaftlichen und technologischen Fragen verbinden, diese wirtschaftlich-technische Kooperation mit der Forderung nach dem Abbau der militärischen Übermacht Moskaus, und unsere Vorstellungen von politischen und menschlichen Grundrechten immer wieder verdeutlichen, die letztendlich den Reformprozeß in der Sowjetunion ausgelöst haben. Wir sollten uns auch nicht scheuen, nicht nur die Bewunderung für das, was Gorbatschow will oder vorhat, dann und wann zum Ausdruck zu bringen, sondern auch unsere wirkliche Bewunderung für jene, die nicht bereit waren, sich und ihren Geist knechten zu lassen, für Männer, die jeder Unbill des Systems widerstanden, wie Sacharow und viele andere.
({12})
Wir haben unsere Politik in den vergangenen Jahren in den Zusammenhang übergreifender Ideen und Prinzipien gestellt. Unsere Ordnungspolitik im weitesten Sinne des Begriffs ist von liberalen und sozialen Grundsätzen geprägt. Bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Probleme haben wir mit Erfolg den Schwerpunkt auf die Freiheit und Eigenverantwortung der Bürger sowie auf die Kräfte des Marktes gelegt. Unsere Steuerpolitik orientiert sich gleichermaßen an der Leistungsfähigkeit wie - ich möchte das betonen - an der Leistungsbereitschaft der Bürger. Grundlage unserer Reformmaßnahmen im Bereich des Gesundheitswesens bildet ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Solidarität und Subsidiarität.
Freundschaft zwischen den Generationen ist unser Leitgedanke bei der Strukturreform in der Rentenversicherung. Personalität und Achtung der menschlichen Würde leiten unsere Bemühungen beim Schutz des Lebens, vor allem des ungeborenen Lebens.
Unsere Umwelt- und Energiepolitik stellt die voraussehbaren Folgen und Nebenfolgen aller alternativen Wege in Rechnung und ist mithin verantwortungsethisch ausgerichtet, wie es der Preisträger Jonas von uns fordert. In der Landwirtschaftspolitik bemühen wir uns um einen Ausgleich zwischen ökonomischen, ökologischen und sozialen Herausforderungen. Unsere Außen- und Sicherheitspolitik orientiert sich an Bergsträssers Weltkonzeption einer freiheitlichen Ordnung, d. h. einer freien Gemeinschaft freier Völker.
Die Koalition der Mitte hat in allen Bereichen der Politik ihre Handlungsfähigkeit unter Beweis gestellt.
({13})
Sie wird die noch ausstehenden Vorhaben auf den Weg bringen und verabschieden, und sie wird auf der Grundlage eines positiven Wählervotums mit Bundeskanzler Kohl ihre Arbeit über 1990 hinaus fortsetzen.
Ich danke Ihnen.
({14})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Vennegerts.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich das Bild betrachte, das der Bundesfinanzminister und soeben auch Herr Waigel vom Zustand dieser Republik zeichnen, habe ich den Eindruck, ich lebe in einem anderen Staat als Sie.
({0})
Das Sammelsurium an politischen Fehlentscheidungen und Widersprüchlichkeiten, das Ausmaß an Konzeptionslosigkeit und politischen Unterlassungssünden, das sich im Vorfeld des Haushalts 1989 abgespielt hat und in seinem Entwurf selber zum Ausdruck kommt, wird diesem Land leider noch teuer zu stehen kommen.
Obwohl inzwischen jeder um die Fragwürdigkeit und die Kurzfristigkeit konjunktureller Datenentwicklungen weiß, begehen Sie, Herr Stoltenberg, die grenzenlose Peinlichkeit, ein konjunkturelles Strohfeuerchen, das nichts anderes als die Entwicklung eines Vierteljahres darstellt - das wissen Sie ganz genau - , als großen Triumph Ihrer Politik der Absenkung der Staatsquote zu verkaufen.
In der „Wirtschaftswoche" vom 12. August dieses Jahres bestätigt Professor Ernst Helmstädter - seines Zeichens Mitglied des Sachverständigenrates und in dieser Eigenschaft sicherlich kein großer Kritiker der Bundesregierung - , daß die konjunkturelle Entwicklung im zweiten Halbjahr 1988 das Ergebnis der autonomen Entwicklung der Märkte sei. Ich zitiere:
... ohne jedes Zutun der Wirtschaftspolitik. Von daher kommt seit Monaten kein positiver Impuls mehr.
Tatsache ist: Die Auslastung der Sachkapazitäten ist seit zwei Jahren unverändert, und die Arbeitslosenquote verbleibt nahe dem historischen Höchststand. Das ist beschämend, Herr Bundeskanzler! Herr Waigel hat von Solidarität gesprochen. Was ist denn mit der Solidarität mit den Arbeitslosen, frage ich Sie, mit mehr als 2,2 Millionen Arbeitslosen? Wo bleibt da diese Solidarität? Mehr als 2,2 Millionen Menschen werden eiskalt vom Tellerrand der Alltagspolitik gekippt, d. h. mehr als 2,2 Millionen Frauen, Männer und Jugendliche ohne Arbeit, an denen die sogenannten Segnungen der Steuerreform spurlos vorübergehen, die aber gleichwohl durch die Verbrauchsteuererhöhung mit zur Kasse gebeten werden und damit u. a. den Höherverdienenden steigende Einkommen mitfinanzieren dürfen.
Wer ein Arbeitslosengeld von 1 000 DM bezieht, wer auf Rente oder Sozialhilfe in Höhe von 500 DM angewiesen ist, den läßt es herzlich unberührt, ob eine erfolgreiche Politik der Inflationsbekämpfung die Preise für CD-Spieler oder Personal Computer nach unten treibt. Dem Popanz drohender Inflationsgefahren werden seit Jahren systematisch Arbeitsplätze geopfert.
({1})
Und, Herr Waigel, ich muß Ihrem Gedächtnis hier einmal auf die Sprünge helfen. Sie haben Herrn Pöhl, den Bundesbankpräsidenten, vorhin zitiert. Dann müssen Sie auch sagen, daß in den Bundesbankberichten ganz klar steht, daß die Unternehmensgewinne den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg erreicht haben und daß trotzdem nicht investiert wird. Wie erklären Sie sich das? Da sind Sie die Antwort hier schuldig geblieben und verdrehen die Tatsachen.
({2})
Finanzminister Stoltenberg hat in seiner gestrigen Rede so blumig davon gesprochen, daß eine niedrige Steuerquote eine Entfesselung der schöpferischen Kräfte mündiger Bürger mit sich bringen werde. Der schlagendste Beweis dafür, daß sich diese schöpferischen Kräfte keineswegs in der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze entladen, ist die finanzielle Lage der Bundesanstalt für Arbeit. Bis vor kurzem noch ein Überschußbetrieb, kann sie im nächsten Jahr ein stolzes Defizit von 5 Milliarden DM aufweisen. Der totale Verzicht auf jegliche Art aktiver Arbeitsmarktpolitik von seiten dieser Bundesregierung darf jetzt von den Arbeitslosen mit 910 Millionen DM selber bezahlt werden, wie vor einigen Tagen aus dem Arbeitsministerium zu hören war. Die schöpferischen Kräfte der Bundesanstalt für Arbeit werden darüber hinaus um 540 Millionen DM beschnitten werden. So die unverantwortlichen Pläne von Arbeitsminister Blüm. Die Arbeitslosenquote, Herr Waigel, haben Sie hier angesprochen. Das sind teilweise Traumquoten, von denen Sie sprechen. Gucken Sie doch einmal ins Emsland, gucken Sie an die Nordseeküste, gucken Sie in be6134
stimmte Bereiche, wie es da mit der Arbeitslosigkeit aussieht!
Auch die sich in letzter Zeit häufenden Diskussionen über eine Verlängerung von Maschinenlaufzeiten werden zum Abbau der Arbeitslosigkeit nichts beitragen, im Gegenteil. Wenn Oskar Lafontaine auf dem SPD-Parteitag in der vergangenen Woche in Münster erklärt, Voraussetzung für eine aktive Beschäftigungspolitik sei auch eine ökologische und industriepolitische Erneuerung durch eine Reform des Finanz- und Steuersystems, so begrüßen wir es, daß Erkenntnisse, die wir seit Jahren propagieren, eine solche Verbreitung erfahren. Sie sprachen hier heute in ähnlicher Weise, Herr Vogel, und das begrüßen wird. Wenn Oskar Lafontaine zur Überwindung der Massenarbeitslosigkeit in diesem Zusammenhang längere Maschinenlaufzeiten, Flexibilisierung der Arbeitszeit und Wiedereinführung der Wochenendarbeit als Lösungsmöglichkeiten vorschlägt und dafür Lob von Graf Lambsdorff, Industrievertretern und Vertretern der Regierungskoalition erntet, dann sind wir mit vielen Gewerkschaftern der Meinung, daß solche Wege als gefährliche Entwicklung abzulehnen sind.
({3})
Es wäre der Abbau der von der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Jahrzehnten mühsam erkämpften sozialen Rechte. Wege aus der Arbeitslosigkeit müssen sich durch Erweiterung, nicht aber durch Einengung sozialer Rechte auszeichnen. Nur so kommen wir sinnvoll aus der Arbeitslosigkeit heraus.
Durch Ihre Politik werden soziale Konsens- und Solidarstrukturen aufgekündigt und wird der Egoismus in diesem Land systematisch stimuliert und finanziert. Wer wird denn noch angehalten, soziales Mit- und Verantwortungsgefühl zu entwickeln, wenn die Rückkehr zum Faustrecht der Prärie fast täglich von den politisch Verantwortlichen vorexerziert wird?
Aus der Idee, der Bund solle die Hälfte der Soziallasten übernehmen, um den Gemeinden mehr Luft für Investitionen zu geben, ist ein Gefeilsche einiger Landesfürsten geworden. Von den Sozialhilfeempfängern ist dabei nicht mehr die Rede. Leider, kann ich nur sagen. Die sind hinten runtergefallen, wie fast immer bei Ihrer Politik.
Die unter dem Strich übriggebliebenen 2,4 Milliarden DM sogenannter Strukturhilfe sind ein drastisches Beispiel für die ordnungspolitischen Widersprüchlichkeiten und Fehlleistungen der Bundesregierung. Wo liegt denn, bitte, die Logik einer Politik, die mit der einen Hand Ländern und Gemeinden durch eine Steuersenkungspolitik finanziell die Luft abschnürt, um mit der anderen Hand unkontrolliert 2,4 Milliarden in die Taschen der Länder fließen zu lassen? Da die Bundesländer nicht verpflichtet sind, die Bonner Gelder tatsächlich in die Gemeinden weiterzuleiten, kann man sich an fünf Fingern ausrechnen, daß damit die Löcher in den Haushalten gestopft werden. Von einer sinnvollen planerischen Strukturpolitik kann dabei auch nicht mehr die Rede sein; vom bürokratischen Aufwand ganz zu schweigen.
Da die Regierung Subventionen nicht im Gesamtzusammenhang struktur- und wirtschaftspolitischer
Ziele sieht, sondern immer nur als einen Haushaltsposten, den sie angeblich kürzen will, wuchern Sie unter der Hand um so planloser. Das zeigt die Zuwachsrate des Haushalts des Bundeswirtschaftsministeriums um 20 % . Der Fall Airbus, wo ein beispielloser Konzentrationsprozeß, nämlich die Fusion von MBB und Daimler-Benz, durch Übernahme künftiger Währungsrisiken sozusagen auf Staatskosten finanziert werden soll: wo bleibt da denn Ihre Rückführung der Staatsquote? Da muß man die Regierung doch einmal fragen. Herr Bangemann, Sie sitzen da. Wir werden darüber noch diskutieren. Das ist doch wirklich förmlich lächerlich, was Sie da machen. Das ist für mich skandalös.
({4})
Die Weltraumfahrt, von deren tieferem Sinn selbst Forschungsminister Riesenhuber nicht mehr restlos überzeugt ist, verschlingt im Haushalt 1989 17,4 % des Forschungsetats. Jede vierte Forschungs-Mark wird in den nächsten Jahren für diesen Zweck verfeuert werden. Die Zukunftsfinanzierung ist nicht gesichert. Die Lawine der Folgekosten, ähnlich wie im Fall Airbus, ist unübersehbar.
({5})
- Man muß eine andere Forschung betreiben.
Der Haushaltsentwurf 1989 und die Politik der Bundesregierung folgen keinen politischen Programmen, die sich an den drängendsten gesellschaftlichen Problemen und Anforderungen orientieren. Dementsprechend werden keine politischen Prioritäten gesetzt und in einen langfristigen planvollen Zusammenhang gebracht. Der Begriff „Mittelfristige Finanzpolitik" spricht eine eigene Sprache; er ist nur noch Makulatur.
Der Eiertanz um die Erdgassteuer ist ein beredtes Beispiel für den Charakter dieser Politik. Kurzfristige Ausschläge des Konjunkturbarometers bestimmen politische Entscheidungen. Ich zitiere den FDP-Vize Solms, der vor einigen Tagen dazu bemerkt hat: Wenn wir die viel besseren Zahlen damals schon gehabt hätten, hätten wir die Steuern nicht so stark angehoben.
Unter solchen Bedingungen ist die Regierung immer gezwungen, dem jeweils stärksten Druck nachzugeben. Das ist aber keine planerisch verantwortliche Politik, sondern eine Haushalts- und Finanzpolitik nach Rambo-Manieren.
({6})
Herr Stoltenberg, ich spreche Sie jetzt direkt an: In fast schon neokolonialistischer Positur gebärdet sich der Bundesfinanzminister gegenüber den Ländern der sogenannten Dritten Welt, wenn er ihnen die Bonner Haushaltspolitik als Allheilmittel für ihre wirtschaftlichen Probleme empfiehlt, zum Beispiel mehr Sparsamkeit in den öffentlichen Haushalten und den Abbau wettbewerbshemmender Strukturen, als seien dies die Ursachen für ihre Armut. In arroganter Art und Weise versucht er, die bestehenden AbhängigFrau Vennegerts
keitsverhältnisse zu kaschieren. Ich finde, dieses Kapitel ist eines der traurigsten dieser Politik hier.
Diese Arroganz der Macht hat sich für uns in erschütternder Weise auch in der Auseinandersetzung um die Durchführung der Flugschau in Ramstein gezeigt. Alle Warnungen, Menschenleben aus militärischem Imponiergehabe nicht aufs Spiel zu setzen, wurden von den Veranstaltern und Politikern wie dem für die Genehmigung verantwortlichen Bundesverteidigungsminister leichtfertig ignoriert. Was muß eigentlich noch passieren, bevor Sie alle Tiefflüge einstellen?
Ein weiteres desolates Kapitel Ihrer Regierungspolitik sind Ihre sogenannten Reformvorhaben. Eines der für diese Legislaturperiode angekündigten Reformprojekte der Bundesregierung ist die sogenannte Reform des Gesundheitswesens. Unter Reform versteht man eine strukturelle Verbesserung eines bestimmten Bereiches, z. B. unter Bildungsreform eine Erneuerung des Bildungssystems im Sinne einer Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten und nicht zuletzt der besseren materiellen Ausstattung etc. Das ist für mich eine Reform.
Wie heruntergekommen die Vorstellungen der Regierung von Reformen sind, zeigt sich daran, daß Sie ein reines Kostendämpfungsgesetz mit vielen unsozialen Auswirkungen als Reformwerk zu verkaufen versuchen und den Kritikern einer solchen Politik dann vorwerfen, sie sperrten sich gegen notwendige Reformen. Das mag Ihnen mit der Ihnen eigenen sozialen Demagogie in der ersten Runde der Diskussion vielleicht halbwegs gelungen sein, obwohl ich bezweifle, daß die Leute Ihnen das abnehmen.
Inzwischen ist es aber so, daß die großen Reformprojekte der Regierung Kohl - Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform und Postreform - bei ihrer konkreten Inangriffnahme mittlere bis schwere Koalitionskrisen auslösen und diese sogenannten Reformen bei den Bürgerinnen und Bürgern, die deren Auswirkungen zu spüren bekommen, auf Ablehnung stoßen.
({7})
Von daher bezweifle ich, ob die Regierung die angekündigten Maßnahmen überhaupt durchführen wird, will sie nicht den letzten Kredit in der Bevölkerung verspielen. Aber das ist Ihr und nicht unser Problem.
({8})
Ich habe im Zusammenhang mit der Kritik der Wirtschafts- und Finanzpolitik dargestellt, wie sich die Regierung beim Aufbau des Mammutrüstungskonzerns omnipotent in Szene setzt, während dieselbe Regierung bei der Bewältigung der uns bedrückenden Umweltprobleme als schlapper Nachtwächterstaat in Erscheinung tritt.
({9})
Der Bundesumweltminister betätigt sich als PublicRelations-Stelle der Regierung und darf heiße Luft ablassen. Sein Etat für das gesamte Umweltministerium ist mit weniger Finanzmitteln ausgestattet als der
Etatposten des Verteidigungsministers zum Umweltschutz, wobei unter Umweltschutz im Verteidigungsministerium zu verstehen ist: Beseitigung der Manöverschäden und Verlagerung der Tiefflüge ins Ausland.
({10})
Das ist Umweltschutz bei Ihnen.
Die Tätigkeit des Ministers Töpfer beschränkt sich im wesentlichen darauf, Broschüren über das drucken zu lassen, was an kläglicher Umweltpolitik versucht wurde bzw. das, was man tun müßte, aber dann doch nicht tut. Im Zusammenhang mit dem Nord- und Ostseesterben erklärt er uns, daß er ein Programm von etwa 20 Milliarden DM und ein Vetorecht im Kabinett benötige, um wirksame Umweltpolitik zu betreiben. Dann darf er in den darauffolgenden Tagen in der Zeitung lesen, daß er für sein 20 Milliarden-Projekt vom Bundesfinanzminister keine müde Mark erhält, weil das Geld des Bundeshaushalts schon ausgegeben bzw. anderweitig verplant ist und der Bundeskanzler auch kein Verständnis für sein Vetorecht hat. Aber vielleicht hören wir dazu heute noch etwas von Ihnen, Herr Kohl.
({11})
Umweltpolitik, die diesen Namen verdient, läßt sich in einem der reichsten Industriestaaten der Welt eben nicht in einem Ein-paar-hundert-Millionen-DM-Ressort erledigen, sondern muß integraler Bestandteil eines jeden Ressorts dieses Haushaltsbudgets sein.
({12})
Wirksame Umweltpolitik in dieser Industriegesellschaft läßt sich nicht mit ein paar Hochglanzbroschüren mit noch so wohlklingenden Absichtserklärungen machen.
Auch den Umweltschutz als Staatsziel ins Grundgesetz aufzunehmen, Herr Vogel, wie Sie es heute erwähnt haben, ist meiner Meinung nach unzureichend, wenn die Taten fehlen. Da nützt auch nicht die Aufnahme ins Grundgesetz. Ich denke, da können wir uns einig sein.
Um eine ökologische Politik zu betreiben, sind grundsätzlich strukturelle Änderungen notwendig, zu denen Sie offensichtlich nicht bereit sind. Am Beispiel Wasser will ich das verdeutlichen: Selbst bei dem von Töpfer vorgeschlagenen und von der Regierung nicht in Angriff genommenen 20-Milliarden-DM-Programm zur Nordseesanierung sollten die Konsumenten einen großen Teil der Finanzmittel aufbringen. Damit wird das Verursacherprinzip, das hier immer so propagiert wird, auf den Kopf gestellt;
({13})
denn die Industrie müßte nach dem Verursacherprinzip in erster Linie zur Kasse gebeten werden. Wir, die GRÜNEN, sind der Meinung, daß derjenige, der Risiken für Mensch und Umwelt schafft, bei Eintritt eines Schadens auch dafür haften muß. Wir werden deshalb in diesem Herbst einen Gesetzentwurf zum Umwelthaftungsrecht einbringen, da es nach geltendem Recht oft unmöglich ist, Umweltverschmutzer zum Schadensausgleich heranzuziehen. Die Aktivitäten der Bundesregierung beschränken sich bisher auf die
Einsetzung der interministeriellen Arbeitsgruppe vor zwei Jahren. Von Herrn Engelhard hört man nur, daß es unmöglich sein wird, es noch in dieser Legislaturperiode zu novellieren, was heißt, daß es, so fürchte ich, doch auf die lange Bank geschoben wird. Wir werden in dieser Frage hartnäckig bleiben.
Das trifft auch auf die von uns angekündigte Generaldebatte zum Thema Wasser in diesem Hause zu. Bei dieser Debatte werden wir die Regierung zwingen, sich zu allen Problemen der Wasserversorgung zu äußern.
Auch der Bereich der eklatanten Fehlentwicklung in der Landwirtschaftspolitik wie der Verseuchung der Böden und Gewässer durch Nitrate und Pestizide muß in diesem Zusammenhang genannt werden. Statt Flächenstillegungen zu subventionieren und eine Agrarpolitik zu fördern, die z. B. Hormonskandale durch eine Massentierhaltung erst möglich macht, sollte eine für Mensch und Tier verträgliche Landwirtschaft gefördert werden. Auch das wäre eine strukturelle Änderung.
({14})
Um eine ökologische Politik wirksam zu betreiben, müßte ein Gesamtkonzept in Angriff genommen werden. Dazu ist diese Regierung wohl leider nicht imstande.
Was die konservativ-liberale Regierung uns als Umweltpolitik zu verkaufen versucht, ist kurzatmig, konzeptionslos und letztlich dumm.
({15})
Der Finanzminister und Herr Waigel haben uns gestern und heute erzählt, wie toll die wirtschaftliche und konjunkturelle Lage sich in den letzten Monaten dank ihrer Politik entwickelt habe. Wenn das so zutreffen sollte, wie Sie es hier darstellen, dann ist mir völlig schleierhaft, weshalb Sie Ihren Umweltminister als Minister ohne Portefeuille, wie man das früher nannte, behandeln. Spätestens bei den Folgekosten einer verfehlten Umweltpolitik kommt doch die finanzielle Seite des Problems in verstärkter Form wieder auf Sie zu, nur mit der Konsequenz, daß inzwischen nicht mehr gutzumachende Schäden an Mensch und Natur verübt worden sind.
Ich erlaube mir, eine solche Politik dumm zu nennen, wobei ich daran erinnern möchte, daß Dietrich Bonhoeffer darauf hingewiesen hat, daß Dummheit nicht wesentlich ein intellektueller, sondern ein menschlicher Defekt ist.
({16})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bangemann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vielleicht ist es doch nützlich, wenn wir mal mit den Tatsachen beginnen.
({0})
Wir haben seit der Neuorientierung der Wirtschaftspolitik im Herbst 1982 durch die Koalition der Mitte
die wirtschaftspolitischen Rahmendaten und Voraussetzungen für die Entfaltung der Wirtschaft gesetzt. Die Erfolge der Wirtschaftspolitik haben ein Vertrauen in diese Politik geschaffen und dadurch die Voraussetzungen für Beständigkeit und die heute gute Konstitution der Wirtschaft gestärkt.
({1})
Die gravierenden Datenänderungen, die wir Ende des vergangenen Jahres bei den Wechselkursen zu verzeichnen hatten, die unruhige Situation an den Börsen und den Warenmärkten haben eine Zeitlang Unsicherheiten ausgelöst. Es ist richtig, daß wir Anfang diesen Jahres, als wir den Jahreswirtschaftsbericht zu erstellen hatten, vor dem Problem standen, daß alle zugrunde liegenden Daten erwarten ließen, daß sich der Wirtschaftsaufschwung in diesem Jahr fortsetzen würde, daß aber alle wesentlich an der Diskussion Beteiligten mit wenigen Ausnahmen davon ausgingen, daß die Verschlechterung der Stimmung infolge der Auseinandersetzungen an den Börsen diese Daten nicht zum Zuge kommen lassen würde. Eine der Ausnahmen war die Bundesbank. Eine zweite Ausnahme war der Sachverständigenrat. Als wir beim Jahreswirtschaftsbericht mit Rücksicht auf diese Stimmung gesagt haben, wir können 1,5 % bis 2 % Wirtschaftswachstum auch in diesem Jahr erreichen, standen wir einem Chor von Hohn und Spott gegenüber, nicht zuletzt auch aus den Reihen der Opposition.
Meine Damen und Herren, ich sage das nicht, um im Lichte des Recht-Behaltens dazustehen, sondern ich sage das, weil daran zweierlei abzulesen ist. Erstens. Wenn ich ständig falsche Prognosen abgebe - die Opposition hat in den zurückliegenden fünf Jahren zur wirtschaftlichen Entwicklung ständig falsche Prognosen abgegeben -,
({2})
kann man das auf zweierlei Arten erklären. Sie können zum einen Ihre Rolle als Opposition mißverstehen und einfach aus Mißgunst der Regierung und ihrer Tätigkeit gegenüber schlechte Stimmung machen wollen. Das wäre die eine Erklärung. Die andere Erklärung ist - die nehme ich jetzt einmal an, weil ich damit der Opposition weniger zu nahe trete - , daß sie kein Vertrauen in die Politik hat, die diese guten Ergebnisse gezeitigt hat.
({3})
Das heißt - zweitens - , daß es gar nicht auf die Prognosefähigkeit der Opposition ankommt, sondern es kommt darauf an, daß sie eine andere, falsche Politik im Auge hat, wenn sie unsere eigene, bessere, beurteilt. Das ist das entscheidend Unterschiedliche zwischen unseren Positionen.
({4})
Wir haben - das ist eine Tatsache, die niemand leugnen kann - seit Anfang 1983 einen Wachstumstrend, der durchschnittlich bei rund 21/2 % pro Jahr liegt, nach einer Stagnation zwischen 1979 und 1982. Wir haben dieses Wachstum erzielt, ohne daß es zu Preissteigerungen gekommen ist. Das, meine ich, verehrte Frau Kollegin, sollte man nicht mit der Bemerkung über die Preise von CD-Playern wegwischen,
gerade nicht im Zusammenhang mit Menschen, die
mit wenig Einkommen auskommen müssen. Denn
- ich unterstelle, daß Sie als Mitglied des Haushaltsausschusses das wissen - der Verbraucherpreisanstieg ist während aller dieser Jahre um 1 To herum gewesen. Das war gerade für Menschen mit geringem Einkommen ein großer sozialer Erfolg, den diese Regierung erzielt hat. Das können Sie nicht herunterreden.
({5})
Wir haben, Herr Kollege Jens - das kann man nicht bestreiten -, in diesem Zeitraum 1982/87 einen Verbraucherpreisanstieg - Sie wissen ganz genau, daß CD-Player bei diesem Verbraucherpreisindex überhaupt keine Rolle spielen - von 11/2 % gehabt, gegenüber 41/2 % in dem vorangegangenen Fünfjahreszeitraum.
({6})
- Ich unterstelle einmal, daß Sie diesen Zeitraum noch überblicken können. - Das heißt, meine Damen und Herren, daß diese Politik auch sozial ihre erfolgreichen Auswirkungen hat. Die Erwerbstätigenzahl ist im Sommer 1988 um 820 000 höher als im letzten Tiefpunkt, nämlich Ende 1983. Auch die Arbeitslosenzahl ist im August gesunken. Es ist richtig, daß wir im Jahreswirtschaftsbericht damit nicht gerechnet haben, weil ein Wirtschaftswachstum von 1,5 % bis 2 % nicht ausgereicht hätte. Nachdem heute gesagt werden kann, wir werden über 3°/0 erreichen - angesichts der Zahlen des ersten Halbjahres ist das gar nicht einmal übertrieben, sondern eher untertrieben -, kann man auch sagen, daß es positive Auswirkungen auf die Zahl der Arbeitslosen geben wird.
Es ist richtig - ich habe das von dieser Stelle bei jeder Gelegenheit gesagt - , daß die Arbeitslosigkeit heute kein ausschließlich konjunkturelles Problem mehr ist, sondern daß sie zu einem Strukturproblem geworden ist, weil die neu geschaffenen Arbeitsplätze Qualifikationsanforderungen stellen, die nicht von allen Arbeitslosen erfüllt werden. Deswegen ist die Ausbildung, die ständige Weiterbildung, der eigentliche Schlüssel zur Bekämpfung dieses Strukturelements von Arbeitslosigkeit.
Meine Damen und Herren, auch die Gewinne sind
- wie die Realeinkommen - angestiegen. Die Bundesbank hat darauf hingewiesen, daß in den vergangenen drei Jahren der höchste Anstieg der Realeinkommen der abhängig Beschäftigten in der Geschichte der Bundesrepublik zu verzeichnen ist, verehrter Herr Kollege Vogel.
({7})
- Ich habe schon auf dem Gewerkschaftstag der IG Chemie versucht, Ihnen das zu erklären.
({8})
- Sie haben recht, es war umsonst. Ich versuche es aber noch einmal.
({9})
- Ich bin davon sehr betroffen, Herr Kollege Vogel, weil ich nämlich Jurist bin und bisher immer dachte, Einserjuristen müßten gewissen Erkenntnissen zugänglich sein.
({10})
- Sie waren das nicht? Na gut, dann erklärt das vielleicht einiges.
({11})
Ich meine, Herr Kollege Vogel, zwei Dinge müßten Sie doch verstehen: Erstens. Wir haben einen Zuwachs der Realeinkommen. Zweitens. Wir haben auch einen Zuwachs bei den Gewinnen der Unternehmen, der prozentual höher liegt als der Zuwachs bei den Realeinkommen.
({12})
- Das ist nun keine Umverteilung. Ich versuche die Erklärung jetzt noch einmal:
({13})
Die Produktion ist heute kapitalintensiver, als sie es in der Vergangenheit war,
({14})
und sie wird weiter zunehmend kapitalintensiv sein. Weil das so ist, braucht ein Unternehmen heute schon allein deswegen höhere Gewinne, um diesen gewachsenen Kapitalbedarf zu befriedigen.
({15})
Außerdem braucht ein Unternehmen heute höhere Gewinne, um eine höhere Eigenkapitalquote zu haben.
({16})
Während der Zeit, in der die Eigenkapitalquote der Unternehmen ständig gesunken ist, ist die Gefährdung der Arbeitsplätze gestiegen.
({17})
Wenn in der Bauindustrie vor Jahren im Durchschnitt eine Eigenkapitalquote von unter 1 % galt, muß man sich doch nicht wundern, wenn ein solches Unternehmen beim geringsten Windstoß umfällt und wenn dabei Arbeitsplätze vernichtet werden.
({18}) Deswegen brauchen wir Gewinne.
Gewinne brauchen wir auch - auch das muß man Ihnen immer wieder sagen - , weil die zunehmende Verflechtung der Weltwirtschaft die deutsche Indu6138
strie dazu zwingen wird, auch im Ausland zu investieren.
({19})
Auch da fangen Sie immer Ihre Arie an und sagen: Die Investitionen der Unternehmen im Ausland schaffen keine Arbeitsplätze in der Bundesrepublik.
({20})
Das zeigt, Herr Kollege Vogel, wie begrenzt Ihr wirtschaftspolitischer Horizont ist.
({21})
Eine Volkswirtschaft, die ihr Bruttosozialprodukt zu einem Drittel aus den Außenwirtschaftsbeziehungen bezieht, muß im Ausland investieren. Sie muß gerade heute, wo Kooperation an die Stelle des klassischen Handels getreten ist, im Ausland neue Partner suchen, um auf diese Weise Arbeitsplätze sicherer zu machen. Da liegen die unbestreitbaren Erfolge dieser Politik.
Nun sagen Sie - auch Frau Vennegerts hat das gesagt - : Na ja, das ist eigentlich alles gar nicht die Politik, sondern das ist sozusagen von selbst gekommen. Sie zitieren dabei die Marktkräfte. Man muß sich schon wirklich fragen, ob es nicht bessere Kronzeugen für die Marktwirtschaft gibt als Sie. Das darf ich hier mit aller Unbescheidenheit wohl einmal feststellen.
({22})
Aber wir haben auch die Staatsquote gesenkt. Der Herr Kollege Vogel hat auf dem schon zitierten Gewerkschaftstag - wie übrigens auch der Kollege Rappe - darauf verwiesen, das sei durchaus gar nicht so besonders lobenswert, denn das bedeute ja auch, daß man die Sozialquote gesenkt habe. Da sieht man einmal, was sozialistische Politik im Verständnis der SPD heute ist! Ich muß nämlich sozialistische Politik in Schutz nehmen. Der Kollege Waigel, mit dem ich sonst in allen Punkten übereinstimmen kann, hat hier einen Punkt angesprochen, dem ich nicht zustimme. Herr Kollege Waigel, Sie haben mit Blick auf die SPD davon gesprochen, die sozialistische Politik der SPD überzeuge nicht und habe versagt. Nun muß ich Ihnen sagen - und ich sage das wirklich mit großer Freude, weil ich dazu beitragen kann, daß Sie in diesem Urteil noch präziser werden - : Die SPD betreibt eine Politik, die von weiten Teilen des internationalen Sozialismus gar nicht mehr akzeptiert wird.
({23})
Herr Kollege Waigel, wenn Sie nach Frankreich gehen, werden Sie feststellen, daß dort die Regierung, die ja bekanntermaßen von der Sozialistischen Partei gestellt wird, sehr vernünftige Wirtschaftspolitik macht.
({24})
Wenn Sie nach Spanien gehen, dann werden Sie bei
weitem keinen Ministerpräsidenten finden, der etwa
den höheren Anteil von Gewinnen in der spanischen
Industrie kritisiert. Nein, er freut sich darüber; er macht Pressekonferenzen und vertritt das als großen Erfolg seiner Regierung.
Wenn Sie mir noch folgen wollen, Herr Kollege Waigel,
({25})
und zwar ein wenig weiter weg nach Neuseeland und Australien, wo ebenfalls zwei völlig reinrassige sozialistische Regierungen bestehen,
({26})
dann werden Sie feststellen, daß manches, was dort beim Beschneiden von Sozialausgaben gemacht wird, von Ihnen, Herr Waigel, als einem reaktionären Konservativen als zu weitgehend empfunden würde.
({27})
Deswegen, meine Damen und Herren, muß man hier vorsichtig sein, so wie auch mit den Prognosen, die aus den jetzt schon gelichteten Reihen der SPD stammen und
({28})
auf die ich jetzt aus Zeitgründen nicht eingehen will.
Meine Damen und Herren, diese wirtschaftspolitische Grundkonzeption ist nicht nur durch diese aktuellen Daten bestätigt worden, sondern sie enthält auch ein Strukturkonzept. Sie ist ein Stück Gesellschaftspolitik, die Zukunft gewinnen soll. Deswegen ist es richtig, daß wir uns nicht einfach mit dem zufriedengeben, was wir heute erreicht haben. Das könnte man ja machen. Wir könnten uns jetzt hierhinstellen und sagen: Alles ist bestens. Nein, das tun wir nicht. Wir wissen vielmehr, daß diese Erfolge Strukturelemente enthalten müssen, damit sie auch in Zukunft wieder erreicht werden können. Das ist das Bemühen um Leistungsbereitschaft und Wettbewerb. Das ist nicht das Fördern von kaltem Egoismus, sondern dahinter steckt die Erkenntnis, daß ein Mensch, der leistungsbereit und leistungsfähig ist, nicht nur für sich selber einen größeren materiellen Nutzen erringen kann, sondern auch ein menschlicheres Leben führt.
({29})
In Leistungsbereitschaft steckt nicht ein kalter Egoismus. Das ist eigentlich vielmehr ein humaner Ansatz, den wir vollenden wollen. Dazu braucht man nun Reformen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie sich einmal in der Geschichte der Bundesrepublik umsehen und die Reformvorhaben betrachten, die die verschiedenen Regierungen, gleich welcher Parteicouleur, in Angriff genommen haben, dann stellen Sie fest: Es hat bisher keine Regierung gegeben, die in so großem Umfang und mit einem so großen Mut auch gegenüber Interessenten diese Reformvorhaben in Angriff genommen hat wie die jetzige. Wo hat es denn das gegeben?
Ich weiß, Sie bemühen sich immer wieder, die Steuerreform zu zerreden und darauf aufmerksam zu machen, daß damit eine Umverteilung stattfindet. Sie vergessen dabei völlig und Sie erwähnen es auch nie,
Herr Kollege Vogel, daß ein großer Teil der Steuerzahler, mehr als 700 000, in Zukunft überhaupt keine Steuern mehr zahlen wird. Sie vergessen dabei, daß die Situation der kinderreichen Familien erstmalig im Steuerrecht einigermaßen merkbar verbessert wird. Sie vergessen dabei, daß ein Großteil gerade der kleinen und mittleren Betriebe, die in Personalgesellschaften geführt werden, von dieser Steuerreform etwas haben.
Erst vor kurzem hat der Präsident des ZDH, als er wegen der von Ihnen erwähnten Debatte um den großen Befähigungsnachweis beim Bundeskanzler und bei mir war, noch einmal ausdrücklich bestätigt, wie dankbar das Handwerk und damit 90 % der kleinen und mittleren Unternehmen in der Bundesrepublik für die Steuerreform sind.
({30})
- Lassen Sie mich bitte einmal zu Ende reden, Herr Jens. Wir können uns ja vielleicht außerhalb dieses Raumes unterhalten, wenn Sie eine Frage an mich haben.
({31})
Lassen Sie mich wenigstens den einen Gedankengang zu Ende bringen.
({32})
- Herr Ehmke, ich würde Ihnen sogar eine Fahrkarte nach weiter weg bezahlen, wenn es darauf ankäme.
({33})
Herr Kollege Vogel, Sie sagen hier - daran kann man schon sehen, wie Ihnen die Argumente ausgegangen sind -, die Bundesregierung hätte Zweifel an ihrer Entschlossenheit gesät, den großen Befähigungsnachweis zu verteidigen. Wir haben eine unabhängige Deregulierungskommission eingesetzt. Nun stellen Sie sich einmal vor, meine Damen und Herren, was der Oppositionsführer gemacht hätte, wenn etwa der Wirtschaftsminister oder das Kabinett oder der Kanzler einer solchen Kommission Anweisungen gegeben hätten, was da für ein Theater über - wie Sie es ausgedrückt haben - die Macht und alles das, was wir damit an
({34})
Arroganz zeigen, losgegangen wäre. - Richtig, das Wort fehlte mir. Ich bin so wenig arrogant, daß mir gar nicht einfällt, wie das heißt.
({35})
Stellen Sie sich einmal vor, was das für ein Zirkus gewesen wäre! Jetzt haben wir die Deregulierungskommission völlig unabhängig und frei arbeiten lassen, und sie hat einen Fragebogen nicht nur an das Handwerk, sondern auch an andere Einrichtungen der Wirtschaft verschickt, um festzustellen,
({36})
wo das Handwerk - ich beschränke mich jetzt einmal darauf - eigene Deregulierungsvorstellungen entwickeln kann und was in diesem Zusammenhang das Handwerk vom großen Befähigungsnachweis sagt. Das ist der ganze Vorgang. Als dann im Handwerk darüber eine Diskussion begann, hat mein Staatssekretär Schlecht in einem Brief darüber aufgeklärt, daß die Bundesregierung keinerlei Absicht hat, den großen Befähigungsnachweis abzuschaffen. Dann ging die Diskussion weiter. Ich habe daraufhin im Einverständnis mit dem Bundeskanzler die Herren zu einem Gespräch eingeladen. Wir haben bei diesem Gespräch beide darüber aufklären können, daß die Position der Bundesregierung nicht nur die ist, daß wir den Befähigungsnachweis erhalten wollen, sondern daß wir dafür schon die Voraussetzungen auch im europäischen Zusammenhang geschaffen haben; denn in der Einheitlichen Akte, die den Binnenmarkt begründet, steht ausdrücklich drin, daß der große Befähigungsnachweis für uns nicht zur Debatte steht. Das benutzen Sie nun. Aber man muß nun wirklich sagen: Es fällt Ihnen nichts anderes mehr ein. Die Umwelt entspricht nicht Ihren Vorstellungen, und nun lassen Sie Ihre Referenten irgendwo kramen, und dann tragen Sie hier solche Sachen vor.
({37})
- Bitte.
Herr Abgeordneter Jens, bitte schön.
Ich komme gleich noch mit meiner Frage, Herr Bangemann, aber Sie hätten schon dafür sorgen können,
({0})
daß dieses Thema überhaupt nicht diskutiert wird. Ich frage Sie: Meinen Sie nicht, daß sich das Handwerk über Ihre Aussagen noch mehr gefreut hätte, wenn Sie endlich unseren Vorschlag aufgegriffen hätten, nämlich eine steuerfreie Investitionsrücklage im Interesse des Handwerks einzuführen?
({1})
Verehrter Kollege Jens, ich spreche von Zukunftspolitik und deswegen gehe ich auf diese Frage nicht ein.
({0})
Ich will nicht ausschließen, verehrter Herr Jens, daß es in den Reihen der SPD dazu in den nächsten Monaten auch andere Auffassungen und Äußerungen gibt, denn es ist ja erstaunlich, wie sich die gute Politik, die wir machen, schleichend doch auch in den Reihen der SPD verbreitet.
({1})
Ich will nur einmal den Kollegen Roth zitieren. Weil ich in der Vergangenheit häufig Anlaß hatte, ihn zu
kritisieren, muß ich ihn jetzt loben. Ich weiß nicht, ob das Ihrer Karriere jetzt schadet.
({2})
Ich muß es machen. Nach einer Schwedenreise hat Herr Kollege Roth zum Thema Arbeitszeitverkürzung erklärt - ich zitiere wörtlich - : „Ich bin sehr skeptisch gegenüber Arbeitszeitpolitik als Beschäftigungspolitik. " Ich finde das erstaunlich, ebenso das, was er weiter gesagt hat. Zur Frage des Strukturwandels in der Wirtschaft z. B. sagt er, daß es richtig ist und er Verständnis für die Aufgabe von Branchen und Unternehmen hat, die volkswirtschaftlich nichts mehr bringen. Er hat gleichzeitig einen aufklärerischen Auftrag wahrgenommen. Er hat sich nämlich an seine Partei gewandt und gesagt - auch wieder wörtlich - : „Das ist eine Lektion, die die SPD erst noch lernen muß, bevor sie die Regierungsverantwortung wieder übernimmt. "
Meine Damen und Herren, der Mann hat recht.
({3})
Herr Kollege Roth, ich habe es nicht für möglich gehalten, daß ich Sie einmal so uneingeschränkt unterstützen kann; ich tue das wirklich aus vollem Herzen.
({4})
Das gilt übrigens auch für manch andere Streitthemen. Ich kann mich noch erinnern - als Vorsitzender meiner Partei werden Sie mir diese Bemerkung erlauben -, wie wenig Widerhall wir mit den bescheidenen Versuchen erzeugt haben, das Ladenschlußgesetz zu liberalisieren. Dies gilt leider auch für einige in den Reihen unseres Koalitionspartners, aber auch dort verbreitet sich diese gute Ansicht Gott sei Dank stärker. Dies gilt inzwischen sogar auch für die SPD. Herr Conradi sagt, übrigens auch nach einem Besuch in Schweden
({5})
- ich sage ja, man soll unsere SPD-Kollegen wirklich in sozialistische Länder schicken, damit die einmal sehen, was ihre Kollegen dort machen -,
({6})
er hätte nun doch gewisse Überlegungen, was die Ladenschlußgesetzgebung angeht, und könne sich dem aufgeschlossener zeigen. Herr Glotz hat in der „Wirtschaftswoche" erklärt, daß er im Gegensatz zur Mehrheit seiner Partei für liberalere Ladenschlußzeiten ist. Er denkt wie die Herren Roth und Lafontaine über Möglichkeiten der Arbeitszeitflexibilisierung nach.
({7})
Herr Kollege Vogel
({8}) ich bin ein völlig unmilitärischer Mensch - , Sie haben auf diesem Gewerkschaftstag, wo wir beide waren
({9})
- ja, weil ich dort war -, gesagt, als ob Sie vom Gottsei-bei-uns redeten: Da ist diese Koalition, und sie redet von Flexibilisierung, Privatisierung, Deregulierung
({10})
- doch, doch - , als ob Sie damit die gespannten Zuhörer erschrecken wollten, und die waren auch etwas erschreckt.
({11})
Schauen Sie sich doch mal an, was in den Reihen Ihrer eigenen Partei vor sich geht, wie sich da diese „gefährlichen" Gedanken verbreiten.
({12})
Ich glaube, daß wir eines Tages mit unserer Politik etwas erreichen werden, was wir selbst vielleicht gar nicht für möglich halten - einige von uns vielleicht gar nicht erreichen wollen - : Wir werden auch noch die SPD reformieren.
({13})
Alle diese Stichworte: Deregulierung, Privatisierung, bezeichnen nämlich den Strukturwandel. Deregulierung baut nicht soziale Rechte ab, und Flexibilisierung in den Arbeitszeitregelungen ist nicht sozial unerträglich. Das Gegenteil ist richtig: Je mehr die Arbeitszeit gesenkt worden ist - übrigens auf Grund von Rationalisierungsanstrengungen aller in der Wirtschaft, auch der Unternehmen -, um so erträglicher wird es nämlich, einer flexibleren Regelung von Arbeitsanfang und Arbeitsende zuzustimmen. Es ist völlig klar: Wenn Sie noch eine 40- oder gar 45-Stunden-Woche haben, dann ist Arbeit am Wochenende praktisch ausgeschlossen. Wenn Sie aber eine 35Stunden-Woche haben - ich glaube, Sie steuern jetzt eine 30-Stunden-Woche an - ({14})
Mit diesen Zahlen ist das sehr schwierig, weil man irgendwo an eine Grenze kommt, wo diese Arbeitszeitverkürzung unsinnig wird.
({15})
- Aber nehmen wir jetzt mal die 35-Stunden-Woche, verehrter Herr Kollege Ehmke. Dann ist es nämlich durchaus zumutbar, auch einmal am Wochenende zu arbeiten. Meine Damen und Herren, das entspricht nicht dem Diktat von Maschinen, sondern das entspricht dem Diktat, dem wir uns als in den Welthandel verflochtenes Land am ehesten stellen müssen, nämlich einem Wettbewerb mit anderen Ländern.
({16})
Es wird natürlich auch in anderen Ländern steigende Löhne geben, und das ist gut so. Es wird aber in den anderen Ländern einen Zwischenraum geben, in dem sie ihren Kostenvorteil uns gegenüber ausspielen werden. Dem können wir bei unseren Kosten an Löhnen, Sozialkosten und anderen überhaupt nur begegnen, wenn wir die maschinelle Apparatur, mit der wir wirtschaften, optimal nützen. Das heißt, die Produktivität auf diese Weise zu gewährleisten, dient auch der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Hören Sie mit dem Gerede auf, als ob Arbeit, wirtschaftlicher Erfolg durch das Beschwören von Formeln geschaffen werden könnten. Das geht nur durch handfeste Arbeit, und der internationale Wettbewerb schenkt niemandem etwas, weder den Arbeitern und Angestellten noch den Unternehmern der Bundesrepublik.
({17})
Weil Sie mich danach gefragt haben, Herr Ehmke, will ich zum Schluß auch noch sagen, daß deswegen die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft und die Rolle der Bundesrepublik in dieser Gemeinschaft so wichtig ist. Wir haben eine einmalige Chance, die übrigens nicht auf Europa beschränkt ist: In allen Weltteilen, in Amerika, in Lateinamerika, aber vor allen Dingen auch in Asien schließen sich alte Nationalstaaten zu regionalen Gruppierungen zusammen, um auf diese Weise dynamischer zu werden und auch mehr sozialen Fortschritt zu garantieren. Wir sind schon viel weiter fortgeschritten als manche dieser Länder. Dieser alte Erdteil mit seinen vielen Verflechtungen und Gegensätzen, die in Kriegen gemündet haben, hat die Kraft gehabt, sich zu diesem Unternehmen zusammenzuschließen. Das ist für uns - übrigens auch für die ganze Welt - eine ungeheure Chance, denn wenn es gelänge, in diesem alten Erdteil eine solche Zusammenarbeit neu zu begründen, dann müßte das auch in anderen Teilen der Welt möglich sein. Deswegen sind auch dort Toleranz, Liberalität und auch Leistung im Wettbewerb angesagt. Diese Welt wird nicht auf Grund einer diffusen oder dogmatischen Vision dessen zusammenkommen, was sozial und gerecht ist. Sie wird zusammenkommen auf eine Weise, wie Menschen immer menschlich zusammenkommen können, nämlich durch das tägliche Miteinander, das tägliche Leben, das tägliche Arbeiten miteinander. Dazu müssen wir manche nationalistische Scheuklappe ablegen. Dazu müssen wir auch manchmal größere Toleranz zeigen, als wir das vielleicht in der Geschichte gewohnt waren.
Wenn wir das miteinander tun - vielleicht auch zwischen den Menschen, die das national und europäisch zu gestalten haben -, dann hat die Bundesrepublik eine Zukunft nicht allein, sondern in dieser Gemeinschaft und in einer Welt, die menschlicher geworden ist.
({18})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es entspricht der Tradition des Hauses und ist der Sinn der Generaldebatte über den Haushalt des Bundeskanzlers, daß alle
Fragen der Politik, alle Probleme, die uns bewegen, angesprochen werden und über sie diskutiert wird. Für die Regierung ist es eine Chance, ein Stück Rechenschaft zu geben, für die Opposition und die, die gegen die Regierung und ihre Politik stehen, Kritik zu üben. Das entspricht demokratischer Tradition und demokratischem Brauch. Natürlich werden wir uns hier in der Sache immer unterscheiden.
Ich will zu dem, was Herr Vogel gesagt hat, in ein paar Punkten zu den einzelnen Kapiteln Anmerkungen machen. Zum Allgemeinen will ich nur sagen, Herr Abgeordneter Vogel: Es war das übliche Katastrophenszenario, das Sie von der Bundesrepublik malen, das mit der Wirklichkeit des Landes nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.
({0})
Es war das Beschwören der alten sozialistischen Neidkomplexe gegen die, die angeblich mehr haben, obwohl Sie sehr genau wissen, daß alles, was Sie über eine Umverteilung behaupten, überhaupt nicht stimmt.
Wenn Sie einmal die Durchschnittseinkommen derer betrachten - der Kollege Bangemann sprach ja freundlicherweise von diesem gemeinsamen Erlebnis am Sonntag - , die von den Delegierten des Kongresses der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik vertreten werden, dann haben Sie eine Vorstellung davon, wie weit Sie mit Ihren Behauptungen von der Wirklichkeit entfernt sind.
Ich will als Parteivorsitzender nur eine Bemerkung zu einem Punkt Ihrer Ausführungen machen, weil mich das wirklich, zumindest erstaunt hat. Sie mögen ja über die Christlich Demokratische und die Christlich Soziale Union denken, was immer Sie wollen. Aber Sie sollten sich doch wenigstens in etwa an die geschichtlichen Tatsachen erinnern. Wenn Sie im Rahmen Ihrer Schlußbeschwörung sagen, daß der Kitt des Antikommunismus die Union zusammengehalten habe und dieser Kitt heute wegfalle, dann muß ich Ihnen sagen: Sie haben wirklich überhaupt keine Ahnung vom Wesen, von der Identität und von der Programmatik dieser Partei.
({1})
Wegen des selbstverständlichen Respekts, Herr Abgeordneter Vogel, den jeder von uns, der Ihrer Partei nicht angehört, der großen Tradition der deutschen Sozialdemokraten schuldet, sollte es für Sie, finde ich, umgekehrt selbstverständlich sein, solche Thesen nicht vor der deutschen Öffentlichkeit zu verbreiten.
Sie wissen so gut wie ich: Die 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland - im nächsten Jahr werden wir den Geburtstag feiern - wären ohne den Beitrag auch von Christlichen Demokraten und Christlich-Sozialen undenkbar.
({2})
- Wenn das unstreitig ist, dann tun Sie uns den Gefallen und verkünden Sie hier nicht derartige abwegige Thesen.
Meine Damen und Herren, ich will zunächst eine Bemerkung machen zum Standort der Bundesrepublik Deutschland im Bereich der Außen-, der Sicherheits- und der Europapolitik. Jeder, der das Land von draußen betrachtet, wer rausfährt - Martin Bangemann hat Ihnen ja gute Ratschläge gegeben - , wird feststellen, daß die Bundesrepublik Deutschland heute zu den angesehensten Ländern der internationalen Staatengemeinschaft gehört. Meine Damen und Herren, ich gehöre nicht zu denen, die die Zeitrechnung der Bundesrepublik ab 1982 datieren. Ich gehöre allerdings auch nicht zu denen, die, wie Sie es fortdauernd hier tun, die Zeitrechnung der Bundesrepublik mit dem Jahr 1969 beginnen. An dem Ansehen unserer Bundesrepublik Deutschland haben viele in allen demokratischen Lagern und Parteien mitgewirkt. Wenn wir heute ein gesuchter Partner in West und Ost sind, wenn wir hohes Vertrauen genießen, ist es eine gemeinsame Leistung. Aber, meine Damen und Herren, den Grund dafür, daß sich dieses Vertrauen verstärkt hat, daß das Ansehen gewachsen ist, können diese Bundesregierung und die sie tragenden Parteien durchaus für sich in Anspruch nehmen.
({3})
Wir haben nach den Turbulenzen, die durch die Sozialdemokraten im Jahre 1981/1982 in die deutsche Politik hineingetragen wurden, und nachdem Sie meinen Amtsvorgänger Helmut Schmidt gestürzt haben, dazu beigetragen, daß sich die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland wieder durch Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit auszeichnet.
({4})
Das ist so, weil wir klaren Grundsätzen folgen, weil wir die Realitäten nicht aus den Augen verlieren und weil wir versuchen, in einem vernünftigen Dialog zu einem fairen Interessenausgleich mit anderen zu kommen. Es ist wahr, es kann nicht bezweifelt werden, daß das Wort unserer Bundesrepublik Deutschland heute international zählt, weil wir ganz einfach halten, was wir zusagen, weil wir dort helfen, wo wir helfen können. Deswegen - das will ich hier von dieser Stelle wiederholen - haben die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland allen Grund, mit Zuversicht und Vertrauen in die Zukunft zu blicken.
({5})
Es ist unübersehbar, daß das Atlantische Bündnis, das in Jahrzehnten den Frieden und die Freiheit unseres Landes gewährleistet hat, heute geschlossener und gefestigter als in früheren Jahren ist. Der NATO-Gipfel im März dieses Jahres in Brüssel hat dies erneut bestätigt. Die Freundschaft mit unseren Partnern in den Vereinigten Staaten hat sich in zahlreichen und engen Konsultationen bewährt. Faire Partnerschaft, gegenseitiges Vertrauen, das ist das Signum unserer Beziehungen. Es ist uns gelungen, mit unseren Nachbarn und Partnern in Europa, nicht zuletzt in der Europäischen Gemeinschaft, die Beziehungen zu intensivieren.
Präsident Delors, den Sie gerne mit Recht zitieren, Herr Abgeordneter Vogel, hat den europäischen Gipfel im Juni in Hannover zutreffend als „Symbol für den wiedergefundenen Weg zum vereinten Europa" bezeichnet. Er hat der deutschen Präsidentschaft bescheinigt, daß in ihr „qualitativ und quantitativ mehr Entscheidungen getroffen worden ({6}) als in den zehn Jahren davor". Ich brauche diesem Lob nichts hinzuzufügen.
({7})
Die Idee eines geeinten und freien Europa lebt; sie hat neue Dynamik erhalten. Dort, meine Damen und Herren - das sage ich auch im Blick auf manche Diskussionen innerhalb der Bundesrepublik - , liegt die Zukunft unseres Landes, liegt die Zukunft in Frieden, in Freiheit, in Wohlstand und in sozialer Gerechtigkeit.
Die „Frankfurter Rundschau" schrieb damals, wir hätten einen „großen Sprung nach vorn" erreicht. Das gelang vor allem durch das enge, durch das vertrauensvolle Zusammenwirken mit unseren französischen Freunden. Das ist keine Achse Bonn-Paris, wie gelegentlich gemutmaßt wird. Das ist ein Werk der Vernunft, Ausdruck unseres Sinns für Realitäten und Ertrag daraus, daß wir aus der Geschichte gelernt haben. Unsere beiden Länder sind sich ein großes Stück nähergekommen, und wir sind beide, in Paris wie in Bonn, entschlossen, auf diesem Weg weiter gemeinsam voranzugehen. Dies ist eine Garantie, daß sich Europa einen wird.
({8})
Im West-Ost-Verhältnis ist durch die auf Ausgleich und Prinzipientreue zugleich bedachte Politik von Präsident Ronald Reagan und durch die Verständnisbereitschaft - und Offenheit zu Gesprächen - der sowjetischen Führung unter Generalsekretär Gorbatschow eine Chance zu mehr Zusammenarbeit, eine Chance zu mehr Interessenausgleich entstanden.
Vier Gipfeltreffen, meine Damen und Herren, in drei Jahren belegen eine Intensität des politischen Dialogs, der ohne Vorbild in der Nachkriegszeit ist. Zum erstenmal - viel zu wenige auch hierzulande sehen dies in seiner ganzen Bedeutung - in der Geschichte der Abrüstung wird weltweit eine ganze Kategorie von Waffen vernichtet, sind Kontrollen vor Ort in Ost und West möglich, wird über Abrüstungs- und Rüstungskontrolle zügig weiter verhandelt.
Die Bundesregierung - ich erinnere an meine Entscheidung zu Pershing I a und an unsere Debatte vor Jahresfrist - hat zu diesen Ereignissen ganz unmittelbar beigetragen. Beide Weltmächte haben uns dies wiederholt bestätigt. Der Erfolg wurde möglich nicht durch die Hinnahme sowjetischer Überlegenheit, wozu Sie in der SPD in all den Jahren bereit waren,
({9})
er wurde nicht möglich durch einseitige Vorleistungen, wie Sie sie auch von diesem Pult aus immer wieder vertreten haben, nicht durch jene eher seltsam anmutende unkritische Unterstützung sowjetischer Forderungen, was ja Ihre gängige Übung in der praktischen Politik geworden ist. Dieses Ergebnis wurde erreicht durch die Geschlossenheit, durch die Standfestigkeit der westlichen Gemeinschaft, durch zähes Ringen und auch - das füge ich deutlich hinzu - durch die Bereitschaft zum fairen Ausgleich der InterBundeskanzler Dr. Kohl
essen, die die Sowjetunion jetzt mehr als früher gezeigt hat und zeigt.
Meine Damen und Herren, diese Politik des Westens bewährt sich auch in der weltweiten Regelung regionaler Krisen, die den Frieden bedrohen. Es gibt auch dort Fortschritte. In Afghanistan hat der Abzug der sowjetischen Truppen begonnen. Im Golf-Konflikt ist ein Waffenstillstand erreicht. In Kamputschea und Angola ist Bewegung in Gang gekommen, im Sinn einer friedlichen Lösung.
Wir in der Bundesrepublik haben im Rahmen unserer Pflichten innerhalb der West-Ost-Beziehungen wie auch bilateral in den direkt geführten Gesprächen aktive Politik gestaltet. Unsere Beziehungen zur Sowjetunion entwickeln sich in einer vorher kaum denkbar gewesenen dynamischen Weise. Ich hoffe, daß es bei den bevorstehenden Begegnungen mit Generalsekretär Gorbatschow im Oktober in Moskau und auch beim Gegenbesuch des Generalsekretärs hier in Bonn im nächsten Jahr wirklich die Chance gibt, daß, wie wir es beide öffentlich bekundet haben, unsere Beziehungen eine neue Qualität gewinnen.
Wir sind zu konkreten Schritten auf allen Feldern bereit nach dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung.
Beispielhaft haben sich unsere Beziehungen zu Ungarn entwickelt. In der Zielsetzung guter Nachbarschaft arbeiten wir auch mit der CSSR zusammen, nach meinem Besuch in Prag im Januar mit neuen Vorstellungen und, wie ich hoffe, auch realistischen Möglichkeiten.
Wir wollen die traditionellen Bindungen mit Bulgarien stärken, und wir suchen mit Polen auf dem Weg der Verständigung der Regierungen und dem Weg der Verständigung und der Versöhnung der Völker voranzukommen, vor allem auch unter besonderer Berücksichtigung von Begegnungen der jungen Generation.
Wir wollen in dieser besonders schwierigen Lage auch die Gespräche mit Rumänien weiterführen und zum Erfolg bringen. Wir haben sehr konkret in den zurückliegenden Monaten Jugoslawien unterstützt.
Meine Damen und Herren, die innerdeutschen Beziehungen haben Ergebnisse ermöglicht, die die allerwenigsten von uns - ich schließe mich hier ganz bewußt ein - erwarten konnten.
({10})
Es ist schon gesagt worden: Heute vor einem Jahr war der Besuch von Generalsekretär Honecker bei uns. Es war ein Besuch, der mancherlei Schwierigkeiten bis zum Tag der Begrüßung hier in sich barg.
Im Rückblick auf diese jetzt abgelaufenen zwölf Monate darf ich hier sagen: Wir haben gute Fortschritte gemacht auf dem Weg der Verbesserung der Beziehungen, zum Vorteil der Menschen in Deutschland.
({11})
Die laufenden Gespräche sind bei einigen Themen verständlicherweise zäh und schwierig, aber wir sind fest entschlossen, auf diesem Weg voranzukommen.
Meine Damen und Herren, wenn sich die Zahlen so weiterentwickeln, was den Besuch von Landsleuten aus der DDR bei uns in der Bundesrepublik betrifft, und wir dann vielleicht am Ende des Jahres 1990 bilanzieren können, daß an die 20 Millionen Besucher aus der DDR in dieser Legislaturperiode zu uns in die Bundesrepublik gekommen sind, dann ist das ein großartiges Ergebnis. Es ist kein Ergebnis für die Plakate, es ist kein Ergebnis für ein falsches Pathos, es ist ein Stück wiedergewonnene Einheit im Denken und Fühlen der Menschen in Deutschland.
({12})
Wir sind fest entschlossen, diese Verhandlungen mit Nüchternheit weiterzuführen. Ich sage auch hier an die Adresse der SPD-Opposition: Ich brauche dazu wahrlich nicht die Belehrung von Besuchern in Ostberlin, die mir mehr oder minder einseitig die Forderungen der DDR-Führung übermitteln.
Meine Damen und Herren, nicht zuletzt wegen unseres zähen Bemühens - ich will ausdrücklich auch dem Bundesaußenminister dafür danken - ist es möglich gewesen, während unserer Präsidentschaft zu erreichen, daß EG und RGW im Juni eine „gemeinsame Erklärung" unterzeichnet und daß viele RGW-Mitglieder in der Zwischenzeit ihre Beziehungen zur Gemeinschaft normalisiert haben.
Aber die außenpolitische Erfolgsbilanz der Bundesregierung setzt sich auch in anderen Bereichen fort. Die Zusammenarbeit mit Japan, mit dem asiatischpazifischen Raum als einer der wirtschaftlich und politisch dynamischsten Regionen der Welt war noch nie so eng und umfassend, wie das heute ist. Das gilt vor allem auch für die ASEAN-Staaten, das gilt für Indien, Indonesien, und, was ich besonders herausstellen will, es gilt für die Beziehungen zur Volksrepublik China. Wenn in diesem Jahr, so wie sich die Zahlen jetzt abzeichnen, mehr Studenten und Praktikanten aus der Volksrepublik China bei uns in der Bundesrepublik ihre Ausbildung erfahren als in jedem anderen Land, ausgenommen die Vereinigten Staaten, ist das eine Brücke in die Zukunft. Wir sollten diese Politik konsequent weiter fortsetzen.
({13})
Wir haben auch die Beziehungen zu Lateinamerika und zum afrikanischen Kontinent aktiv fortentwickelt. Wir haben im Rahmen unserer Möglichkeiten im Nahen Osten und im Bereich der Golfstaaten versucht zu helfen, soweit dies möglich war.
Diese außenpolitische Bilanz der Bundesregierung ist positiv, und sie wird es bleiben. Alles, was wir an Tatsachen kennen, spricht dafür.
Wir Deutsche als geteiltes Volk im Herzen Europas verfolgen verständlicherweise mit besonderer Aufmerksamkeit die Veränderungen in der Sowjetunion und zugleich auch die Chancen für Veränderungen im Bereich der anderen Warschauer-Pakt-Staaten. Keiner in Europa - ich darf dies so sagen - ist mehr daran interessiert, zwischen West und Ost die Zeit der Konfrontation endgültig zu überwinden und eine stabile, ja, krisenfeste Grundlage des Dialogs und der Zusammenarbeit zu schaffen.
Die 19. Allunionskonferenz der KPdSU hat den Kurs Generalsekretär Gorbatschows bestätigt, Staat, Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren und mehr Offenheit zu ermöglichen. Wir begrüßen diese Bemühungen, die sich auch in der Außen- und Sicherheitspolitik langsam niederzuschlagen beginnen, und wir hoffen, daß dieser Öffnungs- und Reformprozeß in allen Staaten des Warschauer Pakts Fuß faßt und un-umkehrbar wird. Wir, die Deutschen, haben im geteilten Deutschland von einer solchen Entwicklung den größten Nutzen.
In meinen Gesprächen in wenigen Wochen in Moskau will ich auch an die Zeiten des fruchtbaren Miteinanders in der langen Geschichte der Beziehungen unserer beiden Völker anknüpfen. Mein Ziel ist es, eine neue Periode dauerhafter Zusammenarbeit einzuleiten und so auch zur durchgreifenden Besserung des West-Ost-Verhältnisses beizutragen. Auf der Tagesordnung meines Besuches werden alle Bereiche der beiderseitigen Beziehungen, zentrale Bereiche der internationalen Politik, der Sicherheit und Abrüstung stehen, aber auch die Grundfragen des Verhältnisses zwischen der Sowjetunion und uns.
Ich stelle mit Befriedigung fest, daß die Regierung der Sowjetunion begonnen hat, auch ihre Position im Blick auf die Bundesrepublik Deutschland neu zu überdenken. Ich begrüße in diesem Sinne in ganz besonderer Weise die Tatsache, daß die Zahl der Genehmigungen für die Ausreise von Deutschen aus der Sowjetunion merklich angestiegen ist. In diesem Jahr werden voraussichtlich 30 000, 40 000 - ich sage bewußt: deutsche - Landsleute aus der Sowjetunion zu uns übersiedeln. Sie sind uns ebenso willkommen wie die rund 40 000 Deutschen aus Polen und die rund 6 000 aus Rumänien, die in diesem Jahr bisher zu uns kommen konnten.
({14})
Meine Damen und Herren, die Verbesserungen in den West-Ost-Beziehungen haben nachhaltige Auswirkungen auf den Rüstungskontroll- und Abrüstungsdialog. Mit dem am 1. Juni dieses Jahres ratifizierten INF-Vertrag wird zum erstenmal in Ost und West wirklich abgerüstet. Der Abzug der ersten Pershing-Il-Raketen aus unserem Land hat bereits begonnen.
Herr Abgeordneter Vogel, ich hätte es gerne gehört, wenn Sie diese Tatsache heute hier einmal gewürdigt hätten.
({15})
Ich hätte von Ihnen gerne ein Wort dazu gehört, wie Sie jetzt die Tatsache beurteilen, daß ich Ihnen vor Jahresfrist hier und anderswo gesagt habe, daß in diesem Monat abgezogen werden würde. Wir alle haben aus dem Wahlkampf in Baden-Württemberg vor vier Jahren und aus dem Wahlkampf vor wenigen Monaten noch im Ohr, mit welch einer unglaublichen Hetze und welchen Verleumdungen gegenüber der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien Sie unsere Abrüstungspolitik dargestellt haben.
({16})
Herr Abgeordneter Vogel, ich war 1984 in Heilbronn, ich war 1988 in Heilbronn. Ich habe erlebt, was Ihre politischen Freunde unter Ihrer Führung dort unter die Bevölkerung gebracht haben.
({17})
Wenn jetzt in Heilbronn die Pershing-Raketen abgezogen wurden, dann ist das ein Erfolg unserer Politik,
({18})
weil wir Stehvermögen und Augenmaß gleichermaßen bewiesen haben.
({19})
Auch bei den START-Verhandlungen, meine Damen und Herren, über die 50%ige Verminderung der nuklearen strategischen Waffen der USA und der Sowjetunion gibt es deutliche Fortschritte. Wir hoffen, daß vor Ende der Amtszeit von Präsident Reagan, daß bis Ende dieses Jahres zumindest das bisher Erreichte in einer vernünftigen Form festgeschrieben wird, damit - wer immer Präsident wird - diese Verhandlungen ohne Zeitverzug im neuen Jahr mit der neuen Administration fortgesetzt werden können.
Vor allem erwarten wir, meine Damen und Herren, daß in der für uns ganz zentralen und entscheidenden Frage der konventionellen Abrüstung mit Abschluß des Wiener Folgetreffens auch das Mandat für die KRK-Verhandlungen verabschiedet wird. Dies könnte, wenn der gemeinsame Wille vorhanden ist, noch Ende dieses Jahres die Aufnahme von Verhandlungen bedeuten.
Wir haben uns darauf gut vorbereitet. Wir haben unser Konzept vorgestellt. Wir haben die Position der NATO in diesem Sinne mitgestaltet. Es geht uns um die Herstellung eines sicheren und stabilen Gleichgewichts konventioneller Streitkräfte auf niedrigerem Niveau. Es geht uns vorrangig um die Beseitigung der Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive, wie sie gegenwärtig der Osten bzw. die Sowjetunion besitzt. Wir gehen dabei von dem Grundgedanken aus, der von der Sowjetunion - ich betone das - bereits beim INF-Vertrag akzeptiert wurde: Wer mehr an solchen Waffen und Möglichkeiten besitzt, muß auch mehr abrüsten.
Die Bundesregierung setzt sich weiterhin energisch für den baldigen Abschluß eines Abkommens über das weltweite Verbot chemischer Waffen ein.
Wir streben im Sinne des Beschlusses der NATO-Außenminister von Reykjavik mit Nachdruck auch Verhandlungen über sowjetische und amerikanische nukleare Kurzstreckenraketen unter 500 Kilometer Reichweite in Europa an.
({20})
Dabei halten wir an dem Erfordernis eines umfassenden Konzepts der NATO fest, das den sich ergänzenden und voneinander abhängigen Aspekten der SiBundeskanzler Dr. Kohl
cherheit einerseits und der Abrüstung und Rüstungskontrolle andererseits Rechnung trägt.
Herr Abgeordneter Vogel, dazu eine Bemerkung, weil Sie Hinweise gaben: Sie kennen so wie ich die politische Lage.
({21})
Wenn wir jetzt - Sie haben das ja moniert und kritisiert - ein Gesamtkonzept schaffen wollen, müssen wir den gegenwärtigen politischen Realitäten der Vereinigten Staaten von Amerika Rechnung tragen; das wissen Sie doch so gut wie ich. Und wenn Anfang November in den USA gewählt worden ist, wird auf alle Fälle eine neue Administration kommen; welche, wissen wir nicht. Angesichts der Bedeutung dieses Vorgangs ist es doch ganz einfach notwendig, dieses Gesamtkonzept mit der neuen Administration auszuhandeln. Das ist doch in Wahrheit der Grund, warum wir im Moment nicht sofort und jeden Tag reagieren können.
({22})
Im Zusammenhang mit diesem Gesamtkonzept muß das Bündnis auch die künftige Struktur seines Atomwaffenpotentials definieren. Ich habe dazu mehrfach deutlich gemacht, daß es für uns keine isolierten Entscheidungen über einzelne Nuklearsysteme geben wird.
({23})
Meine Damen und Herren, das Bemühen um den Erhalt des Friedens und die Gewährleistung unserer Sicherheit müssen der oberste Grundsatz unserer Friedenspolitik sein. Wir werden dabei die Auswirkungen jedes einzelnen Rüstungskontroll- und Abrüstungsschrittes auf das für unsere Verteidigung Erforderliche stets sorgfältig abwägen müssen. Ich finde - das war ja einmal gemeinsame Politik des Hauses - , eine solche Politik steht ganz selbstverständlich und logisch in der Tradition des Harmel-Berichts aus dem Jahre 1967, den die NATO ja gerade jetzt wieder bekräftigt hat.
Garant unserer Sicherheit und unserer Freiheit, meine Damen und Herren - auch angesichts der weltpolitischen Entwicklung heute -, bleibt das Atlantische Bündnis. Und die Bündnissolidarität gebietet eine gerechte Verteilung von Aufgaben, Risiken und Verantwortlichkeiten zwischen den Partnern.
Deswegen will ich an dieser Stelle und bei dieser guten Gelegenheit heute noch einmal unsere Entschlossenheit bekräftigen, die der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen der NATO zukommenden Aufgaben weiterhin voll und ganz zu erfüllen. Dies ist nicht ohne Opfer möglich. Das weiß jeder, der sich klarmacht, daß neben der Bundeswehr auch noch weit mehr als 400 000 Soldaten unserer Verbündeten in der Bundesrepublik Deutschland stationiert sind - mit all den Folgen auch für den zivilen Bereich.
Hier ergeben sich viele zusätzliche Belastungen, die manchmal von denjenigen, die das von ferne betrachten - ich spreche hier auch ganz offen unsere
Freunde in den USA an - und die nach anderer Lastenverteilung rufen, nicht ausreichend gewürdigt werden. Ich habe dies im amerikanischen Parlament wie auch gegenüber der Administration bei jeder Gelegenheit deutlich gemacht.
Gerade weil wir die Notwendigkeit dieser Opfer für Frieden und Freiheit selbst akzeptieren und sie politisch durchsetzen, sagen wir allerdings auch, daß die Opferbereitschaft unserer Bevölkerung nicht überfordert werden darf. Deshalb hat der Bundesminister der Verteidigung aus gutem Grund Sofortmaßnahmen zur Minderung der Lärmbelästigung durch Tiefflüge angeordnet. Er prüft zur Zeit - und das wird ja dann auch in den parlamentarischen Gremien besprochen werden - , was darüber hinaus getan werden kann und getan werden muß, um die Belastungen weiter zu verringern. Dabei, meine Damen und Herren - dies füge ich gleich hinzu - , muß selbstverständlich auch gesagt werden, daß das, was hier geschehen kann, in einer Weise durchzuführen ist, durch die der Verteidigungsauftrag nicht gefährdet wird. Beides muß zusammen gesehen werden.
({24})
In diesem Zusammenhang, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir auch ein Wort zu der Katastrophe von Ramstein: Wir alle trauern um die Opfer. Wir alle empfinden Mitgefühl und Sympathie für ihre Familien, für ihre Angehörigen. Aber es wäre zuwenig, wenn wir es bei dieser Bemerkung beließen. Ich bin mit dem Bundesverteidigungsminister der Meinung, daß wir - der Herr Kollege Vogel hat es hier ähnlich angedeutet - in einem vernünftigen Gespräch über die Konsequenzen, die zu ziehen sind, miteinander reden sollten und dabei - wie ich hoffe - auch ein Stück Gemeinsamkeit finden. Wenn Bundesminister Scholz in diesen Tagen erklärte, er habe entschieden, daß Kunstflugvorführungen in militärischer Zuständigkeit künftig nicht mehr stattfinden, findet dies meine volle Unterstützung.
({25})
Wir werden bei voller Wahrung unseres Beitrags zur Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik und im Bewußtsein der dazu notwendigen Opfer auch mit unseren alliierten Freunden - ich nenne aus gutem Grund hier vor allem unsere amerikanischen Freunde - darüber zu sprechen haben - ich will es ganz einfach formulieren - , was geht und was nicht geht. Es müßte möglich sein, zu einer vernünftigen Position zu kommen.
Die Bundesrepublik Deutschland leistet ihren Beitrag als Stationierungsland. Wir stellen die stärkste konventionelle Streitmacht in der NATO in Europa. Wir tun dies, weil wir überzeugt sind, daß Europa die Anwesenheit amerikanischer Truppen nicht verlangen kann, wenn wir nicht selber unseren eigenen Beitrag leisten.
Wenn ich Mitte November mit Präsident Reagan in Washington zusammentreffe, will ich ihm - ich will das hier auch dem Hohen Hause sagen - vor allem
für die hervorragende Zusammenarbeit und die Offenheit für unsere Probleme in den letzten sechs Jahren danken. Die Politik des scheidenden amerikanischen Präsidenten im Abrüstungs- und Rüstungskontrolldialog und im West-Ost-Verhältnis findet sich heute eindrucksvoll bestätigt. Meinen Respekt für und meinen Dank an Präsident Reagan kann ich dann auch mit dem Ausdruck der Zuversicht verbinden, daß diese gute Politik mit seinem Nachfolger fortgesetzt werden kann.
({26})
Die Europäische Gemeinschaft hat unter unserer Präsidentschaft unter Beweis gestellt, daß sie fähig ist, die anstehenden Probleme zu meistern, so daß wir heute sagen können: Der große europäische Markt kommt, die Europäische Union hat jetzt eine wirkliche Chance.
Die Bilanz ist für uns Ausgangsbasis und Ansporn für die Zukunft. Es ist entscheidend, daß wir das Datum für die Verwirklichung des großen Markts, den 31. Dezember 1992, einhalten. Die Vollendung dieses großen Raums ohne Binnengrenzen für den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital bis Ende 1992 ist ein entscheidender Beitrag zur Sicherung unserer internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Der Kollege Waigel und der Kollege Bangemann haben das soeben noch einmal eindringlich dargelegt. Damit es keinen Zweifel gibt: Diese vier Jahre sind eine sehr, sehr kurze Zeitspanne. Wir müssen bis dann schwierigste Aufgaben der Anpassung unseres Landes, unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft an diesen großen Markt bewältigen. Ich erwähne nur die Steuerharmonisierung, die weitere Öffnung der öffentlichen Märkte, die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen mit allen Konsequenzen, und ich denke an vieles andere mehr.
Es muß uns zugleich darum gehen, Europa als Technologiegemeinschaft auszubauen und - das ist für uns besonders wichtig - auch in EG-Europa alles zu tun, damit hier ein geschlossenes Konzept des Umweltschutzes möglich ist. Ich weiß, daß wir gerade in der Frage des Umweltschutzes heute in vielen Fällen auch in psychologischer Hinsicht eine Art Pilotfunktion zwar nicht in Anspruch nehmen, aber durch die gegebenen Verhältnisse übertragen bekommen haben. Hier muß man viel tun. Denn dieses Europa wird nur dann von den Bürgern bejaht werden, wenn es auch auf dem Feld des Umweltschutzes überzeugt.
Die Gemeinschaft muß ihre Anstrengungen noch wesentlich verstärken, wenn wir unser Ziel 1992 erreichen wollen. Das erfordert von allen Mitgliedstaaten Flexibilität, Mut zu Entscheidungen, die manchmal auch unpopulär sind, und viel Ausdauer. Der Weg wird für uns mit Schwierigkeiten verbunden sein. Ich füge hinzu: Es kann nicht nach dem Motto gehen: „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" . Es kann nicht eine Politik des „Alles oder nichts" sein. Wir werden auch zu Kompromissen fähig sein müssen, die nicht zu jedem Zeitpunkt bei uns sofort verstanden werden.
Wir sind stolz auf die Bilanz unserer Präsidentschaft. Wir haben wesentlich dazu beigetragen, daß das europäische Schiff wieder Kurs aufgenommen hat.
Wir haben dafür gesorgt, daß sich Europa jetzt wieder zunehmend auf die Zukunft und ihre Ausgestaltung konzentriert.
Daher sind Mehrausgaben - dies sage ich hier zu Beginn der Etatberatung -, die wir in den nächsten Jahren nach Brüssel abführen werden, für die Deutschen eine hervorragende Investition in die Zukunft.
Mit der Vollendung des Binnenmarkts stellen sich aber neue Fragen, insbesondere die Frage nach der politischen Gestalt, der politischen Rolle des künftigen Europa. Das gilt nicht zuletzt für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik.
Wir haben mit dem deutsch-französischen Vertrag zur Schaffung eines Sicherheits- und Verteidigungsrats einen wichtigen Schritt in diese Richtung getan. Wir wollen dabei nicht stehenbleiben. Wir müssen noch mehr an die Zukunft denken, wenn wir die europäischen Interessen wirkungsvoll zur Geltung bringen wollen.
Meine Damen und Herren, in wenigen Wochen werden die Jahresversammlungen von Weltbank und Internationalem Währungsfonds bei uns in Berlin zu Gast sein. Mehr als 10 000 Delegierte und Konferenzbeobachter aus 151 Mitgliedstaaten werden in der alten deutschen Hauptstadt erwartet. Die Tagesordnung dort wird viele Möglichkeiten bieten, den gemeinsamen politischen Willen der Europäer deutlich zu machen für eine solidarische Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern.
Im Mittelpunkt der Beratungen werden stehen: die Lage der Weltwirtschaft und eine Wirtschaftspolitik zur Sicherung eines stabilen Wachstums und einer besseren Beschäftigung, der Stand der Entwicklungspolitik, vor allem die Schuldenlage der Entwicklungsländer, bei deren Bewältigung die beiden Organisationen, die jetzt in Berlin tagen, eine entscheidende Rolle spielen. Mir scheint es besonders wichtig, dem fatalen Zusammenwirken von Bevölkerungsexplosion, Armut und Umweltzerstörung in weiten Teilen der südlichen Erdhälfte Einhalt zu gebieten. Dazu gehört auch, daß wir, die großen Industrienationen, die Reicheren, wie gesagt wird, die anpassungsbereiten Entwicklungsländer, die einen oft schmerzlichen, aber unvermeidbaren Prozeß der Umgestaltung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft durchlaufen, aktiv unterstützen.
Ich darf daran erinnern, daß die Bundesregierung erst vor kurzem einen zusätzlichen Erlaß von Schulden aus Entwicklungskrediten an ärmere und hochverschuldete afrikanische Länder südlich der Sahara beschlossen hat. Zusammen mit Restschulden aus dem vorangegangenen Schuldenerlaß zugunsten der sogenannten am wenigsten entwickelten Länder und Schulden zweier weiterer Länder aus dieser Gruppe wird damit ein Forderungsvolumen von 3,3 Milliarden DM annulliert werden.
Im Hinblick auf die jetzt bevorstehende Berliner Tagung prüfen wir gegenwärtig in der Bundesregierung auch intensiv, inwieweit die Bundesrepublik Deutschland der Situation der Entwicklungsländer durch eine Verbesserung der Konditionen der finanziellen Zusammenarbeit Rechnung tragen kann und
welche konkreten Schritte möglich sind, um die Bedingungen für Umschuldungen im Rahmen des Pariser Clubs zu verbessern.
Nicht zuletzt ist diese Tagung von IWF und Weltbank eine großartige Chance für unsere alte Hauptstadt Berlin. Wohl kaum in den letzten 30 Jahren hat eine so bedeutende Zusammenkunft mit einer so repräsentativen starken internationalen Beteiligung in Berlin stattgefunden, eine Zusammenkunft, meine Damen und Herren, bei der es sehr konkret um ganz zentrale Fragen der künftigen Zusammenarbeit zwischen Nord und Süd geht. Wir sollten von hier aus, auch der Deutsche Bundestag und seine Fraktionen und natürlich auch in Berlin vor Ort, alles dafür tun
- gemeinsam wenn möglich - , daß diese Tagung gerade auch im Interesse Berlins erfolgreich verläuft.
({27})
Meine Damen und Herren, Sie erwarten vom Bundeskanzler natürlich mit Recht auch ein Wort zur Finanzentwicklung, zur wirtschaftlichen Lage. Wir haben ja heute gehört - das höre ich auch draußen, übrigens nicht nur von seiten der Opposition; auch manche im unternehmerischen Lager sind in ihren Betrachtungen ja in diese Richtung gegangen - : Die Wirtschaft läuft sehr gut. Das bestreitet ja nicht einmal der Herr Kollege Vogel. Aber das ist natürlich „von allein" gekommen. Es waren die Kräfte des Marktes, sagen die anderen. Nur, verehrter Herr Kollege Vogel, was hätten Sie heute wohl gesagt, wenn wir andere Zahlen gehabt hätten?
({28})
Ich bin ganz sicher, Sie hätten den Hauptschuldigen Dutzende Male in Ihrer einstündigen Rede beim Namen genannt.
Es ist wahr - und wir freuen uns darüber - : Die Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik Deutschland verläuft bis in diese Tage ungewöhnlich günstig. Im ersten Halbjahr - wir haben es ja gehört - haben wir mit 3,9 % Zuwachsrate das beste Halbjahresergebnis seit 1979. Und was vielleicht noch wichtiger ist angesichts des Zweckpessimismus, der im Land verbreitet wird: Ich kenne kaum einen Experten, der zur Stunde nicht davon ausgeht, daß sich dieser positive Trend weiter fortsetzen und ins nächste Jahr hineintragen wird. Wir wissen - ich streite jetzt nicht über die Stelle hinter dem Komma -, daß wir am Ende dieses Jahres mit Sicherheit auf ein Wachstum von rund 3 To werden zurückblicken können.
Diese zuversichtliche Lagebeurteilung - und es ist jetzt keine Lagebeurteilung mehr, sondern eine Realität - steht in einem merkwürdigen Kontrast zu dem Konjunkturpessimismus, der noch vor einigen Monaten verbreitet wurde. Ich habe ja vorhin gesagt, Herr Kollege Vogel: Im wesentlichen ist das, was Sie zur wirtschaftlichen Lage seit langer Zeit beisteuern, ein Stück Verelendungsprophetie. Sie sind allerdings
- das füge ich hinzu, weil Sie gerne von den „uns nahestehenden Verbänden" sprechen - in diesem Fall in einer beachtlichen Nachbarschaft zu dem einen oder anderen Verband. Ihre Prognosen und die
von manchem aus der deutschen Automobilindustrie sind ziemlich identisch, aber vor allem beide falsch.
({29})
- Nein, das glaube ich nicht. Ich sehe nur die Bilanzen, ich sehe die Zulassungszahlen. Und deswegen habe ich keine Ahnung, was in der Automobilindustrie passiert? - Sie haben natürlich die Ahnung. Deswegen haben Sie immer die falschen Propheten ins Land geschickt.
({30}) Das ist so die selbstverständliche Verteilung.
Es mag noch verständlich gewesen sein, meine Damen und Herren, daß Ende des vergangenen Jahres mancher unter dem Eindruck der Turbulenzen am Finanzmarkt Augenmaß und Nüchternheit verloren hat. Aber ich finde, bei den entscheidenden Daten unserer Volkswirtschaft ist eigentlich für jedermann, für die Handelnden in der Wirtschaft wie für die Handelnden in der Politik, vor allem Nüchternheit und nicht Augenblicksstimmung geboten. Man muß der Wahrheit zuliebe hinzufügen, daß die tatsächlich verfügbaren Konjunkturdaten auch damals im Herbst 1987 keinerlei Hinweis auf eine wirtschaftliche Abschwächung gaben. Ich habe dieses damals hier gesagt und, Herr Kollege Vogel, von Ihrer Seite Hohngelächter geerntet. Es ist jedoch um so unverständlicher, daß auch noch drei Monate später, im Januar, nicht sein konnte, was nicht sein durfte: Die sachgerechte Projektion des Jahreswirtschaftsberichts der Bundesregierung für 1988 von eineinhalb bis zwei Prozent wurde von der SPD als „rosarot gefärbte Verschleierungsprojektion" abgetan. Sie haben sich von Stimmungen tragen lassen, und die Stimmungen haben Ihnen natürlich auch in der Bevölkerung Zustimmung gebracht. Dennoch war es falsch und bleibt es falsch, entgegen den Realitäten den Menschen die ökonomische Krise vorzutragen.
({31})
- Sie haben das noch zu einem Zeitpunkt getan, als die Prognosen schon wieder deutlich nach oben gingen. Sie haben damals - ich zitiere - von „Aufschwung in Atemnot" gesprochen. Sie haben behauptet, daß dem Aufschwung „jetzt die Luft ausgehe".
({32})
- Meine Damen und Herren, das mag ja Ihre Politik in der Opposition sein. Bloß hat dies mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
Tatsache ist, daß die Wirtschaftsentwicklung der Bundesrepublik Deutschland auf Wachstumskurs ausgerichtet ist, nicht erst seit gestern und vorgestern, sondern seit 1982.
Martin Bangemann hat mit Recht gesagt: Das waren sechs gute Jahre.
({33})
Dies bedeutet für breite Schichten der Bevölkerung ganz konkret, daß sie etwas davon haben, daß sich das eben nicht nur an Sozialprodukt und Investitionen ablesen läßt, sondern daß gerade auch die Arbeitnehmer in ihren Lohn- und Gehaltsmitteilungen dieses ganz deutlich gespürt haben. Die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte sind in dieser Zeit um nicht weniger als 216 Milliarden DM in die Höhe gegangen. Das sind mehr als 20 %. Sie haben heute im Rahmen dieser allgemeinen sozialistischen Neidkomplexe, die Sie ausgebreitet haben,
({34})
die Einkommensentwicklung der breiten Schichten wiederum falsch dargestellt.
({35})
Herr Abgeordneter Vogel, allein in den zwei Jahren 1986 und 1987 hat das Realeinkommen der privaten Haushalte in der Bundesrepublik um rund 8 To zugenommen. Das ist nach Berechnungen der Deutschen Bundesbank mit der stärkste Anstieg der Realeinkommen, den es in einem Zeitraum von zwei Jahren in der Bundesrepublik Deutschland je gegeben hat. Das ist doch ein positives Ergebnis unserer Politik.
({36})
Wenn sich das Masseneinkommen in einer solchen Weise günstig entwickelt und Sie das leugnen, sollten Sie doch wenigstens nicht leugnen, daß wir in diesen sechs Jahren - gemeinsam mit ganz wenigen anderen Ländern - im Blick auf die Stabilität unserer Währung und auf die Preisstabilität zur Spitze der Welt gehören. Sie mögen das Gegenteil verbreiten. 25 Millionen Bundesbürger sind in diesem Jahr ins Ausland gefahren oder werden ihren Urlaub noch dort verbringen. Sie erleben an jeder Umtauschstelle, wo sie D-Mark vorlegen, was die Wahrheit ist: Wir gehören heute zu den preisstabilsten Ländern der Welt. Das ist Ergebnis unserer gemeinsamen Arbeit, auf die wir stolz sein können.
({37})
Die Anhebung von Löhnen, Gehältern und Renten bedeutet also einen tatsächlichen Zugewinn an Kaufkraft und Ersparnissen. Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie es mir nicht glauben: Ihre Freunde innerhalb der Gewerkschaftsbewegung zeigen mit ihren Tarifverträgen, indem sie erstmals Tarifverträge für mehrere Jahre abschließen, daß sie Vertrauen in diese Regierung haben.
({38})
Es ist ein erstaunlicher Vorgang, daß Sie, wenn Sie das Zentralorgan des DGB, die „Welt der Arbeit" , zur Hand nehmen, dort zwar unglaubliche Verleumdungen gegen den Kollegen Blüm, mich und andere lesen können, daß aber in der gleichen Zeitung über Tarifverträge berichtet wird, die für mehrere Jahre abgeschlossen werden. Wenn unsere Politik so schlecht wäre, dann könnte doch die Gewerkschaft in ihrer Verantwortung gegenüber den Arbeitnehmern nicht mehrjährige Tarifverträge abschließen. Dann müßte sie nach Ihrer Theorie doch eher Halbjahresverträge abschließen.
({39})
Diese Politik, die die reale Anhebung von Löhnen, von Gehältern und von Renten bedeutet, ist eine Politik für die breite Masse unseres Volkes. Das ist eine zutiefst soziale Politik. Denn sie betrifft die Gruppe jener Bürger, Herr Abgeordneter Vogel, die eben keine Konten im Ausland haben und die sich nicht gegen Expropriation - um es marxistisch zu nennen - durch Inflation und Geldentwertung wehren können.
Noch etwas, meine Damen und Herren, gehört zu dieser Bilanz: der Zugewinn von über 800 000 neuen Arbeitsplätzen, eine Zahl, die von Ihnen immer totgeschwiegen wird und von einem Teil der Gewerkschaften, die ihnen politisch nahestehen, ebenfalls. Man muß sich einmal klarmachen, was das heißt. Diejenigen, die unentwegt das Thema Arbeit und Beschäftigung im Munde führen, sind die gleichen, die von den positiven Veränderungen, die es auf dem Arbeitsmarkt auch gibt, überhaupt nicht reden und nichts wissen wollen. Das ist eine besondere Spielform der Heuchelei, deren Qualität nur noch von derjenigen Ihrer Konjunkturprognosen übertroffen wird. Wer über 800 000 Arbeitsplätze geringschätzt, sollte nicht vergessen - auch über diese Zahl müssen wir reden - , daß unter der Vorgängerregierung in zwei Jahren ebenfalls mit der Zahl 800 000 eine Markierung gesetzt wurde. Aber diese 800 000 Arbeitsplätze sind danach nicht neu aufgebaut worden, sondern verlorengegangen. Wir bauen also wieder auf, was andere vorher auf dem Verlustkonto abbuchen mußten.
({40})
Meine Damen und Herren, wahr ist auch - auch das gehört in die Bilanz, wenn man redlich darüber spricht - , daß trotz dieser unbestreitbar positiven Zahl von 800 000 Arbeitsplätzen die Arbeitslosigkeit nicht unseren Wünschen entsprechend zurückgeführt werden konnte.
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Herr Vogel, das habe ich so oft gesagt. Da brauchen Sie gar nicht bedächtig zu nicken. Sie müssen nur zuhören.
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Die Gründe hierfür sind bekannt. Etwa in dem Umfang, wie neue Arbeitsplätze entstanden sind, ist auch die Zahl derer gewachsen, die sich als Arbeitssuchende melden. Wenn ich etwa die Zahl der Frauen nehme, die sich jetzt in erheblicher Zahl zusätzlich melden,
({43})
äußert sich darin auch ein Stück Zutrauen in diese Wirtschaftspolitik, denn zu einem früheren Zeitpunkt haben sie sich um einen Arbeitsplatz gar nicht erst bemüht, weil sie es für aussichtslos gehalten haben.
({44})
Es sind darunter auch junge Leute, die - ich füge
hinzu: leider - letzten aus den geburtenstarken Jahrgängen. Aber ich betone: Die Zahl der arbeitslosen
Jugendlichen unter 20 Jahren - und auch diese Zahl gehört in diese Debatte - hat den niedrigsten Stand seit sieben Jahren erreicht. Zu keinem Zeitpunkt hat es in der Bundesrepublik Deutschland mehr Arbeitsplätze für Frauen gegeben als heute. Auch das ist eine der Tatsachen, die für die Bundesrepublik gelten.
({45})
Nun meine ich, bei allem Streit, bei allem Parteienstreit und bei aller leidenschaftlichen Auseinandersetzung um den besseren Weg in der Politik sollten wir vielleicht doch fähig sein - ich habe das bei Ihnen jedenfalls in einer Andeutung auch so verstanden und will darauf eingehen -, gemeinsam zu überlegen, was wir tun können, um dieses zentrale Problem deutscher Politik anzugehen. Dazu gehört, daß wir uns einmal mit mehr Nüchternheit und vielleicht auch mit mehr Ehrlichkeit der Statistik zuwenden. Wir wissen, es gibt dieses bedrückende Problem der Arbeitslosigkeit. Es gibt die Situation, daß regionale und sektorale Probleme zusammenkommen und sich dieses Problem in einer besonderen Weise zuspitzt. Das haben Sie an der Küste, das haben Sie in alten Industriegebieten, die in ihrem Umstrukturierungsprozeß noch nicht weitergekommen sind, jedenfalls noch nicht weit genug. Aber, meine Damen und Herren, es gibt doch ganz unübersehbar auch die Tatsache, daß mit dem Problem „Arbeitslosigkeit" Schindluder getrieben wird.
Ich bringe Ihnen ein Beispiel, das mich doch sehr bewegt, ein Beispiel, das nicht von irgend jemandem, sondern vom nordrhein-westfälischen Kultusminister kommt. Das nordrhein-westfälische Kultusministerium hat vor kurzem 783 arbeitslos gemeldeten Lehramtsanwärtern Planstellen im öffentlichen Dienst angeboten. Die Reaktion auf dieses Angebot bestand darin, daß 172 Arbeitslose die Offerte glatt abgelehnt haben. Das heißt, über 20 % der angesprochenen arbeitslosen Lehrer sahen es offenbar nicht als dringlich an, eine Arbeit in ihrem erlernten Beruf zu übernehmen.
Das Ministerium ist den Gründen für diese Reaktion nachgegangen. Einige der Angeschriebenen haben das Angebot gar nicht beantwortet. Andere teilten mit, daß ihnen der Schultyp oder der Arbeitsort - wir reden von Nordrhein-Westfalen, und wir kennen die Dimension der Entfernungen - nicht genehm waren. Einer hielt den Weg von zweimal 30 km pro Tag für zu weit.
Meine Damen und Herren, was sagen uns diese Zahlen? Ganz gewiß kann das nicht eine Ablenkung von den echten Arbeitslosen sein, die es gibt und um die wir uns kümmern müssen. Aber diese Zahlen sagen ganz konkret, daß die globalen Angaben, die Monat für Monat gemacht werden, eben wenig aussagekräftig sind.
({46})
Denn hinter ihnen verbergen sich doch ganz offenkundig völlig unterschiedliche persönliche Situationen, die, was die unmittelbare Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit angeht, gar nicht miteinander vergleichbar sind. Ich finde, wir sollten ungeachtet unseres Streits um den besseren Weg in der Politik dazu fähig sein, gemeinsam darüber nachzudenken, wie
wir zu wirklich aussagekräftigen Zahlenangaben kommen können, die es uns dann erleichtern, denen, die unsere Hilfe wirklich brauchen, konzentriert zu helfen.
Auf diesem Weg, den ich vorangehen werde, bin ich eigentlich ermutigt worden, weil in unserer Nachbarschaft mein österreichischer Kollege, Bundeskanzler Vranitzky, ganz klar und unmißverständlich die Frage der Zumutbarkeit innerhalb der Republik Österreich in die öffentliche Diskussion eingebracht hat.
({47}) Dort hat man ein ähnliches Problem.
Ich habe Gespräche mit Felipe Gonzalez geführt, der hier heute schon in einem anderen Zusammenhang rühmend - und dem will ich mich ausdrücklich anschließen - erwähnt wurde. Felipe Gonzalez erzählte mir von dem gleichen Problem. Wir haben beim Stand der sozialen Versorgung oder der Dichte des sozialen Netzes eine, wie ich beinahe sagen möchte, ganz natürliche Entwicklung, nämlich die des Aussteigerwesens und des Ausnutzens der Gemeinschaft, was zutiefst mit der menschlichen Natur zusammenhängt und sicher kein spezielles deutsches Problem ist. Aber wir müssen es doch bei uns in Rechnung stellen. Wir müsen uns auf die Hilfe für diejenigen konzentrieren, die die Hilfe brauchen, und andere müssen wir befragen, was sie eigentlich selbst beitragen.
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Meine Damen und Herren, ich sagte schon: Die zentrale Aufgabe der nächsten Jahre ist für uns die Zukunftssicherung im Blick auf den europäischen Markt, also auf das Jahr 1992. Wenn eine EG-Studie sagt - diese braucht man nicht in jeder Einzelheit zu übernehmen - , daß es sich bei diesem Markt um ein Wachstumspotential von bis zu 6 % des EG-Bruttosozialprodukts
({49})
und um 5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze handelt, ist dies eine interessante Aussage. Fest steht - das ist unbestreitbar -, daß der große Europäische Binnenmarkt mit seinen 320 Millionen Menschen jeden Unternehmer, jeden Arbeitnehmer und jeden Verbraucher berühren wird. Deswegen - Herr Kollege Vogel, ich bin Ihnen dankbar für das, was Sie dazu gesagt haben; das kam ja auch aus dem Kreis der Gewerkschaften und der Arbeitgeberverbände und von anderen - halte ich es für wichtig, daß wir uns zu einem Kreis, zu einer Art nationaler Europakonferenz zusammenfinden, die regelmäßig tagt, um einfach zwischen jetzt und 1992, dem Datum für den Europäischen Binnenmarkt, immer wieder die Wegstrecke zu überdenken, darüber nachzudenken, was wir gemeinsam tun können und was wir nicht tun können.
Diese öffentliche Diskussion zum Thema Europa ist für uns nicht nur eine Frage der Europa- und Außenpolitik. Der Weg nach Europa und der Weg in den Europäischen Binnenmarkt ist heute auch ganz entscheidend eine Frage an das, was wir gemeinhin unter
Innenpolitik verstehen. Damit bin ich bei dem Thema Reformen.
Meine Damen und Herren, ich werde oft, auch in der eigenen Partei, gefragt: Warum mutest du uns und dir solche Reformvorhaben zu, die so schwer zu ertragen sind, weil es die Bürger viele Jahre lang gewohnt waren, Leistungen zu empfangen, und weniger darüber nachgedacht haben, daß wir in die Zukunft investieren müssen? Die Steuerreform ist ein Beispiel. Herr Kollege Vogel, ich denke, 1990 sehen wir uns zu diesem Punkt wieder. 1990 werden wir mit den Bürgern darüber reden, was die Steuerreform gebracht hat und was nicht.
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Ich fürchte, Sie werden dann nichts mehr von dem, was Sie heute dazu gesagt haben, wiederholen können.
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Wir haben das Thema Gesundheitskosten; wir haben die Postreform; wir haben die Rentenreform. All dies muß jetzt geregelt werden, auch wenn es schwierig ist, auch wenn der Opportunismus und der Zeitgeist dagegenstehen mögen. Wenn wir jetzt unsere Hausaufgaben nicht machen, werden wir 1992 nicht in der obersten Liga in Europa mitspielen können. Das muß man klar und deutlich aussprechen.
Dazu gehört eben, daß wir die Belastungen als Industrieland reduzieren. Es ist ja oft gesagt worden: Wir werden unsere Position als Exportnation nicht halten können, wenn wir über die Begrenzung der Lohn- und Lohnnebenkosten und der Steuerbelastungen unsere Betriebe nicht exportfähig machen. Wenn wir - ich komme auf das Thema zurück - zulassen, daß innerhalb der EG bestimmte Länder in ihren Anforderungen, nicht zuletzt bei der chemischen Industrie, im Umweltschutzbereich zurückbleiben und damit ihren Standort künftig verbessern, werden wir das Klassenziel nicht erreichen.
Meine Damen und Herren, der Zusammenhang zwischen diesen notwendigen Reformen und dem Weg zum Europäischen Binnenmarkt ist für mich so eng und unauflösbar, daß mir unsere Verantwortung für die Zukunft der nächsten Generation die genannten Reformen dringlich erscheinen läßt. Ich bin sicher, daß dieses Ziel nach der gebotenen Zeit und nach Überwindung vieler Schwierigkeiten, die keiner besser kennt als ich, von dieser Koalition erreicht wird.
Aber, meine Damen und Herren, wenn wir dies wollen, müssen wir gleichzeitig ein anderes Merkmal, das in unserer Politik wesentlich war und bleiben wird, beibehalten, nämlich die Solidität der Staatsfinanzen. Auch wenn wir im laufenden Jahr - Sie haben es ja erlebt; Sie haben es mit viel Hohn und „Beifall" begleitet - aus konjunkturellen Gründen ein höheres Haushaltsdefizit in Kauf nehmen mußten, gilt für mich und für die Bundesregierung der Satz, den wir im Januar ausgesprochen haben: daß dies ein Ausreißer sein muß und daß wir die Nettokreditaufnahme wieder zurückführen werden. Wir haben jetzt diese Chance, und wir werden das so tun.
Klarheit und Berechenbarkeit auch in der Haushaltspolitik ist für den Bürger von großer Bedeutung und im übrigen kein Selbstzweck. Klarheit und Berechenbarkeit in der Haushaltspolitik ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß wir auch in der Steuerpolitik die notwendigen Reformen verwirklichen können. Das galt für die Steuerreform einschließlich des Jahres 1990; das gilt auch für die Notwendigkeit - über die es keinen Zweifel geben darf - , daß wir in der Zeit von der Bundestagswahl Ende 1990 bis zum Datum der Verwirklichung des großen europäischen Marktes Ende 1992 in der Frage der Unternehmensbesteuerung und ihrer Reform das Notwendige tun müssen. Es ist ausgeschlossen, daß die deutsche Wirtschaft die Sicherheit der Arbeitsplätze erhalten kann, ja mehren kann, wenn wir mit einer Steuerpolitik in die Gemeinschaft gehen, die weit hinter dem zurückbleibt, was unsere Nachbarn jetzt tun, denn überall richtet man sich auf die Gemeinschaft ein.
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Herr Abgeordneter Vogel, der Beitrag, den Ihre Partei jetzt in Münster auf diesem Weg geleistet hat, besteht im wesentlichen darin, daß Sie Beschlüsse - ich will sie gar nicht aufzählen - mit Auswirkungen in Milliardenhöhe verlangen. Sie haben nicht gesagt, wie Sie diese Programme finanzieren können. Einige einsichtige Kollegen in der SPD haben diesen eklatanten Widerspruch von Wunsch und Wirklichkeit immer wieder deutlich gemacht. Einer Ihrer Sprecher, Herr Spöri, hat dazu ganz einfach festgestellt:
Die wirtschaftspolitische Aussage dieses Parteitags leidet fundamental an ungeklärten steuerpolitischen Gegensätzen, die wir seit Jahren verkleistern, von Parteitag zu Parteitag in Form eines Verschiebebahnhofs verschieben.
Ich habe Herrn Spöri nichts hinzuzufügen.
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Meine Damen und Herren, wenn einer wie Herr Spöri Ihr Konzept in diesem Sinne betrachtet, dann können Sie nicht erwarten, daß die Bürger Vertrauen in dieses Konzept haben.
Meine Damen und Herren, jetzt gilt es klare Konsequenzen zu ziehen, nicht nur für die Steuerpolitik, sondern auch für die zentralen innenpolitischen Fragen von Arbeit und Beschäftigung. Sie haben auf Ihrem Parteitag auch dazu kein Konzept vorgelegt. Im Gegenteil, jeden Tag lesen wir von Streit und Auseinandersetzung.
Wir können noch so viel Vernünftiges in der Steuerpolitik tun: Wir werden die Exportfähigkeit und damit die wirtschaftliche und soziale Stabilität unseres Landes nicht gewährleisten, wenn wir nicht fähig sind, im Bereich der Lohnnebenkosten zu entsprechenden Entscheidungen zu kommen. Das ist notwendig und erfordert einen Beitrag der Tarifpartner, der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer. Aber dies erfordert auch einen Beitrag der Politik.
Das betrifft das Thema Gesundheitskosten. Man muß, meine Damen und Herren, einfach die Zahlen auf sich wirken lassen. 1960 gab die Krankenversicherung 9 Milliarden DM aus, 1970 waren es 24 Milliarden DM, 1980 86 Milliarden DM, und in diesem Jahr
sind es rund 125 Milliarden DM. Herr Abgeordneter
Vogel, wenn Sie zu der Zeit, als Sie hier Verantwortung trugen, etwa von 1970 bis 1980, gehandelt hätten
- 1970: 24 Milliarden DM, 1980: 86 Milliarden DM -,
({54})
hätten wir heute diesen Streit nicht. Aber Sie haben den einfachen und billigen Weg des Opportunismus gewählt. Sie haben den Leuten alles versprochen. Wir sind heute in der Lage, daß wir - wenn wir Zukunft gewinnen wollen - das dafür Notwendige jetzt tun müssen.
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Daß es angesichts einer solchen katastrophalen Entwicklung bei den Gesundheitskosten so nicht weitergehen kann, liegt auf der Hand. Ich weiß, daß dies ungeheuer schwierig ist. Ich weiß um die Belastung beispielsweise der Kollegen aus den Fraktionen der Koalition im Alltag des Parlamentariers, am Wochenende in den Kreisparteitagen, Kreisversammlungen, in den Gesprächen mit Ärzten, mit Apothekern, mit der Pharmaindustrie,
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- Sie brauchen kein Mitleid zu haben. Was Sie haben sollten, ist ein Stück Erkenntnis; das fehlt Ihnen.
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Was aber, meine Damen und Herren - das sage ich mit Nachdruck - für mich über das Thema Gesundheitskosten hinaus ganz wichtig bleibt, ist, daß die zum Handeln berufenen Politiker - das sind die Regierung und die sie tragenden Parteien - ungeachtet des massiven Drucks von mächtigen Verbänden fähig sind, das Richtige zu tun. Das ist unser Verfassungsauftrag.
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Wir werden alle diese Reformmaßnahmen durchsetzen, und wir tun das in der klaren Erkenntnis, daß dies eine Voraussetzung zur Sicherung der Zukunft unseres Landes ist, daß diese Reformen notwendig sind, um den Standort Bundesrepublik Deutschland im Europäischen Binnenmarkt der 90er Jahre und für den Anfang des nächsten Jahrhunderts zu stärken. An Ihre Adresse, meine Damen und Herren von der SPD, füge ich hinzu: Bei all diesen Problemen - das gilt übrigens auch für den Umweltschutz - geht es um Probleme, die Sie in der Zeit Ihrer Regierungsverantwortung vor sich hergeschoben haben.
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- Herr Vogel, was Sie heute hier zum Umweltschutz gesagt haben, ist für mich nicht akzeptabel, weil Sie ja selbst handlungsunfähig waren. Es gibt ein einfaches Beispiel: USA und Japan haben 1972 und 1974 das Katalysatorauto eingeführt, Sie haben es verschlafen. Wir mußten es tun, begleitet vom Protest, den Sie mit angefacht haben und vom Protest maßgeblicher Vertreter Ihrer Freunde in der deutschen Automobilindustrie. Wir haben gehandelt, und jeder sieht, es war die richtige Entscheidung. So werden wir es in allen anderen Bereichen auch halten.
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Meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß, daß ich noch ein Problem anspreche, von dem ich hoffe und - ich glaube - nach der heutigen Debatte auch erwarten darf, daß wir uns ihm gemeinsam zuwenden wollen. Das ist die Frage, wie wir den Aussiedlern, den Deutschen, die aus Rumänien, aus Polen, aus der Sowjetunion oder von anderswo zu uns kommen - es sind mindestens 200 000 in diesem Jahr - , eine neue Heimat schenken können. Es ist kein Thema, finde ich, das zunächst unter finanziellen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Wer einmal in Friedland war, wer das Schicksal der Betroffenen kennt, wer mit diesen Familien gesprochen hat - drei Generationen kommen oft zusammen - , wer den Leidensweg dieser Deutschen von 1943 bis zum heutigen Tag verfolgt, wer z. B. mit Deutschen gesprochen hat, die aus Polen kommen - wobei die junge Generation praktisch kaum mehr Deutsch spricht, weil ihnen das verwehrt wurde - , wer dies alles erlebt hat, der muß doch einfach spüren, daß dies kein Thema ist, das sich zum Parteienstreit eignet oder überhaupt unter uns strittig sein kann. Aussiedler kommen heute aus fernen Teilen der Sowjetunion und ich hoffe, daß mein Besuch in Moskau und der Gegenbesuch von Generalsekretär Gorbatschow dazu beitragen werden, daß möglichst viele in Zukunft zu uns kommen können. Jeder von uns sollte wissen, was diese Menschen mitgemacht haben, die aus alten deutschen Familien kommen, solchen, die zum Teil seit Jahrhunderten auf russischem Gebiet gesiedelt haben, und solchen, die durch Zufälle 1945 irgendwo auf der Straße mitgenommen und dann in fernste Provinzen der Sowjetunion verschlagen wurden.
Für all diejenigen, denen dies widerfahren ist und die jetzt die Chance haben, zu uns zu kommen, gilt: Sie kommen in die deutsche Heimat, und sie haben es nicht zu vertreten, daß sie über vier Jahrzehnte nicht auf der Sonnenseite deutscher Geschichte leben konnten wie die allermeisten von uns in diesen Jahren.
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Ebenso, wie ich mich nachdrücklich für Hilfe für die Asylanten ausspreche - für diejenigen, die wirklich Asylanten sind, die zu uns kommen, weil sie aus Gründen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung, ihrer Rasse verfolgt werden - , bin ich auch unbedingt dafür, daß wir jetzt diesen zu uns kommenden Deutschen geben, worauf sie, wie ich denke, einen moralischen Anspruch haben.
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Meine Damen und Herren, ich weiß - alle Redner haben davon gesprochen - , daß dies nicht nur auf Zustimmung stoßen wird. Das ist kein spezifisch deutsches Problem. Vergleichbare Probleme haben wir auch in anderen Ländern beobachtet. Denken Sie z. B.
an Frankreich und an die Algerienfranzosen. Das entspricht der menschlichen Natur. Aber ich finde, daß hier Politik und wichtige Bereiche der Gesellschaft - ich nenne ausdrücklich die Kirchen - eine Aufgabe haben, der sie sich jetzt zuwenden sollten.
Wenn wir im nächsten Jahr den 40. Geburtstag unserer Bundesrepublik Deutschland feiern, blicken wir ja auch im Deutschen Bundestag, in unserem Parlament, auf diese vier Jahrzehnte zurück. Wenn Sie sich einmal die großen Persönlichkeiten des deutschen Parlamentarismus, aus allen demokratischen Parteien als Beispiel vor Augen halten, wenn Sie bedenken, was damals - etwa in den ersten beiden Legislaturperioden - , im Blick auf den Lastenausgleich, auf die Hilfe für Flüchtlinge geleistet wurde - in einer Zeit in der der Wohlstand unseres Landes überhaupt nicht vergleichbar war mit dem, was wir heute ganz selbstverständlich genießen - , dann muß ich sagen: Das, was wir jetzt für die Aussiedler tun, ist einfach eine Selbstverständlichkeit.
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Ich glaube, das ist für viele in unseren Städten und Gemeinden, in unseren gesellschaftlichen Organisationen, in den Kirchen, in den Gewerkschaften und nicht zuletzt in den Parteien eine Chance, sich - bei allen Problemen, um die ich auch weiß - einer großen Herausforderung gewachsen zu zeigen.
Meine Bitte und meine Aufforderung an uns alle im Hohen Haus und draußen im Land geht dahin, daß wir uns dieser Herausforderung gewachsen zeigen. Es geht um ein Stück Identität der Deutschen. Es geht um ein Beispiel für die Fähigkeit, aus der Geschichte zu lernen und für die Zukunft Geschichte zu schreiben.
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Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein. Die Aussprache wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
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Die unterbrochene Sitzung wird fortgesetzt. Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Tatsache, daß wir uns hier nach Mittag noch im trauten Familienkreis befinden, macht es mir leichter, zu sagen, daß der Bundeskanzler in einer insgesamt durchaus debattierbaren Rede einen sehr schlechten Start hatte. Ich weiß nicht, warum er nun seit Jahren nicht von seiner Verelendungstheorie, vom Sozialismus, vom Neid usw. wegkommt. Erstens ist es falsch, und zweitens ist es abgedroschen. Herr Vizekanzler - ich weiß nicht, wo der Herr Bundeskanzler ist - , vielleicht könnten Sie ihm ausrichten, daß ich zu seiner geistigen Weite den Rat beitragen will, seine Reden einmal mit seinem eigenen Weltbild zu beginnen. Denn es ist nicht so, daß wir meinen, die Bundesrepublik sei verelendet. Wir sind stolz drauf, daß sie ein reicher Staat ist, wir sind stolz darauf, Herr Vizekanzler, daß wir dazu so viel beigetragen haben,
und wir sind stolz darauf, daß wir in einem Land mit Preisstabilität leben. Das war schon immer so: Das war schon unter Willy Brandt so, das war unter Helmut Schmidt so.
({0})
- Relativ - das ist ja etwas, was die ganze Welt betrifft - , wir lagen immer auf Platz 1, gnädige Frau.
- Der Bundeskanzler hat nur eins vergessen, nämlich zu sagen, daß wir in sozialdemokratischen Zeiten in Sachen Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die ja auch weltweit existiert Nummer 1 in der Welt waren und heute in der unteren Hälfte liegen.
({1})
- Am Schluß lagen wir nie, Herr Ronneburger. Eine der großen Leistungen von Helmut Schmidt bestand darin, daß wir am besten mit der Krise fertig geworden sind. Diese Regierung aber ist ins zweite Drittel abgerutscht.
({2})
Daß der Bundeskanzler das nicht erwähnt, liegt an seinem Weltbild: Es ist das Weltbild der oberen Zehntausend. Das überrascht nicht, weil es auch eine Regierung der oberen Zehntausend ist. Ein Kanzler, der sagt, es sei in der Bundesrepublik noch nie so schön gewesen wie heute, trotz der drei Millionen Arbeitslosen und der ständig wachsenden Zahl von Sozialhilfeempfängern - inzwischen auch über zwei Millionen -, ein solcher Kanzler ist völlig realitätsblind.
({3})
Das geht nach dem Motto: Und du siehst nur die im Lichte, die im Dunkeln siehst du nicht.
Das gleiche gilt übrigens auch für die ökologischen Probleme. Ich freue mich über das, was der Kanzler hier heute zur Ozonschicht, zur Nord- und Ostsee, zur Verseuchung des Rheins etc. Wahres gesagt hat; ein großes Problem wird noch die Verseuchung unserer Böden werden. Nur hat die Regierung leider nichts auf diesen Gebieten getan.
Wenn ich das Werk dieser Regierung, auch des Vizekanzlers Genscher, zusammenfasse, komme ich zu dem Ergebnis: Fortschreitende Umweltzerstörung und steigende soziale Armut bei wachsendem wirtschaftlichen Reichtum, das ist das Markenzeichen dieser Regierung.
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Wenn man dann noch die Ungerechtigkeiten gegenüber der Dritten Welt hinzunimmt, dann sollte jedenfalls der sich christdemokratisch nennende Teil der Koalition - Herr Rühe - vielleicht einmal an das Wort des Heiligen Augustin denken, daß Staaten ohne Gerechtigkeit Räuberbanden ähneln.
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Der zweite Punkt, den der Kanzler gegenüber der SPD so herausstreicht, ist die geistig politische Führung. Wir hatten - ich lasse einmal die ganzen Bonner Affären weg - den Offenbarungseid der Stoltenberg-CDU in Schleswig-Holstein. Und ich bin nicht so
Dr. Ehmke ({6})
sicher, daß der Offenbarungseid von Herrn Albrecht am Ende wesentlich anders aussehen wird, wie die Dinge in Niedersachsen heute liegen.
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Das Gesagte gilt aber nicht nur für die CDU „draußen im Lande". Auch der Beitrag des Bundeskanzlers zum Thema Geiseldrama war z. B. so, wie sich der ganze geistig-moralische Beitrag der Union zum deutschen Staatsleben darstellt: eine Mischung zwischen beschämend und bestürzend. Der Kanzler sollte hier nicht große Worte reden, wenn er, wie er das vor kurzem beispielsweise im Zusammenhang mit dem Geiseldrama getan hat, bei anderer Gelegenheit in eine erbrämliche parteipolitische Keilerei abgleitet.
Der dritte Punkt betrifft die Finanzen. Der Finanzminister ist bei der Haushaltsdebatte auch nicht da; Klasse-Kabinett. Zu ihm will ich nur folgendes sagen: Hans Apel und Helmut Wieczorek haben mehrfach vorgeführt, daß das, was für Herrn Stoltenberg Finanzplanung ist, im Grunde auf ein Lotteriespiel hinausläuft. Ich kann es dem Kollegen Stoltenberg, der so schwere Monate und Wochen hinter sich hat, natürlich durchaus nachfühlen, daß er sich heute wie ein Lottokönig fühlt, weil auf Grund des steigenden Dollarkurses auch die Bundesbankgewinne steigen. Ich schätze die Bundesbankgewinne, die ihn erwarten, auf etwa das Doppelte der Summe ein, die er jetzt nennt. Er will dann wohl auch noch die zweite Hälfte als seine Leistung darstellen.
Ich will Herrn Stoltenberg eines sagen: Der schwankende Kurs des Dollars ist keine solide Grundlage für die Führung des Schicksalsbuchs der Nation.
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Der Dollarkurs kommt Ihnen jetzt zugute; beim nächsten Mal wird er wieder schaden. Das zum Boden einer Finanzplanung zu machen grenzt ans Unverantwortliche.
Wir haben die Bundesregierung für ihre Präsidentschaft im Europäischen Rat mehrfach gelobt; das wiederhole ich heute, Herr Außenminister. Ich bin der Meinung, Sie sollten das Bild abrunden, indem Sie mit etwas mehr Mut auch die Frage einer gemeinsamen europäischen Währung angehen. Ich füge hinzu, daß ich meinem alten Freund Karl Otto Pöhl und seinen Mannen in der Bundesbank das gleiche rate; denn es wird ein entscheidender Punkt sein, ob wir die gemeinsame europäische Währung bekommen und uns damit unabhängiger vom Dollar machen können.
Die Gesellschafts- und Finanzpolitik, die der Bundeskanzler heute hier wieder mit so großen Worten gelobt hat, hat auch folgende Wirkungen, die wir nicht übersehen dürfen. Ich wundere mich - nicht so sehr bei FDP und SPD; wir sind ja von Hause aus, wenn ich von unseren bayerischen Freunden absehen darf, Jochen Vogel, eher unitarisch gesonnene Parteien - , daß eine so förderalistisch gesonnene Partei wie die CDU es sich leistet, nicht nur eine große Ungleichheit zwischen den Menschen in unserem Lande zu schaffen, sondern auch eine große Ungleichheit zwischen den Ländern. Denn vor einer Gleichheit der Lebensbedingungen, wie das Grundgesetz sie vorschreibt, kann ja bei dieser Finanzpolitik immer weniger die Rede sein.
Gleichzeitig drehten Sie den Gemeinden finanziell den Hahn so zu, daß auch die Selbstverwaltung der Gemeinden in Schwierigkeiten kommt. Das ist wirklich etwas - das muß ich auch dem CDU-Vorsitzenden sagen - , was eigentlich gegen die Tradition der Union geht und was staats- wie wirtschaftspolitisch auf der Negativseite der Wirtschafts- und Finanzpolitik dieser Regierung zu verbuchen ist.
Ich bin der Meinung: Statt der vielen großen Worte, die wir heute vom Bundeskanzler wieder gehört haben, wäre es vielleicht besser, er ginge etwas von seinem Weltbild der oberen Zehntausend ab und würde mehr auf die Nöte schauen, die es gibt.
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- Ich sehe, 3 Millionen Arbeitslose und 2 Millionen Sozialhilfeempfänger sind für den Bundeskanzler offensichtlich etwas zum Lachen; für uns nicht. Das ist der eigentliche Unterschied.
Wir streiten nicht darüber, Herr Kanzler - Sie kommen ein bißchen spät; darum wiederhole ich es -, daß dies ein reiches Land ist. Wir haben viel dazu beigetragen. Aber die Tatsache, daß es in diesem reichen Land 3 Millionen Arbeitslose, eine wachsende Zahl von Dauerarbeitslosen, eine ständig wachsende Zahl von Sozialhilfempfängern und soziale Armut gibt - das, Herr Bundeskanzler, ist für uns - im Gegensatz zu Ihnen - kein Schönheitsfehler, sondern ein Skandal.
({10})
Der Herr Bundeskanzler hat bei der Außenpolitik
- das möchte ich besonders unterstreichen - heute sehr viel ruhigere Töne angeschlagen, als wir das manchmal bei ihm gewohnt sind. Ich will mich jetzt gleich revanchieren. Herr Bundeskanzler, wir sagen keineswegs - das könnten wir schon gar nicht wegen unseres Kollegen Genscher, mit dem wir auch unsere guten Erfahrungen gemacht haben -, daß in der deutschen Außenpolitik alles falsch sei. Darum sage ich ausdrücklich, wir finden es z. B. richtig,
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- nach der Krankheit muß ich Herrn Genscher doch ein bißchen loben; er muß ja wieder aufgebaut werden ({12})
was die Regierung im pazifischen Raum macht. Ich glaube, der Außenminister wird mir bestätigen, daß die deutschen Sozialdemokraten, gerade was die Beziehungen zu China betrifft, das ihrige dazu tun. Ich sage Ihnen auch: Wir sind froh darüber, daß sich in bezug auf die DDR, auf Ungarn und auch auf Jugoslawien - ich möchte das ausdrücklich hervorheben -, die Regierung bewegt. Wir haben sehr gedrängt, in Sachen Jugoslawien besonders. Wir finden das alles gut. Ich sage nur, die Fortschritte in diesem Bereich der Ostpolitik sind eigentlich daran zu messen, in welchem Umfang sich diese Koalition auf den Boden der sozialliberalen Außenpolitik stellt. Wir haben da gar keine Neidkomplexe. Am besten wäre es, Sie übernähmen sie ganz, dann hätten wir außenpoli6154
Dr. Ehmke ({13})
tische Gemeinsamkeit. Das wäre für unser Land das Beste.
Zum Schluß, Herr Bundeskanzler, bevor ich mit den eher kritischen Betrachtungen anfange, möchte ich Ihnen nicht nur zustimmen, ich möchten Ihnen für die Sozialdemokraten sogar danken, für die Worte, die Sie nicht erst heute zur Frage der deutschen Aussiedler gefunden haben. Das ist keineswegs überall populär, und ich sage Ihnen, das war in Ordnung, und Sie haben an unserem Beifall heute gemerkt, daß wir da mit Ihnen übereinstimmen.
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Ich sage dazu aber auch, etwas wenn nicht Kritisches, so doch Nachdenkliches. Wenn man sieht, daß es dabei zum Teil soziale Reibereien gibt, was einen nicht wundern muß: Herr Bundeskanzler, gäbe es nicht sehr viel mehr Gemeinsamkeit, und würde nicht vieles mit den Aussiedlern einfacher sein, wenn Sie sich einmal in Ihren sechs Regierungsjahren entschlossen hätten, einen solchen Aufruf zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung in bezug auf die weit über zwei Millionen Arbeitslosen in unserem Land zu machen? Die hätten das auch verdient.
({15})
Wenn ich mich nun der Außenpolitik zuwende, so habe ich Sie dahin verstanden, daß wir in der Einschätzung übereinstimmen, daß Gorbatschows Politik eine große Chance für uns und für Europa darstellt. Wir stimmen Ihnen auch in der Meinung zu, daß das INF-Abkommen eine historische Wegmarke darstellt. Nur, Herr Bundeskanzler, die Frage ist doch jetzt: Wie geht es weiter? Nicht alle Erwartungen, ja wenige Erwartungen, die sich an das Abkommen knüpften, sind bisher erfüllt worden. Die Wiener KSZE-Folgekonferenz ist nicht vor den Sommerferien abgeschlossen worden, obwohl der Verhandlungsstand einen Abschluß zuließe. Rumänien blockt. Ich glaube, ich spreche hier nicht nur für die SPD, wenn ich sage, wir appellieren an Rumänien, seine Blockierung aufzugeben und an dem Mandat für konventionelle Abrüstung in Europa konstruktiv mitzuwirken.
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Wir möchten auch in anderem Zusammenhang Rumänien an die Verpflichtungen erinnern, die es mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte übernommen hat. Sein Vorgehen in der „landwirtschaftlichen Umstrukturierung" läuft, so fürchten wir, auf eine Entwurzelung der ungarischen und der deutschen Minderheiten hinaus.
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Damit verstieße Rumänien gegen elemtare, von der gesamten Völkergemeinschaft anerkannte Rechte. Noch ist es nicht zu spät, dies einzusehen. Richtig, Europa braucht auch Rumänien. Aber Rumänien wird schnell feststellen, daß es selbst auch seine europäischen Nachbarn braucht. Ich verweise hierzu auf den von allen Parteien im Bundestag am 21. Juni angenommenen Antrag zu den Menschenrechten in jenem Land.
In Genf haben die beiden Großmächte ihre Gespräche über den Abbau der strategischen Potentiale fortgesetzt, ohne daß Ergebnisse greifbar geworden wären. Derweilen wird in der NATO - so jedenfalls macht uns die Bundesregierung und heute auch wieder der Bundeskanzler glauben - weiter emsig und unermüdlich an einem Gesamtkonzept für Verteidigung und Abrüstung gearbeitet, das nun endlich eine glaubwürdige Antwort des Westens auf die weitreichenden Abrüstungsvorschläge des Warschauer Pakts ermöglichen soll. Herr Bundeskanzler, das müssen wir doch hier beide feststellen: Noch liegt eine glaubwürdige Antwort des Westens nicht vor. Es ist eigentlich blamabel, wenn man sich überlegt, daß die Public Relations in Amerika erfunden worden sind, daß sich der Westen wegen politischer Unbeweglichkeit in der öffentlichen Meinung in dieser Weise hat in die Defensive drücken lassen. Das ist ein unbefriedigender Stand der Dinge, Herr Bundeskanzler.
Warum geht es denn nicht rascher voran? Da muß ich Ihnen nun sagen, Herr Bundeskanzler, trotz aller Ihrer schönen Worte: Man kann nicht behaupten, daß die Bundesregierung in diesen Fragen mit der Energie, Initiative und Zielstrebigkeit, die den deutschen Interessen entsprächen, vorangegangen sei. Vielmehr herrscht wieder einmal ängstliches Taktieren. Man vertröstet uns auf das Gesamtkonzept, was schon beinahe den Charakter einer Beschwörungsformel bekommen hat. Man gibt zu verstehen - wie Sie heute - , daß durch den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf eine Art Pause in der westlichen Politik fällig sei. Sind Sie wirklich der Meinung, daß Westeuropa noch immer nicht in der Lage ist, seine eigenen Interessen zu definieren und geltend zu machen?
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Darf hier in Europa nichts passieren, weil in Amerika Wahlkampf ist? Von dieser Haltung müssen wir endlich weg, Herr Bundeskanzler.
Ein Musterbeispiel für diese abwartende Haltung war die Rede, die der Herr Verteidigungsminister Scholz am 25. August in Hamburg gehalten hat. Sie bringt den ganzen bekannten Katalog sicherheitspolitischer Bekenntnisse und Grundüberzeugungen. Ein Konzept dieser Regierung ist nicht sichtbar geworden. Europa, heißt es, müsse mehr Verantwortung für die eigene Sicherheit übernehmen, aber der Verbund mit Amerika bleibe unauflöslich. Was die Ost-West-Beziehungen angehe - so führte Herr Scholz mit deutlicher Anspielung auf die von Gorbatschow betriebenen Reformen aus-, solle man nicht auf Personen setzen, zumal sich in der Sowjetunion ohnehin kaum nennenswerte Änderungen abzeichneten.
Bemerkenswert, was Sie heute über die Änderungen in der Sowjetunion gesagt haben, im Vergleich mit dem was vor 14 Tagen Herr Scholz dazu gesagt hat. Vielleicht könnten Sie das im Kabinett einmal auskegeln.
Das Fazit von Herrn Scholz war dies: Wir sollten ganz vorsichtig sein bei weiteren Abrüstungsschritten, vor allem im Bereich der nuklearen Waffen; denn gerade diese Waffen - ich zitiere - „müssen eine
Dr. Ehmke ({19})
glaubwürdige Abschreckung sicherstellen, was ihre Modernisierung einschließt".
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Ich sage Ihnen, Herr Bundeskanzler: Wenn damit die politische Linie der Bundesregierung umrissen wäre, dann stehen die Zeichen auf Sturm.
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Es wäre gut, wenn das, was Sie über die Entwicklung in der Sowjetunion gesagt haben, und das Gegenteilige, was Herr Scholz gesagt hat, auf einen Nenner gebracht werden könnte. Es wäre auch gut, wenn das, was er über Modernisierung sagt, mit dem, was Herr Genscher zuerst in Potsdam in seiner - ich muß fast sagen: berühmten - Rede und neulich in einem interessanten Interview in der „Welt am Sonntag" gesagt hat, in Übereinstimmung gebracht würde. Denn das steht in direktem Widerspruch zueinander. So kann man doch nicht Politik machen. Was soll denn das Ausland davon denken?
Die Regierung verzichtet auf Initiative. Nun muß ich ausnahmsweise meinen Kollege Rühe loben.
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Er habe schon Angst davor, hat er mir gesagt, ich solle es nicht zu doll machen, das schade ihm bei Ihnen. Ich muß ihn loben, weil auch er offenbar das Gefühl hat, daß die Regierung nicht genug tut, und deshalb fordert, daß die Regierung mehr tut und die NATO zu mehr bewegt. Herr Rühe, das ist völlig richtig. Insofern wünsche ich Ihnen hier - ich komme nachher noch zu einem kritischen Punkt - mehr Durchsetzungskraft. Es ist auch interessant, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, daß der außenpolitische Sprecher der Unionsfraktion in bezug auf konventionelle Abrüstung einen sehr viel weitergehenden Vorschlag gemacht hat als den, den die Regierung auf den Tisch gelegt hat und der ja bestenfalls für den ersten Verhandlungstag, für die Eröffnung der Veranstaltung von Wert ist.
Wir sind der Meinung, dies muß ausgeräumt werden. Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in der Frage der doppelten Null-Lösung erst im letzten Moment durchgerungen, gegen den Widerstand Ihrer „Stahlhelmer" zu entscheiden. Machen Sie es in dieser Frage nicht noch einmal so, daß Sie erst im letzten Moment entscheiden. Klarheit muß bald geschaffen werden, auch unabhängig von den amerikanischen Wahlen.
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Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hamm-Brücher? - Bitte sehr.
Herr Kollege Ehmke, sind Sie nicht auch meiner, unser aller Meinung, daß es sehr wichtig ist, daß ein Abgeordneter auch einmal weiterführende Vorschläge macht, als es die Regierung im Augenblick im internationalen Kontext machen kann? Ist es nicht sogar eine Beförderung der Vorstellungen und nicht etwas, was man hier als einen großen Konflikt auslegen kann?
Aber gnädige Frau, ich habe Herrn Rühe - Sie haben mich mißverstanden - gelobt.
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- Nein, ich finde das gar nicht schlimm, Frau HammBrücher. Schlimm finde ich, daß diese Regierung nicht mehr Mut hat, innerhalb der NATO zu sagen, was unsere Interessen sind. Und jetzt sage ich Ihnen
- jetzt haben Sie mich herausgefordert, ich wollte das nicht sagen - : Der Vorschlag, den die Bundesregierung gemacht hat, die anderen rüsten auf 50 % ab und wir auf 95 %, das ist ein Witz, wenn man ernsthafte Verhandlungen will.
({1})
Der überlebt den ersten Tag nicht, und das weiß Herr Rühe so gut wie ich.
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Also, der Rühe wird gelobt, die Regierung wird kritisiert, und da sind wir uns schon fast wieder einig, Frau Hamm-Brücher.
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Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage? - Bitte schön.
Glauben Sie nicht, daß es sogar die Aufgabe des Parlaments und von Abgeordneten auch der Regierungsfraktionen ist, einen solchen Prozeß dann eben zu befördern? Das haben wir in unserer Koalition früher doch auch gemacht.
Also, gnädige Frau, ich wäre ja dankbar, wenn sich Herr Rühe Ihnen, die Sie das ja manchmal tun, anschließen würde und unseren Anträgen manchmal zustimmte. Dann wären wir in der Bundesrepublik ein ganzes Stück weiter.
({0})
Aber unsere Sorgen hören bei diesen Unklarheiten und Widersprüchen nicht auf. Denn wir haben ja gleichzeitig eine Diskussion, von General Galvin angefangen, dann von Herrn Strauß in Washington fortgeführt, und natürlich hat Herr Scholz ins gleiche Horn geblasen, daß wir nämlich eine Modernisierung der Nuklearwaffen brauchten. Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, in der letzten Woche haben drei Abgeordnete der SPD-Fraktion, auf amerikanisches Material gestützt, dazu Fragen an die Bundesregierung gestellt. Ich habe meine Antworten heute bekommen; ich weiß nicht, ob die anderen Kollegen sie auch bekommen haben. Ich sage Ihnen: Mit den Antworten kommen Sie bei uns nicht durch. Das Material der Anhörungen und die Aussagen der führenden amerikanischen Militärs im Kongreß sagen das Gegenteil von dem, was uns da in sehr lockerer Form geantwortet worden ist. Ich kann Ihnen nur raten, bei der zweiten Fassung, wenn wir fragen, sorgfältiger zu antworten.
Dr. Ehmke ({1})
Und dann möchte ich vor allen Dingen eins sagen: Laufen Sie doch um Gottes willen hier nicht mit amerikanischen Interessen mit, die sich nun ausnahmsweise nicht mit unseren decken! Das kommt ja auch zwischen Freunden und Verbündeten vor, und die Amerikaner verstehen es sehr gut, wenn man eigene Interessen wahrnimmt. Hier wird wieder einmal nicht Politik gemacht, sondern an der Rüstungsschraube gedreht, obgleich doch der Rückblick zeigt, wie falsch das ist.
Und, Herr Bundeskanzler: Ich verstehe ja, daß Sie nun immer wieder sagen, wie Sie das INF-Abkommen gemacht haben. Aber, Herr Bundeskanzler, daß wir - trotz aller Fehler, die wir gemacht haben; wir auch, ich sage das jetzt gar nicht parteipolitisch - am Ende beim INF-Abkommen gelandet sind, das ist zu 90 die Folge der Tatsache, daß mit Herrn Gorbatschow ein Wechsel in der sowjetischen Führung und in der sowjetischen Politik eingetreten ist.
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Wenn Sie das nun wirklich für sich in Anspruch nehmen wollen, dann müßten Sie dem Hohen Hause darlegen, wie Sie Herrn Gorbatschow in Ihrer historischen Allmacht zum Generalsekretär der KPdSU befördert haben. Aber ich weiß - ich sage das noch einmal -, auch wir haben Fehler gemacht.
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Das habe ich hier von dieser Stelle aus schon gesagt. Aber nun so zu tun, das sei da alles glatt gelaufen - ohne Gorbatschow wäre gar nichts gelaufen.
Ich möchte noch einmal wiederholen, was ich in der letzten Plenardebatte vor den Ferien hier gesagt habe: Eine Auf- oder Nachrüstung im Bereich nuklearer Raketen oder Flugkörper nach dem INF-Vertrag ist mit der SPD nicht zu machen.
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Eine solche Modernisierung, wie Herr Scholz sie nicht nur empfiehlt, sondern wie sie von der Hardthöhe auch vorbereitet wird, würde einen breit angelegten Rüstungswettlauf im Bereich der Raketen, übrigens aber auch im Bereich der Anti-Raketen-Raketen auslösen. Damit wäre die zweite Phase der Entspannungspolitik insgesamt gefährdet - ich glaube, der Außenminister teilt da unsere Meinung, wenn ich seine Potsdamer Rede richtig verstehe - , weil die mit dem Abrüstungs- und Rüstungskontrollprozeß untrennbar verbunden ist. Dafür, Herr Bundeskanzler, darf die Regierung die Verantwortung nicht übernehmen, auch nicht durch Nichtstun.
Es ist an der Zeit, Klarheit zu schaffen. Ihr Versäumnis käme den deutschen Interessen, käme uns allen teuer zu stehen. Die Linie des Weiterlaufenlassens, des Taktierens - erst einmal amerikanische Wahlen abwarten, am liebsten dann noch die Bundestagswahl 1990 aussitzen - kann nur zu politischem Schiffbruch führen. Darum sage ich noch einmal, Herr Bundeskanzler: Sie sollten diese Unklarheiten ausräumen. Es ist nicht gut für uns, wenn die stehenbleiben. Es ist auch nicht gut für unser Verhältnis zu den Alliierten,
die, wie wir alle wissen, in diesen Fragen zum Teil anderer Meinung sind.
Noch eines, Herr Bundeskanzler. Ich finde, es wäre gut gewesen, wenn Sie sich in irgendeiner Form vor den Bundesaußenminister gestellt hätten, als dieser in einem ausländischen Zeitungsartikel, dessen Inspiratoren unschwer zu erraten sind, ich kann nur sagen: im Stil der McCarthy-Zeit angegriffen worden ist.
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Wir finden das peinlich und sind Frau Dönhoff dankbar, daß sie in ihrer Zeitung das richtige Wort zu diesem Angriff gefunden hat.
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Wir sagen Ihnen noch eines. Wir sind nicht darauf aus, einen Raketen-Wahlkampf zu führen. Wir haben im Bereich der Finanz- und der Gesellschaftspolitik usw. genug zu streiten. Aber wenn in der Frage der Modernisierung keine Klarheit geschaffen wird, werden wir dieser Auseinandersetzung nicht ausweichen. Sie können sicher sein: Wir werden dabei in dieser Republik nicht allein sein.
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Nach unserer Meinung - ich wiederhole das, gerade weil der Bundeskanzler heute in einem eher werbenden Ton gesprochen hat - wäre es sehr vernünftig, gerade in dieser schwierigen Situation in der eigenen Allianz die deutschen Interessen gemeinsam wahrzunehmen. Unsere Vorschläge dazu sind auf dem Tisch:
Zunächst: Baldiger Beginn von Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. Ziel muß die Schaffung konventioneller Stabilität vom Atlantik bis zum Ural bei Herstellung beiderseitiger Angriffsunfähigkeit sein. Ich glaube, das ist konsensfähig.
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Dann: Baldige Aufnahme von Verhandlungen über den Abbau auch der nuklearen Kurzstreckenwaffen bis hinunter zu den nuklearen Gefechtsfeldwaffen. Diese Verhandlungen können parallel zu den KRK-Verhandlungen laufen, in denen die doppelverwendungsfähigen Trägersysteme mit verhandelt werden müssen. Sie haben heute unter Bezugnahme, glaube ich, auf das NATO-Kommuniqué von Reykjavik gesagt: Es ist verabredet worden, daß die einbezogen werden. Der Bundesaußenminister sagt das seit langem. Kollege Rühe dagegen sagt - nun muß ich ihn strafend ansehen - in seinem Interview von gestern oder vorgestern: Na ja, das hat Zeit; wir wollen erst einmal ein Ergebnis im konventionellen Bereich haben, dann würden wir auch darüber reden. Nein, Herr Rühe, Sie haben uns ja vor vier Monaten noch erzählt, wie furchtbar es sei, daß die Sowjets 1 400 Kurzstrekkenraketen haben und wir nur 88. Was ist denn in diesen vier Monaten passiert, das Sie zu der Einschätzung kommen läßt, man könne das ganze Zeug ja ruhig noch jahrelang stehen lassen, bis man ein erstes Ergebnis im konventionellen Bereich erzielt hat?
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Dr. Ehmke ({10})
- Augenblick! Wenn Sie sagen, Sie wollen anfangen, das Zeug einseitig wegzunehmen, haben Sie unseren Zuspruch. Aber bis jetzt ist die Position der Bundesregierung, daß zwar der Kanzler heute sagt, er wird verhandeln, daß aber keinerlei Vorschläge oder Schritte unternommen worden sind, auf das Verhandlungsangebot der Sowjets eine konkrete Antwort zu geben. Bitte bringen Sie das in Ordnung! So kann man doch nicht Politik machen! Sie glauben doch nicht, daß Sie die Alliierten umstimmen, indem Sie verschweigen, was eigentlich unsere Interessen sind, die Sie ja doch beim Thema „Fire-break" eher mit etwas jugendlicher Übertreibung dargestellt haben.
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Wenn das sehr präzise war, dann verstehe ich um so weniger, Herr Kollege Rühe, daß Sie sich jetzt jahrelang Zeit lassen wollen.
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Schließlich: Weltweite Ächtung und Abschaffung chemischer Waffen. Darin sind wir uns wieder einig.
Eines möchte ich hier klarmachen, Herr Kollege Rühe, auch in Ihrem Interesse, weil unser Beschluß vom Parteitag in Münster zum Beispiel von der FAZ teilweise dahin mißverstanden worden ist, als ob wir, weil wir genauso wie Herr Rühe einen einseitigen Anfang für möglich halten, generell eine einseitige Abrüstung wollten. Das ist nicht der Fall. Wir wollen eine insgesamt gleichgewichtige und keine einseitige Abrüstung. Aber in diesem Rahmen kann es durchaus - ich freue mich, daß ich da mit dem Kollegen Rühe übereinstimme - einseitige Schritte geben, z. B. in Fortsetzung von Montebello im Bereich der taktischen Gefechtsfeldwaffen.
Ich glaube, das ist ein praktikables Programm. Herr Bundeskanzler, ich glaube, daß nur ein solcher Fortschritt im Abrüstungs- und Rüstungskontrollbereich den Weg für die Fortsetzung des politischen Prozesses von Entspannung und vertiefter Zusammenarbeit zwischen Ost und West öffnen kann. Und darum geht es im Kern.
Lassen Sie uns den Primat der Politik vor der militärischen Rüstung wieder herstellen! Wie nie zuvor brauchen wir im Ost-West-Bereich eine Politik, die über den Tellerrand verzerrter Bedrohungswahrnehmungen die großen Gemeinschaftsaufgaben der Zukunft sieht und gemeinsam in Angriff zu nehmen versucht.
In diesem Sinne, Herr Bundeskanzler, würden wir gern auch Ihren Moskau-Besuch sehen. An verschiedensten Andeutungen und Vorwegbelobigungen hat es ja nicht gefehlt. Von einer neuen Seite in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ist da die Rede, von einem historischen Markstein. Niemand würde das mehr begrüßen als die deutschen Sozialdemokraten, die mit dem Moskauer Vertrag von 1970 ja die Grundlage des neuen Verhältnisses zwischen Bundesrepublik und Sowjetunion geschaffen und durchgesetzt haben, gegen Ihren Widerstand. Aber noch ist der Verdacht nicht ausgeräumt, daß hier einmal mehr,
Herr Außenminister, wie gegenüber Polen ein verbaler Rauchvorhang gelegt wird, hinter dem man dann die Dinge mehr oder minder sich selbst überläßt.
Selbst ein Sympathien für das sowjetische System so unverdächtiger Zeuge wie Präsident Reagan hat neulich festgestellt, daß wir am Beginn einer neuen Ära der Geschichte, einer Zeit anhaltenden Wandels in der Sowjetunion stehen. Ich sage Ihnen: Wenn wir Westeuropäer und, Herr Bundeskanzler, wenn wir Deutschen die Chancen zu Entspannung und Abrüstung, zu Stabilität und einer neuen Qualität des Friedens, die der Reformkurs Gorbatschows bietet, nicht entschlossen für unsere politischen Belange nutzen, dann werden wir uns eines schweren historischen Versäumnisses schuldig machen.
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Lassen Sie uns also Gorbatschows Abrüstungsangebote und nicht neue Raketen testen. Lassen Sie uns neue Wege der Ost-West-Zusammenarbeit beschreiten und nicht Hindernisse von der Art immer raffinierterer COCOM-Regelungen errichten.
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Ich sehe heute im „Bonner Behördenspiegel" eine Anzeige, Herr Bundeskanzler: „Neue COCOM-Liste - Alles was nicht exportiert werden darf, zumindest nicht in bestimmte Länder" usw. - soundso viele Seiten -, „31,30 DM + MWSt und Porto". - Sie können sich vorstellen, wie dick das ist. Das darf nicht dicker werden. Es ist Unsinn, zu meinen, daß der Westen etwas gewinnt, wenn wir den Osten in diesem Bereich möglichst drosseln. Das war falsch. Darum waren auch Ihre SDI-Abkommen falsch. Wir müssen vielmehr auf eine Sowjetunion setzen, die, unter dem Druck ihrer eigenen Nöte und gezogen von der Möglichkeit der friedlichen Zusammenarbeit mit uns, ihre Aggressivität, ihre Geheimnistuerei, ihren Totalitarismus ablegt und so ein viel berechenbarerer Partner für eine Friedenspolitik in Europa wird.
Lassen Sie uns auf eine solche Friedensordnung in Europa hinarbeiten, in der die sinnlosen Waffenberge abgebaut werden, in der Menschenrechte gewährleistet sind und in der gemeinsame Aufgaben gemeinsam in Angriff genommen werden! Die unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Systeme in Ost und West müssen in einem friedlichen Wettbewerb ihre positiven statt - wie im Kalten Krieg - ihre negativen Möglichkeiten entwickeln. Das sind die Maßstäbe, Herr Bundeskanzler, an denen wir auch Vorbereitung und Verlauf Ihrer Moskaureise messen werden.
Ich füge eines hinzu - ich sage das heute mit größerer Dringlichkeit als vorher; ich wundere mich etwas über den Stand der Dinge, weil ich weiß, Herr Bundeskanzler, daß Sie persönlich an der polnischen Problematik besonders interessiert sind - : Über diesen Besuch in Moskau darf der Gesamtzusammenhang unserer Ost-West-Politik, dürfen vor allen Dingen unsere Beziehungen zu Polen nicht vergessen werden, sie dürfen nicht ins Hintertreffen geraten. Was sich jetzt abzeichnet - daß Sie nach Moskau fahren, noch bevor der Termin für Ihren Besuch in Polen feststeht - , ist ungefähr das Schlimmste, was sich
Dr. Ehmke ({15})
deutsche Außenpolitik in falscher Psychologie leisten kann.
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- Dann fragen Sie einmal Ihre Kollegen, die dankenswerterweise jetzt immer häufiger nach Polen fahren. Die werden Ihnen meine Einschätzung bestätigen.
Daß uns die Vergangenheit für die Pflege und den Ausbau des Verhältnisses zu Polen besondere Verantwortung auferlegt, ist gemeinsame Überzeugung in diesem Haus. Gerade deshalb, Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, sind wir besorgt über den gegenwärtigen Stillstand der Beziehungen. Die Erwartungen, die der Außenminister mit seinem Besuch in Warschau zu Anfang dieses Jahres geweckt hat, sind in keiner Weise erfüllt worden. Die Arbeit der Anfang des Jahres eingesetzten drei Kommissionen stockt, und wie ich jetzt höre, wird nun auch noch mangels Masse der Besuch des polnischen Außenministers weiter hinausgeschoben.
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- Wenn das nicht so ist, dann sagen Sie das hier. Wir würden dann auch gerne wissen, wann der Kanzler und wann der Bundespräsident der Einladung nach Polen folgen werden.
Wir sind der Meinung, daß die Bundesregierung, vielleicht mehr der Finanzminister als der Außenminister, es an Ideen und Initiativen fehlen läßt, um den Versuch zu machen, im Rahmen des uns Möglichen Polen aus seinen ernsten Schwierigkeiten zu helfen. Indessen geht das Land in diesen Tagen durch eine weitere schwere innere Belastungsprobe.
Wir Sozialdemokraten machen keinen Hehl aus unserer Auffassung und haben keinen Hehl daraus gemacht, daß diese Krise nur bewältigt werden kann, wenn die Reformkräfte in Regierung und Gesellschaft auf breiter Basis zusammenwirken. Es scheint, daß dieser Kurs nun eingeschlagen wird.
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Für unser Verhältnis zu Polen, ein Kernstück sozialdemokratischer Ostpolitik in den 70er Jahren, gilt in besonderer Weise der Satz, daß verbale Beteuerungen nur so viel wert sind wie die sie begleitenden konkreten wirtschaftlichen und politischen Taten. Ich befürchte, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung einmal mehr eine Chance ausläßt, indem sie sich gegenüber Polen und seinen Schwierigkeiten auf eine Haltung des Abwartens zurückzieht.
Wenn ich jetzt die verehrten Herren des Kabinetts für einen Augenblick um besondere Aufmerksamkeit bitten darf: Ich höre, daß es eine Initiative geben soll, Polen, das demnächst sein Verhältnis zur EG regeln wird, aus den Überschüssen der EG zu helfen. Die Regierung würde unsere Unterstützung haben, wenn sie sich einer solchen EG-Initiative anschlösse. Das wäre schon einmal ein erster Schritt.
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Ich kriege viele Leserbriefe oder Zuschriften in die- I sen Tagen
({20})
- ja, ja, Leserbriefe an Zeitungen und Zuschriften an mich selbst; das ist schon so gemeint, Gernot - , in denen ich gefragt werde: Wie können Sie dafür eintreten, daß Polen noch Schulden erlassen werden und es Geld kriegen soll, nach all dem, was ihm zu Giereks Zeiten schon gegeben worden ist und was nicht geklappt hat usw.? Ich nehme diese Einwände ernst. Aber ich möchte den Menschen, die das fragen, in Erinnerung rufen, was Willy Brandt im November 1985 anläßlich des 15. Jahrestages des Warschauer Vertrages im Warschauer Königsschloß gesagt hat:
Ohne Stabilität Polens kann es keine Stabilität Europas geben.
({21})
Bei allem was wir mit der Sowjetunion und mit der DDR machen, sollten wir die Wahrheit dieses Satzes nicht vergessen. Das heißt auch: Ohne Erleichterung seiner wirtschaftlichen Lage wird Polen es nicht schaffen, die notwendigen politischen und gesellschaftlichen Reformen in Angriff zu nehmen und mit Erfolg durchzuführen. Hier hat die Bundesregierung ihre Pflicht noch nicht erfüllt.
Ich füge etwas pointiert hinzu: Es liegt nicht an den deutschen Banken, daß es z. B. bisher nicht gelungen ist, für Polens drängendes Schuldenproblem konstruktive Lösungen zu finden.
Ich sage allen: Man braucht sich ja nur das, was in Polen vorgeht, und die Hunderttausende von Menschen, die aus Polen zu uns gekommen sind, anzusehen, um sich zu fragen: Welches Polen und welches Osteuropa wollen wir? Eines, das wirtschaftlich stabil im gesamteuropäischen Rahmen mit uns zusammenarbeiten kann, oder ein Polen und ein Osteuropa, das ein Armenhaus in Europa wird und uns dann viel mehr Probleme schaffen wird, als wenn wir jetzt versuchen, Polen wieder auf die Beine zu helfen?
({22})
Damit komme ich noch einmal auf die Finanzpolitik zurück. Herr Bundeskanzler, Ihre Regierung scheint für alles Geld zu haben: für neue Waffen, für die Förderung eines Rüstungskonzerns, der mit der Wettbewerbsordnung in unaufhebbarem Widerspruch steht, für die weitere Auffüllung des Milliardengrabs Schneller Brüter, obwohl das Projekt energie- wie sicherheitspolitisch nicht mehr zu verantworten ist,
({23})
für ständig steigende Subventionen einer nicht nur verfehlten, sondern geradezu absurden Agrarpolitik. Für alles das haben Sie Geld. Aber für die Förderung des Zusammenwachsens Europas - und das könnte einer der großen deutschen Beiträge in Richtung Gesamteuropa sein - haben Sie so wenig Geld wie für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich muß sagen: Hier verbindet sich finanzpolitisches Versagen mit
Dr. Ehmke ({24})
außenpolitischen Versäumnissen zu einem Strickmuster beängstigender politischer Inkompetenz.
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Lassen Sie mich abschließend noch ein Wort zur deutsch-französischen Zusammenarbeit sagen. Mit diesem Thema wird sich, sobald Sie Ihre Streitigkeiten mit der Bundesbank ausgeräumt haben, das Haus noch ausführlich zu befassen haben, wenn die im Januar unterzeichneten Zusatzprotokolle zum ElyséeVertrag hier zur Ratifizierung vorgelegt werden. Ratifizierung ist ja vereinbart worden. In diesem Zusammenhang werden wir dann im breiteren Rahmen über unsere politische Zusammenarbeit mit dem französischen Partner zu sprechen haben, von dem die Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik und Abrüstungspolitik nur ein Teil ist.
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Wir Sozialdemokraten haben nie einen Zweifel daran gelassen, daß für uns eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit auch in der Friedens-, Sicherheits- und Abrüstungspolitik hohe Priorität hat. Nicht zufällig ist die Vertiefung gerade der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Frankreich noch unter Helmut Schmidt eingeleitet worden.
Wenn nun aber - ich danke Ihnen für Ihren Brief, Herr Außenminister, auf meine Fragen in bezug auf die Protokolle - im Protokoll über die Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrats vom 22. Januar 1988 festgelegt werden soll, daß sich die beiderseitige Abschreckungs- und Verteidigungs-Strategie „weiterhin auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte" stützen müsse, so wird hier unseres Erachtens ein falscher Weg beschritten. Eine solche Festschreibung der Strategie der nuklearen Abschreckung kommt für uns nicht in Betracht,
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zumal wir die Festschreibung einer Strategie in einem Vertrag generell für politisch unklug halten. Das hat es auch noch nicht gegeben. Überlegen Sie sich das bitte noch einmal.
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Wir haben nicht vor - um das ganz klar zu sagen -, die bisherige Abschreckungsstrategie der gesicherten gegenseitigen nuklearen Vernichtung nun statt mit Amerika mit Frankreich fortzusetzen.
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Wir wollen sie durch eine Politik und Strategie der gemeinsamen Sicherheit ablösen.
({30})
Politisch entscheidend ist nach unserer Auffassung etwas ganz anderes als diese Protokolle. Wir müssen endlich ernst machen mit der Kernbestimmung des Elysée-Vertrages von 1963, die zur Abstimmung der außen- und sicherheitspolitischen Konzepte aufruft. Das heißt, wir müssen mit Frankreich gemeinsam die zweite Phase der Entspannungspolitik einschließlich der dazugehörigen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik konstruktiv gestalten. Hier stellt sich
dann vor allen Dingen die Frage der militärischen Zusammenarbeit mit Frankreich im konventionellen Bereich, um hier auf dem Kontinent eine ausreichende konventionelle Verteidigungs- und Abhaltungskraft bei beiderseitiger Angriffsunfähigkeit zu schaffen. Das ist das zentrale militärische Problem, das wir mit Frankreich zu erörtern haben.
Herr Lamers, Sie haben korrekt gesagt, die Franzosen sehen das etwas anders. Ich muß hinzufügen: Manche meiner französischen Genossen sehen es in besonderem Maße anders.
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Aber bevor wir in den Diskussionsprozeß gehen - es ist ein Prozeß, der auch schon Fortschritte gebracht hat -, ist es sehr gut, die eigene Position zu umreißen, statt ohne dies mit Leuten, die eine Position haben, ein Gespräch zu beginnen, sich langziehen zu lassen und dann bei etwas zu landen, was hinterher keiner gewollt hat. Wir haben unsere Position klargemacht - machen Sie das bitte auch -, bevor wir dort weiter verhandeln.
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Wie unklar Ihre Positionen bisher sind, habe ich gerade dargelegt, Herr Lamers.
In dem Ziel, durch ein Optimum an deutsch-französischer Zusammenarbeit die politische Handlungsfähigkeit Westeuropas dauerhaft zu stärken, sind wir uns einig, jedenfalls im großen und ganzen. Was diese Bundesregierung jedoch an praktischen Schritten unternimmt, Herr Bundeskanzler und Herr Verteidigungsminister, hat eher symbolischen als praktischen Charakter. Ich fürchte, gerade dieser symbolische Charakter, so gut er gemeint ist - ich unterstelle keine schlechten Motive - , wird auf die Dauer eine engere Zusammenarbeit erschweren. Das gilt auch für die geplante deutsch-französische Brigade, für die ich überhaupt keine Zukunft auf höherer Truppenebene sehe.
Aber auch angesichts dieser Unterschiede wäre es gut, wenn wir uns im deutsch-französischen Verhältnis über drei Dinge klar und einig sein würden. Nämlich erstens daß wir keine Großmachtrolle Westeuropas anstreben. Zweitens daß wir keine andere Westeuropäer ausschließende Militärachse Bonn/Paris anstreben, weil das zu einer Schwächung Westeuropas führen würde. Und drittens daß eine solche Schwächung Westeuropas die Erfüllung der Ost und West gleichermaßen gestellten Aufgabe erschweren würde, in Kooperation wie in Wettbewerb miteinander eine stabile Friedensordnung für ganz Europa zu schaffen.
Eine gemeinsame Politik, um diese drei Ziele - nicht irgendeinen waffentechnischen Kleinkram der Verteidigungsministerien - zu erreichen, das ist die große Aufgabe, auf die wir uns in unserem Verhältnis zu Frankreich gemeinsam konzentrieren sollten.
Ich danke Ihnen.
({33})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben schon gestern nach der Rede unseres Finanzministers den Eindruck gehabt, daß die Debatte für die Koalition gut läuft. Ich muß Ihnen sagen, heute morgen ist dieser Eindruck verstärkt worden.
({0})
Herr Ehmke, einige Bemerkungen, die Sie heute nachmittag am Anfang gemacht haben, zeigen nur, wie sehr die Opposition in die Defensive geraten ist, und einer Opposition kann nichts Schlimmeres passieren, als daß sie in einer so wichtigen Haushaltsdebatte in die Defensive gerät, Herr Kollege Vogel.
Herr Kollege Ehmke, es waren, wie ich finde, auch einige Entgleisungen dabei, auf die man eingehen muß. Sie haben dem Bundeskanzler vorgeworfen, er sei realitätsblind
({1})
und mache eine Politik für die oberen Zehntausend.
({2})
Ich kann nur sagen: Überlassen wir es den Zuhörern, zu beurteilen, wer von den Rednern heute die Realität in der Bundesrepublik Deutschland am genauesten geschildert hat. Die sollen das draußen entscheiden, und da haben wir, so glaube ich, hervorragende Karten, was unsere Einschätzung der Realität in der Bundesrepublik Deutschland angeht.
({3})
Ganz anders steht es um Sie, Herr Kollege Ehmke. Zwar haben Sie sich hinter Augustinus versteckt, aber Sie haben gesagt, dies sei ein Staat ohne Gerechtigkeit und deswegen eine Räuberbande. Ich finde, das ist eine schlimme Entgleisung.
({4})
Ich muß Ihnen sagen: Ich bin stolz darauf, wieviel Gerechtigkeit wir durch unsere Politik verwirklicht haben.
({5})
Wer die Bundesrepublik Deutschland mit einer Räuberbande vergleicht, begeht, wie ich finde, eine schlimme Fehleinschätzung. Noch niemals in der deutschen Geschichte hat es so viel Gerechtigkeit gegeben, und eine Opposition, die nicht in der Lage ist, das zu sehen, ist blind gegenüber den Realitäten dieses Landes.
({6})
Sie machen den zweiten Fehler, sich nicht entscheiden zu können. Jetzt haben Sie Herrn Stoltenberg als Lottokönig bezeichnet. Weil die Daten so überzeugend sind, hat er angeblich im Lotto gespielt und gewonnen.
({7})
Aber so können Sie doch nicht argumentieren.
({8})
Wenn es im Lande gut geht, hat er im Lotto gespielt, und wenn es schlecht geht, sind die Weichen falsch gestellt worden. Sie müssen sich einmal entscheiden, ob die Regierung ein Lottospieler oder ein Weichensteller ist. Ich sage Ihnen: Diese Regierung hat in den letzten fünf sechs Jahren die Weichen in eine richtige Richtung umgestellt, in der wir in diesem Lande auch wieder Erfolg haben können.
({9})
Es ist nicht im Lotto gewonnen worden, sondern die Weichen sind richtig gestellt worden, und erst wenn Sie die Weichen richtig stellen, können Sie manchmal auch noch das Glück haben, daß der Zug vielleicht noch ein bißchen schneller in die richtige Richtung fährt. Aber, Herr Kollege Ehmke, Sie als Opposition haben kein Pech im Lotto, sondern die falsche Politik. Der Bundesparteitag der SPD hat ja auch gezeigt, daß Sie in den entscheidenden Zukunftsfragen unseres Volkes zerstritten sind und keine klare Politik formuliert haben. Daran sollten Sie weiter arbeiten.
({10})
Das gilt nun auch für die Außenpolitik. Sie haben zu mehr Gemeinsamkeit aufgerufen, zu der man immer bereit sein sollte. Die Chancen dafür sind um so besser, je klarer die Analyse der Politik der Vergangenheit ist.
Sie haben gesagt, Sie hätten Fehler gemacht, aber obwohl ich nachgefragt habe, haben Sie diese nebulose Bemerkung nicht präzisiert.
({11})
Wenn Sie behaupten, daß der Mittelstreckenvertrag sozusagen ein Geschenk von Herrn Gorbatschow sei, daß wir ihn also Herrn Gorbatschow zu verdanken hätten und daß wir ihn auch erreicht hätten,
({12})
wenn wir 1983 unter dem Druck der Sowjetunion auf die Nachrüstung verzichtet hätten, wenn Sie das behaupten, dann verzerren Sie die Vergangenheit, dann sind Sie nicht imstande, für die Zukunft die richtige Politik zu betreiben, und dann gibt es auch keine Chance für größere Gemeinsamkeiten, Herr Kollege Ehmke. Denn es gibt überhaupt keinen Ansatzpunkt dafür, daß wir dieses Ergebnis hätten erreichen können, Herr Kollege Ehmke, wenn es auf der westlichen Seite weiterhin bei Null geblieben wäre. Dieser Vertrag ist kein Geschenk von Herrn Gorbatschow, sondern er ist im Westen schwer erarbeitet worden, übrigens auch gegen Ihren Widerstand. Das ist eine
Grundlage für die Entscheidungen auch in der Zukunft.
Ich habe gesagt, wir wollten jetzt zunächst Verhandlungen im konventionellen Bereich. Das bedeutet aber nicht, daß die Ungleichgewichte im nuklearen Bereich nicht in der Zwischenzeit beseitigt werden können. Ich vermisse Ihren Appell an die Sowjetunion, die erheblichen Ungleichgewichte bei den Kurzstreckenraketen unter 500 km einseitig herunterzubringen, so wie das auch die NATO in der Vergangenheit gemacht hat.
({13})
Ich habe ja selber vorgeschlagen, daß auch die NATO bei den Systemen, bei denen wir das geringste Interesse haben und die im übrigen auch schwer zu verifizieren sind, wie etwa die nukleare Artillerie, zu weiteren einseitigen Schritten bereit sein sollte. Es braucht also in diesem Bereich keinen Stillstand zu geben. Zunächst einmal haben allerdings die Verhandlungen im konventionellen Bereich Vorrang. Dazu will ich gleich noch etwas sagen.
Aber zunächst noch einmal zur Einschätzung der Politik Gorbatschows, weil das auch in der Debatte eine Rolle gespielt hat und weil es vor der Reise des Bundeskanzlers sicherlich wichtig ist, daß ich hierzu aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion noch einmal etwas Grundsätzliches feststelle. Ich meine, wir sollten den Reformkurs Gorbatschows nicht als ein gigantisches Täuschungsmanöver ansehen. Wer so denkt, der wird wahrscheinlich ständig von seinen eigenen Fehlurteilen und Fehlprognosen eingeholt werden und hinter der tatsächlichen Entwicklung hinterherhinken. Wir sollten, um das andere Extrem anzusprechen, aber auch nicht die Ergebnisse sowjetischer Reformen vorwegnehmen und dementsprechend unsere Politik vorauseilend verändern, solange dafür nicht die Grundlagen in der Substanz gegeben sind. Denn eine solche Politik, die Worte und Absichten, so ernsthaft und glaubwürdig sie auch sein mögen, schon für bare Münze nimmt, würde dazu führen, daß die Wahrung unserer eigenen Interessen nicht mehr möglich ist und damit auch unsere Sicherheit untergraben wird.
Wir sollten also auch nicht euphorisch fragen, wie wir Gorbatschow helfen können; denn ich meine, in dieser Frage liegt auch eine Überschätzung unserer tatsächlichen Möglichkeiten. Denn unsere Bereitschaft, zu neuen Wegen der Zusammenarbeit mit der Sowjetunion zu kommen, kann doch immer nur an das anknüpfen, was es an tatsächlichen neuen Entwicklungen in der Sowjetunion gibt.
Was wir brauchen, ist, wie ich meine, ein absoluter Realismus. Ich finde, wir sollten nüchtern und aufgeschlossen auf die Sowjetunion zugehen und ihr bei den Reformanstrengungen Mut machen. Wir sollten übertriebenes Mißtrauen zurückstellen, aber auch immer wieder deutlich machen, daß für uns nicht die Worte, sondern die Taten entscheidend sein werden.
Absoluter Realismus im Umgang mit der Sowjetunion bedeutet, daß wir die Veränderungen und Verbesserungen nicht übersehen und daß wir sie auch nicht herunterspielen, sondern daß wir z. B. sagen, daß Glasnost eine Realität ist - übrigens im Unterschied zu Perestroika, gerade im wirtschaftlichen und politischen Bereich - , daß es eine neue Einstellung der Sowjetunion zur Frage der Inspektionen vor Ort gibt und daß die Sowjetunion im Rahmen des Mittelstreckenabkommens zu asymmetrischer Abrüstung bereit gewesen ist. Es wäre eine unrealistische Politik, diese Veränderungen und Verbesserungen nicht zur Kenntnis zu nehmen.
Absoluter Realismus bedeutet allerdings auch, daß wir das, was es nach wie vor an Bedrohung und an Unterdrückung gibt, weiterhin deutlich beim Namen nennen. Das gilt z. B. für die Tatsache, daß sich die neuen Formulierungen über die defensive Militärdoktrin noch kaum in der Praxis niedergeschlagen haben. Es wäre also auch eine unrealistische Politik, wenn wir das, was es an äußerer Bedrohung und an innerer Unterdrückung immer noch gibt, übersehen oder verschweigen würden.
Größere Offenheit, politische Liberalisierung und Demokratisierung, Verbesserung der Lage der Menschenrechte in der Sowjetunion - all das liegt in unserem Interesse, weil langfristig damit eine neue Dimension des Ost-West-Verhältnisses mit weniger Antagonismus und mit reduzierter militärischer und politischer Konfrontation erreicht werden kann. Wir sollten deshalb unser konstruktives Verhalten gegenüber den sowjetischen Reformbemühungen mit Geduld und mit der für die Wahrung unserer eigenen Interessen und Werte notwendigen Festigkeit verbinden.
Hierzu, zu unseren eigenen Interessen, möchte ich gern folgendes feststellen:
Erstens. Unsere Grundwerte und unser freiheitliches Gesellschaftssystem stehen in diesem Prozeß nicht zur Disposition.
Zweitens. Die transatlantische Sicherheitszusammenarbeit steht ebensowenig zur Verhandlungsdisposition wie die Notwendigkeit einer gesicherten Verteidigungsfähigkeit einschließlich einer glaubwürdigen Minimalabschreckung. Abschreckung hat eben Clausewitz ad absurdum geführt. Das heißt, die Vorstellung, daß Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein könnte, hat ausgespielt, und sie darf niemals wieder Gegenstand der europäischen Realität werden, niemals wieder auch nur die geringste Chance erhalten.
({14}) - Gut.
Drittens. Auch weiterhin wird die NATO ihre Verteidigungsplanung auf der Grundlage der sicherheitspolitischen Erfordernisse erstellen. Den Sowjets muß klar sein, daß ihr eigenes militärisches Verhalten das sicherheitspolitische Verhalten der NATO bestimmen wird. Militärische Zurückhaltung wird bei uns entsprechende Antworten finden.
Viertens. Vor allem sollte klar sein, daß nach unserer Auffassung eine Verbesserung der Ost-West-Beziehungen nicht nur, nicht einmal in erster Linie durch
Rüstungsbegrenzung und Abrüstung zu erreichen sein kann, sondern vielmehr durch größere Offenheit, Freizügigkeit und die Verbesserung, was die Menschenrechte angeht. Politische Entspannung und militärische Entspannung müssen Hand in Hand gehen. Offenheit, Freizügigkeit und Menschenrechte haben eben sehr viel mit der Sicherheit in Europa zu tun, denn es gilt der Satz: Je offener Europa ist, desto sicherer ist es auch.
Fünftens. Wir sind zu neuen Wegen in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit bereit. Entscheidende Voraussetzung dafür ist aber, wieweit die wirtschaftspolitischen Strukturen, auch die politischen Strukturen Möglichkeiten für eine solche engere Zusammenarbeit bieten. Es kann beispielsweise nicht darum gehen, mit der Schaffung des Binnenmarktes in Westeuropa die Teilung zwischen Ost und West zu vertiefen. Auf der anderen Seite können wir auch nicht die positive und dynamische Entwicklung in Westeuropa verwässern. Ich bin davon überzeugt, daß die Dynamik des EG-Binnenmarktes nicht vor den Grenzen zu Osteuropa haltmachen wird und daß sich, vorausgesetzt, daß sich der Reformprozeß in der Sowjetunion und in Osteuropa fortsetzt, hier gute Anknüpfungspunkte für neue Formen der Zusammenarbeit ergeben werden.
Sechstens. Schließlich sollte klar sein, daß wir mit unserer Politik auf die Schaffung einer europäischen Friedensordnung zielen, in der die Teilung Europas und damit insbesondere auch die Teilung unseres Landes überwunden wird und auch unser Volk die Möglichkeit zu freier Selbstbestimmung und die Chance der Wiedererlangung der Einheit erreicht.
Ich habe vorhin schon gesagt, wie wichtig die Verhandlungen im Bereich der Herstellung der konventionellen Stabilität sein werden. Es ist ja leider richtig, daß wir uns im westlichen Bündnis in den letzten zwei Jahren im wesentlichen damit beschäftigt haben, mit uns selbst zu verhandeln, zwar einige Grundsätze, aber noch nicht einen für die Öffentlichkeit nachvollziehbaren überzeugenden Verhandlungsvorschlag entwickelt haben. Ich meine, daß es dazu hohe Zeit wird. Ich darf vielleicht einmal etwas ironisch anmerken, daß es doch gelegentlich so ist, daß westliche Politiker morgens um 7.30 Uhr, wenn einschlägige Rundfunkmagazine beendet sind und sie den jeweils neuesten Gorbatschow-Vorschlag der Woche kommentiert haben, glauben, daß es mit der konzeptionellen Arbeit des Tages im wesentlichen getan ist, und dann machen die Beamten die Verhandlungen in entsprechenden NATO-Gremien. Ich kann nur davor warnen. Wir sind völlig unnötig in die Defensive geraten,
({15})
und ich meine, daß es hohe Zeit wird, hier einen Vorschlag zu entwickeln, der klar ist, der einfach ist, der für unsere öffentliche Meinung nachvollziehbar ist
({16})
und der von der Sache her einen Verhandlungsfortschritt erlaubt. Deswegen ist es entscheidend, daß
auch Opfer und Einschnitte auf unserer eigenen Seite deutlich gemacht werden.
Das ändert überhaupt nichts daran, daß natürlich derjenige, der mehr hat, auch mehr abrüsten muß, denn wir werden keine zusätzlichen Panzer produzieren, nur damit wir genausoviel wie der Herr Gorbatschow abrüsten können. Die Hauptlast bleibt bei der Sowjetunion, aber der westliche Vorschlag wird an Durchschlagskraft zunehmen, wenn wir deutlich machen, daß auch wir zu einschneidenden Opfern auf unserer Seite bereit sind. Verständlich, glaubwürdig und überzeugend sollte dieser Vorschlag sein, und ich meine, wir sollten uns zunächst auf die gefährlichsten Systeme konzentrieren, Kampfpanzer, Schützenpanzer, Artillerie, die eine besondere Bedeutung für die Invasionsfähigkeit haben. Das bedeutet nicht, daß Flugzeuge aus diesem Verhandlungsprozeß ausgeschlossen sein werden, aber es gibt überzeugende Gründe, die in der Sache liegen, denn Flugzeuge - das dürfte auch der Opposition bekannt sein - sind nun mal mobiler als Panzer.
({17})
Wenn Sie sie hinter den Ural verlegen, dann hat das eine sehr geringe Bedeutung, während es eine sehr viel größere Bedeutung hat, wenn Sie das mit Panzern machen. Wir scheuen Verhandlungen überhaupt nicht,
({18})
denn auch bei den Flugzeugen gibt es im Gegensatz zu manchen Behauptungen eine sowjetische Überlegenheit. Aber wenn wir in einer absehbaren Zeit den Erfolg wollen, dann müssen wir uns jetzt zunächst auf die Systeme konzentrieren, von denen ich gesprochen habe.
Wenn wir im übrigen die Zähne bei den Landstreitkräften ziehen, die für die Invasion entscheidend sind, dann reduziert das auch die Bedeutung der Flugzeuge. Mit Flugzeugen können Sie ein Land zerstören, aber nicht besetzen. Selbst wenn der Westen die Zahl seiner Flugzeuge verdoppeln würde, hätte er dennoch nicht die Fähigkeit zur Invasion, und zwar wegen der Zahlen im Bereich der Panzer und der Artillerie bei uns. Deswegen liegt hier der Schlüsselbereich.
Ich habe einen Diskussionsvorschlag gemacht, den ich hier in seinen wesentlichen Elementen noch einmal kurz ansprechen möchte, und ich hoffe, daß er die Diskussion in der NATO in dem Sinne beeinflußt, wie ich das vorhin angesprochen habe. Für die Zentralregion sollten wir bei dem kampfentscheidenden Großgerät gemeinsame Obergrenzen auf niedrigerem Niveau unterhalb dessen, was die NATO heute hat, vereinbaren
({19})
und dann durch asymmetrische Abrüstung dieses erreichen. Das bedeutet immer noch, daß die Sowjetunion in diesem Bereich ein Vielfaches tun muß.
Wenn dies geschehen ist, sollten wir zugleich zu einer Halbierung innerhalb dieser Obergrenzen des in der aktiven Truppe stehenden kampfentscheidenRühe
den Großgerätes bereit sein und die Überführung des aus der aktiven Truppe herausgelösten Materials in Depots veranlassen, die dann unter gegenseitige Kontrolle gestellt werden. Die Verhandlungsformel könnte also lauten: gleiche Obergrenzen auf niedrigerem Niveau minus 50 %.
({20})
Dann kommt als drittes Element hinzu, daß das Verhältnis zwischen den Stationierungsstreitkräften und den einheimischen Streitkräften nicht stimmt. Das gilt in erster Linie für den Warschauer Pakt. Ich meine, in der Zentralregion des Warschauer Pakts sollte die Sowjetunion als Stationierungsmacht keineswegs mehr Panzer haben als alle die Staaten, wo sowjetische Panzer stationiert sind, zusammen.
({21})
Das heißt, sie sollte höchstens 50 % haben. Wenn dies verwirklicht wird, dann würde das das Gesicht Europas verändern.
Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es sollte möglich sein, sich in der Zentralregion auf jeweils 15 000 Kampfpanzer zu einigen. Die Hälfte davon könnte jeweils in Depots gelagert werden. Das würde bedeuten, daß nur 7 500 Kampfpanzer verbleiben. Wenn dann auch die dritte Regel gilt, daß kein Land als Stationierungsland mehr haben sollte, als die einheimischen Truppen ausmachen, dann würde das z. B. bedeuten, daß die Sowjetunion nach diesem Vorschlag nur noch 3 750 Kampfpanzer in den aktiven Einheiten außerhalb ihres eigenen Territoriums haben dürfte.
({22})
Ich glaube, daß jedermann erkennen kann, daß dies ein tiefgreifender Schritt wäre, der sicherheitspolitisch und auch politisch das Gesicht Europas entscheidend verändern könnte.
Ich meine, das ist ein Vorschlag, der sicherheitspolitisch verantwortbar ist und den wir deswegen mutig angehen sollten. Wir sollten diese Diskussion so führen, daß wir die Verhandlungen mit unserer Öffentlichkeit nicht Herrn Gorbatschow überlassen. Vielmehr sollten wir diese Diskussion selbst aktiv führen, so wie das auch Franz Josef Strauß gesagt hat: Wir müssen einen Vorschlag machen, den man nicht einfach vom Tisch wischen kann, sondern den man in diesen Verhandlungen ernst nehmen muß.
({23})
- Ich freue mich immer über Unterstützung.
({24})
Nur, ich muß Ihnen sagen, daß Sie etwas ganz anderes vorgeschlagen haben, Herr Vogel.
({25})
Im Augenblick ist es so, daß die Sowjetunion in diesem Bereich 20 000 Panzer mehr hat als der Westen.
Sie haben vorgeschlagen, daß jede Seite um 50 % reduziert,
({26})
d. h. bei Ihnen bleiben die Ungleichgewichte, die wir jetzt haben, während wir hier in einem ersten Schritt Gleichheit herstellen und dann zu weiterer gleichgewichtiger Abrüstung kommen.
({27})
Ich freue mich also über Ihren Beifall, aber überprüfen Sie noch einmal Ihre Politik, die hier weiterhin sehr stark auf einseitige Abrüstung setzt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Voigt?
Ganz kurz, denn ich kenne die Vorschläge sehr gut. Bitte.
Herr Rühe, nachdem Sie jetzt schon in weiten Teilen in der Substanz unsere Parteitagsbeschlüsse von Münster vorgetragen haben, möchte ich Sie doch fragen, ob ich Ihnen noch gewisse Ergänzungen zuschicken kann. Darin wird nämlich wirklich gesagt, daß man auf gleiche Obergrenzen reduziert und dann 50 % heruntergeht. Das ist die Position, die Sie eben vorgetragen haben. Das ist genau unsere Position. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({0})
In Münster ist einseitige Abrüstung im konventionellen Bereich und im nuklearen Bereich beschlossen worden.
({0})
Sie leugnen die Überlegenheit der Sowjetunion in den entscheidenden Bereichen.
({1})
Aber es ist nie zu spät für neue Einsichten. Deswegen werden wir sehr genau darauf hören, wie die Einlassungen der Sozialdemokraten in diesem Bereich sind.
Ich möchte noch etwas sagen zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und auch zur Situation der Minderheiten in Europa. Das ist ja ein Punkt, der dort noch besonders kritisch ist. Ich war in den letzten Tagen in Ungarn und habe dort auch Detailinformationen erhalten. Ich muß Ihnen sagen: Ich finde, daß die deutsche Politik angesichts der Bulldozerpolitik Ceauşescus in Rumänien manchmal etwas zu leise ist.
({2})
Wir sind nicht glaubwürdig, wenn wir uns völlig zu Recht über Chile und Südafrika aufregen - ich will, wenn die Zeit es erlaubt, darüber auch noch etwas sagen - , und im Herzen Europas werden mit Bulldozern über Jahrhunderte gewachsene Strukturen zer6164
stört. Das muß uns doch zumindest genauso angehen wie die Veränderungen in diesen Ländern.
({3})
Deutsche Außenpolitik sollte das verstärkt aufgreifen. Ich habe in Ungarn mit vielen gesprochen. Sie fühlen sich in manchem ein bißchen allein gelassen, übrigens auch von ihren Verbündeten im Warschauer Pakt.
Hier muß ich einmal ein Wort Richtung Ost-Berlin sagen. Ich habe es schon als befremdlich empfunden, wie sich die Ungarn mit denen ich gesprochen habe, nicht nur um die ungarische Minderheit in Rumänien gesorgt haben, sondern natürlich auch um die Deutschen, die dort leben. Ost-Berlin scheint es ganz gleichgültig zu sein, wie es um die Deutschen in Rumänien steht.
({4})
Ich meine, daß sich auch diese Staaten des Warschauer Pakts, wenn sie Wert legen auf Ansätze der Glaubwürdigkeit, nicht nur um Südafrika und Chile kümmern sollten, sondern um die konkrete Situation in Rumänien. Ich hoffe, daß das geschieht.
({5})
Auf der Konferenz in Wien hat es ja sehr interessante Situationen gegeben. Der deutsche Botschafter und der ungarische Botschafter haben dort sehr viele Berührungspunkte gehabt. Ich finde es gut, daß man sich über die Blockgrenzen hinweg für Menschenrechte einsetzt. Falls sich das nicht ändert, sollten wir auch bereit sein, das zusammen mit den Ungarn in den Vereinten Nationen zum Thema zu machen. Da darf es für die deutsche Außenpolitik gar keine Tabus geben.
({6})
Herr Kollege Ehmke, Sie haben zu Recht gesagt, daß dem Bundeskanzler die Verbesserung der Beziehungen zu Polen besonders am Herzen liegt. Uns liegt daran, daß das Momentum, das sich entwickelt hat, nicht verlorengeht. Aber natürlich müssen auch die Vorbereitungsaufgaben gelöst werden.
({7})
Sie können davon ausgehen: Wir haben in den letzten Jahren eine ganze Menge getan, um das Verhältnis zu entspannen.
({8})
Sie können davon ausgehen, daß wir weiter daran arbeiten werden.
({9})
Aber sehen Sie: Ich war in Ungarn auch in einem Dorf mit einer deutschen Minderheit. Ich bin in die Kirche gegangen und habe gelernt, daß dort natürlich Gottesdienste in deutscher Sprache stattfinden können. Ich war in einem Kindergarten. Ich habe gelernt, man kann dort einen deutschen Kindergarten führen, obwohl es dort nur noch 20 % Deutsche gibt. Ich war sehr beeindruckt von dem Verhältnis zwischen Deutschen
und Ungarn. Ich glaube, die Ungarn tun das einmal aus ehrlichem Herzen, aber auch, weil sie wissen, daß sie selbst Minderheiten haben. Ich verstehe nicht, warum nicht auch in Polen ein wirklicher Schritt gemacht werden kann.
({10})
Wenn wir uns alle, die Opposition genauso wie die Regierungsfraktionen, dafür einsetzen, bin ich optimistisch, daß wir in den nächsten Monaten die Voraussetzungen für einen solchen Besuch schaffen werden. Ich bin sicher, daß trotz der inneren Schwierigkeiten in Polen - gerade wenn ein Land Probleme hat, sollte man sich besonders darum kümmern - wir planmäßig weiter an dem Ausbau der Beziehungen arbeiten.
Lassen Sie mich ein Wort zu Chile sagen, weil das Land vor genau einem Jahr hier im Bundestag eine große Rolle gespielt hat und - wie das so ist in der deutschen Politik - in dieser Debatte bisher noch nicht einmal der Name gefallen ist. Es gibt weiterhin sehr viel Sympathien für uns in Chile, aber manchmal ist man schon ein bißchen beschämt, wenn man sieht, wie selektiv die Wahrnehmung der deutschen Politik ist. Das heißt, wenn wir überzeugend sein wollen, müssen wir nicht nur schlechte Nachrichten, sondern auch gute Nachrichten zur Kenntnis nehmen. Die gute Nachricht ist z. B., daß all die Todesurteile, die wir im vergangenen Jahr zu Recht angesprochen haben - weil wir sie international angesprochen haben, haben wir sicherlich auch einiges bewirkt - jetzt, in den letzten Tagen, aufgehoben worden sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehmke?
Gut, bitte.
Herr Kollege, ist Ihnen bekannt, daß die vier Fraktionen des Bundestages gestern zusammen mit dem Auswärtigen Amt vereinbart haben, daß wir eine Delegation zur Beobachtung des Plebiszits nach Chile schicken? Wenn das so ist, was soll die Polemik gegen andere Fraktionen?
Das ist keine Polemik. Es ist doch gut, daß die Delegation hinfährt, aber wir sollten in der Öffentlichkeit auch die Fakten feststellen, daß diese Todesurteile, die uns wochenlang beschäftigt haben,
({0})
auch weil wir das öffentlich diskutiert haben, jetzt Gott sei Dank in der zweiten Instanz zurückgenommen worden sind.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Volmer? - Bitte sehr.
Herr Rühe, wenn Sie die Verurteilung ansprechen, erinnern Sie sich dann auch noch an die Zusage der Bundesregierung, daß sie in dem Moment, wo zu erwartende Todesurteile in lebenslängliche Haftstrafen umgewandelt würden, bereit sei
- und daß dann auch die formellen Voraussetzungen bestünden -, den Verurteilten hier Asyl zu gewähren, und sind Sie bereit, die Zugeständnisse von damals heute einzuhalten?
Ich erinnere mich sehr genau daran, daß wir gesagt haben: Wir wollen alles tun, um zu verhindern, daß die Todesurteile bestätigt oder gar vollstreckt werden. Ich sage: Es ist erfreulich, daß das jetzt erreicht worden ist.
Lassen Sie mich weiteres sagen. Es war immer klar: Wer den Menschen, die auch weiterhin in Chile unter Menschenrechtsverletzungen zu leiden haben, helfen will, wer zukünftige Menschenrechtsverletzungen verhindern will, der muß helfen, Chile auf den Weg der Demokratie zu führen. Demokratie - da sollten wir alle uns doch einig sein - ist eigentlich der einzige Schutz vor der Verletzung der Menschenrechte.
({0})
Es gibt jetzt ein Plebiszit - keine Wahl, ein Plebiszit - und die Chance zu einer Mehrheit für die Oppositionsparteien.
Gerade auch angesichts der Erfahrungen der letzten Tage mit dieser Demonstration dort, die leider wieder in Gewalttätigkeiten ausgeartet ist, wo Barrikaden gebaut wurden, meine ich: Pinochet kann nichts Besseres passieren als solche gewalttätigen Demonstrationen. Deswegen habe ich die herzliche Bitte: Nutzen Sie Ihre Verbindungen zu den Oppositionsparteien in Chile, die Sie haben, um es Pinochet unmöglich zu machen, wieder nach dem Motto zu agieren: Entweder ich oder das Chaos, entweder ich oder die Gewalt.
Die demokratischen Parteien dort - wir sind stolz darauf, daß die Christdemokraten die entscheidende Rolle spielen und auch die entscheidende Rolle in der Zukunft zu spielen haben - haben die Chance, eine Mehrheit für ihre Politik zu erreichen und damit Chile in einem Prozeß der Stabilität in die Demokratie hineinzuführen. Aber wichtig ist, daß alle Gewaltaktionen unterbleiben. Ich finde es gut, wenn der Deutsche Bundestag dort im Wahlkampf präsent ist. Die Voraussetzungen für ein faires Wahlergebnis - was technische Abläufe angeht - scheinen auch nach Aussagen aller Oppositionsparteien gewährleistet zu sein.
Es gibt also durchaus gute Nachrichten aus Chile, auch wenn es nicht gewiß ist, daß es einen guten Weg geben wird. Ich glaube, wir verstärken unseren Einfluß, wenn wir auch gute Nachrichten berichten, genauso wie wir versuchen, gegen ungünstige Entwicklungen anzugehen.
Wenn ich in einem Satz noch einmal zusammenfassen darf: Ich meine, daß in den großen Fragen der OstWest-Politik, aber auch in den anderen Fragen, die ich hier angesprochen habe, die Bundesregierung insgesamt die Weichen richtig gestellt hat. Es gibt ja Sozialdemokraten, die sagen, auch in der Außenpolitik seien wir Lottospieler, auch da hätten wir alle Erfolge Herrn Gorbatschow zu verdanken, so wie Herr Stoltenberg seine finanziell besseren Rahmenbedingungen anderen zu verdanken habe. Nein, auch hier sind
die Weichen richtig gestellt worden. Wenn das von der Opposition anerkannt wird, dann ist das gut.
Ich kann an Ihrem gesamten Bundesparteitag keine tragbare Alternative erkennen. In manchem, was Sie dort beschlossen haben, bewegen Sie sich außerhalb des Spektrums unseres gemeinsamen Bündnisses. Das Bündnis ist wie in der Vergangenheit auch in der Zukunft die Grundlage für den größtmöglichen Bewegungsspielraum der deutschen Außenpolitik.
Deswegen muß ich an die Opposition appellieren einzusehen, wo wir die Weichen richtig gestellt haben, und den Kampf in den eigenen Reihen um eine vernünftige Außenpolitik nicht populistisch zu führen, nicht die Entwicklung treiben zu lassen, Herr Kollege Vogel, sondern diese innerparteiliche Diskussion wirklich zu führen, damit Sie eine Außenpolitik entwickeln können, die dann auch bündnisfähig ist.
Vielen Dank.
({1})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat zu Recht eine positive Perspektive der internationalen Entwicklung entworfen und damit auch eine positive Perspektive für die deutsche Außenpolitik. Es ist unbestreitbar, daß wesentliche Elemente dieser positiven Entwicklung auf der einen Seite die Entscheidung der europäischen Gemeinschaft für die Herstellung des gemeinsamen Binnenmarkts und auf der anderen Seite das erste Abrüstungsabkommen zwischen West und Ost sind.
Keine dieser beiden Entscheidungen wäre möglich gewesen ohne den bestimmenden Beitrag der Bundesrepublik Deutschland.
({0})
Das beweist, daß wir recht haben, wenn wir auf die Vollendung der politischen Union für Europa setzen, und daß wir recht hatten, wenn wir in schwerer Zeit, gegründet auf Festigkeit in der Verteidigung und Offenheit für Dialog und Zusammenarbeit, die Türen weit aufgemacht haben für eine Verbesserung des West-Ost-Verhältnisses.
Daß es zu der doppelten Null-Lösung kam, daß wir heute eine positive Entwicklung haben, ist letztlich die Konsequenz des Harmel-Konzepts des westlichen Bündnisses von 1967 - eine Feststellung, die deshalb notwendig ist, weil auch hier in diesem Hause irrtümlich die Meinung vertreten wird, daß der Westen ohne Konzept, der Osten dagegen mit einem überzeugenden Konzept ausgestattet sei. Es ist offenkundig, daß unsere Festigkeit allein und unsere Vorstellungen allein nicht ausgereicht hätten, um eine grundlegende Veränderung im West-Ost-Verhältnis zu erreichen, wenn nicht auch auf der anderen Seite eine grundlegende Veränderung von Außen- und Sicherheitspolitik eingeleitet worden wäre. Dies festzustellen nimmt der westlichen Haltung nichts an ihrer Richtigkeit und Weitsicht, und es nimmt der östlichen Haltung nichts an dem Mut und der Energie des sowjetischen Generalsekretärs, zu einer Entmilitarisierung der sowjeti6166
schen Außenpolitik zu kommen. Beides gehört zusammen, und beides wollen wir entwickeln.
Es wird im Westen, meine Damen und Herren, viel darüber spekuliert, was der sowjetische Generalsekretär denn nun wirklich wolle, ob er es schaffe, ob er es schaffen könne, ob nicht Gegenstimmen, die wir hören, seine Politik untergraben könnten.
Meine verehrten Kollegen, mir scheint es wichtiger zu sein, daß wir analysieren, ob die Politik, die er eingeleitet hat, auch unseren Interessen nützt, oder ob sie unseren Interessen schadet. Ich komme zu dem Ergebnis: Sie nützt unseren Interessen. Deshalb sollte diese Politik bei uns nicht nur ein positives Echo, sondern in allen Bereichen auch eine positive Reaktion finden. Das ist unsere Verantwortung.
({1})
Ich denke, daß wir uns mit mehr Offenheit in der Sowjetunion auch damit abfinden müssen - ich tue das übrigens gern - , daß unterschiedliche Meinungen in der sowjetischen Führung auch deutlicher ausgesprochen werden, d. h. daß eine offenere sowjetische Gesellschaft wie bei uns das Für und Wider über den richtigen Weg deutlicher artikuliert. Das wird nicht eine Schwäche sein, das wird eine Stärke sein. Nur zögere ich, hinter jede Erklärung der sowjetischen Führung deshalb ein Fragezeichen zu setzen, weil es auch andere Stimmen gibt. Ich würde mir als Mitglied der Bundesregierung verbitten, wenn eine andere Regierung deshalb ein Fragezeichen hinter die Ernsthaftigkeit unserer Absichten setzen würde, weil die Fraktionen der Opposition zu dieser oder jener Frage eine andere Auffassung haben.
({2})
Meine Damen und Herren, mehr Pluralität in der Gesellschaft setzt also auch mehr Offenheit in den Auseinandersetzungen voraus.
Entscheidend ist für uns, daß wir heute die Architektur des künftigen Europas bestimmen, in dem wir zu Hause sind. Dieses Europa wird keine innere und keine äußere Stabilität haben, wenn nicht das westliche Bündnis, das Bündnis der Vereinigten Staaten und der Kanadier mit ihrem westeuropäischen Partner, Teil der Stabilitätsstruktur dieser europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses bleibt. Weil wir gleiche Werte haben, sind so gesehen die USA und Kanada auch ein Teil Europas. Das macht ja die Beständigkeit unseres Bündnisses aus.
Wir in der europäischen Gemeinschaft haben in einer Politik, die die Lehren aus der Vergangenheit gezogen hat, letztlich einen Sieg errungen, ich glaube, den ersten wirklichen Sieg über nationale Verirrungen, über nationale Verblendungen. Es ist ein unblutiger Sieg, aber es ist der größte und schönste Sieg in der europäischen Geschichte, weil wir mit diesem Sieg eine Zukunft der Hoffnung für Europa gewonnen haben.
({3})
Nun stellen wir fest, daß viele Länder um uns herum - die EFTA-Staaten, die Staaten des RGW, aber auch die Vereinigten Staaten, Japan, die ASEAN-Staaten - die Frage stellen: Was bedeutet es denn schließlich, wenn diese Fortschritte in der Europäischen Gemeinschaft erzielt werden? Entsteht hier eine Festung Europa, die sich auf sich selbst zurückzieht? Manchmal wird sogar überschätzt, was wir erreichen können, wie es überhaupt das Schicksal der Europäischen Gemeinschaft zu sein scheint, daß ihre Möglichkeiten von außen überschätzt, daß sie aber im Inneren aller einzelnen Staaten unterschätzt werden.
({4})
Meine Damen und Herren, Europa wird seine Friedensverantwortung in der Welt, Europa wird seine wirtschaftliche Verantwortung in der Welt und Europa wird auch seine Chancen nur nutzen können, wenn es eine auf Offenheit angelegte Gemeinschaft bleibt, offen für alle, die mit uns zusammenarbeiten wollen. Ich bin der festen Überzeugung, daß die Europäische Gemeinschaft die große Wachstumsreserve der Weltwirtschaft ist,
({5})
daß die Wachstumschancen, die in der Entwicklung des Gemeinsamen Marktes liegen, nicht nur eine Chance sind für die 320 Millionen Einwohner der Europäischen Gemeinschaft, sondern daß davon ein neuer Impuls für die Entwicklung der Weltwirtschaft ausgehen wird, aber ganz besonders für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in Europa, den EFTA-Staaten genauso wie mit den Staaten des RGW.
Niemand hat Anlaß, Sorge vor dieser Entwicklung zu haben, wenn wir unser Konzept der Offenheit dieser Gemeinschaft durchsetzen können. Diese Gemeinschaft wird eine unheimliche Kraft, eine große wirtschaftliche Kraft entwickeln.
({6})
- Herr Kollege, wenn es Ihnen unheimlich ist, daß die zwölf Staaten wirklich die Lehren aus der Vergangenheit gezogen haben,
({7})
daß sie ihre Kräfte bündeln, daß sie nationalen Egoismus überwinden, dann kann ich ihren Gedankengängen wirklich nicht mehr folgen.
({8})
- Sie kommen ja noch darauf zurück.
Meine Damen und Herren, deshalb ist es so wichtig, daß wir erkennen, daß in den Zeiten der Wachstumsschwäche in der Europäischen Gemeinschaft Anfang der 80er Jahre nicht nur die zwölf Mitgliedstaaten unter dieser Wachstumsschwäche zu leiden hatten. Auch die EFTA-Staaten, auch die Staaten des RGW hatten damals die Folgen dieser Entwicklung zu tragen. Sie werden also heute auch die Chancen mit uns wahrnehmen können, und ich bin sicher, daß die Sowjetunion und die anderen Staaten des Warschauer
Pakts das erkennen und sich auf eine bessere und stärkere Zusammenarbeit einstellen.
Wir werden allerdings dieses große Werk der Schaffung einer europäischen Friedensordnung, des Baus des europäischen Hauses - zwei Worte für dasselbe Ziel - nur erreichen können, wenn wir auch in den Fragen der Zusammenarbeit in allen Bereichen Fortschritte machen, wenn wir durch kulturelle Zusammenarbeit Feindbilder abbauen, wenn wir gegenseitige Achtung schaffen und wenn niemand darauf aus ist, den anderen zu schwächen, sondern wenn jeder im Erfolg des anderen auch den eigenen Erfolg für ein besseres Europa sieht. Deshalb ist es nicht unsere Absicht, unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten zur Schwächung der östlichen Nachbarn einzusetzen, sondern um Stabilität zu schaffen, die auch Voraussetzung für politische Entscheidungen ist, die letztlich zu Abrüstung und Rüstungskontrolle führen.
Der Westen ringt um ein konventionelles Abrüstungskonzept. Ich verstehe die Ungeduld der Kollegen hier in diesem Hause. Aber ich darf doch darauf hinweisen, daß alle Abrüstungsvorschläge zur konventionellen Abrüstung hier in der Bundesrepublik Deutschland in der Bundesregierung entwickelt worden sind, daß wir heute dabei sind, sie im westlichen Bündnis durchzusetzen, Herr Kollege Rühe. Jede öffentlich geäußerte Ungeduld empfinde ich als hilfreich.
({9})
Aber aus der Geschichte der doppelten Null-Lösung wissen wir ja, daß auch ein noch so guter Vorschlag gelegentlich auf Bedenken stoßen kann. Deshalb ist es notwendig, daß wir diese Bedenken - soweit sie bei anderen Partnern noch vorhanden sind - überwinden.
({10})
Meine Damen und Herren, jetzt geht es darum, daß wir die Konferenz in Wien zu einem guten Ende führen. Meine feste Überzeugung nach meinem Besuch in Moskau ist, daß auch die sowjetische Seite an einer schnellen Beendigung und an einem substantiellen und ausgewogenen Dokument interessiert ist und daß sie auch daran interessiert ist, zu einem Mandat für die Abrüstungsverhandlungen über die konventionelle Stabilität zu kommen. Wir haben bei unseren Gesprächen in Moskau dafür einen Fortschritt erzielt. Ich hoffe, daß die weiteren Beratungen, die jetzt zwischen den Bündnissen geführt werden, diesen Fortschritt ausbauen können.
Konventionelle Stabilität ist die Kernfrage der europäischen Sicherheit. Die Schaffung von Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau setzt voraus, daß die einen mehr und die anderen weniger, aber beide zusammen doch abrüsten. Das bedeutet unser Konzept, dessen Elemente Sie soeben noch einmal dargelegt haben. Es ist genauso wichtig, daß wir sehr schnell zu Vereinbarungen über Strukturen, über Bewaffnung, über die Stationierung kommen, damit auf beiden Seiten die Streitkräfte tatsächlich nur noch der Verteidigung fähig sind, aber nicht der raumgreifenden Offensive oder dem Überraschungsangriff. Darin liegt mehr als militärische Stabilität. Das schafft auch politische und sicherheitspolitische Vertrauensbildung. Das wird natürlich auch alle anderen Entscheidungen beeinflussen.
Herr Kollege Ehmke, Sie sollten das Bemühen der Bundesregierung um ein Abrüstungs- und Sicherheitskonzept eigentlich unterstützen.
({11})
Denn es ist doch offenkundig, daß die vorliegenden sicherheitspolitischen Konzeptionen ihre Auswirkungen auf die Verteidigungsanstrengungen auch auf der westlichen Seite haben müssen. So wie die doppelte Null-Lösung ja Einfluß auch auf unsere nukleare Ausrüstung in diesem Bereich hatte, nämlich daß wir sie beseitigt haben, werden auch weitere Vereinbarungen Ausfluß und Einfluß auf die Struktur der westlichen Verteidigung haben müssen.
({12})
In diesem Zusammenhang müssen wir auch die Entscheidungen über die Kurzstreckenraketen sehen. Der Bundeskanzler hat zu Recht festgestellt: Hier besteht überhaupt kein Zeitdruck, sondern es ist wichtig, daß wir zunächst einmal untersuchen, wie die notwendige Zusammensetzung nuklearer Mittel auch in künftigen Entwicklungen aussieht. Da sind wir uns sicher einig, daß die Kurzstreckenraketen für die Abschreckung die geringste Bedeutung haben.
({13})
Aber die Abschreckung vom Kriege, meine Damen und Herren, die Strategie der Abschreckung von jeder Art von Krieg muß ein Bestandteil unserer Sicherheitspolitik bleiben. Aber es kann nicht die letzte Antwort auf die Fragen der Sicherheit in Europa sein,
({14})
sondern wir müssen zusätzlich Strukturen übergreifender - also kooperativer - Sicherheit schaffen, die die Abschreckung immer weniger bedeutsam und vertrauensbildende Strukturen für die Sicherheit in Europa immer wichtiger werden lassen.
({15})
Deshalb sind Herstellung konventioneller Stabilität und Beseitigung der Fähigkeit zu Angriffen von so essentieller Bedeutung auch für die anderen Bereiche. Und da müssen wir auf alle Optionen der Entwicklungen eingestellt sein, aber wir müssen uns als Realisten gleichzeitig auch bewußt sein, daß die Anstrengungen von heute nicht auf Erwartungen von morgen gegründet werden können, daß wir uns aber auch mit dem Ist-Zustand nicht abfinden, sondern das Morgen gestalten.
Meine Damen und Herren, wir sollten keine Sorge haben, Sicherheit in der Zusammenarbeit - durch kooperative Strukturen - mit dem Osten zu gestalten. Wenn wir hier zu Recht feststellen, daß die neuen Entwicklungen in der Abrüstungspolitik nur möglich wurden, weil wir ein offenes Konzept hatten und weil der Osten durch seine veränderte Politik auf dieses Konzept eingeht, so wird schon deutlich, daß beide
Seiten zur Sicherheit beitragen müssen, daß wir diese Sicherheit gemeinsam schaffen müssen.
Es ist meine feste Überzeugung, daß wir im Westen diese Zusammenarbeit nicht zu scheuen brauchen.
({16})
Wir brauchen die Kontakte nicht zu scheuen, wir haben keine Berührungsängste. Ich bin auch ganz sicher, daß alle Entwicklungen, die durch Öffnung zu mehr Kreativität, zu mehr Stabilität in der Sowjetunion führen, Entwicklungen sein werden, die dem einzelnen Menschen mehr Freiheitsraum, mehr Gestaltungsraum geben. Meine Damen und Herren, wenn das so ist, dann wird die Sowjetunion durch eine solche Politik auch kooperationsfähiger.
Wir sehen positive Entwicklungen nicht nur in der - heute schon wiederholt erwähnten - erhöhten Zahl von Aussiedlern aus der Sowjetunion, sondern wir sehen sie auch darin, daß die Sowjetunion erstmals bereit ist, in der seit langem bestehenden Arbeitsgruppe für humanitäre Fragen mit uns über das Schicksal der Deutschen sowjetischer Nationalität zu sprechen, die in der Sowjetunion leben und auch weiter leben wollen, daß sie bereit ist, mit uns darüber zu sprechen, wie diese Sowjetbürger deutscher Nationalität ihre nationale Identität, ihre kulturelle Identität wahren können, wie sie die Ausübung ihres religiösen Bekenntnisses gesichert bekommen können. Ich sehe in dieser Gesprächsbereitschaft einen ganz entscheidenden Fortschritt. Das entspricht auch den Ankündigungen aus dem letzten Plenum des Zentralkomitees in Moskau, wo die Rede davon war, daß die Rechte der Minderheiten, die nicht in geschlossenen Siedlungsgebieten leben, durch Gesetz umschrieben werden sollen.
Das steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit jüngster Kritik in der sowjetischen öffentlichen Meinung an der Umsiedlung und Verstreuung der Deutschen aus dem Wolga-Gebiet in der Folge der Jahre 1941. Das ist eine beachtliche Selbstkritik,
({17})
die ja wohl die Aufgabe hat, einen Umdenkungsprozeß auch in diesem Bereich vorzubereiten. Ich finde, es ist immer legitim, zu sagen, daß wir die andere Seite beim Wort nehmen. Ich habe das selber in meiner Rede in Davos vor eineinhalb Jahren gesagt.
Aber ich lege auch auf etwas anderes Wert. Das ist für die Bildung eines Vertrauensverhältnisses zwischen unserem Land und der Sowjetunion wichtig. Wir begreifen ja unsere Rolle als eine zentrale Rolle. Der Bundeskanzler hat das in der Regierungserklärung nach der letzten Bundestagswahl gesagt. Die Sowjetunion spricht von einer Schlüsselrolle. Wir müssen auch die Kraft haben, Einsichten und neue Wege, Taten, die Worten gefolgt sind, zu erkennen. Herr Rühe hat die Bereitschaft zu asymmetrischer Abrüstung und Kontrollen vor Ort erwähnt. Ich könnte hinzufügen: Bereitschaft zum Abbau aller Mittelstrekkenraketen - was jahrelang abgelehnt worden war - , die Bereitschaft zum Rückzug und die Entscheidung für den Rückzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan, kooperativeres Verhalten bei der Lösung von Krisen überall in der Welt. Das sind gute
Zeichen, hoffnungsvolle Zeichen. Unsere Aufgabe ist es, daß aus diesen Zeichen Wirklichkeit wird - auch durch unsere Möglichkeiten der Zusammenarbeit.
Unser Anteil war in der Vergangenheit groß. Wir sollten auch in Zukunft mit Mut und Selbstvertrauen diesen Weg weitergehen. Wir, die freiheitlichen Demokratien des Westens - das sage ich den Ängstlichen, von denen heute einer aus einer Zeitung zitiert wurde -, brauchen Kooperation und Zusammenarbeit nicht zu fürchten.
Ich bin ganz sicher: Die Geschichte wird zeigen, daß die Sache der Menschenwürde, der Menschenrechte und der Freiheit sich überall in der Weit durchsetzen wird. Aber ich bin auch der Meinung, daß wir der Geschichte die Möglichkeit geben müssen, Antwort zu geben. Das kann sie nur, wenn wir das wahren, was elementar für das alles ist, nämlich wenn wir den Frieden wahren und unseren Anteil zu dieser Friedenswahrung als Bundesrepublik Deutschland erbringen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Außenminister, ein Wort voraus zu dem kleinen Disput über das „unheimliche" Europa. Es ist keine Frage zwischen uns, daß das Europa der Zwölf ein Sieg über nationale Verblendung ist. Da liegt das Problem überhaupt nicht. Das Problem liegt bei der geopolitischen Betrachtungsweise, die jetzt gerade von den Unterstützern des Binnenmarkts so oft vorgebracht wird. Da heißt es nämlich: Zwischen Japan und der USA brauchen wir das starke Westeuropa. Geopolitik macht mir grundsätzlich immer Sorge.
Das zweite Problem ist: Selbst Sie sind soeben - ich habe darauf geachtet - in den Sprachgebrauch „Europa" verfallen und haben natürlich Osteuropa übersehen.
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- Sie haben es in der Gesamtpolitik nicht getan, wohl aber bei dieser speziell auf diese Frage abgestellten Betrachtung.
Da ist das Problem doch folgendes: Sie haben von den großen Wachstumskräften gesprochen. Auf der anderen Seite, in Osteuropa, gibt es enorme Verschuldungsprobleme. Wie übersetzt sich das ins Politische? Wir können doch nicht nur sagen: Wir werden später aus unserem Wohlstand heraus helfen. Das geht politisch auch gar nicht. Das heißt: Welche politischen Spannungen entstehen in dem Moment, in dem eine neue Wirtschaftsmetropole entsteht?
Der dritte Punkt ist: Sie haben ja nun beim Kälber/ Hormon-Skandal erlebt, wie der Minister Matthiesen so sehr darüber jammerte, daß er keine Grenzkontrolle mehr machen darf, weil ihm die EG dazwischenkommt. Ich sehe nur, daß uns mit dem Druck auf Harmonisierung und dem Diskriminierungsverbot für
Dr. Lippelt ({1})
Waren - egal wie diese beschaffen sind - zunächst erst einmal wieder ein großer Sieg der Ökonomie über die Ökologie ins Haus steht und daß die kleinen Fortschritte, die wir erreicht haben, erst einmal wieder den Bach heruntergehen. Deshalb, Herr Außenminister, habe ich da eine etwas andere Meinung als Sie.
Der Herr Bundeskanzler hat heute vormittag ausführlich über seine Ostpolitik gesprochen. Er will in Moskau - so haben wir gehört - Anfang Oktober vor allem über Umwelt sprechen und wahrscheinlich ein Umweltabkommen abschließen. Davon war zwar heute morgen nicht mehr die Rede; heute ging es mehr um einen großen Tour d'horizon. Vielleicht ist es auch besser, wenn die Umwelt etwas zurücktritt, denn, Herr Bundeskanzler, hat man bei Ihnen in all den aufeinanderfolgenden Umweltkatastrophen dieses Sommers je ein besonderes Engagement für dieses Thema feststellen können? Oder haben Sie die deutsche EG-Präsidentschaft genutzt, um Umweltpolitik voranzutreiben? Was man zu Hause versäumt, kann man in der Fremde schließlich schlecht nachholen.
Insofern fragt sich natürlich, wie dies gemeint ist. Es ist ja immer zu befürchten, daß es in dem dialektischen Sinne gemeint ist, daß man zwar von Umwelt spricht, ihre Zerstörung hingegen toleriert. Wie, Herr Bundeskanzler, haben Sie in der Pressekonferenz vor dem „Sommerloch" gesagt - ich zitiere -:
Ich begrüße auch, daß der Warschauer Pakt sich dem Umweltthema jetzt auf höchster politischer Ebene stellt. Ich habe gerade hier immer wieder Zusammenarbeit angeboten, nicht zuletzt auf Grund der Erfahrungen von Tschernobyl.
In der Tat, Minister Riesenhuber hat längst seine Hausarbeit gemacht. Wir haben seit April letzten Jahres das deutsch-sowjetische Nuklearabkommen. Zusammen mit ihm haben wir einen Vorvertrag zur gemeinsamen Entwicklung, zum Serienbau und zur weltweiten Vermarktung des kleinen 100-MW-Hochtemperaturreaktors. Was das bedeutet, liegt für diejenigen, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, auf der Hand: Die Atomindustrie pfeift aus dem letzten Loch. Nur in Ländern, wo sie in staatlicher Regie betrieben wird - wie in der Sowjetunion und in Frankreich - oder wo sie durch Gebietsmonopole abgesichert ist - wie hier in der Bundesrepublik - , geht es ihr noch leidlich. Aber während ihr trotzdem im eigenen Land die Entsorgungsprobleme über den Kopf wachsen, setzt sie zu einer letzten Exportoffensive an und will mit dem kleinen Reaktor auch die nicht zahlungskräftigen Märkte der Dritten Welt durchdringen und nun auch dort Atommüll produzieren, wo man noch sorglos mit ihm umgeht. Das sind die ersten Früchte der Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion nach Tschernobyl. Dabei werden jetzt ganz andere Konzepte der Zusammenarbeit von Ihnen verlangt, Herr Bundeskanzler.
Ich frage mich natürlich: Was werden Sie Gorbatschow antworten, wenn dieser Sie z. B. nach dem Sinn der deutsch-französischen militärischen Integration fragt. Der Kollege Ehmke hat schon darüber gesprochen; ich weise darauf hin: Ein erster Finanzansatz für den gemeinsamen Sicherheitsrat findet sich ja nun schon im Etat. Ich hoffe, daß - wie ich Herrn Ehmke verstanden habe - die SPD den Sinn des von
uns hier eingebrachten Antrags auf Aufnahme des Atomwaffenverzichts in das Grundgesetz jetzt auch etwas besser versteht. Wir haben diesen Antrag im Ausschuß ja auch mehrfach zurückgestellt, damit dieser Bewußtseinsprozeß greifen konnte. Insofern ist es dann wohl an der Zeit, ihn demnächst auf die Tagesordnung zu setzen.
Es werden andere Konzepte verlangt, und ich frage noch einmal, Herr Bundeskanzler: Was werden sie antworten auf Fragen nach der Modernisierung der nuklearen Kurzstreckenraketen, nachdem jetzt das Weißbuch des englischen Verteidigungsministers über die beabsichtigte Einführung der nuklearen Luft/Boden-Raketen für die Tornados der Royal Air Force auf dem Tisch liegt? Die Tornados der Royal Air Force sind nun einmal zum größeren Teil in der Bundesrepublik stationiert. Werden Sie sagen, Herr Bundeskanzler, daß die Bundesregierung Einspruch gegen diese Stationierung einlegt, oder werden Sie sagen, was Sie und die Regierungsparteien hier in diesem Haus nach dem Washingtoner Gipfel sagten, daß die Modernisierung nicht aktuell sei? Und was werden Sie auf den möglichen Vorwurf sagen, daß die Kombination des ja schon im Frieden mörderischen Tiefflugs mit der Einführung dieser nuklearen Abstandswaffen, die Addition also von Eindringtiefe der Tornados mit der Reichweite dieser Raketen, letztlich das Unterlaufen des INF-Abkommens bedeute? „Reduzierung von Fluglärm" ist da etwas zuwenig gesagt. Tiefflug ist insgesamt Angriffsflug. Das wissen Sie so gut wie wir.
Was werden Sie, Herr Bundeskanzler, an Vorschlägen nach Moskau mitnehmen, um der Ungeduld und Bereitschaft der anderen Seite zur weiteren Vertiefung des Abrüstungsprozesses entgegenzukommen? Denn letztlich kann es nur um das eine gehen: um die Vertiefung des Abrüstungsprozesses zu einem Friedensprozeß zur Schaffung einer europäischen Friedensordnung.
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Dieses wird jetzt um so dringlicher, als wir jetzt mit einem Problem von wahrhaft historischer Dimension konfrontiert werden. Der Herr Bundeskanzler hat dem heute vormittag eindringliche Worte gewidmet; Herr Ehmke hat ihm zugestimmt. Ich denke, auch da darf eine etwas weiterreichende Betrachtungsweise Platz greifen; denn, Herr Bundeskanzler, hinter den steigenden Zahlen der Aussiedler aus der Sowjetunion, aus Rumänien, aus Polen steht ein historischer Vorgang. Mit ihm lösen sich die Reste jener deutschsprachigen Volksgruppen in Osteuropa auf, die zusammen mit dem dahingemordeten Ostjudentum durch die Jahrhunderte eben jenen besonderen Charakter Osteuropas, das gemischtvölkische Zusammenleben in diesem Raum, repräsentiert haben. Der Faschismus hat auch ihnen den Todesstoß versetzt, als er sie zur fünften Kolonne Hitlerscher Ostpolitik instrumentalisierte. Auch wenn sie sich in großen Teilen dieser Instrumentalisierung versagt haben, die Folgen solcher Instrumentalisierung mußten sie in hartem Schicksal und langwährender Diskriminierung erleiden. Wer will es ihnen jetzt in der Tat verdenken, daß sie im Zeichen von Glasnost und Perestroika die Öffnung der Systeme und die Möglichkeit zu massenhaf6170
Dr. Lippelt ({3})
ter Abwanderung nutzen. Und doch - auch das muß einmal gesagt werden - : Welch ein Verlust für eine bessere, gemeinsame europäische Zukunft!
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So wie die Zahlen der Aussiedler anwachsen, wächst die Zahl der Ausbürgerung beantragenden Deutschen in der DDR. Deshalb wird die Frage um so dringlicher, wie wir gemeinsam mit der Sowjetunion, gemeinsam mit Polen, gemeinsam mit der DDR eine Politik entwickeln können, die den notwendigen und unter dem Stichwort Perestroika ja auch dort so gewollten Wandel so beschleunigt, daß die Menschen im Lande die Änderung der Zustände nicht als eine vorübergehende Liberalisierung, sondern als eine dauerhafte, überhaupt als eine Perspektive für eine bessere Zukunft betrachten; denn Heimat, Herr Bundeskanzler - Sie sagten, sie kämen in ihre Heimat -, ist und muß mehr sein als die Zugehörigkeit zu einer Nation. Heimat wird in diesem Falle zunächst erst einmal verloren. Und ob sie hier wiedergefunden wird, ist eine ganz andere Frage.
Deshalb ist die Forderung um so drängender, daß der Weg zu einer europäischen Friedensordnung ganz entscheidend abgekürzt wird. Erst dann wird der Exodus zur persönlichen Entscheidung, was er ja bis jetzt nicht ist. Als erster Schritt wäre auch denkbar, daß sich an Stelle des Prinzips Recht auf Ausreise generell das Menschenrecht der Freizügigkeit setzen ließe, so daß nicht nur Ausreisen, sondern auch Wiedereinreisen möglich wird. Die Rückkehr von Bärbel Bohley und Werner Fischer in die DDR ist da ein erstes hoffnungsvolles Zeichen.
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Fatal in einem so schwierigen und gewiß lange dauernden Prozeß ist aber der falsche Zungenschlag der Bundesregierung, so etwa, wenn Sie, Herr Bundeskanzler, in der Pressekonferenz vom 31. August von den - ich zitiere - „Anstrengungen der Bundesregierung, den Deutschen in den Siedlungsgebieten Ost- und Südosteuropas zu helfen", sprechen. Hätten Sie wenigstens gesagt: in den historischen Siedlungsgebieten.
Es wäre fatal, wenn sich in Anknüpfung an die Minderheitenschutzpolitik der Weimarer Politik eine Politik der Rekonstruierung deutscher Minderheiten entwickeln würde. Das spreche ich deshalb an, Herr Bundeskanzler, weil ich der FAZ vom vergangenen Samstag folgende Nachrichtung entnehme: Nach Auskunft des Kanzleramtes sollen Sie auf einer CDU-Veranstaltung erklärt haben, daß es zu einer Reise nach Warschau vorläufig noch nicht komme wegen Schwierigkeiten in der Auffassung über die Rechte der deutschen Minderheit und andererseits finanziellen Forderungen Warschaus. - So dort der Bericht.
Wenn das so ist, Herr Bundeskanzler, verbirgt sich dahinter eine Ungeheuerlichkeit. Bei all den bösen Erfahrungen, die die Polen und andere Ost- und Mitteleuropäer mit der Instrumentalisierung der deutschen Minderheiten durchgemacht haben, will die Bundesregierung eine deutsche Minderheit rekonstruieren, während gleichzeitig die große Zahl der Menschen, die in schlimmen Jahren hier in Deutschland gegen ihren Willen ausgebeutet wurden, die
Zwangsarbeiter, mit Hinweis auf das Londoner Schuldenabkommen, also mit Hinweis auf eine finanztechnische Spezialität, abgespeist werden. Das Londoner Schuldenabkommen hat uns nach dem Kriege zwar den finanziellen Raum zum Wiederaufbau verschafft, es ist aber keine Antwort auf das moralische Problem der Entschädigung der Zwangsarbeit.
Minderheitenpolitik kann nicht mehr nationalistisch betrieben werden. Sie kann nur noch als eine universale Politik definiert werden. Das heißt dann zweierlei:
Erstens Sosehr wir uns für die Eingliederung der aus Osteuropa zu uns kommenden Aussiedler bemühen müssen: Es darf nicht auf Kosten der vor politischen Verfolgung zu uns geflohenen Kurden, Tamilen oder Libanesen geschehen.
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Wo bleiben da die entsprechenden Wohnbauprogramme? Herr Bundeskanzler, ich habe sehr wohl gehört: Sie haben es ähnlich gesagt. Meine Frage ist: Hat es auch Ihr Innenminister verstanden?
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Zweitens. Wir müssen zugunsten verfolgter Minderheiten weltweit intervenieren. Was tut die Bundesregierung angesichts des Einsatzes chemischer Waffen zur Ausrottung der Kurden in Nordirak? Es kann nicht so sein, daß die Kurden nur dann Luft zum Leben haben, wenn Iran und Irak in einem mörderischen Krieg miteinander verstrickt sind.
Hieran noch ein abschließendes Wort zum Haushalt. Die Steigerung des Einzelplans 05 beträgt mit 85 Millionen DM etwa 3,2 %. Sie liegt damit um mehr als einen Prozentpunkt unter der Steigerungsrate des Gesamtbudgets. Berücksichtigt man allerdings, daß der größte Teil dieser 85 Millionen DM, nämlich 53 Millionen DM, auf Rüstungssonderhilfe gehen und daß außerdem auf Grund günstiger Währungsrelationen der Beitrag zur UNO um 20 Millionen DM fällt, so bleibt im übrigen Einzelplan nur eine Steigerung von knapp 0,4 %.
Daraus folgt für meine Fraktion: Herr Außenminister, Sie sollten der Wahrheit und Klarheit zuliebe Ihren Haushalt von den versteckten Militärausgaben zugunsten der originären Aufgaben Ihres Hauses freihalten. Dann würde man auch sehen, wie schmählich die nichtmilitärische Außenpolitik hier mit Geld bedacht wird.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wimmer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich glaube, es ist gut, wenn ich für uns zu Beginn gleich sage, daß wir in der Trauer für Ramstein stehen und daß wir die Erklärungen, die der Präsident gestern vor diesem Hause abgegeben hat, für uns in der Tendenz voll
Wimmer ({0})
akzeptieren: daß wir uns Gedanken über den zukünftigen Sinn dieser Veranstaltungen machen müssen.
Ich mache für uns auch deutlich, daß wir über die würdige Umgangsform in diesem Hause zu diesem Thema sehr froh sind und daß wir das damit ergänzt wissen wollen, daß wir morgen im Verteidigungsausschuß eine sehr sorgfältige Diskussion über die Dinge führen werden, die zum Unglücksfall geführt haben. Ich bin insoweit für die Arbeitsgruppe Verteidigung dem Verteidigungsminister sehr dankbar dafür, daß er nach diesem schrecklichen Unglücksfall eine unverzügliche Untersuchung nicht nur angekündigt, sondern auch eingeleitet hat und vor allen Dingen durch die Art und Weise seiner Beschlüsse deutlich gemacht, wie ernst wir diesen Vorfall nehmen.
Ich glaube, daß wir uns in Anbetracht des hier vorgelegten Haushalts der Tatsache stellen müssen, daß dieser Haushalt in das Jahr 1989 und damit in das Jahr führt, in dem wir das 40jährige Bestehen unseres Grundgesetzes, das Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, feiern werden. Wir haben uns aber auch daran zu erinnern, daß 1989 das westliche Verteidigungsbündnis ebenfalls 40 Jahre alt wird.
Blickt man zurück, so stehen die Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die der NATO im Jahre 1949 in einem inneren Zusammenhang. Dieser Zusammenhang hält bis heute in seiner Wirkung an. Er hat sich als entscheidend für die gedeihliche Entwicklung unseres Landes erwiesen. Worum ging es damals?
Westeuropäische Demokratien, die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada schlossen sich zu einem Werte- und Verteidigungsbündnis zusammen. Damit sollte der aggressiven Politik der Sowjetunion Einhalt geboten werden. Dabei wuchs die Einsicht, daß dies ohne den freien Teil Deutschlands nicht möglich sein würde. Sicherlich, und dies sollten wir sehen, war diese Einsicht für manchen Westeuropäer bitter. Um so bedeutender war das Phänomen der baldigen Gründung der Bundesrepublik Deutschland nach 1945 und ihrer Aufnahme in die Gemeinschaft demokratischer Staaten. Dies ist und bleibt für uns mit ihrer Inpflichtnahme verbunden, zur Sicherheit der Freiheit einen eigenen Beitrag - und dies auf Dauer - zu leisten.
Die Bundesrepublik Deutschland ist noch weiteren Institutionen im Kernbereich des Westens beigetreten. Uns kommt es darauf an, den Geist dieser Institutionen auf Dauer zu erhalten, und dies in dem Bemühen, die friedliche Entwicklung zwischen den Völkern in Europa zu fördern.
Die beiden Jubiläen 1989 und die Beratungen des Verteidigungshaushalts für das kommende Jahr sollten uns nach den Herausforderungen, die sich heute stellen, fragen lassen. Wir in der Bundesrepublik, im westlichen Verteidigungsbündnis ganz allgemein, sind heute stärker als in der Vergangenheit gehalten, unseren Mitbürgern Auskunft darüber zu geben, wie das wirklich Notwendige der eigenen Verteidigungsanstrengungen auszusehen hat. Wegen der Komplexität sicherheitspolitischer Zusammenhänge ist dies nie leichtgefallen. Auch ist unsere Sprache hier stärker als in der Vergangenheit gefordert.
Heute aber stellt sich eine dringende Frage: Darf die militärische Kräftekonstellation in Europa schon deshalb aus dem Bewußtsein verdrängt werden, weil der Trend der politischen Entspannung im Ost-WestVerhältnis der Sehnsucht der Menschen so sehr entgegenkommt? Ist es vernünftig, nur die halbe Wahrheit zur Geltung zu bringen, in der Hoffnung, damit in der Öffentlichkeit gut anzukommen?
Natürlich findet Hoffnung ihre Berechtigung, beispielsweise durch das Zustandekommen des Vertrages über die Abschaffung der nuklearen Mittelstrekkenraketen. Natürlich darf sie sich durch den KSZE-Prozeß und die laufenden oder in Angriff genommenen Abrüstungsverhandlungen bestärkt fühlen. Auch die offensichtlichen klimatischen Verbesserungen zwischen den beiden Supermächten, der Besuch des sowjetischen Generalstabschefs Achromejew im Einsatzzentrum des amerikanischen Verteidigungsministeriums und die Besichtigung des modernsten sowjetischen Bombers durch den amerikanischen Verteidigungsminister dürfen als Signale gelten, als Signale der Hoffnung, daß es mit der Sicherheit aufwärtsgeht und sich vieles zum Besseren wendet.
Nicht zuletzt der sowjetische Generalsekretär mit seiner Politik der Reformen im Innern und der Botschaften des guten Willens nach außen prägt dieses Bild. Auch wenn wir zu dem guten Willen endlich handfeste Taten hinzugefügt sehen möchten, besteht kein Zweifel daran, daß die Politik zwischen Ost und West in Bewegung geraten ist. Nur: Verantwortliche Sicherheits- und Verteidigungspolitik hat ihre Augen auch auf die Fakten zu richten, auf jene Dinge wohlgemerkt, die nach wie vor Sorge bereiten und von der Politik in langwierigen Prozessen verändert werden müssen.
Erstens. Der Warschauer Pakt muß seine Doktrin aufgeben, die anerkanntermaßen offensiv ausgerichtet ist.
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Zweitens. Er muß seine Fähigkeit zu weitgreifenden militärischen Offensiven abbauen.
Drittens. Die Militärpotentiale in Europa müssen auf eine gleichgewichtige Ebene reduziert werden. Das Ziel einer ausschließlichen Verteidigungsfähigkeit muß genau verifizierbar sein.
Viertens. Die Gewährung der Menschenrechte und die damit verbundenen innergesellschaftlichen Demokratisierungsprozesse müssen auch für die Länder des Warschauer Paktes gefordert werden. Eine solche politische Entwicklung ist erfahrungsgemäß die Grundlage für eine friedliche Außenpolitik.
Was die Einforderung der Menschenrechte betrifft, unterscheiden wir uns leider von manchem Sprecher der SPD. Da findet man nicht selten - ich sage das bewußt zugespitzt - einen sehr militaristischen Denkansatz, wenn es um die Verbesserung der Sicherheit in Europa geht. Uns ist die einfache Formel: „Waffen weg - Frieden sicher" zuwenig. Nur das Reduzieren von Waffen ist kein ausreichendes Konzept.
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Wimmer ({3})
Dadurch allein werden Sicherheit und gegenseitiges Vertrauen in Europa nicht befriedigend gestärkt. Die Gewährung der Menschenrechte ist für uns von ausschlaggebender Bedeutung.
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Ich komme zurück auf das eingangs beschriebene Problem. Es gilt, vor dem Hintergrund sichtbarer politischer Entspannungsbemühungen, aber auch unveränderter militärischer Anstrengungen des Warschauer Paktes die Notwendigkeit eigener Verteidigungsanstrengungen im Bewußtsein unserer Bevölkerung wachzuhalten. Wir müssen die Streitkräfte des Warschauer Paktes nach ihren objektiven Fähigkeiten beurteilen. Dieses Problem werden wir zum Nutzen der äußeren Sicherheit unseres Landes nur lösen können, wenn wir uns täglich der Pflicht stellen, die Dinge so zu erklären, wie sie wirklich sind.
Sicherlich ist die Gratwanderung des Abwägens schwierig, wenn man politische Fortschritte im OstWest-Verhältnis und die weiterhin bestehende Invasionsfähigkeit des Warschauer Paktes gegenüber Ost-und Westeuropa gleichermaßen als Grundlage eigener Verteidigungsüberlegungen beurteilen muß. Doch sollte uns diese Schwierigkeit nicht dazu verführen, in populistischer Manier die innenpolitische Auseinandersetzung zu mißbrauchen
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und die halbe Wahrheit als die ganze zu verkaufen, um den innenpolitischen Gegner in Mißkredit zu bringen.
In Erinnerung ist uns hier das besonders schlechte Beispiel des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Rau, der in einem seiner Wahlkämpfe, wie ich meine, skrupellos die Kriegsangst schürte, um den politischen Gegner zu diffamieren. Die Anzeigen mit den Gesichtern besorgter Frauen, Mütter und Witwen sind uns noch gut in Erinnerung. So verantwortungslos kann man also mit der Sicherheit unseres Landes offenbar auch umgehen. Üblen Herabsetzungen sollte deshalb künftig etwas in den Weg gelegt werden.
Dem Herrn Kollegen Professor Ehmke darf man in diesem Zusammenhang folgendes zu überlegen geben: Die Ernennung von politischen Betonköpfen, eine seiner Spezialitäten, fällt auf den Titelvergeber zurück, wenn prophezeite Eiszeiten im Ost-West-Verhältnis ausgeblieben sind und statt dessen das genaue Gegenteil eingetreten ist.
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Ich empfehle deshalb, auf der Basis nationaler Interessen zu einem neuen innenpolitischen Konsens in der Sicherheitspolitik zu gelangen. Das gelingt nicht durch das Händchenhalten mit kommunistischen Parteien des Warschauer Paktes.
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Die Chance liegt in der Unterstützung des pragmatischen Kurses dieser Bundesregierung.
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- Wir sind noch nicht beim „du" angelangt, verehrter Herr Professor.
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Das ließ bei den Völkern des Warschauer Paktes auch nicht den Eindruck entstehen, die SPD lege mehr Wert auf gute Kontakte zu den dortigen kommunistischen Parteien als auf die Frage, ob die Völker Osteuropas ihre Interessen durch die Machthaber auch vertreten sehen.
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Die Politik der Bundesregierung ist auf gutnachbarliche Beziehungen, auf Interessenausgleich, mehr Sicherheit in Europa und die Verwirklichung der Menschenrechte ausgerichtet. Ihr Wirken im Prozeß für Sicherheit, Zusammenarbeit und Entspannung in Europa ist offensiv. Ihr Ziel ist es, schon bald mit den Verhandlungen über konventionelle Rüstungskontrolle zu beginnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Ernsthaftigkeit dieser Politik ist täglich zu erfahren. Auch der Besuch von Bundeskanzler Dr. Kohl in Moskau und der Gegenbesuch von Generalsekretär Gorbatschow im Frühjahr 1989 werden deutlich machen, wie sehr gerade diese Bundesregierung ihrer Verantwortung nachkommt, über einen intensiven Dialog das Verhältnis zwischen den Staaten zu verbessern.
Wir sichern Ihnen, sehr verehrter Herr Bundeskanzler, natürlich unsere volle Unterstützung für diesen Besuch in Moskau und - wenn ich das als Verteidigungspolitiker einmal sagen darf - auch für Ihre Gespräche mit dem sowjetischen Generalsekretär zu. Gewinnen Sie ihn für Ihre Idee, daß es zum Austausch vor allen Dingen junger Menschen zwischen unseren beiden Völkern kommt, damit wir endlich, wie das auch mit Frankreich geschehen ist, dazu beitragen können, daß wir für die Völker eine Basis bekommen, ein gutes Nebeneinander entwickeln zu können. Sie haben nicht nur dafür unsere volle Unterstützung.
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Der Weg zu Ergebnissen bei Rüstungskontrolle und Abrüstung wird weit sein. Bevor aber das Ziel nicht erreicht ist, dürfen wir mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und des westlichen Verteidigungsbündnisses muß erhalten bleiben. Das bedeutet für unsere Politik, daß die Bundeswehr unverändert und auf absehbare Zeit befähigt bleiben muß, ihren Auftrag nach dem Grundgesetz erfüllen zu können. Solange sich trotz des verbesserten Klimas zwischen Ost und West an der militärischen Situation in Europa nichts ändert, muß das die Botschaft an unsere Mitbürger sein. Dazu bedarf es der politischen Festigkeit, die allerdings beim jüngsten Parteitag der SPD in Münster vermißt werden mußte. Auch die Bündnisfreundlichkeit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands konnte man da nur schwer ausmachen.
Sie, meine Damen und Herren von der SPD, fordern erneut westliche Vorleistungen im Abrüstungsprozeß. Dies beweist, daß Sie aus Ihrer mißratenen SicherWimmer ({12})
heitspolitik der Vergangenheit nichts, aber auch gar nichts gelernt haben.
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Die Umstände, unter denen der Kollege Apel von seinen Ämtern zurückgetreten ist, sprechen da Bände. Als ehemaliger Verteidigungsminister zeichnete er mitverantwortlich für das deutsche Ja zum NATODoppelbeschluß. Die späte Abrechnung seiner Partei hat ihn nun erreicht. Wie Hohn wirkt es da, daß die neue stellvertretende Parteivorsitzende Däubler-Gmelin seine Verdienste ausgerechnet als Verteidigungsminister herausstreicht, nachdem Dr. Apel seine Brocken hingeworfen hat. Die SPD stimmte in der Diskussion um die SS-20-Vorrüstung der Sowjetunion für einen einseitigen Verzicht zu Lasten des Westens. Sie hat diese Politik auf ihrem letzten Parteitag in Münster nicht nur fortgeschrieben. Sie wird nach dem Vorbild der britischen Labour-Party den Weg der sicherheitspolitischen Irredenta in diesem Land gehen. Die Nichtwahl Hans Apels in den Parteivorstand und die Beschlüsse zeigen das deutlich.
Herausgestrichen werden muß an dieser Stelle der Beschluß des SPD-Parteitages, Gelöbnissen der Bundeswehr in der Öffentlichkeit eine Absage zu erteilen. Dies ist eine Absage an unsere demokratisch legitimierten Streitkräfte,
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eine Absage vor allem an die jungen Wehrpflichtigen, die ihrer verfassungsmäßigen Pflicht nachkommen und dies durch ein Bekenntnis zu ihren Pflichten auch zu geloben haben. An wen ist dieses Gelöbnis eigentlich gerichtet? Doch wohl an die zu verteidigenden Bürger unseres Landes. Aber genau das sollen die Bürger nach dem Willen der SPD nicht mehr in der Normalität des öffentlichen Lebens erfahren dürfen. Mit diesem Beschluß verrät die SPD ihre eigenen Grundsätze. Sie schickt die Soldaten zurück in die Kasernen, sie legt die Wurzeln für eine Bundeswehr unter Verschluß, für einen Staat im Staate. Dies ist nicht unsere Vorstellung von Bürgern in Uniform.
Ich erkenne an, daß auf dem Parteitag der Kollege Carsten Voigt diesen Parteitagsbeschluß mit richtigen Argumenten verhindern wollte; nur erhielt er dafür keine Mehrheit. Die SPD zeigt sich auch hier als eine in trauriger Weise rückwärts gewandte Partei. Zu empfehlen wären nun Offenheit und Ehrlichkeit. Die Sozialdemokraten sollten mit dem Pawelczyk-Wanderzirkus durch die Bundesrepublik zwecks Sympathiewerbung bei den Soldaten aufhören.
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Spätestens seit Münster ist klar, wo für Sie die Soldaten der Bundeswehr hingehören: unter Verschluß, hinter die Kasernentore.
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Mit der Vorlage des Haushaltsentwurfs für 1989 demonstriert die Bundesregierung den Willen, die Entwicklung des Verteidigungshaushalts für die kommenden Jahre in die richtige Richtung zu bringen. Gegenüber den letzten Verteidigungshaushalten
verbessern sich die Möglichkeiten, die Bundeswehr personell und materiell besser auszustatten. Dies ist ein Trend, der sich auch mittel- und langfristig bestätigen wird.
Meine Damen und Herren, ich darf hier einmal eine Dankadresse nicht nur an die Regierung richten, sondern an einen unserer Kollegen, der sich vor allen Dingen im Zusammenhang mit der sozialen Komponente in den Streitkräften unermeßliche Verdienste im Stillen erworben hat. Ich weiß, daß es dazu auch Kollegen aus den anderen Gruppen im Verteidigungsausschuß gibt. Ich spreche hier in erster Linie unseren Kollegen Johannes Ganz mit dem Dank der ganzen Arbeitsgruppe Verteidigung an.
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Wenn die Bundeswehr ihrem Auftrag gerecht werden soll, hat sie ein Recht auch auf die notwendige Ausstattung. Wir haben dann allerdings auch die Pflicht, die notwendigen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen. Das gilt für die qualitative und quantitative Deckung des Personalbedarfs ebenso wie für die materielle Ausstattung oder eine zuträgliche Struktur.
Für uns ist die soziale Lage der Soldaten keine untergeordnete Frage. Unsere Entscheidungen in der Vergangenheit, auch die Verbesserungen, die durch den Entwurf des Einzelplans 14 vorliegen, weisen nach, daß wir auf dem richtigen und guten Weg sind. Die Bundeswehr und das Bündnis sind für uns die Garanten der Abwesenheit von Krieg und der Abwehr politischer Erpressung. Sie sind für uns das Standbein unserer Bemühungen, die Beziehungen zwischen Ost und West so weiterzuentwickeln, daß Freiheit und Frieden, Wohlstand und individuelle Lebensentscheidungen bei uns möglich sind. Dabei wird allerdings die Frage aktuell bleiben, inwiefern die europäischen NATO-Staaten dazu bereit sein werden, der Verantwortung für ihre eigene Sicherheit in wachsendem Maße gerecht zu werden.
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Unser Dank gebührt unseren Soldaten und den Soldaten der verbündeten Streitkräfte auf unserem Territorium. Unser Dank gebührt aber auch den Staaten, die es unseren Soldaten ermöglichen, auf ihrem Grund und Boden zu üben. Ich sage das vor allen Dingen vor dem Hintergrund der hier in der Bundesrepublik aktuellen Tiefflugdiskussion. Wir sind den Kanadiern, den Portugiesen, den Italienern und vor allen Dingen unseren französischen und britischen Nachbarn zu Dank verbunden, daß ein Teil der Last auch auf ihren Schultern so ruht, daß wir dieses Problem in diesem Land bewältigen können. Ich danke vor allen Dingen dem Minister dafür,
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daß er sich im August dieses Problems in zügiger, guter und kooperativer Weise angenommen hat. Herr Minister, Sie haben natürlich das Versprechen einer guten und kooperativen Zusammenarbeit.
Meine Damen und Herren, ich bedanke mich.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Verteidigungsetat enthält 53,3 Milliarden DM und weist damit eine Steigerung von fast 1,9 Milliarden DM gegenüber dem beschlossenen Haushalt 1988 auf. Das ist die Vorlage der Bundesregierung vor dem Parlament. Die Koalitionsparteien - Herr Wimmer hat das eben schon in der gebotenen Höflichkeit getan - haben sich bei dem Bundesfinanzminister ob seiner Großzügigkeit zu bedanken.
Die Sprachregelung fur den Etat hat der Bundesverteidigungsminister Scholz am 25. August ausgegeben. Sie lautet:
Unsere Streitkräfte sind heute in einer hervorragenden Verfassung. Das gilt für Personallage, für die Motivation und auch für die materielle Ausstattung. Die Streitkräfte sind heute voll in der Lage, den ihnen gestellten Auftrag zu erfüllen.
Also rundherum Zufriedenheit, bei dem Minister, bei der Regierung, bei den Koalitionsparteien.
Aber es gibt natürlich auch andere Betrachtungsweisen zu diesen Summen. Wodurch z. B., frage ich Sie, ist die Steigerungsrate von 1,9 Milliarden DM gegenüber dem Haushalt 1988 gerechtfertigt? Wie verträgt sich diese Steigerung mit dem von dem Bundeskanzler Kohl immer wieder vorgetragenen, den Wahlbürger verdummenden Slogan „Frieden schaffen mit immer weniger Waffen"? In diesem Haushaltsentwurf sind Großprojekte veranschlagt, die genau das Gegenteil beweisen.
({0})
Immer mehr, immer teurere Waffen und langfristige Zusagen an die internationale Rüstungsindustrie sind abzulehnen. Sie, meine Damen und Herren, müssen sich fragen lassen: Wie halten Sie es mit der Wahrheit?
({1}) Mehr oder weniger Waffen?
Die Entwicklungskosten der Bundesrepublik allein für das Jagdflugzeug 90 werden im Moment mit 6,87 Milliarden DM angesetzt. Davon sollen im nächsten Jahr 570 Millionen DM ausgegeben werden, für ein Gesamtsystem, von dem Kundige behaupten, daß die Lebenszeitkosten für dieses Gesamtsystem, falls es überhaupt eingeführt werden sollte, über die Zeitachse mit einer Preiseskalation die unvorstellbare Summe von 150 Milliarden DM verschlingen wird.
({2})
Herr Abgeordneter Kühbacher, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Breuer?
Herr Kollege Breuer, gern.
Herr Kollege Kühbacher, da Sie eben auf die Frage der Entwicklung der Beschaffungsbeträge für die Bundeswehr eingegangen sind, möchte ich Sie fragen: Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu
nehmen, daß die Beschaffungsbeträge für das hier zur Diskussion stehende Jahr 1989 kleiner sind als im Jahr 1988, und sind Sie bereit, einzuräumen, daß die Ausweitung, von der Sie hier sprechen und die sicher richtig ist, im wesentlichen in den Bereich der Personalausgaben fließen wird?
Herr Kollege Breuer, wir beide werden die Haushaltsverhandlungen sicherlich noch im Verteidigungsausschuß und im Haushaltsausschuß zu führen haben. Was nun wirklich in welchen Etatansätzen veranschlagt wird, beschließt das Parlament. Es ist über das Budget souverän.
({0})
Ich will nicht verhehlen, daß ich mich darüber freue, daß Sie die von uns geforderten sozialen Verbesserungen für die Soldaten anerkannt haben. Aber Ihre unverschämte Regelung der Bezahlung von Überstunden mit Stundensätzen unter 5 DM zeigt, was Sie wirklich von den Soldaten halten.
({1})
Meine Damen und Herren, ich möchte noch einmal zu dem Jagdflugzeug 90 kommen. Rund 20 Milliarden DM bringen vier Staaten auf, bevor die ersten zehn Flugzeuge überhaupt die Pisten zur Erprobung verlassen.
({2})
20 Milliarden DM, bevor die Flugzeuge überhaupt da sind. Das nenne ich Rüstungswahnsinn.
„Frieden schaffen mit immer weniger Waffen" : Wie glaubwürdig ist das, wenn die Bundesregierung im Kapitel für Wehrforschung, wehrtechnische und sonstige militärische Entwicklung und Erprobung eine Steigerungsrate von mehr als 10 % eingeplant hat
({3})
und im nächsten Jahr allein mehr als 3 Milliarden DM für die Zukunftsvisionen neuer Waffen und neuer Munitionsgenerationen ausgeben will? Frieden schaffen mit immer weniger Waffen, frage ich.
Wie ist es damit bestellt, daß es ECR-Tornados geben soll, die immer tiefer in das Gebiet des Warschauer Paktes eindringen? Das ist eine besonders tüchtige Version der Tornado-Flugzeuge.
({4})
Diese Flieger, Herr Uelhoff, sind heute allein im Betrieb hinsichtlich ihres Kostenvolumens schon doppelt so teuer wie ihre Vorgängergeneration.
({5})
Der Tornado-Skandal ist doch seinerzeit von Ihnen im Untersuchungsausschuß weidlich ausgeschlachtet worden.
({6})
Heute sind das gute, richtige und billige Flugzeuge.
({7})
- Ja, ja, Herr Wimmer.
Herr Minister Scholz, von Ihnen persönlich habe ich den Eindruck - diese Einschätzung kann sich ja nur auf einen sehr kurzen Zeitraum beziehen - , daß Sie auf das militärische Wort vom Weitermachen setzen und keineswegs bereit sind, eigene persönliche Abrüstungsimpulse im Verteidigungsetat durchzusetzen. Der Kollege Rühe hat vorhin ja schon einige Anregungen dazu gegeben. Das pure Gegenteil läßt sich aus den verschiedenen Zahlenbeispielen belegen. Der Haushalt ist großzügigst ausgestattet, die Bundeswehr leidet keine Not. Allein die Tatsache, daß im letzten Jahr 600 Millionen DM unverbraucht zurückgegeben werden konnten, zeigt, wie weit das Finanzhemd des Verteidigungsetats gestrickt ist.
Dafür sind im letzten Jahr zur Gesamtdeckung des Haushalts soziale Kürzungen bei den Arbeitslosen im Gesetzblatt verkündet worden, und für das nächste Jahr sind sie von Ihnen bereits wieder angekündigt worden,
({8})
nämlich um die 1,9 Milliarden DM für das nächste Jahr zu finanzieren. So kann man es auch betrachten.
Ich frage Sie, Herr Minister: Wo sind Ihre intelligenten Vorschläge zur konventionellen Abrüstung auch unter Berücksichtigung dessen, daß der Warschauer Pakt im konventionellen Bereich grenznah ungleich stärker ist als die NATO? Aber ehrlicherweise müssen wir auch die Luftüberlegenheit der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt zugeben. Von daher sind in die Rüstungskontroll- und Abrüstungsgespräche Vorschläge einzubringen, die die deutschen Interessen wirklich berücksichtigen.
Wir Sozialdemokraten, Herr Minister Scholz, erwarten von Ihnen, daß Sie unsere Vorschläge, über den NATO-Rahmen hinaus atomwaffenfreie Bereiche, chemiewaffenfreie Zonen und panzerreduzierte Zonen auf beiden Seiten des Grenzverlaufes zu schaffen, aufgreifen, statt über diese Vorschläge zu polemisieren, wie Sie es kürzlich getan haben.
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Herr Minister Scholz, wenn Ihr Satz richtig ist - ich lese ihn jetzt ausdrücklich vor; es sind Ihre Worte -, „daß militärische Planung und militärisches Handeln heute nur noch ein Ziel haben dürfen, nämlich Kriegsverhinderung und die Erhaltung der Freiheit und die Bewahrung des Friedens" , dann erwarten wir von Ihnen eine Aussage zur Defensivstrategie. Wir wollen wissen, welche Verteidigungsstrukturen Sie für die Bundesrepublik in den 90er Jahren planen. Ein Weitermachen auf dem Stiefel des Ministers Wörner reicht nicht aus.
In der Bundesrepublik sind mehr als 900 000 Soldaten ständig präsent, mehr als 4 000 Atomsprengköpfe noch vorhanden. Die Chemiewaffen unseres Partners USA will ich nur am Rande erwähnen. Dieses empfinden die Bürger zunehmend als bedrohlich.
Das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr hat die Befindlichkeit unserer Soldaten zu dieser Situation untersucht. Ich frage Sie, Herr Minister: Wie, glauben Sie, kann die Bundeswehr, können die Soldaten ihren Auftrag noch erfüllen, wenn die Soldaten Zweifel am politischen Verteidigungsauftrag haben? Wenn das Untersuchungsergebnis zutreffend ist, daß den atomaren Ersteinsatz, den sich die NATO vorbehält, mehr als 30 % unserer Berufsoffiziere, mehr als 50 % der längerdienenden Soldaten und mehr als zwei Drittel der Wehrpflichtigen ablehnen, dann kann doch diese Frage wohl zu Recht an Sie, Herr Minister Scholz, gestellt werden. Sie klammern sich an die Möglichkeit des „first use", des Ersteinsatzes von Atomwaffen. Sie fordern die Modernisierung von Kurzstreckenraketen für den nuklearen und konventionellen Gebrauch. Ich bezeichne diese Gedanken - das mag sehr emotional sein - als zutiefst unpatriotisch. Das ist eine Selbstmordstrategie, weil sie gegen die Lebensinteressen unseres Volkes beiderseits der Grenzen gerichtet ist.
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Es ist doch Tatsache, daß zwischen Atlantik und Ural mehr als 200 Atomkraftwerke stehen, davon 130 alleine in Westeuropa, daß es eine riesige Anzahl großer chemischer Werke gibt und daß die Zerstörungskraft von Explosionswaffen im Vergleich zum Zweiten Weltkrieg um ein Vielfaches gesteigert wurde. Diese Tatsache schließt doch jeden konventionellen Krieg aus, weil er zur nuklearen und chemischen Katastrophe in Europa würde. Deshalb ist eine Strategie, die sich einen direkten Einsatz von Atomwaffen vorbehält, nicht mehr zu verantworten.
Wir Sozialdemokraten, Herr Minister, erwarten von Ihnen, daß Sie einen deutschen Beitrag in der NATO einbringen und eine Veränderung der beiderseitigen Streitkräftestrukturen mit dem Ziel der Nichtangriffsfähigkeit beider Seiten anstreben. Dies schließt insbesondere Waffensysteme, Personalverbandsgrößen und -verbandsgliederungen sowie Stationierungen ein.
Bei den konventionellen Waffen und Streitkräften muß die Reduzierung der Waffenpotentiale und Verbände mit Vorrang angestrebt werden, die für Überraschungsangriffe, für raumgreifende Offensiven besonders geeignet sind.
({11})
- Ich weiß, daß die Warschauer-Pakt-Staaten in diesem Bereich überlegen sind, Herr Uelhoff; ich weise ausdrücklich darauf hin. - Das bedeutet, daß insbesondere Panzer und gepanzerte Fahrzeuge, Kampfflugzeuge, Bodenraketen und sonstige Flugkörper entsprechender Reichweite wie Kampfhubschrauber, Artillerie nach gleichen Kriterien abzurüsten sind. Diese Waffensysteme sollen bis auf möglichst niedrige und von beiden Seiten gemeinsam vereinbarte Obergrenzen abgerüstet werden. Der NATO-Vorschlag aus Brüssel, auf 95 % des NATO-Bestandes in Ost und West herunterzugehen, ist unakzeptabel. Ich bestätige ausdrücklich Ihrem Kollegen Rühe: Wir müssen auf beiden Seiten tiefe Einschnitte machen, die im
Ergebnis zu einer Mindestherabsetzung der bestehenden Waffensysteme um 50 To führen müssen.
({12})
- Kollege Ganz, exakt; Disproportionen und Asymmetrien müssen dabei vorher, nicht durch Auf-, sondern durch Abrüstung abgebaut werden. Es geht also vor allem um einen Abbau der schweren gepanzerten Verbände beider Seiten der Grenzen in Zentraleuropa. Wir sind uns in der verteidigungspolitischen Einschätzung viel näher, als Sie machmal weismachen wollen.
Der vorliegende Haushalt 1989, die mittelfristige Finanzplanung, die Bundeswehrplanung und insbesondere die Aktivitäten in der Wehrforschung tragen solchen Forderungen, Herr Minister, keine Rechnung. Im Gegenteil: Sie planen immer neue und teurere Waffen.
Die SPD fordert entschieden den Abschluß eines Vertrages über die weltweite Ächtung und Vernichtung von Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle.
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Die Verhandlungen in Genf stocken. Deshalb darf es keine Ausrede für die deutsche Bundesregierung geben. Falls es nicht gelingt, diese Krise der Genfer Verhandlungen bald zu überwinden, sollte als regionale Zwischenlösung wenigstens der Vorschlag einer chemiewaffenfreien Zone in Europa aufgegriffen werden.
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Herr Minister Scholz, Ihrer Pressenotiz über eine Rede am 25. August in der Clausewitz-Gesellschaft entnehme ich, daß Sie der Überzeugung sind - ich zitiere - , daß Sicherheit mit militärischen Mitteln und eine Politik des aktiven Dialogs, Verteidigungsbereitschaft und Verständigungsbereitschaft keine Gegensätze sind, sondern einander bedingen und ergänzen. Ich halte Sie für einen wahrhaftigen Mann, Herr Scholz. Wenn das wirklich Ihre Auffassung ist, dann führen Sie auch mit uns Sozialdemokraten diesen Dialog, wie wir im deutschen Interesse weiter vorankommen können, und führen Sie als Sachwalter der deutschen Interessen durch die Regierung diesen Dialog für uns in der NATO. Wir Sozialdemokraten wünschen den Dialog mit der Bundesregierung, weil wir nicht akzeptieren können und wollen, Herr Kollege Wimmer, daß die CDU/CSU die Bundeswehr als ihre eigene Hauswehr betrachtet.
({15})
- Sie haben eben von dem Wanderzirkus der SPD geredet, wenn wir uns mit Soldaten unterhalten und zuhören. Herr Wimmer, dies ist unanständig.
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Herr Abgeordneter Wimmer, Sie hatten eben das Wort und nicht jetzt.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident!
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Strukturen der 90er Jahre wollen wir Sozialdemokraten mit beeinflussen. Deshalb suchen wir Sozialdemokraten das Gespräch mit der Bundeswehr. In sechs Großveranstaltungen haben wir der Bundeswehr zugehört und haben dabei festgestellt, wie sich die Soldaten fühlen, welche Wünsche sie an die Politik haben und wie es um ihre Motivation bestellt ist.
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Aufgefallen sind uns insbesondere die Beschwernisse, die sich aus folgenden groben Beschreibungen ablesen lassen: Dienstzeitbelastung, mangelnde Mitbestimmungsrechte, Umzugszwang und Umzugskostenrecht, nicht ausreichende Wehrgerechtigkeit und mangelhafte Sicherung des Arbeitsplatzes nach dem Wehrdienst.
Sie, Herr Minister, haben als Konservativer, als der Sie sich auch selbst bezeichnen - das ist ja ein guter Begriff - , in die Bundeswehr hineinzuhören und Antworten zu geben. Sie haben Verantwortung - auf dieses Wort kommt es mir an - für die Soldaten und Zivilbediensteten und deren Familien übernommen.
Aber die Antworten, die Ihre Regierung im Moment an diese Betroffenen selber formuliert, sprechen teilweise eine verächtliche Sprache gegenüber den Soldaten.
Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen, das mir eben selber vorgetragen worden ist. Wie, Herr Minister, sollen sich die Soldaten denn ernstgenommen fühlen von dem CDU/FDP-Vorschlag, von dem Regierungsvorschlag, bei einem finanziellen Dienstzeitausgleich einen Stundensatz von weniger als 5 DM pro Stunde vorzusehen, während wir - auch Sie - im übrigen tarifvertraglichen Bereich des öffentlichen Dienstes normale Überstundensätze anbieten? Nur bei Soldaten wollen Sie dies nicht tun.
Wir Sozialdemokraten haben ein Dienstzeitregelungsangebot vorgelegt, das zunächst einen planbaren Freizeitausgleich vorsieht und dort, wo es nicht anders geht, eine Überstundenbezahlung anstrebt, die jener der übrigen Bürger in Uniform - Polizei und Zollbeamte - entspricht. Warum sollen Soldaten, Herr Minister, nach Ihrem Gesetzesvorschlag anders als Polizeibeamte und Zollbeamte behandelt werden?
Sie haben Verantwortung, Herr Minister Scholz. Der gravierende Unterschied, der eigentlich allen Soldaten klar werden sollte, liegt darin, daß Sie den Menschen in der Bundeswehruniform immer noch nicht akzeptieren. Sonst hätten Sie nicht ein solch geringschätziges finanzielles Angebot gemacht.
Herr Minister, Sie sind Ihrer Verantwortung auch nicht gerecht geworden, als Sie die Frühpensionierung von Generalen in der Öffentlichkeit so haben darstellen lassen, daß die Briefreaktionen, die ich im folgenden schildere, überhaupt erst möglich wurden.
Da schreibt ein 56jähriger kranker Arbeitsloser, daß er um die Anerkennung seiner Erwerbsunfähigkeitsrente bei der Landesversicherungsanstalt kämpft.
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- Herr Breuer, so fühlen die Bürger das. Diese Erwerbsunfähigkeit wird dem 56jährigen verweigert, weil er noch leichte sitzende Tätigkeit - nicht im Schichtdienst - verrichten könne. Er wird also weiter Arbeitslosenhilfe beziehen.
Dieser kranke Mann und viele Millionen Bürger fragen sich, wieso denn ein gesunder, nur noch mit dem Kopf arbeitender General mit 56 Jahren mit 7 500 monatlich in Frühpension geschickt wird.
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Dieses fragen sich die Bürger. Darauf muß man vernünftige Antworten geben. Die sind ja nicht gekommen. Das ist doch der Punkt.
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Herr Kollege Ganz, was ich von dem Minister erwarte, ist: Wenn er solche Vorschläge macht, dann muß er öffentlich so argumentieren - er hat ja Schaden von der Bundeswehr abzuwenden - , daß solche Fragen erst gar nicht aufkommen. Ich meine, dieses muß den Soldaten als Schutz durch die Regierung, die ja eine solche Politik nach außen zu vertreten hat, gewährt werden.
Zu den Einzelfällen sage ich Ihnen: Es ist beschämend, daß ein General sagen kann, daß er von seiner Frühpensionierung aus der Presse erfahren hat. Es ist beschämend, daß er das sagen kann. Ich meine Herrn Lange, den Sie ja alle genauso gut kennen wie ich.
Meine Damen und Herren, der Wehrbeauftragte hat von der Kälte in der Bundeswehr gesprochen. Diese Kälte, Herr Minister Scholz, spüren wir Parlamentarier ebenfalls. Ich mache das an einem haushaltsrelevanten Kapitel deutlich, das zeigt, daß Sie die Soldatenprobleme nicht ernst nehmen.
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- Kollegen und Kolleginnen, hören Sie mir zu, weil Sie es ja im Verteidigungsausschuß beschließen müssen.
Bei der Unterbringung der Soldaten in den Kasernen stehen Sanierungsmaßnahmen in riesigem Ausmaß an. Im Haushalt 1989 sind nur noch ganze 75 Millionen DM für neue Projekte verfügbar, und das bei mehreren tausend Unterbringungsobjekten in der Bundesrepublik. Sie wissen genau so gut wie ich, daß Wirtschaftsgebäude, Küchen, Unterkünfte, Aufenthaltsräume heute noch in einem Zustand der frühen 50er Jahre sind. Dort fehlt Geld.
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Es wird nichts dazugetan. Ihnen, Herr Minister, scheint es egal zu sein, wie die Soldaten untergebracht sind, aber dafür finden wir einen finanziellen Aufwuchs bei der Munition und bei der Forschung. Wenn es Ihnen, Herr Minister, und Ihnen, meine Damen und Herren von der CDU im Verteidigungsausschuß, um den Menschen in der Bundeswehr ginge, dann würden und werden hoffentlich die Prioritäten anders zu setzen sein. Das heißt, die Mittel müssen zunächst - so verlangen wir Sozialdemokraten das - in die Unterkunftsbereiche gesteckt werden, anstatt, wie es der Minister so schön umschreibt, die Kriegsbevorratung für die Munition auszubauen. Das sind Alternativen.
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Nun, Herr Minister Scholz, möchte ich noch etwas zu dem ethischen Begriff „Verantwortung" sagen und Ihnen einige Fragen stellen, die sich aus den aktuellen Ereignissen der letzten Tage ableiten lassen.
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- Frau Hürland, ich habe die herzliche Bitte, da Sie ja beide ständig zusammenarbeiten, daß Sie es dem Minister ermöglichen zuzuhören, wenn ich ihn persönlich ansprechen möchte. Geht das?
Herr Minister, Sie haben von Ihrem Vorgänger, dem Verteidigungsminister Manfred Wörner, manche schwierige Situation vorgefunden, mit der Sie aus meiner Sicht nicht verantwortlich fertig werden. Ich frage Sie: Trifft es zu, daß der Herr Wörner am 3. Mai an den amerikanischen General Otis zu dem Komplex Stationierung von Hubschraubern in Wiesbaden-Erbenheim einen Brief geschrieben hat? Herr Wörner hat nach meiner Information geschrieben: „Mit diesem gebotenen und für 1988 notwendigen Stationierungsschritt bin ich einverstanden. " Es geht um das zweite Hubschrauberbataillon, das in Wiesbaden-Erbenheim stationiert werden sollte. Haben Sie, Herr Minister, von der Hessischen Landesregierung am 9. August den Kabinettsbeschluß mit folgendem Inhalt zur Kenntnis bekommen: Die Landesregierung lehnt das Vorhaben der US-Streitkräfte, auf dem Flugplatz Wiesbaden-Erbenheim bis zum Jahre 1993 insgesamt 181 Hubschrauber und Starrflügler mit einer Erhöhung des Flugbetriebes im Bereich von 90 000 bis 100 000 Flugbewegungen im Jahr zu stationieren, ab?
- Sie, Herr Minister, haben den Verwaltungsgerichtsentscheid vom 25. August mißachtet, in dem Ihnen zweimal attestiert wurde, daß Sie gegen das deutsche Luftverkehrsgesetz verstoßen haben.
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Sie haben den US-Streitkräften signalisiert, daß Sie keine Bedenken gegen die Stationierung eines weiteren Hubschrauberbataillons haben,
({10})
obwohl dieses ohne Anhörungsverfahren nicht zulässig ist. Sie, Herr Minister Scholz, haben dazu beigetragen, daß wichtige Sicherheitsbedenken, die die Bundesanstalt für Flugsicherung und die Flugbahnkoordinatoren vorgelegt haben wollten, vom Bundesverkehrsminister zurückgezogen wurden. Die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung im Großraum Frankfurt, so wie sie die Hessische Landesregierung artikuliert, scheinen Ihnen, Herr Minister, völlig gleichgültig zu sein. Sie mißachten die Stellungnahme Ihres Parteifreundes Walter Wallmann, der Ihnen in der Anhörung zur vollständigen Ablehnung der geplan6178
ten Stationierung rät und mittlerweile vor dem Oberverwaltungsgericht in Kassel gegen Sie prozessiert. Sie, Herr Minister, haben für die Bevölkerung deutlich sichtbar im Fernsehen erklärt, daß Sie die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts in Kassel abwarten. Bis dahin lassen Sie es zu, raten sogar dazu, daß noch mehr Flugbewegungen stattfinden, daß noch mehr Flugzeuge - Hubschrauber - stationiert werden. Ich frage Sie, Herr Minister: Wollen und können Sie es eigentlich verantworten, daß einer dieser Hubschrauber oder Starrflügler im Großraum Frankfurt mit einem startenden oder landenden Großraumflugzeug kollidiert? Muß es erst zu einer Katstrophe kommen, damit Sie Ihre Entscheidung überdenken? Oder aber wollen Sie sich als Verteidigungsminister, der Recht und Gesetz zu achten hat und den Eid geschworen hat, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, hinter einem Oberverwaltungsgericht verstecken?
({11})
Herr Minister, Verantwortung bedeutet auch, Entscheidungen zu treffen. Diese Entscheidung kann nur bedeuten, die Stationierung zu stoppen, sofort zu stoppen.
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Denn es ist ja wohl richtig, daß die amerikanische Regierung in solch wichtigen Fragen nichts ohne das Einverständnis des Bundesverteidigungsministeriums unternimmt. Also, Herr Minister, handeln Sie, stoppen Sie sofort die Stationierung!
Herr Minister, eine weitere Frage zu Ihrem Verantwortungsbereich. Was haben Sie an Konsequenzen aus dem Unglück in den bayerischen Bergen gezogen, bei dem ein Hubschrauber mit vielen Menschen an Bord abgestürzt ist? Wann geben Sie dem Parlament darüber Rechenschaft, was Sie getan haben? Herr Minister, welcher Geist herrscht eigentlich in der Fliegertruppe, die dieses Unglück zu verantworten hat, wenn - wenn ich es richtig gelesen habe - ein Pilot, ein Feldwebel von zweien, sich nicht traut, einen Flug zu verweigern, obwohl sein mitfliegender Vorgesetzter infolge Alkoholgenusses flugunfähig gewesen sein soll? Was ist in diesem Teil der Bundeswehr los?
({13})
Warum geben Sie zu diesem in Ihrem Verantwortungsbereich liegenden Vorgang keine Erklärung?
({14})
- Wer war das eben? - Herr Uelhoff, ich frage den Verteidigungsminister öffentlich, wann er dem Parlament dazu eine Erklärung abgibt.
Aber, Herr Minister, mit der Verantwortung ist das so eine Sache. Mir liegt Ihr persönlicher Brief an den Ministerpräsidenten Rau wegen des geplanten - damals geplanten, inzwischen durchgeführten - Flugtages in Nörvenich vor. Damit komme ich jetzt zu Ihrem unmittelbaren Verantwortungsbereich,
({15})
zu dem Geschwader in Nörvenich. Herr Minister, Sie haben es zu verantworten - weil Sie sich persönlich in diesen Flugtag eingeschaltet haben - , daß dort Dinge passiert sind, die das Ansehen der Bundeswehr mehr als erträglich belasten.
Herr Minister, ich frage Sie: Was haben Sie inzwischen persönlich unternommen, und wie sind Sie mit dem verantwortlichen Soldaten in Nörvenich umgegangen, von dem Sie erfahren haben, daß er angesichts der vielen Toten und der Meldungen über die zahlreichen Verletzten aus Ramstein trotzdem den fröhlichen Saufabend nach Abschluß des Flugtages in Nörvenich fortgesetzt hat? Wie sind Sie diesem Zynismus begegnet, der sich ja nachlesen läßt, daß man in Nörvenich noch nach einer Gedenkminute zu weiterem fröhlichen Trinken übergegangen ist?
Diese zynische und menschenverachtende Haltung von Offizieren und Gästen der Nörvenicher FlugtagAbschlußfeier bestätigt sich in dem Wort „weitermachen" . Herr Minister, für dieses Weitermachen in Nörvenich sind Sie unmittelbar verantwortlich; denn Sie haben mit diesem Brief und der Darstellung dieses Briefes den Verantwortlichen erst Mut gemacht.
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Sie haben dazu beigetragen, daß der Flugtag in seiner Gänze so ablaufen konnte, wie er abgelaufen ist. Sie haben mit Ihrer Entscheidung den Grundstein für das unwürdige Verhalten gelegt. Die Soldaten fühlten sich durch Sie ja ausdrücklich ermuntert, bei der geplanten Durchführung des Flugtages im wahrsten Sinne des Wortes weiterzumachen, bis hin zu der unwürdigen, beschämenden Fortsetzung nach der Schweigeminute. Herr Minister, ich schäme mich persönlich für die Luftwaffe in Nörvenich. Sie auch?
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Meine Damen und Herren, Ihnen wird das Wort noch im Halse steckenbleiben. Ich bitte Sie und meine Kollegen ausdrücklich, meinen letzten Gedanken nicht mit dem üblichen Schlußbeifall zu begleiten, wenn ich jetzt das Rednerpult verlasse.
Ich möchte hier eine Frage in den Raum stellen, die auch etwas mit dem ethischen Begriff „Verantwortung" zu tun hat. Herr Minister Scholz, zwei Tage nach dem Unglück in Ramstein waren Sie endlich in der Lage, alle Kunstflugvorführungen in der Bundesrepublik zu untersagen, alliierte und deutsche. Es geht also, Herr Minister. Ich will der morgigen Verteidigungsausschußsitzung nicht vorgreifen, aber können Sie uns, können Sie dem Parlament und damit der deutschen Öffentlichkeit eigentlich noch gerade in die Augen sehen? Übernehmen Sie Ihre Verantwortung auch für die Zeit vor Ihrer richtigen Entscheidung, oder übernehmen Sie sie nicht?
({18})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seiler-Albring.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lieber Klaus-Dieter Kühbacher, die Fragen, die hier aufgeworfen worden sind, haben natürlich einen sehr ernsten, zum Teil sehr traurigen Hintergrund. Ich halte es allerdings für außerordentlich problematisch - ich weiß nicht, wie der Minister darauf reagieren wird -, diese Fragen, die natürlich gestellt werden müssen, hier in der Offentlichkeit
({0})
und sehr aggressiv zu formulieren, aber die Reaktionen morgen im Grunde nur in einer nichtöffentlichen Veranstaltung hören zu können. Das halte ich, wie gesagt, zumindest für etwas problematisch.
({1})
- Ach, Frau Beer, lassen Sie das!
({2})
- Nein, Frau Fuchs, das natürlich nicht. Aber ich finde, man muß doch unter gleichen Voraussetzungen arbeiten können, gerade in einer Angelegenheit, von der ich annehme, daß sie Klaus-Dieter Kühbacher außerordentlich ernst ist.
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Ich finde, der Minister müßte auch eine entsprechende Gelegenheit haben, sich hier zu äußern. Ich weiß nicht, ob er dies jetzt gleich in Anspruch nehmen kann. Grundsätzlich hielte ich es für wichtig,
({4})
diese Fragen in aller Ruhe und Ausführlichkeit im Verteidigungsausschuß zu diskutieren
({5})
und mit den Ergebnissen dann anschließend in die Öffentlichkeit zu gehen.
Meine Damen und Herren, das eigentliche Thema heute ist ja - ({6})
Frau Abgeordnete Fuchs, Sie haben nicht das Wort, Frau Seiler-Albring hat das Wort.
Wir können uns anschließend gern noch unterhalten, Frau Fuchs.
({0})
- Herr Wieczorek, Ihnen hat noch niemand den Mund verbieten können, und Sie haben sicherlich auch die Möglichkeit, oft zu reden, wie wir gestern ja gesehen haben.
({1})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?
Nein, ich möchte jetzt eigentlich gern anfangen, Herr Brück; vielleicht nachher. Meine Damen und Herren, als wir den Regierungsentwurf im Sommer - Ende Juni - im Zusammenhang mit der Kabinettsberatung zu Gesicht kriegten, hat die vorgesehene Steigerungsrate der Mittel im Verteidigungshaushalt um 3,8 % auf nun mehr als 53 Milliarden DM für eine lebhafte Diskussion in der Öffentlichkeit gesorgt. Während viele diese Steigerungsrate - übrigens die höchste seit 1983 - begrüßten, gab es auf der anderen Seite - auch aus meiner Fraktion - deutliche Kritik hieran, verbunden mit zum Teil drastischen Kürzungsvorschlägen. Um es als Berichterstatterin für diesen Haushalt gleich zu Beginn meiner Rede zu sagen: Ich trete diesen genannten Zahlen nicht bei und werde auch in dieser ersten Lesung keine Kürzungsvorstellungen präzisieren. Ich halte es für angebracht, erst die Berichterstattergespräche im Verteidigungsministerium zu führen und danach fundierte Sparvorschläge zu unterbreiten.
Dennoch ist es natürlich richtig, sich mit dem politischen Umfeld zu befassen, vor dem diese Äußerungen gefallen sind. Die Koalitionsfraktionen haben sich bekanntermaßen das Ziel einer Minderausgabe von 1 Milliarde DM gesetzt, um das Ausgabevolumen, also die Ausgabenseite, des Haushalts 1989 positiv zu verändern. Zirka 350 Millionen DM werden durch Einsparung bei den sächlichen Verwaltungsausgaben erbracht. Weitere 650 Millionen DM müssen also aus den Einzelplänen erbracht werden.
Ich denke aber, wir würden es uns zu einfach machen und allzusehr dem Zeitgeist huldigen, wenn wir diese Summe ausschließlich aus dem Verteidigungshaushalt holen wollten, zumal sich die Steigerungsrate von 3,8 % durchaus relativiert, wenn man in die Analyse der einzelnen Titelansätze einsteigt. Wurde noch 1969 jede vierte Mark des Bundeshaushalts für Verteidigungszwecke ausgegeben, ist der Anteil seitdem kontinuierlich auf unter 20 % zurückgegangen und beträgt in diesem Jahr noch 18,7 %.
({0})
Wir stehen bei der Diskussion des Verteidigungshaushalts in diesem Jahr allerdings wieder vor dem schwierigen Problem, den Konflikt zwischen einer rapide abnehmenden Akzeptanz in der Bevölkerung und den sicherheits- und bündnispolitischen Notwendigkeiten zu lösen. Wir diskutieren einen Mittelansatz von mehr als 53 Milliarden DM für das Gut „Sicherheit" , das in weiten Teilen der Bevölkerung nicht mehr prioritär nachgefragt wird, weil das Gefühl der Bedrohung auf Grund vieler Faktoren, die zum Teil sicher begrüßenswert sind, abgenommen hat. Wer von uns hat denn nicht mit tiefer Genugtuung die Fernsehbilder vom Abtransport der ersten Pershing II gesehen? Dies ist ein Zeichen der Hoffnung und Beweis für die von der FDP und besonders dem Außenminister immer vertretene Position, daß der einzige Weg zu wirklicher Abrüstung über Verhandlungen führt, die beide Seiten zum Abbau vorhandener Rüstungspotentiale verpflichtet.
Die seitens des sowjetischen Generalsekretärs außerordentlich geschickt geführte Abrüstungsoffensive dringt in das Bewußtsein einer Bevölkerung ein, die im wichtigsten Stationierungsland der NATO vielfältige Opfer bringt, angefangen bei Tieffluglärm über Tausende von Truppenübungen und Manövern, und die von uns Politikern endlich Entlastung verlangt und einfordert.
Da ist es nicht leicht, für die Einsicht verantwortlicher Sicherheitspolitik zu werben, daß es nämlich zum Zweck der Kriegsverhinderung zumindest für die unmittelbare Zukunft keine Alternative zur Strategie der Abschreckung gibt, die auf einer geeigneten Zusammensetzung angemessener und wirksamer nuklearer und konventioneller Streitkräfte beruht. Der Außenminister sagt hierzu: „Wir wissen auch, daß die Sicherheit von heute nicht auf Visionen und Erwartungen von morgen gestützt werden kann. "
Lieber Klaus-Dieter Kühbacher, der Verteidigungshaushalt ist uns beiden ja bekannt, ebenso die Problematik bei der Entwicklung von Waffensystemen. Ich verstehe deshalb nicht, wie man heute den Entwicklungsansatz für, zugegeben teure, Waffensysteme kritisieren kann. Wir beide sind uns einig, daß man irgendwann in den 90er Jahren sagen kann: Wir wollen diese Entwicklung hier abkürzen und nicht in die Beschaffung eintreten. Aber auf Grund der Komplexität dieser Waffensysteme wissen wir beide doch, daß man, wenn man nicht fahrlässig die Freiheit und die Sicherheit in den 90er Jahren aufs Spiel setzen will, heute Entscheidungen treffen muß. Dazu gehört natürlich der Jäger 90.
In diesem Zusammenhang ist vielleicht auch der Hinweis ganz interessant, daß natürlich auch Sozialdemokraten auf der Matte stehen, wenn es darum geht, Aufträge für ihr Bundesland zu holen. Auch das muß man in diesem Zusammenhang erwähnen dürfen. Ich nenne nur Niedersachsen.
Wir sind optimistisch und hoffen, daß unter Gorbatschow eine neue Ära im Ost-West-Dialog nicht nur angebrochen ist, sondern substantiell fortgeführt wird. Wir erwarten konkrete Zeichen, etwa in Form der Reduzierung der immer noch unvermindert hohen Produktionszahlen bei den konventionellen Waffensystemen wie den Kampfpanzern, der Artillerie, den Flugzeugen und den Schiffen. Der Warschauer Pakt ist aufgerufen, den vielversprochenen Ankündigungen endlich Taten folgen zu lassen.
Allerdings - Herr Minister, wir haben das schon einmal diskutiert - müssen sich die verantwortlichen Führungskräfte auf der Hardthöhe auch fragen lassen, ob nicht dadurch, daß mancher publizierten Bedrohungsanalyse ein Hauch von Beliebigkeit anhaftete, dem Gefühl Vorschub geleistet wurde: „So schlimm wird's schon nicht sein. "
Es gibt in den Reihen der Koalitionsfraktionen keinen Zweifel an der Aussage, daß die Bundeswehr die notwendigen Mittel bekommen muß, um ihrem Auftrag gerecht werden zu können.
Schwierigkeiten macht uns allerdings die Definition des „Notwendigen", zumal da wir wissen, daß die Kraft, den äußeren Frieden zu gewährleisten, in engster Beziehung dazu steht, daß es uns gelingt, den
inneren Frieden zu bewahren, das heißt, daß die großen innenpolitischen Aufgaben wie Rentenreform, Gesundheitsreform, die Verminderung der Arbeitslosenzahlen durch Zukunftsinvestitionen, die Rückgewinnung und Eihaltung einer lebenswerten Umwelt - Aufgaben also, die enorme finanzielle Mittel binden - gelöst werden.
Verbündete wie neutrale und andere Staaten Europas sind natürlich geneigt, den Verteidigungswillen und die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland am Umfang des Verteidigungshaushalts sowohl hinsichtlich der absoluten Zahlen als auch in der Relation zum Bruttosozialprodukt zu messen und gegebenenfalls als Maßstab für die eigenen Verteidigungsanstrengungen zu nehmen. Die Frage des Burden-Sharings wird mit großer Intensität auf uns zukommen, ganz gleich, wie der nächste amerikanische Präsident heißen wird. Dann wird es gut sein, Antworten und Vorschläge parat zu haben.
Es ist notwendig, auf die besonderen Leistungen und Belastungen, die die Bundesrepublik als Hauptstationierungsland mit einer Wehrpflichtigen-Armee trägt und erträgt, hinzuweisen. Dringend zu fordern ist auch, durch verstärkte und ernsthafte Anstrengungen zur Arbeitsteilung im Bündnis Wege aus der finanziellen Bedrängnis zu suchen.
Die Haushaltslage wird sich bis auf weiteres nicht verbessern. Wir werden auch im Verteidigungsbereich keine nennenswerten Steigerungsraten haben. Auch die Steigerungsrate des vorliegenden Haushaltes wird ja durchaus optisch schlanker, wenn man in Rechnung stellt, daß die Summe von 670 Millionen DM an Personalverstärkungsmitteln für das kommende Jahr auf Grund der längeren Laufzeit der Tarifverträge ausnahmsweise im Einzelplan 14 und nicht - wie üblich - im Einzelplan 60 angesetzt ist. Wir begrüßen es im Grundsatz durchaus, daß weitere 670 Millionen DM für Maßnahmen vorgesehen sind, die den Menschen in den Streitkräften in den Mittelpunkt stellen. Der Soldat muß sich getragen sehen von der Gesellschaft, die er notfalls verteidigen soll.
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Die Wiedergewinnung der Attraktivität des Soldatenberufes ist demnach vordringlich. Soll der Soldat nicht in eine Sui-generis-Position gedrängt werden, müssen die Leistungsprinzipien der Gesellschaft für ihn ebenso gelten wie das Verständnis für Dienstzeitbelastungen in einer sich immer mehr an Freizeit orientierenden Gesellschaft.
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Eine vernünftige Regelung zum Dienstzeitausgleich ist nach langem Drängen der FDP auf gutem Weg. Die in Aussicht genommene Weiterverpflichtungsprämie für Soldaten entspricht zwar weiterhin nicht unseren Idealvorstellungen von der Normalität des Soldatenberufs im Vergleich zu anderen. Wir werden ihr jedoch unter der Voraussetzung zustimmen, daß der zu befristende zeitliche Rahmen dahin gehend genutzt wird, Überlegungen und Modifikationen der Besoldungsstruktur insbesondere bei den Eingangsstufen zu überprüfen und anzupassen.
Das Bundesumzugskostengesetz schließlich - um hier nur drei Forderungen der FDP kurz zu erwähnen - muß dringend den unvermeidlichen Sondertatbeständen des Soldatenberufs, der mehr als andere Mobilität und Flexibilität verlangt, Rechnung tragen.
Die vorgesehenen Personalstellenverbesserungen begrüßen wir. Die festgesetzte Größe des Personalumfanges insgesamt allerdings und die damit eng verknüpfte Realisierung des Reservistenkonzepts werfen eine Vielzahl von offenen Fragen auf, auf deren Beantwortung wir drängen werden.
Die Beschaffungstitel und die Mittel für Forschung und Entwicklung werden - wie in jedem Jahr - besonders kritisch zu betrachten sein. Ich halte es unter diesem Aspekt für außerordentlich dringlich und erforderlich, daß der Generalinspekteur den Auftrag erteilt hat, sämtliche Bereiche der Streitkräfte daraufhin zu untersuchen, ob durch Zusammenfassung von teilstreitkraftübergreifenden Aufgaben Einsparungen zu erzielen sind. Partikularinteressen der Teilstreitkräfte dürfen nicht zu Überschneidungen und kostspieligen Doppelentwicklungen bzw. -ausgaben führen.
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Besonderes Augenmerk muß zukünftig vor allen Dingen Form und Inhalt der Beschaffungsverträge mit unseren amerikanischen Partnern gelten. Die Erfahrungen der letzten Monate sind teilweise so negativ, daß die Bereitschaft zur Rüstungskooperation auf seiten der Parlamentarier nachhaltig Schaden nehmen könnte, wenn sich hier keine substantielle Verbesserung zugunsten der Bundesrepulbik Deutschland abzeichnet, obwohl der Gedanke der transatlantischen Kooperation im Grundsatz weiterhin richtig ist, und zwar sowohl aus bündnispolitischen Gründen als auch in Hinsicht auf die Harmonisierung der Waffensysteme.
Der Bundeswehr die notwendigen Finanzmittel zur Erfüllung ihres Auftrages zu geben, der Haushaltssituation gerecht zu werden und zu sparen, die Akzeptanz der Bevölkerung für die Notwendigkeit bewaffneter Friedenssicherung noch für unbestimmte Zeit zu erhalten, das erscheint ab und zu ungefähr so problemlos wie die Quadratur des Kreises. Meine Damen und Herren, machen wir aus der Not der öffentlichen Haushalte in Ost und West eine Tugend: Formulieren wir mit unseren Allianzpartnern bald die Antwort der NATO auf die östlichen Vorschläge und setzen sie schrittweise in ein Mehr an Sicherheit und Vertrauen auf beiden Seiten um!
Herr Minister, die ersten hundert Tage Ihrer Amtszeit waren nicht ganz problemfrei. Die furchtbaren Geschehnisse in Ramstein haben sie kürzlich zusätzlich überschattet. Wir sind in der Trauer um die Toten verbunden und begrüßen die von Ihnen angeordneten Maßnahmen ausdrücklich. Wir wünschen Ihnen für Ihre weitere Amtszeit eine gute Hand. Dies gilt nicht zuletzt und ausdrücklich im Umgang mit dem Parlament.
Ich bedanke mich.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Freundinnen und Freunde! Für den Einzelplan des Bundesministers der Verteidigung soll nach dem vorliegenden Haushaltsplanentwurf im Jahre 1989 ein Betrag von 53,3 Milliarden DM zur Verfügung stehen. Diese 53,3 Milliarden sind aber bei weitem nicht alles, was für den Militärapparat ausgegeben werden soll. Hinzu kommen in anderen Einzelplänen eine Fülle von Einzelausgaben, die ich hier kurz nennen möchte: zum Beispiel Aufenthaltskosten ausländischer Streitkräfte 1,8 Milliarden DM, Versorgung Bundeswehr 3 Milliarden DM, Versorgung Wehrmacht 2,7 Milliarden DM, NATO-Beitrag und Verteidigungshilfe an andere Länder 354 Millionen DM, die sogenannte Zivilverteidigung 877 Millionen DM und kleinere Posten, z. B. Ausgaben für den Wehrbeauftragten und für die Wehrstrafgerichtsbarkeit. Die genannten Titel ergeben zusammen Militärkosten von 62,042 Milliarden DM für das Jahr 1989. Das bedeutet: Jeder Mensch in der Bundesrepublik Deutschland, ob deutsche oder ausländische Mitbürgerin, ob Säugling oder Greis, zahlt in diesem Jahr über 1 000 DM für das Militär.
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Im letzten Jahr wurde der sensationelle Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenraketen abgeschlossen, und in diesen Tagen beginnt die Vernichtung dieser Raketen, leider nicht der Sprengköpfe. Aber die Bundesregierung erhöht die Rüstungsausgaben um 3,8 %. Das sind stolze 2 Milliarden DM.
({1})
Wozu dienen eigentlich diese Ausgaben? Früher sagten Sie immer: um der Bedrohung aus dem Osten zu begegnen. Der Russe droht, Erzfeind des deutschen Volkes und Kommunist obendrein. - Heute weiß jeder in diesem Haus: Nichts, aber auch gar nichts deutet darauf hin, daß die Sowjetunion uns angreifen will. Wir sehen eine atemberaubende Demokratisierung in der Sowjetunion, eine herzerfrischende Rückbesinnung auf die großen humanistischen Ideale der Oktober-Revolution.
({2})
Wir beobachten eine in vieler Hinsicht konsequente Friedenspolitik der Sowjetunion. Es ist komplett absurd, daß die Bundesregierung trotzdem die Rüstungsspirale weiterdreht. Jede Mark für jede Rüstung ist eine Mark zuviel.
({3})
Wir konnten in den vergangenen Wochen in tragischer Weise sehen, daß Waffen schon in Friedenszeiten kein Spielzeug, sondern Mordinstrumente sind. Waffen sind Mordinstrumente. Dafür, möglichst wirksam und perfekt Menschen zu töten, werden sie gebaut, Herr Scholz. Bedenkenlos hat die Bundesregierung in der Vergangenheit diese Mordinstrumente als technische Wunderwerke zur Schau gestellt. Alle
Warnungen der Friedensbewegung, der Lokalparlamente, der Kirchen hat die Bundesregierung in den Wind geschlagen, um ihre Waffen vorführen zu können. Im Ramstein haben 52 Menschen diese Skrupellosigkeit mit dem Leben bezahlt.
Wir fordern die Bundesregierung auch angesichts des heutigen Absturzes eines englischen Jagdbombers, bei dem zwei Menschen ums Leben gekommen sind, auf: Beenden Sie diese Waffenschauen der Bundeswehr!
({4})
Es darf keine Flugtage in der Bundesrepublik mehr geben, keinen einzigen mehr, Herr Dr. Scholz.
({5})
Beenden Sie die mörderischen Tiefflüge der Bundesluftwaffe!
({6})
Ziehen Sie die zwingende Konsequenz aus den tödlichen Unfällen der letzten Monate!
Niemand kann garantieren - und ich sage Ihnen das hier zum zweitenmal, das erste Mal zwei Tage vor Ramstein - , daß der nächste Absturz nicht auf eine Chemiefabrik oder eine Atomanlage mit schrecklichen Folgen stattfindet. Hören Sie auf damit, die Tiefflüge in andere Länder verlagern zu wollen und damit die Lebensgrundlage der dort lebenden Völker zu gefährden, wie Sie es bereits in Labrador, Kanada, tun.
Die Bedrohung und die Schädigung der Menschen geht heute nicht von dem angeblichen Feind aus, sondern von den eigenen Truppen.
({7})
Beenden Sie die Tiefflugübungen der Luftwaffe! Einen entsprechenden Antrag haben wir heute in den Bundestag eingebracht.
Geschmackvollerweise beginnt am 1. September, dem Antikriegstag, nicht nur die Pershing-Abziehung, sondern beginnen die diesjährigen Herbstmanöver der NATO. Diese Kriegsspiele werden wie jedes Jahr eine Flut von Schäden aller Art mit sich bringen, die jedes Jahr, leider, sehr viele Menschenleben fordern.
({8})
Ob die Bundesregierung nach Ramstein wenigstens auf die Luftkampfübungen im Tiefflug verzichtet? Nichts deutet darauf hin. Das tödliche Kriegspielen geht weiter - bis wir es beenden.
Seit einem guten Jahr ist die Bundesregierung zunehmend bemüht, der Bundeswehr einen neuen Sinn zu geben. Als Schutz gegen den Osten taugt sie immer weniger, weil es so recht keine Bedrohung aus dem Osten gibt. Der neue Gedanke heißt: Die Bundeswehr - hinaus in die Welt. Die Bundeswehr soll weltweit für Ordnung sorgen, natürlich nicht allein, sondern zusammen mit den Verbündeten oder im Rahmen der UNO-Truppen, wie auch immer. Früher hat die Bundesregierung jede Operation der Bundeswehr außerhalb der NATO-Grenzen prinzipiell und unmißverständlich abgelehnt. Aber ausgerechnet Verteidigungsminister Scholz hat diese Position inzwischen mit der Bemerkung beiseite gewischt, nichts im Grundgesetz verbiete einen solchen Einsatz. Der Einsatz der Bundeswehr auf Kriegsschauplätzen in der Dritten Welt wird also nicht mehr grundsätzlich ausgeschlossen. Die Frage ist nur, wann er opportun erscheint.
Jetzt hat ausgerechnet Willy Brandt vorgeschlagen, die Bundeswehr könne sich zunächst auch mal an UNO-Friedenstruppen beteiligen.
({9})
Die Wirkung dieser Diskussion über die Beteiligung der Bundeswehr an UNO-Truppen ist weitreichend, so weitreichend, daß hier ein prinzipieller Damm gegen den Kriegseinsatz deutscher Soldaten in der Dritten Welt durchbrochen werden soll.
({10})
Die Tür wird geöffnet für die Beteiligung an zukünftigen Militärinterventionen gemeinsam mit den NATO-Verbündeten oder im Rahmen der Westeuropäischen Union.
({11})
Das ist ein sehr gefährlicher Weg. Wir sehen das an Frankreich, und wir warnen davor, auch nur den ersten Schritt in diese Richtung zu tun.
({12})
Unsere Aufgabe besteht nicht darin, neue militärische Einsatzfelder für die Bundeswehr zu suchen. Sie besteht nicht darin, neue Formen der Militärzusammenarbeit mit diesen Ländern zu begründen. Sie besteht darin, Wege zur Abrüstung zu finden und zu gehen, uns alle von dieser entsetzlichen Last der Militärausgaben zu befreien.
1 000 DM im Jahr pro Kopf: damit kann man weit sinnvollere Sachen tun, als Waffen zu produzieren. Gorbatschow hat angeboten, die konventionellen Streitkräfte in Europa auf beiden Seiten drastisch zu verringern. Was antwortet die Bundesregierung? Sie antwortet: Keineswegs; kommt gar nicht in Frage. Wir verringern unser Militär nicht, allerhöchstens um 5 %. - Das ist keine grüne Parodie, das ist der Witz der Bundesregierung. 95 % der westlichen Streitkräfte müssen bleiben, egal, um was oder wieviel der Osten seine Truppen abbaut. So stellt sich die Bundesregierung Abrüstung vor.
Wir fordern: Ziel der Verhandlungen muß die völlige Entmilitarisierung Europas sein. Ein Zwischenschritt könnte in der Verringerung der Personal- und Waffenzahl auf die Hälfte des heutigen westlichen Standes bestehen. Zugleich müssen auch die Rüstungsausgaben entsprechend gesenkt werden. Denn sonst bekommt man vielleicht zwar weniger Waffen, aber dafür werden sie technisch besonders raffiniert und damit auch besonders teuer. Die entsprechenden Angebote des Warschauer Pakts liegen längst vor. Jeder kann heute sehen, wie damit umgegangen wird.
Die NATO will nicht abrüsten. Abrüsten muß gegen die NATO durchgesetzt werden. Wir können sofort hier bei uns damit anfangen. Einseitige Abrüstungsschritte der Bundesrepublik würden entscheidend dazu beitragen, die politischen Voraussetzungen für vertragliche Rüstungsbeschränkungen zu verbessern. Die GRÜNEN werden wie in den Vorjahren in den Beratungen eine Fülle von konkreten Vorschlägen zum Abbau des Rüstungshaushalts einbringen. Aber schon der Verzicht auf ein einziges neues Kampfflugzeug, den Jäger 90, würde bequem die 15 Milliarden DM freisetzen, die wir dringend benötigen, um mit dem ökologischen Sofortprogramm die Nordsee zu retten.
({13})
Die Abrüstung wird nicht von selber kommen, am allerwenigsten von dieser Bundesregierung. Darum ist die weitere Arbeit der Friedensbewegung so ungeheuer wichtig. Bitte hören Sie nicht nur diesen Debatten zu, beteiligen Sie sich an den Aktionen der Friedensbewegung in diesem Herbst, z. B. am 1. Oktober in Böblingen gegen die Aufstellung der deutsch-französischen Brigade oder am 15. Oktober in Linnich in der Eifel gegen den Bau des neuen Kriegshauptquartiers der NATO-Streitkräfte Zentraleuropa. Ist es nicht unglaublich: Gerade jetzt, wo alle von Abrüstung reden, brauchen wir ein neues Kriegshauptquartier? Am 2. November werden die Bauarbeiten von der Friedensbewegung blockiert. Ich fordere Sie hiermit ausdrücklich auf: Blockieren Sie diese Bauarbeiten! Helfen Sie mit, diese Abartigkeiten zu verhindern!
({14})
Die dritte Herbstaktion, am 12. und 13. November,
({15})
richtet sich gegen die Propaganda für die NATO-Aufrüstungspläne anläßlich der Tagung der Nordatlantischen Versammlung in Hamburg. Hier werden sowohl die Kritik an der NATO als auch die politische Alternative der Friedensbewegung sehr deutlich werden.
Meine Damen und Herren, die GRÜNEN als eine antimilitaristische Partei lehnen die Anwendung von Gewalt und ihre Vorbereitung grundsätzlich ab.
({16})
Gerade deshalb werden wir dem Verteidigungshaushalt nicht zustimmen.
({17})
Herr Scholz, Sie haben mit der Nachfolge von Herrn Wörner auch die Verantwortung für den ganzen Schlamassel übernommen, den Ihr Vorgänger angerichtet hat. Sie haben in den wenigen Wochen Ihrer Tätigkeit zur Genüge bewiesen, daß Sie es ihm gleichtun wollen. Allein die Entscheidung für das Projekt Jäger 90, diese unsolideste Investition seit Christi Geburt,
({18})
wird durch ihre immensen Folgekosten, von denen die
gegenwärtig gehandelten 25 Milliarden nur ein Vorgeschmack sind, zukünftige Bundeshaushalte mächtig durcheinanderwirbeln.
Zu derart deplazierten Aufrüstungsentscheidungen paßt auch Ihr politisches Glaubensbekenntnis. Wie sagten Sie gegenüber der „FAZ" auf die Frage, wo Sie am liebsten leben möchten? Ich zitiere: „in Berlin als Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschland".
({19})
Wir haben vielleicht eine Chance, den Frieden in Europa sicherer zu machen, die Durchlässigkeit der Grenzen zu vergrößern, ganz neue Formen der Zusammenarbeit der Völker von Ost und West zu entwickeln, und Ihnen fällt für die Zukunft nichts ein als die Wiederherstellung eines deutschen Nationalstaates. Herr Scholz, von Großdeutschland haben wir gründlich genug, auch von Großdeutschland in Kleinausgabe, und wenn es eines gibt, was unseren Nachbarvölkern berechtigtes Mißtrauen und berechtigte Befürchtungen vermitteln kann,
({20})
dann sind es deutschnationale Träumereien. Nicht Schaffung neuer Nationalstaaten wie im 19. Jahrhundert, sondern Schaffung einer dauerhaften europäischen Friedensordnung,
({21})
das ist unser politisches Ziel, und wir sind sicher, daß die allermeisten Menschen in der Bundesrepublik so denken. Frieden schaffen ohne Waffen, das ist längst mehr als ein Spruch, das ist die politische Alternative.
Vielen Dank.
({22})
Das Wort hat der Bundesminister für Verteidigung.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir zunächst, bevor ich meine Ausführungen im einzelnen mache, ein Wort zu den erschütternden und bedrückenden Vorgängen in Ramstein.
Der schwere Flugunfall mit seinen katastrophalen Folgen hat uns alle, hat auch mich sehr tief getroffen. Unser aufrichtiges und tiefes Mitgefühl gilt den Schwerverletzten Mitbürgern und den Angehörigen aller Opfer dieses tragischen Unfalls.
Die Untersuchungen über die Unfallursache sind noch nicht abgeschlossen. Es kann daher heute auch noch nicht die Stunde sein, eine abschließende Bewertung vorzunehmen. Nach allen Erfahrungen aus der Vergangenheit war für diese Flugveranstaltung das Notwendige getan, um die Sicherheit der Zuschauer zu gewährleisten.
({0})
- Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen doch
eben sehr deutlich gesagt, daß die Untersuchungen
nicht abgeschlossen sind und daß wir hierüber natürlich eingehend sprechen werden. Wenn Sie mir nicht zuhören, rede ich halt weiter, und Sie hören mich nicht.
({1})
Eines steht jedenfalls fest, und das will ich hier deutlich unterstreichen: daß aus diesem Unfall selbstverständlich die geeigneten und angemessenen Lehren zu ziehen sind. Wir alle müssen das Erforderliche tun, um solche Unfälle künftig zu vermeiden.
({2})
Hierzu bekenne ich mich hier ganz ausdrücklich, und wie Sie wissen, habe ich hierzu erste grundlegende Entscheidungen getroffen, auf die auch der Bundeskanzler heute früh bereits hingewiesen hat. Herr Kühbacher, ich glaube, bis zu Ihnen hatten sich dieselben noch nicht herumgesprochen. Zu der überflüssigen Polemik, die es in diesem Zusammenhang gab, will ich nur sagen: Sie sollten wenigstens versuchen, besser hinzuhören. Sie hätten auch bei Nörvenich dem zuhören sollen, was ich gesagt habe, auch was die äußerst bedauerlichen und - das sollten Sie wissen - von mir scharf kritisierten Vorfälle an dem Abend in Nörvenich angeht.
({3})
- Herr Ehmke, soll ich Ihnen einmal aus dem zitieren, was Herr Rau bereits vorher geäußert hat? Wir können hier gerne eine Debatte über Ihren Parteifreund führen!
({4})
- Wir können das jederzeit tun, auch im Ausschuß für Verteidigung, Herr Ehmke, und vielleicht nehmen Sie liebenswürdigerweise einmal an einer solchen Sitzung teil. Dann werde ich mich sehr deutlich zu dem äußern, was Herr Rau insgesamt gesagt hat, aber ich werde es mir ersparen, an dieser Stelle darüber im einzelnen zu sprechen.
Was ich allerdings gerade im Zusammenhang mit Vorfällen dieser Art erwarte, ist, daß man auf billige Polemik verzichtet. Das sollte auch für Sie gelten.
({5})
- Wer sich hier einen ordentlichen Ton angewöhnen muß, sind, glaube ich, in diesem Falle Sie, Herr Ehmke. Das gleiche gilt für Sie, Herr Kühbacher,
({6})
wenn ich an etwas denke, was ich hier noch einmal sehr deutlich sagen will.
({7})
- Darf ich ausreden?
({8})
- Wie schön! Dann halten Sie sich an das „jawohl".
Ich möchte hier noch einmal sehr deutlich darauf hinweisen: Herr Kühbacher, wenn Sie in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses zur Frage der Generalspensionierung zugehört hätten, hätten Sie hier den eindeutig unwahren Vorwurf, daß bestimmte Dinge Betroffenen erst über die Presse bekanntgemacht worden wären, nicht wieder erhoben. Sie haben dies gehört; Sie waren in der Sitzung, wenn ich mich richtig erinnere. Sie hätten sich dieses hier sparen müssen, wenn Sie bereit wären, der Wahrheit die Ehre zu geben.
({9})
- Herr Ehmke, wenn Sie mit Ihren kleinen mehr oder weniger larmoyanten Zwischenbemerkungen fertig sind, würde ich gerne fortfahren.
({10})
Meine Damen und Herren, die Aufgabe des Staates, die äußere Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten, ist nicht nur ein ethisches Postulat; sie ist eine gesamtpolitische Aufgabe, die uns allen von unserer Verfassung gestellt wird. Sie verlangt, Vorsorge für die Zukunft zu treffen. Sie muß aber auch unterschiedlichen Entwicklungen Rechnung tragen. Es wäre zum Nutzen von Bürger und Staat, wenn wir in diesem Hohen Hause einen breiteren Konsens in elementaren Fragen unserer Sicherheitspolitik hätten. Wenn ich die bisherige Debatte allerdings richtig deute, sehe ich nach wie vor elementare Unterschiede.
Wenn sich heute im Ost-West-Verhältnis neue Perspektiven eröffnen, dann sind ganz besonders wir Europäer dazu aufgerufen, hier unseren Beitrag zu leisten. Gerade wir Deutsche profitieren unmittelbar von den Erfolgen der im westlichen Bündnis gemeinsam getragenen Sicherheitspolitik. Gerade wir leiden am stärksten, wenn Erfolge ausbleiben.
Der Weg in die Zukunft verheißt günstige Perspektiven. Aber Nüchternheit und Realiltätssinn werden die sichersten Wegbereiter und Wegbegleiter sein.
Wer uns heute vorwirft, wir beharrten auf dem Irrglauben, mehr Sicherheit durch mehr Waffen erhalten zu können, der weiß entweder nicht, wovon er redet, oder er will bewußt einen falschen Eindruck erwekken. Tatsache ist doch wohl, daß die Zahl namentlich der Nuklearwaffen durch einseitige Abrüstung der NATO und jetzt im Gefolge des INF-Abkommens
heute den geringsten Stand in Europa seit Einführung solcher Systeme erreicht hat. Tatsache ist auch, daß unsere Bemühungen, den Frieden mit möglichst wenig Waffen zu erhalten und zu gestalten, Erfolge aufzuweisen haben, die selbst die Opposition als historisch bezeichnet, und daß die Aussichten auf weitere Fortschritte nie so günstig waren wie heute. Tatsache sind schließlich die grundlegenden historischen und geographischen Bedingungen unserer Sicherheit, die eine Aufrechterhaltung gesicherter Verteidigungs- und Abschreckungsfähigkeit unverzichtbar machen.
Zu diesen Bedingungen unserer Sicherheit gehören zunächst und vor allem die historisch strategische Bedeutung des Raums Mitteleuropa, der andauernde Systemkonflikt zwischen Ost und West und in seinem Gefolge die Teilung Deutschlands und Europas. Das sind doch mit die Ursachen dafür, daß sich die beiden Militärbündnisse an der durch unser Land verlaufenden Trennungslinie so hochgerüstet gegenüberstehen.
Die Teilung unseres Landes und die Teilung Europas sind und bleiben auf absehbare Zeit die zentralen Fragen der Politik zwischen den Mitgliedstaaten beider Bündnissysteme auf dem langen Weg zu einer europäischen Friedensordnung. Wir streben in Europa einen Zustand an, in dem Sicherheit, Stabilität und Vertrauen noch weiter gefestigt werden, und dies - hier wiederhole ich mich gerne - möglichst mit geringeren militärischen Potentialen. Wir wollen zu einem Zustand erhöhter gegenseitiger Sicherheit gelangen.
Sicherheit in Europa heißt für uns Westeuropäer in erster Linie Sicherheit in der nordatlantischen Verteidigungsgemeinschaft. Unsere Sicherheit und Freiheit gründen sich dabei auf bewährte Prinzipien der Allianz, von denen die SPD allerdings, auch heute wieder zum Teil, ein bewußt falsches Bild zu vermitteln versucht.
Die NATO ist nach Struktur und politischer Grundüberzeugung aller 16 Mitgliedstaaten defensiv. Sie bedroht niemanden und hat auf die Anwendung von Waffengewalt als erster verbindlich verzichtet. Der Umfang ihrer heute präsenten Streitkräfte liegt bereits unter dem operativen Minimum gesicherter Verteidigungsfähigkeit.
Für die Sicherheit in Europa ist die transatlantische Bindung zu unseren nordamerikanischen Verbündeten unersetzlich. Sie ist sichtbar in der Präsenz amerikanischer Streitkräfte und in der leistungsfähigen Nukleargarantie unseres wichtigsten Verbündeten, der USA. Wollen Sie, meine Damen und Herren von der SPD, auf diesen bedeutenden Aktivposten unserer Sicherheit wirklich verzichten? Auch heute klang es wieder so.
Die Aussagen Ihrer Partei, auch die von Ihnen, lieber Herr Horn, gegen unsere amerikanischen Freunde, die auch im Zusammenhang mit dem tragischen Vorkommnis von Ramstein hier und dort aufgeklungen sind, sind nicht berechtigt.
({11})
Das seit 1967 bewährte politische Grundkonzept der Allianz bleibt die Richtschnur unseres Handelns. Politische Solidarität und gesicherte Verteidigungsfähigkeit sind und bleiben die Voraussetzungen für einen konstruktiven Dialog mit den Staaten des Warschauer Pakts, für einen Interessenausgleich, der eine Politik der Rüstungskontrolle und der Abrüstung ermöglicht. Interessenausgleich verlangt von uns, nicht zuzulassen, daß der Westen durch einseitige Maßnahmen seine Verteidigungsfähigkeit schwächt und damit in letzter Konsequenz den Frieden in Europa gefährdet.
({12})
Dies sollten Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, aus dem Zusammenhang des politisch, abrüstungspolitisch, sicherheitspolitisch bedeutenden INF-Abkommens gelernt haben. Sie sollten gelernt haben, daß dies nur auf der Grundlage der Politik dieser Koalition möglich war, die ganz klar - ({13})
- Ich freue mich über Ihren blinden vorauseilenden Gehorsam,
({14})
ich freue mich, Herr Ehmke. Es ist wirklich eine Freude, Ihnen zuzuhören.
({15})
- Dann muß er sich an den Kanzler wenden. Ich kann mir nur schwer vorstellen, daß ein Jawohl-Schreier in Moskau gefragt ist.
({16})
Meine Damen und Herren, die sowjetische Innen- und Außenpolitik hat unter Generalsekretär Gorbatschow ihr Erscheinungsbild wesentlich positiv geändert; wesentliche Fortschritte sind greifbar, sind deutlich vor uns liegend. Dennoch - auch dies muß gesagt werden - : Im militärischen Bereich, dem eigentlich maßgebenden Machtfaktor sowjetischer Großmachtpolitik, lassen sich bis heute noch keine realen Veränderungen aufzeigen. Trotz vielfältiger Äußerungen laufen die großen Rüstungsprogramme weiter, nicht nur im nuklearen, sondern auch im konventionellen Bereich. Die drückende Überlegenheit der konventionellen Streitkräfte des Warschauer Pakts ist und bleibt - wie ich fürchte, noch auf lange Zeit - das Kernproblem unserer Sicherheit in Europa. Dabei geht es nicht nur um zahlenmäßige Überlegenheit, nach welchen Kriterien wir sie auch immer bewerten, sondern um die Invasionsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive der Streitkräfte des Warschauer Pakts. Sie setzt sich aus vielfältigen Komponenten zusammen. Entscheidend ist aber das militärische Übergewicht.
({17})
Hier gelten nicht Worte, hier gelten Taten, Taten, die gerade jenen Worten folgen sollten, die wir begrüßen,
({18})
Worte, die die Disparitäten anerkennen und die sich zu dem bekennen, was der Westen seit langem, seit Dekaden gefordert hat, nämlich asymmetrische Abrüstung.
Der Westen wird auf die gegebene Situation nicht mit einer Angleichungsstrategie antworten. Wir entwickeln eine Langzeitstrategie für die Gestaltung der Ost-West-Beziehungen, die auf sachlichen Voraussetzungen gründet,
({19})
nicht auf Hoffnungen allein, nicht allein auf dem, was wir hören. Das Entscheidende ist das, was wir gemeinsam vereinbaren und dann auch sehen können. Das bedeutet in erster Linie, für eine gesicherte Verteidigungsfähigkeit Sorge zu tragen. Unsere Sicherheit, wie auch die Sicherheit unserer Partner, ist das einzig verantwortbare Kriterium, an dem wir unser politisches Handeln messen müssen. An diesem Kriterium haben sich unsere Verteidigungsanstrengungen und auch unsere Bemühungen um Entspannung, Rüstungskontrolle und Abrüstung zu orientieren. Politische Entspannung führt zu Rüstungskontrolle und Abrüstung.
({20})
Politische Entspannung ist aber - auch dieses Prinzip hat sich unverändert bewährt, bleibt unverändert gültig - ohne Sicherheit nicht erreichbar.
({21})
Das heißt nicht etwa, daß Veränderungen nicht zu sehen sind oder Entwicklungen gar verkannt würden. Im Gegenteil, wir hoffen entschieden auf Fortschritte im Anschluß an das, was mit dem INF-Abkommen, was im Zusammenhang mit den START-Verhandlungen bereits erreicht ist. Was wir hoffen, ist, daß es wirklich noch gelingt, im Herbst zu einem KRK-Mandat, zur KRK-Konferenz zu kommen, auf dem für uns in Europa wichtigsten Feld, nämlich der konventionellen Abrüstung.
({22})
Meine Damen und Herren, wenn wir unsere Interessen wahren wollen - dies schließt unsere Bereitschaft zum Interessenausgleich ein - , dann müssen wir heute jedoch feststellen, daß die Realitäten noch
- ich betone: noch - nicht geeignet sind, in Fragen unserer Sicherheit so etwas einzugehen, wie es die SPD uns immer vorgaukelt: eine Sicherheitspartnerschaft oder ähnliches zu konstruieren.
({23})
- Helmut Schmidt gehört der SPD an, höre ich.
({24})
- Als diejenigen, die sich jetzt hier als Schreihälse im Namen dieser Partei eines Helmut Schmidt gerieren.
({25})
Meine Damen und Herren, Veränderungen können Hoffnungen erwecken und sollen Hoffnungen erwekken, doch bloße Hoffnungen sind keine Basis für eine grundsätzliche Revision unserer Sicherheitsvorkehrungen, für die im übrigen gerade ein Mann wie Helmut Schmidt stand. Wir bieten der Sowjetunion und den übrigen Mitgliedern des Warschauer Pakts ein Konzept gegenseitiger Sicherheit an. Dies verlangt die Bereitschaft, sich gegenseitig das gleiche Maß an Sicherheit zuzugestehen, es verlangt den Verzicht auf absolute militärische Sicherheit; denn solche absolute militärische Sicherheit der einen Seite bedeutet notwendig und gleichzeitig die Unsicherheit der anderen Seite.
Unser Konzept der gegenseitigen Sicherheit verlangt den Verzicht, politische Probleme mit militärischen Mitteln, durch Anwendung oder Androhung militärischer Gewalt lösen zu wollen. Unser Konzept beruht vielmehr auf einem Gleichgewicht einer beiderseitig gesicherten Verteidigungsfähigkeit,
({26})
auf einem System vertrauensbildender Maßnahmen, auf Entspannung, Rüstungskontrolle und Abrüstung.
Der Erfolg der INF-Verhandlungen und der erfolgversprechende Stand der Mandatsverhandlungen zur KRK-Konferenz sind Beweise für die Richtigkeit dieser Politik. Wir folgen der Opposition nicht in ihrem Versuch, die nach wie vor gegebene drückende Überlegenheit der Sowjetunion in Europa, insbesondere im konventionellen Bereich, zu verschweigen und damit der Bevölkerung den Eindruck einer Sicherheit zu vermitteln, die an den realen Fakten vorbeigeht.
({27})
Diese Bundesregierung hat doch nachweislich immer ein viel wahreres Bild von der Rationalität sowjetischer Politik gehabt als ihre Gegner, die hier auf der linken Seite versammelt sind. Der Beschluß des Bündnisses und die konsequente Stationierung, sie waren doch ein Appell an die Verantwortlichkeit und Fähigkeit zu neuem Denken. Wir haben der sowjetischen Führung zugetraut, zu erkennen, daß der Abbau der SS 20 zu ihrem eigenen Vorteil wäre, anders als die Opposition, anders als Sie damals gesprochen haben. Mit der gleichen Weitsicht, dem gleichen Augenmaß und dem gleichen Glauben an Vernunft und Verantwortung gehen wir heute an die nächsten, an die ebenso drängenden Aufgaben heran.
Für mich ist es von zentraler Bedeutung, daß der Zusammenhang von Sicherheit, Rüstungskontrolle und Abrüstung gewahrt wird. Dies aufzuzeigen und daran unsere Verteidigungs-, unsere Rüstungskontroll- und Abrüstungsmöglichkeiten zu messen, dies ist Zweck des im Bündnis in Arbeit befindlichen Gesamtkonzepts. Dieses Gesamtkonzept soll und wird keinen neuen sicherheitspolitischen Kurs des BündBundesminister Dr. Scholz
nisses festlegen. Seine Aufgabe ist es, bewährte Konzepte und Zielvorstellungen zu einem in sich schlüssigen Ganzen für die Zukunftsperspektive der Bündnisstrategie, für die Zukunftsperspektive der erf order-lichen militärischen Instrumente und für die Zukunftsperspektive der Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik zusammenzufügen.
Wer dafür Sorge trägt, daß Kriege in unserer Region ein für allemal unführbar bleiben, der muß auch dafür Sorge tragen, daß die dafür erforderlichen Streitkräfte glaubwürdig ihren Zweck erfüllen können.
({28})
Dies gilt für konventionelle und nukleare Waffen gleichermaßen. Beide müssen im ausgewogenen Verbund verfügbar sein. Damit die Bündnisstrategie der flexiblen Reaktion wirksam bleibt, müssen Mindestzahl, Reichweite, Zusammensetzung und Qualität nuklearer Waffen der Allianz in und für Europa unter Berücksichtigung der Sicherheit des Bündnisses neu festgelegt werden.
Die Bundesregierung steht zu ihrer Verantwortung für die gemeinsame Verteidigung im Bündnis. Sie wird sicherstellen, daß die Bundeswehr ihren Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung des Bündnisses wirkungsvoll leisten kann. Sie wird dafür sorgen, daß die Streitkräfte einsatzbereit bleiben und ihren Auftrag in der integrierten Vorneverteidigung erfüllen können. Das bedeutet, wir werden alle Maßnahmen zeitgerecht ergreifen, die notwendig sind, um das erforderliche Personal zu gewinnen und Soldaten gut auszubilden und sie für ihre Aufgabe auszustatten.
({29})
Wir werden Heer, Luftwaffe und Marine mit den erforderlichen Waffensystemen ausrüsten und diese Systeme voll einsatzbereit halten. Unsere Streitkräftestrukturen werden auch in Zukunft im Verbund mit unseren Bündnispartnern eine glaubwürdige Reaktion auf jeden Angriff ermöglichen.
Der Entwurf des Verteidigungshaushalts 1989 in Höhe von 53,3 Milliarden DM bedeutet in der Tat zunächst eine Zuwachsrate von 3,8 % bzw. von 1,95 Milliarden DM. Allein 670 Millionen DM davon sind jedoch festgelegt und ergeben sich aus den Personalverstärkungsmitteln, d. h. schon hier können Sie erkennen, daß das pauschale Argumentieren mit schlichten Zahlen meist unreflektiert, meist an der Oberfläche bleibt.
Das Bemerkenswerte an diesem Haushalt ist vor allem, daß er in Verbindung mit der mittelfristigen Finanzplanung die dahinter stehende Konzeption verdeutlicht.
({30})
Sie besteht darin, die aus vielerlei Gründen unumgängliche Sparsamkeit und Begrenzung der Ausgaben im Bundeshaushalt zu verbinden mit einer bedarfsgerechten Bemessung der Verteidigungsausgaben. Der Staatsaufgabe äußere Sicherheit müssen ganz nüchtern und ganz emotionslos - so schwer Ihnen das gelegentlich auch fällt - die Mittel zugewiesen werden, die zur Sicherstellung unserer Verteidigung jetzt wie in Zukunft erforderlich sind.
({31})
Ich darf allen, die glauben, der Verteidigungshaushalt sei zu hoch, aber versichern, daß dieser Einzelplan 14 gleichwohl zu äußerster Sparsamkeit zwingt, zur Nutzung aller Rationalisierungsmöglichkeiten
({32})
und - das betone ich mit Nachdruck - zur strikten Prioritätensetzung.
Die Priorität im Haushalt 1989 haben unsere Soldaten.
({33})
„Unsere Soldaten" sage ich und nicht „die Soldaten". Ich betone das, weil es mir geboten erscheint. Unseren Soldaten kommt der maßgebliche Anteil der Haushaltssteigerung zugute. Insgesamt gesehen sind es rund 60 % des Haushalts, die unmittelbar unseren Soldaten zugute kommen für angemessene Besoldung und solche Maßnahmen, die die Attraktivität des Soldatenberufs erhöhen. Ich nenne hier Weiterverpflichtungsprämien, Reservistenkonzeption, Zulagen und Aufwandsentschädigungen, aber auch die Gleichstellung aller Wehrübenden; denn auch das gehört unter die Überschrift Attraktivität. Ich kann mir schwerlich vorstellen, daß hieran begründete Kritik zu üben wäre. Der Verteidigungshaushalt 1989 wird ein Haushalt für unsere Soldaten.
({34})
Mit unserer langfristigen, systematischen und auf den unauflöslichen Zusammenhang von Personal, Rüstung, Struktur und Finanzen ausgerichteten Planung für unsere Streitkräfte sind wir auf einem guten Weg in das Jahr 2000. Natürlich hat diese Planung auch Risiken. So kann heute noch niemand eine Garantie dafür abgeben, daß die personellen Ziele des nächsten Jahrzehnts erreicht werden. Aber unser Bündnisbeitrag ist so wichtig, daß wir nichts unversucht lassen dürfen, ihn zu erhalten.
Der Friedensumfang der Bundeswehr ist nicht sakrosankt, aber er ist Teil der im Bündnis gemeinsamen Strategie und Voraussetzung für den raschen Aufwuchs zur Verteidigungsstärke. Wir werden die Personalentwicklung der nächsten Jahre sorgfältig analysieren und, falls notwendig, nachsteuern. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Unser Ziel sind Streitkräfte, die auch in Zukunft in der Lage sind, ihren Auftrag so zu erfüllen wie heute.
Meine hohen Erwartungen an die Einsatzfähigkeit unserer Streitkräfte haben sich bislang erfüllt. Bei meinen Begegnungen mit den Streitkräften war ich beeindruckt von der Leistungsfähigkeit der Truppenteile, vom Engagement und vom Leistungswillen dieser unserer Soldaten. Jene tun unseren Soldaten unrecht, die ihnen fortwährend schlechte Motivation vorwerfen. Diese Soldaten unserer Bundeswehr sind
in Haltung, Gesinnung und Leistung ganz hervorragend.
({35})
Wenn man die Realität also heute insgesamt sieht, dann ist das Bild unserer Bundeswehr positiv. Dafür verdienen die Soldaten wie auch die zivilen Mitarbeiter unseren aufrichtigen Dank.
Staat und Politik bestimmen den Auftrag der Bundeswehr und fordern den Einsatz der Soldaten. Es ist deshalb vorrangige Aufgabe der Politik, Auftrag und Dienst der Soldaten öffentlich zu legitimieren und auch Antwort auf das Warum des Waffendienstes zu geben, sich zu den Soldaten und zu ihrem Auftrag zu bekennen. Ich kann nur das unterstreichen, was Herr Wimmer vorhin zu der Frage des Ausschlusses öffentlicher Gelöbnisse gesagt hat, wie Sie ihn auf Ihrem Parteitag, wie ich höre, beschlossen haben. Das ist kein Bekenntnis zu unseren Soldaten.
({36})
Ich wünschte mir wirklich, daß sich das Verantwortungsbewußtsein der Politik im Bekenntnis zu unseren Soldaten häufiger und deutlicher in Wort und Tat - und das sehr wohl über die Parteigrenzen hinweg - ausdrückte.
({37}) Unsere Soldaten - das weiß ich genau ({38})
scheuen sich nicht, sich als Staatsbürger in Uniform öffentlich der Legitimationsfrage zu stellen. Diese politische Aufgabe wird ihnen aber häufig in größerem Umfang überlassen, als es politisch verantwortbar ist und als es unsere Verfassung vorsieht.
Lassen Sie mich schließen mit einer zusammenfassenden Wertung des Entwurfs des Verteidigungshaushalts 1989.
({39})
Er trägt unseren politischen Zielen für die kommenden Jahre Rechnung. Das gilt für das Halten der Friedensstärke, für die Sicherung der Vorneverteidigung und die Aufrechterhaltung und Verbesserung der Einsatzbereitschaft und der Kampfkraft der Bundeswehr als Kernstück der konventionellen Verteidigung.
Die wichtigsten Maßnahmen zur Sicherstellung des Friedensumfangs und zur Erhöhung der Attraktivität der Bundeswehr können finanziert werden. Der uneingeschränkte Betrieb der Bundeswehr einschließlich der Übungen kann sichergestellt werden. Die Ansätze für Beschaffungen, insbesondere Flugzeuge, Schiffe, Munition, Fernmeldematerial, sowie für die Infrastruktur, die einen besonderen Stellenwert haben muß, sind ausreichend dotiert, wenngleich - auch dies verhehle ich nicht - einige nicht unbedeutende Abstriche notwendig geworden sind.
Indessen - ich wiederhole es - Prioritätensetzungen waren unvermeidlich. Insgesamt stellt der Haushaltsentwurf aber einen akzeptablen Kompromiß zwischen den schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen einerseits und den verteidigungspolitischen
Erfordernissen andererseits dar. Die Bundeswehr wird mit diesem Haushalt ihre Präsenz und Einsatzfähigkeit aufrechterhalten und ihren Verteidigungsbeitrag im Bündnis in vollem Umfange leisten können.
Ich danke Ihnen.
({40})
Das Wort hat der Abgeordnete Gerster ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesverteidigungsminister, wir werden in dem Protokoll nachlesen können, wieviel Sätze Sie zu Beginn Ihrer Rede für die Opfer des Unglücks in Ramstein gefunden haben.
Sie und ich waren am letzten Samstag um 11 Uhr in der St.-Nikolaus-Kirche in Ramstein. Wir haben eine Trauerfeier erlebt, die alle, die daran beteiligt waren, tief betroffen gemacht hat, nicht nur die unmittelbaren Angehörigen. Wir haben dort - so schwierig und fast unmöglich das ist - Reden gehört, wo deutlich wurde, daß die Redner versucht haben, der Dimension dieses Unglückes gerecht zu werden.
Ich möchte hier deutlich sagen, daß der Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz, Bernhard Vogel, auch in dieser ernsten Stunde in einer Weise Selbstkritik hat anklingen lassen, die mir imponiert hat. Er hat gesagt: Es gab solche, die vor diesem Flugtag gewarnt haben, und es gab andere, die ausdrücklich dazu aufgefordert haben, an ihm teilzunehmen. Mit dieser Verantwortung müssen wir fertig werden, und wir müssen überprüfen, welche Konsequenzen wir daraus ableiten. Diese Rede von Bernhard Vogel in Ramstein hat sich wohltuend von dem abgehoben, was Sie heute hier gesagt haben, Herr Scholz.
({0})
Wenn Sie in Ihrer Fraktion einen guten Freund haben, dann hoffe ich, daß er Ihnen sagt, daß Sie solche Reden so nicht mehr halten sollten.
({1})
Er sollte Sie warnen, und Sie sollten selber die betroffenen Gesichter der Mitglieder Ihrer Fraktion wahrgenommen haben, während Sie sprachen. Sie beschleunigen Ihren Niedergang in einer Weise, die keiner voraussehen konnte.
({2})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hürland? - Bitte schön.
Herr Kollege, ich meine, wir sind in den Haushaltsplanberatungen. Sind Sie mit mir einer Meinung, daß die Würdigung der Opfer von Ramstein nicht Sache dieser Debatte sein kann und daß die Würdigung durch den Präsidenten des Deutschen Bundestages erfolgt ist, daß gleichwohl darüber hinaus der Minister zusätzlich seine Betroffenheit, die er in sehr schneller Zeitfolge, nämlich am Montag und in den Tagen darauf, am Ort
des Geschehens zum Ausdruck gebracht hat, hier noch einmal dargestellt hat?
Frau Kollegin Hürland, ich weiß sehr wohl, daß dies nicht der Ort für eine Würdigung im umfassenden Sinne ist. Aber es wäre gut gewesen, wenn auch hier im deutschen Parlament, wenn wir zum erstenmal Gelegenheit haben, über diesen Vorgang, über dieses entsetzliche Unglück zu sprechen, die persönliche Betroffenheit des Ministers und die Bereitschaft, Konsequenzen zu ziehen, deutlich geworden wäre.
({0})
Herr Minister Scholz, Sie galten als Sie Ihren Dienst antraten, als Sie Ihr Amt übernahmen, als ein besonders souveräner Mann, der sich zutraut, dieses schwierige Ressort zu übernehmen, ohne im engeren Sinne Ressortkenntnisse zu haben. Dazu gehört ja sicherlich eine Portion Mut. Lassen Sie mich deswegen einige Anmerkungen zu den verschiedenen Aspekten der Souveränität sagen.
Souveränität hat zunächst einmal eine moralische Dimension. Sie wird um so mehr ausgeleuchtet werden, je mehr Sie versuchen, sich mit Ausflüchten zu retten, die alles nur noch schlimmer machen.
Souveränität hat aber auch eine eminent politische Dimension über die rechtliche hinaus. Hier haben wir in den letzten Monaten Vorgänge erlebt, die deutlich machen, daß wir Deutschen 43 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg schon dort an die Grenzen unserer Souveränität zu stoßen glauben, wo sie im rechtlichen Sinne gar nicht da sind. Wir setzen die Barrieren also schon sehr viel früher.
({1})
Ich will Beispiele dafür bringen, daß Sie in Ihrer kurzen Amtszeit zu diesem Mißverständnis vor allem unserer Rolle im Bündnis in einer erschreckenden Weise beigetragen haben. Sie haben heute kein Wort zur Stationierung in Erbenheim verloren, obwohl der Kollege Kühbacher darauf eingegangen ist, obwohl die Menschen in dieser Region, die hessische Landesregierung und Ihre eigenen Parteifreunde sich in einer imponierenden Weise und auf eine seriöse Weise zu wehren versuchen.
({2})
Sie haben statt dessen Briefe geschrieben, Herr Scholz, darunter einen an das europäische Hauptquartier der US-Army in Heidelberg vom 24. August, in dem wörtlich zu lesen ist:
Es bleibt den amerikanischen Streitkräften überlassen, zu entscheiden, welche Anzahl von Luftfahrzeugen sie in Erbenheim stationieren wollen.
Das ist ein Gegenbeispiel von Souveränität, das erschreckend ist.
({3})
Der Briefwechsel mit Ministerpräsident Rau, der bereits erwähnt worden ist, liefert weitere Beispiele dafür, daß Sie ohne Not vor den Ereignissen, die keiner
in dieser Form voraussehen konnte, die Grundlage für persönliche Verantwortung und persönliche Anschuldigung des Ministers, der in diesen Fällen auch rechtlich der Genehmigende war, gelegt haben, die im nachhinein fast unglaublich ist.
Sie haben an Ministerpräsident Rau geschrieben: Ich habe mich sorgfältig vergewissert,
- gemeint ist das Beispiel Nörvenich; wir wissen inzwischen, daß das falsch ist daß es keine spektakulären akrobatischen Luftübungen gibt. Ich habe mich sorgfältig vergewissert, daß es besondere Sicherheitsvorkehrungen gibt, daß die Zuschauer nicht überflogen werden.
Wir wissen inzwischen, daß dies für Nörvenich nicht gilt. Dies wird untersucht werden.
Wir wissen aber auch, daß Sie im Falle Ramstein gar nicht den Versuch unternommen haben, dies im einzelnen zu prüfen. Wir werden im einzelnen zu bewerten haben, was es überhaupt noch bringt, wenn Sie Ihre Brust freimachen und vor die deutsche Öffentlichkeit treten und sagen: Wenn ich genehmigen kann, dann kann ich natürlich auch versagen, also trage ich die Verantwortung.
Sie haben das zu einem Zeitpunkt gesagt, als Ihnen selbst das Ausmaß Ihrer persönlichen Mitverantwortung offenbar noch nicht klar war.
Es gibt schließlich natürlich auch den rechtlichen Aspekt der Souveränität, der bei näherem Besehen ebenfalls sehr differenziert zu betrachten ist, z. B. die Genehmigung gemäß NATO-Truppenstatut. Da können wir nachlesen, daß Genehmigungen dann zu erteilen sind, wenn die Bündnisstreitkräfte auf deutschem Boden Manöver und Übungen durchführen, die für die Erfüllung des Verteidigungsauftrags zwingend notwendig sind.
Wer will denn behaupten, daß ein Flugtag in Nörvenich oder in Ramstein - in Nörvenich war es die Bundesluftwaffe, in Ramstein waren es die Amerikaner - zur Erfüllung des Verteidigungsauftrags notwendig ist?
({4})
Das behaupten Sie selbst auch nicht. Deswegen sollten Sie die Verantwortung, die Sie zu einem frühen Zeitpunkt scheinbar übernommen haben, jetzt auch in vollem Umfang übernehmen, wenn das ganze Ausmaß der kontraproduktiven, der menschengefährdenden routinemäßigen Genehmigungspraxis im Bundesministerium der Verteidigung deutlich werden wird.
({5})
Souveränität hat natürlich auch einen Aspekt, der damit zu tun hat, wer schließlich der Herr im Hause ist, und hier meine ich das Bundesministerium der Verteidigung auf der Hardthöhe. Ich frage Sie, Herr Scholz: Sind Sie eigentlich noch Herr des Geschehens, oder hat in diesem Fall der Bundeskanzler seine Richtlinienkompetenz zu einem frühen Zeitpunkt wahrgenommen?
Gerster ({6})
Ich will ein Beispiel dafür liefern. Der militärische Führungsrat der Bundeswehr tagt seit heute vormittag auf Einberufung durch den Generalinspekteur der Bundeswehr, und er hat offensichtlich - Sie werden das bestätigen oder widerlegen können - den Auftrag, eine Weisung des Bundeskanzlers umzusetzen, die da lautet: Tieffluguntergrenze 500 m, Ramstein 50 km weit umfliegen, militärisch belastete Gebiete wie Rheinland-Pfalz in besonderem Maße schützen und ausnehmen und Luftkampfübungen nur über Meer. Ich frage Sie, Herr Minister Scholz: Ist es richtig, daß der Bundeskanzler diese Anweisung erteilt hat und daß die militärische Führung dies jetzt umsetzen soll, und wer hat hier entschieden? Ist es richtig, daß das Gesetz des Handelns gar nicht mehr in Ihrer Hand liegt?
Herr Minister Scholz, Sie sind der oberste Befehlshaber der Bundeswehr im Frieden. Ich weiß aus eigener Erfahrung, daß gerade Soldaten ein sicheres Gespür für charaktervolles Verhalten ihrer Vorgesetzten haben, gerade in schwierigen Situationen, denn nur dort kann es sich wirklich zeigen und bewähren. Sie verstärken mit Ihrem Verhalten die innere Krise, in der sich die Bundeswehr zur Zeit befindet.
({7})
Sie verstärken eine Krise, die sich an dem Bericht des Wehrbeauftragten ablesen läßt, die sich ablesen läßt an den Briefen von hohen Generälen, die das Wort Innere Führung als Fremdwort im Duden nachschlagen, Sie verstärken die innere Krise der Bundeswehr, die sich ausdrückt in explosionsartig steigenden Verweigererzahlen,
({8})
die die ganze Personalplanung über den Haufen werfen, und in einem Mangel an Weiterverpflichtungen, der uns zwingt, auf untaugliche Mittel wie die Weiterverpflichtungsprämie zurückzukommen. Sie verstärken durch Ihr Verhalten die innere Krise der Bundeswehr, und wir Sozialdemokraten und viele andere Bürger in diesem Land und viele Soldaten, wir fordern Sie auf: Werden Sie sich Ihrer hohen Verantwortung endlich bewußt!
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Friedmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gerster, Sie hielten es für richtig, eben auf die schreckliche Katastrophe von Ramstein einzugehen. Wir alle sind von diesem Unglück betroffen. Davon können wir alle ausgehen. Wenn Sie aber den Verteidigungsminister wegen seiner bisherigen Einlassungen kritisieren, so möchte ich daran erinnern, was Ihr Fraktionsvorsitzender und Oppositionsführer heute morgen zu diesem Thema hier an dieser Stelle gesagt hat. Er hat gesagt, wir sollten in eine Wertung erst dann eintreten, wenn klare Untersuchungsergebnisse vorliegen. Herr Vogel hatte recht, insoweit ist jetzt überhaupt kein Zeitpunkt für Schuldzuweisungen gegeben.
Das Thema eignet sich überhaupt nicht für eine parteipolitische Auseinandersetzung.
({0})
Flugschauen, Herr Ehmke, gab es zu allen Zeiten, seit es eine Luftwaffe gibt; auch als Sie die Verteidigungsminister gestellt haben, gab es solche Flugschauen. Tun Sie doch nicht so, als wäre das eine neue Erfindung von uns!
({1})
Sie wissen doch ganz genau, morgen nachmittag hat der Verteidigungsausschuß eine Sondersitzung. Warum greifen Sie dem Ganzen vor? Herr Scholz hat sich in vorzüglicher Weise auch im Fernsehen taktvoll eingelassen zu dem, was da passiert ist. Heute morgen hat der Präsident des Deutschen Bundestages für uns alle hier erklärt, es gehe jetzt darum, über den Sinn solcher Veranstaltungen nachzudenken und die Konsequenzen daraus zu ziehen.
({2})
Da muß man doch den Eindruck haben, Sie meinen etwas ganz anderes, als Sie sagen.
({3})
Meine Damen und Herren, der Kollege Kühbacher und auch Sie, Frau Beer, gingen auf den Umfang des Verteidigungshaushalts ein. Er wird ja jetzt auf 53,3 Milliarden DM wachsen. Das sind fast 2 Milliarden DM mehr.
({4})
- Sie sagen „wachsen" , es ist hier gut gewählt.
Ich möchte hier einmal feststellen: Gemessen an der mittelfristigen Finanzplanung sind das „nur" 450 Millionen DM mehr. Insoweit ist dies relativiert. Aber, meine Herren von der ersten Bank der SPD, wie war es denn auf Ihrem Nürnberger Parteitag? Sie haben dort beschlossen, wenn Sie Regierungsverantwortung hätten oder wieder haben würden, dann würden Sie die Verteidigung auf 18 To des Gesamthaushalts herunterfahren. Jetzt sind wir bei 18,4 %,
({5})
fast bei dem, was Sie als Ziel erklärt haben. Herr Ehmke, wenn man aber weiß, wie Sie Ausgaben treiben lassen, wie bei Ihnen ein Gesamthaushalt aussehen würde, und wenn ich davon 18 % errechne, dann wäre nach Ihrer eigenen Arithmetik
({6})
der Verteidigungshaushalt viel höher als er jetzt ist.
({7})
Das ist doch eine vollkommen verschrobene Logik. Man merkt, daß Sie Jura studiert haben und nicht Mathematik.
({8})
Mein Vorzug ist, daß ich keines von beiden studiert habe. Das darf ich hinzufügen.
Nun kommen Sie, Frau Beer, und sagen, daß dieser Verteidigungshaushalt in Wirklichkeit viel größer sei als 53 Milliarden DM. Da haben Sie recht. Daraus haben wir nie einen Hehl gemacht. Auch in anderen Haushalten stehen Teile. Insoweit muß man die Gesamtsumme der Verteidigungsausgaben sehen.
({9})
Dafür gibt es ganz offene NATO-Kriterien.
Um das auch einmal zu verdeutlichen: Wir liegen alles in allem mit dem, was Sie hier aufgezählt haben, mit unseren Verteidigungsausgaben bei 2,5 % des Sozialprodukts. Die Sowjetunion gibt heute unter Gorbatschow offen zu, daß sie 16 % ihres Sozialprodukts für die Verteidigung ausgibt. Wir werden angeprangert, und die sind gut. Verehrter Herr Ehmke, Sie haben es vorhin überhört, als Professor Scholz sagte, Sie wären wahrscheinlich drüben in Moskau willkommen, wenn Sie kämen. Ob der Kanzler Sie mitnimmt, ist etwas ganz anderes. Ich würde ihm davon abraten.
({10})
Aber sind wir doch einmal ehrlich: Seit Herr Gorbatschow Generalsekretär ist und über Glasnost und Perestroika spricht, hat die Aufrüstung drüben keine Unterbrechung erfahren.
({11})
Was dort der Verteidigung alles zugeführt worden ist! Meinen Sie, die Generale dort drüben sind umsonst so still?
({12})
Die wissen doch, was ihnen dort alles zufließt. Wollen wir einmal das Kind beim Bade nennen.
({13})
- Beim Namen nennen. Man kann ja auch ein Kind ins Bad stecken und dabei beim Namen nennen.
Wer die Höhe unserer Verteidigungsausgaben kritisiert, dem sei gesagt: In den USA gibt man dafür 6,5 % aus, in Griechenland und in der Türkei etwa 6
- gut, bezogen auf ein kleineres Sozialprodukt. Aber Sie können uns jetzt nicht so hinstellen, als würden wir weiß Gott welche Rüstungsausgaben tätigen. Man muß es bezogen auf unseren Auftrag, unsere wirtschaftlichen Möglichkeiten und auf unseren Auftrag im Bündnis sehen. Da kommt natürlich alles zusammen.
({14})
Nun muß man auch hier wiederum bedenken: Das, was beim Verteidigungshaushalt zuwächst, kommt
überwiegend dem Personal zugute. Der Zwischenruf von Herrn Breuer war durchaus berechtigt, es sind jetzt über 50 % des Verteidigungshaushalts, die für Personal ausgegeben werden.
({15})
- Wenn du es weißt, lieber Klaus-Dieter, dann hättest du es hier auch offen zugeben können.
Von daher wollen wir mal nicht übertreiben, was sich da abspielt.
Nun ist im Zusammenhang damit wieder der Jäger 90 angesprochen worden. Das ist ja für die Opposition ein Reizwort geworden,
({16})
für einzelne in der Koalition allerdings auch. Aber ich möchte hier einmal feststellen - lieber Herr Horn, Sie müssen es wissen - : Der Jäger 90 oder ein gleichartiges Flugzeug ist seit langem in die Planung der Luftwaffe und in den Bundeswehrplan eingestellt.
({17})
- Ein gleichwertiges. - Für den Typ des Jäger 90 haben wir uns erst jetzt entschieden, Herr Ehmke, das wissen Sie doch.
({18})
Daß vorher andere Flugzeuge im Gespräch waren, ist auch klar. Aber ein gleichwertiges Flugzeug war von den Kosten her in der Luftwaffenplanung seit jeher drin. Insoweit ist es falsch, zu behaupten, mit diesem Flugzeug würden andere Projekte verdrängt; das stimmt so nicht.
Wenn hier über die Preise immer wieder weiß Gott was philosophiert wird
({19})
- ja, das paßt Ihnen jetzt wieder nicht, das kann ich mir denken; dann ist jede Minute zuviel - :
({20})
Herr Horn, es sind fünfeinhalb Milliarden DM Entwicklungskosten und 16 Milliarden DM Beschaffungskosten zu Preisen vom Dezember 1987. Das heißt: Wenn dann um die Jahrtausendwende, wenn die Flugzeuge bei der Luftwaffe zugelaufen sind, 30, 40 Milliarden DM herauskommen, widerspricht das dieser Planung, die jetzt vorliegt, überhaupt nicht.
({21})
Wenn sich die Herren Abgeordneten einigen würden, wer seine Zwischenfrage zuerst stellt!
Ich gehe davon aus, Herr Präsident, daß die Zeit nicht angerechnet wird.
Ihnen wird sie nicht angerechnet, Herr Dr. Friedmann. - Dann fangen wir mit Herrn Horn an. Bitte sehr.
({0})
Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Kollege Friedmann, würden Sie mir zugeben, daß nach all den Erfahrungen, die wir mit großen Rüstungsprojekten haben - ich kenne das jedenfalls aus 20jähriger Erfahrung - , erstens die Kosten, die heute vorliegen, um ein Vielfaches überschritten werden
({0})
und daß zum zweiten die Entwicklungskosten zwar niedrig gehalten sind, sich aber nach aller Voraussicht dann nachher in den Produktionskosten wiederfinden und daß aus diesen Gründen nun ein großer Verteilungskampf auch innerhalb der Streitkräfte stattfindet?
Herr Abgeordneter Dr. Friedmann, im Sinne einer ökonomischen Beratung möchte ich bitten, daß auch Herr Kühbacher seine Frage nun stellen kann. Dann können Sie sie zusammen beantworten. - Bitte schön.
Herr Kollege Friedmann, würden Sie zustimmen, daß dieses Rüstungsprojekt, wenn einem so präzisen Mann wie Ihnen bei der Nennung der Entwicklungskosten - Sie haben soeben fünfeinhalb Milliarden DM genannt - solche Fehler unterlaufen - denn Sie wissen ja, daß im Entwurf 6,87 Milliarden DM veranschlagt werden; das ist eine Differenz von rund 1,4 Milliarden DM - und wenn Sie nicht dazusagen, daß diese Entwicklung von vier Staaten betrieben wird, sich die Summe also auf die Gesamtsumme von mehr als 20 Milliarden DM hinaufbewegt, von uns richtigerweise als ein Rüstungswahnsinnsprojekt bezeichnet werden kann?
Zunächst einmal, Herr Kollege Horn: Die Erfahrung, auf die Sie sich beziehen, ist das Tornado-Debakel, und das war zu Ihrer Zeit und nicht zu unserer Zeit.
Zweitens. Wir haben erstmals ein neues Verfahren entwickelt, das da besagt: Wenn die veranschlagten und vereinbarten Kosten von der Industrie überschritten werden, geht dies zu Lasten ihres Gewinnes. Außerdem ist vereinbart - das weiß die Luftwaffe - : Wenn die Kosten darüber hinaus steigen, geht dies zu Lasten der Stückzahl. Dann gibt's eben keine 200 Jäger 90, sondern 10 oder 20 weniger.
Was Herrn Kühbacher betrifft: Es sind genau 5,6 Milliarden DM Entwicklungskosten und 16 Milliarden DM Beschaffungskosten veranschlagt. Das ergibt nach Adam Riese 21,6 Milliarden DM Entwicklungs- plus Beschaffungskosten zu Preisen vom Dezember 1987. Doch wir sollten dieses Spiel hier jetzt nicht weitertreiben.
({0})
- Ich möchte noch einmal feststellen: Das Ganze bezieht sich auf Dezember 1987. Daß dann bereits in den Jahren 1988 und 1989 höhere Preise vorliegen, liegt auf der Hand. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, wenn man sagt, daß dieses Waffensystem im nächsten Jahrzehnt letztendlich vielleicht 30, 35 Milliarden DM kostet. Das ist doch in dieser Automatik der Veranschlagung inbegriffen. Das weiß doch jeder. Aber im gleichen Umfang wächst ja auch der Gesamthaushalt, mit dem dies zusammenhängt.
Nun, also nochmals: Dieser Verteidigungshaushalt hat einen Umfang, wie es sachlich gerechtfertigt ist. Es können die personellen Entscheidungen getroffen werden, die unsere Soldaten brauchen. Herr Professor Scholz, das beginnt mit einer Weiterverpflichtungsprämie, die eingeplant ist. Wenn es sein muß, soll es sogar eine Erstverpflichtungsprämie geben. Es ist eingeplant, daß der Wehrdienst künftig 18 Monate statt 15 dauern wird. Es ist eingeplant, daß das Entlassungsgeld erhöht, ein erhöhtes Wochenendverpflegungsgeld gezahlt wird und anderes mehr - nebst den notwendigen Beförderungsmöglichkeiten für die Soldaten. Es ist also ein Haushalt mit Augenmaß. Ich bin dem Bundeskanzler dankbar, daß er sich persönlich mehrmals engagiert hat, bis der Haushalt diesen Zuschnitt für die Verteidigung hatte.
({1})
Natürlich, Frau Seiler-Albring, werden wir da und dort Akzente zu setzen haben wie bei jeder Haushaltsberatung. Das ist ganz klar. Aber in der Sache ist eine Wende vollzogen worden. Nachdem der Verteidigungshaushalt jahrelang real gesunken ist, wächst er jetzt real wieder ein klein wenig. Mehr spielt sich bei diesem Verteidigungshaushalt überhaupt nicht ab.
({2})
Nun hat vor allem Klaus-Dieter Kühbacher die Frühpensionierung von Generalen erwähnt.
({3})
Jeder weiß, daß eine gesunde Altersstruktur bei der Bundeswehr nötig ist.
({4})
- Ich erkläre das immer so: Die Truppe muß von Offizieren geführt werden; und wenn diese Offiziere Opas sind und mit dem Megaphon hinterherspringen, dann funktioniert das Ganze nicht mehr.
({5})
Mit anderen Worten: Wir können kein überaltertes
Offizierskorps gebrauchen. Wenn Sie hier so verwundert tun, meine Herren, muß ich sagen: Denken Sie
doch einmal an die Zeit zurück, als Sie an die Regierung kamen! Wie viele haben Sie denn geschickt? Es waren doch gleich beim ersten Mal 38, und die waren jünger als die heute. Da haben Sie nicht so lang wie wir gefackelt.
({6})
Wir haben mit jedem vorher gesprochen. Der eine, auf den sich Klaus-Dieter Kühbacher bezieht, war in Urlaub und hatte seine Anschrift nicht hinterlassen. Trotzdem war vorher mit ihm gesprochen worden.
({7})
Im übrigen wissen die Generale und rechnen auch damit, wenn Sie General werden, daß sie zu einem bestimmten Zeitpunkt ihren Ruhestand anzutreten haben. Eine intakte Bundeswehr braucht eine entsprechend junge Generalität. Die Nachwuchsgenerale, nämlich die Brigadegenerale, sollten nicht älter als 45, 46 Jahre sein, wenn sie diesen Rang einnehmen.
Nun haben Sie, Klaus-Dieter Kühbacher, auch die Abrüstung erwähnt und die Notwendigkeit von Vorleistungen anklingen lassen. Das haben Ihre Kollegen heute mit unterschiedlichen Akzenten diskutiert.
Seien wir doch einmal realistisch! Konkrete Abrüstungsvereinbarungen gibt es bisher nur für Teilbereiche des atomaren Sektors, aber nicht zum konventionellen Bereich. Konkretere Vorstellungen gibt es darüber hinaus ebenfalls nur zum atomaren Bereich. Zum konventionellen Verteidigungsbereich sind eigentlich erst die gängigen Ideen entstanden, ohne daß erkennbar wäre, worauf man sich einigen kann. Der Osten unterbreitet seine Vorstellungen, und wir unterbreiten unsere Vorstellungen.
({8})
Ich erinnere Sie an etwas, was sich in der Sommerpause abgespielt hat. Als Ihr Fraktionsvorsitzender Dr. Vogel vorgeschlagen hatte, die Bundeswehr wesentlich zu reduzieren, hatte er kaum seinen Mund geschlossen, als ihm noch am selben Tag Ihr Parteigenosse Graf Baudissin entgegenhielt, dies sei das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt. Das ist genau der Punkt, Herr Ehmke, wenn man in Zahlen einsteigt: Es steigen nicht die Möglichkeiten der Materialbeschaffung. Der Zuwachs geht zugunsten des Personals. Mit anderen Worten: Wir halten lediglich die jetzt vorhandene Verteidigungsfähigkeit. Wenn Sie mehr kürzen wollen, geht das zu Lasten dieser Verteidigungsfähigkeit. Insoweit wäre Ihre Politik das falsche Signal zum falschen Zeitpunkt.
({9})
Ich bitte Sie, verehrter Minister Professor Scholz, diese Vereinbarungen, deren wirtschaftlichen Teil wir miteinander besprochen haben, und vor allem die beim Jäger 90 abgesprochene Automatik zu Ihrer persönlichen Angelegenheit zu machen. Ich habe durchaus den Eindruck, daß hier ein gutes Ergebnis erzielt
werden kann. Man soll nicht so tun, als könne man beispielsweise auf den Jäger 90 einfach ersatzlos verzichten. Die Phantoms sind, wenn sie ersetzt werden, als Waffensystem 40 Jahre alt. Wenn schon eine Entscheidung in dieser Richtung getroffen werden mußte, bin ich sehr wohl dafür, daß wir uns für eine europäische Lösung entschieden haben.
({10})
Das fördert einfach die Zusammenarbeit in Europa. Das ist auch wirtschaftspolitisch richtig. Denn es gibt einen sehr engen Zusammenhang zwischen dem zivilen Flugzeugbau, dem militärischen Flugzeugbau und der Luft- und Raumfahrt. Letztlich läuft dies immer wieder auf die gleichen Firmen zu. Wenn man wie Sie immer wieder die Zuschüsse und die Subventionen an die Airbus-Industrie kritisiert - mir ist dabei auch nicht wohl - , dann muß man bedenken, daß diese Subventionen noch höher wären, wenn wir solche Beschaffungen nicht auch der europäischen Industrie zugute kommen ließen. Es ist ja ganz klar: Wenn wir im Ausland kaufen, gäbe es bei uns in Europa und hier in Deutschland eine entsprechend schlechte beschäftigungs-, rüstungs- und wirtschaftspolitische Situation. Insoweit war es eine richtige und eine kluge Entscheidung, die wir da getroffen haben, und die sollte von Ihnen hier nicht hinterher madig gemacht werden.
Schönen Dank, daß Sie mir noch zu später Stunde zugehört haben.
({11})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Hamm-Brücher.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist nicht ganz einfach, in dieser verbundenen Debatte als außenpolitischer Sprecher der FDP-Fraktion nun noch einmal auf die außenpolitische Runde Ehmke-Rühe einzugehen, weil das ja eigentlich der Sinn einer Debatte ist, und vielleicht auch noch - ({0})
- Aber, Herr Kollege, ich schicke Ihnen das gerne einmal zu. Es handelt sich nur um die Plenarsitzungen und nicht um die Gesamtarbeitszeit, von der ich ausdrücklich festgestellt habe, daß sie für jeden Abgeordneten weit über 60 Stunden dauert.
({1})
- Haben Sie nicht schon erlebt, daß etwas anderes in den Zeitungen steht als das, was Sie eigentlich erläutert haben? Das ist leider so. Mir selber tut es am meisten leid, weil ich ja befürchten muß, daß die wichtigen Anhaltspunkte, die da gegeben werden, dadurch diskreditiert werden. Ich werde also viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, um das wieder in Ordnung zu bringen.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist außenpolitisch ja überwiegend über die Ost-West-Beziehungen oder
West-Ost-Beziehungen und die Sicherheitspolitik debattiert worden. Es ist vielleicht doch wichtig - wir haben ja nur einmal im Jahr die Gelegenheit dazu -, die Aufmerksamkeit auf den weltpolitischen Hintergrund zu richten, denn es gibt ja nicht nur dunkle Nachrichten in der Weltpolitik, es gibt ja nun gottlob auch einige Silberstreifen am Horizont. Es gibt Zeichen der Hoffnung, daß sich jahrelang schier unlösbar erscheinende Konflikte doch lösen lassen. Friedensprozesse machen Fortschritte, und Dritte-Welt-Länder finden zur Demokratie zurück.
({3}) - In Ecuador z. B.
Die sowjetischen Truppen werden aus Afghanistan abgezogen. Die Lösung des Kambodscha-Problems macht hoffnungsvolle Fortschritte. Sogar Nord- und Südkorea beginnen miteinander zu sprechen. Der seit Jahren schwelende Westsahara-Konflikt scheint lösbar. Am Golf wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Wenn die Erleichterung hierüber - liebe Kolleginnen und Kollegen, das sollte in dieser Debatte auch gesagt werden - , auch groß ist, so ist doch durch den offenbaren Giftgaseinsatz gegen die kurdische Zivilbevölkerung ein bitterer Wermutstropfen in die Freude darüber gefallen, daß am Golf nun endlich ein Waffenstillstand geschlossen wurde.
({4})
Meine Damen und Herren, ich komme nun gleich zur Frage eines weltweiten Verbots der C-Waffen, die ja schon vor einem erfolgreichen Abschluß zu sein schien, bei der man aber, nachdem die Sowjetunion auf amerikanische Vorschläge, wie die Übergangszeit bei einem Abbau der chemischen Waffen gestaltet werden soll, tatsächlich eingegangen ist, diesmal leider von der Seite des Westens einem endgültigen Abschluß im Wege steht. Ich glaube, daß gerade die schrecklichen Erfahrungen im irakisch-iranischen Krieg uns, die Bundesrepublik Deutschland beflügeln sollten, auch als Parlament darauf hinzuwirken, daß diese Verhandlungen in Genf endlich zu einem erfolgreichen Abschluß kommen;
({5})
denn die Gefahr ist doch, daß diese schrecklichen chemischen Waffen, das Giftgas, so etwas wie die Vernichtungswaffen der atomaren Habenichtse werden, und das ist ganz schrecklich.
({6})
Das müssen wir hier in der Debatte zum Ausdruck bringen. - Vielen Dank, Herr Ehmke.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Ja, natürlich. Herr Kollege Voigt.
Herr Abgeordneter Voigt.
Frau Hamm-Brücher, wäre es dann nicht eine gute Idee, wenn man z. B. in einer Region wie dem Golf, Iran/Irak, eine Zone hätte, wo
verifiziert würde, ob Chemiewaffen lagern und produziert werden? Wäre nicht eine regionale Vereinbarung, zwar nicht die weltweite Lösung, ein großer Fortschritt?
Herr Kollege Voigt, wir waren immer der Meinung - und gerade die Verwendung von Giftgas in dem Konflikt hat uns recht gegeben - , daß regionale Vereinbarungen hier zunächst einmal gar nicht weiterhelfen, wenn wir nicht weltweit zu einem Konsens kommen.
({0})
- Es wäre schön, aber ich finde, daß wir nur mit der weltweiten Vereinbarung die Möglichkeiten der Durchsetzung eines solchen Abkommens und der Verifikation haben.
Ich habe das erwähnt, meine Damen und Herren, weil zur Freude der FDP zum Zentrum und Motor dieser Fortschritte die so oft totgesagten, leider auch hier im Hause totgesagten Vereinten Nationen geworden sind. Dies ist dadurch zu erklären, daß die Konfrontation zwischen den Supermächten ein wenig abgebaut ist und daß auch bei den Ländern der Dritten Welt das Bewußtsein, daß sie für ihre Probleme eigene Lösungsanstrengungen machen müssen, deutlich gewachsen ist. Ich meine, wir sollten in einer außenpolitischen Debatte dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Pérez de Cuéllar, und seinen Mitarbeitern hierfür ein Wort der Dankbarkeit und der Anerkennung sagen; denn sein Engagement, sein Geschick und seine Geduld sind ein ganz wesentlicher Beitrag zu den wenigen, aber immerhin doch vorhandenen Silberstreifen.
({1})
Für uns Liberale waren die Vereinten Nationen immer, nicht nur als Diskussionsforum, unersetzlich. Und wir würdigen sie heute auch in ihrer zunehmenden Konfliktlösungskompetenz. Vielleicht sind sie mit der Zeit doch zu einer wichtigen Institution zur Einübung in eine weltweite Friedensordnung geworden, wie wir sie uns wünschen.
Meine Damen und Herren, auf diesem weltpolitischen Hintergrund tendenziell, behutsam aufkeimender Hoffnungen und Fortschritte ist auch die Entwicklung der Ost-West- oder, sage ich in so einer Debatte besser, West-Ost-Beziehungen im allgemeinen zu sehen. Darf man heute eigentlich schon - das klang bei Außenminister Genscher an, aber auch bei Herrn Rühe - von einer Art europäischen Innenpolitik sprechen? Ich meine jetzt nicht nur das Europa der Gemeinschaft, sondern das Europa der europäischen Unterzeichner der KSZE-Schlußakte.
Nun ist immer wieder eine nach meiner Ansicht müßige Auseinandersetzung im Gange, ob der INF-Vertrag nur durch Parteisekretär Gorbatschow und seine neue Politik zustande gekommen ist oder durch unsere Beharrlichkeit, verehrte Kollegen von der Opposition, den NATO-Doppelbeschluß durchzuhalten, nachdem wir drei Jahre ein Moratorium durchgehalFrau Dr. Hamm-Brücher
ten hatten, um zu versuchen, eine Stationierung zu verhindern.
({2})
Ich habe mir noch einmal das Protokoll der ersten Debatten zum NATO-Doppelbeschluß angesehen, besonders die Debattenbeiträge und das Abstimmungsverhalten der damaligen SPD-Abgeordneten. Da gab es zweimal außer einigen wenigen Enthaltungen immer eine Zustimmung der SPD zu dem Projekt des NATO-Doppelbeschlusses, wie er 1979 getroffen worden ist. Ich finde es eigentlich - wenn ich das einmal sagen darf - ein bißchen kleinkariert, wenn Sie jetzt nicht sagen: Das Durchhalten war richtig, statt dessen aber sagen: Das ist überhaupt nur dank Gorbatschow möglich geworden. Wollen Sie das nicht einmal lassen? Ich finde es Ihrer nicht so ganz würdig.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Frau Kollegin?
Immer gerne, Frau Matthäus.
Frau Hamm-Brücher, da auch ich die Diskussion hautnah miterlebt habe, wie manche in diesem Parlament: Sind Sie nicht bereit, zwischen dem NATO-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 und der Stationierung zu unterscheiden? Der Unterschied ist doch der, daß es einige gab, die sagten: Da war die Stationierung schon beschlossen, und andere, die sagten - das war der Inhalt - : Erst unter gewissen Konditionen wird stationiert, wir wollen dies nicht, weil die Konditionen nicht eingehalten sind?
Aber die Konditionen waren leider nicht eingehalten worden.
({0})
Die drei Jahre waren um, und es gab kein Verhandlungsergebnis.
Meine Bitte war sehr konkret: Können Sie mir nicht zustimmen, daß die Zustimmung zum NATO-Doppelbeschluß von vielen in diesem Hause, auch von mir, nicht eine automatische Zustimmung zur Stationierung bedeutete?
({0})
Sie interpretieren das so. Ich habe das so verstanden - so habe ich auch abgestimmt - , daß dann, wenn keine Ergebnisse vorliegen, stationiert wird.
({0})
So habe ich es verstanden. Vielleicht haben Sie es anders verstanden.
({1})
- Frau Matthäus-Maier, ich respektiere das. Ich habe es anders verstanden und die Mehrheit hier auch. Im Grunde sollten wir doch alle froh sein, daß jeder auf seine Weise dazu beigetragen hat, daß wir jetzt ein Abkommen haben, mit dem zum erstenmal in Europa wirkliche Abrüstung bei einem bedrohlichen Potential atomarer Waffen in Gang gekommen ist. Diesen Prozeß weiterzuführen ist aus außenpolitischer Sicht die Aufgabe bei den neuen Verhandlungen. Dank Gorbatschow - wir anerkennen das durchaus - ist ein Prozeß des Anhaltens, des Nachdenkens und des beginnenden Umdenkens auf beiden Seiten in Gang gekommen, dessen Bedeutung für eine dauerhafte Sicherung des Friedens in Europa heute vom Außenminister noch einmal unterstrichen wurde.
Herr Rühe, jetzt schaue ich einen Moment zu Ihnen. Sie haben die Extreme karikiert: die einen, die in Gorbatschows Politik ein gigantisches Täuschungsmanöver sehen - so haben Sie wohl gesagt -, und die anderen, die die Ergebnisse sozusagen schon vorwegnehmen. Für die Liberalen kann ich hier ganz deutlich feststellen:
({2})
Wir haben niemals zu den Entspannungseuphorikern gezählt.
({3})
Ich glaube, wir können uns durch die Jahrzehnte seit 1970 sehr wohl als Entspannungs-Realos bezeichnen, und das wollen wir auch bleiben.
({4})
Ich möchte, Herr Kollege Rühe, die Nuancen der Unterschiede - Herr Genscher als Außenminister hat sie sehr vornehm ausgedrückt - ein bißchen kollegialer und politischer sagen. Ich möchte Zögerer, Skeptiker oder Warner nicht gleich als kalte Krieger abstempeln. Das habe ich übrigens nie getan. Wohl möchte ich aber dringlich dafür werben, daß wir nicht verkennen dürfen, daß über diesen Wenns und Abers unser ureigenes Interesse an einem Erfolg dieses Prozesses gefährdet werden könnte. Ich glaube, wir müssen uns bewußt sein, daß wir keine neuen Hürden aufbauen dürfen. Denn wir haben genug zu tun, um die vorhandenen Hürden abzubauen. Und darin sind wir uns auch wieder einig.
Ich habe in diesem Zusammenhang noch eine Bitte an uns alle. Das ist mir heute in der Debatte deutlich geworden. Ich glaube, wir müssen mit dem Prozeß, das schwache und anfällige Pflänzchen Vertrauen aufzuziehen, sehr behutsam umgehen. Wir können nicht alles auf einmal fordern und Bedingungen so hoch schrauben, daß sie nicht erfüllt werden können, Aber, verehrte Kollegen von der Opposition, wir dürfen den Partner auch nicht unterfordern.
({5})
Vorleistungen, wie Sie sie jetzt wieder vorgeschlagen
haben, sind eine Unterforderung des Partners, nämlich der Sowjetunion und des Warschauer Paktes. Und
das könnte die für uns nötigen Ergebnisse allerdings gefährden.
({6})
Worauf kommt es uns als Entspannungs-Realos an? Den behutsamen, den umsichtigen, in der Zielsetzung aber klar orientierten Kurs unserer Außenpolitik
- Genscher hat die Stationen noch einmal gesagt -, der mit dem Harmel-Bericht vorgezeichnet wurde, der durch die Unterstützung des INF-Vertrags sicherheitspolitisch erstmals konkretisiert wurde, nun so nachdrücklich zu unterstützen, daß er in Zukunft erfolgreich fortgesetzt werden kann. Das ist ja auch das Ziel des Besuchs des Bundeskanzlers in Moskau, für den ich unserer Regierung im Namen der Fraktion die besten Wünsche für allerbesten Erfolg übermitteln möchte.
Die Dimension des Umdenkens möchte ich hier noch einmal kurz umreißen, denn aus der außenpolitischen Sicht scheint mir - jetzt spreche ich Sie, Herr Verteidigungsminister Scholz, doch einmal an - vieles, was ich heute an verteidigungspolitischen Begriffen und Zielen gehört habe, jedenfalls streckenweise darauf hinzudeuten, daß beide, die Außenpolitiker und die Verteidigungspolitiker, von ganz unterschiedlichen Dingen sprechen.
({7})
Wenn ich diese außenpolitischen Denkprozesse hier vortragen möchte und dann die doch mangelnde Akzeptanz und Umsetzung in das verteidigungspolitische Denken sehe, wünschte ich mir eigentlich mehr solche verbundenen Debatten, wie wir sie hier heute geführt haben.
Herr Bundesverteidigungsminister, es ist doch so
- so sehe ich es jedenfalls auf Grund meiner außenpolitischen Arbeit -, daß sich das Streben nach militärischer Überlegenheit durch die militärtechnische Entwicklung von selbst ad absurdum geführt hat.
({8})
Sicherheit kann doch gar nicht mehr errüstet werden! Die Fortsetzung des Rüstungswettlaufs würde sich als totes Rennen erweisen; sie hat sich ja schon weitgehend als solches erwiesen.
({9})
- Nein, er hat es nicht gefordert. Ich bin ja kein Verteidigungspolitiker und will hier auch keine Kontroverse aufbauen; ich will, Herr Kollege Hoyer, als Außenpolitiker einfach nur sagen, wie wir das Konzept formulieren, und das tue ich jetzt ja nicht aus der hohlen Hand, sondern ich formuliere das Konzept so, wie es in der Außenpolitik unserer Regierung angelegt ist und wie wir es hundertmal diskutiert haben.
Die zweite Einsicht - und ich bin sicher, Sie stimmen darin ja mit mir überein - : Ein atomarer Krieg kann nicht gewonnen werden. Seine Folgen wären für die Menschheit in jeder Hinsicht katastrophal. Demzufolge kann - das ist ja nur eine logische Folge - das sicherheitspolitische Konzept der gegenseitigen atomaren Abschreckung zwar ganz sicher seine Berechtigung gehabt haben und wird es auch noch eine Zeitlang seine Berechtigung haben, aber auf die Dauer muß doch dieses Konzept durch ein anderes ersetzt werden.
({10})
Das ist doch gerade der aufregende Prozeß, vor dem wir stehen.
({11})
Ich hoffe, daß das natürlich auch das Ziel der Verteidigungspolitiker ist
({12})
und daß ich das vielleicht nur falsch verstanden habe.
Der Außenminister formuliert das immer so, daß gemeinsame Sicherheit auf den Versuch verzichtet, die eigene Sicherheit auf der Unsicherheit des Gegners zu gründen.
({13}) Das ist doch eine richtige Wiederholung,
({14})
und es freut mich ja, wenn das bestätigt wird.
({15})
- Ist er nicht mehr da? - Doch. Gut, wenn wir in diesen Einsichten übereinstimmen, hat das umwälzende außen-, sicherheits- und militärpolitische Konsequenzen, und ein bißchen von jedem wird es da auf die Dauer nicht geben.
Etwas erschrocken war ich über die sicher sehr idealistische, aber doch beinahe fahrlässige Illusion, die die GRÜNEN hier von einem möglichen waffenfreien Europa oder einer völlig waffenfreien Welt vorgetragen haben. Meine Damen und Herren, die Erfahrung aus der Menschheitsgeschichte ist es eben - man mag ja sagen: leider - , daß es immer Konflikte zwischen Menschen, zwischen Völkern, zwischen Staaten geben wird, die nicht von vornherein gelöst werden können, ohne daß wenigstens die Bereitschaft zur Selbstverteidigung vorhanden ist. Davon gehen wir aus. Deshalb wollen wir Abrüstung im Bereich der Angriffswaffen, asymmetrische Abrüstung im konventionellen Bereich auf möglichst niedrigem Niveau.
Herr Rühe, ich möchte hier hervorheben, wie wichtig es ist, daß wir als Politiker im Parlament manchmal durch neues Denken und durch Vordenken mehr Anstöße geben, als die Regierungsvertreter es können. Damit helfen wir dem Konzept und haben auch unsere Aufgabe, die der Volksvertretung, besser erfüllt.
In der Welt von heute geht es darum, im Gespräch
zwischen West und Ost die internationalen BezieFrau Dr. Hamm-Brücher
hungen zu entfeinden. Es geht darum, im Gespräch die Fähigkeit zu erlangen, sich in die Lage des anderen zu versetzen, ihn selbst so besser zu verstehen und auch seine Sicht der Dinge zu erkennen. Kurzum, es geht darum, Feindbilder abzubauen
({16})
und sie zu ersetzen durch den Willen, den anderen ernstzunehmen in seinem Wollen, aber auch mit seinen Sorgen und seinen Problemen.
Das hat Außenminister Genscher letzte Woche in Oslo gesagt. Ich möchte das für die Fraktion ausdrücklich unterstreichen und aufnehmen.
Ein dritter Gedanke, und zwar ganz kurz.
Frau Kollegin, das geht Ihrem Kollegen an Zeit verloren.
Ich wollte nur sagen, daß dieses sicherheitspolitische und außenpolitische Denken - ({0})
- Ach so, Frau Kollegin. Kann sie noch eine Frage stellen?
Das geht dann alles dem Herrn Hoppe verloren. Das gilt nicht für die Zwischenfrage. Aber eigentlich ist Ihre Redezeit zu Ende.
Frau Kollegin Nickels, ich möchte Herrn Hoppe nicht die Redezeit wegnehmen.
({0})
- Das ist selbstverständlich, das ist nicht lieb.
Dann möchte ich jetzt wirklich zum Schluß sagen: Europäische Innenpolitik kann nur auf dem Wege des Bewußtwerdens der europäischen Identität in West und Ost gestärkt werden. Dazu gehören Kulturbeziehungen - Rühe hat darüber gesprochen -, die gemeinsame Lösung von Umweltproblemen und wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Zusammenarbeit. Dann wird sich dieser Weg als die friedenssichernde Kraft für die Zukunft unseres Kontinents erweisen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hauchler.
Frau Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Nach Ost und West, Raketen und allen sonstigen wichtigen Sachen wie üblich, zum Schluß und spät, aber dennoch, Nord-Süd-Politik.
Der Etat des Entwicklungshilfeministers, der Einzelplan 23, bleibt mit einer Steigerung um 3 % hinter dem Wachstum des Gesamthaushaltes zurück. Die Zusagen für künftige Jahre sinken sogar um 2 Milliarden DM. An diesem Haushalt erstaunt aber nicht so sehr, daß die Entwicklungspolitik in ihrem quantitativen Stellenwert hinter anderen Ressorts zurückbleibt; das ist nichts Neues. Bemerkenswert ist vielmehr, daß die Regierung unbeirrt an einer überholten Entwicklungsstrategie festhält, obwohl die immer schlechtere Lage der Dritten Welt zeigt, daß die bisherigen Konzepte weitgehend gescheitert und die globalen Aussichten für Entwicklung düster sind. Denken wir an die weltwirtschaftlichen Verwerfungen, die Bevölkerungsentwicklung und die Umweltgefahren.
Es erstaunt allerdings nicht, daß diese Regierung versucht, in der Entwicklungspolitik immer noch massive Eigeninteressen als gute Gaben zu verkaufen. Der Entwicklungshilfeminister - er erachtet es nicht einmal für wert, hier anwesend zu sein ({0})
betätigt sich förmlich als Verpackungskünstler - mitunter auch fauler Früchte.
Daß sich die propagandistische und ideologische Komponente der deutschen Entwicklungspolitik seit seinem Amtsantritt noch verstärkt hat, kann sich der Kollege Klein sicher persönlich an den Hut stecken. Die tiefe Kluft zwischen Schein und Sein, Form und Substanz, Wort und Tat, Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich besonders beim Schuldenerlaß, den Rückflüssen aus Entwicklungsländern und der Strukturhilfe.
Diese Bundesregierung rühmt sich, daß in den vergangenen Jahren 4,2 Milliarden DM an Forderungen gegenüber den Entwicklungsländern erlassen worden sind. Tatsächlich wurden 90 % dieser Summe noch unter der Regierung Schmidt gestrichen.
({1})
In den ganzen letzten sechs Jahren, in denen CDU/ CSU und FDP regieren, ist praktisch nichts passiert.
({2})
Das ist die Wahrheit. Sie schmücken sich also mit falschen Federn.
({3})
- Warten Sie doch einmal ab.
Diese Bundesregierung stellt groß heraus, daß sie nun gewillt ist - wir sind auch dafür -, weitere 3,3 Milliarden DM zu streichen. Sie verschweigt aber, daß diese Summe nicht mehr als 10 % der gesamten öffentlichen Forderungen an Entwicklungsländer entspricht und daß maximal 1 % dieser Forderungen heute und morgen tatsächlich kassiert werden können. Was als politische Großtat verkauft wird, ist praktisch eine buchhalterische Korrektur, wie sie in der Wirtschaft tagtäglich vorgenommen wird, wenn uneinbringliche Forderungen schlicht ausgebucht werden. Auch hier falsche Federn.
Die Bundesregierung verschleiert mit dem Tamtam, das sie um die öffentlichen Forderungen, die ja meist langfristig und ganz niedrig verzinslich sind, macht,
daß sie bisher keinerlei Initiative ergriffen hat, um das Hauptproblem der Schuldenkrise zu lösen: Das sind die meist kurzfristigen und hochverzinslichen Forderungen der Privatbanken.
Diese Bundesregierung brüstet sich auch damit, daß sie Rückflüsse aus Entwicklungsländern wieder für entwicklungspolitische Vorhaben einsetzen wird. Mit 120 Millionen DM sind für 1989 ganze 20 Millionen DM mehr an Rückflußverwendung veranschlagt als im Vorjahr. Diese 20 Millionen DM entsprechen 0,3 % des Einzelplans 23 und 1,4 % der Gesamtrückflüsse. Diese betragen zur Zeit ca. 1,4 Milliarden DM und werden weiter zum größten Teil vom Finanzminister kassiert. Wer angesichts von Not und Tod, explodierender Bevölkerung und wirtschaftlichem Niedergang in der Dritten Welt einen Tropfen auf den heißen Stein zur Wolke verdampfen läßt - kann man den zu Recht nicht als zynisch bezeichnen?
({4})
Diese Bundesregierung verteidigt nach wie vor, daß sie dieses und nächstes Jahr eine halbe Milliarde DM aus Projekten abzieht und als sogenannte allgemeine Waren- und Strukturhilfe für hochverschuldete Länder einsetzt, die unter dem konzertierten Druck der Industrieländer die von IWF und Weltbank verordneten Anpassungsprogramme durchführen. In der Regel tun sie dies nicht aus Einsicht und freiem Willen, sondern zähneknirschend werten sie ihre Währungen ab, streichen sie ihre öffentlichen Haushalte zusammen, öffnen sie ihre Märkte und dämpfen sie ihre Binnennachfrage. Die Bundesregierung unterstützt immer noch diese Auflagenpolitik, obwohl sie aus eigenen Studien der Weltbank wissen müßte: Für diese Programme deren wirtschaftlicher Erfolg völlig ungewiß ist, hungern zig Millionen Menschen, geraten junge Demokratien unter schweren Druck, werden immer mehr Ressourcen Regenwälder und Natur vernichtet.
Neben aller Kritik, die wir an der Nord-Süd-Politik der Bundesregierung zu üben haben, will ich fairerweise auch sagen: Ich bestreite nicht, daß die Bundesregierung gegenüber früher wenigstens einige Ansätze einer flexibleren Haltung in der Nord-Süd-Frage zeigt. So begrüßen wir, wenn über eine Verbesserung der Konditionen bei der Vergabe öffentlicher Mittel nachgedacht wird, wie der Kanzler heute sagte. Es bedeutet einen Schritt in die richtige Richtung, wenn der Anteil der Zuschüsse an der Entwicklungsfinanzierung erhöht und die Zinsen für Kredite gesenkt werden. Was die Bundesregierung an öffentlichen Schulden streicht, ist zwar wirklich nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und die Maßnahme kommt viel zu spät, aber im Prinzip wird hier ein Weg beschritten, den wir Sozialdemokraten begrüßen; sonst wären wir nicht schon vor zehn Jahren in diesem Punkt vorangegangen.
Schuldenstreichungen mit Umweltschutz in der Dritten Welt zu verknüpfen ist eine Überlegung, die weiterverfolgt und präzisiert werden sollte. Statt ökonomischer Auflagen, die verheerende soziale Opfer fordern, wären Konditionen, die sozialer Verantwortung gerecht werden, aber auch Abrüstung und Umweltschutz zum Ziel haben, sicher zu begrüßen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, kleine Schritte in die richtige Richtung können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bundesregierung die Nord-Süd-Frage immer noch nicht als Zukunftsfrage allerersten Ranges begriffen hat. Sie degradiert die Entwicklungspolitik nach wie vor in erster Linie zum Büttel der außen- und wirtschaftspolitischen Eigeninteressen und garniert das Ganze mit der traditionellen Almosenmoral von Konservativen.
({5})
Daß die Nord-Süd-Politik in den Koalitionsfraktionen dieses Hauses auf dem Nebengleis steht, hat allerdings nicht allein der Entwicklungsminister zu verantworten. Verantwortlich dafür ist auch der Finanzminister, der seine Beamten nach Krämerart um jede Mark feilschen läßt, wenn es darum geht, Zinsrückflüsse aus Afrika einzustreichen, statt sie dort neu und in Zukunft auch sinnvoller für Entwicklung einzusetzen.
({6})
Dafür sind auch der Landwirtschaftsminister und der Wirtschaftsminister verantwortlich, wenn der erstere für Agrarprotektionismus im Norden und der zweite gleichzeitig für die Öffnung der Märkte im Süden eintritt. Hier stimmt doch irgend etwas nicht.
({7})
- Wir fordern nicht immer Rücktritte, wir fordern von Ihnen endlich, daß Sie in diesen Fragen Einsicht zeigen, die wir nur gemeinsam lösen können.
({8})
Wir Sozialdemokraten setzen dieser Politik der Verniedlichung und Verdrängung des Nord-SüdKonflikts folgende Grundprinzipien der Nord-SüdPolitik entgegen.
Erstens. Nord-Süd-Politik darf nicht mehr als isoliertes Politikfeld verstanden werden und, entgegen entwicklungspolitischer Ziele, einseitig für eigene Interesse instrumentalisiert werden. Nord-Süd-Politik muß vielmehr eine Dimension der Gesamtpolitik werden - und somit integraler Bezugspunkt vor allem der Wirtschaftspolitik und der Umweltpolitik, also auch des eigenen Stils von Konsumieren und Produzieren in den Industrieländern. Mit anderen Worten: Nord-Süd-Politik muß im Sinne einer Querschnittsaufgabe von allen politischen Ressorts getragen werden.
({9})
Zweitens. Der Begriff von Entwicklung wurde bisher einseitig vom Norden geprägt und ist eindimensional auf die wirtschaftliche Perspektive fixiert. Darauf haben in jüngster Zeit die beiden Kirchen in eindrucksvollen Dokumenten hingewiesen. Bei uns selbst - wieviel mehr aber für andere Kontinente und Kulturen - gilt, daß ein ökonomisch und rationalistisch verengtes Verständnis von Entwicklung in Zukunft nicht weiterführt. Das historisch in Europa gewachsene Muster von Produktion, Arbeit und Leben darf den Ländern des Südens nicht länger als Exportgut oder Zwang aufgedrängt werden; diese müssen
selbst Wege einer sich selbst tragenden Entwicklung finden.
Drittens. Die negative Bilanz der Nord-Süd-Beziehungen in den vergangenen Jahren ist gleichermaßen von Ländern des Südens wie des Nordens zu verantworten.
({10})
Agrarfeudalismus, Kapitalflucht, eine erschreckend ungerechte Einkommensverteilung in vielen Entwicklungsländern verhindern eine Mobilisierung breiter sozialer politischer und wirtschaftlicher Energien.
({11})
Für das Verhalten oligarchischer Eliten und hemmender gesellschaftlicher Strukturen im Süden sind jedoch die Industrieländer mit verantwortlich.
({12})
Was unter dem Diktat des Nordens in 400 Jahren kolonialer Geschichte zerstört und deformiert wurde, läßt sich nicht in 20 oder 30 Jahren von den jungen Staaten des Südens korrigieren. Das ist unmöglich, das wissen wir doch alle.
({13})
Auch was heute die Vervielfachung der Realzinsen in wenigen Jahren, die tendenziell fallenden Rohstoffpreise, das Agrardumping und den Protektionismus angeht, so haben dies vor allem die großen Industrieländer - ihre Regierungen, Konzerne und Banken - zu vertreten. Die Last aber trifft voll die breite Bevölkerung in den Entwicklungsländern.
Entwicklungspolitik als eine Dimension der Gesamtpolitik und als Querschnittsaufgabe, Entwicklungspolitik nicht als Diktat, sondern als Angebot für eine eigenständige, sich selbst tragende Entwicklung des Südens und Entwicklungspolitik aus Mitverantwortung, die aus der Geschichte und der Wirtschaftsmacht der Industrieländer heraus zur Pflicht geworden, langfristig jedoch sehr wohl auch im eigenen Interesse ist, diese drei Leitgedanken werden wir Sozialdemokraten in der deutschen Nord-Süd-Politik in Zukunft durchsetzen.
({14})
Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten fordern die Bundesregierung auf, dieser Mitverantwortung stärker als bisher gerecht zu werden. Eine Chance hierzu bietet die Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank in Berlin. Sie findet erstmals auf deutschem Boden statt.
({15}) Die Welt wird auf Berlin schauen,
({16})
ob die Minister, Notenbankchefs und Banken aus über 150 Ländern der Welt endlich zu Vereinbarungen gelangen, die zu mehr führen als zu neuer Umschuldung von Umschuldungen, zu mehr als einer neuen schuldentreibenden Kapitalisierung unbezahlbarer Zinsen und einer neuen Auflage einer Auflagenpolitik, die ökonomisch fragwürdig, politisch zum Scheitern verurteilt und - das unterstreiche ich nachdrücklich - human und sozial verwerflich ist. Unschuldige und Schwache werden getroffen, die Reichen und eigentlich Verantwortlichen geschont.
Die Welt wird auch registrieren, welche Rolle der Gastgeber dieser Weltfinanzkonferenz spielen wird. Welche Initiativen wird die Bundesrepublik in Berlin ergreifen, welche Positionen vertreten? Wird sie sich im Lager der großen, reichen Industrieländer verschanzen oder Brücken bauen zum Süden? Wird sie abwiegeln, die Not im Süden verharmlosen, Mitverantwortung abwälzen oder Berlin als Chance sehen, um endlich den Beton verhärteter Strategien und gegenseitiger dogmatischer Argumentation aufzubrechen?
({17})
- Sie können das übrigens beweisen, Herr Bötsch, indem Sie wirklich darüber nachdenken, ob Sie nicht die Initiative der SPD-Bundestagsfraktion „Zukunftsprogramm Dritte Welt" mit übernehmen und auf diesem internationalen Forum einführen.
({18})
Wir haben gefordert - und wir tun es weiterhin -, 1 Milliarde DM aus Einsparungen im Verteidigungshaushalt für einen internationalen Fonds zur Verfügung zu stellen, der aus Mitteln der Abrüstung gebildet wird. Hier haben Sie eine Chance, wirklich deutlich zu machen, daß sie bereit sind, Initiative zu ergreifen.
Und: Wie wird man in Berlin mit den Kritikern der bisherigen Nord-Süd-Politik der Industrieländer umgehen? Wird, unweit der Mauer, ein Zeichen für offenen Dialog und Meinungsfreiheit gesetzt oder werden Polizeidenken und die Diffamierung von Kritikern dominieren?
({19})
Was der deutsche Entwicklungsminister, Herr Feilcke, vergangene Woche zur IWF-Tagung in Berlin äußerte, läßt wenig Gutes hoffen. Nachdem er im Frühjahr bereits entwicklungspolitischen Organisationen schon zugesagte Gelder gesperrt hat, entfachte er jetzt das Feuer neu. In einem Interview des „Deutschlandfunks" bestreitet er allen Ernstes eine wirtschaftliche Abhängigkeit des Südens vom Norden. Jenen aber, die eine solche Abhängigkeit unterstellen, wirft er nicht nur Neomarxismus und Dümmlichkeit vor, nein, er stellt sie in eine Reihe mit denen, die im Dritten Reich die Juden zum Feind gestempelt haben, also mit den Nazis. Ein unerhörtes Wort. Ich fordere den Minister auf: Nehmen Sie solche pauschalen Vorwürfe zurück. Er kann das ja auch im Protokoll nachlesen.
({20})
Wir dürfen nicht gewaltsam Gewalt aufschaukeln, wo nur neues Nachdenken, kritischer Dialog und konstruktives Handeln weiterhelfen. Wir Sozialdemokraten lehnen jegliche Form von Gewalt ab - das wissen Sie -, aber wir klagen auch das Recht auf freie Rede
und Versammlung ein, auch Ende September in Berlin.
({21})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch einmal in vier Punkten bekräftigen, welche Vorschläge wir Sozialdemokraten machen, um wirklich Fortschritte bei der Lösung der Verschuldungskrise zu erzielen.
Erstens. Um für hochverschuldete Entwicklungsländer wieder Bedingungen dauerhafter Entwicklung zu schaffen, muß der Schuldendienst strukturell gesenkt und in seiner Höhe an der inneren Leistungsfähigkeit und einem entwicklungspolitisch vertretbaren Volumen der Exporterlöse orientiert werden. Diese Senkung des Schuldendienstes muß von Land zu Land durch ein spezifisches Bündel von Maßnahmen erreicht werden. Da reicht kein Rundumschlag, wie DIE GRÜNEN das wollen; denn wenn man einen globalen Schuldenerlaß durchführte - mit der Gießkanne über alle ohne jegliche Kondition - , würde sich das Rad der Verschuldung neu und in Zukunft noch stärker drehen. Wir brauchen also spezifische Bündel von Maßnahmen pro Land.
({22})
- Ich sage Ihnen das gleich; warten Sie einmal ab.
Dazu gehört aber auch je nach Fall ein völliger oder teilweiser Verzicht auf öffentliche und private Forderungen. Dazu gehören langfristig stabile Zinsen auf niedrigem Niveau, das neue Investitionen begünstigt, und die Verlängerung von Rückzahlungsfristen.
Zweitens. Das seit nunmehr sechs Jahren betriebene Krisenmanagement hat zu keiner strukturellen Lösung geführt. Wir brauchen endlich einen verbindlichen politischen Rahmen für die Entschuldung, eine internationale Konvention, in der die allgemeinen Prinzipien und Formen der Entschuldung für Regierungen, Banken und internationale Institutionen verbindlich niedergelegt sind.
Nur so kann sichergestellt werden, daß es auf Grund gemeinsam anerkannter Prinzipien der Lastenverteilung und allgemeiner Regeln wirklich zu durchgreifenden und schnellen Entlastungen auch auf den privaten Kreditsektor, der das eigentliche Problem darstellt, kommt.
Wir Sozialdemokraten halten die Einberufung einer internationalen Schuldenkonferenz nach wie vor für einen notwendigen ersten Schritt, um endlich Sofortmaßnahmen einzuleiten und Grundzüge einer internationalen Schuldenkonvention zu beschließen.
({23})
Der Erfolg einer solchen Konferenz muß durch eine unbürokratische Form der Vorbereitung und durch eine begrenzte, aber repräsentative Auswahl aller betroffenen Länder, Institutionen und Banken sichergestellt werden. Wir wollen keine palavernde Mammutkonferenz, sie führt zu nichts. Die Schuldenkrise darf
aber auch kein Nebenthema auf IWF-Veranstaltungen und sogenannten Weltgipfeln werden und sie darf auch nicht als eine reine Finanzfrage an die privaten Banken delegiert werden, wie das bisher der Fall ist.
Die Schuldenkrise ist eine höchst politische Frage geworden und nur noch politisch zu lösen. Ziel einer internationalen Konvention ist auch die Schaffung verbindlicher Regeln für künftige internationale Insolvenzen und eine effektive internationale Kreditaufsicht. Nur so kann wirklich Vorsorge getroffen werden, daß nach einer Entschuldung nicht ein neues Rad der Überschuldung gedreht wird.
Drittens. Für die Schuldenkrise tragen sowohl Investoren und Banken, Schuldner und Gläubigerländer, durch ihre Programme und Konditionen, aber auch die internationalen Institutionen Mitverantwortung. Wer allerdings vorwiegend die internationalen Institutionen zu den bösen Buben des globalen Finanzsystems stempelt, sieht nicht, daß die eigentlich Verantwortlichen nicht in den oberen Etagen von IWF und Weltbank sitzen, sondern in den Regierungen, Zentral- und Privatbanken der großen Industrieländer.
({24})
Einer der größten Hauptaktionäre ist nun einmal neben den USA und Japan die Bundesrepublik. Hier muß die eigentliche Kritik und Selbstkritik ansetzen.
Die geringste Schuld trifft die breite Bevölkerung in den Entwicklungs- und in den Industrieländern. Die Lasten der Entschuldung dürfen also nicht einfach sozialisiert werden. Die privaten Banken müssen sich an der Übernahme der Lasten beteiligen. Fluchtkapital muß zurückgeführt werden. Wer sich auf Kosten des Volkes bereichert hat, muß enteignet werden.
({25})
Viertens. Eine strukturelle Lösung der Verschuldungskrise und die Vorsorge gegen ähnliche Entwicklungen in der Zukunft auf Grund neuer Kredite setzt neben finanzwirtschaftlichen Maßnahmen auch eine Reform der internationalen Wirtschaftsordnung voraus. Die Rahmenbedingungen für die Entwicklungsländer müssen verbessert und stabilisiert werden. Dies betrifft die Rohstoffpreise und den freien Marktzugang, den Abbau von Weltmarktmonopolen und ein entwicklungspolitisch verantwortliches Verhalten der großen Konzerne. Dies betrifft auch Zinsen und Wechselkurse. An die Stelle der Präferenz bisheriger Anpassungsprogramme für einseitig marktwirtschaftliche, vorwiegend auf weltwirtschaftliche Integration ausgerichtete Maßnahmen muß eine Differenzierung der Entwicklungsstrategie treten, die von Land zu Land, je nach technologischer Stufe, sozialkulturellen Bedingungen, Ressourcen, wirtschaftlichen und politischen Potentialen eine spezifische Lösung ermöglicht. Der Norden sollte endlich aufhören, im Süden ideologische Stellvertretergefechte um Markt, Eigentum und Staat zu führen, sondern dem Süden ein differenziertes Angebot an Know-how, Technologie und Kapital machen, das von Land zu Land unterschiedlich genutzt werden kann.
Dabei müßten wir übrigens inzwischen auch wissen, daß Geld nicht alle Probleme löst, daß Geld zwar oft eine notwendige, aber längst nicht hinreichende Bedingung darstellt. Neben den Strukturen ist der Mensch entscheidend, seine Energie, seine Fähigkeit und seine Chance, für die eigene Ernährung zu sorgen und die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des eigenen Landes mit voranzutreiben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke, die besondere Verantwortung der Bundesrepublik für wirkliche Fortschritte auf der Jahrestagung ist vielfach begründet. Sie hat in ihrer eigenen Geschichte dem Schuldenerlaß der Alliierten im Jahre 1953 viel zu verdanken. Sie gehört in den Kreis der größten Wirtschaftsmächte. Sie hat, vor allem im Verband mit den europäischen Partnern, eine wichtige Stimme in den internationalen Institutionen.
Ich hoffe, daß die Bundesrepublik dieser Verantwortung gerecht wird und als Gastgeber der Weltfinanzkonferenz in Berlin sich an die Spitze einer Bewegung setzt, die erkennt, daß Nord und Süd in einer Welt leben und so nur noch e i n Schicksal und e i n Recht haben können.
({26})
Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdem heute in unserer Haushaltsrunde Außen-, Abrüstungs- und Europapolitik so zentrale Themen waren, möchte ich doch noch ein Wort zur Deutschlandpolitik anfügen dürfen, weil durch die verbesserten Rahmenbedingungen auch die Chancen auf diesem Feld für uns besser geworden sind.
({0})
Unsere Deutschlandpolitik muß sich an dem messen lassen, was sie für die Menschen im geteilten Deutschland bewirken kann. Die beurteilen die Qualität der deutsch-deutschen Beziehungen an spürbaren, für sie persönlich erfahrbaren Erleichterungen.
So wurde die Verbesserung im Reiseverkehr nach dem Honecker-Besuch von einer großen Zahl der Bürger in beiden deutschen Staaten als Bereicherung ihres Lebens empfunden. Erfreulich ist auch die Entwicklung der Städtepartnerschaften; Positives läßt sich ebenso über die verstärkten Aktivitäten beim Kulturaustausch und bei den Sportbegegnungen sagen.
Und doch sind die kleinen und von der DDR nur mühsam vollzogenen Schritte nicht ausreichend. Wer wie Erich Honecker von „gut miteinander leben", „gut miteinander auskommen" spricht, muß hierfür bessere Voraussetzungen schaffen. Dazu gehört vor allem die Beseitigung der sogenannten Altlasten, die nach wie vor Schatten auf die deutsch-deutschen Beziehungen werfen.
Die in der Abgrenzungsphase 1980 von der DDR verfügte Erhöhung des Zwangsumtauschs ist immer noch nicht vom Tisch. Dies trifft die vor diesem Zeitraum vom Umtausch befreiten Rentner besonders hart.
Diese inhumane Maßnahme paßt wahrlich auch nicht zu der von der SED-Führung verkündeten Öffnung nach Westen, und sie fügt sich schon gar nicht in die Parolen des humanen Sozialismus ein.
({1})
Auch die vor längerer Zeit in Aussicht gestellte Herabsetzung des Reisealters ist längst überfällig. Statt dessen aber hat die DDR ab Juli 1987 durch Kürzung der D-Mark-Beträge für Reisewillige von 70 DM auf 15 DM zusätzliche Erschwernis geschaffen.
Zu den Altlasten gehört auch die Kontaktsperre. Die DDR spricht hier seit geraumer Zeit von Lockerungen. In der Praxis sieht es leider noch immer anders aus. Wenn die DDR aber ihre Ankündigung wahrmachen würde, könnte sie das Zusammenleben der Menschen in beiden deutschen Staaten sehr erleichtern. Man kann nur hoffen, daß die jüngsten Äußerungen von Generalsekretär Honecker auf der Leipziger Messe, nach denen jetzt auch in der DDR Zusammenarbeit statt Konfrontation angesagt ist, den Prozeß der Öffnung richtig in Gang bringen.
Ohne eine Verbesserung der Menschenrechtslage wird es keinen wirklichen Zuwachs an Lebensqualität für die Bürger in der DDR geben. Deshalb ist die DDR aufgefordert, ihr Wort vom neuen Herangehen an die Ost-West-Beziehungen durch Taten glaubwürdig zu machen. Sie muß endlich neu denken oder, um ein Wort des Politbüromitglieds Hager aufzunehmen, „neu tapezieren".
Unbefriedigend in der Deutschlandpolitik ist leider auch die Bilanz des Umweltschutzes. Die DDR tut sich schwer, die beim Honecker-Besuch abgeschlossene Umweltvereinbarung sowie die im Kommuniqué getroffenen Abreden mit Leben zu erfüllen. Maßnahmen zu einem wirkungsvollen Umweltschutz vor allem im Bereich der Luftreinhaltung und der Schadstoffreduzierung der Flüsse tut aber not.
({2})
Deshalb müssen aus den vertraglichen Absichtserklärungen endlich konkrete Projekte werden. Den Weg zu den notwendigen gemeinsamen umweltpolitischen Schritten darf die DDR dabei nicht durch politische Prestigeforderungen verbauen.
Meine Damen und Herren, die Last und der Widersinn der deutschen Teilung sind in Berlin besonders spürbar. Deshalb hat Deutschlandpolitik immer auch Politik für die Freiheit und Lebensfähigkeit Berlins zu sein. Berlin hat Anspruch auf die politische Solidarität in allen Lebensbereichen.
Nachhaltig begrüße ich die nunmehr beginnenden Verhandlungen mit der DDR über eine Eisenbahnverbindung Berlin-Hannover. Eine solche Verbindung wird mit dazu beitragen, die Attraktivität Berlins als Kultur- und Wirtschaftsstandort merklich zu verbessern.
({3})
Gleiches erhoffen wir von der Initiative der Drei Mächte zur Verbesserung des Luftverkehrs und zur Öffnung von beiden Teilen der Stadt zum internationalen Konferenzort. So könnten die Chancen Berlins,
die sich aus seiner geographischen Lage an der Schnittstelle zweier politischer Systeme ergeben, voll genutzt werden. Wir erwarten eine positive Reaktion der Sowjetunion spätestens beim Besuch des Bundeskanzlers in Moskau.
Aber, meine Damen und Herren, bei allem Handlungsbedarf in der Deutschlandpolitik sei daran erinnert, daß die allgemeine Haushaltslage nicht nach Einfallsreichtum für neue Ausgaben verlangt, sondern absolute Sparsamkeit fordert, und dies gilt für alle Einzelpläne. Die Alarmzeichen sind wahrlich nicht zu übersehen. Der Bundesfinanzminister ist vom kühlen Klaren aus dem Norden zum heißen Schuldenmacher in Bonn geworden.
({4})
Um den Ausrutscher dieses Jahres wieder zu konsolidieren, müssen nun dem Verbraucher bittere Steuerlasten auferlegt werden.
({5})
Darüber hinaus wird die Sicherung unseres Rentensystems auch nicht spurlos am Bundeshaushalt vorübergehen. Wir alle sind hier gefordert; denn das Vertrauen in eine gesicherte Altersversorgung verträgt keinen Zweifel und deshalb kein finanzielles Risiko. Vor allem aber darf das beschlossene Steuerentlastungspaket mit seinen finanziellen Konsequenzen für die 90er Jahre nicht schon jetzt aus den Augen, aus dem Sinn geraten.
Nein, Rückbesinnung auf den Wählerauftrag, Konsolidierung der Staatsfinanzen sind gefordert. Ohne solide Staatsfinanzen ist solide Politik unmöglich. Wenn wir das nicht endlich begreifen, kann aus dem Finkenschlag schnell ein Käuzchenruf werden. Für die Pflege von Egoismen und Gruppeninteressen ist kein Raum.
Meine Damen und Herren, es gab früher die griffige Formulierung: Die Roten können nicht mit Geld umgehen. Wenn wir allerdings so weitermachen wie in den letzten Wochen, dann sehe ich nicht mehr rot, sondern schwarz. Nutzen wir deshalb den Haushalt 1989 zur Selbstkritik, und formen wir ihn zu einem überzeugenden Instrument solider Politik.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zur entwicklungspolitischen Debatte zurückkehren, die wir vor dem gerade gehaltenen Beitrag schon begonnen hatten.
Die Bundesregierung brüstet sich im Vorfeld der Jahrestagung von IWF und Weltbank mit einigen haushaltspolitisch relevanten Maßnahmen, die sie vollzogen hat und die angeblich den Interessen der Drittweltländer nutzen. Ich möchte an drei Punkten nachweisen, daß der schöne Schein einer wirklichen Prüfung nicht standhalten kann, sondern daß diese Maßnahmen im Endeffekt für Drittweltländer unterm Strich sogar negativ sein werden.
Die Bundesrepublik hat, nachdem sie einigen der ärmsten Länder der Welt, vielen Staaten südlich der Sahara in Afrika, Schulden erlassen hat, nun auch anderen armen Ländern angeboten, Schulden zu streichen. Der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Herr Klein, hat sich dabei gegen Finanzminister Stoltenberg durchgesetzt, der selbst diese Streichung, die sich in sehr kleinem Rahmen bewegt, nicht zulassen wollte.
({0})
Herr Kohl mußte auf Intervention von Herrn Klein dann den Bundesfinanzminister abmahnen, daß dieser seine Androhung zurücknimmt, den Kabinettsbeschluß zum weiteren Schuldenerlaß zu kippen.
Als erstes Ergebnis dieses Vorkommnisses können wir festhalten, daß sich der Bundesfinanzminister auf jeden Fall mit allen Mitteln dagegen sperrt, daß die Drittweltländer irgendwelche finanziellen Erleichterungen bekommen. Dieser Finanzminister repräsentiert das Kalkül der Reichen, die auf ewig reich bleiben wollen. Die Frage ist nur, ob sich der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit nun durchgesetzt hat, weil er tatsächlich der Vorkämpfer der Interessen der Drittweltländer ist, oder welche Motive dahinterstehen.
Die Motive erschließen sich bei näherer Beobachtung. Die Beträge, die nämlich tatsächlich erlassen werden sollen, sind nichts anderes als Kleingeld. Auch Herr Klein hat angekündigt, daß weitere Beträge nicht gestundet werden sollen. Das politisch Entscheidende dabei scheint mir aber zu sein, daß diese Erlasse mit sehr harten politischen Auflagen verbunden sind.
Es wurde angekündigt, daß diese Erlasse nur dann gewährt werden können, wenn sich die Länder, die in den „Genuß" dieser Erlasse kommen, der Auflagenpolitik des Internationalen Währungsfonds und der Strukturanpassungspolitik der Weltbank unterwerfen.
({1})
Nur unter diesen harten Bedingungen soll dieser Schuldenerlaß ausgesprochen werden.
Dies ist eigentlich die effektivste Form, Drittweltländer zu erpressen. Mit einem Minimalbetrag, nämlich dem zur Streichung vorgesehenen Betrag, kann das Maximalergebnis erreicht werden, nämlich diese Drittweltländer in den Weltmarkt hineinzuzwingen, wo sie langfristig überhaupt nichts zu gewinnen haben.
({2})
Deshalb kommen wir zum zweiten Ergebnis dieser Operation. Die Form dieses Schuldenerlasses kommt nicht den armen Ländern zugute, denen sie angeblich zugute kommen sollen, sondern kommt den Industrieländern zugute, die über diesen erpresserischen Hebel noch sechs weitere Entwicklungsländer auf dem Weltmarkt vorfinden, wo sie diese ungehemmt ausbeuten können.
Herr Köhler, ich lasse die Zwischenfrage selbstverständlich zu. Ich möchte dazu nur noch ein Zitat bringen, um nachzuweisen, daß dies nicht nur meine Vermutung ist.
Der Präsident von Sambia, Kenneth Kaunda, hat sich kürzlich öffentlich über diese Form der Erpressung beschwert, indem er gesagt hat, dieses Schuldenerlaßangebot, das ihm gemacht würde, würde den politischen Druck auf ihn eher erhöhen, als daß es die Last von seinem Land nehmen würde.
Dr. Köhler, bitte.
Herr Kollege Volmer, würden Sie bereit sein, in der nächsten Woche den Finanzminister von Ghana, wenn er zum Nord-Süd-Forum hier in Bonn anwesend ist, zu fragen, wieviel Millionen DM er durch diesen Schuldenerlaß jährlich zur Verfügung hat, um Beschäftigungsprogramme für Arbeitslose in Ghana durchzuführen?
Herr Köhler, wir wissen von dem Erlaß für Ghana. Wir wissen auch, daß von Schuldenerlassen, wenn sie faktisch stattfinden, Erleichterungen ausgehen können. Aber in welcher Form diese Erleichterungen dann tatsächlich realisiert werden, ist eine völlig andere Frage. Wir wissen, daß durch Auflagenprogramme der Weltbank Arbeitsplätze in einer Größenordnung von 65 000 in Ghana wegrationalisiert werden und daß die Weltbank heute versucht, Staaten dazu zu bewegen, mit ihrer bilateralen Entwicklungshilfe diese von der Weltbank wegrationalisierten Arbeitsplätze zu kompensieren. Unsere Zahlen sagen, daß alle diese Kompensationsmaßnahmen, und zwar sowohl die multilateralen seitens der Weltbank als auch die in Aussicht gestellten bilateralen, nur zu einem positiven Arbeitsplatzeffekt von 40 000 führen. Das heißt: Die koordinierte und kollaborierte Politik von Weltbank - das ist eine Politik, die auch Sie politisch unterstützen - und bilateraler Entwicklungsarbeit führt zu einem arbeitsplatzbezogenen Negativsaldo in Ghana von 25 000 Arbeitsplätzen. Dies sind die Zahlen.
({0})
Die Gelder, auf die verzichtet wird, Herr Köhler, nämlich in Ghana und auch in den anderen Ländern, sind ohnehin nicht einbringbar. Das heißt, Sie vollziehen hier technisch-juristisch nur eine Wirklichkeit nach, die sich realwirtschaftlich schon längst durchgesetzt hat. Solange Sie solche Forderungen nicht einstellen, solange Sie solche Schulden nicht streichen, haben Sie auch nicht die Chance, Neuzusagen zu geben. Und dies ist ein weiterer Grund dafür, daß Schulden gestrichen werden sollten. Sie haben in einer Antwort auf eine Große Anfrage von uns zugegeben, daß 1987 z. B. Zusagen nach Liberia und Peru nicht abfließen konnten, weil diese Länder mit ihrer Tilgung in Verzug geraten waren. Das heißt: Wenn Sie nicht streichen, bleiben Neuzusagen in der „Pipeline" stecken, und dies ist für das internationale Ansehen der bundesdeutschen Entwicklungshilfe sehr schlecht.
({1})
Deshalb halte ich als drittes Ergebnis dieser Operation fest: Dieser Erlaß erfolgt nicht aus Solidarität mit den Armen und Ärmsten, sondern aus Eigeninteresse
des BMZ und der Bundesregierung, die es sich international nicht leisten können, daß das Quantum ihrer Entwicklungshilfe sinkt, weil Neuzusagen wegen irgendwelcher Altschulden nicht abfließen können.
Wir fordern die Bundesregierung in diesem Zusammenhang auf, daß sämtliche Schulden, daß alle Schulden aus Entwicklungshilfeleistungen, aus der Kapitalhilfe gestrichen werden. Und wir fordern die Bundesregierung auf, auf sämtliche Rückzahlungen aus Hermes-Exportbürgschaften ebenfalls zu verzichten.
({2})
Der zweite Komplex: Das BMZ hat angekündigt, die Bedingungen der Kapitalhilfe zu verbessern. Auch hier blockiert der Finanzminister, obwohl dies im nächsten Jahr Einbußen für den Bundeshaushalt höchstens in Höhe von 2 Millionen DM bedeuten würde. Erst im nächsten Jahrtausend wären die Einbußen etwa in einer Höhe von 200 Millionen DM - also halbwegs nennenswert - zu veranschlagen. Auch hier müssen wir festhalten: Der Finanzminister sträubt sich gegen jede auch noch so kleine Verbesserung.
Aber auch hier ist der Vorstoß von Minister Klein, wenn man ihn genau abklopft, längst nicht so positiv zu interpretieren, wie er auf den ersten Blick erscheint. Denn heute bekommen z. B. diejenigen armen Entwicklungsländer, die nicht Zuschüsse, sondern immer noch Kredite erhalten, diese Kredite zu MSAC-Bedingungen, also zu den Bedingungen für die am meisten betroffenen Länder. Die Bundesregierung hat angekündigt, alle Kredite der Kapitalhilfe nun zu IDA-Bedingungen zu geben. Die MSAC-Bedingungen haben aber einen Schenkungsanteil von 83 %, während die IDA-Kredite nur einen Schenkungsanteil von 80 % haben. Das heißt: Für die ärmsten Länder, für die Länder, denen es am schlechtesten geht, die aber nach wie vor nur Kredite statt Zuschüsse bekommen, bedeutet dies eine - wenn auch nur geringfügige, so doch deutlich wahrnehmbare - Verschlechterung.
Eine Verbesserung ist diese Maßnahme vor allem für die reicheren Schwellenländer, die heute die normalen Konditionen erhalten. Solche Länder, z. B. Indonesien, sind bisher in den zweifelhaften Genuß von mischfinanzierten Krediten gekommen, also von Krediten, bei denen Mittel der Kapitalhilfe mit kommerziellen privaten Mitteln zusammengemischt werden.
Nun gibt es einen Beschluß der OECD, daß der Schenkungsanteil bei mischfinanzierten Krediten, die auf die offizielle Entwicklungshilfeleistung eines Landes angerechnet werden sollen, erhöht werden muß, um überhaupt noch anerkannt werden zu können. Um nun aber überhaupt noch Mischfinanzierungskredite, die anerkannt werden, geben zu können, bleibt der Bundesregierung deshalb nichts anderes übrig, als den Schenkungsanteil der hineingemischten Kapitalhilfe dadurch zu erhöhen, daß die finanziellen Konditionen auf IDA-Standard herabgesetzt werden. Positiv ist das lediglich für die Schwellenländer, die mischfinanzierte Kredite erhalten sollen. Es ist aber sehr nachteilig für die ärmsten Länder, die ohnehin nie mischfinanzierte Kredite bekamen, weil sie nämlich gar nicht in der Lage sind, diese gro6204
ßen, von bundesdeutschen Konzernen exportierten Investitionsgüter überhaupt zu absorbieren.
Daher - zu dem Schluß komme ich - ist dieses scheinbar fortschrittliche Element, nämlich die Zahlungskonditionen an IDA anzupassen, nichts anderes als ein Manöver, um die Entwicklungshilfe weiterhin in großem Umfang für die Exportförderung bundesdeutscher Konzerne mißbrauchen zu können. Ohne diese geringfügige Senkung wäre es nicht mehr möglich, die Mischfinanzierung, die nachweislich den deutschen Exportinteressen dient, weiter zu betreiben.
Damit solch ein Mißbrauch für alle Zukunft ausgeschlossen wird, fordern die GRÜNEN, aile weitere Kapitalhilfe, das heißt jede weitere Entwicklungshilfezahlung, aus der Bundesrepublik nur noch als Zuschuß zu vergeben.
Ich komme zum dritten Punkt.
({3})
- Der Schluß wird für Sie sehr peinlich, Herr Bötsch!
Der Kanzler hat sich in Toronto als der Retter der Regenwälder verkauft. Wir haben gesagt: Wir werden den Kanzler beim Wort nehmen. Nun gibt es die Gelegenheit für ihn und auch den Bundesminister Klein, zu beweisen, wie ernst sie es mit dieser Ankündigung meinen.
Zur Zeit wird zwischen der Weltbank und Brasilien über den zweiten Energiesektorkredit mit dem Volumen von 500 Millionen US-Dollar verhandelt. Dieses Energieprogramm, das die Exportstruktur Brasiliens verbessern soll, damit das Land die Auslandsschulden zurückzahlen kann, wird verheerende Auswirkungen haben. Das „Regenwälder Zentrum e. V. " schreibt dazu:
Die im brasilianischen Energieprogramm vorgesehenen Stauseen zusammen würden 26 000 Quadratkilometer überfluten und „Ökosysteme beeinträchtigen, die bisher fast ohne menschlichen Einfluß geblieben sind und große biologische Diversität haben". Projekte, die schon begonnen sind, werden 56 000 Menschen verdrängen. Alle im Plano 2010 vorgesehenen Projekte zusammen verdrängen etwa eine halbe Million Menschen. Die Wasserkraftwerke werden durch bis zu 2 600 Kilometer lange Überlandleitungen mit den Wirtschaftszentren verbunden. Die Auswirkungen der Wasserkraftwerke werden weit über die Dämme hinausgehen. Schon fertiggestellte Projekte zeigen, daß durch die Bauarbeiten, Straßen etc. eine große Einwanderungswelle in entlegene Regenwaldgebiete ausgelöst wird, verbunden mit kurzfristiger Brandrodung und Viehfarmen.
Der zweite Energiesektorkredit der Weltbank für Brasilien steht kurz nach der Jahrestagung in Berlin zur Verabschiedung an. Seine Bewilligung würde den Tod des Amazonasgebiets besiegeln.
Wir werden dazu einen Antrag einbringen. Aber wir fordern die Bundesregierung schon jetzt auf: Verweigern Sie die Zustimmung! Sie können über Ihre Politik
diesen Kredit zu Fall bringen. Die Art der Entscheidung wird ausschlaggebend dafür sein, wie glaubwürdig sie in internationalen Umweltfragen sein werden.
({4})
Wenn Herr Klein zustimmt, werden seine und die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung und des Kanzlers in dieser Frage ein für allemal verspielt sein.
({5})
Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Ich frage mich, ob man mit diesem Minister Klein überhaupt noch vernünftig reden kann. Er hat im Stil Geißiers - Herr Hauchler wies soeben schon darauf hin - eine Äußerung getan, die an diffamierender Bösartigkeit kaum noch zu überbieten ist.
Um die Gegner der IWF- und Weltbankpolitik zu diffamieren, zog er, wie es schon mancher Unionschrist zuvor getan hat, den Vergleich mit den Nazis herbei. Was er wörtlich sagte, will ich Ihnen aus Zeitgründen hier ersparen. Sie können es nachlesen im Protokoll der Deutschlandfunk-Sitzung vom 31. August in der Sendung fünf nach sechs. Der Minister hat uns, die Mitglieder der IWF-Weltbankkampagne, mit Nazis verglichen, die „mit der gleichen Giftigkeit und menschenverachtenden Aggressivität" die Weltbank und den IWF politisch angreifen, wie irgendwann einmal in einer „schrecklichen Weise im Dritten Reich die Juden" verfolgt wurden.
({6}) So etwas sagte der Minister wörtlich.
Er setzt uns, die Kritiker seiner Politik - denn Weltbank und IWF sind nicht, wie der Minister sagt, UNO-Institutionen, sondern UNO-Sonderinstitutionen, die nicht nach UNO-Bedingungen funktionieren, sondern wo die reichen Industrieländer eindeutig die Verfügungsgewalt haben -, mit den Nazis gleich. Der industrielle Massenmord an einem Volk wird gleichgesetzt mit der Kritik an einer Regierung, wird gleichgesetzt mit der Kritik an einer Regierungspolitik, die massenhafte Verelendung und Tod nach sich zieht. Ich sage nicht, daß dies beabsichtigt ist, aber die Folgen sind verheerend. Sich selbst setzt der Minister damit gleich mit den verfolgten und ausgerotteten Juden, die aufs grausamste vernichtet wurden.
Was kann man dazu eigentlich noch sagen? Diesem Minister ist jeglicher Maßstab abhanden gekommen.
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Die Vernichtung des jüdischen Volkes wird verharmlosend auf eine Stufe gesetzt mit regierungskritischen Aktionen. Beides ist für Klein offensichtlich gleichermaßen verbrecherisch oder gleichermaßen berechtigt; denn fundamentale Kritik an der Regierung muß doch wohl erlaubt sein. Mehr noch: Sie ist bei dieser Regierung geradezu geboten.
Lassen Sie mich Ihnen jetzt noch kurz sagen, wen alles er mit den Nazis vergleicht. Das sind nicht nur die GRÜNEN und die Jusos, es sind viele kirchennahe Gruppen, z. B. auch die „Aktion Sühnezeichen", die unsere Kampagne mittragen und die es sich zur Aufgabe gesetzt haben, gerade Wiedergutmachung am
jüdischen Volk zu leisten und möglichst Versöhnungsprozesse einzuleiten. Ich finde, Sie sollten diesem Minister intern einmal sehr, sehr genau Bescheid sagen, was Sie von seinen Meinungen halten. Wir jedenfalls, die er auf diese Art und Weise bezichtigt hat, werden in Berlin die Gelegenheit wahrnehmen, unseren Protest, unseren Widerstand und unsere Alternativkonzeption zur herrschenden Weltwirtschaftsordnung deutlich zu machen und diesem Minister die politische Quittung zu geben, die er für seine dumme Bösartigkeit benötigt.
Danke.
({8})
Weitere Wortmeldungen für die heutige Sitzung liegen nicht vor.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 8. September 1988, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.