Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, ich rufe den Punkt 24 sowie den Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform im Gesundheitswesen ({0})
- Drucksache 11/2237 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({1}) Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO Innenausschuß
Finanzausschuß
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Reichsversicherungsordnung
- Drucksache 11/280 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Innenausschuß
c) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes
- Drucksache 11/1623 Überweisungsvorschlag des Ältestensrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Innenausschuß
d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einordnung der Vorschriften über die Meldepflichten des Arbeitgebers in der Kranken- und Rentenversicherung sowie im Arbeitsförderungsrecht und über den Einzug des Gesamtsozialversicherungsbeitrags in das Vierte
Buch Sozialgesetzbuch - Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung -- Drucksache 11/2221 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({4}) Ausschuß für Wirtschaft
Innenausschuß
Finanzausschuß
ZP 5 Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Unruh und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Finanzierung einer besseren Pflege ({5})
- Drucksache 11/1790 ({6}) Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({7})
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, für die gemeinsame Beratung vier Stunden vorzusehen. Kein Widerspruch? - Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes lösen die Koalitionsfraktionen die Koalitionsvereinbarung und die Ankündigung in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers vom 18. März 1987 ein,
({0})
eine Strukturreform im Gesundheitswesen unverzüglich einzuleiten. Wir halten, was wir versprechen.
({1})
Die Koalition hat sich auf einem schwierigen Feld als handlungs- und entscheidungsfähig erwiesen.
({2})
Wer auf Verzögern oder gar auf Scheitern setzt, hat sich verkalkuliert.
Dies ist ein Rettungsversuch in letzter Minute. Während Rentenversicherung 1957, Unfallversicherung 1963 und Arbeitslosenversicherung 1969 schon eine Reform erfahren haben, blieben alle Versuche, die Krankenversicherung zu reformieren, stecken. Um so größer ist der Reformdruck heute. Das ist auch jedem bewußt, denn niemand bestreitet die Unausweichlichkeit der Reform. Jeder sagt, es muß etwas geschehen, aber keiner will selbst Opfer bringen.
Vorschläge gibt es in Hülle und Fülle, aber meistens sind sie nach dem Sankt-Florians-Prinzip an andere gerichtet. Alle reden. Wir müssen handeln für die Versicherten, für die Patienten,
({3})
für die Beibehaltung unseres freiheitlichen Gesundheitssystems. Wir reden nicht, wir handeln gegen Widerstände, Geschmacklosigkeiten und Unwahrheiten. Es scheint ja nichts mehr heilig zu sein; selbst die Wartezimmer werden zur Agitation mißbraucht. Arzneimittelhersteller schüren die Angst von Versicherten, um sie vor den Karren ihrer Geschäftsinteressen zu spannen.
Ist unsere Gesellschaft noch reformfähig oder befindet sich der Staat in der Gefangenschaft von Gruppenegoismen und Besitzstandswahrung? Diese Frage muß auch am Beispiel der Krankenversicherungsreform beantwortet werden.
({4})
Über unsere Reformvorschläge kann und muß gestritten werden. Aber wer die Angst vor dem Tod einsetzt, um seine Interessen durchzusetzen, hat keine Argumente. Deshalb zurück zur Sache. Um was geht es? Was wollen wir?
Unsere gute alte Krankenversicherung steht vor dem Zusammenbruch. Unsere gute alte Krankenversicherung muß vor Ausbeutung und Mißbrauch geschützt werden. Wir brauchen das Geld für die wirklich Kranken. Während von 1960 bis 1987 die Löhne und Gehälter um das Fünffache stiegen, fand im Gesundheitswesen im gleichen Zeitraum eine Kostenexplosion statt. Die Ausgaben der Krankenversicherung stiegen um fast das Vierzehnfache. Kluge Leute haben ausgerechnet, daß in hundert Jahren, wenn sich nichts ändern würde, das gesamte Sozialprodukt von der gesetzlichen Krankenversicherung aufgezehrt würde. Sie sehen, wie irrational es wäre, einfach weiterzumachen und nicht eine Wende herbeizuführen.
Zu den einzelnen Bereichen: Allein für Arzneimittel stiegen die Ausgaben von 4,2 Milliarden DM im Jahre 1970 auf 18,9 Milliarden DM im Jahre 1987.
({5})
Glaubt jemand, weil wir fünfmal mehr für Arzneimittel ausgeben, geht es unserer Gesundheit fünfmal besser?
Für die zahnärztliche Behandlung gab die Krankenkasse 1970 2,5 Millarden DM aus, 17 Jahre später 13,6 Milliarden DM; mehr als fünfmal soviel.
({6})
Für das Krankenhaus 1970 6 Milliarden DM, 1987 39,3 Milliarden DM; eine Steigerung um mehr als das Sechsfache in 17 Jahren. Glaubt jemand, die Gesundheit ist sechsmal besser als vor 17 Jahren?
Für Heil- und Hilfsmittel 1970 700 Millionen DM, 1987 7,8 Milliarden DM; eine Steigerung um mehr als das Zehnfache in 17 Jahren.
({7})
- Rufen Sie nicht ständig dazwischen; sonst frage ich, wer von 1970 bis 1982 regiert und nichts gemacht hat.
({8})
1984 lag der Beitrag bei 11,4 %. Hätten wir damals angesichts einer optimalen gesundheitlichen Versorgung die Beiträge festgeschrieben, hätten wir 14 Milliarden DM an Beitragssteigerungen gespart. 14 Milliarden DM sind aber genau der Betrag, den wir jetzt einsparen müssen. 1984 nur einen Beitragsstopp, dann hätten wir es uns jetzt ersparen können, 14 Milliarden DM zu sparen. Wer jetzt nicht spart, wird in drei Jahren nicht 14 Milliarden DM sparen müssen, sondern 30 oder 40 Milliarden DM. Und 14 Milliarden DM zu sparen fallen uns schon schwer. Deshalb: Dies ist der Rettungsversuch in letzter Minute.
({9})
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, mehr Geld bedeute mehr Gesundheit. Die Gleichung „Je teurer, desto besser" stimmt nicht; Gesundheit ist nicht lediglich Geldsache. Der Aberglaube „Mehr Geld - mehr Gesundheit" erlaubt den Anbietern jedes Geschäft und schützt die Kranken und Fleißigen nicht vor den Cleveren, die die Krankenversicherung ohne Rücksicht darauf ausnutzen, daß sie schließlich von denen bezahlt wird, die Tag für Tag zur Arbeit gehen und die Krankenversicherung mit ihren Beiträgen treu und brav unterhalten. Der kleine Handwerksmeister kann die hohen Beiträge nicht mehr zahlen. Er stellt Arbeitnehmer nicht ein, sondern entläßt sie. Deshalb ist die Krankenversicherungsreform auch ein Beitrag für die Arbeitslosen, für ihre Chance, wieder Arbeit zu finden, für den Mittelstand, für die Versicherten, für den Patienten.
({10})
Wir sparen nicht für den Staat, wir sparen nicht für Millionäre, wir sparen für die, die in der Krankenversicherung Mitglieder sind. Keine Mark von dem, was wir sparen, geht den Beteiligten verloren.
({11})
Alles, was wir machen, bleibt in der Krankenversicherung; keine Mark geht verloren: Entweder kommt es den Versicherten als Beitragssenkung zugute oder wird für neue, notwendige Leistungen ausgegeben, beispielswiese für die Pflege von Schwerpflegebedürftigen, für die Vorsorge. Keine Mark geht verloren, sondern das Geld wird für neue Notwendigkeiten, die bisher nicht berücksichtigt wurden, die bisher vorgessen waren, oder für Beitragssenkungen ausgegeben.
Wir brauchen, meine Damen und Herren, ein neues Gleichgewicht zwischen Solidarität und Eigenverantwortung.
({12})
Wenn die Eigenverantwortung verkümmert, wird die Solidarität überfordert. Wer von der Krankenversicherung alles verlangt, was gesundheitlich wünschbar ist, der entzieht ihr das Geld, um den wirklich Kranken zu helfen. Gesundheit ist auch - nicht nur - das Ergebnis eigener Anstrengungen. Der Krankenschein kann nicht der allgemeine Zahlungsschein für jeden Gesundheitswunsch sein. Sonst müßten wir ja noch gesunde Ernährung auf Krankenschein finanzieren, müßten wir noch Reformhäuser finanzieren. Nein, er kann nur dazu da sein, über die Solidarbeiträge den Kranken zu helfen, nicht aber für alles, was gesundheitspolitisch erwünscht ist, die Finanzierung zu liefern.
Dem, der krank ist, muß mit allen Mitteln geholfen werden, die notwendig und möglich sind. Aber die Krankenversicherung ist nicht für jede Bagatelle und jeden Luxus zuständig. Und vor allen Dingen: Sie darf den Preisforderungen von Produzenten und Anbietern nicht wehrlos ausgesetzt werden. Wenn die Krankenversicherung z. B. jeden - jeden! - Arzneimittelpreis bezahlt, ja, warum sollten dann nicht Höchstpreise verlangt werden?
Deshalb: Wir müssen die Grenzen der Solidarität neu bestimmen und auf manches, was vor 100 Jahren unerläßlich war, heute verzichten, damit wir neue Notwendigkeiten abdecken können.
({13})
So verzichten wir schweren Herzens auf das Sterbegeld, allerdings mit einer langfristigen Übergangsregelung.
({14})
Die Solidarität, die wir für die Kranken brauchen, muß durch Eigenverantwortung der Versicherten und durch Wettbewerb unter den Anbietern unterstützt werden.
Das Kernstück der Reform - das wichtigste der neuen Strukturelemente unserer erneuerten Krankenversicherung - sind die Festbeträge.
({15})
Wir verbinden damit den Schutz der Solidarität mit dem notwendigen Druck des Wettbewerbs. Das Notwendige wird voll bezahlt. Deshalb allen Versicherten: Niemand braucht Angst zu haben, das, was er braucht, werde die Krankenversicherung nicht mehr bezahlen. Der Festbetrag deckt das Notwendige ab: bei den Arzneimitteln, bei den Heil- und Hilfsmitteln.
({16})
Und das Wichtigste: Dort, wo Festbetrag eingeführt
ist, fallen die bisherigen Zuzahlungen weg. Abkassiermodell? Es fallen mehr als 700 Millionen DM an
Zuzahlungen für Versicherte weg. Das unterschlägt die SPD mit ihrem dummen Wort vom Abkassieren.
({17})
Es fallen also Zuzahlungen weg. Und, meine Damen und Herren, wie merkwürdig: Wenn der Versicherte spart, ja, dann verlieren auch die Anbieter Einnahmen. Man kann doch nicht Versicherte und Anbieter auseinandernehmen. Der Festbetrag - um das noch einmal zu sagen - verlangt von den Patienten keine Zuzahlung, aber er löst einen Wettbewerbs- und Preisdruck auf die Anbieter aus.
({18})
- Das hätten Sie vor allen Dingen nötig, damit Sie endlich Ihre dumme Propaganda gegen dieses fortschrittliche Gesetz einstellen.
({19})
Der Festbetrag ist originell, aber das Prinzip ist nicht neu.
({20})
Der Festbetrag konkretisiert nur das Wirtschaftlichkeitsgebot, das schon immer in unserer Reichsversicherungsordnung verankert war. Dort heißt es: „Die Krankenpflege muß ausreichend und zweckmäßig sein; sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten." Das war bereits das Gebot unserer Reichsversicherungsordnung. Nur hat sich niemand an das Maß gehalten,
({21})
und deshalb machen wir eigentlich nichts anderes als das, was immer Sinn der Sozialversicherung war, jetzt handhabbar zu machen.
Warum - so frage ich noch einmal - soll die Krankenkasse, wenn das eine Medikament 7,50 DM, das andere 39,40 DM kostet und in beiden der gleiche Wirkstoff ist, gleich gut, das teuerste Medikament bezahlen und damit Geld verlieren, das sie für andere wichtige Sachen braucht?
Es sind Zweifel geäußert worden, ob der Arzneimittelbereich einen ausreichenden Betrag zum Sparen in der Krankenversicherung leistet. Die SPD versteigt sich da in die Behauptung, er sei gänzlich ausgeklammert. Die Pharmaindustrie, die Apotheker sehen das anders. Die Pharmaindustrie rechnet sogar mit einem Betrag von 3,4 Milliarden DM;
({22})
das ist weit, weit übertrieben. Aber wir erwarten allein durch den Festbetrag bei Arzneimitteln eine Entlastung der Krankenkasse von 2 Milliarden DM, wozu die Arzneimittelhersteller rund 1 Milliarde DM - allerdings schrittweise - beitragen. Im ersten Jahr werden die Arzneimittelhersteller, so haben wir geschätzt, rund 400 Millionen DM von den erwarteten 1 Milliarde DM aufbringen. Zur zeitlichen Überbrükkung bis zum Sparziel verlangen wir einen Solidarbeitrag. Das hat nichts mit neuen Strukturen in der
gesetzlichen Krankenversicherung zu tun, sondern das ist nur ein Überbrückungsbeitrag. So war das von Anfang an gedacht. Wenn die Arzneimittelhersteller allerdings schätzen, schon im ersten Schritt würden 2,5 Milliarden DM eingespart, dann würde der Druck auf den Solidaritätsbeitrag wegfallen. Dann wären wir über das Sparziel hinaus.
Wir können das auch durch die Praxis entscheiden lassen. Wir bleiben bei unserer Schätzung. Ich will hinzufügen: Die Pharmahersteller haben noch ein dickes Polster zum Sparen, bevor überhaupt Forschung in Gefahr kommt. Wenn ich sehe, daß sie für diese Sammlung von Unwahrheiten allein in einer Zeitung 500 000 DM ausgeben - das ist eine Sammlung von Unwahrheiten -, dann muß ich sagen: Da scheint noch viel Geld bei der Pharmaindustrie zum Sparen vorhanden zu sein.
({23})
Von den Apothekern erwarten wir zusätzlich zu den Gesetzgebungsverfahren bei der Überprüfung der Arzneimittelpreisverordnung, die nichts mit diesem Gesetz zu tun hat, einen weiteren Beitrag zur Entlastung der Krankenversicherung. Alle - jetzt wende ich mich an Ärzte, Zahnärzte, Apotheker, Arzneimittelhersteller, Versicherte - leben von unserer Krankenversicherung,
({24})
und deshalb müssen alle helfen, damit die Krankenversicherung überlebt. Die Hilfe kann nicht mit Worten geschehen; jeder muß seinen Beitrag leisten.
({25})
Wir geben der Eigenverantwortung eine neue Chance. Das ist sozusagen auch die Grundlage unserer Sozialpolitik, die Solidarität mit Mitverantwortung zu entlasten. Eigenverantwortung und Solidarität sind doch keine Gegensätze. Eigenverantwortung schwächt die Solidarität nicht, sondern stärkt sie, weil sie die Solidarität vor Überforderung schützt. Wer durch Eigenverantwortung für seine Zukunft im Maße seiner Möglichkeiten die Solidarkasse schont, der sollte auch von der Solidarkasse belohnt werden. Deshalb wird derjenige, der durch regelmäßige Zahnvorsorge für seine Zahngesundheit sorgt, im Bedarfsfall des Zahnersatzes einen höheren Zuschuß als der von seiner Krankenversicherung erhalten, der es nicht getan hat.
({26})
Sie sehen auch an diesem Beispiel: Eigenverantwortung und Solidarität müssen sich wechselseitig stützen. Wir schlagen zum erstenmal eine Brücke von der Eigenverantwortung zur Solidarität, indem die Solidarität Eigenverantwortung auch belohnt.
Ganz vorsichtig und um Erfahrungen mit neuen Modellen zu sammeln, erproben wir ein Rückvergütungssystem. Der Versicherte soll eine Beitragsrückgewährung bis zu einem Monatsbeitrag im Jahr bekommen, wenn er seine Krankenkasse geschont hat. Auf diesem Wege wollen wir einen Anreiz für mehr Kosteninteresse der Versicherten und für Mitverantwortung aller für unsere Krankenversicherung schaffen. Wer seine Pflichten als Beitragszahler Tag für Tag
mit seinen Beiträgen treu erfüllt, wer diese Krankenversicherung finanziert und nicht wegen jeder Kleinigkeit die Krankenversicherung in Anspruch nimmt, wer auch einmal fragt, ob denn jede Leistung, z. B. noch eine zweite Röntgenaufnahme, notwendig ist, der sollte für diese Mitverantwortung und für das Interesse einen finanziellen Anreiz erhalten. Denn alle Appelle - ich sage es auch selbstkritisch - waren in die Luft geschrieben. Wir brauchen für die Appelle ein Instrument.
Im Zahnbereich hat sich seit 15 Jahren eine unheilvolle Entwicklung Bahn gebrochen. Wir geben zuviel für Zahnersatz und zuwenig für Zahnerhaltung aus. Mit anderen Worten: Wir sind zu schnell beim Zahnersatz und nicht lange genug bei der Zahnbehandlung. Der Beweis dafür ist, daß in früheren Zeiten für Zahnersatz nur halb soviel ausgegeben wurde wie für Zahnbehandlung. Heute sind die Ausgaben in beiden Bereichen gleich hoch.
Deshalb führen wir beim Zahnersatz eine Zuschußleistung ein, die zunächst auf 50 % begrenzt ist. Die Selbstverwaltung wird die Möglichkeit erhalten, die Zuschüsse nach oben wie nach unten zu differenzieren. So sollen beispielsweise 60 % bei einem einfachen, 50 % bei einem mittleren und 40 % bei einem aufwendigen Zahnersatz gezahlt werden. Je aufwendiger also der Zahnersatz ist, desto niedriger soll der Zuschuß sein. Bei regelmäßiger Zahnvorsorge zahlt die Krankenkasse noch einmal 15 % dazu.
Herr Abgeordneter Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?
Bitte.
Herr Kollege, ich möchte Sie fragen: Wieviel Kleinkredite werden aufgenommen, weil in Zukunft der Versicherte 50 % zum Zahnersatz zuzahlen muß?
Da wir eine Härteklausel haben und die sozial Schwachen überhaupt nichts zuzahlen müssen, entfällt der Sinn Ihrer Frage.
({0})
Ich komme noch einmal auf die Härteklausel zurück.
Die Fahrtkosten sind aus dem Ruder gelaufen; auch das ist ein weiter Bereich. Mancherorts ist der Krankenschein zum Freifahrtschein für den öffentlichen Nahverkehr geworden.
({1})
- Wenn Sie das bezweifeln, nenne ich Ihnen einige Zahlen: 1970 haben wir 184 Millionen DM für die Transporte ausgegeben; das ist 17 Jahre her. Inzwischen geben wir 1,6 Milliarden DM aus. 1970 gab es weniger öffentlichen Nahverkehr und weniger Pkw. Es wird doch wohl niemand sagen, die Steigerung von 184 Millionen auf 1,6 Milliarden DM sei gesundheitspolitisch notwendig. Nein, hier sind Mitnahmeeffekte, die auf Kosten der Gelder gehen, die wir für die Kranken brauchen.
({2})
Ich bin ja gerade nach der Härtefallregelung gefragt worden. Wir nehmen soziale Rücksicht. Der Gesetzentwurf sieht zwei Härtefallregelungen vor. Bei Zahnersatz, Fahrtkosten und stationären Kuren entfällt jede Zuzahlung. Bei einem Bruttoeinkommen von 1 232 DM für Alleinstehende, von 1 694 DM für Versicherte mit Ehepartner, von 2 000 DM für Verheiratete mit einem Kind und von unter 2 300 DM für Verheiratete mit zwei Kindern entfällt eine Zuzahlung.
Auch die Überforderungsklausel ist ganz neu. Niemand soll unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, also unterhalb eines Monatsgehaltes von 4 500 DM, mehr als 2 % seines Bruttoeinkommens für Zuzahlungen aufwenden müssen. Ich will auch das in Zahlen sagen. Ein Arbeitnehmer mit einem durchschnittlichen Einkommen von 2 300 DM - das ist der Durchschnittsverdienst - muß, wenn alles zusammenkommt, als Alleinstehender im Monat 64 DM und als Verheirateter mit zwei Kindern höchstens 42 DM zuzahlen.
({3})
Kinder unter 18 Jahren sind mit Ausnahme von Zahnersatz und Fahrtkosten generell befreit.
Meine Damen und Herren, unser Gesundheitssystem kennt nicht nur Verschwendung und Mißbrauch, sondern auch Mangel und Unterversorgung. Deshalb brauchen wir ein neues Gleichgewicht. Wir müssen Überversorgung, Verschwendung und Mißbrauch abbauen, um Unterversorgung und Mangel beseitigen zu können. Da appelliere ich wieder an die Erfahrungen vieler Mitbürger. Die können die Frage beantworten, ob es Verschwendung gibt. Jeder kennt sie, die Tabletten, die vom Arzt verschrieben, von der Apotheke verkauft, von der Krankenkasse bezahlt und von den Patienten in den Mülleimer geworfen werden. Die kennt jeder. Das ist Verschwendung, die wir mit dem Krankenschein nicht auch noch finanzieren können.
({4})
Und jeder kennt das Krankenhaus, in dem Patienten zu lange liegen, weil leere Betten unwirtschaftlich sind. Weil der Nachfolgepatient noch nicht da ist, bleiben in manchen Krankenhäusern die Patienten länger liegen, als es der Gesundheit not tut. Jeder weiß von überflüssigen Labor- und Röntgenuntersuchungen, die zunächst in der ambulanten Praxis gemacht werden und später im Krankenhaus wiederholt werden, die doppelt und doppelt bezahlt werden. Jeder kennt die Massagen, die auf Krankenschein genommen werden, obwohl sie nur den Saunaaufenthalt verschönern. Jeder kennt sie.
({5}) Jeder kennt sie, die Heil- und Hilfsmittel,
({6})
deren Herstellung 5 DM kostet, für die die Krankenversicherung aber 50 DM bezahlt. Dieser Verschwendung sagen wir mit diesem Gesetzentwurf den Kampf an, weil wir das Geld besser anlegen wollen, besser anlegen wollen für die, die der Hilfe bedürfen.
({7})
Auch wenn Zahnärzte, Apotheker, Ärzte, Pharmahersteller Opfer bringen müssen: Das Opfer ist leichter als die bisher nicht gewährte Hilfe für Pflegebedürftige. Bessser das Geld ausgegeben für Pflegebedürftige, die zu Hause rund um die Uhr gepflegt werden. Damit wird manches Opfer gerechtfertigt. Das schafft mir auch das gute Gewissen, daß wir Opfer verlangen können, um anderen Notleidenden, Hilfebedürftigen nun endlich einmal helfen zu können, und zwar nicht mit Worten, endlich einmal mit Taten.
({8})
630 000 Schwer- und Schwerstpflegebedürftige werden zu Hause gepflegt - rund um die Uhr. Von diesen stillen Samaritern im Lande redet niemand. Die machen auch keine Protestveranstaltung, die verteilen keine Flugblätter. Aber wir handeln nicht auf Proteste, wir handeln auf Grund von Notwendigkeiten.
({9})
Deshalb: Diesen Stillen im Lande, denen wird zum ersten Mal mit unserem Gesetzentwurf geholfen. Über 6 Milliarden DM geben wir dafür aus,
({10})
fast die Hälfte des Sparprogramms. Die Mutter, der Vater, die ihre Kinder pflegen, die Kinder, die ihre Eltern pflegen, die Oma, die den Opa pflegt - rund um die Uhr - : endlich werden sie nicht alleingelassen,
({11})
endlich nehmen wir das Geld, das wir durch Opfer eingespart haben, um den Hilfsbedürftigen zu helfen. - Ja, ich weiß, daß Ihnen das weh tut. Sie haben jahrelang darüber geredet.
({12})
Wir handeln. Das ist Sozialpolitik mit Herz, nicht die Sozialpolitik der Sprüche.
({13})
- Nein, jetzt stelle ich das im Zusammenhang dar.
Herr Dreßler, bevor Sie Ihr Abkassiermodell wiederholen: Schämen Sie sich vor jenen alten Leuten, die endlich einmal Hilfe bekommen, schämen Sie sich vor der Mutter, die endlich einmal vier Wochen Urlaub machen kann,
({14})
wenn Sie sagen, es wäre ein Abkassiermodell. Ja, doch, da wird einmal abgerechnet. Zum erstenmal kann die Mutter,
({15})
die rund um die Uhr pflegt, vier Wochen Urlaub machen,
({16})
kann sie einmal aufatmen und bekommt dafür eine Ersatzperson. - Doch, Urlaub zum erstenmal von der Krankenversicherung!
({17})
Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe.
Ja, ich bekenne: Das ist keine Sozialpolitik aus Ideologie, das ist keine Sozialpolitik aus den Lehrbüchern, das ist Sozialpolitik mit Herz, und dazu stehen wir.
({0})
Vier Wochen Urlaub und ab 1991 entweder eine tägliche Sachleistung oder 400 DM Geldleistung. Dafür sparen wir auch für die Beitragszahler, für den kleinen mittelständischen Handwerker, für den Arbeitnehmer und für die Pflegebedürftigen.
({1})
Das ist der Sinn dieser Reform.
Zu den Neuerungen dieser Reform gehört auch, daß wir die sozialpädiatrischen Zentren zum ersten Mal mit einem eigenen Leistungskatalog versehen. Damit räumen wir den behinderten Kindern nun tatsächlich auch in der Krankenversicherung eine eigene Stelle ein, in der ihnen auf besondere Weise geholfen werden kann.
Lassen Sie mich auch zur Wirtschaftlichkeit etwas sagen. Jedes Unternehmen muß sehen, daß seine Gelder sinnvoll verwendet werden. Auch die Krankenversicherung hat keine Mark zu verschenken. Ein Beitrag zur Rationalisierung des Krankenversicherungssystems ist die Erhöhung der Transparenz. Die Krankenversicherung ist heute weitgehend eine Dunkelkammer. Rund eine Milliarde Krankenscheine, Rezepte, Krankenhausrechnungen und ähnliche Belege müssen die Kassen gegenwärtig sozusagen im Handbetrieb prüfen. Das ist so, als würde man in Zeiten, in denen die Deutsche Bundesbahn Weltrekord fährt, den öffentlichen Personenverkehr mit der Kutsche betreiben.
Nein, wir wollen auch die Krankenversicherungen auf die Höhe einer Informatikgesellschaft bringen. Die Datentechnik soll sinnvoll ausgenutzt werden. Es werden gar keine neuen Daten beschafft - von wegen „gläserner Patient" . Alle Daten sind da, wir brauchen sie nur sinnvoll auszunutzen. Sie sollen nicht im Keller vermodern.
({2})
Wenn Kassen und Ärzte ihre Daten zusammenführen, entsteht dadurch doch nicht der gläserne Patient, sondern es entsteht - wie ich zugebe - eine bessere Überwachung und Kontrolle. Jeder Handwerksmeister, jeder Schreiner, der ein Produkt liefert, muß den Kunden sagen, wofür er sein Geld verlangt.
({3})
Warum kann die Krankenversicherung nicht verlangen, was bei ihr abgerechnet wird? Was ist daran unschamhaftig?
„Gläserner Patient" - die private Krankenversicherung hat seit eh und je Kenntnis über das, was abgerechnet wird.
({4})
Auch bei der Beihilfe ist es so. Nur wenn wir unsere Krankenversicherung jetzt einmal in die Lage versetzen wollen, die Kosten besser überwachen zu können, schreit alles: „Gläserner Patient" ! Das ist ein Vorwand, eine Vogelscheuche, damit weiterhin im Dunkeln gemunkelt werden kann,
({5}) und mit diesem Dunkel ist es jetzt zu Ende.
Meine Damen und Herren, ich sage nicht - damit auch das klar ist - , daß alle Anbieter unter Mißbrauchsverdacht stehen. Daß es aber Mißbrauch gibt, wird doch wohl niemand abstreiten, und es sind leider Gottes keine Einzelfälle mehr. Allein 6 000 Verfahren laufen derzeit wegen Abrechnungsbetrügereien.
Im übrigen will ich noch einmal sagen: Jeder Anbieter der sich verantwortungsvoll verhält, muß die Überwachung doch auch nicht fürchten. Der Patient erhält nach dem Gesetz ebenfalls ein Recht, daß ihm die Krankenkasse Auskunft gibt, was für ihn abgerechnet wird.
Der sozialmedizinische Dienst tritt an die Stelle des alten Vertrauensarztes, von dem wir wissen, daß er bei der Rentenversicherung bei der falschen Stelle angesiedelt war. Er wird damit auch effektiver als eine Instanz, die die Qualität unserer Krankenversicherungen erhöhen soll.
Auch das Krankenhaus muß sich den wirtschaftlichen Überlegungen stellen. Es darf kein toter Winkel unserer Sparmaßnahmen sein. Wir sind noch nicht am Ziel,
({6})
aber nach dem Krankenhausneuordnungsgesetz 1984 und der Bundespflegesatzverordnung 1985 folgen jetzt weitere Schritte. Die Krankenkasse .erhält ein Kündigungsrecht gegenüber unwirtschaftlichen und überflüssigen Krankenhäusern, das freilich an die Zustimmung der Landesbehörden gebunden bleibt.
({7})
- Lieber Herr Dreßler und meine Damen und Herren von der Opposition, wenn Sie sich doch ein bißchen beruhigen wollten! Sie können ja sagen, wir machten im Krankenhaus zuwenig. Den Vorwurf ließe ich mir gefallen. Wir machen aber immerhin noch mehr, als Sie in 13 Jahren im Krankenhaus gemacht haben, viel, viel mehr.
({8})
Wer selber kaum etwas zustande gebracht hat, soll sich hier nicht als Lehrmeister aufspielen.
({9})
Ambulante und stationäre Versorgung werden besser miteinander verzahnt, Leerlauf und Doppeluntersuchungen sollen vermieden werden. Preisvergleichslisten gibt es auch für das Krankenhaus. Der tagesgleiche, voll pauschalierte Pflegesatz hat ausgedient. Auch die Zeiten eines falschverstandenen Selbstkostendeckungs-Prinzips gehen zu Ende.
Die Krankenversicherung der Rentner - ein weiteres Thema - bleibt Bestandteil der Krankenversicherung. Wir sind aber der Auffassung, daß für Erwerbstätige und für Rentner künftig der gleiche Beitragssatz gelten soll. Der Beitragssatz aus der Rente soll daher an den durchschnittlichen allgemeinen Beitragssatz der Krankenversicherung angeglichen werden. Alt und jung sitzen in einem Boot. Wenn die Beiträge in der Krankenversicherung steigen, steigen sie dann auch für die Rentner; wenn sie sinken, sinken sie dann auch für die Rentner. Damit ist zum erstenmal auch das Interesse der Rentner an guten Beiträgen hergestellt. Alt und jung sitzen in einem Boot.
Im übrigen: Vorschlägen, die Rentner auszugliedern, widersprechen wir. Es braucht sich niemand übervorteilt zu fühlen. Die Alten waren auch einmal jung, haben auch einmal mehr gezahlt als die damals Alten, und die Jungen werden auch einmal alt. Insofern gibt es da einen ganz gerechten Ausgleich innerhalb eines Lebenslaufes. Deshalb werden wir uns allen Versuchen widersetzen, die Rentner anders zu behandeln oder gar schlechter zu behandeln. Sie werden mit den Jungen gleichbehandelt. Das ist unsere Philosophie.
({10})
Weitere Reformschritte müssen und werden diesem Gesetz folgen. Wir machen einen wichtigen, großen Schritt. Damit sind wir nicht schon am Ziel und können nicht die Hände in den Schoß legen. Ich sage ausdrücklich, daß weitere Schritte in der Organisationsreform folgen müssen. Erste legen wir hier vor. Wir beseitigen den alten Unterschied zwischen Arbeitern und Angestellten, der die Arbeiter diskriminiert hat, weil sie in ihrer Wahlfreiheit anders behandelt wurden. Das ist ein Zopf aus dem 19. Jahrhundert.
({11})
Wir schaffen Ausgleichsmechanismen; das ist ein wichtiger Beitrag. Für das Krankenhaus werden wir aus dem Bericht, den wir noch in diesem Jahr dem Parlament zuleiten werden, Konsequenzen ziehen. Ich finde es auch ganz sinnvoll, daß man erst einmal die Erfahrungen mit vorhandenen Gesetzen auswertet - sie sind noch nicht so alt - , um dann neue Schritte vorzunehmen.
({12})
Wir brauchen Kapazitätsbegrenzungen bei den Ärzten; denn wir haben Jahr für Jahr 12 500 Medizinstudenten. In den Vereinigten Staaten mit vierfach so
hoher Bevölkerungszahl gibt es 17 500 Medizinstudenten. Hier bestehen auch Grenzen für eine qualitativ befriedigende Ausbildung. Der kranke Mensch, der Gegenstand der Ausbildung ist, ist Gott sei Dank nicht beliebig vermehrbar. Deshalb muß es Grenzen der Ausbildung geben. Hier sind die Länder in der Pflicht. Deshalb richte ich von dieser Stelle aus den ausdrücklichen Appell an die Länder, ebenso wie der Bund, ihrer Pflicht gerecht zu werden, unsere Krankenversicherung zu retten, und nun die Kapazitätsverordnungen vorzulegen.
({13})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?
Bitte.
Herr Minister, reden Sie damit einer Bedürfnisprüfung bei der Anzahl der Ärzte das Wort?
Nein, ich rede nicht einer Bedürfnisprüfung das Wort, sondern man sollte zur Ausbildung nicht mehr zulassen, als verantwortlicherweise zur Ausbildung zugelassen werden können. Das hat mit einer Bedürfnisprüfung überhaupt nichts zu tun.
Für den öffentlichen Dienst werden wir im Beihilferecht parallele Umstellungen zustande bringen. Denn es muß auch Gerechtigkeit in dem Sinne gelten, daß das Opfer nicht nur von den Krankenversicherten gefordert wird, sondern analoge Umstellungen auch im öffentlichen Dienst notwendig sind.
({0})
- Soll ich es wiederholen? Opfer, damit wir endlich den Pflegebedürftigen helfen und die Vorsorge ausbauen können!
({1})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Ich möchte das jetzt im Zusammenhang vortragen.
Das Reformkonzept der Koalition ist in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert worden. Daß es kritisiert wurde, überrascht mich nicht.
({0})
- In Ihrer Regierungszeit konnten Reformvorschläge nie diskutiert werden, weil Sie keine hatten. Wenn nichts da ist, kann auch nichts diskutiert werden. Null kann man nicht diskutieren.
({1})
Ich bin nicht überrascht, daß Kritik von allen Seiten kommt. Dies bestätigt, daß wir kein einseitiges Konzept haben. In zahlreichen Gesprächen haben wir sachliche Einwände zur Gesundheitsreform mit den
Betroffenen diskutiert. Sie haben auch Eingang in die Erarbeitung dieses Gesetzentwurfes gefunden.
({2})
- Polemik ist nicht das Mittel, unseren Gesetzentwurf zu verändern. Aber für sachliche Argumente werden wir immer offenstehen.
({3})
- Ich komme gerade zur SPD, haben Sie bitte etwas Geduld! Die SPD präsentiert jetzt einen schönen Aufsatz zur Reform der Krankenversicherung und bezeichnet ihn als „Entwurf " . Kein einziger handhabbarer Paragraph, nur heiße Luft, und das nennen Sie einen Entwurf zur Krankenversicherungsreform!
({4})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Jetzt nicht.
Grundsätzlich nicht mehr oder von Fall zu Fall?
Jetzt will ich einmal das Verhalten der SPD im Zusammenhang darstellen. Diesen Zusammenhang brauche ich schon.
Da braucht man nicht sehr viele Worte, das läßt sich alles zusammenführen. Im Grunde will die SPD einen neuen Gesundheitssowjet. In jedem Land soll es neue Planungsbehörden geben.
({0})
Das ist die ganze Phantasie der SPD. Wenn die SPD aufgerufen wird, sie soll sich etwas Neues einfallen lassen, was fällt ihr dann ein? Eine neue Bürokratie. Planung auf allen Stufen - das ist der ganze Einfallsreichtum der SPD. Neue Planstellen für Funktionäre, hin zur Einheitsversicherung - das ist Ihre alte Forderung.
({1})
Wer nichts anderes anzubieten hat als alte Ladenhüter und wessen Vorschläge nur zur Einheitsversicherung führen, der soll sich aus der Zukunft der Krankenversicherung verabschieden; er hat dazu nichts beigetragen.
({2})
Und wer uns vorwirft ({3})
ich bin noch nicht fertig - , bei den Versicherten abzukassieren, und wer zugleich selbst - wie Sie es durch angesehene Mitglieder Ihrer Fraktion, wie Hermann Rappe, tun - die Pharmaindustrie vor Reformen schützen will, der sollte erst einmal für Ordnung in
den eigenen Reihen sorgen, bevor er uns Vorwürfe macht.
({4})
Das haben wir gern!
Dieses Reformkonzept ist kein Kostendämpfungsgesetz, das mit der Notbremse von Zwangsmaßnahmen arbeitet. Wir erneuern Strukturen, wir nehmen eine Neubestimmung der Solidaritätsgrenzen vor.
({5})
Ich nenne weiter: Festbeträge für Arznei-, Heil- und Hilfsmittel, Ausbau der Vorsorge, regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen - auch Ausbau der Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern bis zum Schulalter -, Vorsorgeuntersuchungen nicht nur auf Krebs konzentriert, sondern umfassende Vorsorgeuntersuchungen, von der Krankenkasse finanziert, Betonung der Eigenverantwortung, Hilfe für Pflegebedürftige - über 6 Milliarden DM, fast die Hälfte, werden wir dafür ausgeben -,
({6})
Kostenerstattung beim Zahnersatz - damit leisten wir auch einen Beitrag dazu, daß die Kosten wirklich bekannt werden - , Beitragsrückgewähr, neue Wirtschaftlichkeitsüberprüfung, mehr Transparenz, sozialmedizinischer Dienst.
Nach 100 Jahren punktueller gesetzgeberischer Eingriffe in die Krankenversicherung schaffen wir zum erstenmal eine Kodifizierung des Krankenversicherungsrechts. Die ständigen punktuellen Änderungen in der Krankenversicherung haben das Recht nur noch für Profis lesbar gemacht. Wir fassen das Recht der Krankenversicherung im Fünften Buch des Sozialgesetzbuchs zusammen. Damit erhält die Idee eines Sozialgesetzbuchs, über das die SPD ja jahrelang philosophiert hat, zum erstenmal einen materiellrechtlichen Inhalt. Erstmals wird soziales Leistungsrecht in das Sozialgesetzbuch hineingenommen. Das Krankenversicherungsrecht wird dadurch für die Versicherten - für sie ist es ja gedacht - lesbar. Das ist ein vertrauenschaffender Beitrag für den Sozialstaat.
Das Recht muß von den Bürgern verstanden werden. Das Zutrauen zum Sozialstaat hängt nicht nur von der Höhe der Leistung ab, die er gewährt, sondern auch von der Durchschaubarkeit dessen, das er anbietet. Deshalb ist dies ein wichtiger reformerischer Eindruck für den Versicherten, auch für den Handwerksmeister; der hat keinen Sozialrechtsberater, der ihm jeden Paragraphen erklären kann. Er muß das auf einen Blick erkennen können, und dafür schaffen wir jetzt die Voraussetzungen mit der Vereinheitlichung der Kodifizierung unserer Krankenversicherung.
An eine Reform - das sage ich voller Selbstbewußtsein, meine Damen und Herren - , wie wir sie vorhaben, hat sich in den letzten 20 Jahren niemand herangetraut. Und selbst wenn der Lobbyismus in der GeDr. Blüm
stalt eines Goliaths anträte - wir gehen vor Lobbyisten nicht in die Knie!
({7})
Das Notwendige muß durchgesetzt werden. Das Gemeinwohl braucht eine Chance, wenn wir nicht in der Unregierbarkeit landen wollen. Meinungsbefragungen und Populismus sind kein Ratgeber für Mut, aber Mut ist gefordert bei dieser Reform. Den wünsche ich uns allen für den Rest des schweren Weges.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In seiner Regierungserklärung vom 18. März 1987 hat der amtierende Bundeskanzler angekündigt:
Wir brauchen ... eine Generalüberholung der sozialen Krankenversicherung mit dem Ziel erhöhter Wirtschaftlichkeit bei vertretbaren Beitragssätzen. Eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen wird unverzüglich eingeleitet.
Meine Damen und Herren, mit dem, was uns die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP heute als Gesetzentwurf andienen, soll bei den Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck erweckt werden, die Ankündigung von Herrn Kohl in seiner Regierungserklärung werde erfüllt.
Mit seinem sattsam bekannten Wortschwall versucht insbesondere der Bundesarbeitsminister, der Öffentlichkeit einzureden, dies sei die versprochene Gesundheitsreform. Für die SPD-Fraktion stelle ich fest: Das, was wir heute in erster Lesung beraten, hat mit einer Gesundheitsreform nichts, aber auch gar nichts zu tun.
({0})
Das, was wir heute debattieren, ist vielmehr eine Fortsetzung der Politik der gnadenlosen Umverteilung von unten nach oben.
({1})
Was wir heute beraten, ist ein reines Abkassierungsmodell zu Lasten der Versicherten, zu Lasten der Kranken und zu Lasten der Patienten.
({2})
Da sagt dieser Arbeitsminister hier, das sei Politik mit Herz. Wissen Sie, was das ist, Herr Blüm? Sozialpolitik aus dem Geldbeutel der kleinen Leute. Das ist das, was Sie hier betreiben.
({3})
Wenn die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP das heute zur Beratung anstehende Abkassierungsgesetz als ersten Schritt zu einer Strukturreform im Gesundheitswesen ausgeben, so betreiben sie Etikettenschwindel. Ja, sie betreiben eine bewußte Täuschung der Öffentlichkeit. Ziel ist, von den eigentlichen unsozialen Auswirkungen ihres Vorhabens abzulenken.
Diskussion und Wortwahl im Regierungslager im Zusammenhang mit diesem Gesetzesvorhaben sind in den vergangenen Wochen und Monaten auf erstaunliche Weise verschoben worden. War noch in der Regierungserklärung des Bundeskanzlers die „sachgemäße, die qualitativ hochwertige und finanzierbare Versorgung der Patienten" Ziel einer Gesundheitsreform, so wird heute vor allen Dingen von der Senkung angeblich zu hoher Lohnnebenkosten gesprochen. Nicht mehr die sachgerechte Versorgung der Patienten bei stabilen Beitragssätzen steht im Vordergrund, sondern die Senkung der Ausgaben der Betriebe für die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger. Das ist etwas ganz anderes.
({4})
Sie wollen die Unternehmer entlasten und die kranken Arbeitnehmer belasten, Herr Blüm. Das ist die Quintessenz.
({5})
Ihr Abkassierungsmodell im Gesundheitswesen fügt sich nahtlos an Ihre unsoziale Steuerreform an.
({6})
Den Kleinen wird genommen und den Großen wird gegeben.
({7})
- Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, ein guter Ratschlag, weil Sie sich so aufregen:
({8})
Laufen Sie bitte schnell zum nächsten Arzt. Lassen Sie sich noch einmal das Beruhigungsmittel Valium verschreiben. Das wird nämlich auch gestrichen.
({9})
Senkung der Lohnnebenkosten: Das zeigt, wie Sie über das, was sich mit diesem Begriff verbindet, denken. „Lohnnebenkosten", das meinen Sie doch abwertend. Sie verstehen darunter doch überflüssigen Ballast, den es abzuwerfen gelte. So ist das von Ihnen doch gemeint.
({10})
Als sich der Bundestag im vergangenen September zum erstenmal mit diesen Plänen beschäftigte, hat Herr Blüm - wie üblich - das Blaue vom Himmel versprochen. Ausgewogen sollte das Gesetz werden. Die Lasten sollten gleichmäßig auf Patienten und Kranke einerseits und auf Ärzte, Zähnärzte und Pharma-Industrie andererseits verteilt werden. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat von
dieser Stelle aus sein Wort gegeben, vor den mächtigen Interessengruppen der Anbieter im Gesundheitswesen nicht in die Knie zu gehen. Und wie sieht das heute aus?
({11}) Sie, Herr Blüm, haben Ihr Wort gebrochen.
({12})
Herr Blüm, Sie sind in die Knie gegangen vor Verbänden der Ärzte, der Zahnärzte und vor allen Dingen vor der pharmazeutischen Industrie.
({13})
Von Ausgewogenheit keine Spur.
Das beste Beispiel ist der von Ihnen angekündigte Solidarbeitrag der pharmazeutischen Industrie. Sie haben Ihr Wort gegeben, daß es ein Gesetz ohne einen Solidarbeitrag der pharmazeutischen Industrie nicht geben werde. Sie haben sogar die Höhe dieses sogenannten Solidarbeitrages festgelegt: 1,7 Milliarden DM sollten es sein. Herr Blüm, ich frage Sie: Wo ist der Solidarbeitrag der pharmazeutischen Industrie, den Sie zur Vorbedingung für dieses Gesetzesvorhaben gemacht haben? - Ich stelle fest: Einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie gibt es nicht.
({14})
Die pharmazeutische Industrie erklärt zudem verbindlich, einen solchen Solidarbeitrag werde es auch in Zukunft nicht geben. Der Bundesarbeitsminister hat die Öffentlichkeit hinters Licht geführt. Das ist Täuschung und Wortbruch, Herr Blüm.
({15})
Als wir uns vor 14 Tagen in einer Aktuellen Stunde mit dem Gesundheitswesen befaßten, hat der Arbeitsminister von dieser Stelle aus erklärt, das, was im Gesundheitswesen eingespart werde - das hat er heute auch wieder gesagt - , gehe den Versicherten nicht verloren, es werde ihnen vielmehr zurückgegeben
({16})
in Form von neuen Leistungen und in Form von Beitragssatzsenkungen. Zurückgegeben? - Das ist eine Verhöhnung der Versicherten und Patienten, Herr Blüm. Sie kassieren bei den Kranken durch drastische Selbstbeteiligungsregelungen ab und wollen damit die Leistungen für die Pflegebedürftigkeit verbessern. Es ist der Gipfel sozialer Ungerechtigkeit, wenn die Kranken die Pflegebedürftigen finanzieren müssen, Herr Blüm.
({17})
Herr Blüm, seit wann muß eine benachteiligte Gruppe für die Benachteiligungen anderer Gruppen einstehen? - Seit Sie Arbeitsminister sind, seit dieser Zeit ist das der Fall.
({18})
Fällt Ihnen eigentlich angesichts der Ärzteeinkommen von durchschnittlich über 150 000 DM im Jahr,
von Zahnärzteeinkommen von durchschnittlich über
200 000 DM im Jahr, von Spitzengewinnen in der pharmazeutischen Industrie wirklich keine andere Finanzierung für die notwendige Verbesserung der Leistungen bei Pflegebedürftigkeit ein, als ausgerechnet die Kranken zur Kasse zu bitten?
({19})
Was Sie hier betreiben - Herr Cronenberg, auch Sie -, hat nichts mit Ausgewogenheit zu tun. Das ist sozialer Zynismus, was Sie hier betreiben.
({20})
Vor drei Tagen hat der amtierende Arbeitsminister im Rahmen seiner öffentlichen Auftritte - hier war es das Westdeutsche Fernsehen - mit sichtbar stolz geschwellter Brust - heute auch wieder - zu seinem Gesetzentwurf wörtlich erklärt: „So weit hat sich noch niemand vorgetraut. " Diese entlarvende Feststellung will ich dick unterstreichen: Kein Sozialminister, egal, ob Sozialdemokrat oder Christdemokrat, hat mit solcher Kaltschnäuzigkeit den Patienten das Geld aus der Tasche gezogen.
({21})
So weit ist tatsächlich noch niemand gegangen. So weit sind in der Vergangenheit auch noch keine Abgeordneten der CDU/CSU gegangen.
({22})
Sie sind die ersten, die so weit gehen.
2,5 Milliarden DM streichen Sie beim Zahnersatz. 1 Milliarde DM, später 2 Milliarden DM beim Sterbegeld. 2,4 Milliarden DM Beitragserhöhung in der Rentnerkrankenversicherung.
({23})
500 Millionen DM werden abkassiert durch Erhöhung der Rezeptgebühr. 150 Millionen DM Streichungen bei Heilmitteln, 760 Millionen DM bei Brillen, 170 Millionen DM bei Hörgeräten, 300 Millionen DM bei Hilfsmitteln, 250 Millionen DM bei der Kieferorthopädie, 170 Millionen DM bei Kuren, 800 Millionen DM bei Fahrtkosten. - Ja, Herr Blüm, es ist richtig: So weit hat sich noch niemand vorgetraut.
Deshalb wenden wir uns jetzt dem Kapitel Bagatellen und dem Kapitel Luxus zu. Originalton Blüm als Rechtfertigung:
Bagatellen werden nicht mehr bezahlt. Luxus ist nicht Sache der Krankenversicherung.
({24})
Eine der vielen unstrittigen Bla-Bla-Erklärungen!
({25})
Bereits im Dezember 1987, vor fünf Monaten, habe ich von dieser Stelle aus gefragt: Ist es eine Bagatelle, wenn ein Arbeitnehmer mit 2 500 DM MonatseinDreßler
kommen für seine Zahnprothese von 3 000 DM - ein üblicher Preis - zukünftig 1 500 DM selbst bezahlen muß?
({26})
- Ist das eine Bagatelle, Herr Seehofer?
({27})
Oder soll es neuerdings so sein, daß die Zahnprothese unter „Luxus" fällt?
Im Dezember wurde diese Frage nicht beantwortet. Der Arbeitsminister, die CDU/CSU, die FDP hatten nun fünf Monate Zeit, sich eine Antwort zu überlegen. Ich bin gespannt, ob die Regierungsparteien mittlerweile sprachfähig geworden sind.
({28})
Diese Regierung ist so sozial, daß sie den Kranken per Gesetz für die zukünftig hohen Zahnarztrechnungen Raten- und Abschlagszahlungen gewährt.
({29})
Diese Bundesregierung und die CDU/CSU wissen also genau, daß die Patienten die Rechnungen nicht mehr bezahlen können.
({30})
Meine Damen und Herren von der Koalition, ein Wort zum Sterbegeld. Sie wollen den Bürgern das Sterbegeld brutal zusammenstreichen oder ganz wegnehmen. Warum sagen Sie den Bürgern nicht, daß den Mitgliedern des Deutschen Bundestages ein Sterbegeld von 16 908 DM zusteht? Diejenigen, die fast 17 000 DM an Sterbegeld bekommen, nehmen den kleinen Leuten das Sterbegeld weg! Da kann ich nur sagen: Pfui Deibel!
({31})
Was Sie hier machen - und da lachen die noch! -, ist eine Politik nach dem Motto: den Kleinen Wasser predigen, aber selber den Wein saufen.
({32})
Wenn die Bürger angesichts einer solch schamlosen Verhaltensweise die Auffassung vertreten, die da oben würden sich auf Kosten der kleinen Leute zunächst einmal selbst bedienen, wer wollte dem dann noch widersprechen? Was hat das noch mit Solidarität zu tun?
({33})
Wir werden unser besonderes Augenmerk auch auf die Haltung der CDU-Sozialausschüsse richten. Der vorgelegte Gesetzentwurf ist mit den Beschlüssen des letzten Bundeskongresses der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft unvereinbar. Er läuft den Erklärungen vom Oktober 1987 diametral entgegen. Es wird sich zeigen, ob sich die Sozialausschüsse - wie so oft in der Vergangenheit - als Trojanisches
Pferd in den Reihen der Arbeitnehmerschaft mißbrauchen lassen.
({34})
Es wird sich zeigen, ob einmal mehr nach dem Grundsatz verfahren wird: Was schert mich mein dummes Geschwätz - sprich: meine Beschlußlage - von gestern?
({35})
Was wollten Sie noch alles? Sie wollten die andere Hälfte der abkassierten Milliarden den Beitragszahlern zurückgeben - ein starkes Stück angesichts der tatsächlichen Auswirkungen Ihres Gesetzes. Da fällt mir zuallererst die von Ihnen geplante Beitragsrückerstattung für die Gesunden ein. Sie schröpfen die Alten und Kranken und geben es den Gesunden und Jungen zurück. Was hat das mit sozialer Gerechtigkeit zu tun, frage ich Sie.
({36})
Es ist schon schlimm genug, daß Sie die kleinen Leute mit Ihrer Politik durch den Kakao ziehen, aber das Sie von ihnen verlangen, diesen Kakao auch noch selbst auszutrinken, das ist eine bodenlose Verhöhnung.
({37})
Herr Blüm will unser Gesundheitswesen billiger machen, sagt er. Wer hätte denn etwas dagegen? Es ist genug da, was billiger werden könnte. Aber genau da verändert Herr Blüm nichts. Statt dort zu sparen, piesacken Sie die kleinen Leute mit Selbstbeteiligungen oder verschlechtern ihre Versorgung: beim Zahnersatz, in der Kieferorthopädie, beim Sterbegeld, beim Rentnerkrankenversicherungsbeitrag, um nur einiges zu nennen.
Keine schnoddrige Bemerkung ist diesem Sozialminister zu billig und kein Vergleich verächtlich genug. Gegenüber der „Dithmarscher Landeszeitung", Ausgabe vom 2. Mai 1988, erklärte dieser Bundesminister - ich zitiere wörtlich - :
Früher sind die Leute mit 35 Jahren fröhlich gestorben, heute jammern sie sich bis 80 durch.
({38})
Herr Blüm, Sie überschreiten mit solchen verächtlichen Äußerungen die Grenze des Zumutbaren.
({39})
Wenn Ihnen die Argumente fehlen, Herr Blüm, um Ihre unsoziale Politik zu verteidigen, ersparen Sie den Bürgerinnen und Bürgern solche unzumutbaren Äußerungen!
({40})
Da stellt er sich hier hin und sagt: Wir handeln gegen Geschmacklosigkeiten. Herr Blüm, jammern Sie hier nicht herum, wenn Sie mit Ihren Geschmacklosigkeiten Ihre Kritiker einholen und sogar noch überbieten.
({41})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?
Bitte.
Zu einer Zwischenfrage hat das Wort der Abgeordnete Reimann.
Herr Kollege Dreßler, dieses Zitat habe ich nicht verstanden. Würden Sie es noch einmal vortragen?
({0})
Herr Kollege Reimann, ich will das Zitat gerne wiederholen.
({0})
Gegenüber der „Dithmarscher Landeszeitung", Ausgabe vom 2. Mai 1988, hat Herr Blüm wörtlich - das ist in Anführungszeichen ausgedruckt; ich habe das Exemplar bei mir - folgendes gesagt:
Früher sind die Leute mit 35 Jahren fröhlich gestorben, heute jammern sie sich bis 80 durch.
({1})
Ich will mich einem anderen Kapitel zuwenden. Herr Blüm hat eine Senkung der Krankenversicherungsbeiträge versprochen. Wenn ich das schon höre! Auch in diesem Punkt führen Sie doch die Öffentlichkeit hinters Licht, auch dieser Punkt ist doch Schwindel! Im Oktober des vergangenen Jahres lagen die Beitragssätze zur Krankenversicherung durchschnittlich bei 12,8 %. Dann kamen Sie mit Ihren glorreichen Gesetzesplänen. Ende dieses Jahres werden die Beitragssätze nach Schätzungen des Arbeitsministeriums durchschnittlich bei 13,4 % liegen - ausschließlich verursacht durch Sie und durch Ihre Abkassierungspläne. Wenn dann Ihr Gesetz am 1. Januar 1989 in Kraft getreten ist, soll sich die Beitragslast der Versicherten bis 1991 auf 12,7 % absenken. Das muß man sich einmal vorstellen; 12,8 % Beiträge, bevor Herr Blüm mit seinem Gesetz begann, und 12,7 % Beitragssatz drei Jahre danach; 0,1 % Unterschied nach Ihren eigenen Zahlen!
({2})
Wissen Sie eigentlich, was das heißt? Der Versicherte mit 3 000 brutto im Monat spart genau eine Mark und fünfzig Pfennige, der Arbeitgeber auch. Das sind Ihre Beitragssenkungen!
({3})
- Ich sehe Unruhe im Regierungslager.
({4})
Ich möchte die Arbeit der parlamentarischen Geschäftsführung und auch die Arbeit der Bundesregierung erleichtern
({5})
und möchte die Ausgabe dieser Zeitung aus Schleswig-Holstein überreichen, aber bevor ich sie überreiche, möchte ich das Zitat noch einmal vorlesen.
({6})
Ich habe nämlich nur dieses eine Exemplar. Herr Blüm am 2. Mai 1988 gegenüber der „Dithmarscher Landeszeitung" :
Früher sind die Leute mit 35 Jahren fröhlich gestorben, heute jammern sie sich bis 80 durch.
({7})
Ich überreiche Ihnen also diese Zeitung und darf dann fortfahren.
Ich fasse die Summe zusammen: Erst über 8 Milliarden DM Jahr für Jahr bei den Kranken abkassieren und dann den Versicherten eine Mark und fünfzig Pfennige im Monat zurückgeben! Das, was der Versicherte an Beitrag einspart - ich wiederhole: eine Mark und fünfzig Pfennige - , hat er vorher als Vielfaches an Selbstbeteiligung ausgegeben. Meine Damen und Herren, Ihr Gesetzentwurf trägt nicht nur das Kainsmal grober sozialer Ungerechtigkeit; nein, er wird auch alles noch teurer machen.
({8})
Wenn Sie die Sicherung im Pflegefall zur Aufgabe der Krankenversicherung machen, statt sie, wie es sachgerecht wäre, aus Steuermitteln zu finanzieren, legen Sie einen Sprengsatz an die Beiträge der Krankenkassen.
Da sind wir gleich bei einem weiteren Stichwort. Sie wollen die Beiträge der Rentner für ihre Krankenversicherung „anpassen". „Anpassen", welch schönes Wort für einen ziemlich unanständigen Tatbestand! Anpassen? Nein, erhöhen wollen Sie sie! Sie wollen die Beiträge der Rentner für ihre Krankenversicherung ab 1. Januar 1989 erhöhen, und zwar nach derzeitigen Berechnungen um 0,6 % , und Sie wollen dazu auch der Rentenversicherung 0,6 % mehr abnehmen. Warum führen Sie eigentlich die Rentner mit so schönen Worten wie „anpassen" in die Irre? Warum sagen Sie nicht klar und deutlich, was Sie vorhaben: Beiträge erhöhen und abkassieren?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Bitte sehr, Herr Kollege Lammert, eine Zwischenfrage.
Herr Kollege Dreßler, nachdem Sie im Verlauf Ihrer Rede ausnahmslos sämtliche Vorschläge aus dem Konzept der Bundesregierung als entweder ungeeignet, unsozial oder zynisch dargestellt haben:
({0})
Würden Sie noch vor Beendigung Ihrer Rede dem Deutschen Bundestag die große Gefälligkeit erweisen, die eigenen konkreten Vorschläge der SPD zur Lösung der Probleme darzustellen, wobei Sie selbst bei anderer Gelegenheit erklärt haben, daß eine Kostendämpfung unvermeidlich sei, die aber ganz offensichtlich in der Weise erfolgen muß, daß alles so bleibt, wie es ist?
({1})
Herr Kollege Lammert, Sozialdemokraten haben das so an sich, sie erfüllen natürlich auch Wünsche der Christdemokraten,
({0})
und zwar unverzüglich. Es dürfte Ihnen nicht entgangen sein, daß wir beantragt haben, die Debatte auf vier Stunden festzulegen, damit der Deutsche Bundestag ausreichend Gelegenheit haben würde, sich mit den konstruktiven Vorschlägen der SPD für eine Strukturreform im Gesundheitswesen auseinanderzusetzen.
({1})
Herr Kollege Lammert, noch ein Hinweis bitte:
({2})
Meine Fraktion hat heute fünf Redner angemeldet; und sie werden von allen fünfen zu diesem Thema
({3})
konstruktive Vorschläge hören. Und ich hoffe, Sie werden sich dann endlich mit diesen Vorschlägen sachlich auseinandersetzen.
({4})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Weng?
Aber selbstverständlich, bitte.
Bitte sehr, Herr Kollege Weng.
Herr Kollege Dreßler, verstehe ich Sie richtig, daß Sie, weil die Redezeit, die Sie sich ursprünglich vorgenommen hatten, kürzer ist, als es Ihre Fraktion für Sie gewünscht hätte, nur den Teil Polemik hier abladen?
({0})
Herr Kollege Weng, von einem Abgeordneten einer Fraktion - der FDP - , die sich in der Auseinandersetzung um eine Strukturreform im Gesundheitswesen in einem DIN-A-4-Blatt
({0})
mit Kontoangabe der FDP-Spendenkontostelle als „Zahnärztepartei" andient,
({1})
habe ich eine solche Zwischenfrage erwartet.
({2})
- Sie können sich setzen, Herr Weng.
({3})
Meine Damen und Herren, es gibt noch mehr besonders prägnante Beispiele für weitere Täuschungsversuche. In Ihrem allerersten Gesetzentwurf hat die Regierung zum Wohlgefallen der Arbeitgeberverbände etwas von „Teilarbeitsunfähigkeit" niedergeschrieben. Sie wollten damit durchsetzen, daß kranke Arbeitnehmer zumindest teilweise an die Arbeit geschickt werden können.
({4})
Dafür sind Sie zu Recht gescholten worden. Eine solche Regelung ist gesundheitspolitisch falsch, unsozial und dient einseitigen Interessen.
In einem späteren Entwurf war dieser Paragraph auf einmal verschwunden - so dachte man zumindest. Aber das Gegenteil war richtig. Er tauchte in völlig anderem Sachzusammenhang wieder auf. Statt „Teilarbeitsfähigkeit" heißt es nun „stufenweise Wiedereingliederung". Das klingt zwar besser, beinhaltet aber die gleichen unsozialen Möglichkeiten.
Ich frage Sie, warum täuschen Sie eigentlich die Bürger wiederum? Warum sagen Sie ihnen nicht die Wahrheit? Warum sagen Sie ihnen nicht, daß Sie es möglich machen wollen, daß etwa qualifizierte Facharbeiter im Krankheitsfall unter Umständen zum Sortieren von Akten eingesetzt werden können? Warum sagen Sie ihnen das nicht?
({5})
Unter die Rubrik Täuschung fällt folgende Regelung: Sie brüsten sich mit der Einführung von zahnmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen als Kassenleistungen. „Gruppenprophylaxe" und „Individualprophylaxe" nennen die Damen und Herren der CDU/ CSU das. Sie versprechen den Bürgern, daß die Kran5286
kenkasse ihnen einen höheren Zuschuß zum Zahnersatz zahlen würde, wenn sie diese Individualprophylaxe immer und regelmäßig in Anspruch genommen hätten. Das hört sich gut an.
({6})
- Nur, beim genauen Hinsehen stellt man fest: Eigentlich, Herr Kollege Cronenberg, ist alles auch wieder ganz anders. Es ist nämlich so: Die zahnmedizinische Vorsorgeleistung übernimmt die Kasse nur für Versicherte bis 25 Jahre, also bis zu einem Lebensalter, wo in der Regel noch gar kein Zahnersatz notwendig ist. Wer älter als 25 Jahre ist, erhält überhaupt keine zahnmedizinischen Vorsorgeleistungen.
({7})
Die muß er nämlich dann selbst bezahlen.
Wenn man Ihnen vorhält, in welch schrecklichem Umfang Sie Leistungen kürzen und bei den Kranken abkassieren, dann führen Sie immer an, soziale Härten würden durch sogenannte Härtefallregelungen gemildert. Fällt Ihnen eigentlich nicht selbst auf, wie unaufrichtig eine solche Argumentation ist? Härtefallregelungen braucht doch nur der, der durch seine Gesetze erst Härtefälle schafft.
({8})
Wer in einem Gesetz Härtefallregelungen braucht, um soziale Härten zu mildern, der beweist, daß er ein unsoziales Gesetz vorgelegt hat.
({9})
Eine Ihrer famosen Härtefallregelungen besagt, daß der einzelne Versicherte, wenn er krank ist, im Monat bis zu 2 % seines Einkommens für Selbstbeteiligung auszugeben hat. Wer 3 000 DM im Monat verdient und krank ist, der hat also neben seinem Krankenversicherungsbeitrag jährlich darüber hinaus bis zu 720 DM seines Einkommens für Fahrtkosten, für Arzneimittel und für Heilmittel auszugeben. So sieht das aus.
Was Sie eine Härtefallregelung nennen, ist in Wirklichkeit eine 2 %ige Strafsteuer für die Kranken.
({10})
Strafsteuern für die Kranken und Beitragsrückerstattung für die Gesunden - das ist die soziale Gerechtigkeit à la Blüm.
Nein, Herr Arbeitsminister, damit wollen wir Sozialdemokraten nichts, aber auch gar nichts zu tun haben.
({11})
Ich verspreche Ihnen: Wir werden alles in unseren Kräften Stehende tun, um Ihr unsoziales Machwerk zu Fall zu bringen. Wir werden die Bürgerinnen und Bürger über jede Einzelheit dieses Gesetzesmonstrums,
das Sie Gesundheitsreformgesetz nennen, aufklären.
({12})
Wir werden keine Ruhe geben. Aber nicht nur das.
({13})
Wir werden Ihrem Abkassierungsmodell unser Konzept einer Gesundheitsreform gegenüberstellen.
({14})
Wir werden klarmachen, was Reform des Gesundheitswesens eigentlich heißt, nämlich erstens den Patienten in den Mittelpunkt des Bemühens stellen, und zwar den Patienten als kranken Menschen, dem man helfen muß, und nicht den Patienten als Dukatenesel, bei dem man abkassieren kann.
({15})
Zweitens. Wir werden den Versicherten in den Mittelpunkt stellen, ihm die Gewißheit geben, daß für ihn im Krankheitsfall gesorgt ist und daß er das alles auch bezahlen kann.
({16})
Sie werden mit Ihrem Gesetz eine gigantische Aufblähung des bürokratischen Gesundheitsapparates heraufbeschwören.
({17})
Was haben Sie nicht alles vor: Kostenkonten für jeden Versicherten, bei den Krankenkassen einen neuen medizinischen Dienst, neue bürokratische Apparate bei den Krankenkassen zur Ermittlung der 2 %igen Strafsteuer usw. usw. Humanisierung des Gesundheitswesens heißt unser Stichwort,
({18}) Bürokratisierung heißt Ihr Stichwort.
({19})
Ihrem bürokratischen Abkassierungsmodell setzen wir unser Konzept entgegen: mehr Patientenunabhängigkeit -
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Lammert?
Nein, jetzt nicht mehr.
Mehr Patientenunabhängigkeit, mehr Freiheit für die Betroffenen, ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung zu regeln, mehr Freiheit für die Versicherten, sich die eigene Krankenkasse auszuwählen - alle, ob Rentner oder Arbeiter, ob Angestellter oder Arbeitsloser, müssen wählen können -,
({0})
mehr finanzielle Gerechtigkeit bei der Aufbringung der Kosten für unser Gesundheitswesen. Uns geht es nicht um die Verwirklichung willkürlich vorgegebener Einsparpotentiale, sondern uns geht es um die
Schaffung sachgerechter Strukturen, die den Bedürfnissen der Menschen entsprechen.
({1})
Wir wollen auch, wenn Sie so wollen, ein Stück mehr Marktwirtschaft an einigen Stellen.
({2})
Bisher bestimmen allein die Kassenärztlichen Vereinigungen über die ambulante ärztliche Versorgung in einer Region.
({3})
- Nun hören Sie doch zu. Sie wollten doch unser Konzept hören. Jetzt nenne ich Ihnen einen elementaren Bestandteil.
Wir wollen eine Gesundheitskonferenz, in der die Anbieter, diejenigen, die zahlen müssen, und die Kommunen die Versorgung bestimmen und die Honorare aushandeln.
({4})
Die CDU/CSU und gerade der amtierende Arbeitsminister bezeichnen eine Gesundheitskonferenz in ihrer Einfaltslosigkeit als Gesundheitssowjet.
({5})
Mit anderen Worten: Wenn Ärzte und Pharmaverbände allein die Preise bestimmen, dann ist die CDU/ CSU glücklich, aber wenn die Krankenkassen für ihre Mitglieder mitbestimmen sollen, weil sie es bezahlen, dann fällt den Christdemokraten nur noch Moskau ein.
({6})
Sie sind mir wirklich famose Marktwirtschaftler.
({7})
Ich habe Ihnen Stichworte für die Gesundheitsreform der Sozialdemokraten genannt. Meine Kollegen von der SPD-Fraktion werden das im Detail darstellen. Wir werden die Koalition auf diesen Feldern stellen. Punkt für Punkt werden wir Sie zur Abstimmung zwingen, um dann deutlich zu machen, wo die Unterschiede liegen: zwischen einem Abkassierungsmodell der CDU/CSU und FDP und einer Strukturreform der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg. - Entschuldigung. Zu einer kurzen direkten Erwiderung nach § 30 der Geschäftsordnung darf ich dem Abgeordneten Blüm das Wort erteilen.
({0}) Ich bitte um Nachsicht.
Der Abgeordnete Dreßler hat mir eine solche Ungeheuerlichkeit unterstellt,
({0})
daß ich Sie bitten möchte, dafür Verständnis zu haben, daß ich direkt antworte.
Vor Millionen Zuschauern hat er mir sozusagen unterstellt, ich wolle, daß die Menschen mit 35 Jahren fröhlich sterben.
({1})
- Die Suggestion - ein Zynismus - war, ich wolle, daß die Menschen mit 35 Jahren fröhlich sterben.
({2})
Meine Damen und Herren, ist Ihnen eigentlich kein Mittel zu schade zur Diffamierung?
({3})
- Ich bin bei der Klarstellung. Meine Damen und Herren, ich habe mich in einer Wahlversammlung in Dithmarschen
({4})
mit der Nostalgie jener auseinandergesetzt, die den Eindruck erwecken, früher sei alles gut gewesen und unsere moderne Zeit sei schlecht, katastrophenhaltig und vergiftet. Und ich habe mit der Karikierung dieser aussteigenden Nostalgiker gesagt: So gut kann es ja früher nicht gewesen sein. Vor 100 Jahren war das durchschnittliche Lebensalter der Menschen 35 Jahre. Und so schlecht kann es heute nicht sein; denn heute werden die Menschen doppelt so alt.
Und ich habe in diesem Angriff, in dieser Karikatur gesagt: Wenn es so wäre, wie die Nostalgiker sagen, dann müßte es ja so sein, daß die Leute früher fröhlich gestorben wären und heute mit 80 traurig sterben.
({5})
Das ist eine Karikatur jener Aussteiger, doch nicht meine Meinung! Mir diese Meinung zu unterstellen halte ich für eine böswillige Verunglimpfung.
({6})
Ich sage noch einmal: Lieber Herr Dreßler, wenn Ihnen in dieser Debatte nichts anderes als Diffamierung einfällt, dann gibt es zwischen uns keinen Dialog mehr.
({7})
Meine Damen und Herren, zu einer ebenfalls direkten Erwiderung nach § 30 der
Präsident Dr. Jenninger
Geschäftsordnung erteile ich das Wort dem Herrn Abgeordneten Dreßler.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vor dem Deutschen Bundestag soeben folgendes erklärt: Gegenüber der „Dithmarscher Landeszeitung", Ausgabe vom 2. Mai 1988, erklärte dieser Bundesarbeitsminister - ich zitiere wörtlich - :
Früher sind die Leute mit 35 Jahren fröhlich gestorben, heute jammern sie sich bis 80 durch.
Herr Blüm, ich frage Sie: Haben Sie das gesagt oder nicht?
({0})
Wir fahren in der Aussprache fort. Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Entgegen allen Unkenrufen legen wir Ihnen heute ein Gesundheitsstruktur-Reformgesetz vor. Und, Herr Kollege Dreßler, das ist kein Etikettenschwindel. Der einzige Etikettenschwindel, der hier heute morgen betrieben worden ist, das ist Ihre Bemerkung, es handele sich um ein Abkassierungsmodell.
({0})
Mit welcher Niveaulosigkeit die Auseinandersetzungen heute hier betrieben werden, zeigt die Berner-kung von Ihnen eben hier. Es ist niveaulos, dem Kollegen Blüm, auch nachdem er das noch einmal klargestellt hat, zu unterstellen, eine solche Bemerkung gemacht zu haben.
({1})
Ich hätte erwartet, daß der Kollege Dreßler den Anstand besessen hätte, sich für diesen Irrtum hier zu entschuldigen.
({2})
Meine Damen und Herren, die Auseinandersetzung mit diesem Reformgesetz -
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn?
Nein, Herr Präsident. Im Prinzip ja, aber dies muß erstmal klargestellt werden, weil es eine Ungeheuerlichkeit ist.
Keine Zwischenfragen. Ich bitte, Platz zu nehmen.
Herr Präsident, mit diesen Methoden wird auch dieses Haus diffamiert.
({0})
- Herr Abgeordneter Vogel, der Kollege Blüm hat die Zusammenhänge deutlich, und zwar unmißverständlich klargestellt,
({1})
und damit ist die Unterstellung des Kollegen Dreßler eine Diffamierung übelster Art.
({2})
- Herr Präsident, ich bedauere es außerordentlich, daß dies möglicherweise von meiner Redezeit abgeht.
({3})
Aber ich möchte das noch einmal klarstellen: Wenn hier Zeitungsberichte mit auseinandergerissenen Zitaten angeführt werden, so ist es erforderlich, wenn Sie einen Rest von menschlicher Anständigkeit haben, das hier in Ordnung zu bringen.
({4})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Rede des Kollegen Dreßler zeichnet sich noch durch eine andere Feststellung aus.
({5})
- Darauf gehe ich gleich auch noch ein.
({6})
Sie haben versucht, mit eingeübter Rhetorik das Niveau von Norbert Blüm, um das der eine oder andere ihn beneidet, zu erreichen. Man kann darüber denken, wie man will, aber Sie haben bei der Einübung Ihrer Polemik offensichtlich vergessen, den Gesetzentwurf zu lesen, und das ist bedauerlich.
({7})
Im Gegensatz zu einigen Behauptungen enthält diese Gesetzesvorlage durchaus strukturverändernde Elemente, aber - das gebe ich zu - auch klassische Kostendämpfungsmaßnahmen. Beide sollen und müssen die Finanzierbarkeit eines alles in allem leistungsfähigen und reformwürdigen Systems sicherstellen.
Die Notwendigkeit einer Reform kann niemand ernsthaft bestreiten. Steigende Beiträge in der Krankenversicherung schränken - Herr Kollege Dreßler, das sollte Sie besonders interessieren - die frei verfügbaren Einkommen von Arbeitnehmern ein. Sie verteuern den Preis für Arbeit, sind beschäftigungsfeindlich, kosten Arbeitsplätze unserer exportorientierten Wirtschaft. Machen Sie sich noch einmal bewußt: Für einen Arbeitnehmer mit einem Bruttojahreseinkommen von 54 000 DM werden 20 000 DM SoCronenberg ({8})
zialversicherungsbeiträge abgeführt. Das bedeutet, daß jemand, der einen Monatslohn von 2 800 bis 3 000 DM hat, bis zu 3 000 DM zusätzliche Lohnnebenkosten verursacht. Der Arbeitnehmer hat Glück, wenn er zum Schluß 2 000 DM ausgezahlt bekommt. Sie sind ebenso wie wir verpflichtet, diese Situation zu berücksichtigen.
Wie bei der Steuerreform geht es um eine entscheidende Grundfrage: Wieviel von den sauer verdienten Groschen der Bürger darf der Staat für Sozialversicherung abkassieren? Hier unterscheiden wir uns von den Umverteilungsfetischisten jedweder Couleur hier und außerhalb des Hauses.
({9})
Wir wollen, daß den Bürgern möglichst viel Geld in der Tasche bleibt, weil wir überzeugt sind, daß es da besser als beim Finanzamt oder bei der AOK aufgehoben ist.
({10})
Deshalb sehen wir in der Stabilisierung, wenn möglich auch Senkung der Beiträge, das Ziel unserer Bemühungen.
Meine Damen und Herren, für uns sind die sozialen Sicherungssysteme ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Marktwirtschaft. Aber diese Sicherungssysteme werden mit Zwangsabgaben finanziert. Von der Höhe der Abgaben hängt es auch ab, ob diese Pflichtversicherung, diese notwendigen Solidarsysteme, auf Dauer von der Bevölkerung akzeptiert werden. Die Akzeptanz ist eine Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit dieser Systeme.
Die Stabilisierung der Beiträge ist um so wichtiger, als wir es in der Zukunft mit zwei zusätzlichen Problemen zu tun haben werden: erstens einer erfreulich steigenden Lebenserwartung der Menschen und zweitens einem begrüßenswerten medizinischen Fortschritt. Beides kostet zusätzlich Geld, und niemand will ja die zusätzlichen Leistungen den Menschen bei uns verweigern. Aber es ist auch ein Beweis für die Notwendigkeit unserer Bemühungen und nicht, wie dümmliche Kritiker immer wieder behaupten, ein Grund dafür, alles so zu belassen, wie es sei, weil wir die Beiträge ohnehin nicht senken könnten.
({11})
Meine Damen und Herren, wer ernsthaft in Kauf nehmen will, daß Kosten und Ausgaben weiter steigen, Herr Kollege Heyenn, der gefährdet die freiheitliche Organisation unseres Gesundheitswesens, und zwar mehr als mancher regelungswütige Beamter des Bundesarbeitsministeriums.
Ein Kernpunkt der Reform ist die Neubestimmung der Aufgaben der sozialen Krankenversicherung. Dabei geht es um eine Neuabgrenzung zwischen der mit Pflichtbeiträgen finanzierten Solidargemeinschaft und der Eigenverantwortung des einzelnen.
Ich meine, der Schutz der Solidargemeinschaft soll dort beginnen, wo die Überforderung des einzelnen anfängt. Im Gegensatz zu früheren Generationen geben unsere Mitbürger immer weniger von ihrem Nettoeinkommen für die Befriedigung von Grundbedürfnissen - Essen, Trinken, Wohnen - aus, und erfreulicher- und dankenswerterweise steigen die Ausgaben für Urlaub, für Auto und für Hobby. Deswegen ist es doch geradezu selbstverständlich, daß wir uns die Frage stellen, ob sich er Österreich-Urlauber mit teilkaskoversichertem Pkw den Fingerling oder die Schuheinlage mit viel bürokratischem Aufwand tatsächlich von einer Krankenkasse bezahlen lassen muß.
({12})
Deswegen ist es gerechtfertigt, Bagatellmittel von der Erstattung auszunehmen. Deswegen ist es gerechtfertigt, das Sterbegeld nach einer großzügigen Übergangsregelung auf Dauer abzubauen. Deswegen ist es auch gerechtfertigt, Fahrtkosten nur dann zu bezahlen, wenn der einzelne überfordert ist.
Ich bestreite nicht, daß dies Kostendämpfung ist. Darauf kann auch nicht verzichtet werden, denn wir brauchen die knappen Mittel für andere, wichtigere Aufgaben.
Wir machen aber mehr als nur Kostendämpfung. Niemand wird bestreiten können, daß z. B. die Einführung von Festbeträgen für Heil- und Hilfsmittel und für Medikamente eine bedeutsame strukturelle Veränderung ist. Dabei ist es selbstverständlich, daß für den Versicherten im Krankheitsfalle alle notwendigen Leistungen ermöglicht werden müssen. Aber besser als zu reparieren und als zu heilen, ist es, Krankheit zu vermeiden, und zwar durch Vorbeugung. Anreize für ein gesünderes Leben und Vorsorge bedeuten Kostenersparnis und nicht, wie uns vorgeworfen wird, Kostenausweitung.
({13})
Meine Damen und Herren, aus leidvoller Erfahrung, auch aus leidvoller gemeinsamer Erfahrung wissen wir, daß sich Appelle zu mehr Sparsamkeit als wenig erfolgreich erwiesen haben. Auch Kontrollen können bestenfalls nur disziplinieren; sie motivieren aber nicht zu vernünftigen Verhaltensweisen.
Deswegen ist es so wichtig, daß die Verhaltensweisen aller Beteiligten, von Versicherten wie von Leistungserbringern, durch sinnvolle Anreize so verändert werden, daß die persönliche Interessenlage sowohl der Versicherten wie auch der Leistungserbringer mit der Interessenlage der Gemeinschaft übereinstimmt. Höchstmögliche Effektivität ist auch im Gesundheitswesen ganz entscheidend. Das wiederum hängt von den Organisationsstrukturen ab.
Hier, Herr Kollege Dreßler, gibt es entscheidende Unterschiede zum SPD-Konzept. Sie wollen Gesundheitsversorgung durch mehr Plan und durch Bürokratie organisieren.
({14})
Sie nennen das vornehm zurückhaltend „Regionalkonferenz".
({15})
Aber Sie verwechseln dabei offensichtlich Konferenz
mit Behörde. Mit der Einbeziehung des Staates in den
Cronenberg ({16})
Sicherstellungsauftrag - das ist ja Ihr Vorschlag - für die Versorgung mit Gesundheitsleistungen unterminieren Sie die bewährte Selbstverwaltung.
({17})
Die Kapazitäts- und Bedarfsfestlegung, die da am grünen Tisch vorgenommen werden soll, ist - darum kommen Sie nicht herum - praktizierte Planwirtschaft.
({18})
Wir vertrauen auf die freiberuflichen niedergelassenen Ärzte,
({19})
- auf die Zahnärzte, richtig - , Apotheker, Masseure und eigenverantwortlich arbeitenden Optiker, Zahntechniker und Orthopäden.
({20})
Mir sind private und gemeinnützige wirtschaftlich arbeitende Krankenhäuser dreimal lieber als folgekostenträchtige Landratsgedächtniskrankenhäuser.
({21})
Ich bin überzeugt davon, daß ein quasi beamteter, einkommens- und leistungsgedeckelter, in seiner Therapiefreiheit eingeschränkter Arzt à la SPD-Gesundheitsprogramm
({22})
ein uneffektiver, ein teurer und demotivierter Leistungserbringer ist.
({23})
Meine Damen und Herren, natürlich kommt man ohne Kontrollen nicht aus, jedenfalls solange nicht, wie man an einem anonymen Sachleistungssystem festhalten will. Für abgerechnete wie für veranlaßte Leistungen werden neue Formen der Wirtschaftlichkeitsprüfung eingeführt. Wie schon bisher ist dies Aufgabe der paritätisch besetzten Selbstverwaltung. Wirtschaftlichkeitsprüfungen dürfen aber nicht zum Selbstzweck und nicht zur Dauerbeschäftigung von Prüfern werden.
({24})
Ich habe erhebliche Zweifel, daß eine quartalsmäßige Prüfungsquote von 2 % wirklich sinnvoll ist. Mir erscheint unter Berücksichtigung der gewaltigen Kosten, die das verursacht, 1 To als Mindestquote ausreichend.
({25})
Den Rest kann die Selbstverwaltung erledigen.
Aber ich möchte nicht mißverstanden werden: Wir stellen die Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht in Frage. Neuerdings werden diese Prüfungen abgelehnt. Ich bitte die Ärzte und ihre Standesorganisationen eindringlich und herzlich, auch und gerade im Interesse des Berufsethos unsere Bemühungen um eine sinnvolle und notwendige Wirtschaftlichkeitsprüfung zu unterstützen. Je größer das Vertrauen in die Prüfung ist, je besser ist es um das Ansehen und um das Vertrauen des ärztlichen Berufsstandes bestellt.
({26})
Ich bin ohnehin überzeugt davon, daß es sich nur um wenige schwarze Schafe handelt.
Im direkten Zusammenhang mit der Wirtschaftlichkeitsprüfung stehen die Fragen der Transparenz. Der Versicherte muß die Möglichkeit haben zu erfahren, was das Heilen gekostet hat. Kostenerfassung darf aber kein Selbstzweck sein. Gewiß ist es nicht leicht, die Grenzen zwischen gewünschter und notwendiger Transparenz und unzulässiger Datenschnüffelei zu ziehen. Wir haben dafür gesorgt, daß das, was die Kassen erfassen, strengen gesetzlichen Zweckbestimmungen und Löschungsfristen unterliegt. Wir waren und sind hartnäckig der Meinung, daß das, was bei den Kassenärztlichen Vereinigungen erfaßt wird, nicht bei den Kassen erfaßt werden muß. Diagnosedaten und sonstige Angaben über ärztliche Leistungen dürfen nicht obligatorisch bei den Krankenkassen erfaßt werden.
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Nur bei Stichproben werden die erforderlichen Leistungsdaten zwischen den Kassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen ausgetauscht; übrigens so, wie das auch heute in den paritätisch besetzten Prüfgremien geschieht. Insoweit ist das nichts Neues.
Es ist für mich auch selbstverständlich, daß dies mit modernen EDV-Anlagen gemacht werden kann. Ebenso ist es aber selbstverständlich, daß es strenge gesetzliche Vorschriften geben muß, damit die Daten, wenn der Zweck erfüllt ist, auch gleich wieder gelöscht werden.
Vieles, was ursprünglich an Datenerfassung und Datenverwendung vorgesehen war, hat berechtigte Unruhe geschaffen. Ich möchte mich bedanken, daß man unsere Argumente in diesem Zusammenhang berücksichtigt hat. Noch aber hat der Bundesdatenschutzbeauftragte keine schriftliche Stellungnahme zu dem ganzen Komplex abgegeben. Sollten sich Bedenken ergeben, müssen diese Bedenken im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens selbstverständlich einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden.
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Meine Damen und Herren, ein kurzes Wort auch zu dem medizinischen Dienst. Ich weiß, daß im BMA einige sicherlich ehrenwerte Ministerialbürokraten traurig sind, daß der medizinische Dienst das Licht der Welt nicht in der ursprünglich vorgesehenen Form erblickt hat. Ich hoffe sehr, daß mir niemand übelnimmt, wenn ich sage: Ich habe mich darüber gefreut und verleugne meine Mittäterschaft nicht.
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- Ein bißchen klatscht Kollege Waigel mit, okay.
Meine Damen und Herren, eine weitere bedeutsame strukturelle Änderung ist die Einführung des
Cronenberg ({30})
Kostenerstattungssystems bei der Kieferorthopädie und beim Zahnersatz. Das ist ein wichtiger Schritt weg vom anonymen Sachleistungsprinzip. Man kann darüber denken, wie man will, Kollege Egert, aber es ist eine strukturelle Änderung; darüber gibt es keinen Streit. Ich rechne es den Zahnärzten hoch an, daß sie entgegen ihrer vordergründigen Interessenlage seit langem für Kostenerstattung und Festbeträge eintreten. Sie tun das auch jetzt, wo die Kostenerstattung für ihren Bereich kommt. Sie stehen zu dem, was sie vorher gesagt haben.
Bei allem Streit, den es über die Höhe der Zuschüsse beim Zahnersatz geben mag: Ich habe Respekt vor dieser ordnungspolitischen Haltung. Jedenfalls gehören die Zahnärzte nicht zu jenen Lobbyisten oder Kritikern, die ich in den letzten Wochen immer wieder erlebt habe, die mir erst vernünftige Vorschläge machen, dann aber, wenn wir sie durchgesetzt haben, dicke Kullertränen in den Augen haben und sich an die Spitze der Protestbewegung setzen. Ich meine, die Zahnärzte haben in diesem Bereich eine Haltung eingenommen, die Respekt verdient.
({31})
Den Zahnärzten geht es so wie der FDP: Sie werden zum Prügelknaben der Nation gemacht.
({32})
- Natürlich. - Richtig ist, daß seit den 70er Jahren im Bereich des Zahnersatzes überproportionale Ausgabensteigerungen zu verzeichnen waren.
Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, klopfen wir uns doch einmal an die Brust. Wer hat das denn verursacht? - Waren es denn nicht die Sozialgerichte, in deren Gefolge der Gesetzgeber 1974 den Zahnersatz zur Sachleistung gemacht hat? Es ist verdammt billig und einfach, erst jedem einen einklagbaren Anspruch auf ein goldenes Gebiß zu gewähren,
({33})
es anschließend als politische Glanzleistung zu verkaufen und im Anschluß den ganzen Berufsstand der Zahnärzte und die Zahntechniker undifferenziert als Kostentreiber der Nation zu prügeln.
({34})
Tatsache ist, daß es in den 70er Jahren Leistungsausweitungen gegeben hat,
({35})
die heute nicht mehr finanzierbar sind. Mit ordnungspolitisch ordentlichen Instrumenten werden diese Dinge in Ordnung gebracht. Das hätte Ihre Zustimmung und nicht eine bösartige Kritik verdient.
({36})
Zugegebenermaßen hat sich die Ministerialbürokratie nicht immer gerade sensibel gezeigt, als sie die
Bewertung der zahnärztlichen und zahntechnischen Leistungen durch Rechtsverordnung vorzunehmen gedachte. Das wäre ein grober Verstoß gegen den Vorrang der Selbstverwaltung gewesen.
Der Gedanke, daß Ministerialbeamte die Bewertung von Leistung - wo auch immer - vornehmen sollen, von der sie im Grunde genommen genausowenig verstehen wie ich,
({37}) ist und bleibt für mich unakzeptabel.
Die Erhaltung eines vielfältigen Arzneimittelangebots zum Vorteil der Patienten und zu Preisen, die sich im Wettbewerb gebildet haben, war und ist Ziel unserer Bemühungen. Lassen Sie mich das mit aller Deutlichkeit sagen: Ich bin fest davon überzeugt, daß Forschung und Wettbewerb keine Gegensätze sind, wie uns einige in den letzten Wochen einzureden versucht haben. Wer die Vielfalt des Arzneimittelangebots und die Forschung gewährleisten will, der darf sich nicht Positivlisten oder gesetzlich verordneter Preisstopps bedienen. Das wäre wirklich das Ende für eine forschungsintensive Industrie.
({38})
Zwangspreissenkungen wie auch „freiwillige" Zwangsbeiträge sind mit meinen ordnungspolitischen Vorstellungen unvereinbar.
Meine Damen und Herren, sie sind auch dann unakzeptabel, wenn sie uns trickreich in Form eines Gegengeschäfts angeboten werden. Wenn ich Preisstopps, Zwangsrabatten oder Positivlisten zustimmen würde, müßte man mich zu Recht aus der LudwigErhard-Gesellschaft hinausschmeißen. So, wie die Hersteller ihre Preise autonom bilden sollen, müssen auch die Versicherungen das Recht haben, festzulegen, in welcher Höhe sie die Kosten übernehmen.
Mir hat bisher noch niemand halbwegs überzeugend darlegen können, warum mit den Beiträgen meiner Mitarbeiter und den Beiträgen meiner Firma 30 DM für ein Medikament gezahlt werden sollen, wenn ich es für 10 DM bekommen kann. Das gilt ganz besonders für vergleichbare Produkte, z. B. wirkstoffgleiche Medikamente. Deswegen bin ich für die Einführung der Festbeträge. Ich halte sie für wirksam, ordnungspolitisch korrekt und lobenswert, überall da, wo vergleichbare Voraussetzungen bestehen.
({39})
Der Sinn ist nicht mehr bezahlen als nötig, wenn ein besseres Angebot vorliegt. So kaufen Sie ein, und so kaufe auch ich ein. Insoweit ist es eine ganz vernünftige Regelung. Sie kann aber nur dort angewandt werden, wo es, wie ich bereits sagte, vergleichbare Therapiemöglichkeiten und Therapieangebote gibt.
({40})
Für einen Wirkstoff, der aus dem Patent- bzw. Verwertungsschutz herausfällt, kann frühestens zwei Jahre nach dem ersten Nachahmer ein Festbetrag gebildet werden.
Cronenberg ({41})
Es ist auch ordnungspolitisch richtig und einleuchtend, daß die Kassen unter Mitwirkung der Apotheken und Pharmahersteller festlegen, wo Festbeträge festgelegt werden sollen. Die Einführung solcher Festbeträge muß mit dem Sachverstand derjenigen geschehen, die davon etwas verstehen.
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Das ist sicherlich auch im Sinne des Kollegen Rappe von der SPD, der sich große Sorge um die Pharmaindustrie macht und sich dazu kritisch kontrovers zu mir geäußert hat. Sie wissen, daß ich ihn sehr schätze, aber diesen Dissens kann ich hier nicht leugnen.
Der stellvertretende Vorsitzende des DGB Muhr hat sich in dieser Sache völlig anders geäußert. Man kann sehen, daß auch er über die Probleme nachgedacht hat und gelegentlich zu dem gleichen Ergebnis kommt wie die Freien Demokraten.
Niemand kann ernsthaft bestreiten, daß mit dieser Strukturveränderung die Industrie und die Apotheker einen sehr bedeutsamen Beitrag zur Reform leisten. Wer über diese einschneidenden Maßnahmen hinaus Sonderopfer in Milliardenhöhe verlangt, der würde wirklich eine export- und forschungsintensive Industrie zum Nachteil der Patienten gefährden. Auch für die Apotheken werden Festbeträge zu Umsatzeinbußen führen. Deshalb wäre eine Erhöhung des Kassenrabatts nicht zu verantworten gewesen.
Wir haben in der Koalition vereinbart, daß ab 1991 statt der festen Rezeptblattgebühr sinnvollerweise eine prozentuale Zuzahlung eingeführt wird. Das hat viel, viel Überzeugungsarbeit gekostet, aber sie war nicht vergeblich. Das ist ein weiteres wirksames marktwirtschaftliches Steuerungsinstrument im Arzneimittelbereich. Das ist eine Strukturveränderung. Ich meine, über die Höhe der Selbstbeteiligung wird noch bis zum Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens zu entscheiden sein.
Ich habe für die ideologisch verblendete Kritik der SPD gegen die prozentuale Selbstbeteiligung kein Verständnis. Zum einen hat es so etwas bereits in SPD-Regierungszeiten gegeben, und zum anderen halte ich eine sozial vertretbare Selbstbeteiligung allemal für besser als die Bevormundung und die Zweiklassenmedizin durch Positivlisten.
({43})
Das ist der Unterschied. Mit Ihrem bürokratischen Zuteilungskonzept soll die Masse auf ein Mindestmaß gedrückt werden.
Meine Zeit erlaubt es mir nicht, auf das Kapitel „Krankenhaus- und Krankenkassenstrukturreform", bei dem letzteren gibt es viel Übereinstimmung mit den Sozialdemokraten, an dieser Stelle einzugehen; mein Kollege Dr. Thomae wird dies tun.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Alle unsere Bemühungen sollen zur Erhaltung unseres freiheitlichen Gesundheitssystems mit freier Arztwahl und Therapiefreiheit beitragen. Es ist bösartig, zu behaupten, diese Reform diene nicht den Versicherten. Jede Mark, die sinnvoll und vertretbar eingespart
wird, brauchen Sie, wir und andere beim Beitragszahler nicht mehr abzukassieren.
({44})
In diesem Zusammenhang ist das Wort „Abkassieren" richtig.
Natürlich weiß ich, daß die jeweilige Opposition versucht, die Regierung madig zu machen und ihr wahlpolitisches Süppchen zu kochen. Das ist auch heute versucht worden. Aber so wie ich mich in der Vergangenheit bemüht habe und mich auch in Zukunft bemühen werde, Argumente, auch wenn sie von der Opposition kommen, auf ihre Richtigkeit hin zu untersuchen und dies alles richtig zu gewichten, so bitte ich Sie ebenfalls, sich um Objektivität zu bemühen. Nicht nur die SPD, sondern auch die Leistungserbringer bitte ich,
({45})
sich mit diesen Dingen objektiv auseinanderzusetzen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß folgendes sagen. Vom Erfolg oder Mißerfolg dieser Reform hängt es ab, ob wir auf Dauer ein freiheitliches Gesundheitssystem oder ein verstaatlichtes Gesundheitssystem haben werden.
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Letzteres bedeutet: Weniger Freiheit, höhere volkswirtschaftliche Kosten und schlechtere Leistungen. Wer das nicht will, meine Damen und Herren, der muß unsere Bemühungen unterstützen - wenn schon nicht aus Begeisterung, dann wenigstens aus Einsicht.
Herzlichen Dank für Ihre Geduld.
({47})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Sie jetzt an den Radios und an den Fernsehschirmen sitzen!
({0})
Ich möchte mich heute insbesondere an jene Menschen in unserem Lande wenden, die mit Hoffen und Bangen in dieser Stunde nach Bonn sehen und uns hören, nämlich die Kranken,
({1})
die chronisch Kranken, die Behinderten, die Rentnerinnen und Rentner, die Arbeitsunfähigen, an die Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürger, die - wenn nicht heute, so bestimmt doch in Zukunft Frau Wilms-Kegel
mit den Untaten des Ministers Blüm bestraft werden.
Sie alle sollen zunächst einmal wissen, mit welchen Versprechungen, Zusagen, Vertröstungen und Ankündigungen Minister Blüm versucht hat, im Deutschen Bundestag am 4. Dezember 1987 alle diejenigen zu beruhigen, die dieses unsoziale - ja, ich möchte sagen: asoziale - Gesetzesvorhaben richtig erahnten.
({2})
Herr Blüm führte damals u. a. aus - ich zitiere - :
Wir erwarten einen Solidarbeitrag der Pharmaindustrie. Ohne diesen Solidarbeitrag ist diese Krankenversicherungsrefom nicht zu machen. Wir wollen mit den Arzneimittelherstellern über die Wege reden. Aber ich bin ganz sicher, daß das Gesetz die dritte Lesung dieses Bundestages nicht ohne einen solchen Solidarbeitrag - um das ausdrücklich zu sagen - der Pharmaindustrie erreichen wird.
({3})
Heute, Herr Minister, wissen wir es besser.
({4})
Sie wollten nicht in die Knie gehen; dabei zitterten Ihre Knie damals schon. Die Bauchlandung ist mittlerweile vollzogen, und Tatsache ist, daß die Mittel in Höhe des Solidarbeitrags nicht von der Pharmaindustrie erbracht werden, sondern von den Rentnerinnen und Rentnern in der Bundesrepublik Deutschland, und zwar in Höhe von 1,5 Milliarden DM. Welch ein Zufall! Genau in dieser Größenordnung sollte auch das Opfer der Pharmaindustrie liegen.
Schämen Sie sich eigentlich nicht, Herr Minister, daß Sie den Tritt, den man Ihnen in die Kniekehle gegeben hat, so daß Sie umgefallen sind, an Rentnerinnen und Rentner weitergeben, die Ihr Kostendämpfungsgesetz durch Beitragserhöhungen weitgehend finanzieren sollen?
Darüber hinaus wird gerade diese Gruppe unserer Bevölkerung durch vielfache Selbstbeteiligungen bei Massagen, Fangopackungen, Arzneimitteln, Taxifahrten und Zahnersatz kräftig zur Ader gelassen. Der soziale Minister Blüm fuhr damals fort:
Deshalb: Zieht Euch warm an. Es wird uns ein kalter Wind entgegenwehen. Ich sage entschlossen: Wir werden uns auch von Lobbyisten nicht umstoßen lassen.
({5})
Herr Blüm, ich fordere Sie auf, heute vormittag einen Verband, eine Institution, irgendeinen Betroffenen außerhalb der Regierungsfraktion zu nennen, die mit Ihrer Diskriminierungskampagne einverstanden sind. Sind Sie wirklich der Meinung, daß es ein Ausdruck von Stärke ist, ja gar ein Ausdruck von demokratischem Verhalten, wenn Sie ungeachtet aller Mahnungen und Bitten um Verständnis einzelner Betroffener die Bundesrepublik mit Gesetzen überziehen, deren Auswirkungen nicht nur finanziell brutal, sondern auch inhuman sind?
An welchen betroffenen Gruppen, Verbänden und Institutionen ist der Kelch des Ministers Blüm vorbeigegangen? Welche von ihnen sind von der Dampfwalze des Ministers nur leicht geschrammt worden, und welche Gruppen unserer Bevölkerung sind von der Wucht und der asozialen Dampfwalze aus dem Arbeitsministerium total erfaßt worden?
({6})
Zunächst einmal können sich die Arbeitgeber zufrieden in ihren Sesseln zurücklehnen. Deren Ziele haben Sie erfolgreich umgesetzt, Herr Minister, nämlich die Lohnnebenkosten in Hundertmillionenhöhe zu reduzieren, so daß die positiven Bilanzen weiterhin zu bersten drohen. Für die haben Sie Ihren eben so beschworenen „Rettungsversuch in letzter Minute" gemacht.
({7})
Die Lobbyistenzentrale der Arbeitgeber hier in Bonn hat sich bereits jetzt mehr als bezahlt gemacht.
Zufrieden mit Ihnen, Herr Blüm, lehnen sich auch die Vertreter des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie in ihre Ledersessel zurück und danken ebenfalls ihren Lobbyisten hier in Bonn für die Ersparnis von 1,7 Milliarden DM,
({8})
die nun, wie ich bereits ausführte, von den Rentnerinnen und Rentnern aufgebracht werden.
Es war eben ein Herr Blüm, dieses sogenannte Solidaropfer von 1,7 Milliarden DM zur Kanzlersache zu machen. Wenn wir uns nämlich jetzt die Ergebnisse dieses Kamingespräches zwischen dem Kanzler und dem Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie anschauen, dann wird endgültig klar, wer in Wahrheit die Gesundheitspolitik bei uns macht.
Mit ein paar Abstrichen nehmen auch die Apotheker Ihren Gesetzentwurf freudig zur Kenntnis, waren doch die ursprünglichen Pläne so ausgestattet, daß auch die Apothekerschaft einen merklichen Beitrag leisten sollte.
({9})
Auch hier hat sich Lobbyismus ausgezahlt, wobei wir nicht verkennen, daß es sehr viele kleine Apotheken gibt, die trotzdem um ihre Existenz und um die Arbeitsplätze ihrer Beschäftigten bangen müssen.
Daß die Gesundheitslobby von vornherein gegen Sie Front gemacht und versucht hat, ihre Klientel zufriedenzustellen, ist noch nachvollziehbar. Was mir aber ganz und gar nicht nachvollziehbar ist, ist die Tatsache, daß es eine Institution gibt, die bewußt von Anfang an ihren Mitgliedern in den Rücken gefallen ist und sich auf Ihre Seite und auf die Seite der Arbeitgeber geschlagen hat, nämlich der Deutsche Gewerkschaftsbund. Bis kurz vor der Veröffentlichung des jet5294
zigen Gesetzentwurfes haben immer wieder maßgebliche Mitglieder des DGB darauf verwiesen, daß sie Ihre Forderungen, Herr Blüm, nach mehr Transparenz, Festzuschüssen für Arzneimittel und Selbstbeteiligung unterstützen. Erst einen Tag vor Bekanntgabe Ihres Gesetzentwurfes hat sich der DGB mit Bedauern dahin gehend geäußert, daß er nunmehr das Gesetzeswerk nicht mehr mittragen will.
({10})
Doch war der DGB dabei die einzige große Institution, die Ihnen in den letzten Monaten als Verbündete zur Seite stand.
Wer aber sind nun die Verlierer? Wer bezahlt dieses sogenannte Reformwerk? Wer wird überwacht? Wer wird ausgehorcht? Bei welchen Menschen wird Ihre Dampfwalzenpolitik sichtbar? Die Bundesregierung hat allen Mahnungen zum Trotz Ihr sogenanntes Reformwerk unter ungeheurem Zeitdruck produziert. So sieht es auch aus.
Selbst konservative, Ihnen nahestehende Wissenschaftler, Herr Blüm, und fachkundige Journalisten halten das Werk für schlecht, unausgegoren und unsozial. Aber während die Lobbyisten in den letzten Monaten ungeheuer viel Geld und Tinte in die Kritik über die ihren Besitzstand angeblich gefährdenden Teile des GRG gesteckt haben und doch offene Ohren und Türen bei Ihnen vorgefunden haben, so haben die wirklich Betroffenen - die chronisch Kranken, die behinderten Menschen - kein Geld und keine Lobby gehabt.
({11})
Die Verzweiflung der wirklich Betroffenen wurde nicht einmal zur Kenntnis genommen.
Symptomatisch hierfür ist folgendes Beispiel, das mich - ehrlich gestanden - so furchtbar erschreckt hat, daß ich mich während des Gespräches mit dem Patientensprecher der Krankenanstalten Bethel für alle Politiker und Politikerinnen geschämt habe. Wie Sie sicherlich wissen, leben in den Anstalten von Bethel ca. 6 000 Langzeitkranke. Deren Patientensprecher hat in einem langen und ausführlichen Brief an Sie, Herr sozialer Minister, die Sorgen, Probleme und Ängste der Patienten dargelegt und natürlich gehofft - mit den übrigen 6 000 -, daß Sie es für nötig befinden, diesen Brief im Detail zu beantworten. Aber was macht der christliche Sozialminister? Im Gegensatz zu den Lobbyisten hier in Bonn bekommen der Patientensprecher und damit die 6 000 Kranken einen Formbrief mit der Anschrift: Sehr geehrte Frau, sehr geehrter Herr; nicht Zutreffendes durchgeixt; dann ein Standardbrief mit hohlen Phrasen ohne jeglichen Bezug! Daß dieser Brief eine riesengroße Enttäuschung hervorgerufen hat, brauche ich wohl nicht besonders zu betonen.
Ich frage Sie, Herr Minister: Schämen Sie sich eigentlich nicht, daß Sie da, wo Geld- und Machteinfluß herrschen, mit diesen Verbänden stundenlange Gespräche führen und einer so großen Behinderteneinrichtung einen Formbrief zukommen lassen? Das war der Beweis für Ihre herzlose, asoziale Dampfwalzen-politik.
Herr Blüm, ich hätte Sie herzlich gebeten, heute morgen nicht wieder die Sprüche loszulassen: Jeder bekommt das, was nötig ist. Seien Sie wenigstens heute morgen einmal ehrlich und sagen Sie der Bevölkerung, daß Kranke, Behinderte, chronisch Kranke, Rentnerinnen und Rentner nur dann keine Nachteile durch Ihr Reformwerk erfahren werden, wenn sie finanziell in der Lage sind, Ihre Streichungen auszugleichen.
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Sie erfassen jeden - außer diejenigen, die in der Lage sind, sich selbst zu versichern; denn von den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten erreicht nur etwa ein Drittel annähernd gesund das Rentenalter, ein weiteres Drittel muß meist wegen chronischer Erkrankungen vorzeitig verrentet werden, und das letzte Drittel stirbt bereits vorher. Das ist die Ausgangslage.
Tun Sie nicht immer so, als läge die gesamte Bevölkerung, insbesondere die Rentnerinnen und Rentner, auf Ihrer Ministertasche! Durch Ihre geplanten finanziellen Selbstbeteiligungen bei Hörgeräten, Brillen, Massagen, Kuren, Krankenhausaufenthalten, Arzneimitteln und Krankentransporten werden insbesondere die einkommensschwachen, die am häufigsten und schwersten Erkrankten, am stärksten belastet. Bei entsprechender Höhe der Selbstbeteiligung werden sich Arbeiter, Angestellte und Rentner überlegen, ob sie einen Arzt aufsuchen, ob sie medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können. Sie können später, vielleicht sogar zu spät medizinische Hilfe erhalten.
Die von Ihnen geforderten Selbstbeteiligungen, besser gesagt: zusätzlichen Selbstbeteiligungen, sind also nicht nur zutiefst unsozial, sondern widersprechen auch dem medizinischen Grundsatz: Vorbeugen ist besser als heilen.
Hier sei ein Beispiel angeführt. Ein Arbeitnehmer benötigt unbedingt 6 Massagen plus 6 Fangopackungen. Dieser Arbeitnehmer bezahlte für diese Maßnahmen bisher 8 DM Selbstbeteiligung. In Zukunft wird er statt 8 DM 48 DM Selbstbeteiligung aufzubringen haben, wenn er wieder halbwegs gesund werden will.
({13})
Dies, Herr Blüm, ist eine 600 %ige Steigerung der Selbstbeteiligung. Geben Sie mir einmal eine logische Begründung dafür, warum ich in meinem Wohnort Bad Breisig 4 DM zuzahlen muß, kure ich aber in Baden-Baden, erhalte ich die Massage gratis.
({14})
Ich möchte noch ein Beispiel bringen. Familie X, Papa, Mama und zwei Kinder von elf und neun Jahren, Bruttoeinkommen 2 500 DM monatlich, netto 2 100 DM; kein Härtefall also! Im Jahre 1 nach GRG braucht der Vater eine Oberkieferprothese für sechs Zähne, eine Unterkieferprothese für 8 Zähne mit drei
Kronen. Dafür mußte er schon bisher 1 700 DM zuzahlen. Nun sind es 3 000 DM zu seinen Lasten. Mama X merkt, daß es beim Zahnarzt nicht so schlimm ist und braucht nun auch eine Brücke für 3 Zähne. Bisher kostete sie das 410 DM, nun zahlt sie 820 DM. Die beiden Kinder müssen, wie das häufig so ist, in kieferorthopädische Behandlung, müssen also Klammern tragen. Diese Behandlung dauert im Durchschnitt etwa vier Jahre und kostet pro Kind und Jahr noch einmal rund 1 000 DM, wovon 600 DM sofort vorfinanziert werden müssen.
({15})
In diesem Jahr kommt also auf die Familie X eine zusätzliche Belastung allein für zahnmedizinische Behandlung von 4 500 DM zu. Das sind 375 DM monatlich und damit unter Umständen sogar mehr als der ohnehin gezahlte Krankenkassenbeitrag. Das setzt übrigens voraus, daß in der Familie keiner anderweitig krank wird; denn dann müssen sie noch einmal zuzahlen.
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Die über 500 Millionen DM, die Sie für zahnmedizinische Prophylaxe ausgeben wollen, sind herausgeschmissenes Geld, solange sie mit der Werbung für Gummibärchen konkurrieren müssen.
Sie machen es sich wirklich zu leicht, Herr Blüm. Sie erklären die Standardversorgung zum Luxus, und schon müssen die Beitragszahler erneut drauflegen. Die Zahnarztpraxen und Kieferorthopäden der Zukunft sind also wahrscheinlich mit einer zusätzlichen Kreditabteilung ausgestattet. Da bekanntermaßen heute schon sehr viel teurer, wenig haltbarer Schrott von den Spitzenverdienern unter den Zahnärzten in unsere Münder kommt: Gibt es vielleicht bald auch Leasingmodelle?
Durch die Ausgrenzung von Medizin mit sogenannten umstrittenen Nutzen durch schulmedizinisch besetzte Kommission aus der Kassenerstattungspflicht besteht die Gefahr, daß Medizin aus dem naturheilkundlichen Bereich völlig diskriminiert wird und verschwindet. Wenn Patienten auf bewährte Naturheilmittel zurückgreifen müssen, müssen sie diese in Zukunft selbst bezahlen.
Oder nehmen wir einen Landarzt. Der muß in Zukunft entweder bei der Diagnose pfuschen, um seinen Patienten eine kostenlose Krankenwagenfahrt zu ermöglichen, oder er muß den Patienten mit Verdacht auf Rippenbruch im überfüllten Bus zum 20 Kilometer entfernten Kreiskrankenhaus schaukeln lassen, damit der Patient dort geröntgt werden kann. Nicht überall herrschen auf Grund der Verkehrspolitik der Bundesregierung wirklich gute öffentliche Nahverkehrsverbindungen vor.
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Die zynischen Rechenschieber aus Ihrem Ministerium ziehen mit diesem Gesetzentwurf den Leuten mit wenigen Federstrichen Tausende von Mark im Jahr aus der Tasche.
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- Das kann ich auch. - Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich von Ihnen vorrechnen lassen, daß sie ab 1989 die Wahl haben: entweder Urlaub oder Zahnersatz; und 1990 heißt es dann: Urlaub oder Brille. Zum Schluß wartet auf uns ja die Pflegeabsicherung.
Was aber machen die Leute, die schon heute nichts zum Tauschen haben?
Und überhaupt, Herr Blüm: Wieso maßen Sie sich an, über die Pflegeabsicherung als eine große Errungenschaft zu sprechen, die doch frühestens 1991 in Kraft tritt, wenn nicht Sie, sondern hoffentlich ein GRÜNER Arbeitsminister sein wird?
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Die sogenannte Sozialklausel, die Sie sich ausgedacht haben, reicht hinten und vorne nicht aus. Dieses Alles-oder-nichts-Prinzip, nach dem jeder, der nur eine Mark über der Blümschen Härteschwelle liegt, in vollem Umfang draufzahlen muß, ist unmenschlich und geht an den sozialen Realitäten vorbei.
Herr Minister, was haben Sie sich eigentlich bei der von Ihnen erfundenen stufenweisen Wiedereingliederung - zu deutsch: Teilarbeitsfähigkeit - gedacht? Sie haben nun vor, mit Ihrem Medizinischen Dienst - besser gesagt: den Blockwarten der Gesundheit, den Oberkontrollettis - die kranken Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer so lange zu verfolgen, um sie dann beim Hausarzt zu denunzieren, die Krankheit sei keine Krankheit mehr, die Krankheitsdauer könne abgekürzt werden, die Krankentage sollten aufgeteilt werden zwischen Erholung und stundenweisem Arbeiten. Was haben Sie nur für ein Menschenbild, Herr Blüm! Lassen Sie die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Ruhe gesund werden, und lassen Sie es nicht zu, daß die Spitzel des Gesundheitswesens in diskriminierender Form diese Menschen verfolgen!
Den niedergelassenen ärztlichen Kolleginnen und Kollegen möchte ich sagen: Lassen Sie sich nicht mißbrauchen von diesen Gesundheitsagenten des Ministers Blüm!
Ein weiterer trauriger Gipfel Ihres Werkes Inhumanität ist der § 51, nach dem das Krankengeld dann gekürzt oder gestrichen werden kann, wenn der Nachweis geführt wird, daß der Versicherte diese Krankheit selbst verschuldet hat. Es ist einfach eine Unverschämtheit, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu unterstellen, sie würden ihre Krankheiten bewußt selbst herbeiführen.
In welche Lage versetzen Sie eigentlich die behandelnden Ärzte, die Sie so unter Druck setzen lassen, einmal durch die Krankenkasse, zum anderen durch den Arbeitgeber und zum dritten durch Ihren sogenannten Medizinischen Dienst? Das ist eine unmögliche Situation für die Hausärztin bzw. den Hausarzt, die während der ganzen Praxiszeit hin- und hergerissen sind: Auf welche Seite schlage ich mich nun: auf die Seite des Patienten, der Zeit braucht, um gesund zu werden, oder auf die Seite der Krankenkassen oder des Herrn Ministers Blüm?
Sie machen sich keine Gedanken darüber, die nachgewiesenen Gründe für Erkrankungen zu beseitigen, seien es nun Umwelt-, Arbeits- oder Lebensbe5296
dingungen. Nein, Sie bestrafen diese krank Gewordenen noch damit, daß Sie versuchen, die Krankheit, die Sie durch Ihre Umwelt- und Gesundheitspolitik produzieren, so darzustellen, als sei der Erkrankte selbst daran schuld. Das ist nicht christlich, das ist nicht sozial, das ist nicht menschenachtend; das ist einfach und schlicht eine Verhöhnung des kranken Menschen.
({20})
Herr Blüm, die Presse zitiert Sie mit dem Satz: Komm, Junge, wir haben doch gewonnen! Dieser aufmunternde Satz zu Ihrem Mitstreiter Herrn Jung läßt für mich eine Schlußfolgerung zu: Sie haben an Erfahrung gewonnen, daß man so nicht mit der Gesundheitspolitik umspringen sollte. Gesundheitspolitik ist zum Durchpeitschen nicht geeignet. Sie verwechseln Gesundheitspolitik mit Boxkämpfen. Die Gesundheit unserer Bevölkerung ist zum Erringer von politischen K.o.-Siegen wahrlich keine geeignete Disziplin.
Ich hoffe, Sie haben auch die Einsicht gewonnen und stehen zu Ihrer Aussage vom 4. Dezember 1987, daß, wenn der Solidarbeitrag der Pharmaindustrie nicht gezahlt wird, dieses Gesetzeswerk die dritte Lesung nicht sehen wird.
({21})
Sie haben die Chance, heute Ihr Gesicht wiederzufinden.
({22})
Sie haben die Chance, gegenüber der bundesdeutschen Bevölkerung Ihr Gesicht zu wahren, indem Sie ganz einfach nur ihre Aussage in die Tat umsetzen und Ihren Gesetzentwurf, eingebracht durch CDU/ CSU und FDP, zurückziehen lassen. Halten Sie doch wenigstens einmal Ihr Wort!
({23})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Günther.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte mich zunächst bei dem Kollegen Julius Cronenberg von der FDP-Fraktion sehr herzlich dafür bedanken, daß er noch einmal richtiggestellt hat, was der Minister gemeint hat.
({0})
Der Minister ist ja vom Kollegen Dreßler falsch zitiert worden.
({1})
Meine Damen und Herren, damit könnte man es eigentlich bewenden lassen, wenn nicht das ständige Wiederholen durch den Kollegen Dreßler deshalb erfolgt wäre, weil er mit einer wechselnden Zuschauerschaft vor dem Fernsehen gerechnet hat. Deswegen will ich noch einmal festhalten, was der Minister zur Korrektur selber gesagt hat. Herr Blüm hat das Gerede von der guten alten Zeit karikiert. Das hat er hier auch erklärt. Nach diesem Gerede wäre nämlich, so hat er gesagt, derjenige glücklich gewesen, der mit 35 Jahren gestorben ist, und wer heute 80 Jahre alt
wird, wäre unglücklich. Dieses Denken wollte er karikieren; er wollte zum Ausdruck bringen, daß das nicht so ist. Auf den Fortschritt der heutigen Medizin und auf den Fortschritt in der Gesundheitsvorsorge wollte er hinweisen. Dann ist er hier vom Kollegen Dreßler mit diesem einen Satz aus der Presse sinnverdrehend zitiert worden, womit das Ganze zur Unwahrheit wurde.
({2})
Herr Dreßler, ich muß Ihnen deutlich sagen: Sie wissen, daß Sie auch selber von der Presse schon oft falsch zitiert wurden, und Sie haben sich darüber - und zwar noch vor kurzem - sehr aufgeregt. Wenn Sie sich hier nun so aufführen, ist das in der Tat niederträchtig, ehrabschneidend und charakterlos.
({3})
Es wäre sicherlich sinnvoll gewesen, wenn Sie die Kraft besessen hätten, sich dafür hier zu entschuldigen oder wenigstens zu sagen, daß Sie sich vertan haben.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, das paßt natürlich zu den blindwütigen und maßlosen Attakken der Gegner dieses Reformgesetzes, die wir seit Wochen erleben.
({5})
Gegen sachliche und konstruktive Kritik kann man ja nichts einwenden, aber davon ist leider sehr wenig zu hören. Statt dessen zieht man mit Feuer und Schwert gegen das Reformvorhaben zu Felde, denn, meine Damen und Herren, man führt in der Tat einen Glaubenskrieg. Die Ungläubigen allerdings sind in diesem Falle wir, die Koalition, denn wir glauben nicht an das Heil einer Vergesellschaftung des Gesundheitswesens. Aber diese Vergesellschaftung ist das Konzept Ihrer Partei, der Sozialdemokratischen Partei.
({6})
Dies können Sie in Ihrem eigenen Konzept nachlesen. Herr Dreßler hatte nicht den Mut, es hier vorzutragen, und die nachfolgenden Redner Ihrer Partei werden den Mut auch nicht haben.
({7})
Ich zitiere deshalb, weil Sie Ihr eigenes Konzept nicht wahrhaben wollen, aus diesem Konzept,
({8})
und zwar in Form von Stichworten aus Ihrer Presseerklärung, Herr Dreßler, und der des Gesundheitsministers von Nordrhein-Westfalen, der der Sprecher der SPD-Gesundheitsminister ist. Ich zitiere:
Regionale Gesundheitskonferenzen, bestehend aus Gebietskörperschaften,
({9})
Krankenkassen und Leistungsanbietern, die allesamt
- hören Sie gut zu in öffentlich-rechtlichen Körperschaften organisiert sind,
({10})
legen die Angebotskapazitäten fest und erstellen den Gesundheitsbedarfsplan einer Region.
({11})
Meine Damen und Herren, reicht Ihnen das schon, oder soll ich weiter aus dem SPD-Konzept zitieren?
({12})
Die Herren selber tun das ja nicht. Öffentlich-rechtliche Körperschaften, also Behörden, sollen Ihren und meinen Gesundheitsbedarf planen, sie sollen den Gesundheitsbedarf aller Bürger planen! Planwirtschaft kennzeichnet andere Staatsformen als die unsere; sie wirkt sich stets zum Nachteil aller Bürger aus.
({13})
Deshalb lehnen wir sie ab.
({14})
Dies ist die Struktur des Gesundheitswesens, die wir nicht wollen, und deshalb führt die SPD in der Tat diesen Glaubenskrieg. Sie diffamiert unser Konzept als ein sogenanntes Abkassierungsmodell, und sie wird dies - das sage ich zur ganzen Bevölkerung - in den nächsten Monaten ständig wiederholen.
Natürlich muß man der SPD holzschnittartige Vereinfachungen durchaus zugestehen. Das, gebe ich zu, gehört auch zur Politik. Aber was uns hier vorgeworfen wird, geht in der Tat unter die Gürtellinie. Es soll bei den Versicherten, bei den Menschen im Lande den Eindruck erwecken, als sei die gesamte Reform nur darauf angelegt, ihnen Nachteile zuzufügen.
({15})
Diese Darstellung ist wissentlich unwahr; denn Sie können unser Gesetz lesen.
({16})
Es ist unanständig gegenüber allen Parteien der Koalition, diese so hinstellen zu wollen, als sei ihr politisches Sinnen und Trachten darauf gerichtet, dem Bürger allenthalben Nachteile zuzufügen und seinen Krankenversicherungsschutz zu untergraben.
Genau das Gegenteil, meine Damen und Herren, ist der Fall. Unser Gesetzentwurf will die Leistungsfähigkeit der Krankenversicherung auf Dauer sichern - und dieses ist wichtig: auf Dauer sichern. Das Konzept lautet: Gegen die Ausuferung der Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung und ihre Überforderung durch allerlei Wünschenswertes setzen wir die Konzentration der Solidarität auf das Notwendige. Wer krank ist - und dies kann man nicht oft genug wiederholen, weil es immer bestritten wird - , dem
wird auch künftig mit allen Kräften und mit allen geeigneten Mitteln geholfen werden.
({17})
Deshalb bauen wir Überversorgungen ab, wir bekämpfen Verschwendung, um Notwendiges auch in Zukunft auf Dauer finanzieren zu können.
({18})
Meine Damen und Herren, wir sichern die Mittel für die notwendigen Leistungen und für neue, bisher vernachlässigte Aufgaben, nämlich Pflege, Vorsorge und Früherkennung.
Die Unwahrhaftigkeit des Vorwurfs der Opposition mit ihrem berühmten Schlagwort des Abkassierungsmodells ergibt sich aus allen Bestandteilen des Reformkonzepts und aus dessen Inhalt insgesamt. Meine Kollegen der Koalition, die noch sprechen werden, werde dieses für andere Bereiche ausführen; ich werden auf wichtige Teile des Leistungsrechts eingehen, damit die Bürger vernünftig und sachlich informiert werden.
Gerade anhand der Festbeträge kann ich zeigen, daß es der Opposition auch in diesem Punkt nicht um eine sachliche Auseinandersetzung geht, sondern schlicht um die bloße Herabsetzung und Diffamierung einer Konzeption, und zwar deshalb, weil der Opposition wegen ihrer planwirtschaftlichen Vorstellungen die ganze Richtung nicht paßt.
({19})
Denn Sie wollen in der Tat die Planung. Wir wollen ein freiheitliches und soziales System. Dem entspricht das Festbetragsmodell, und es ist zudem völlig marktkonform. Deshalb paßt es der SPD auch nicht. Sie will - ich muß es wiederholen - die totale Planung im Gesundheitswesen.
Aber weil das Festbetragsmodell marktkonform ist - denn es beschränkt sich auf die Bestimmungen des Leistungsrahmens der Krankenversicherung - , paßt es auch der Arzneimittelindustrie nicht; denn diese wünscht keineswegs mehr Wettbewerb und mehr Markt, sondern sie möchte den paradiesischen Zustand bewahren, bei dem sie sehr weitgehende Spielräume der Preisgestaltung hat und die Krankenkassen alles bezahlen müssen. Aber wenn wir diesem, wenn wir es beibehielten, wirklichen Abkassierungsmodell zu Leibe rücken wollen, versucht die SPD, uns mit allen Mitteln daran zu hindern. Dieses muß auch noch einmal deutlich gesagt werden.
Fragen Sie, meine Herren von der SPD, einmal Herrn Rappe, was er davon hält. Vor diese Wahl gestellt, werden ihm die Festbeträge sicher dreimal lieber sein.
Auch der DGB war die ganze Zeit über bis vor wenigen Tagen für Festbeträge. Das war auch logisch; denn Festbeträge bei Arzneimitteln, im übrigen auch bei Brillen, bei Hörgeräten, bei Heil- und Hilfsmitteln, bedeuten: Der Versicherte erhält alle notwendigen Leistungen in vollem Umfang und ohne jede Zuzahlung. Ich sage noch einmal: Sie brauchen sich über eine erhöhte Zuzahlung bei Heil- und Hilfsmitteln nicht aufzuregen. Wenn es dort Festbeträge gibt, wird der Versicherte auch dort überhaupt nichts zuzuzah5298
len brauchen, und die Krankenkassen sind aufgerufen, mit den zuständigen Organen hier schnellstmöglich zu handeln. Dies fordere ich von dieser Stelle sehr eindringlich.
({20})
Meine Damen und Herren, dafür wird auch jeder Bürger sein; denn seine Interessen stehen bei immer weiter steigenden Beiträgen in der gesetzlichen Krankenversicherung auf dem Spiel. Immerhin reden wir hier für über 90 % der gesamten Bevölkerung.
Wer also Gutes will, der muß sich darum bemühen, daß die Festbeträge sobald wie möglich und so weit wie möglich verwirklicht werden.
Nun ist der DGB neuerdings allerdings nicht mehr für die Festbeträge; denn der Schulterschluß mit der SPD ist wichtiger als die Versorgung der Bürger.
({21})
Außerdem hätte man ansonsten einen weiteren brisanten Konfliktstoff gehabt. Nach der unerledigten Konflikt-Thematik der Arbeitszeitverkürzung kann man das im Augenblick nicht gebrauchen.
({22})
Jawohl, meine Damen und Herren, so ist es und nicht anders. Aus solchen Gründen und auf diese Weise werden die Versicherteninteressen, die Interessen von 90 % und mehr der Bevölkerung, geopfert. Da das letztlich auch gar nicht anders vom DGB zu erwarten war, brauchte man nur noch einen guten Vorwand, um sich von der für richtig angesehenen Festbetragslösung zu verabschieden. Da kommt natürlich das Stichwort prozentuale Selbstbeteiligung.
Ich habe überhaupt kein Problem, mich zur Frage der prozentualen Selbstbeteiligung eindeutig zu erklären. Ich war und bin kein Befürworter der prozentualen Selbstbeteiligung. Das gilt besonders für Arzneimittel.
({23})
Denn ich bin davon überzeugt, daß richtig ist, was der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie selber dazu sagt - ich darf zitieren - :
Die Konzentration der Arzneimittelausgaben auf relativ wenige Personen, insbesondere in den höheren Altersgruppen, kann als Hinweis auf die begrenzte Wirksamkeit prozentualer Selbstbeteiligungsregelungen mit Härtefallklauseln gewertet werden.
Dazu noch eine Erläuterung. Zur Konzentration der Arzneimittelausgaben auf relativ wenige Personen wird im Jahresgutachten 1987 des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen ausgeführt, daß rund 80 % der Arzneimittelausgaben auf 25 % der Versicherten entfallen und daß die sogenannten verordnungsintensiven Patienten vor allem in den höheren Altersgruppen zu finden sind. Die Pharmaindustrie sagt also selbst: Prozentuale Selbstbeteiligungen mit Härtefallklauseln - denn diese werden von allen für notwendig gehalten - haben nur eine begrenzte Steuerungswirkung. Aber gerade
deshalb sind natürlich die Pharmaindustrie, andere Leistungserbringer und andere Anbieter dafür.
Von diesem Instrument ist also weder hinsichtlich einer Dämpfung der Preise noch hinsichtlich einer Dämpfung der Menge der Leistungen Wesentliches zu erwarten. Für uns ist deshalb klar: Ab Inkrafttreten des Gesetzes kommen Festbeträge. Das ist für die Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen, also für die Nachahmerpräparate der Gruppe eins der entsprechenden Gesetzesvorschrift, unproblematisch machbar. Diese Aussage gilt auch für einen Teil der Gruppe zwei, also für die Arzneimittel mit pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen.
In diesem Bereich der Arzneimittel entfällt somit für den Versicherten jede Zuzahlung. Heute zahlt er 2 DM pro Medikament, in Zukunft zahlt er dafür überhaupt nichts. Dabei rechne ich damit, daß bis 1991 über 50 % der Arzneimittel unter den Festbetrag fallen werden. Also auch an dieser Stelle wieder nichts vom Abkassierungsmodell.
({24})
In diesem Bereich spart der Versicherte bei jedem verordneten Arzneimittel die berühmten 2 DM, und die Krankenversicherung spart Ausgaben, die wir im Jahre 1989 zunächst vorsichtig auf 500 Millionen DM schätzen, im Jahre 1990 auf 950 Millionen DM, im Jahre 1991 auf 1,4 Milliarden DM und im Jahre 1992 auf 2 Milliarden DM; zum Wohle der Versicherten und zur Beitragsstabilität, meine Damen und Herren. Die Arzneimittelindustrie und die Apotheker gehen von erheblich höheren Zahlen aus. Das kann ich verstehen. Sie sind meines Erachtens aber falsch. Klar ist jedenfalls, daß es die Leistungserbringer sind, die die Umsatzeinbußen in hundertfacher Millionenhöhe hinnehmen müssen, während die Krankenkassen und damit selbstverständlich die Versicherten in entsprechender Höhe entlastet werden.
Hieran ändert das Vorhaben überhaupt nichts, daß ab 1991 neben den Festbeträgen mit einer prozentualen Selbstbeteiligung gearbeitet wird; denn die Festbeträge gelten auch über 1991 hinaus weiter. Es gilt, daß auch ab 1991 weiterhin alle dafür geeigneten Arzneimittel nach und nach in die Festbetragslösung überführt werden. Auch das wird oft verschwiegen.
({25})
Auch das Verfahren, nach dem Festbeträge zustande kommen, ist einwandfrei und klar geregelt. Der Bundesausschuß Ärzte und Krankenkassen bestimmt, für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge festgesetzt werden. Dabei sind Sachverständige der medizinischen und pharmazeutischen Wissenschaft und Praxis sowie die Arzneimittelhersteller und die Apotheker beteiligt. Fachlicher Sachverstand und sachliche Richtigkeit sind also gewährleistet. Nicht die Politiker bestimmen die Festbeträge, sondern die Krankenkassen setzen die jeweiligen Festbeträge fest.
Ich bin Herrn Heitzer vom AOK-Bundesverband sehr dankbar, daß er in der Sendung im ZDF gestern abend noch einmal sehr deutlich gesagt hat, daß die Krankenkassen die Versicherten nicht im Stich lassen und dafür sorgen würden, daß nach wie vor eine verGünther
nünftige, medizinisch notwendige Versorgung gewährleistet sein werde durch das Festsetzen der Festbeträge durch die Krankenkassen.
({26})
Über die Arzneimittel hinaus soll auch die Versorgung der Versicherten mit Heil- und Hilfsmitteln auf Festbeträge umgestellt werden. Kritik an dieser Bestimmung des gesamten Leistungsrahmens der Krankenversicherung ist daher nicht berechtigt; denn für mehr als diesen Rahmen, also für mehr als das Notwendige, ist die Solidarkasse nicht zuständig.
Herr Dreßler, ich muß Ihnen sagen: Wenn Sie hier dazu auffordern, schnell noch Valium zu besorgen, weil es dies demnächst nicht mehr gibt, ist das genau eine Aufforderung zur Ausbeutung der Krankenversicherung.
({27})
Denn wenn das Ihr Konzept ist, dann können Sie damit erst recht einmal abtreten. Dies, meine Damen und Herren, ist die Wahrheit, Sie haben dies hier heute getan.
({28})
Meine Damen und Herren, diese Gesundheitsreform ist mit das bedeutendste gesellschaftspolitische Vorhaben dieser Wahlperiode.
({29})
Wir streben eine solidarische Erneuerung der gesetzlichen Krankenversicherung an. Wir wollen das hohe Niveau unseres Gesundheitswesens langfristig sichern und die Krankenkassen auf Dauer finanziell stabilisieren.
Und wir stehen, meine Damen und Herren, um das noch einmal unmißverständlich zu sagen, solidarisch zu unserem hervorragenden Arbeitsminister Dr. Norbert Blüm.
({30})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Egert.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich wollte eigentlich zur Sache reden.
({0})
Wenn mir das unmöglich gemacht wird, dann hat das damit zu tun, daß der Bundesarbeitsminister hier versucht hat, ein Zitat - ein Zitat! -, das mein Kollege Dreßler hier verlesen hat, in Abrede zu stellen. Er hat nicht versucht, dem Herrn Minister etwas zu unterstellen und aus seinem Kopf heraus zu erfinden.
({1})
nein, er hat aus der „Dithmarscher Landeszeitung" zitiert.
({2})
Der Minister hätte kurz und klar sagen können: Diese Auffassung teile ich nicht; wenn ich es gesagt haben sollte, bedaure ich es. Damit wäre es aus der Welt gewesen.
({3})
Statt dessen ist der Kollege Günther hier soeben hergegangen und hat gesagt, mein Kollege Dreßler sei ein Ehrabschneider. Diese und andere Verbalinjurien sind hier gefallen.
({4})
Nun würde ich den Kollegen Dreßler selber schelten, wenn er es, wie gesagt, erfunden hätte. Um so schlimmer ist es, daß der Minister die Übersicht über die Vielzahl seiner starken Sprüche offensichtlich verloren hat.
({5})
Denn der gleiche Minister hat diesen ungeheuerlichen Satz bei der Wirtschaftsvereinigung der CDU in Hamm ebenfalls gesprochen.
({6})
Ja, also scheint er doch ein Wiederholungstäter zu sein.
({7})
Nun wollen wir ihn dazu bringen, daß er in seinem Sprüchekästlein Ordnung schafft und diesen Spruch da endgültig heraustut. Dazu gehört, daß er sich hier entschuldigt und nicht der Kollege Dreßler beschimpft wird, Herr Kollege Günther.
({8})
Herr Abgeordneter Egert, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Limbach?
Ja.
Bitte sehr.
({0})
Herr Egert, könnte es sein - Egert ({0}): Mein Blutdruck ist so gut. Aber eigentlich ist er immer zu niedrig. Sie schaffen es, ihn auf die richtige Höhe zu bringen.
({1})
Frau Kollegin Limbach hat das Wort.
Das Wort erteilt, soviel ich weiß, der Präsident. Aber ich danke Ihnen, daß ich eine Zwischenfrage stellen darf.
Ja, weil die Herren mich hier stören, mußte ich die Worterteilung vornehmen.
Herr Kollege Egert, könnte es sein, daß Ihnen dadurch, daß Sie hier noch nicht anwesend waren, entgangen ist .. .
Ich war hier von Beginn an anwesend!
..., daß erstens der Kollege Dreßler behauptet hat, er zitiere aus einem Interview
({0})
- doch, das hat er wohl gesagt ({1})
mit einer Zeitung - deren Name ist mir im Moment entfallen - , und könnte es zweitens sein, Herr Egert, daß Ihnen entgangen ist, daß Herr Blüm in seiner Stellungnahme hier ausdrücklich dargelegt hat, daß dies eine ironisierende Bemerkung im Zusammenhang einer Rede war,
({2})
in der er darüber gesprochen hat, daß, wenn die Menschen heute älter werden, dies eine erfreuliche und keine beklagenswerte Tatsache ist? Könnte es sein, daß Ihnen das alles entgangen ist?
Ist das eine Einlassung zur Sache oder eine Frage?
Herr Egert, ich habe eine Frage gestellt.
Nein, Sie haben keine gestellt, Sie machen Ausführungen in der Sache. Aber bitte. Das wird der Präsident jetzt gleich feststellen.
Nein, nein. Ich habe Sie gefragt, ob es Ihnen entgangen ist, daß . . .
({0})
So. Frau Kollegin Limbach, ich antworte Ihnen wie folgt: Ich war von Beginn an anwesend.
({0})
Ich habe alles gehört: die Einlassungen des Kollegen Dreßler, die Einlassungen des Ministers Blüm. Und ich stelle fest: Wenn er sagt, er habe ironisiert, dann frage ich mich, ob man mit diesen Tatbeständen, mit Entsetzen Scherz treiben darf. Ich halte das für ungeheuerlich.
({1})
So. Aber nun möchte ich gern wieder zu Ihrem anspruchsvollen Gesundheits-Reformgesetz zurückfinden.
({2})
- Wissen Sie, ich rede noch zu dem, was ich will, und nicht zu dem, was Sie wollen, Herr Kollege Scharrenbroich. Daran müssen Sie sich gewöhnen. Sie können hier - -({3})
- Dann waren Sie der Frechling. Ist doch egal, wer es nun war.
({4})
Sie versuchen die ganze Zeit, mich zu stören.
({5})
- Entschuldigung. Ich will mich mit dem auseinandersetzen, was in diesem Hohen Haus Gegenstand dieser Debatte ist.
({6})
Ein Gesundheits-Reformgesetz - mit diesem anspruchsvollen Titel versuchen Sie vor der Öffentlichkeit immer wieder den Eindruck zu vermitteln, Sie würden wirklich eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen durchführen und Ihr Versprechen einlösen.
({7})
Nun haben der Bundesarbeitsminister und auch die Koalitionsabgeordneten dieses Ziel inzwischen mehrfach relativiert. Sie haben gesagt, das sei ein erster Schritt, dann kommt der zweite Geleitzug. Herr Kollege Cronenberg hat gesagt, daß das natürlich auch kostendämpfende Entwicklungen hat. Aber selbst diese bescheideneren Zielsetzungen werden mit Ihrem Gesetzentwurf nicht erfüllt. Im Gegenteil, von wirksamen Reformen ist keine Spur. Statt dessen - das wiederhole ich hier, weil man es gar nicht häufig genug sagen kann - gibt es eine einseitige Umverteilung, neue Belastungen für die Versicherten und die weitgehende Schonung der Leistungserbringer im Gesundheitswesen. Dies wird auch nicht dadurch
falsch, daß der Kollege Günther sagt, dies sei nicht so. Die Realität spricht leider dagegen.
({8})
Was Sie präsentieren, ist, wie ich finde, ein besonders schlimmer Akt in dem Schauerstück sozialer Ungerechtigkeit, das diese Koalition nun seit Oktober 1982 in Permanenz aufführt.
Nun will ich an einem Punkt etwas sagen, was mich betroffen macht. Sie fangen mit dem an, was Sie tun. Sie dürfen das alles tun, weil Sie die Mehrheit haben und die Wählerinnen und Wähler Sie gewählt haben. Aber Sie dürfen die Begriffe nicht in ihrem Sinn verkehren.
({9})
Sie können aus dem Begriff der Solidarität nicht ein Synonym für Abkassierung machen. Dies können wir Ihnen politisch nicht erlauben.
({10})
Sie können Eigenverantwortung nicht mit den Merkwürdigkeiten belegen, mit denen Sie das in diesem Gesetz machen. Ich bin politisch in der Sozialdemokratischen Partei mit den Begriffen von Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit aufgewachsen.
({11})
- Da bin ich aufgewachsen, Gott sei Dank nicht bei Ihnen.
Wir werden abwehren müssen, daß Sie die Menschen mit Begriffen von Solidarität, Gerechtigkeit und Freiheit besoffen reden, als hätte das mit neu bestimmter Solidarität zu tun. Die Wahrheit ist anders. Die Wahrheit ist, daß die Solidarität zwischen den Kranken und den Gesunden verkürzt wird. Der eine Punkt ist, daß sie zwischen den unterschiedlichen Belastungssituationen finanziell verkürzt wird, und die Solidarität wird schlagseitig ausschließlich auf die Seite der Versicherten und Beitragszahler verkürzt, weil man die Arbeitgeber aus diesem Konzert rausläßt.
({12})
Herr Minister Blüm wird nicht müde, zu sagen: Alles geht an die Versicherten zurück. Dies ist die erste Unwahrheit. An die Versicherten geht nicht alles zurück, sondern ein Teil geht, wenn es denn die erwarteten Beitragssenkungen geben kann, an die Arbeitgeber zurück. Schon dieses Wort ist also unwahr.
({13})
Dann rühmen Sie sich - das haben wir schon in einer Aktuellen Stunde diskutiert - , daß Sie endlich was zur Pflege tun. Wie sieht es denn nun mit der Solidarität aus? Die Solidaritätsfrage wird immer wieder als Schirm vor diesen ganzen Unfug gestellt, und da sieht es mit der Solidarität so aus, daß Sie - davon kommen Sie nicht weg - die Krankenversicherten
und die Rentnerinnen und Rentner diesen Pflegeeinstieg bezahlen lassen.
({14})
Da wird in der Sache nichts gegen einen notwendigen Einstieg in die Pflegesicherung gesagt, sondern nur dagegen, wie das Unternehmen finanziert wird. Gestern hat mir Herr Jung, der Abteilungsleiter, in anderem Zusammenhang erzählt: Es ist eben nicht möglich gewesen, das Geld von Herrn Stoltenberg zu kriegen; aber es ist offensichtlich leichter, in die Taschen der Krankenversicherten und in die Taschen der Rentnerinnen und Rentner zu fassen, um das zu bezahlen. Da kommen Sie mir doch nicht mit Solidarität!
({15})
Das hat gar nichts damit zu tun, daß ich die Regelung in der Sache richtig finde und nur die Art und Weise, wie das finanziert wird, falsch finde. Herr Minister, Sie kommen nicht darum herum, sich mit Ihrem merkwürdigen Solidaritätsbegriff, mit dieser Art von Finanzierung auseinanderzusetzen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Schemken?
Nein. Jetzt gestatte ich keine Zwischenfragen mehr.
({0})
Weil die Herren und Damen vorhin so viel dazwischengelärmt haben, brauche ich nun die Zeit, um in der Sache weiterzukommen, Herr Präsident. Dies gilt für die ganze Zeit, damit Sie das wissen.
({1})
Nun will ich mich noch ein paar Minuten mit der Solidarität auseinandersetzen. Mein Freund Dreßler hat schon zu Recht gesagt: Jemand, der keine Härtefälle schafft, braucht keine Härtefallregelung. Auch da wird die Solidarität verkürzt.
Nun haben Sie noch eine semantisch schöne Übung gemacht. Sie sagen: Wir schaffen noch ein Übriges. Damit wird Selbstbeteiligung nicht ins Grenzenlose wächst, machen wir eine Überforderungsklausel. Die Wahrheit ist: Sie schaffen einen Selbstbeteiligungsbegrenzungsfonds und nicht eine Überforderungsklausel. Denn wenn Sie mit uns einig wären und das Sachleistungsprinzip verteidigen würden, dann bräuchten wir die Überforderungsklausel nicht, weil im Sachleistungsprinzip die Selbstbeteiligung keinen Platz hat.
({2})
Wir brauchen also keine Überforderungsklausel.
Sie kommen mir vor, Herr Minister, wie jemand der sagt: Lassen Sie uns einen begrenzten Waldbrand machen, und der gleich die Spritzen verteilt und ver5302
kündet: Es darf hier aber nur in diesem Umfang gebrannt werden; wehe, der Brand greift über.
({3})
Da sage ich, Herr Brandstifter: Das Problem ist, wer einmal zum Brandstifter wird, der kann davon nicht lassen; er wird zum Gewohnheitstäter.
({4})
Ich fürchte also, daß die prozentuale Selbstbeteiligung, die es bei Arzneimitteln, bei Heil- und Hilfsmitteln, bei Fahrtkosten, bei Zahnersatz usw. geben soll, ausgeweitet wird. Damit zerstören wir eines der tragenden Prinzipien unserer gesetzlichen Krankenversicherung. Genau dagegen sind wir allerdings als Sozialdemokraten; das soll hier mit uns nicht verhandelt werden.
({5})
Ich komme jetzt zu Ihrer Überforderungsklausel. Sie hat ja einen „Charme", den die Menschen draußen kennen müssen. Bei Heil- und Hilfsmitteln und bei Arzneimitteln gibt es keine Härtefälle. Also gibt es einkommensbezogen 2 % Strafsteuer - so hat mein Kollege Dreßler gesagt - für jede und jeden, vom Sozialhilfeempfänger über die Rentnerin bis zu den vom Einkommen her Bessergestellten. Da existiert keine Härtefallregelung, sondern da greift Ihre fürsorgliche Überforderungsklausel, nach der bei den Sozialhilfeempfängern vom Existenzminimum noch 2 % für Arzneimittel und Heil- und Hilfsmittel kassiert werden, also bei einer Rentnerin mit 1 200 DM Rente 24 DM im Monat. Dies soll solidarisch sein? Wenn dies solidarisch ist, dann heiße ich ab sofort Karl Egon. Dies ist das Gegenteil von solidarisch; dies ist das Abkassierungsmodell.
({6})
- Norbert möchte ich nun - mit Verlaub, mein Vorsitzender - wirklich nicht heißen. Da gibt es Vorgänger, die mir diesen Vornamen suspekt machen.
Zu dem Solidaritätsmodell: Ich will Ihnen bei der Solidarität noch einen Punkt ins Gedächtnis rufen, nämlich den des Zahnersatzes.
({7})
Wir haben das hier alles so diskutiert, als wäre das sozusagen nur eine Frage der Beträge. Nein, die Beträge stehen ja im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Menschen. Frau Kollegin Wilms-Kegel hat sinnvollerweise darauf schon hingewiesen.
Ich will das noch einmal bewußt machen. Sehen Sie denn nicht, welche soziale Unmöglichkeit Sie mit diesem Kostenerstattungsprinzip bei Zahnersatz etablieren? Es ist doch eine verrückte Idee, wenn Kleinkredite dafür aufgenommen werden müssen.
({8})
Dann kommt wegen der Solidarität wieder die finanzielle Möglichkeit der einzelnen und des einzelnen
zum Tragen. Hier ist schon gesagt worden: Er oder sie hat die Entscheidung, auf die Leistung zu verzichten - das ist eine Möglichkeit - , oder er oder sie hat die Entscheidung, sich zu verschulden.
Von dem bürokratischen Unfug, der insgesamt angerichtet wird, will ich überhaupt nicht reden. Das haben die Krankenkassen viel besser drauf, so daß ich das nicht mehr in die Debatte einführen muß. Auch da verstoßen Sie wieder gegen das Sachleistungsprinzip. Das wendet sich dann gegen Ihre Idee der Festbeträge. Sie halten diese als das einzige steuernde Instrument hoch. Da muß ich Ihnen sagen: Auch wir Sozialdemokraten sind, weil wir für das Sachleistungsprinzip sind, gegen das Kostenerstattungsprinzip, erstens weil es die Menschen überfordert und zweitens weil wir es auch für einen Systembruch in der gesamten Krankenversicherung halten. Ich denke, daß Sie von daher auch dort unsere Unterstützung nicht erwarten können.
Nun komme ich zu den Festbeträgen. Wissen Sie, da haben wir Sozialdemokraten eine andere Idee. Diese hätten wir übrigens in der letzten Legislaturperiode schon verwirklichen können. Wenn die Bereitschaft auf dieser Seite des Hauses vorhanden gewesen wäre, hätten wir streng marktwirtschaftlich orientierte vertragliche Beziehungen zwischen Krankenkassen und Pharmaindustrie herstellen können.
({9})
- Wir haben den Gesetzentwurf hier eingebracht. Sie haben ihn aus Ignoranz abgelehnt, und dieser Herr kommt jetzt daher und sagt, es habe keine Vorschläge gegeben. Es hat Vorschläge gegeben; sie waren in der Ausschußberatung; sie hätten verabschiedet werden können; sie sind nicht verabschiedet worden. Unsere Vorschläge halten wir für eine Alternative zu dem Festbetragskonzept.
({10})
- Herr Cronenberg, aber der Festbetrag hat etwas mit Marktwirtschaft zu tun. Nun lassen Sie sich doch auslachen. Wenn ich zur Firma Mercedes-Benz gehe und ihr 75 % der Jahresproduktion abnehme, dann möchte ich einmal wissen, ob ich von der Firma Mercedes-Benz nicht günstigere Konditionen bekommen kann als die gesetzliche Krankenkasse von der Pharmaindustrie. Ich glaube, das ist doch ein Widersinn, Herr Kollege Cronenberg.
({11})
Sie als Fahnenstangenfabrikant wissen das besser als ich. Also kommen Sie mir nicht mit so dummen Zwischenrufen.
({12})
Hier hätte es eine Möglichkeit geben können, etwas zu tun. Ich sage gleich dazu, daß das Festbetragskonzept eine Alternative ist.
({13})
- Ach, wissen Sie, Herr Cronenberg, jetzt will ich Ihnen einmal ein Kolleg in Marktwirtschaft halten. Der Pharmamarkt ist nun wirklich monopolartig strukturiert in unserer Gesellschaft - wirklich monopolartig; gehen Sie zum Kartellamt, und lassen Sie es sich erzählen - , weil sieben große Unternehmen den Markt nach Produktionen unter sich verteilt haben. Erzählen Sie mir doch nicht, daß da Wettbewerb und Markt funktionieren. Dies ist doch wirklich grober Unfug.
({14})
- Wir werden in den Ausschüssen noch Gelegenheit haben, uns über Ihre Vorstellungen weiter auseinanderzusetzen. Ich will Ihnen hier heute nur sagen, daß Sie - ({15})
- Nein, es erregt, was Sie da an Unfug in die Welt setzen wollen.
({16})
Wir werden nicht zulassen, daß Sie mit Ihrem unsozialen Machwerk die Bürgerinnen und Bürger darüber hinwegtäuschen, daß Sie tatsächlich strukturell neue Wege gehen wollen. Das sind aber Wege in ein neues System, das die gesetzliche Krankenversicherung zerschlagen soll. Dabei sind Sie hier auf dieser Seite, ganz rechts außen von mir, die Schrittmacher.
({17}) Vielen Dank für Ihre aufgeregte Geduld.
({18})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seehofer.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich fühle mich an eine alte Lebensweisheit aus meiner bayerischen Heimat erinnert: Die lautesten Kühe geben die wenigste Milch.
({0})
Wir diskutieren jetzt seit 9 Uhr; seit zweieinhalb Stunden ist die SPD nicht in der Lage,
({1})
hier vor der deutschen Öffentlichkeit zu sagen, wie sie die Strukturreform im Gesundheitswesen durchführen möchte.
({2})
Meine Damen und Herren, es ist das Recht der Opposition, Kritik zu üben, aber es ist auch eine Pflicht der
Opposition, selbst die Karten auf den Tisch zu legen
und zu sagen, wie man selbst diese Reform durchführen möchte.
({3})
Herr Egert, Sie haben am 7. Mai 1987 - exakt vor einem Jahr - im Pressedienst Ihrer Fraktion geschrieben, daß Sie die Bundesregierung aus ihrem gesundheitspolitischen Dämmerzustand aufwecken wollen.
({4})
Hochmut kommt vor dem Fall. Während Sie als SPD noch in Ihrem Schrebergarten sitzen und überlegen, ob und was Sie säen sollen, steht diese Koalition bereits vor der Ernte.
({5})
Und es ist für die Versicherten eine gute Ernte; denn wir diskutieren seit Mitte der 70er Jahre über die Absicherung des Pflegefallrisikos. Jetzt ist die Zeit unverbindlicher Programme und Überlegungen vorbei.
({6})
Mit diesem Gesundheitsreformgesetz werden Hilfen für die Schwerpflegebedürftigen eingeführt. Die Zeit des Redens und der leeren Programme ist vorbei, meine Damen und Herren.
Nach Wiedereinführung der Kinderfreibeträge im Steuerrecht, nach Einführung des Erziehungsurlaubs mit Erziehungsgeld, nach Anerkennung der Erziehungszeiten im Rentenrecht ist dies der vierte familienpolitische Durchbruch seit dem Kurswechsel 1982.
({7})
Wir lassen im Gegensatz zu Ihnen die Familien nicht links liegen,
({8})
sondern wir unterstützen die Familien als Fundament einer freien und menschlichen Gesellschaft.
({9})
Meine Damen und Herren, während bei einer Krankheit umfassende Absicherung und Versorgung von der gesetzlichen Krankenversicherung gewährleistet ist - die Krankenkassen finanzieren alles -, muß ein Pflegebedürftiger in aller Regel die hohen Pflegekosten selbst tragen.
({10})
Dieses ist ein Alles-oder-nichts-Prinzip,
({11})
und dieses Alles-oder-nichts-Prinzip ist sozialpolitisch
nicht länger vertretbar. Es geht nicht weiter an, daß
jede Bandage, die leichteste Erkrankung über die
Krankenversicherung bezahlt wird, aber das hohe Risiko der Pflege jeder solidarischen Absicherung entbehrt. Dies ist ein sozialpolitischer Skandal, der jetzt sein Ende findet.
({12})
Wir lassen die Pflegebedürftigen nicht allein. Wir kassieren nicht ab; wir sichern ab, meine Damen und Herren. Das ist der wesentliche Unterschied zu dem, was Sie uns ständig vorwerfen. Wir führen mit dieser Gesundheitsreform eine entscheidende Verbesserung für die Pflegebedürftigen ein, wobei im Mittelpunkt unserer Hilfe steht, daß wir die häusliche Pflege stärken und die Angehörigen, die seit vielen Jahren Pflegebedürftige unterstützen, entlasten.
Ich meine, es ist human und vernünftig, wenn Pflegebedürftige die Zuwendung ihrer Angehörigen erfahren und die sozialen Bindungen durch Verbleiben in der gewohnten Umgebung erhalten bleiben. Wir setzen auf die ambulante Versorgung, weil sie menschlicher und auch finanziell vorteilhafter ist als die stationäre Versorgung.
({13})
Uns geht es um mehr als um die bloße Verwahrung pflegebedürftiger Menschen. Wir wollen auch die menschliche Zuwendung.
({14})
Meine Damen und Herren, die Pflege ist auch Dienst am Nächsten und fordert in erster Linie die Familien. Viele Angehörige nehmen sich in aufopferungsvoller Weise dieser Aufgabe an. Zwischen 80 und 90 % der Hilfebedürftigen werden in vertrauter Umgebung zu Hause gepflegt. Dies ist ein unersetzbares Zeugnis von Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft.
Nun sind pflegende Angehörige oft nicht in der Lage, die Pflege über mehrere Jahre ohne Entlastung und Unterstützung zu leisten. Werden diese Pflegekräfte ständig überfordert, ist einmal der Weg des Pflegebedürftigen in die Heimunterbringung vorgezeichnet, oder aber es besteht die Gefahr, daß aus dem Pflegenden von heute der Pflegebedürftige von morgen wird, und das müssen wir verhindern, meine Damen und Herren.
({15})
Wir führen deshalb für Schwerpflegebedürftige in zwei Schritten folgende neue Leistungen in der gesetzlichen Krankenversicherung ein. Ab 1. Januar 1989 wird die gesamte häusliche Pflege für vier Wochen im Jahr übernommen, wenn die Pflegeperson wegen Krankheit, Urlaub oder aus einem sonstigen Grund ausfällt, und ab 1. Januar 1991 werden zusätzlich Pflegehilfen gewährt, und zwar bis zu 25 Pflegeeinsätze von ambulanten Diensten je Kalendermonat; wahlweise zahlt die Krankenkasse auch eine Pflegehilfe als Geldbetrag von 400 DM je Monat.
Wir haben uns in der Regierungskoalition trotz mancher Widerstände in der öffentlichen Diskussion für die sogenannte Krankenversicherungslösung entschieden, d. h. das Leistungsrecht der gesetzlichen
Krankenkassen wird um einen neuen Versicherungsfall der Pflegebedürftigkeit ergänzt. Es gibt eine ganze Reihe guter Gründe, warum wir uns für diese organisatorische Lösung entschieden haben.
Es ist heute sehr schwer, Pflegebedürftigkeit und Krankheit voneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzungsfragen verlieren entscheidend an Schärfe, wenn sowohl bei der Krankheit wie der Pflegebedürftigkeit ein und derselbe Träger die Leistung erbringt. Darüber hinaus steht mit den Krankenkassen eine Trägerorganisation bereit, die besondere Erfahrungen mit der Durchführung von gesundheitlichen und sozialen Aufgaben aufweist. Wir vermeiden damit eine neue Sozialbürokratie. Wir greifen zurück auf das Bewährte, auf eine Organisation, die sich seit über 100 Jahren bewährt hat.
Schließlich bringt die Krankenversicherungslösung auch den Vorteil, daß wir umfängliche neue Vorschriften für das Beitragsrecht und für den versicherten Personenkreis vermeiden.
Meine Damen und Herren, die Leistungen der Pflegehilfe gefährden auch nicht unser Ziel der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung. Beitragssatzstabilität darf nicht mit dem Verzicht auf gesundheitliche Gestaltung gleichgesetzt werden.
({16})
Auch bei stabilen Beitragssätzen ist es möglich, neue Leistungen einzuführen, neuen Herausforderungen gerecht zu werden, wenn man auf der einen Seite gesundheitspolitische Prioritäten setzt und gleichzeitig Einsparvolumen erzielt, wie wir es mit dieser Gesundheitsreform erreichen.
Auch die Solidargemeinschaft der Beitragszahler wird nicht überfordert. Neue Leistungen der Pflegehilfe werden erst in Kraft gesetzt, wenn die Einsparungsvolumen vorhanden sind. Deshalb verwirklichen wir diese Pflegehilfe in zwei Schritten. Zudem ist der anspruchsberechtigte Personenkreis beschränkt auf die Schwerpflegebedürftigen. Das sind die Menschen, die rund um die Uhr der Pflege bedürfen. Es sind etwa 600 000 in der Bundesrepublik Deutschland, 1 % der Bevölkerung.
Darüber hinaus erhalten nur diejenigen Versicherten Pflegeleistungen, die länger in diese Solidargemeinschaft einbezahlt haben.
({17})
Frau Unruh, es muß vermieden werden, daß jemand zeit seines Lebens in der Privatversicherung ist, mit 57 Jahren in die Solidargemeinschaft der gesetzlichen Krankenversicherung kommt und dann gegen das Risiko des Pflegefalls abgesichert ist. Deshalb sollen nur die einen Vorteil von dieser Absicherung haben, die auch den Hauptteil ihres Lebens in diese Solidargemeinschaft einbezahlt haben.
({18})
Das Vorliegen der schweren Pflegebedürftigkeit muß durch den medizinischen Dienst überprüft werden. Das, was oft in der Öffentlichkeit befürchtet wird,
Deutscher Bundestag - 1 i. Wahlperiode Seehofer
daß es zu einer Entscheidung nach Aktenlage kommt, findet nicht statt.
Schließlich kann die Geldleistung in Höhe von 400 DM nur derjenige beanspruchen, der selbst ausreichend Zeit hat, die Pflege durchzuführen. Eine volle Erwerbstätigkeit und gleichzeitig Bezug des Pflegegeldes sind nicht möglich. Damit vermeiden wir ein Ausufern von Mitnahmeeffekten, und das ist sehr wichtig.
Zugleich muß man bei all diesen Finanzierungsüberlegungen berücksichtigen, daß die Hilfe bei der häuslichen Pflege auch zu einer Entlastung der Krankenhäuser von Fehlbelegungen durch Pflegefälle führt und daß die Absicherung der ambulanten Pflege einen ganz entscheidenden Anreiz dafür darstellt, daß künftig Pflegebedürftige nicht in das Krankenhaus eingewiesen werden, obwohl die Voraussetzungen für eine Krankenhausbehandlung überhaupt nicht vorliegen.
Meine Damen und Herren, die Solidargemeinschaft wird den privaten Aufwand und Einsatz für Pflege nie ersetzen können. Wenn wir jedoch heute nicht den Mut aufbringen, die familiäre Pflege zu ergänzen, zu unterstützen und vor Überforderung zu schützen, dann wird uns dieses Problem auf Dauer sehr teuer kommen, weil wir damit der Abschiebung in Pflegeheime und Krankenhäuser Vorschub leisten. Es ist die Erfahrung aus Ihrer Regierungszeit, meine Damen und Herren von der SPD, daß eine Politik, die an der Familie spart, letztendlich alle teuer zu stehen kommt.
({19})
Die gesetzliche Krankenversicherung leistet mit dieser Pflegehilfe im Rahmen ihrer Aufgabenstellung das Erforderliche und, wie ich hinzufüge, das finanziell Zumutbare. Eines stelle ich in aller Deutlichkeit für unsere Fraktion fest: Mit der jetzt vorgesehenen Pflegehilfe hat die gesetzliche Krankenversicherung ihren Beitrag zur Pflegefallabsicherung geleistet. Es ist der einzige Beitrag. Weitere Schritte müssen außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung erfolgen, und dafür ist ein Gesamtkonzept notwendig.
({20})
Meine Kolleginnen und Kollegen, materielle Förderung ist wichtig, aber sie ist nicht alles. Ganz entscheidend kommt es auch darauf an, daß wir auch in der Zukunft ein waches Bewußtsein für die nicht aufhebbare Solidarität zwischen den Generationen erhalten. Die Verantwortung der Familie beschränkt sich nicht allein auf die Verpflichtungen von Eltern gegenüber Kindern. Dazu gehört auch die Verantwortung von Kindern ihren Eltern gegenüber, wenn sie im Alter hilfsbedürftig werden.
({21})
Wenn eine Mutter drei Kinder großziehen kann, dann muß es auch möglich sein, daß sich die drei Kinder im Alter um die Mutter kümmern.
({22})
Ich habe heute wiederholt den Vorwurf gehört, die von uns angestrebte Stärkung der Eigenverantwortung und Solidarität bedeute eine Privatisierung der Risiken, die Einführung einer Zweiklassengesellschaft. Dies ist schlichtweg Unsinn. Ich wiederhole jetzt zum drittenmal für unsere Fraktion: Keine Mark, die eingespart wird, geht den Beitragszahlern und Versicherten verloren.
({23})
Sie bekommen das Sparvolumen zurück über die Beitragssenkungen und über eine neue Gesundheitspolitik. Ein wesentlicher Eckpfeiler dazu ist die Pflegefallhilfe. Herr Dreßler, so einfach kann man es sich nicht machen, ein Jahr herauszuziehen und zu sagen: In diesem Jahr sinken die Beiträge um 0,2 Prozentpunkte, für den Arbeitnehmer also um 0,1 Prozentpunkte, und das sind 1,50 DM. Sie müssen die Rechnung vielmehr folgendermaßen anstellen, Herr Dreßler: 1970 waren es 8%, heute sind es 13,5 %, und wenn wir nicht reagieren, dann beträgt der durchschnittliche Beitrag Anfang der 90er Jahre 16 bis 17 %.
({24})
Das bedeutet, daß die Differenz zwischen den Beiträgen von 1970 und heute rund 10 % ausmacht; das sind für den Arbeitnehmer 5 %. Wenn ich jetzt bei Ihrem Beispiel eines Verdienstes von 3 000 DM bleibe, dann bedeutet dies eine Entlastung von 150 DM im Monat, die der Arbeitnehmer durch eine Strukturreform im Gesundheitswesen erfährt. Das ist in etwa der gleiche Betrag, den ein Durchschnittsverdiener im Wege der Steuerreform zurückbekommt.
Es würde ja wenig Sinn machen, wenn dieser Bundestag auf der einen Seite den Menschen 150 DM zurückgibt und auf der anderen Seite wieder 150 DM für die Sozialversicherung abkassiert.
({25})
Ich komme jetzt auch zu der Härtefallregelung. Herr Dreßler, Sie haben in Ihrer Regierungszeit die 5 DM für die Fahrtkosten eingeführt.
({26}) - Die haben Sie eingeführt.
({27})
Wenn nun jemand regelmäßig zur Dialyse muß, wenn jemand regelmäßig zur Bestrahlung muß - beispielsweise eine Frau nach einer Brustamputation - , dann zahlt er heute je Fahrt 5 DM. Wenn das dreimal in der Woche geschieht, sind das schon 15 DM und in einem Monat 60 DM. Dieselbe Person wird auf Grund der von uns vorgesehenen Überforderungsklausel 2 des Einkommens von 2 000 DM bezahlen, also 40 DM. Auf Grund unserer Überforderungsklausel steht der Versicherte heute also besser da als nach der Lösung, die Sie mit den 5 DM in Ihrer Regierungszeit eingeführt haben.
({28})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Meine Damen und Herren,
so lange die SPD keine Antworten auf die anstehenden Fragen gibt, hat sie auch nicht das Recht, hier Fragen zu stellen.
({0})
Meine Damen und Herren, unsere Sozialpolitik ist nach vorn gerichtet. Wir lösen die drängenden Zukunftsprobleme Schritt für Schritt. Die SPD verfügt auch drei Stunden nach Beginn dieser Debatte nicht über eine diskutable Alternative. Sie setzen nach wie vor - wie seit Oktober 1982 - Schlagworte an die Stelle von Argumenten. Neid und Hetzkampagnen sind aber keine Antwort auf die Herausforderungen dieser Zeit, meine Damen und Herren,
({1})
Ihre Sozialpolitik tritt auf der Stelle. Der einzige, der dies erkannt hat, ist Lafontaine.
({2})
Sie haben jede Fähigkeit verloren, Probleme unserer Zeit vorausschauend anzupacken und auch zu lösen, meine Damen und Herren. Deshalb gibt es auch in der Zukunft keine Alternative zu dieser Koalition von CDU/CSU und FDP.
({3})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ich spreche Ihnen ab, daß es keine Alternative zu Ihnen geben solle.
({0})
Dann lebten wir ja nicht in einer Demokratie, und es bräche nicht immer mehr Bürgerwille hervor, daß dringend etwas geändert werden müsse. Das betrifft gerade diesen Bereich, den Sie so hübsch mit „alte Menschen", „hilflose Menschen" - Sie haben natürlich die jungen Behinderten vergessen - , mit dem geprägten Wort der „Familie" usw. umschreiben.
({1})
Ich nehme es dem Minister Blüm ab, daß er es irgendwo ein Stück gut meint.
({2})
Ich nehme ihm ab, daß er auch einmal ebenso ausflippen kann wie ich. Aber ich glaube nicht, daß er es verdient hat, hier mit einem Satz so dargestellt zu werden: Früher fröhlich mit 35 gestorben und heute jammern bis 85!
({3})
Das - so denke ich - bewirkt eine Vergiftung der Atmosphäre, Herr Dreßler, die unnötig ist.
Ich meine schon, daß wir jetzt ein neues Jahrhundertwerk angehen müssen, und zwar im gesamten
Pflegebereich. Den kleinsten Anfang, den Sie, Herr Minister, gemacht haben, begrüße ich, aber es ist ein falscher Anfang. Der Pflegebereich muß grundsätzlich aus dem Komplex „Krankenkasse" herausgelöst werden, aus dem Gedanken an Kranksein, Krankwerden, Hilfloswerden, Behindertwerden, vielleicht über ein Jahrzehnt oder zwei Jahrzehnte hinweg.
({4})
Sich nicht selbst helfen können ist etwas ganz anderes als das, was Sie mit dem Begriff „Familie" und sonstigen Hinweisen hier hineinbringen.
({5})
Das wissen wir Alten selbst; denn wir haben selber Söhne, Töchter usw.
Jetzt kommt ja das Novum: Wir GRÜNEN - ich als Parteilose - es ist das Verdienst der GRÜNEN, daß ich als Graue Pantherin hier stehen darf - und wir Alten haben seit 1975 ein eigenes Konzept entwickelt, mit dem wir uns letztlich auch vor unseren es gut meinenden 50jährigen Söhnen oder 50jährigen Töchtern, Schwiegertöchtern oder Schwiegersöhnen retten können. Tun Sie doch nicht so, als ob Sie immer so leben würden, wie Sie es hier im parlamentarischen Raum verbraten. Die Lebenswirklichkeit sieht doch total anders aus. - Herr Minister, wenn ich Sie einmal ein Stück in Schutz nehme, dann erwarte ich aber auch, daß Sie mir zuhören!
({6})
Wir haben ein ganz vorzügliches Konzept - es ist nicht vom Himmel gefallen - , das Ihnen auch vorliegt. Das ist durchdacht von alten Menschen, von betroffenen Menschen und von ehrlichen Söhnen und Töchtern. Ich glaube, wir kommen nur weiter, wenn wir mit diesem Konzept anfangen.
Sie reden von 7 Milliarden DM, Herr Minister, aber wissen ganz genau, daß sie jetzt am Anfang höchstens ca. 500 Millionen DM lockermachen können. Sie sagen ja so nebenbei: Das andere Geld sind wieder die großen Vorsorgekonzepte; wir müssen ja forschen, forschen und forschen, für Krebs usw. Es geht hoffentlich auch um die Ebene einer alternativen Forschung, um eine Gerontologie ganz anderer Art. Das wissen Sie, Herr Kollege Dr. Becker, ganz genau. Diese Ehrlichkeit vermisse ich in Ihrem ganzen Gehabe, das Sie an den Tag legen.
Der letzte Redner aus Bayern hat eine Abschiebementalität entwickelt, die wir Alten ja kennen.
({7})
Zum guten Schluß nimmt man Mütterchen oder Väterchen zwar in die Villa auf. Man findet sich dann oben im Mansardenstübchen wieder, weil man euch nämlich 10 Jahre vorher die Villa oder sonstwas geschenkt hat. Wir denken oben auf unserem Stübchen: Ja, haben wir denn das eigentlich verdient?
Wir wollen Freiheit haben. Wir Alten haben genug geleistet.
({8})
Wir wollen die Freiheit haben, auch in Würde zu sterben. Das finden Sie alles in diesem Gesetzentwurf.
({9})
Er enthält etwas ganz Neues an Ideen und Selbstkontrolle. Das heißt nämlich: Wir fordern unser Pflegegeld auf die Hand.
({10})
Wir wollen eben nicht, daß die weißen Kittel, die Ärzte, mit uns machen, was ihnen paßt.
({11})
Wir haben uns doch nicht die Rezepte verschrieben. Wir haben doch nicht, wenn wir in Heimen herumlagen, gebeten: Nun setzt uns unter Valium! Nun setzt uns unter Drogen, wir haben das ja alles so gern!
({12})
Dafür kassieren Wohlfahrtsverbände dann pro Bett 3 000, 4 000 DM ab.
({13})
Sie können, wenn Sie neue Denkstrukturen an Hand dieses politischen Diskussionsmodells entwikkeln, fast kostenneutral - ich behaupte das - ein ganz, ganz anderes Jahrhundertwerk schaffen, als Sie es sich je erträumt haben.
({14})
Denn Ihnen ist doch bekannt, daß Milliarden von den Wohlfahrtsverbänden abkassiert werden, wovon die Betroffenen in den Betten oder die Mitarbeiter in Sozialstationen überhaupt nichts haben.
({15})
Ich habe gestern in der Aktuellen Stunde gefragt: Herr Pfeifer, wissen Sie, weiß die Bundesregierung, wie viele Zivildienstleistende für qualifizierte Arbeiten eingesetzt werden und daß die Wohlfahrtsverbände dann dafür das Geld abkassieren, was eine qualifizierte Kraft verdienen würde? Sie, Herr Pfeifer, haben gesagt: Nein, nicht bekannt.
({16})
Ich kann es Ihnen sagen: Das sind über 2 Milliarden. Zivildienstleistende arbeiten den Wohlfahrtsverbänden über 2 Milliarden DM zu.
({17})
Das muß man sich einmal vorstellen. Wo bleibt denn eigentlich das Geld? Ich meine, Sie lesen genauso wie ich die Presse. Sie wissen von den Mißhandlungen. Sie wissen von den Menschenrechtsverletzungen. Und jetzt wollen Sie so etwas noch vertiefend über eine Krankenkassenreform reinbringen? Das darf nicht der Sinn eines neuen Strukturdenkens werden. Sie nämlich sind die Alten von morgen. Was Sie jetzt für uns tun, tun Sie auch für sich selbst.
Mit diesem Modell ist ferner verbunden, daß es mindestens über 200 000 Arbeitsplätze bringt. Warum kümmern Sie sich nicht um dieses Modell? Ich weiß sehr wohl, daß der Herr Fink und solche, die christliche Grundwerte etwas ernster nehmen, oder die, die
sich CDA-Flügel nennen oder Katholische Arbeitnehmerbewegung,
({18})
diese Gedanken im Kopf haben,
({19})
nur, sie haben keine Zeit, sich darum zu kümmern. Es ist nun einmal immer noch so: Altsein ist doch nichts Besonderes.
Interessant war das mit der Gründung der Senioren-Union.
({20})
Männer bitte schön ab 62 Jahren dürfen Mitglied werden, Frauen bitte schön ab 60 Jahren, aber redet nur nicht über das Alter vom Bundeskanzler, redet nur nicht über das Alter von Geißler mit seinen 58! Oh Gott, oh Gott, irgendwo hat ja Senioren-Union etwas damit zu tun: Man kümmert sich etwas um die Alten; aber ich bin doch nicht alt - um Gottes willen!
({21})
- Freund Scharrenbroich,
({22})
ich kämpfe! Ich kämpfe als Graue Pantherin fraktionsübergreifend.
({23})
Damit wir uns recht verstehen: Wer sich einmal die Zustände in Pflegeheimen angeguckt hat,
({24})
wer sich einmal Zustände in Psychiatrien angeguckt hat - ({25})
- Hören Sie doch mit Ihrer Familie auf! Was wollen Sie denn als Familie tun, wenn Sie selbst arbeitslos sind? Was wollen Sie denn als Familie tun, wenn Sie als Sohn zweimal geschieden sind oder die fünfte Schwiegertochter ranschleppen?
({26})
Was wollen Sie denn als Familie tun? Sie tun ja gerade so, als lebten wir in einer heilen Welt.
Gucken Sie sich doch einmal an: Wer hat denn das politische Sagen? Das sind doch die Männer. Wenn hier zur Hälfte Frauenköpfe säßen, sähe doch das Familienbild viel ehrlicher aus.
({27})
Sie können gut über Taten reden, aber ausbaden müssen doch wir Frauen Ihre Taten.
({28})
So geht es eben nicht, Herr Minister, daß Sie ab 1991 im Monat 25 Pflegestunden geben wollen, der Familie aber nur 400 DM geben wollen. Die Bezahlten kriegen dann schon wieder 750 DM. Also: Folgen Sie den GRÜNEN!
({29})
Das Gesamtkonzept ist da, und die deutsche alte Bevölkerung und diejenigen, die alt werden, werden Ihnen allen dankbar sein.
Herzlichen Dank.
({30})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Thomae.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt kaum ein zweites Reformvorhaben, dessen sachliche Probleme so komplex sind, bei dem die Interessen so aufeinanderprallen wie bei dieser Strukturreform. Es geht nicht nur darum, umzuverteilen, sondern es geht vor allen Dingen darum, 14 Milliarden DM zu sparen. Neben diesen Kostendämpfungsmaßnahmen haben wir neue Strukturen eingebaut. Ich räume jedoch ein, daß einige zentrale Fragestellungen ausgeklammert wurden, um zu einem ersten Konsens zu kommen. So ist bisher eine umfassende Refom der Krankenhausfinanzierung unerledigt geblieben.
({0})
Die Zahlen liegen jedoch schon heute vor, daß hier womöglich der wichtigste Bedarf einer Strukturreform liegt.
({1})
Aber die Hoheit der Länder für die Krankenhausversorgung erweist sich wieder einmal als das größte Reformhindernis.
Dem Versicherten ist es sehr schwer verständlich zu machen, daß Verträge mit den Krankenhäusern, wenn für sie kein Bedarf besteht oder wenn sie sogar unwirtschaftlich sind, von den Krankenkassen nicht gekündigt werden können, wenn die Landesbehörden dagegen sind. Ich habe viel Verständnis dafür, wenn der Versicherte hier die Politiker in die Pflicht nehmen will; denn bisher muß allein der Beitragszahler politische Entscheidungen im Rahmen des Krankenhauses selber tragen.
Kernproblem der Krankenhausversorgung ist das Selbstkostendeckungsprinzip. Auch in seiner modifizierten Form fördert es nicht die Wirtschaftlichkeit. Es ist keine Kunst, Kosten zu produzieren, diese nachzuweisen und sich diese dann erstatten zu lassen. Zu mehr Wirtschaftlichkeit in der stationären Versorgung werden wir aber erst dann kommen, wenn wir von diesem Selbstkostendeckungsprinzip wegkommen.
({2})
Wir werden erst dann zu mehr Wirtschaftlichkeit kommen, wenn wir bereit sind, ebenfalls den tagesgleichen Pflegesatz abzuschaffen. Erst dann, wenn die Verantwortung für die Kapazitäten, für die Investitionen und für die Nutzung in einer Hand liegt, sind die Voraussetzungen geschaffen, daß die Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung auch von dieser Seite her abgesichert ist.
An der Stelle, wo es um die Verzahnung von ambulantem und stationärem Sektor geht, haben wir Liberale über die Pflege diskutiert; denn die nachgewiesene hohe Fehlbelegungsquote von teuren Krankenhausbetten steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Möglichkeit der häuslichen Versorgung. Nur in dem Umfang, wie Fehlbelegungen in den Akutbetten der Krankenhäuser abgebaut werden können, und nur in dem Umfang, wie Krankenhausaufenthalte erst gar nicht notwendig werden bzw. verkürzt werden können, kann und darf die gesetzliche Krankenversicherung häusliche Pflege leisten.
Niemand bestreitet, daß sich unsere Gesellschaft mit der Pflegeproblematik auseinandersetzen muß. Eine Lösung über die Krankenversicherungssysteme kann es nicht geben. Ich lege deshalb großen Wert auf die Feststellung, daß dies nicht der Einstieg in die Lösung des Pflegeproblems ist und daß es auf keinen Fall der Einstieg in die Übernahme der stationären Pflegekosten durch die gesetzliche Krankenversicherung ist.
({3})
Vielmehr sind die vorgesehenen Pflegeleistungen der maximale Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung zur Unterstützung der häuslichen Pflege, um Krankenhausaufenthalte zu vermeiden. Ich sage ganz bewußt: der maximale Beitrag; denn hier gibt es den gemeinsamen Beschluß der Koalitionsfraktionen, daß nur die Hälfte der insgesamt realisierten Einsparungen abzüglich der Vorsorgeleistungen für Pflegeleistungen ausgegeben werden dürfen.
({4})
Meine Damen und Herren, mit dieser Reform schaffen wir mehr Wettbewerb bei der Leistungserbringung. Was noch fehlt, ist mehr Wettbewerb im System der gesetzlichen Versicherer. Die Öffnung der Kassen, die Einführung des Kassenwahlrechts für alle Versicherten gehört zu der Kernforderung einer Reform, die mit der gebotenen Behutsamkeit auch in der gesetzlichen Krankenversicherung mehr Markt erzeugt.
({5})
Es sollte daher in dieser Legislaturperiode die Organisationsstruktur in Angriff genommen werden, mit der auch die Voraussetzungen zum Abbau der gravierenden Beitragssatzunterschiede geschaffen werden müssen. Natürlich könnte dies durch kassenübergreifenden Finanzausgleich geschehen. Das würde aber sehr schnell zu einheitlichen Beitragssätzen und auch zu einer Einheitsversicherung führen. Jede Form des kassenartenübergreifenden Ausgleichs, ob einnahmen- oder ausgabenorientiert, fördert die Unwirtschaftlichkeit und nimmt den Kassen jedes Interesse am sparsamen Umgang mit den Beitragsgroschen.
({6})
Die hohen Beitragssatzunterschiede sind auch ein kasseninternes Problem. Der Unterschied zwischen Ortskrankenkassen und Ersatzkassen beträgt, bundesweit betrachtet, nicht einmal 1 %. Hier stellt sich in der Tat die Frage, ob die starke Regionalisierung insbesondere bei den Ortskrankenkassen auf Dauer zu halten ist.
({7})
Wir begrüßen die Möglichkeit der Erprobung von Kostenerstattung und Beitragsrückgewähr, weil dies die Selbstverwaltung stärkt, Anreize zu wirtschaftlichem Verhalten schafft und damit einen wichtigen Schritt in Richtung auf mehr Markt in der gesetzlichen Krankenversicherung bedeutet.
({8})
Die Kassen sollen gesetzlich zu einer wirtschaftlichen Betriebsführung verpflichtet werden.
({9})
Hier fehlt es leider an effizienteren Regelungen in dem Gesetzentwurf. Ich kündige jetzt schon an, daß der Entwurf an dieser Stelle unserer Auffassung nach verbessert werden muß. Es ist zu prüfen, wie die Wirtschaftlichkeitsprüfungen verbessert und die Prüfdienste insgesamt neu gestaltet werden können. Wir ziehen jede private Wirtschaftlichkeitsprüfung einer staatlichen Prüfung vor.
({10})
Lassen Sie mich zum Schluß noch einige grundsätzliche Bemerkungen zum Konzept der SPD machen.
({11})
Das, was Sie, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von der Opposition, vorgelegt haben, ist der an vielen anderen Stellen schon als untauglich erwiesene Versuch, ökonomische Knappheitsprobleme mit bürokratischen Zuteilungsmitteln zu lösen.
({12})
- Ihr Entwurf! - Die medizinischen Bedürfnisse - die Nachfrage nach Leistungen, die im engeren und im weiteren Sinne der Gesundheit dienen - sind fast unendlich. Dies macht eben politische Entscheidungen über die Konzentration der knappen Ressourcen auf das, was den einzelnen überfordern könnte, erforderlich. Darum geht es nämlich bei dieser Reform: Es geht um die Neubestimmung des Verhältnisses von Eigenverantwortung einerseits und Zuständigkeit des Staates andererseits.
Das ist der große Unterschied zu Ihrem Konzept. Wir wollen ganz bewußt die Allzuständigkeit staatlicher Sozialpolitik zurückdrängen. Sie wollen die Knappheit bürokratisch umverteilen.
({13})
Während wir marktwirtschaftliche Steuerungselemente schaffen, begeben Sie sich an das Werk, eine
gigantische Planungsbehörde aufzubauen. Während Ihre Gesundheitsräte über möglichen Bedarf diskutieren und die Berechtigung zur Leistungserbringung konzessionieren, schaffen wir die Voraussetzungen dafür, daß die Patienten auch in Zukunft ihren Masseur, ihren Zahnarzt, ihren Apotheker oder sogar ihren Arzt frei wählen können,
({14}) auch wenn er über 65 ist.
({15})
Ich frage mich ohnehin, wie Ihre Regionalplanung funktionieren soll. Wollen Sie im ganzen Lande Planungsbehörden errichten,
({16})
in denen Beamte damit beschäftigt sein werden, festzulegen, welche Krankheiten auftreten können und wie die gesundheitlichen Probleme gelöst werden? Wie soll das funktionieren? Statt daß Sie Lehren aus der unglücklichen staatlichen Planung im Krankenhausbereich ziehen, wollen Sie jetzt neue staatliche Bereiche schaffen. Das kann doch wohl nicht wahr sein!
Meine Damen und Herren, wir wollen die Eigenvorsorge, die Eigeninitiative und die Selbstverantwortung stärken. Dies können wir nur erreichen, indem wir die Selbstbeteiligung, die Kostenerstattung, die Beitragsrückgewähr und die Bonusregelung ausbauen, den Wettbewerb zwischen den Kassen intensivieren und zu einem monistischen Krankenhausfinanzierungssystem übergehen.
Vielen Dank.
({17})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heyenn.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zum Konzept der Sozialdemokraten komme - selbstverständlich sage ich etwas dazu, Herr Kollege Seehofer -, möchte ich mir erlauben, aus einem Flugblatt zu zitieren, das die ChristlichDemokratische Union ab dem Wochenende bundesweit verteilen will.
({0}) Darin heißt es:
Auch wenn das notwendige Arzneimittel noch so teuer ist, zahlt die Krankenkasse ohne Zuzahlung des Patienten.
Hier wird der Eindruck erweckt, als würde es in Zukunft keine Rezeptblattgebühr mehr geben, die aber für mindestens drei Viertel der Medikamente erhalten bleibt und dann noch von zwei auf drei DM erhöht wird. Herr Bundesarbeitsminister Blüm, Sie sind auch stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU. Ich
fordere Sie auf, dafür zu sorgen, daß dieses Flugblatt mit seinen unwahren Behauptungen nicht verteilt wird.
({1})
Eine Bemerkung zu Ihnen, Herr Dr. Thomae: Ist es nicht mehr Selbstverantwortung, wenn wir die Betroffenen beteiligen, wenn wir diejenigen, die bezahlen, nämlich die Krankenkassen im Auftrag der Versicherten, an der Planung beteiligen? Das ist Selbstverantwortung. Selbstbeteiligung ist das Gegenteil von Selbstverantwortung und von Solidarität.
({2})
Wenn Sie von mehr Bürokratie reden, dann schauen Sie sich einmal an, was die Krankenkassen Ihnen sagen, was Sie für Bürokratien mit Ihren Regelungen im neuen Gesetz errichten.
({3})
Wenn Sie das, was Sie mehr an Bürokratie dort hineinbringen, offen als Arbeitsbeschaffungsprogramm deklarierten, könnten wir uns vielleicht sogar darüber unterhalten.
Doch ich möchte angesichts der ganzen Diskussion einmal grundsätzlich fragen, was die Gesundheitsreform eigentlich leisten soll. Ich glaube, da muß die Antwort lauten: Wir müssen endlich den kranken Menschen in den Mittelpunkt der Politik stellen. Eine humanere Gesundheitsversorgung
({4})
muß unser Ziel sein, daß der kranke Mensch die Behandlung bekommt, die für ihn notwendig ist, und der gesunde beraten wird, wie er sich gesund halten kann. Ich glaube, das sind die Notwendigkeiten in unserem Gesundheitswesen, und das muß der Ausgangspunkt für eine Neugestaltung sein.
({5})
Auf diese Grundfrage, nämlich den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, gehen Sie in Ihrem Gesetzentwurf überhaupt nicht ein. Von einer Verbesserung der Behandlung, von einer Humanisierung der Versorgung ist nicht die Rede. Für uns ist eine Gesundheitsreform, die sich nicht am Wohl des Patienten orientiert, nichts wert. Herr Blüm bietet hier nichts.
Ihr Entwurf erschöpft sich in finanztechnischen Manövern. Es wird umverteilt, von alt auf jung,
({6})
von unten nach oben;
({7})
die Kranken werden durch Selbstbeteiligung zur Kasse gebeten, und den Gesunden werden die Beiträge erstattet. - Unsere Prädikate lauten: Das ist unsolidarisch, das ist unsozial.
Wo sind eigentlich Ihre Vorschläge, um die schwerwiegenden Verwerfungen innerhalb des Krankenversicherungssystems zu beseitigen? Wo sind Ihre
Vorschläge, um Schluß zu machen mit der Tatsache, daß das Mitglied einer Allgemeinen Ortskrankenkasse in Norddeutschland 1 000 DM im Jahr mehr an Beiträgen zahlt als das Mitglied einer AOK in BadenWürttemberg bei gleichem Lohn? Keine Antwort.
({8})
Wo sind Ihre Vorschläge zur Beseitigung der Ungleichbehandlung von Arbeitern und Angestellten? Keine Antworten.
({9})
- Schauen Sie doch mal auf die Tagesordnung, Herr Louven: Da steht Ihr Gesetzentwurf, nicht unsere Eckdaten.
({10})
Sie wollen doch nur ablenken. Sie wollen nicht, daß wir über dieses Abkassierungsmodell sprechen. Sie möchten über alles reden, nur nicht über diese Abkassierung. Wo tun Sie etwas um die Selbstverwaltung zu reformieren? Davon sprechen Sie immer nur. Im Entwurf steht nichts drin. Wo tun sie etwas, damit die Krankenkassen endlich in die Lage versetzt werden, die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten?
({11})
Davon ist nichts enthalten.
Was in Ihrem Entwurf weiter fehlt, ist eine inhaltliche Orientierung, eine Konzentration auf Sachfragen. Wo sind Ihre Vorschläge, Herr Seehofer, die den Patienten in den Mittelpunkt stellen, den Patienten als kranken Menschen,
({12})
- ja, wann kommt der erste Einstieg - , den kranken Menschen, dem man helfen muß - und nicht als dem, den man zur Kasse bittet, bei dem man abkassiert. Das ist nämlich der zentrale Punkt Ihres gesamten Gesetzentwurfes.
Viele Ärzte kritisieren inzwischen selbst eine Gebührenordnung, die sie daran hindert, ihren Patienten Zeit zu widmen. Sie werden oft daran gehindert, das zu tun, was sinnvoll ist. Ein Abrechnungssystem, das auf Arzneimittel und Medizintechnik setzt, ihre Behandlung bis ins Detail schematisiert, kann dazu führen, daß Patienten wie am Fließband abgefertigt werden. Wo sind dazu Ihre Vorschläge?
Wir wollen mit unserem Konzept die gesellschaftliche Vorsorge in den Mittelpunkt stellen. Wir wollen eine Gesundheitspolitik - keine Krankenpolitik, die Sie betreiben - , die mithilft, Lebensbedingungen zu schaffen, die das Entstehen von Krankheiten vermeiden.
({13})
Dazu gehört, Arbeitsbedingungen so zu gestalten, daß sie zumindest nicht mehr krankheitsfördernd sind. Dazu gehört, den Giftgehalt in Gebrauchsstoff zu reduzieren. Es gilt, die Lebensmittel gesünder zu machen.
({14})
Das wäre ein politischer Ansatz für eine neue Gesundheitspolitik, die wir wirklich benötigen.
({15})
- Nicht über die Krankenkasse. Das können Sie sich doch wohl vorstellen.
Arbeitsschutz, Verbraucherschutz und Umweltschutz sind für uns wesentliche Teile einer Gesundheitspolitik.
({16})
Dann ist es doch abenteuerlich, daß heute das Gesundheitswesen aus millionenfachen, täglichen Einzelentscheidungen besteht, daß jährlich nahezu 250 Milliarden DM ausgegeben werden, ohne daß eine übergeordnete Ziel- und Aufgabenstellung vorliegt. Wir wollen, daß sich der Deutsche Bundestag damit beschäftigt, daß er Prioritäten vorgibt und daß auf Grund dieser inhaltlichen Zielvorgaben festgelegt wird, welche Finanzmittel einzusetzen sind.
Wir wollen das Gesundheitswesen endlich vom Kopf auf die Füße stellen. Wir wollen den Weg weg von den großen, zentralen Einheiten und die Bürger vor Ort beteiligen. Und das diffamieren Sie mit dem Schlagwort der Bürokratisierung, weil Sie nämlich die Beteiligung der Bürger überhaupt nicht wollen. Sie wollen den Bürger nur insofern beteiligen, als er Ihnen sein Portemonaie hinhalten soll. Das ist Ihre Bürgerbeteiligung.
({17})
Im regionalen Rahmen muß, so meinen wir, Gesundheitspolitik zuallererst betrieben werden von denjenigen, die zahlen, also den Krankenkassen, von denjenigen, die politisch verantwortlich sind - den Städten, Gemeinden und Kreisen - , und von denjenigen, die versorgen, den Ärzten, den Zahnärzten, den Krankenhäusern. Hier sollen alle diese Gruppen zusammenarbeiten. Auf diesem Sektor hat Herr Blüm ebenfalls nichts anzubieten.
Wir wollen die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungserbringern neu ordnen.
({18})
Während Sie, Herr Blüm, die Krankenkassen zum Kontrollapparat gegen die Versicherten und zum Sparkommissar im Blick auf die Lohnnebenkosten machen wollen,
({19})
geht es uns grundsätzlich um etwas anderes. Wir wollen die Krankenkassen versichertennäher machen, und wir wollen die Selbstverwaltung der Krankenkassen durch neue Aufgaben stärken.
({20})
Wir wollen sagen, wie mehr Bedarfsgerechtigkeit geschaffen wird, wie ein Zuviel ebenso verhindert werden kann wie ein Zuwenig.
Sie lassen bei Ihrer Reform alles beim alten. Sie wollen in bürokratisch-zentralistischer Manier weiter aus dem Ministerium heraus wurschteln. Wenn Sie von Verantwortung der Versicherten sprechen, denken Sie nicht an Demokratisierung, an Beteiligung, sondern Sie denken an Selbstbeteiligung, an den Griff ins Portemonaie.
({21})
Wir wollen schließlich auch die Krankenversicherung modernisieren. Hier gibt es immer noch die Benachteiligung der Arbeiter, hier gibt es unerträgliche Beitragssatzunterschiede, die die Versicherten ausbaden müssen. Hier gibt es Wettbewerbsverzerrungen, die die Benachteiligten weiter benachteiligen und die Privilegierten weiter privilegieren. Wir sind für die Schaffung gleicher Voraussetzungen im Wettbewerb der Krankenkassen; denn wir wollen, daß der Wettbewerb allen Versicherten zugute kommt.
Sie wollen abkassieren, die Kranken zusätzlich belasten
({22})
und damit für die Krankheit bestrafen. Wir sagen Ihnen: Unser Gesundheitssystem braucht keine Abkassierung, sondern es braucht eine Therapie, es muß kuriert werden. Und das wäre es, was gemeinsam hätte gelöst werden können.
({23})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Becker.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir sind heute bei der Einführung eines Gesundheits-Reformgesetzes. Und ich hätte mir eigentlich - auch mit Blick auf die Bürger draußen im Lande - gewünscht, daß die Polemik hier einmal zu Hause geblieben wäre.
({0})
Ich will versuchen, mit meinem Beitrag sachlich zu bleiben, und ich würde Sie bitten, auf diese sachlichen Überlegungen einzugehen.
Hier wurde soeben gesagt, Kranke sollen die neuen Leistungen zahlen.
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In erster Linie, Herr Heyenn, sind dies doch diejenigen, die nie krank sind. Die sollte man einmal bedenken, und das ist der Solidaransatz.
Unser Gesundheitswesen hat in der Welt einen guten Ruf. Aber es gibt auch eine ganze Reihe von Schwachstellen. Zu nennen sind nicht nur die chronischen Finanzierungsschwierigkeiten. In der ganzen Diskussion ist bisher eigentlich nur darüber gesprochen worden. Dabei haben sich die einzelnen dann in
Dr. Becker ({2})
einer Diffamierungskampagne ohnegleichen hervorgetan. Mit diesem ersten Schritt der Reform soll hier eine dauerhafte Entlastung bei den finanziellen Schwierigkeiten gebracht werden. Das geht zwar nicht von heute auf morgen, der volle Spareffekt wird jedoch in drei Jahren erreicht.
Eine weitere Schwachstelle in unserem Gesundheitswesen ist die zu geringe Gesundheitsvorsorge und Gesundheitsförderung. Unser System ist überwiegend auf die Behandlung von Krankheiten eingerichtet, weniger auf die Verhinderung von Krankheiten.
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50 % der Krankheiten in unserem Land sind aber durch falschen Lebensstil
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und durch gesundheitliches Fehlverhalten bedingt, nur 20 % durch medizinische Gründe, je 15 % durch Erbanlagen und Umweltschäden.
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In der Gesundheitsförderung und -vorsorge liegen die großen Chancen der Zukunft. Hier muß sich jeder bewußt werden, daß er für seine eigene Gesundheit mitverantwortlich ist. Daher unterstützt dieser Gesetzentwurf die Bürger bei dieser wichtigen Aufgabe in besonderem Maße.
Die Krankenkassen haben ihre Versicherten über Gesundheitsgefährdungen allgemein aufzuklären. Sie sollen beraten, wie solche Gefährdungen vermieden werden können. Leistungen zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit sind in den Satzungen vorgesehen. Art und Umfang dieser Leistungen sind zu bestimmen. Bei der Durchführung dieser Maßnahmen ist die Zusammenarbeit mit kassenärztlichen Vereinigungen oder auf diesem Gebiet tätigen Ärzten besonders wichtig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jaunich?
Ja, bitte, Herr Jaunich.
Herr Kollege Becker, ist es richtig, daß Sie vor vielen Monaten einmal eine Initiative starten wollten, wonach gesundheitsgefährdende Güter wie Rauchwaren und Alkoholika mit einer Sonderabgabe belegt werden sollten, die dann den Kassen zugute käme, und müssen Sie nicht eingestehen, daß Sie mit dieser Initiative in Ihren Reihen gescheitert sind?
Nein, diese Initiative ist nicht irgendwo eingeschlafen, sie ist nach wie vor im Gespräch. Und hier sind die Dinge, die in die Weiterentwicklung gehen. Nur würde ich bevorzugen, daß die Bürger jetzt schon erkennen, daß das Rauchen eben besonders gesundheitsgefährdend ist. Und hier begrüße ich die Initiative in unserem Ausschuß, daß wir für die ersten zwei Stunden der Vor und Nachmittagssitzungen das Rauchen bei uns im Ausschuß eingestellt haben. Dies sind die Maßnahmen, die beispielgebend sind.
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- Unter dem Vorsitz von Herrn Egert.
Ich möchte nun die besonderen Maßnahmen nennen, die zu einer entsprechenden Förderung der Gesundheit führen können: Kurse zur Raucherentwöhnung, Ernährungsberatung und auch zur Streßbewältigung.
Neu eingeführt wird ein Gesundheits-Check-up. Ab dem 35. Lebensjahr kann sich jeder Versicherte jedes zweite Jahr zur Vorbeugung auf Herz-, Kreislauf-, Bluthochdruck-, Nieren- und Zuckerkrankheit untersuchen lassen. Hierzu gehört auch die Beratung des Patienten über die Ergebnisse. Denn über 50 % der Todesfälle in unserem Land sind die Folge der genannten Krankheiten. Hier können Tod, aber auch Siechtum durch rechtzeitige Vorsorge und Behandlung hinausgeschoben werden.
Die Zahngesundheit wird jetzt schon in frühem Kindes- und Jugendalter besonders gefördert, und zwar durch die Einführung der Zahnkrankheitsprophylaxe. Der frühe Beginn dieser Maßnahmen ist besonders wichtig; denn der Zahnzustand in unserer Bevölkerung hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verschlechtert.
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Wenn bei den Musterungsuntersuchungen nur noch 1 % aller jungen Männer über ein völlig gesundes Gebiß verfügt, dann zeigt sich hier diese Schwachstelle in besonderem Maße. Mit mehr Zahnpflege, Vorbeugung und rechtzeitiger konservierender Behandlung von kleinen Schäden wird auf Dauer mehr Zahngesundheit und damit auch eine Kostenentlastung der Krankenversicherung erreicht. Zahnersatz, die teuerste Zahnbehandlung, kann damit hinausgeschoben werden.
Der rechtzeitige Gang des Patienten in jedem Jahr zum Zahnarzt zur Überprüfung bringt dem Versicherten weiteren Vorteil. Das gilt auch über das 25. Lebensjahr hinaus. Herr Dreßler, dies müßten Sie in Ihrem Referat entsprechend verbessern. Benötigt der Patient jedoch einen Zahnersatz, erhält er dann nach laufender Kontrolle nach fünf Jahren auch einen höheren Zuschuß, um 10 %, nach zehn Jahren sogar um 15 %. Beim vollwertigen Gebiß in einfacher, solider Ausführung erhält der Patient dann 70 % bzw. 75 Zuschuß zu diesem Zahnersatz. Derzeit sind es ca. 80 % . So zahlt sich Prophylaxe auch bei den Versicherten aus. Die Versicherten sollten sich daher durch Diffamierungskampagnen - auch heute morgen von der Opposition - über die Kosten nicht verunsichern lassen.
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Die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder werden vom 4. auf das 6. Lebensjahr erweitert. Aus präventiver Sicht erscheint dies besonders sinnvoll, um die Früherkennung von Hör- und Sehstörungen, SprachDr. Becker ({3})
fehlern und Haltungsschäden ist für die rechtzeitige und dadurch günstige Behandlungsmöglichkeit und für die Weiterentwicklung des Kindes besonders wichtig. Eltern sind auch für eine Früherkennungsuntersuchung vor Beginn der Schule als eines neuen Lebensabschnittes besonders aufgeschlossen.
Erstmals sollen sozialpädiatrische Zentren in das Leistungsrecht der Krankenkassen mit aufgenommen werden. Sie dienen der Früherkennung und Frühtherapie von Schädigungen und Störungen im Kindesalter. Hier ist oft eine ganze Reihe von gezielten integrierten medizinischen, psychologischen, pädagogischen und sozialen Maßnahmen notwendig. Bisher werden sie zumeist nur in fachübergreifend arbeitenden sozialpädiatrischen Zentren angeboten. Um den grundsätzlichen Vorrang der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Kassenärzte auch in diesem Bereich zu unterstreichen, werden in Zukunft in Gesamtverträgen zwischen der KV und den Kassenverbänden auch Vergütungen für nicht-ärztliche Leistungen im Rahmen sozialpädiatrischer und sozialpsychiatrischer Tätigkeit der niedergelassenen Ärzte vereinbart. Ich halte dies auch für einen wichtigen Schritt in der Besserung dieser Zustände.
Die schon bestehenden sozialpsychiatrischen Institutsambulanzen sollen durch eine Neuordnung, d. h. eine direkte Finanzierung durch die Krankenkassen, in ihrer Wirksamkeit verstärkt werden. Die Behandlung in diesen Ambulanzen ist aber auf diejenigen Versicherten auszurichten, die wegen der Art, der Schwere oder der Dauer ihrer Erkrankung oder wegen zu großer Entfernung von dem nächst erreichbaren Arzt auf die Behandlung in diesen Einrichtungen angewiesen sind.
Aus Zeitgründen kann ich leider nicht auf weitere vorbeugende gesundheitsschützende Maßnahmen eingehen, wie Mütterkuren, insbesondere auch Müttergenesungskuren, die Mutter-Kind-Kuren, die Gesundheitsuntersuchungen zur Früherkennung der Krebserkrankungen. Letztere gibt es heute schon; sie werden aber von unserer Bevölkerung immer weniger wahrgenommen,
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nur noch von 30 % der Frauen und nur noch von 10 der Männer. Jetzt wird versucht, durch eine günstige Koordinierung und Zusammenlegung der angebotenen Untersuchungsmöglichkeiten eine bessere Wirkung zu erreichen.
Unser Reformkonzept sieht auch bei der Nachsorge und der Rehabilitation eine Verbesserung der Kassenleistungen vor. Die Bedeutung der Rehabilitation für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung wird besonders herausgestellt.
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- Auch Reform, jawohl. Rehabilitationsmaßnahmen sind besonders wichtig im Hinblick auf die neu eingeführte Leistung bei der ambulanten Schwerpflegebedürftigkeit. Denn durch Rehabilitationsmaßnahmen kann Pflegebedürftigkeit vermieden oder vermindert werden. Die Bestimmungen über die ambulanten Rehabilitationskuren und über die stationären Rehabilitationskuren werden eindeutiger gefaßt. Sie geben damit auch den Institutionen und Einrichtungen, die sich damit befassen, eine vernünftige Grundlage.
Die Einführung des Medizinischen Dienstes hat vor allem in Ärztekreisen große Kritik hervorgerufen, während Krankenkassen und Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen dies seit längerem fordern. Der jetzige Vertrauensärztliche Dienst, bei den Landesversicherungsanstalten angesiedelt, wird als Arbeitsgemeinschaft wieder bei den Krankenkassen, wo er auch hingehört, eingerichtet. Für seine Aufgaben werden in den Richtlinien Anhaltspunkte für die Auswahl der erforderlichen Fälle aufgenommen. Es ist keine Institution, die die Kranken irgendwie in besonderer Weise aufnehmen soll, um sie dort entsprechenden Drangmaßnahmen und Drangsalen auszusetzen, im Gegenteil: Hier soll durch rechtzeitige Rehabilitation eine Verbesserung der Versorgung erreicht werden.
Die Krankenkassen sollen den Medizinischen Dienst außerdem für allgemeinmedizinische Fragen der gesundheitlichen Versorgung, für Vertragsverhandlungen mit den Leistungserbringern und für Beratungen in den gemeinsamen Ausschüssen der Ärzte und Krankenkassen zu Rate ziehen. Über diesen Medizinischen Dienst als sogenannte Mammutbehörde und seine Kosten gab es gezielte Horrormeldungen. Sie gehören zu den zahlreichen Diffamierungskampagnen vor allem von Leistungserbringerseite.
Zu den Diffamierungskampagnen mit der gezielten Verunsicherung der Patienten - was das Bedauerlichste dabei ist - gehören auch die Meldungen über den „gläsernen Patienten", die auch von Ihnen, Herr Dreßler, heute morgen wieder aufgenommen worden sind.
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- Dann war es von dem Nachfolger.
Es ist jedem Einsichtigen sofort klar, daß eine Organisation wie die gesetzliche Krankenversicherung mit über 55 Millionen Versicherten für die Erbringung einer effizienten und effektiven Leistung ohne die modernen technischen Mittel nicht auskommen kann, die heute bereits in Kleinunternehmen gang und gäbe sind.
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Zu den Aufgaben der gesetzlichen Krankenversicherung gehört es auch, die Leistungen und die Kosten transparent zu gestalten. Bei den Daten im Bereich einer Krankenversicherung handelt es sich um sensible Daten. Daher müssen die Vorschriften des Datenschutzes besonders beachtet werden. Die Zusammenführung der Daten in diesem Bereich kann nur unter Einhaltung der Vorschriften zugleich mit der Festlegung der genauen Aufgabe erfolgen, für die die Daten gebraucht werden, einschließlich der Löschungsfristen. In diesem Reformgesetz sind nach mehrfacher Konsultation mit dem Datenschutzbeauftragten des Bundes die genauen Festlegungen getroffen worden. Hier bedeutet dies, daß der Patient in
Dr. Becker ({8})
jedem Fall vor einer solchen Offenlegung seiner persönlichen Probleme und seiner persönliche Daten zu schützen ist.
Bei den Gruppen, die diese Diffamierungen in die Welt setzen und sie auch heute noch verbreiten, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß dies erfolgte, um eine Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Leistungserbringern von vornherein ineffizient zu machen. Die gesetzliche Krankenversicherung und damit auch alle Leistungserbringer unterliegen dem besonderen Wirtschaftlichkeitsgebot. Daher sind Wirtschaftlichkeitsprüfungen erforderlich. Denn Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht übersteigen. Dies ist die obere Maxime im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung.
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Die Prüfungen werden von gemeinsamen Prüfungs- und Beschwerdeausschüssen der Ärzte und Krankenkassen nach genau vereinbarten Verfahren, nach Durchschnittswerten bei Überschreitung von Richtgrößen, auch nach Stichproben vorgenommen. Prüfungen ähnlicher Art gab es schon immer. Sie gewinnen aber eine besondere Bedeutung durch die Möglichkeiten der Datenverarbeitung.
Von Versichertenverbänden wird in der Kritik häufig behauptet, daß nur die Versicherten von diesem Gesetz belastet würden, während die Leistungserbringer nur unwesentlich beteiligt würden.
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Der lautstarke Protest aller Leistungserbringer beweist schon, daß diese Behauptung nicht stimmen kann. Wer sich die Mühe macht, einmal die einzelnen Vorschriften auf die jeweiligen Belastungen zu prüfen, wird erkennen, daß zwar zu Beginn die Versicherten proportional mehr belastet werden; die Maßnahmen bei den Leistungserbringern kommen aber wegen einer nicht zu ändernden Vorlaufzeit etwas später voll zum Tragen. So wird sich dann bald ein ausgewogenes Verhältnis einstellen. Dies ist zur Akzeptanz in der Bevölkerung auch besonders wichtig.
In den neuen Regelungen gibt es Möglichkeiten, daß die Selbstverwaltung Modelle schafft, um Leistungen, Maßnahmen, Verfahren zu erproben. Diese Erprobungsregelungen sind auf längstens fünf Jahre befristet. Hierzu zählen Kostenerstattungsregelung, Beitragsrückzahlungen - alles Maßnahmen zur Gesundheitsförderung, Gesundheitserziehung.
Auch die Unterstützung der Versicherten bei der Verfolgung von Schadenersatzansprüchen bei der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen aus Behandlungsfehlern wird ermöglicht.
Meine Damen und Herren, mit dieser ersten Stufe des Reformgesetzes, dessen weitere Stufen, Herr Heyenn, mit der Neuorganisation der Krankenkassenstrukturen - was Sie gerügt haben - , der Überprüfung der Krankenhausgesetze und einer Lösung der Überkapazitätsfragen noch in dieser Legislaturperiode angegangen werden müssen, wird erreicht, daß wir unser gutes, freiheitlich orientiertes gegliedertes Gesundheitssystem und Versorgungssystem wieder stabilisieren können.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Ich erteile das Wort dem Beauftragten des Bundesrats, Herrn Professor Dr. Knies.
Minister Dr. Knies ({0}), Beauftragter des Bundesrates: Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Wenn der Bundesrat beim Deutschen Bundestag einen Gesetzentwurf einbringt, so schuldet er diesem Hohen Haus wenigstens ein paar Sätze der Begründung. Als Beauftragter des Bundesrats will ich deshalb mit einigen Bemerkungen verdeutlichen, was Anlaß und Ziel der Gesetzesinitiative des Bundesrats sind.
Ziel des Gesetzentwurfs ist die Streichung des § 17 Abs. 4 a Satz 2 des Krankenhausfinanzierungsgesetzes. Diese Bestimmung sieht vor, daß - ich zitiere - die „Kosten des theoretischen Teils der Ausbildung" für die Krankenpflege- und therapeutischen Berufe nur bis zum 31. Dezember 1988 im Pflegesatz zu berücksichtigen sind.
Bis zum Jahresende ist also die volle Finanzierung der Ausbildungskosten über den Pflegesatz klar und gesichert. Aber was geschieht danach? Was passiert ab 1. Januar 1989 mit den „Kosten des theoretischen Teils der Ausbildung", was immer das sein mag?
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Das Gesetz sagt ja nur negativ, daß sie nicht mehr über den Pflegesatz finanziert werden sollen. Aber wer sie tragen soll, das sagt das Gesetz nicht ausdrücklich.
Nun wird die Auffassung vorgetragen, es seien die Länder, die ab 1. Januar 1989 diese Kosten zu tragen hätten.
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Es wird sogar behauptet, die Übertragung der Finanzierungsaufgabe auf die Länder sei mit deren Zustimmung durch das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz von 1981 geschehen.
Ich will deshalb daran erinnern, daß der Bundesrat schon 1981 im Zusammenhang eben mit dem Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz in einem Beschluß vom 28. Mai dieser Auffassung der Bundesregierung ausdrücklich und nachdrücklich widersprochen hat. Und an diesem Widerspruch hat sich bis heute nichts geändert. Der Bundesrat konnte 1981 dem Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz zustimmen, weil das Gesetz die Frage, wer denn nun die Kosten des „theoretischen Teils der Ausbildung" ab 1. Januar 1989 tragen solle, gerade nicht geregelt hat, sondern offenließ. Auch darauf hat der Bundesrat in dem erwähnten Beschluß ausdrücklich hingewiesen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Herr Abgeordneter Egert, bitte.
Der Bundesrat hat dies aber sicher in Kenntnis - ich möchte Sie fragen, ob das so ist - des einheitlichen Willens des Bundestages getan, daß dies eine Ausschlußfrist sein sollte.
Minister Dr. Knies ({0}), Beauftragter des Bundesrates: Nein, Herr Abgeordneter, dazu muß ich sagen: Ich kann hier nicht die Beschlüsse des Bundesrats, die ich Ihnen eben mit teils wörtlichen Zitaten, aber sinngerecht, gebracht habe, hinweginterpretieren, und ich muß Ihnen vor allen Dingen die Einschätzung des Bundesrats, wie er sie jetzt auch im Rückblick auf diesen Beschluß getroffen hat, korrekt vortragen. Sie sind so, wie ich sie Ihnen vortrage. Es meinen nun manche -
Herr Beauftragter, noch eine Zusatzfrage? Egert ({0}): Muß ich daraus schließen, daß der Bundesrat die Debatten und Beschlüsse des Bundestages ignoriert?
Minister Dr. Knies ({1}), Beauftragter des Bundesrates: Nein, Sie müssen nicht daraus schließen, daß der Bundesrat die Debatten und Beschlüsse des Bundestages ignoriert, aber er hält an seinen eigenen Beschlüssen fest und erbittet eine gleiche Beachtung auch durch den Deutschen Bundestag.
Nun meinen manche, ungeachtet dieser gerade von mir geschilderten Lage gäbe es dennoch einen schnellen Weg, zu einer Finanzierungspflicht der Länder zu kommen. Dazu werden „theoretische Ausbildung gleich Berufsschule" und sodann „Berufsschule gleich Landesaufgabe " gesetzt, und man glaubt, damit die Lösung zu haben: weil Landesaufgabe auch Landesausgabe.
Meine Damen und Herren, wer über die Brücken dieser drei Gleichungen geht, befindet sich aber sachlich und verfassungsrechtlich auf Abwegen; denn schon die erste Gleichsetzung stimmt nicht. In der Krankenpflegeausbildung ist nämlich die theoretische Ausbildung nicht gussonderbar und mit Berufsschule gleichzusetzen.
Es macht ja gerade das Eigentümliche der Ausbildung zu den Krankenpflegeberufen aus, daß sie eine einheitliche, daß sie eine ganzheitliche ist, daß sie eben nicht in das duale Schema üblicher Berufsausbildung mit zwei voneinander getrennten, organisatorisch geschiedenen Lernorten einzuordnen ist. In der Krankenpflegeausbildung gehen praktische Ausbildung und theoretische Ausbildung in eins. Diese einheitliche und ganzheitliche Ausbildung ist nicht nur das Ergebnis einer faktischen Entwicklung; sie ist gesetzlich so gewollt und so festgelegt.
Als 1981 das Krankenhaus-Kostendämpfungsgesetz erlassen wurde, gingen die damalige Bundesregierung und die sie tragende Koalition noch davon aus, daß auch die Ausbildung zu den Krankenpflegeberufen nach dem dualen Schema üblicher Ausbildungsberufe geteilt und geordnet werden sollte. Aber dazu ist es nicht gekommen, im Gegenteil: Im Krankenpflegegesetz und im Hebammengesetz von 1985 ist der besondere, nämlich der einheitliche und gerade nicht duale Charakter dieser Ausbildung bewußt
fixiert worden. Im Gesetzgebungsverfahren hat die Bundesregierung mehrfach und zu Recht darauf hingewiesen.
Meine Damen und Herren, es ist deshalb nicht verwunderlich, daß die Krankenhausträger, vor allen Dingen auch die beiden großen Kirchen, in der Gesetzesinitiative des Bundesrates auch gar nichts Spektakuläres gesehen haben, sondern sie einfach für das gehalten haben, was sie ist, nämlich die logische und notwendige Konsequenz der 1985 getroffenen bundesgesetzlichen Entscheidung über die Struktur der Ausbildung zu den Krankenpflegeberufen.
Genau dieser Strukturentscheidung des Bundesgesetzgebers würden die Länder zuwiderhandeln, zuwiderhandeln müssen, wenn sie nun anfingen, einen „theoretischen Teil der Ausbildung" organisatorisch auszusondern und institutionell zur Schule zu verselbständigen. Ich kann mir nicht vorstellen, meine Damen und Herren, daß diejenigen, die bisher der Initiative des Bundesrates noch zweifelnd, zögernd oder gar ablehnend gegenüberstehen, eine solche Verschulung der Krankenpflegeausbildung wünschen.
Meine Damen und Herren, die Gesetzesinitiative des Bundesrates ist nicht spektakulär. Folgenschwer wäre es aber, wenn ihr nicht stattgegeben würde. Denn: Bliebe es bei der jetzigen Regelung des Krankenhausfinanzierungsgesetzes, so wären es nicht die Länder, es wären vielmehr die Krankenhausträger, die als Träger der Krankenpflegeausbildung die „Kosten des theoretischen Teils der Ausbildung" zu tragen hätten, wie immer sie zu definieren und zu berechnen wären.
Nicht nur die beiden Kirchen, auch Organisationen kommunaler Krankenhausträger haben bereits angekündigt, daß sie dann von 1989 an neue Ausbildungsverhältnisse nicht mehr abschließen können. Ich meine, niemand sollte diese Ankündigung auf die leichte Schulter nehmen und als die übliche leere Drohgebärde von Lobbyisten abtun. Da für die Krankenpflegeausbildung Schulgeld nicht erhoben werden darf, würden deren Träger zu defizitärem Wirtschaften gezwungen, wenn das Krankenhausfinanzierungsgesetz in dem fraglichen Punkte unverändert bliebe. Das kann und darf man von den Trägern füglich nicht erwarten.
Kostendämpfung im Gesundheitswesen ist das Thema und die Aufgabe nicht nur dieses Tages. Es ist aber kein Beitrag zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen, wenn eine Kostenlast lediglich von den Kassen auf die Krankenhausträger verlagert wird.
({2})
Würden gar die Länder die theoretische Ausbildung zu den Krankenpflegeberufen in berufsschulischer Form betreiben, so käme es gar zu erheblichen Kostensteigerungen im Gesundheitswesen. Das ist unbestritten; denn dann müßte das wesentlich teurere Besoldungsschema des öffentlichen Dienstes zugrunde gelegt werden.
Wer dies alles nicht will, der muß den Gesetzesantrag des Bundesrates aufnehmen. Darum bitte ich Sie alle namens des Bundesrates.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon etwas merkwürdig, wenn man feststellt, wie sich die Koalition und der Bundesminister in der Materie, die wir heute behandeln, verhalten. Da hat sich eine Wagenburgmentalität entwikkelt. Man hat sich eingeigelt, und man stilisiert die Kritik, die von allen Seiten kommt, dazu hoch, daß dies nur der Ausdruck sich gegenseitig widerstreitender gruppenspezifischer Einzelinteressen sei.
({0})
- Über Nullen reden wir nicht, ich möchte Sie nicht dauernd ansehen müssen.
({1})
Herr Blüm, Sie haben sich in dieser Frage so verstiegen, daß Sie alles, was an sachlicher Kritik vorgebracht wurde, pauschal diffamiert haben. Ich stimme Ihnen dort zu, wo Sie sich gegen Extremkritik, die von den Buchstaben der Entwürfe und jetzt dieses Gesetzentwurfes nicht gedeckt ist, zur Wehr setzen. Das sollte jeder tun. Aber so, wie Sie an das Thema herangegangen sind, aus der Kritik abzuleiten, daß Sie doch wohl den Stein der Weisen gefunden hätten, dies ist nicht nur eine schamlose Übertreibung, sondern stellt die tatsächlichen Verhältnisse auf den Kopf.
({2})
Stichwort: Bürokratiemonster. Das ist doch angezeigt gewesen. Wenn auch im Laufe der Prozesse von den Eckwertbeschlüssen über die einzelnen Stationen der Koalitionsverhandlungen zu einem Vorentwurf, einem Referentenentwurf und einem zweiten Referentenentwurf etwas abgeschmolzen ist, dann ist das doch nur auf die nachhaltige Kritik solcher Gruppen zurückzuführen gewesen, die das sehr schnell erkannt haben. Dazu gehört auch die Kritik, die meine Fraktion sehr frühzeitig zu dem Thema vorgebracht hat, sowohl zu den Überbürokratisierungen - davon sind immer noch welche übriggeblieben - wie auch zu dem Thema, daß die Leistungsdaten der Versicherten in einem einheitlichen Leistungskonto zusammengefaßt würden.
Da muß ich Sie an das erinnern, was im Zusammenhang mit der Volkszählung berechtigterweise an Sorgen von den Menschen vorgetragen worden ist. Ich muß Sie aber auch an das erinnern, was das Bundesverfassungsgericht zum Datenschutz gesagt hat. Da können wir gar nicht sensibel genug sein. Auch das, was jetzt noch drinsteht, werden wir ganz sorgfältig untersuchen; denn für Datenschutz ist diese Regierung, insbesondere mit Herrn Zimmermann versehen, wirklich kein Gütesiegel.
({3})
Deswegen werden Sie begreifen müssen, daß wir dies sehr sorgfältig untersuchen.
Hier sind häufig genug die Lösungen, die wir in die Diskussion eingebracht haben, diffamiert worden. Da ist einerseits gefragt worden, wo denn unsere Lösungsbeiträge seien. Andere haben sich mit ihrer Kritik daran orientiert. Auf eines müssen Sie sich nun einmal verständigen, was Gültigkeit haben soll!
Ich greife einmal solche Bemerkungen aus Sonntagsreden heraus wie Freiheit, freiheitliches Gesundheitswesen und Marktwirtschaft. Dies alles soll Ihrem „bürokratischen Monster" hier entsprechen? Und eine Lösung, die wirklich marktwirtschaftlich ist - nämlich eine Verhandlungslösung zum Thema Arzneimittelpreisgestaltung - ist dann eine Lösung, über der der Sowjetstern steht - da kann ich doch wirklich nur lachen! Was ist denn wohl marktwirtschaftlicher? Wir wollen das Preissetzungsmonopol aufbrechen und sagen: Für alle Leistungstatbestände der gesetzlichen Krankenversicherung haben wir doch schon Verhandlungslösungen eingeführt, nur hier nicht. Deshalb meinen wir - lassen Sie mich diesen Satz erst zu Ende bringen, Herr Cronenberg, dann können Sie Ihre Zwischenfrage stellen - : Hier müssen Verhandlungen einsetzen, wobei wir vorher die Krankenkassen dazu in den Stand gesetzt haben.
Als es Befürchtungen gegen diesen Entwurf gab - es war übrigens ein Gesetzentwurf, der hier vorgelegen hat - , wurde philosophiert, die Kassenvertreter könnten so rückständig sein, daß sie die nachgewiesenen Forschungskosten nicht berücksichtigten. Das ist Quatsch. Ich kann mir keinen Kassenvertreter vorstellen, der nachgewiesene Forschungsaufwendungen nicht zu den berücksichtigungsfähigen Kosten im Rahmen solcher Preisverhandlungen zählen würde.
Aber wenn es denn sein soll, dann bin ich sofort bereit zu sagen: Schreiben wir das doch in einen solchen Gesetzentwurf hinein; dies ist allemal marktwirtschaftlicher als die bürokratische Hürde, die Sie mit Ihrem Festbetragsmodell errichten.
({4})
Bitte, Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Kollege Jaunich, nachdem Sie und einige Vorredner Ihrer Fraktion immer wieder behaupten, wir hätten es im Pharmabereich mit einem Monopol zu tun, frage ich Sie: Wie erklären Sie sich dann, daß in den vergangenen Jahren die Generika - insbesondere von mittleren und kleinen Unternehmen hergestellt - einen so beachtlichen Marktanteil erwerben konnten? Ist das Folge des Monopols oder praktizierten Wettbewerbs?
Herr Kollege Cronenberg, wenn man sich diese Frage stellt, dann muß man natürlich auch einmal untersuchen, welches der angeblich kleineren Pharmaunternehmen nicht ein Ableger eines großen, monopolartigen Unternehmens ist.
({0})
So billig kommen Sie mit dieser Fragestellung nicht davon.
Im übrigen ist das auch keine Antwort auf unser Konzept, das wir vorgelegt haben, nämlich Preisverhandlungen zwischen denjenigen, die das zu bezahJaunich
len haben - den Kassen -, und denjenigen, die diese Waren herstellen.
Herr Cronenberg!
Positiv ist dies doch nur für einige Leute.
Wissen Sie, es ist mir ja schon beinahe peinlich, daß gerade die Pharmaindustrie zwischenzeitlich unser Modell als besser lobt als Ihres!
({0})
- Sehen Sie, jetzt sind Sie wieder bei Ihrer Wagenburg-Mentalität. Jetzt erachten Sie eine solche Kritik als nicht sachgerecht, Sie beachten sie nicht, sondern Sie diffamieren sie als eine gruppenegoistische Aussage.
Nein, wie Sie es mit der Marktwirtschaft halten, das dürfen Sie nicht nur in Sonntagsreden beschreiben, das müssen Sie dann auch in der Praxis durchhalten.
({1})
Nun komme ich zu einem anderen Thema. Trick-und fintenreich mogelt sich diese Bundesregierung um eine sachgerechte Lösung des Themas „Pflegebedürftigkeit" herum, insonderheit Herr Blüm. Die Kranken werden am 1. Januar 1989 abkassiert - in Höhe von fast 9 Milliarden DM -, und die Pflegebedürftigen werden bis zum Jahr 1991 zurückgestellt.
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- Ja, ich komme ja noch auf die Details zu sprechen, Herr Seehofer, auch auf Ihre Aussagen zur stationären Versorgung. Da waren nämlich ein paar sehr bedenkliche Zungenschläge zu hören. Warten Sie es nur ab.
({3})
Also, die Regelung für die Pflegebedürftigen mit ihrem großen Kostenanteil wird primär auf das Jahr 1991 verschoben. 1991 ist doch irgend so ein Datum, nicht wahr? In dem Jahr ist doch etwas? - Ach ja, Bundestagswahl!
Die Pflegebedürftigen werden also vertröstet - man kann auch sagen „verschoben", Herr Blüm. Uns ist der Koalitionskonflikt, der in dieser Frage steckt, ja nicht verborgen geblieben. Er ist hier auch heute morgen deutlich geworden. Während Herr Seehofer die Regelungen dieses Gesetzentwurfs als Einstieg betrachtet, hat Herr Thomae darauf hingewiesen und deutlich gesagt, daß dies für seine Fraktion nicht der Einstieg in eine Regelung der Pflegeproblematik sei. Wenn wir uns in diesem Punkte sachlich sogar mit der FDP treffen, dann muß das doch auch einmal ausgesprochen werden können. Auch wir halten den Einstieg über die gesetzliche Krankenversicherung für einen falschen Einstieg. Ein gesamtgesellschaftliches
Risiko kann man auch nur gesamtgesellschaftlich absichern.
({4})
Deswegen muß man sich in der Frage der Pflegebedürftigkeit auf eine andere Lösung verständigen.
({5})
Es ist ja zu Recht von meinem Kollegen Egert darauf hingewiesen worden. Da haben sich die Herrschaften, die möglicherweise einen anderen Weg gehen wollten, bei Herrn Stoltenberg blutige Nasen geholt, weil er das Geld dafür nicht zur Verfügung stellen kann, da er es durch eine sogenannte Steuerreform verpulvert, ja dazu im Grunde noch neue Schulden machen muß. Deswegen kann man eine vernünftige Lösung doch nicht an so etwas scheitern lassen!
Wie wollen Sie es eigentlich auch sozialpolitisch verantworten, daß jene, die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, diese neue Pflegeleistung durch den Verzicht auf 9 Milliarden DM Leistung erkaufen, und jene, die nicht pflichtversichert sind, im Falle der Pflegebedürftigkeit Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz bekommen? Und zwar Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, welche vom Steuerzahler finanziert werden. Just jene Pflichtversicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung zahlen dann doppelt: Sie zahlen mit ihrem Leistungsverzicht in der gesetzlichen Krankenversicherung, und sie zahlen mit ihren Steuern. Das ist ein einzigartiger Skandal, der sich hier auftut.
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Natürlich kann man an die Lösung dieser Frage nicht herangehen, indem man meint, mit einem Schlag könnte man hier eine komplette Lösung des Themas Pflegebedürftigkeit finden. Nein! Entscheidend ist, wie ich in das Thema einsteige. Wenn ich die Weichen am Anfang falsch stelle, muß ich mich nicht wundern, wenn der Zug in die verkehrte Richtung geht.
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Nun ist ja der Herr Blüm ein bewährter Weichensteller. Er hat ja die rote Mütze längst verdient, weil er die Gleise immer stellt. Aber häufig genug hat er sie in die falsche Richtung gestellt.
Zur Gesamtlösung gehört, daß die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen, die sie pflegen, eine soziale Absicherung erfahren. „Soziale Absicherung" für jene, die pflegebedürftige Personen betreuen, heißt auch, ihre Alterssicherung zu gewährleisten.
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Dafür z. B. hätte ein erster Einstieg gefunden werden sollen, können oder müssen in einem Gesamtkonzept,
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auch wenn es stufenweise realisiert wird. Wir werden
Ihnen in Kürze einen solchen Leistungsgeldgesetz5318
entwurf für ein Bundespflegegesetz vorlegen. Dies wird unsere Alternative auf diesem Feld zu Ihren unausgegorenen Vorstellungen sein, die in die falsche Richtung gehen.
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Dann sage ich Ihnen, Herr Seehofer, noch auf Ihre Bemerkung zur ambulanten versus stationären Betreuung: Also ich mache ein solches Spiel nicht mit, daß ambulante Betreuung gegen stationäre Betreuung ausgespielt wird.
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Dies sind wir auch jenen Menschen schuldig, für die es gar keine Alternative gibt. Diese Klarstellung sind wir auch all denen schuldig, die sich mit großer Aufopferung jenen Menschen widmen.
Frau Unruh, Sie haben recht: Natürlich gibt es unwürdige Zustände in Pflegeheimen. Ich wehre mich aber dagegen, dies alles so mit einem Federstrich wegzutun und so zu tun, als ob nur die ambulante Betreuung pflegebedürftiger Leute, also in der eigenen Häuslichkeit, das ist, was der Menschenwürde angemessen wäre.
({12})
Ich stelle das deswegen so deutlich heraus, weil aus Ihren Äußerungen so etwas herauszuhören war.
Ich erinnere daran, daß der Bundestagsausschuß für Jugend, Familie und Gesundheit vor Jahren einmal eine Reise nach Holland gemacht hat und wir uns dort mit den holländischen Parlamentariern über das Thema unterhalten haben. Da waren es die deutschen Konservativen, die da ihren Freunden die Idee nahelegen wollten, ob es denn nicht richtiger sei, daß man die Familien in den Stand versetzt, ihre alten Leute ausschließlich zu Hause pflegen zu können. Es waren die holländischen Konservativen, die gesagt haben: Wir beobachten die Szene in der Bundesrepublik Deutschland ja auch; da lesen und hören wir so viel von Emanzipation. Soll das für eure alten Menschen nicht gelten? Sollen denn eure alten Menschen nicht gefälligst selbst entscheiden dürfen, wo sie hinwollen, wenn sie pflegebedürftig sind: ob sie in eine Einrichtung wollen oder ob sie zu Hause gepflegt werden wollen?
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- Herr Seehofer, da Sie jetzt so lautstark dazwischen rufen, sage ich Ihnen: Warum machen Sie denn diesen Unterschied? Warum machen Sie Ihre Einstiegslösungen so, daß den Pflegebedürftigen die Pflegeleistung über die Kasse gewährt wird? Warum scheuen Sie sich denn so davor, daß der Pflegebedürftige selbst die Wahl trifft? Wenn ich ihm ein Pflegegeld zur Verfügung stelle, hat er die Möglichkeit, die Pflegeleistung bei dem einzukaufen, von dem er meint, daß sie für ihn am besten gewährleistet wird. Dies ist ein freiheitliches Modell.
({14})
Ein solches Modell werden wir hier vorlegen.
Herr Abgeordneter Jaunich, gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte sehr, Frau Unruh.
Gehe ich recht in der Annahme, daß Sie eigentlich so denken wie ich, nur meinen, ich würde eingleisig denken? Oder meinen Sie nicht auch, daß Sie jetzt das nachvollziehen, was ich immer gesagt habe: Die selbstbestimmte Abrufung muß vorrangig sein?
Frau Kollegin Unruh, ich vermag mich nicht völlig in Ihre Denkstrukturen hineinzubegeben. Deswegen kann ich auf Ihre Frage nicht eingehen, weil Sie mich gefragt haben, ob ich so denke, wie Sie denken. Also, so kann man nicht fragen.
Zum Abschluß dieses Themas folgendes. Wir neiden niemandem, daß Sie jetzt für diejenigen Personen, die Pflegeleistungen erbringen, eine vierwöchige Freistellung vorsehen. Auch unser Konzept sieht das vor, nur eben nicht über die gesetzliche Krankenversicherung, sondern auf dem Wege eines Bundes-Leistungsgeldgesetzes. Die anderen Angehörigen im Gesundheitswesen mokieren sich darüber und sagen: Ihr habt ja schon die Tatsache unberücksichtigt gelassen, wie sich der Altersaufbau heute darstellt und daß er sich für die Zukunft immer ungünstiger darstellen wird, ihr habt also keine Alterskomponente, keinen Alterskoeffizienten in eure Überlegungen einbezogen. Dann dürfen wir aber eine neue, mit Sicherheit ausgabenträchtige Leistung nicht der gesetzlichen Krankenversicherung überantworten, denn sonst wird das, was jetzt ein Leistungsverzicht von knapp 9 Milliarden DM ist, in zwei, drei Jahren erneut um eine zweite und dritte Stufe des Abkassierens aufgestockt werden. Das wollen wir vermeiden.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Liebe Bürgerinnen und Bürger! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein besonderes Dankeschön an das Präsidium, daß es so flexibel auf meinen Redewunsch und auf die Hindernisse, die dem im Wege gestanden haben, reagiert hat.
Bei all dem Gesagten können wir wohl in jedem Fall zu den Redetexten, die wir heute gehört haben, folgenden Wunsch formulieren: Gute Besserung! Wir können gleich die Frage anschließen: Für wen?
Egal, wer in die engere Wahl kommt: Die Versicherten sind es jedenfalls nicht. Diesen wäre mit rechtzeitiger Sachinformation der Wende-Regierung zum Thema Gesundheitswesen möglicherweise gedient worden. Doch statt dessen wird der eher blasse, aber dafür um so kostenintensivere Versuch unternommen, den gern so genannten mündigen Bürger mit plakativen Plattitüden abzuspeisen. Vermutlich wird kaum jemand, der seine fünf Sinne beisammen hat, mit den inhaltsleeren Fragen an Norbert Blüm, wie sie auf Plakatwänden zu lesen sind, nutzbringende Informationen verbinden.
Ein Gesichtspunkt ist bei dieser Debatte verlorengegangen, und zwar die Tatsache, daß im Verhältnis der Anteil der Gesundheitskosten am gesamten BrutWüppesahl
tosozialprodukt ständig gesunken ist. Allein die Vergleichszahlen von 1981 zu 1986 von 13,5 % auf 12,6 % dokumentieren, daß diese Regierung mit den vorgesehenen Einsparungen ganz andere Dinge refinanzieren möchte, als sie vorgibt,
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nämlich die Gesundheit der Bevölkerung zu stärken.
80 % der Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung werden durch Ärzte verschrieben, veranlaßt oder verordnet. Nimmt man die Zahnärzte hinzu, stellt man fest, daß es mehr als 90 % der Ausgaben sind, die durch ärztliche Kugelschreiber gesteuert werden. Ein sehr oft eingeschränktes ärztliches Bewußtsein bestimmt also das Sein, bestimmt die finanzielle Situation der gesetzlichen Krankenversicherung. Wohlbefinden und Gesundheit sind nicht in Mark und Pfennig aufzuwiegen.
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Ich will keine fundamentalen Exkursionen machen, sondern nur einen Hinweis darauf geben, daß täglich 40 000 Kinder auf der Welt sterben, an Hunger sterben, und darauf, was wir uns alles im Gesundheitssystem zu leisten in der Lage scheinen.
Herr Blüm, Sie bitten ja immer um konkrete Vorschläge. Deshalb möchte ich Ihnen einige Hilfen für tatsächliche Einsparungsmöglichkeiten mit auf den Weg geben für die zweite und dritte Lesung. Das häufigste von Menschen über 65 Jahren in der ärztlichen Praxis geäußerte Symptom ist Schwindel, also ein allgemeiner Schwindel mit Kopfschmerzen und allen möglichen Sachen, für die es 576 Ursachen gibt, also im Grunde gar keine. Es gibt keine körperlich faßbare Erklärung dafür. Die bodenlos gewordene soziale Situation alter Menschen in unserer Gesellschaft gibt viel schlüssigere Erklärungen für den allgemeinen Schwindel. Die Ärzte reagieren mit der Verschreibung von durchblutungsfördernden Substanzen, deren Wirkung noch nicht einmal bewiesen ist.
Diese Arzneimittelklasse wurde zur ausgabenstärksten Arzneimittelgruppe für die gesetzliche Krankenversicherung. 20 Millionen Rezepte jährlich kosten 1,3 Milliarden DM. Dies entspricht - da wäre eine sinnvollere Gesundheitspolitik möglich - 25 000 Vollzeitbeschäftigten - Krankengymnasten, Ergotherapeuten, also Körpertrainern, oder Ärzten - , bezahlt nach BAT III. Bei einer 40-Stunden-Woche könnten also theoretisch 1 Million Therapieeinheiten einzeln oder mehrere Millionen in Gruppen geleistet werden. Statt 20 Millionen Rezepte jährlich auszustellen, könnten 25 000 Beschäftigte - das ist genau die Größenordnung, die Sie im Krankenhausbereich beim Pflegedienst einsparen wollen - im Gesundheitswesen die Rezeptempfänger mit gruppenorientierter, sozusagen sozialer Durchblutungsförderung regelmäßig betreuen. Das sind genau die Dinge, die wir favorisieren.
Kostendämpfung bedeutet also nicht zugleich mehr Humanität, stellt nicht gleich eine humanitäre Medizin dar.
Ich möchte Ihnen ein zweites Beispiel mit auf den Weg geben, Herr Blüm, das alles das an Geld hereinbringen könnte, was Sie zur Zeit den Schwachen in dieser Gesellschaft mit Ihren Vorschlägen aus der Tasche ziehen. Die Krankenhäuser werden bei Ihnen nicht angetastet. Die Krankenhäuser produzieren aber ein Drittel der Gesamtkosten im Gesundheitsbereich. Das heißt, von 120 Milliarden DM werden 40 Milliarden DM Kosten durch das Krankenhauswesen produziert.
Gleichzeitig wissen wir, daß die Weltgesundheitsorganisation, eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen, empfiehlt, daß ein Drittel der Krankenhausbetten der Bundesrepublik Deutschland gestrichen werden sollten. Sie sind schlicht überflüssig. Da finden permanent verkappte Freiheitsentzüge und ähnliches statt. Wenn ich an solche Exzesse wie im Johanniter-Krankenhaus in Geesthacht mit Schoppmeyer und Co denke, wird mir besonders grauslich. Ein Drittel Einsparung bei den Gesamtkosten der Krankenhäuser in Höhe von 40 Milliarden DM machte mindestens 10 Milliarden DM aus; man kann die Relation nicht ganz linear herstellen. Damit sind Sie bei der Größenordnung, die Sie zur Zeit den Schwachen im Lande aus der Taschen ziehen.
Neben einigen Antworten für eine sinnvollere Kostendämpfung im Gesundheitsbereich unter gleichzeitiger Anhebung des Standards in diesem gesellschaftlichen Problemfeld, die ich Ihnen gegeben habe, stellen sich folgende Fragen. Mit welchem Anspruch machen Sie eigentlich das, was Sie als Strukturreform im Gesundheitswesen bezeichnen? Da können wir lesen - auch in der Werbung - von weniger Essen, weniger Trinken, weniger Frauen, kein Übergewicht. Stellen wir uns gedanklich nur einmal die Regierungsbank vor; die meisten fehlen ja im Moment. Stellen wir uns Herrn Kohl, Herrn Bangemann, auch Sie, Herr Blüm vor - allesamt satt, mit Übergewicht, mit Sicherheit keine Asketen im Gebrauch von Genußmitteln. Wir können uns auch die Graue Eminenz, Herrn Strauß, vorstellen und viele andere, die heute alle nicht anwesend sind.
Mit welch fehlender Glaubwürdigkeit gehen Sie eigentlich genau in diesen Bereichen an die Taschen der Schwachen in dieser Gesellschaft? Sind Sie, so wie Sie hier sitzen und aussehen, etwa das Gesundheitsidol der Nation?
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Eine andere Frage: Wo bleibt in dieser Diskussion eigentlich Frau Süssmuth, die Vorzeigeministerin dieser Regierung?
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Natürlich ist sie von den Vorschlägen tangiert. Die Abtreibung beispielsweise kann man mit über die Kostenregelung lenken, ebenso viele andere Dinge. Wo bleibt Frau Süssmuth? Ich glaube, diese Frage ist nicht zu beantworten.
Herr Blüm, Ihr Fauxpas, aufgetan durch das Zitat des Kollegen Dreßler von der SPD-Fraktion, war sicherlich auch dem letzten so eingängig, daß ihm klar ist, daß Ihre Kumpelhaftigkeit, der auch ich lange Zeit aufgesessen bin, inzwischen mehr Maske und Fassade ist, als daß Sie damit authentische Ausstrahlung
betreiben könnten. Ich glaube, der Kollege Dreßler hat Sie heute so gut entlarvt wie schon lange niemand mehr aus diesem Hause.
Ich möchte einen letzten Gesichtspunkt anführen. Welches Menschenbild steht eigentlich hinter dieser Form der sogenannten Strukturreform im Gesundheitswesen?
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Wir können lesen oder auch von Ihnen hören: Die Deutschen haben soviel Geld, daß sie ihre Urlaubsreisen bezahlen können. Gleichzeitig machen Sie Werbung für Vorsorgeuntersuchungen; „Prävention" ist das große Stichwort. Bei wem wollen Sie denn bei den geringen wissenschaftlichen Erkenntnissen, die darüber existieren, was Vorsorgeuntersuchungen tatsächlich bewirken, Vorsorgeuntersuchungen machen? Im Kern reduziert sich das dann wieder auf Mißstände im Lebensverhalten, z. B. darauf, daß sich Manager, die zuviel Schweinefett essen, ausreichend diagnostisch untersuchen lassen können. Den sozial engagierten Arzt, den Hausarzt, der in der Tat so viele soziologische und psychologische Kenntnisse über den Patienten hat wie niemand sonst und wie keine Institutionen im Gesundheitswesen - wenn es denn diesen alten Hausarzt noch gäbe - , stärken Sie nicht; Sie unterstützen das den EDV-Programmen der Kassen angepaßte Verschreibungsverhalten von Ärzten, die mehr ihren eigenen Geldbeutel im Sinn haben.
Das alles sind Elemente, die meines Erachtens völlig an den tatsächlichen Problemen vorbeigehen. Die Fragestellung war: Was für ein Menschenbild steht dahinter? Dahin möchte ich jetzt noch einmal führen. Wir hören Stichworte wie „Gesundheitspaß". Frau Wilms-Kegel hat aber sehr schön ausgeführt, wer tatsächlich benachteiligt wird, und sie hat die Gruppen angeführt. Sie, meine Damen und Herren, bringen zum Ausdruck - auch wenn Sie es nicht an jeder Stelle explizit sagen - , daß es für Sie inzwischen nutzlose Esser gibt, Schwache und Bedürftige. Diese Gruppen interessieren Sie in der Tat einen Dreck.
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Mein Eindruck ist, Herr Blüm, daß Sie im gedanklichen Überbau langsam auf eine moderne Form einer schleichenden Euthanasie hinauskommen. Es gibt Gruppen, die Sie in dieser Weise völlig ignorieren. Die Lesart Ihres Gesetzentwurfes gibt mir da wohl recht.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zink.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am Ende dieser Debatte
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darf ich feststellen, daß sich die Regierungskoalition als handlungsfähig erwiesen hat.
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Eines der schwierigsten Reformvorhaben dieser Legislaturperiode ist auf den Weg der Gesetzgebung gebracht. Der Gesetzentwurf liegt vor. Das erzielte Ergebnis ist auch ein persönlicher Erfolg für Bundesarbeitsminister Dr. Norbert Blüm.
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Es ist auch ein Erfolg der Mitglieder der Arbeitsgruppe der Koalitionsfraktionen,
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die mit der Vorbereitung der Entscheidung beauftragt war. Diese Mitglieder haben fast ein ganzes Jahr ununterbrochen getagt, und ich meine, das sollte Anerkennung finden.
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Ich möchte den Kollegen Dr. Becker, Günther und Seehofer aus meiner Fraktion besonders Dank sagen, schließe aber auch die Kollegen von der FDP-Fraktion mit ein. Bei allen Problemen, die es - auch in Sachfragen - immer gibt, hat man sich am Ende, glaube ich, gut zusammengerauft.
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Meine Damen und Herren, der Regierungskoalition ist es gelungen, die Weichen für eine solidarische Erneuerung der Krankenversicherung zu stellen. Es wird dabei nicht nur gespart, es wird auch gestaltet. Die heutige Debatte hat gezeigt, daß es eine Alternative zum Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht gibt.
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Nach dem Verlauf der Debatte muß sich die Opposition eine Reihe von Fragen gefallen lassen: Stellt sie in Frage, daß ein ungebremstes Wachstum der Ausgaben angesichts der für die Beitragsentwicklung aufgezeigten Konsequenzen nicht länger in Betracht kommen kann?
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Geht es der Opposition wirklich um die Beitragssenkungen, um das Wohl der Versicherten und die bestmögliche medizinische Versorgung?
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Gibt sie dem System der gesetzlichen Krankenversicherung eine Chance für die Zukunft, oder will sie
hier ein Manövrieren in eine Sackgasse vornehmen?
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Meine Damen und Herren, wenn Beitragsbelastungen unerträglich geworden sind, ist es zum Reformieren zu spät.
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Von „Abkassierungsmodell" sollte der nicht sprechen, der Versicherte über Jahre mit steigenden Beiträgen zur Ader gelassen hat.
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Bei dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung vorgelegt hat, ist gerade vermieden worden, die Finanzierungslasten einseitig auf die Versicherten zu verlagern.
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- Davon können Sie ausgehen.
Tatsache ist: Von den 14 Milliarden DM, die gespart werden, soll die eine Hälfte zur Beitragssenkung verwandt werden. Die andere Hälfte der Einsparungen ermöglicht es, neue, drängende gesellschaftspolitische Ausgaben und Aufgaben in Angriff zu nehmen.
Welchen Beitrag zur Lösung des Pflegeproblems hat es eigentlich zwischen 1969 und 1982 gegeben?
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Alle Beteiligten müssen ihren Beitrag zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung leisten. Die Koalition nimmt in erster Linie und nachhaltig die Leistungserbringer in die Pflicht. Dem entspricht der heftige Widerstand aller Gruppen von Leistungserbringern gegen die angestrebte Strukturreform. Die Leistungserbringer richten ihre Kritik aber bezeichnenderweise nicht gegen diese Maßnahmen, sondern sie geben vor, sich ausschließlich im Interesse der Versicherten gegen die angebliche Schaffung des „gläsernen Patienten" , gegen den angeblichen Aufbau übermächtiger Bürokratien und gegen angebliche Verschlechterungen des Leistungsniveaus und des Umfangs der Versicherung zu wenden.
({14})
Eckpfeiler der Strukturreform im Gesundheitswesen sind die Festbeträge und der Beitrag der gesetzlichen Krankenversicherung zur Absicherung des Pflegerisikos. Der Festbetrag garantiert, daß der Versicherte eine medizinisch ausreichende und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung ohne Zuzahlung erhält.
({15})
Die Festbeträge machen Zuzahlungn überflüssig. Sie sind versichertenfreundlich und fördern den Preiswettbewerb unter den Leistungserbringern.
({16})
Die Festbeträge werden nur schrittweise verwirklicht werden können. Dies bedeutet aber absolut nicht, daß nach 1991 keine Festbeträge mehr eingeführt werden könnten.
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Im Gegenteil, auch wenn ab 1991 prozentuale Selbstbeteiligung wirksam wird, bleibt es dabei, daß Festbeträge für alle dafür weiter geeigneten Arzneimitttel festgesetzt werden können.
({18})
Die Einführung der prozentualen Selbstbeteiligung ab 1991
({19})
für eine Übergangszeit und für einen Rest der Arzneimittel,
({20})
die nicht festbetragsfähig sein werden, bedeutet eine ganz nachhaltige Herausforderung, die Umstellung der Festbeträge so bald und so zügig wie überhaupt nur möglich vorzunehmen. Die Selbstverwaltung im Gesundheitswesen wird sich sicherlich dieser Aufgabe stellen und zeigen, daß sie diese Herausforderung ihrerseits annehmen wird.
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Alle Einsparungen im Zusammenhang mit Festbeträgen, Bagatelleistungen oder zuvor übermäßig ausgeweiteten Leistungen lassen die vollwertige Versorgung der Versicherten mit allem medizinisch Notwendigem unberührt. Leistungen, die keiner solidarischen Absicherung bedürfen, sollen aus dem Leistungskatalog herausgenommen werden. Die Solidargemeinschaft der Beitragszahler kann nicht für alles zuständig sein, was wünschenswert ist, sie muß das medizinisch Notwendige zahlen.
({22})
Aus zeitökonomischen Gründen lege ich einiges auf die Seite. Wir werden noch viel Zeit haben, miteinander zu reden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die gesetzliche Krankenversicherung ist über 100 Jahre alt. Sie wurde unter Bismarck im Jahre 1883 mit dem Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter geschaffen.
({23})
Heute sind in der gesetzlichen Krankenversicherung einschließlich der mitversicherten Familienangehörigen 56 Millionen Bundesbürger versichert. Das sind 92 % der Bevölkerung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich darf mich für Ihre Aufmerksamkeit sehr herzlich bedanken.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Haack ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute in erster Lesung den Entwurf des Gesundheits-Reformgesetzes. Ich möchte mich in meinem Diskussionsbeitrag mit dem Herzstück der Reform, nämlich mit dem Festbetragsmodell auseinandersetzen.
Generell haben die Bürgerinnen und Bürger draußen im Lande begriffen: Es handelt sich bei diesem Gesetzentwurf nicht um eine Reform, sondern ledig5322
Haack ({0})
lich - ich muß es wiederholen - um ein Abkassierungsmodell.
({1})
Im Rahmen der Festbeträge - ihres Herzstückes - und der daraus resultierenden Möglichkeit der Selbstbeteiligung sollen allein rund 3 Milliarden DM eingespart werden.
In der Anlage zu Ihrem Gesetzentwurf kann man nachlesen, wo eingespart werden soll. Abkassiert werden bei den Patienten im Bereich Arzneimittel über 2 Milliarden DM. Abkassiert werden bei Rollstuhlfahrern, Prothesenträgern und anderen Behinderten 110 Millionen DM. Abkassiert werden bei Brillenträgern 760 Millionen DM. Abkassiert werden bei Heilmittelbenutzern 150 Millionen DM.
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Abkassiert werden bei den Trägern von Hörgeräten 170 Millionen DM. Im Rahmen des Festbetragsmodells insgesamt über 3 Milliarden DM. Aber treuherzig verkündet der Bundesarbeitsminister landauf, landab, im Fernsehen und heute auch hier: Ein jeder bekommt das medizinisch Notwendige,
({3}) nur wer mehr will, muß mehr zahlen.
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Ich sage Ihnen drei Punkte zu dem Festbetragsmodell. Das Festbetragsmodell ist der von der FDP gewollte Einstieg in die Selbstbeteiligung von 15 % bei Arzneimitteln, Heil- und Hilfsmitteln und damit eine Strafsteuer für Kranke;
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denn bis 1991 werden beispielsweise auf dem Arzneimittelmarkt lediglich ein Drittel erfaßt.
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- Herr Günther, Sie verbreiten doch schon Pressemeldungen, in denen Sie Herrn Cronenberg vorwerfen, er wolle nach 1991 keine Festbetragsregelungen mehr zulassen.
({7})
Gehen wir also davon aus: 1991 ein Drittel im Festbetrag, der Rest 15 To Selbstbeteiligung.
Zweite Bemerkung: Das Festbetragsmodell belastet das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient.
Dritte Bemerkung: Das Festbetragsmodell läßt die kostentreibenden Strukturen gerade auf dem Pharmamarkt unbereinigt.
Zu den Festbeträgen bei Heil- und Hilfsmitteln, zum Einstieg in die Selbstbeteiligung in Höhe von 15 %: Tragende Säule im jetzigen System der gesetzlichen Krankenversicherung, also bisher, ist das Sachleistungsprinzip, d. h. der Patient bekommt aus Mitteln der Solidargemeinschaft das therapeutisch Notwendige an Arznei-, Heil- oder Hilfsmitteln. Nunmehr wird festgelegt: Die Kassen sollen einzelne Leistungen nur noch in Höhe festgelegter Festbeträge übernehmen. Den Rest soll der Versicherte aus eigener Tasche bezahlen. Er wird das sicherlich auch tun wollen, wenn ihm der Hausarzt z. B. zu einem bestimmten Medikament rät,
({8})
welches im Preis über den Festbetrag der Kasse hinausgeht.
Das gleiche gilt natürlich auch für Hörgeräte, Hilfsmittel der Orthopädie und auch für andere Sachen.
Ab 1991 - das wird der Streit innerhalb der Koalition sein - soll dann bei all den Arznei-, Heil- und Hilfsmitteln eine Selbstbeteiligung von 15 % eingeführt werden, für die es bisher zu keiner Festlegung von Festbeträgen gekommen ist.
({9})
- Besorgen Sie sich einmal die Pressemitteilungen und Presseauszüge von Herrn Cronenberg. Darin können Sie das alles nachlesen. Das ist die Lesart der FDP: ab 1991.
Dazu prophezeie ich Ihnen: Die von der Festbetragsregelung betroffenen Leistungsanbieter, also die Pharmaindustrie sowie die Hersteller von Heil- und Hilfsmitteln, müssen ein Interesse daran haben, die Arbeit in dem ZK - wenn ich Ihnen das zurückgeben darf - der Bundesausschüsse, die darin besteht, die jeweiligen Festbeträge festzulegen, zu verschleppen und zu blockieren über Gutachterstreite, um das rettende Ufer der Selbstbeteiligung ab 1991 zu erreichen.
({10})
Einen Volltreffer landen Sie, Herr Minister, bei jenen, die ständig Medikamente einnehmen müssen: Herz-Kreislauf-Kranke, Diabetiker, Rheuma- und Allergiekranke. Von diesen Krankheiten sind viele Menschen in unserem Lande betroffen, vor allen Dingen viele ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger. Diese werden nun um die ärztliche Verordnung feilschen müssen, und zwar in der Praxis ihres Arztes - trotz Härteregelungen, trotz Überforderungsklauseln.
Und da bin ich bei dem zweiten Thema: Das Festbetragsmodell belastet das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. In § 81 Abs. 5 des Referentenentwurfs, Herr Minister, heißt es - ich darf einmal zitieren - :
Verordnet der Arzt auf Wunsch des Versicherten ein Arzneimittel, dessen Preis den Festbetrag nach § 35 überschreitet, hat der Arzt den Versicherten auf die sich aus seiner Verordnung ergebende Pflicht zur Übernahme der Mehrkosten hinzuweisen.
Wurde das Verhältnis zwischen Arzt und Patient bisher ausschließlich durch die Frage bestimmt „Wie werde ich wieder gesund, was kann meine Krankheit lindern? ' , so wird der Arzt dem Kranken, dem Behinderten oder dem Rentner ab kommendem Jahr etwas darüber sagen müssen, was die jeweilige Verordnung
Haack ({11})
- sei es ein Medikament, sei es ein Rollstuhl, ein Hörgerät - kostet
({12})
und welchen Anteil der Patient zu tragen hat.
Und nun will ich Ihnen das bildlich darstellen. Man stelle sich vor, Arzt und Patient beugen sich zwecks gemeinsamen Studiums über Preislisten der Anbieter mit dem Ergebnis, daß der Patient dem Arzt dann gestehen muß, daß er sich eine bestimmte, vom Arzt vorgesehene Verordnung finanziell nicht leisten kann. Also, er muß den Rentenbescheid jeweils dabeihaben.
Ich glaube, hier wird die Unsäglichkeit Ihres Systems besonders deutlich. Durch die durch Festbeträge und Selbstbeteiligung ausgelöste Frage „Was kann ich mir leisten, und was kann ich mir nicht leisten?" wird das Verhältnis Arzt-Patient in einer unverantwortlichen Weise belastet. Und, Herr Blüm: Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, daß Sie mit dieser Bestimmung aus dem Sprechzimmer des Arztes einen Basar für Arzneimittel-, Heilmittel- und Hilfsmittelhersteller machen?
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Ja, darf er.
Bitte, Herr Abgeordneter Cronenberg.
Herr Kollege Haack, würden Sie dem Hause bestätigen, daß die von Ihnen aufgezeigte Problematik deswegen nicht entstehen kann, weil Festbeträge, z. B. bei wirkstoffgleichen Medikamenten, immer sicherstellen, daß die Versorgung in diesen Fällen ordentlich gesichert ist und nur derjenige, der andere Medikamente, Medikamente unter anderem Namen haben will, dann eventuell mehr zahlen muß, daß aber zunächst einmal sichergestellt ist, daß diese Versorgung ordentlich erfolgt und das von ihnen aufgezeigte Problem damit nicht entstehen kann?
Nein, Herr Cronenberg. Entschuldigen Sie bitte, da täuschen Sie die Öffentlichkeit mit Ihrer Frage. Denn mit den Festbeträgen werden lediglich Monosubstanzen bei Arzneimitteln erfaßt; die kann man über Festbeträge festlegen. Da ist der Preiswettbewerb übrigens ohnehin vorhanden, im Generika-Markt; das bestreiten wir gar nicht. Aber die Blümsche Bremse der Festbetragsregelung wird ab 1991 nicht mehr ziehen. Das ist der Punkt, und darum erzähle ich Ihnen das hier alles.
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Also, ich komme zum Dritten: Das Festbetragsmodell und die Selbstbeteiligung bereinigen nicht die kostentreibenden Strukturen des Arzneimittelmarktes. Der Arzneimittelmarkt der Bundesrepublik weist einige Merkwürdigkeiten auf: Es gibt zu viele Medikamente, der Markt ist überschwemmt von Präparaten, von denen bekannt ist, daß sie kaum einen therapeutischen Nutzen haben, die aber von der Krankenkasse bezahlt werden müssen. Gegenüber den Industriestaaten vergleichbarer Art besteht in der Bundesrepublik ein Hochpreisniveau.
({1})
Es wäre jetzt Gelegenheit gewesen, Herr Minister, durch geeignete Maßnahmen eine Bereinigung dieses Zustandes vorzunehmen.
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Statt dessen zementieren Sie die Verhältnisse auf dem Pharmamarkt. Denn: Das Festbetragsmodell und die Selbstbeteiligung von 15
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belassen die therapeutisch sinnlosen Arzneimittel auf dem Markt, begrenzen nicht die hohe Zahl der Arzneimittel und belassen damit die Unübersichtlichkeit für den behandelnden Arzt, halten das Hochpreisniveau, finanziert über Selbstbeteiligung, hoch.
Erlauben Sie mir dazu einige Anmerkungen, bezogen auf unser Modell.
({4})
Die SPD schlägt die Gründung eines Arzneimittelinstitutes, getragen von Krankenkassen, Kassenärzten und Apothekern, vor. Dieses Institut erhält die Aufgabe, den Arzneimittelmarkt unter dem Gesichtspunkt einer therapeutisch hochwertigen Arzneiversorgung zu sichten und die Präparate auszuwählen, die für die hausärztliche Versorgung geeignet sind. Es kommt also zu einer längst überfälligen Strukturbereinigung auf dem Arzneimittelmarkt; erstes Ergebnis.
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- Sind Ärzte, Apotheker, ist die kassenärztliche Vereinigung
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eine Behörde? - Also, es kommt zu einer längst überfälligen Strukturbereinigung.
Über den Preis dieser einzelnen Arzneimittel wird dann zwischen Krankenkasse und Hersteller direkt verhandelt. In den Verhandlungen kann dann die Kostenstruktur innovativ tätiger Arzneimittelhersteller berücksichtigt werden. Unser Modell ist also nicht forschungsfeindlich. Nach den Verhandlungen erscheinen diese dann in einer Positivliste, die es bereits in
Haack ({7})
der Schweiz, in England und in Frankreich gibt, und das sind keine Sowjets.
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Herr Cronenberg, in der Bundesrepublik wird das schon im Krankenhaus, in den Therapiekommissionen und bei der Bundeswehr praktiziert. Da wird nach dem Modell eingekauft. Also ist dies nicht eine neue Erfindung. Unser Modell ist also ein Marktmodell, und wir können uns damit, meine ich, sehen lassen.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, das von der Koalition als Herzstück der Reform gepriesene Festbetragsmodell ist unsozial, vertrauensschädigend und wirtschaftspolitisch äußerst bedenklich. Die vorgesehene Selbstbeteiligung wirkt kostentreibend, nicht kostensenkend und nimmt dem kleinen Mann das Geld aus der Tasche.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.
Die GRÜNEN haben noch eine Minute. Deshalb ein sachlicher Hinweis: Unser Bundespflegegesetz soll über den Bundeshaushalt finanziert werden. Es paßt gut in die Landschaft: Entlastung von mindestens 6 Milliarden DM für Kommunen und Länder, was Sie ja auch, SPD-Länder, CDU-Länder, fraktionsübergreifend gemacht haben.
Danke schön.
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Ich erteile dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung das Wort.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielleicht darf ich dem Kollegen Haack als meine Antwort auf seinen Diskussionsbeitrag den Gesetzentwurf überreichen, denn dann kann er seine Kenntnisse vielleicht auf die Höhe des Entwurfs bringen.
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Zur Sache selber: Ich wollte abschließend doch noch einmal zur Grundphilosophie unseres Gesetzentwurfs Stellung nehmen. Die entscheidende Frage ist: Was ist Solidarität? Ich antworte darauf: Den Schwachen helfen,
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durch Pflege, die bisher unberücksichtigt blieb, durch Schutz vor Überforderung im Sinne des Festbetrags.
Was ist Solidarität? Schutz vor Ausbeutung. Das war das Instrument der Arbeiterschaft, das sie Solidarität nannte. Ich denke, wir brauchen heute, um Solidarität zu schützen, auch ein Instrument, um uns vor Ausnutzung zu schützen, nämlich vor denjenigen, die die Solidarkassen mißbrauchen. Deshalb auch der Versuch einer Beitragsrückgewährung, deshalb Kostenkenntnis und Transparenz.
Drittens. Was ist Solidarität? Die beste Sozialpolitik ist Hilfe zur Selbsthilfe. Insofern dient auch die Vorsorge dazu, der Mitverantwortung neue Spielräume zu geben.
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- Lassen Sie mich in diesen wenigen Minuten, Herr Jaunich, die uns noch zur Verfügung stehen - ({3})
Wenn Sie mir Gelegenheit geben, Herr Präsident?
Die Gelegenheit bekommt der Minister natürlich selbstverständlich, wenn er der Bitte entspricht.
Bitte, Herr Jaunich.
Wenn Sie die Festbetragsregelung als Instrument zur Vermeidung von Überforderung bezeichnen, warum haben Sie dann bei dem Thema Zahnersatz nicht eine Festbetragsregelung in Ihren Entwurf gechrieben?
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Ihre Frage gibt mir Gelegenheit, die Festbetragsphilosophie noch einmal darzustellen. Ein ganz konkretes Beispiel: Ein Herz- und Blutdruckmittel kostet bei uns 61,95 DM.
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Ein gleich gutes Mittel kostet 27,75 DM. Jetzt frage ich Sie:
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Warum soll die Solidarkasse das für 61 DM.bezahlen, wenn das gleich gute für 27 DM zu haben ist? Wo wird da abkassiert? Wenn da abkassiert wird, höchstens bei den Höchstpreisherstellern. Die tragen die Folgen des Festbetrags.
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- Das ist keine Arroganz. Es tut mir leid, daß Sie immer schreien, wenn ich Ihnen etwas erkläre. Ich bin gerade bei der Antwort. Herr Kollege Heyenn, seien Sie nicht so nervös!
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Zur Zuzahlung: Wir haben mit Abstand den größten Leistungskatalog. Bei uns werden Kronen und BrükBundesminister Dr. Blüm
ken noch bezahlt, die in den meisten Ländern nicht mehr bezahlt werden.
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- Ich antworte allen, nicht nur Ihnen.
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Das will ich Ihnen auch noch beantworten. In Ihrem Musterland Schweden gibt es eine 50prozentige Zuzahlung zu einem Leistungskatalog, der viel geringer ist als bei uns. In der Schweiz gibt es eine Zuzahlung von 95 %, in den USA von 100 %.
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- Das war meine Antwort.
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- Wenn ich nichts zu bieten hätte als nur Beschimpfungen, dann würde ich nicht lachen, sondern traurig den Saal verlassen.
Das ist, meine Damen und Herren, das letzte, was ich hier sage: Suchmeldung: Ich fordere alle auf, zu suchen, wo der Gesetzentwurf der SPD ist. Außer verquasten Vorstellungen zur Bürokratie und außer gläubigem Planungsfetischismus gibt es nichts als Beschimpfungen, und mit Beschimpfungen ist unsere Krankenversicherung nicht zu retten.
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Einen Augenblick, Herr Bundesminister. So geht es nicht, Herr Heyenn. Sie haben sich ordnungsgemäß gemeldet, und ich habe den Minister jetzt unterbrochen. Herr Minister, gestatten Sie jetzt eine Zwischenfrage?
Nein.
Meine Damen und Herren, ich möchte jetzt zur Pflege nur das eine sagen. Sie können hier kunstvolle Debatten führen, wie Pflege sein soll, wann Pflege stattfinden soll, welche ordnungspolitischen Vorstellungen es gibt. Ich habe heute morgen so viel Hätte, Wäre, Sollte, Möchte, Dürfte und Könnte gehört. Wir antworten darauf: Wir machen es. Es ist lange darüber geredet worden. Wir sind die Regierung, die es macht, und darauf bin ich stolz.
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Deshalb lade ich ein, diesen Gesetzentwurf gegen alle Widerstände parlamentarisch zu verabschieden. Wir sind es den Beitragszahlern und wir sind es den Hilfsbedürftigen schuldig.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Interfraktionell ist vereinbart worden, die Vorlagen zu den Tagesordnungspunkten 24 a bis 24 d zusätzlich zur Mitberatung an den Innenausschuß sowie die Gesetzentwürfe zu den Tagesordnungspunkten 24 a und 24 d außerdem zur Mitberatung an den Finanzausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Dann bleibt mir noch, die nächste Plenarsitzung einzuberufen. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 18. Mai 1988, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.