Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Punkt 26 der Tagesordnung auf:
Aussprache über die Lage im Nahen Osten, insbesondere in den von Israel besetzten Gebieten
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. Stimmen Sie dem zu? - Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Welchen Sinn hat diese Debatte, und was sollten wir mit ihr zum Ausdruck bringen? Es kann wirklich kein Zweifel mehr daran bestehen, daß die Völker des Nahen Ostens der Kriege und Konflikte überdrüssig sind. Sie werden sich einer gerechten Friedensordnung nicht widersetzen, wenn dies für sie Befreiung von Angst und Not bedeutet. Dieser weithin gewonnenen Erfahrung widersprechen nicht die Anzeichen einer politischen und religiösen Radikalisierung, die oft nur deshalb eine Chance erhalten, weil gerechte Lösungen auf sich warten lassen.
Die Mehrheit will endlich Frieden, Sicherheit und Entwicklung. Wenn solche Einsicht auch noch nicht Allgemeingut ist, so sollten es eben unsere Gedanken und Beiträge sein, diejenigen zu ermuntern, die Frieden suchen. Es wäre verhängnisvoll, wenn am Ende die derzeitigen Spannungen noch verstärkt würden. Das kann nicht der Zielsetzung deutscher Außenpolitik entsprechen; denn gerade aus unserem Lande sollte man Worte der Besonnenheit, der Versöhnung und der Aufforderung zur Zusammenarbeit hören können.
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Wie soll denn auch nur einer dieser Konflikte enden, wenn diese vielfach historischen Auseinandersetzungen nicht durch einen neuen Anfang überwunden werden, durch ein neues Prinzip der Zusammenarbeit, durch die allein Frieden geschaffen wird?
Das gilt insbesondere für den nun schon seit sechs Jahren anhaltenden Krieg zwischen dem Irak und dem Iran. Er ist Bestandteil der gesamten Konfliktsituation im Nahen Osten und kann daher nicht ausgeklammert werden.
Deutsche und europäische Politik ist gut beraten, wenn sie sich weiterhin mit beiden Seiten im Dialog befindet und das ganze politische und wirtschaftliche Gewicht darauf konzentriert, den Frieden, auf den sich die miteinander Kämpfenden besinnen sollten, als die Voraussetzung ihres Überlebens und einer menschenwürdigen Entwicklung ihrer Länder zu begreifen.
Die barbarischen Luftangriffe auf die Zivilbevölkerung sind kein Weg zu diesem Frieden. Von den Völkern ist längst zu hören, wie sehr sie diesen Krieg hassen. Die Verantwortung liegt allein bei den Regierenden, die auch nach dem Willen der Vereinten Nationen an den Verhandlungstisch gehören, weil sie wie alle erfahrenen Beobachter wissen, daß dieser Krieg nicht gewonnen werden kann.
Es gibt nicht die geringste Aussicht auf eine militärische Entscheidung. Warum also wird das Morden fortgesetzt? Diese eindringliche Frage an die Regierenden und die Regierten sollte den Willen bestärken, das Schlachtfeld mit dem Verhandlungstisch zu tauschen. Auch ein noch so trickreiches Konzept führt nicht an dieser einzigen Lösungsmöglichkeit vorbei.
Der Brief des iranischen Außenministers an den Generalsekretär der Vereinten Nationen vom 28. Februar 1988 scheint ein Schritt auf dem Weg zur Respektierung der Resolution 598 des Sicherheitsrates zu sein. Leider sind inzwischen von einem Regierungssprecher in Teheran erneut Vorbedingungen geltend gemacht worden, die nicht Bestandteil der Resolution sind.
Es sollte keinen Zweifel an unserer Haltung geben: Wir erwarten von den Kriegführenden, daß sie sich der eindringlichen Bitte der gesamten Völkergemeinschaft der Vereinten Nationen unterwerfen. Bringen Sie Ihren Völkern den Frieden, den Ihnen Gott aufgetragen hat! Das ist nämlich sein Wille.
Es war seit dem Ausbruch der Kampfhandlungen auch für uns Deutsche schwer, in manchen Grenzbereichen des Exports das Sensible vom Unbedenklichen zu unterscheiden. Aber machen wir daraus bitte keine Waffenlieferungen an Kriegführende! Das will niemand von uns, und deshalb sollten wir es uns auch nicht unterstellen.
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Andere müssen sich fragen lassen, ob sie weiterhin die Verantwortung tragen können, an der Fortsetzung dieses Krieges mitzuwirken.
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Die deutsche Außenpolitik hat in Teheran wie in Bagdad in diesem Sinne mitgewirkt. Wie die Vereinten Nationen und interparlamentarische Initiativen hat sie sich bemüht, die Gefahr einer Ausgrenzung des Irans zu vermeiden. Ich hatte in Teheran den Eindruck, daß man dies als einen guten Dienst bewertet hat.
Mit solchen Bemühungen ist allerdings nicht zu vereinbaren, was von seiten der Hizbollah im Libanon unter deutlichen Verbindungen mit Teheran unserem Landsmann Rudolph Cordes angetan wird. Seit sich vor drei Wochen der stellvertretende iranische Ministerpräsident über das Fernsehen an die französische Regierung gewandt hat, wissen wir, daß ein direkter Zusammenhang zwischen den Geiselnahmen im Libanon und Zielsetzungen der iranischen Politik ausdrücklich bestätigt worden ist. Seine Erpressung war überdeutlich: Wenn Frankreich seine Politik gegenüber dem Iran nicht ändere, könne eine Befreiung der französischen Geiseln im Libanon nicht erwartet werden. Dies ist nach meiner Erkenntnis das erste Mal, daß sich die iranische Regierung mit kriminellen Aktionen identifiziert. Wir übersehen nicht, wie oft dies in der Praxis geschieht, aber es ist doch etwas anderes, ob dies ohne erkennbare Schuldige geschieht oder ob sich eine Regierung offen zu einem Verbrechen bekennt. Um dies auch als Christ klar auszusprechen: Ein Staat, der sich ausdrücklich auf sein Handeln im Namen Gottes beruft, sollte davor zurückschrecken, in seinem Namen Verbrechen zu billigen.
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Präsident Assad hat dem Bundesminister des Auswärtigen wie auch mir die volle Unterstützung Syriens bei der Befreiung aller Geiseln zugesagt. Mein Besuch im Libanon hat mir gezeigt, daß dies ernst gemeint ist. Syrien bringt darin auch seinen Wunsch zum Ausdruck, seine Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft, insbesondere zur Bundesrepublik Deutschland, zu verbessern. Ich empfehle, dieses Interesse zu nutzen. Dies kann auch dazu dienen, die Bereitschaft zum Dialog in der Region zu fördern.
Ohne Frieden gibt es keine wirtschaftliche Entwicklung, ohne Frieden gibt es auch keine Investitionen. Können wir also in der Frage der Geiseln im Libanon der Unterstützung Syriens sicher sein, so möchte ich von dieser Stelle einmal mehr an die Regierung in Teheran appellieren, die konstruktive deutsche Außenpolitik dadurch zu erleichtern, daß durch ein Machtwort des Iran dieser menschenverachtende Terror beendet und Rudolph Cordes seiner Familie zurückgegeben wird.
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Ein weiterer Bruder Hamadei befindet sich zur Zeit in Teheran. Mit ihm kann die iranische Regierung jederzeit in Verbindung treten, nm dem Eindruck entgegenzuwirken, daß sie sich weiterhin mit Verbrechen zu identifizieren gedenkt. Ich kann mir vorstellen, daß sich der ganze Deutsche Bundestag dieser Aufforderung anschließt.
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Zeichen des Friedens und der Zusammenarbeit braucht auch der Libanon. Seine Destabilisierung ist nicht die Folge der Anwesenheit fremder Truppen auf seinem Territorium. Die untereinander verfeindeten Gruppen in seinem Land müssen zur nationalen Einheit zurückkehren und sich auf ein Arbeitsprogramm verständigen, an dessen Ende eine von allen gebilligte staatliche Ordnung steht. Es wird keinen dauerhaften Frieden und keine nationale Unabhängigkeit geben, solange sich die Konfliktparteien nicht darauf verständigen, ihr Staatswesen gemeinschaftlich zu betreiben. Unzureichende staatliche Machtmittel machen den Libanon weiterhin von außerlibanesischen Interventionen abhängig. Auch hier verstärkt eine Parteinahme für diese oder jene Gruppe das Spannungsfeld.
Unser Rat für das noch funktionsfähige Parlament sollte daher sein, die verbliebenen Institutionen nationaler Zusammenarbeit zu stärken, um einen neuen Anfang zu ermöglichen. Nicht fremde Mächte sind gefordert, sondern die Libanesen selbst. Wenn die staatliche Ordnung wieder gefestigt ist, gibt es keinen Grund und keinen Vorwand mehr, fremde Truppen, syrische oder israelische und schließlich auch die der Vereinten Nationen, auf libanesischem Territorium zu stationieren.
Das wird allerdings kaum möglich sein, wenn nicht zugleich eine Lösung für das Los unzähliger Flüchtlinge, vor allem im Libanon, in Syrien, in Jordanien, aber auch für das Schicksal der in den von Israel besetzten Gebieten lebenden Palästinenser gefunden wird. Wer 40 Jahre seines Lebens in Lagern verbringen mußte, ist mit Sprüchen nicht mehr abzuspeisen. Er verlangt nach Menschlichkeit und Freiheit. Dies hätte sich gegebenenfalls schon erreichen lassen können, wenn nicht in den 50er und 60er Jahren die Parole von der Vernichtung Israels die Politik vieler arabischer Staaten und Organisationen bestimmt hätte.
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Lange Jahre hat der Staat Israel diesen Existenzkampf führen müssen. Niemand in der Region war bereit, den Überlebenden eine Heimstatt zu geben und ihrem Staat Grenzen des Friedens zu gewähren.
Dies hat sich heute allerdings grundlegend geändert. Ein Blick auf alle Nachbarn Israels und auf die politische Einschätzung in aller Welt zeigt, daß es im Augenblick keine ernsthafte Bedrohung für die Existenz des Staates Israel gibt und daß sich daher unser Augenmerk auch auf eine menschliche und gerechte Lösung für das Schicksal all derer richten muß, die endlich aus den öden, kollektiven und inhumanen Lebens- und Herrschaftsformen befreit werden müssen.
Doch dies ist nur auf dem Weg der Verhandlung und der Zusammenarbeit, nicht durch eine neue Konfrontation zu erreichen. Auf eine solche Zielsetzung
sollten sich alle unsere Beiträge konzentrieren. Mit naßforschen Erklärungen ist niemandem geholfen, am allerwenigsten denen, deren Leiden wir beenden möchten. Da sollten wir uns eher an den intensiven Bemühungen des amerikanischen Außenministers orientieren, der mit großer Geduld den Versuch unternommen hat, schon jetzt einen Durchbruch zu erzielen.
Ich will nicht untersuchen, wie günstig der augenblickliche Zeitpunkt dafür war. Nach meinem Urteil wird sich vor den Wahlen in Israel wenig bewegen. Um so eindringlicher ist schon jetzt unser Appell, danach an der Organisation von Menschlichkeit und Gerechtigkeit aktiv mitzuwirken. Dies darf nicht an formalen Einwänden scheitern. Auch für die Interessen der Israelis gibt es heute viel mehr Verständnis bei seinen Nachbarn, weil sich auch ihre Sicherheit, ihr Frieden und ihre Unabhängigkeit nicht einseitig organisieren lassen.
Auch die Sowjetunion scheint inzwischen zu erkennen, daß einseitige Optionen Konflikte verlängern, die von niemandem gewonnen werden können. Die offenbar erwogene Aufnahme diplomatischer Beziehungen könnte sich daher positiv auf diesen Prozeß auswirken. Wenn die von mir dargestellte Analyse so zutrifft, dann kann unser Rat im Augenblick nur sein, bis zur Aufnahme der Gespräche behutsam und menschlich zu verfahren. Ich meine, daß es gerechtfertigt ist, auf einen solchen Gang der Dinge zu vertrauen. Man wird sich noch einige Monate gedulden müssen. Um so wichtiger ist es, daß bald ein Zeichen aller gegeben wird, daß Menschlichkeit und Gerechtigkeit für alle am Ende des jetzt begonnenen Prozesses stehen.
Ich verzichte auf Ratschläge, wie das alles im Rahmen vieler Konferenzen erreicht werden könnte. Allen Betroffenen muß die Gelegenheit gegeben werden, für ihr Recht zu plädieren. Wie soll am Ende ein Frieden stehen, wenn sich der Kampf im Untergrund fortsetzt?
In dieser Auffassung bin ich auch durch den früheren Außenminister und jetzigen Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses der Knesset, Abba Eban, bestärkt worden. Er empfiehlt uns nicht, die Biographien palästinensischer Führer zu studieren, sondern zu erforschen, was sie heute denken. Was sind jetzt ihre Vorstellungen? Wie stellen sie sich ihren Frieden mit Israel vor? Wer nimmt ein repräsentatives Mandat für sie wahr?
Als Parlamentarier sind wir Parlamentäre. Der Auswärtige Ausschuß wird in der nächsten Woche mit einer Delegation in Tunis sein. Ich habe Arafat bitten lassen, uns auf diese Fragen Antwort zu geben. Gilt sein Wort für alle, ist dies ein Wort des Friedens und der Versöhnung, dann werde ich jedenfalls meinen israelischen Freunden empfehlen, einen neuen Weg zu wagen.
Ich sage dies als Angehöriger eines Volkes, dessen politische Führung einen Abgrund zwischen den Völkern der Deutschen und der Juden aufgerissen hat. Die Erinnerung bleibt Bestandteil unserer Gegenwart und unserer Zukunft. Mit guten Gedanken haben wir dennoch stabile Brücken über diese Schlucht gebaut.
Wir wissen, wie schwer das war. Warum soll die Feindschaft der letzten Jahrzehnte, die so viel Leid bei Israelis und Arabern verursacht hat, nicht ähnlich überwunden werden? Achtung und Zusammenarbeit statt Haß und Krieg!
In Europa schaffen wir heute historische Gesten des Friedens und der Versöhnung. Warum schließen wir dies für die Lösung der Probleme im Nahen Osten aus? Die Woche der Brüderlichkeit habe ich nie selektiv verstanden. Sie betrifft auch die Brüderlichkeit mit den arabischen Semiten. Wer jemanden ausschließt, trägt letztlich nicht zum Frieden bei.
Wenn wir uns in der Europäischen Gemeinschaft nicht so intensiv mit den formellen Fragen beschäftigt hätten, wäre vielleicht das politische Beispiel deutlich geworden, das wir mit der Organisation dieser Friedensordnung aller Welt gegeben haben. Wir haben gezeigt, daß man Frieden nicht herbeireden oder nur einen Friedensvertrag unterschreiben muß, sondern daß dieser Frieden die Organisation von Zusammenarbeit ist. Daher ist die Gemeinschaft wie kein anderer Gesprächspartner befähigt, Empfehlungen zu erläutern, die nicht einen Kirchhofsfrieden im Nahen Osten entstehen lassen, sondern die den Umgang miteinander konstruktiv mit Leben erfüllen.
Nahum Goldmann hat schon vor drei Jahrzehnten - ich komme zum Schluß -- solche Gedanken ausgesprochen. Er war seiner Zeit voraus. Der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft hat im Gespräch mit König Hussein von Jordanien erfahren können, welche Gedanken sich in diesem Dialog der Verantwortlichen für die Sache des Friedens erschließen lassen. Nur darum muß es uns in dieser Stunde des Ringens für den Frieden gehen.
Salam, Shalom!
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Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine „Aussprache über die Lage im Nahen Osten, insbesondere in den von Israel besetzten Gebieten", wie es in der Tagesordnung des Bundestages heute heißt, kann nicht eine Aussprache nur über die anderen sein. Sie ist in einem deutschen Parlament unvermeidlich auch eine Aussprache über uns selbst. Eine Aussprache über den Nahen Osten kann sich aber auch nicht auf die Politik Israels beschränken; denn in zweifacher Weise gilt, was der Theologe Helmut Gollwitzer so formuliert hat:
Wo jüdisches Unrecht größer gemalt wird und mit strengeren Maßstäben gemessen wird als Unrecht anderswo, da regt sich Antisemitismus in moralischer Tarnung.
Das größte Unrecht im Nahen Osten ist der Krieg. Deshalb spreche auch ich zunächst über das größte Unrecht im Nahen Osten, den Krieg zwischen dem Irak und dem Iran. In diesem Krieg sind nunmehr seit acht Jahren fast eine Million Menschen getötet, verwundet, vertrieben worden. Die Rüstungsindustrien der ganzen Welt profitieren davon, auch bei uns. Die
Menschen scheinen darüber in Vergessenheit geraten zu sein, auch bei uns.
Wo blieb die Entrüstung derer, die heute die Benutzung jugendlicher Steinewerfer für den gewalttätigen Protest der Palästinenser beklagen, als Tausende junger Iraner für die alljährliche Frühjahrsoffensive in das Maschinengewehrfeuer geschickt wurden? Wo war die Kritik, die heute am Tränengas der israelischen Armee Anstoß nimmt, als die irakische Luftwaffe mit Giftgasgranaten und -bomben die chemische Kriegsführung begann?
Herr Außenminister, hat die Bundesregierung wirklich alles getan, urn auszuschließen, daß Firmen aus der Bundesrepublik Deutschland bei der Produktion dieser Chemiewaffen dabei waren? Wir sind für diesen Krieg mitverantwortlich, solange die Waffen der iranischen Infanterie auf Maschinen produziert werden, für die die Bundesrepublik noch im letzten Jahr Ersatzteillieferungen genehmigt hat. Solange irakische Raketen in den Städten des Iran einschlagen und noch ein irakischer Offizier Raketentechnik an einer Bundeswehrhochschule studiert, sind wir beteiligt, Herr Vorsitzender.
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Die SPD hat den Beitrag von Außenminister Genscher zu dem Beschluß 598 des UN-Sicherheitsrats mit der ultimativen Forderung, die Feindseligkeiten einzustellen, begrüßt. Aber seit August 1987 streiten die Diplomaten darüber, ob dieser Beschluß nur als Ganzes oder schrittweise umgesetzt werden kann. Inzwischen wird weiter geschossen und gestorben.
Wenn der Iran nicht wiederum mit Herrn Genscher taktiert, sondern wirklich bereit ist, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, sobald eine internationale Kommission durch die UNO eingesetzt wird, um die Kriegsschuldfrage zu klären - also nicht erst, wenn sie die Kriegsschuld des Irak festgestellt hat - , dann sollte diese Chance genutzt werden. Andernfalls werden gezielte und abgestufte Sanktionen gegen den Iran und möglicherweise auch gegen den Irak notwendig. Es geht jetzt auch um die Funktionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit der UNO, die für die Zukunft unserer Welt so wichtig ist.
Es gibt an der UNO berechtigte und viel unberechtigte Kritik. Wer sich aber von Vorurteilen freimachen kann, wird gerade im Nahen Osten sehen, daß es ohne die Vereinten Nationen mehr Krieg und Elend und weniger Hoffnung gäbe.
Im Libanon leisten die Hilfsorganisationen der UNO und das Internationale Rote Kreuz eine großartige Arbeit, die wir weiter - auch finanziell - unterstützen müssen. Dort herrscht nun seit 13 Jahren ein Bürgerkrieg religiöser, ethnischer und sozialer Gegensätze, aber auch ein Stellvertreterkrieg fremder Einmischung von Palästinensern, Syrern, Israelis, Iranern und Amerikanern, von dem man sich in Deutschland erst betroffen fühlte, als auch Deutsche zu Opfern von Geiselnahmen wurden. „Im Libanon ist ein ganzes Volk zur Geisel genommen" sagte der libanesische Staatspräsident, als er besorgt nach dem Schicksal der Deutschen befragt wurde. Man vergißt allzu leicht über dem Leid eines Deutschen, dessen Heimkehr wir fordern, 3 Millionen Libanesen.
Die Innenminister in der Bundesrepublik Deutschland - und wir - müssen verantworten, wie mit Asylbewerbern aus dem Libanon umgegangen wird. Wer Frauen und Kinder in den Libanon zurückschickt, kann sie zu Geiseln machen. Wer Männer zurückschickt, macht sie womöglich zu Geiselnehmern.
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Die Soldaten der UN-Friedenstruppen, die Blauhelme, sind in diesem archaischen Krieg die wahren Helden. Sie versuchen, Frieden zu schaffen, ohne Waffen einzusetzen, und mehr als 100 von ihnen haben dabei ihr Leben geopfert. Der kommandierende General aus Irland, sein Adjutant von den Fidschinseln und sein spanischer Zivilberater, wie ich sie 1983 in Beirut erlebt habe, symbolisieren für mich die gemeinsame Verantwortung der Menschheit für ihr Überleben, die Hoffnung auf eine mit Machtmitteln ausgestattete internationale Rechtsordnung, die eines Tages die nationalen Heere und die Milizen ablösen und den Krieg und Bürgerkrieg der Zukunft verhindern wird.
Aber das ist schöne Utopie. Häßliche Realität ist die Eskalation der Gefühle und Gewaltmanifestationen zwischen Palästinensern und Israelis: Straßenbarrikaden und prügelnde Soldaten, Steinwürfe und tödliche Schüsse - auch auf Frauen und Kinder -, Terror und Gegenterror.
Sind wir Deutsche zu solchen wechselseitigen Beschreibungen berechtigt? Müssen oder dürfen wir für die israelische oder für die palästinensische Seite Partei ergreifen? Ist eine Nahostpolitik der Bundesregierung überhaupt zu legitimieren?
Es gibt bei uns die Tendenz, diese Frage zu umgehen, indem die Formulierung von Nahostpolitik in die Gremien der Europäischen Gemeinschaft verlagert wird. Ich bin aber überzeugt, daß wir uns von der Last der Geschichte nicht befreien können.
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Wir können sogar für die Politik frei werden, indem wir uns zu dieser Last bekennen.
Ich sage das als deutscher Sozialdemokrat. Carlo Schmid ist 1945 Mitglied der SPD geworden, weil die SPD als einzige Partei nach Naziherrschaft und Krieg ihren Namen nicht ändern mußte - so sagte er. Die Reichstagsfraktion der SPD hat keine Stimme für Hitler gegeben. Meine Partei hat keine Nürnberger Gesetze und keinen Globke wiedergutzumachen. Die Frauen und Männer, die die SPD für meine Generation erhalten haben, sind selbst durch die Hölle der KZs, den Schmerz der Emigration und die Gefahr des Widerstands gegangen. Viele haben mit und für ihre jüdischen Brüder und Schwestern gelitten.
Ich habe bei Kurt Schumacher gelesen und bei Willy Brandt gelernt, daß sie das nicht für die SPD gemacht haben, sondern für ihre Mitmenschen und für ihr Volk. Sollte es also eine Kollektivschuld des deutschen Volkes je gegeben haben und gar weiter geben, so wäre es nicht möglich, sich als Sozialdemokrat von seinem Teil durch das moralische Guthaben der eigenen Partei zu befreien.
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Ich gehöre zwar zu der Generation, in der es aus Altersgründen eine individuelle Schuld an den Verbrechen gegen die Juden nicht mehr geben kann. Aber ich kann doch die Haftung für die Taten der Generation meiner Eltern nicht von mir weisen und die Scham für die historischen Untaten meines Volkes nicht abstreifen.
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Ja, ich bin überzeugt, daß wir nur insoweit Deutsche sein können, wie wir uns zu dieser Bindung bekennen.
Es gibt nicht die Gnade der späten Geburt, und eine Arroganz der Spätgeborenen darf es nicht geben.
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Sich so nach Gelegenheit zu drücken ist eine deutsche Untugend, wie es auch eine deutsche Untugend ist, in der Politik extrem zu vereinfachen: Die einen Deutschen wollen am erfolgreichen Israel bewältigen, was Deutsche den Juden angetan haben, indem sie die Politik Israels vorbehaltlos unterstützen. Die anderen identifizieren sich mit der PLO, weil sie eine Wiedergutmachung für die Leiden der Palästinenser wollen, die sie als „Opfer der Opfer" bezeichnen. In dieser Formulierung liegt eine unerträgliche Gleichsetzung von Nazi-Deutschland mit Israel, also von Tätern und Opfern.
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Der Staat Israel war für die Juden nicht nur die Erfüllung einer religiösen und politischen Sehnsucht des letzten Jahrhunderts. Er war auch die notwendige Form des Überlebens nach den Jahren der Verfolgung, des Holocaust. Durch diese Staatsgründung wurden die Palästinenser Opfer weiter wirkender Untaten, die die Deutschen an den Juden begangen hatten. Die Kausalkette, die die Nazis in Gang gesetzt hatten, reicht eben von Polen bis Palästina, von 1933 bis 1988 und weiter.
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Historische Kausalität nimmt uns aber nicht die politische Entscheidungsfreiheit. Selbst die einfachen Positionen der einen wie der anderen Deutschen werden nämlich in dem Maße problematisch, wie die Politik Israels im eigenen Land und die der PLO in den eigenen Reihen umstritten sind.
Weil er sich gegen die offizielle Politik für den friedlichen Ausgleich entschieden hatte, wurde unser Freund, der PLO-Funktionär Issam Sartawi, auf der Konferenz der Sozialistischen Internationale 1983 ermordet. Wir müssen heute an ihn denken.
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Weil sie der Gewalt der Waffen und der harten Linie ihrer Regierung nicht mehr trauen, haben junge Israelis den militärischen Dienst im Libanon verweigert
und jetzt in Massen für die Menschenrechte der Palästinenser in den besetzten Gebieten demonstriert.
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Nein, wir alle können der Entscheidung für eine selbstverantwortete Politik nicht entgehen. Ich bin überzeugt, daß Geschichte einen Sinn haben könnte, hielte sie Vergebung für die Deutschen bereit, so weit, wie sie zu einem sicheren Überleben und zu einem friedlichen Nebeneinander von Israelis und Palästinensern beitragen könnten. Es liegt an uns, der Geschichte diesen Sinn zu geben, auch indem wir es versuchen.
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Eine deutsche Nahostpolitik ist nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung eine Politik, die weder anti-israelisch pocht antipalästinensisch ist. Wir sind pro-israelisch und pro-palästinensisch.
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Wir sollten deshalb weniger verurteilen und mehr helfen.
Unsere Aufgabe ist es nicht, den vielen Nahostplänen weitere hinzuzufügen. Vielleicht können wir dazu beitragen, daß Selbstvertrauen und Vertrauen wachsen, daß endlich mit einem begonnen wird. Israel muß wissen, daß wir seinem Recht auf staatliche Existenz und sichere Grenzen fest verbunden sind. Aber durch brennende Autoreifen, durch Streiks und selbst durch Steinwürfe palästinensischer Jugendlicher wird die Sicherheit Israels nicht gefährdet. Eine Armee, die gegen solchen Widerstand eingesetzt wird, kann nicht militärisch siegen, sie kann politisch verlieren. Es helfen deshalb nur politische Lösungen. Auch das rechte Spektrum der israelischen Politik muß dabei erkennen, daß eine schleichende Annexion der besetzten Gebiete, die den Palästinensern nur Bürgerrechte zweiter Klasse gewährt, nicht gelingen kann. Israel wird kein Apartheidstaat werden.
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Der militärische Flügel der PLO muß erkennen, daß der unbewaffnete Aufstand im Gaza-Streifen und im Westjordanland in der Weltöffentlichkeit und in der Staatengesellschaft für die Sache der Palästinenser mehr bewirkt hat als die Kommando- und Terroraktionen der letzten Jahre.
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Immer mehr Israelis werden erfahren, daß die Palästinenser ein Volk sind mit dem Recht auf Selbstbestimmung. „Wir sind ein Volk, der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war" , hat Theodor Herzl, der Begründer der zionistischen Bewegung, vor über hundert Jahren über die Juden geschrieben. „In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft." Erkennen die Israelis in diesem Zitat heute nicht auch das Werden einer palästinensischen Nation?
Ob die Palästinenser ihre organisatorische Identität in einem souveränen Staat, in einer Konföderation mit Jordanien oder in anderer Weise finden, wird erst am Ende eines Friedensprozesses und nicht an seinem Anfang beantwortet werden können. Diese Antwort wird nicht ohne die PLO gegeben werden, die die überwiegende Mehrheit der Palästinenser als ihre Sprecherin anerkennt.
Wer jetzt aber aus der Bundesrepublik Maximalforderungen nach einem souveränen Palästinenserstaat in die eine Richtung oder begrenzte Autonomie in die andere Richtung aufstellt, der muß wissen, daß er sich nicht nur klüger gibt als die Betroffenen selbst, sondern auch dazu beitragen kann, daß der Verhandlungsprozeß überhaut nicht beginnt.
Das palästinensische Volk ist auf der Suche nach seinem Staat, und es wird ihn mit Gewalt finden, wenn ihm nicht durch Verhandlungen geholfen wird. Auch dabei wird die UNO wieder eine wichtige Rolle spielen. Es wäre gut, wenn die Generalversammlung die Resolution revidieren würde, in der der Zionismus mit dem Rassismus gleichgesetzt wird,
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und es wäre gut, wenn das israelische Parlament jenes Gesetz aufheben würde, das israelischen Bürgerinnen und Bürgern verbietet, mit Mitgliedern der PLO zu sprechen.
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Herr Präsident! In diesen Tagen wird der Staat Israel 40 Jahre alt. Wir wünschen ihm zum Jahrestag alles Gute. Wir wünschen dem Staat Israel das Beste: eine friedliche Zukunft und glückliche Entwicklung mit den Staaten, die seine Nachbarn sind und seine Nachbarn sein werden.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir alle waren von den letzten Worten, die Sie gesprochen haben, Herr Kollege Gansel, sehr bewegt. Ich möchte Ihnen ausdrücklich dafür danken und auch daran anknüpfen.
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Meine Damen und Herren, die heutige Debatte steht im Schatten - das haben die Vorredner auch zum Ausdruck gebracht fortgesetzter und eskalierender Unruhen in den von Israel besetzten Gebieten der West Bank und des Gazastreifens. Sie steht unter dem Eindruck von Gewalttätigkeiten und Übergriffen auf israelischer Seite sowie von neuerlichen Terrorüberfällen auf seiten der Palästinenser. Auf diese Eskalation von Gewalt und Gegengewalt reagiert auch die deutsche Öffentlichkeit teilweise mit berechtigtem Entsetzen und Empörung. Beides darf nach unserer Überzeugung auch in dieser Debatte nicht ausgeklammert werden. Dennoch kann diese Debatte nur dann wirklich weiterführen, wenn auch heute unmißverständlich deutlich wird, daß die Bundesregierung
und der Deutsche Bundestag das Recht Israels auf Existenz in gesicherten Grenzen bekräftigen - wie die Vorredner das auch getan haben - wie Sie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser anerkennen, sowie wir das übrigens schon seit Jahren in allen Regierungen vertreten haben.
Meine Damen und Herren, wenn es auch derzeit den Anschein haben mag, daß beide Prinzipien zu einem schier unvereinbaren Gegensatz auseinanderdriften, so müssen wir dennoch alles in unseren Kräften stehende versuchen, um dazu beizutragen, daß sich die gemäßigten Kräfte in beiden Lagern im Sinne einer künftigen Vereinbarkeit aufeinander zubewegen. Sie haben das auch vorhin ausgeführt, Herr Kollege Gansel. Nur wenn es gelingt, beiden Prinzipien zur Anerkennung zu verhelfen, dann wird der Friedensprozeß im Nahen Osten in Gang kommen und mit viel Geduld schließlich auch erfolgreich sein können. Darum ist die Bundesregierung seit Jahren bemüht. Diese Bemühungen werden von meiner Fraktion im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft, derzeit unter deutscher Präsidentschaft, nachdrücklich unterstützt.
Wir danken in diesem Zusammenhang Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der sich in diesem Geiste unverdrossen um eine Deeskalation bemüht.
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Meine Damen und Herren, ich denke, daß wir mit dieser Unterstützung unserer besonderen Verantwortung, von der unsere Beziehungen zum Staate Israel geprägt sind, am besten gerecht werden können. Deshalb brauchen wir gegenüber unvertretbaren Gewalttätigkeiten und Übergriffen, die von einzelnen israelischen Soldaten ausgeübt wurden und die dafür bestraft werden sollen, nicht blind und stumm zu sein. Wir dürfen aber auch nicht blind und stumm sein gegenüber dem keineswegs gewaltfreien Vorgehen überwiegend jugendlicher Palästinenser, die ihrerseits die hierauf nicht vorbereiteten israelischen Soldaten provozieren. Man kann das Abend für Abend im Fernsehen sehr genau beobachten. Es wird oft auch sehr einseitig dargestellt, daß es allein die israelischen Soldaten seien, die sich Übergriffe zu schulden kommen lassen. An diese besondere Verantwortung gilt es auch mit Blick auf die 40. Wiederkehr der Gründung des Staates Israel zu erinnern - wie das Herr Kollege Gansel schon getan hat - sowie an die Tatsache, daß im gleichen Zeitraum vor 40 Jahren die Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf den Trümmern des nationalsozialistischen Unrechtsstaates, der den einmaligen Völkermord an über 6 Millionen Juden verschuldet hatte, ihren Anfang nahm.
An der Wiege des Staates Israel standen die Todesängste der Überlebenden des Holocaust. In Yad Vashem sind sie zu Stein geworden, jeden Besucher, vor allem jeden deutschen Besucher, von neuem erschütternd und mahnend. Diese Ängste, neuerlich vertrieben und vernichtet zu werden, fanden in dem niemals aufgegebenen Haß und dem Vernichtungswillen auf arabischer Seite immer neue Nahrung während dieser 40 Jahre. Diese Todesängste haben die Politik dieses Staates und das Bewußtsein der Israelis geprägt. Sie
bestimmen ihren Überlebenswillen und ihr Überlebenwollen, meine Damen und Herren. Wer als Deutscher diese Ängste, neuerlich vertrieben und vernichtet zu werden, nicht begreift, nicht begreifen will, nicht immer von neuem zu begreifen versucht, dem wird es nicht gelingen, das Vertrauen des jüdischen Volkes zu gewinnen und damit zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden beizutragen.
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Es ist Herbert Riehl-Heyse zuzustimmen, wenn er kürzlich in der SZ schreibt:
Die Wahrheit ist, daß ein Volk, aus dessen Mitte sechs Millionen Menschen abgeschlachtet worden sind, nicht ohne Grund eine traumatische Angst vor wirklichen und eingebildeten Feinden entwickelt hat. Erst von von diesem Punkt aus . . . kann die Auseinandersetzung beginnen.
Es ist auch dein Stuttgarter Oberbürgermeister Manfred Rommel zuzustimmen, wenn er sagt, daß er persönlich die Meinung nicht teile, daß die Deutschen angesichts ihrer Vergangenheit berufen seien, zu moralischen und grundsätzlichen Fragen in der ganzen Welt Aussagen zu machen. Ich finde das mutig und richtig.
Wer diese Todesängste ignoriert oder auch bagatellisiert, der muß auch heute hier in dieser Debatte an die ungezählten Äußerungen des unvermindert tödlichen Hasses seitens der Araber und Palästinenser erinnert werden, wie sie in ungezählten Bekundungen und ja auch in wiederholten Angriffskriegen zum Ausdruck kamen. Ich zitiere aus Flugblättern, die am 8. und 9. Januar dieses Jahres in den von Israel besetzten Gebieten verteilt wurden:
Das sind die Juden, die Brüder der Affen, die Profitmörder, die Blutsauger und Kriegshetzer. Laßt das Blut unserer Toten nicht umsonst vergossen worden sein, sondern verwandelt jeden Blutstropfen in eine Feuerbombe und in einen Sprengsatz. der die Juden in Fetzen reißen wird!
Das ist der Ton, meine Damen und Herren, den wir verurteilen müssen und dem wir eine Absage erteilen müssen, auch in dieser Stunde.
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Meine Damen und Herren, angesichts dieser tödlichen Bedrohung - niemand kann sie wegleugnen - sei festgestellt: Wenn man sich über die Gewalttätigkeiten einzelner israelischer Soldaten in der Tonlage empört, wie es derzeit ziemlich einseitig und einäugig von der „Nationalzeitung" bis hin zu antiisraelischen linken Verfechtern im Brustton der Selbstgerechtigkeit geschieht, dann werden wir unserer fortwährenden Verantwortung gegenüber dem Staat Israel und seinen Bürgern ganz sicher nicht gerecht werden können.
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Wie wir aus unserer eigenen leidvollen Geschichte wissen, erzeugt Haß immer neuen Haß, Gewalt immer neue Gewalt, Unrecht immer neues Unrecht, und das
in einem scheinbar unausrottbaren Teufelskreis. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, muß das erste und wichtigste Ziel einer deutschen und europäischen Nahostpolitik sein, und das in engster Kooperation und Abstimmung mit den amerikanischen Bemühungen. Es kommt darauf an, die Gemäßigten, die zu Verhandlungen bereiten Politiker auf beiden Seiten zu unterstützen. Das ist das Gebot der Stunde. Wir müssen mit vereinten westlichen Kräften den europäisch-arabischen Dialog fördern und darauf hinwirken, daß die arabische Seite endlich von ihrem dreifachen Nein gegen das Existenzrecht Israels Abstand nimmt. Dieses dreifache Nein wurde zuerst auf der Konferenz von Khartum 1967 ausgesprochen. Es lautet:
Kein Friede mit Israel.
Keine Verhandlung mit Israel. Keine Anerkennung Israels.
Dann müssen wir die Israelis zumindest davon zu überzeugen versuchen, daß ohne Beteiligung der Palästinenser ein Friedensprozeß im Nahen Osten nicht in Gang kommen kann. Dieser Prozeß muß auf den Resolutionen des VN-Sicherheitsrats 242 und 338 nach dem Grundsatz „Land gegen Frieden" entwikkelt werden.
Wir bitten die Bundesregierung, die amerikanischen Bemühungen um umgehende Einleitung des Friedensprozesses zu unterstützen. Wir meinen, der Shultz-Plan enthält doch neue, konkrete Elemente, die von gemäßigten arabischen Staaten sehr vorsichtig, von Ägypten bereits voll unterstützt werden. Das gleiche gilt für eine große Zahl der gemäßigten israelischen Politiker - ich erinnere nur an die Aussagen von Außenminister Peres und Verteidigungsminister Rabin - , und vor allem gilt es für eine zunehmende Zahl israelischer Burger. Es ist zu hoffen - und wir möchten das hier ausdrücklich aussprechen - , daß Ministerpräsident Schamir seinen Widerstand aufgibt und - wie seinerzeit sein Vorgänger Menachem Begin - diese vielleicht letzte Chance, den Friedensprozeß einzuleiten, begreift und darauf eingeht.
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Natürlich, meine Damen und Herren - und das kann man ja täglich lesen und hören - , ist der Ausgang der bevorstehenden Wahlen die große Unbekannte für die innenpolitische Entwicklung in Israel. Es ist nur zu hoffen, daß es bis dahin nicht zu spät ist, den Prozeß umzukehren.
Sehr wichtig erscheint der FDP, daß sich die Europäische Gemeinschaft durch konkrete Hilfsprogramme weiter bemüht, die Lage der Palästinenser in den besetzten Gebieten zu verbessern. Ich möchte gleich hinzufügen: Die Lebensbedingungen der Palästinenser sind ja nicht nur in den besetzten Gebieten zu beklagen; auch in den sogenannten Flüchtlingslagern in den benachbarten arabischen Staaten leiden sie, wie man sich überzeugen kann, nicht ohne Schuld der Gastländer unter beklagenswerter Not und Armut. Von brüderlicher arabischer Hilfe und Unterstüt4674
zung ist bei diesem Anblick weiß Gott wenig zu spüren.
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Gewiß, meine Damen und Herren, diese Debatte ist, wie sich zeigt, nicht leicht zu führen. Aber sie ist notwendig, und sie kann auch hilfreich sein, wenn sie der deutschen und internationalen Öffentlichkeit unmißverständlich signalisiert, was Bundespräsident Richard von Weizsäcker anläßlich des Staatsbesuchs des israelischen Präsidenten Chaim Herzog wie folgt formuliert hat:
Wir Deutschen fordern und unterstützen das Existenzrecht Israels
- sagte der Bundespräsident in anerkannten und sicheren Grenzen. Dafür ist eine Friedensordnung notwendig, die das Selbstbestimmungsrecht aller Betroffenen achtet. Wir treten stets dafür ein, daß die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts für die Palästinenser wie für alle Völker, auch für das deutsche, nicht zu Lasten anderer Völker gehen, nicht Rechte anderer ungebührlich beeinträchtigen darf. Ein dauerhafter, gerechter und umfassender Friede wird im Nahen Osten nur von allen Beteiligten, und zwar selbst, geschaffen werden können.
Dieser klaren Aussage, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, habe ich seitens der Fraktion der FDP nur noch ein „Schalom" hinzuzufügen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Gansel, Sie haben heute eine sehr eindrucksvolle Rede gehalten. Was Sie zum Golf-Krieg, zum Libanon, zum israelisch-palästinensischen Konflikt gesagt haben - in allem kann ich Ihnen vorbehaltlos zustimmen.
Ich werde mich heute sehr bewußt auf den palästinensisch-israelischen Konflikt konzentrieren und beginnen mit dem Satz eines jüdischen Freundes:
Das Scheitern einer Bewältigung dort, wo der Monströsität des Verbrechens halber Bewältigung sich als vergeblich offenbart, angestrengte Mühe, die sich bestenfalls als aussichtsloser Entsorgungsversuch von Schuld erweist, all das gebiert eine Kultur, die von einem durch Auschwitz hervorgerufenen Schuldgefühl geprägt ist, das ständig nach Entlastung sucht.
So beschreibt Dan Diner die Strategie des Vergessens in Deutschland.
Zweifel sind berechtigt, ob die heutige Bundestagsdebatte die Entlastungssuche nicht mindestens unfreiwillig fördert. Auch wir GRÜNEN, die diese Debatte verlangt haben, müssen uns diesem Zweifel stellen.
In den Schluchten der deutschen Geschichte sind falsche und gierige Gleichungen unterwegs, die die drakonischen israelischen Militäraktionen in den besetzten Gebieten mit dem industriellen Massenmord während der Nazizeit auf eine Stufe stellen wollen. Von den Opfern der Opfer ist in zwielichtiger Weise die Rede.
Ich habe mit eigenen Ohren unlängst die Äußerungen eines Deutschen gehört, der seinen Abscheu vor den Brutalitäten der Israelis gegenüber den Palästinensern zum Ausdruck brachte. Im gleichen Atemzug entrüstete er sich darüber, daß die Juden den Deutschen immer noch die alten Geschichten vorhalten. Seine auftrumpfende Logik war: Wir sind quitt!
Das Blut läßt sich aber nicht abwaschen.
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Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Niemand wird sich der Bewegung dieser Aussprache entziehen können. Ich wünsche mir die Erinnerung, die Sie, Herr Kollege Gansel, mit dem Wort Helmut Gollwitzers gegeben haben, in das Ohr all derjenigen, die sich jetzt und künftig an der Debatte über die Lage im Nahen Osten beteiligen.
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Der Blick in den Nahen Osten kann nicht dem Blick auf den irakisch-iranischen Krieg ausweichen. Das ist hier zu Recht gesagt worden. Es ist ein schrecklicher Krieg. Es ist auch zu Recht gesagt worden: Er könnte nicht - nicht so lange, nicht so schrecklich - geführt werden, wenn er nicht Zulieferung von außen erhielte.
Um so wichtiger ist es, daß wir den Weg weitergehen, den wir im Juli beschritten haben mit der Entschließung 598 des Sicherheitsrates, eine Entschließung, die nur zustande kommen konnte, weil West und Ost, Nord und Süd im Sicherheitsrat sich auf einen Friedensweg verständigt haben. Wenn es jetzt darum geht, mit aller Kraft die Anwendung dieser Entschließung durchzusetzen, muß es bei dieser Einheit zwischen West und Ost, Nord und Süd bleiben; sonst wird die Sicherheitsratsentschließung in ihrer Wirkung verpuffen.
Aber vielleicht ist diese Entscheidung des Sicherheitsrats ein Anfang gewesen für ein neues Umgehen von West und Ost bei der Lösung der Konflikte der Dritten Welt, ein Anfang, der von der Erkenntnis getragen ist, daß, aus welchem Konflikt immer, aus welchem Krieg immer, weder West noch Ost wahrhaft einen Vorteil ziehen könnten, auch ein Anfang gesteigerter Friedensverantwortung des Nordens für das, was in anderen Teilen unserer Welt vor sich geht.
Im Mittelpunkt dieser Debatte stehen die schweren Unruhen, die am 8. Dezember 1987 in den von Israel besetzten Gebieten ausgebrochen sind. Sie dauern mit unverminderter Heftigkeit heute, drei Monate danach, noch immer an. Diese Unruhen sind offensichtlich spontan und ohne Einwirkung von außen entstanBundesminister Genscher
den. Sie sind eine Bürgererhebung. Das macht sie um so gewichtiger, und das macht ihre Auswirkungen um so schwerwiegender.
Diese Erhebung hat nichts zu tun und nichts gemein mit den von außen gesteuerten Kommando-, Terroraktionen, die sich gegen Israelis richten. Diese Erhebung ist das Aufbegehren einer Bevölkerung, deren Jugend vor allem alle Hoffnung zu verlieren droht. Repressionen und Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten erhöhen die Spannungen weiter.
Diese Entwicklung in den besetzten Gebieten zeigt, daß der Nah-Ost-Konflikt in eine neue, noch brisantere Phase eingetreten ist. Für die Bundesrepublik Deutschland und für die Staaten der Europäischen Gemeinschaft liegt der Nahe Osten auch geographisch nicht fernab. Er ist in Wahrheit für uns eine Nachbarregion, deren Frieden und deren Stabilität von unmittelbarer Bedeutung für die Lage in Europa sind. Die Sicherheit des Nahen Ostens ist in Wahrheit auch unsere eigene Sicherheit.
Wir Deutschen sind durch über eine lange Zeit gewachsene Freundschaft mit der arabischen Welt verbunden. Wir Deutschen sind uns jederzeit der geschichtlichen und der moralischen Dimension unseres Verhältnisses zum jüdischen Volk bewußt und noch mehr unserer sich daraus ergebenden Verantwortung.
Dieser Verantwortung für das jüdische Volk und für den Staat Israel werden wir uns niemals entziehen, wir könnten uns dieser Verantwortung auch gar nicht entziehen. Der Bundespräsident hat das in seiner Rede am 8. Mai 1985 eindrucksvoll dargestellt. Diese innere Haltung muß unsere Haltung zum Staate Israel stets bestimmen. Das Mahnmal des Denkens und Fühlens in unserem eigenen Innern, von dem der Bundespräsident sprach, veranlaßt uns, bei allen Lösungsbemühungen für das Recht Israels auf Existenz in anerkannten und sicheren Grenzen einzutreten.
Wir wissen, daß es Frieden im Nahen Osten - und das heißt auch Frieden für Israel - nur geben wird, wenn das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes verwirklicht werden kann.
In Israel gibt es tiefe Betroffenheit und große Sorge über die Entwicklung in den besetzten Gebieten. Die dort angewandten Methoden, vor allem die schweren Übergriffe, stellen für viele Israelis die Frage nach dem Selbstverständnis der israelischen Demokratie. Bei meinem Besuch im Januar in Israel konnte ich feststellen, daß die Entwicklung in den besetzten Gebieten zu einer tiefgreifenden Diskussion in der israelischen Regierung, im Parlament und in der Öffentlichkeit geführt hat. Der erste Botschafter Israels in der Bundesrepublik Deutschland, Asher Ben Natan, hat zur Eröffnung der Woche der Brüderlichkeit von der Spaltung der öffentlichen Meinung Israels gesprochen. Ich glaube aber, diese Diskussionen können helfen, den Weg zum Frieden zu finden.
Wir jedenfalls müssen unsere Aufgabe darin sehen, die Kräfte zu stärken, die sich jetzt entschlossen um die Sache des Friedens bemühen.
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Meine Damen und Herren, nur wer die Geschichte der Gründung des Staates Israel nicht vergißt, nur wer daran denkt, daß diese Gründung des Staates Israel der Überlebenskampf der Überlebenden des Holocaust war, der wird das in sichereren Teilen der Welt manchmal schwer verständliche Sicherheitsbedürfnis Israels richtig einschätzen können. Dennoch wächst in Israel die Erkenntnis, daß der Status quo überwunden werden muß. Der Status quo in den besetzten Gebieten ist unhaltbar geworden.
Ein Gespräch mit palästinensischen Persönlichkeiten aus den besetzten Gebieten bestätigte den Eindruck, daß die Perspektivlosigkeit im Leben der palästinensischen Bevölkerung in politischer, in wirtschaftlicher und in sozialer Hinsicht die schwerwiegendste Ursache für die seit Anfang Dezember anhaltenden Unruhen ist. Enttäuschung darüber, daß es keine Fortschritte bei den Lösungsversuchen gibt, hat gerade bei der Jugend zu Verbitterung und Verzweiflung geführt.
Dazu kommt die in der gesamten arabischen Welt feststellbare verstärkte Rückbesinnung auf die Werte des Islam. Es ist charakteristisch, daß diese Stimmung vor allem im überfüllten Flüchtlingslager von Gaza um sich griff.
Die Bundesregierung hat sich zusammen mit den europäischen Partnern gegen Übergriffe gewandt. Wir haben uns auch an den Beschlüssen des Sicherheitsrates beteiligt, die sich gegen Ausweisungen von Palästinensern richten.
Unseren Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft nutzen wir für eine aktive Rolle bei der friedlichen Lösung des arabisch-israelischen Konflikts und für eine Verbesserung der Lage in den besetzten Gebieten. Wir haben das am 8. Februar 1988 hier in Bonn getan, wo wir auch erneut eine internationale Konferenz unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen unterstützt haben. Wir betrachten eine solche Konferenz weiter als den geeigneten Rahmen, um den Friedensprozeß in Gang zu bringen.
Wir können heute mit Befriedigung feststellen, daß dieser Gedanke in jüngster Zeit auch Eingang in die Vorschläge gefunden hat, die die Vereinigten Staaten zur Zeit den am Nahostkonflikt beteiligten Parteien unterbreiten. Wir begrüßen das amerikanische Engagement für eine Friedenslösung im Nahen Osten, wir werden diese Bemühungen mit unseren Möglichkeiten unterstützen.
({2})
Meine Damen und Herren, die deutsche Nahostpolitik steht auf der Grundlage der gemeinsamen europäischen Positionen. Ihre wichtigsten Elemente sind das Existenzrecht Israels in sicheren und anerkannten Grenzen, das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und der Gewaltverzicht.
Wir nutzen den euroarabischen Dialog, um um Verständnis für friedliche Lösungen auch dort zu werben. Das Selbstbestimmungsrecht des palästinensichen Volkes haben wir in den Vereinten Nationen als erstes europäisches Land seit 1974 beständig unterstützt. Der Europäische Rat hat 1980 in der Erklärung von Venedig das Selbstbestimmungsrecht des palästiBundesminister Genscher
nensischen Volkes gleichberechtigt neben das Existenz- und Sicherheitsrecht Israels wie auch das aller anderen Staaten der Region gestellt und von den Konfliktparteien den Verzicht auf Gewaltanwendung gefordert. Unser Appell für die internationale Konferenz wird hoffentlich bald zu Ergebnissen führen.
Die Einladung der zwölf Außenminister an den jordanischen König in seiner Eigenschaft als Präsident der arabischen Gipfelkonferenz von Amman sollte eine Unterstützung für Bemühungen um friedliche Lösungen des Nahostkonflikts darstellen. In der Tat, diese Gipfelkonferenz von Amman hat die Möglichkeiten für eine friedliche Lösung verbessert.
Neben den Bemühungen um eine politische Lösung sehen wir auch die Notwendigkeit, der Bevölkerung der besetzten Gebiete Hilfe zu leisten. Am 9. März hat das Europäische Parlament erneut seine Zustimmung zu den Protokollen mit Israel verweigert. Es hat zur Begründung auf die andauernden schweren Unruhen in den besetzten Gebieten hingewiesen. Ich hatte mich als Vorsitzender des Ministerrates im Europäischen Parlament für eine Freigabe dieser Mittel eingesetzt.
({3})
Ich möchte diesen Appell zur Freigabe auch heute von hier aus wiederholen.
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Meine Damen und Herren, eine Zustimmung zu diesen Protokollen darf aber nicht dazu führen, daß die berechtigten Interessen der Europäischen Gemeinschaft an wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit der Bevölkerung in den besetzten Gebieten behindert werden. Die Behinderung der Direktexporte landwirtschaftlicher Produkte aus den besetzten Gebieten durch die israelischen Behörden trifft auf die Ablehnung des Europäischen Parlaments und der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Der politische Zwang, dem die Bevölkerung dort täglich ausgesetzt ist, darf nicht auch noch durch wirtschaftlichen Zwang verstärkt werden.
Wir gewähren humanitäre Hilfe, und wir unterstützen die VN-Organisationen dabei, die Flüchtlinge im Nahen Osten zu versorgen. Wir versuchen mit den Instrumenten unserer Entwicklungspolitik, den Palästinensern verbesserte Lebensmöglichkeiten zu verschaffen. Wir werden unsere Kontakte fortsetzen, um zur Friedenslösung beizutragen. Ich werde in Kürze mit dem algerischen Außenminister in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Ausschusses der Arabischen Liga für die besetzten Gebiete zusammentreffen. Ich hoffe, daß ein solches Zusammentreffen in Kürze auch mit dem israelischen Außenminister möglich sein wird.
Der Nahostbeauftragte der amerikanischen Regierung hat uns gestern über die amerikanischen Bemühungen im Nahen Osten unterrichtet. Wir alle wissen: Der Nahostkonflikt befindet sich in einer wirklich kritischen Phase, aber vielleicht auch in einer Phase, die zum erstenmal eine wirkliche Friedenslösung ermöglicht. Die spontane Erhebung der palästinensischen
Bevölkerung zeigt, daß nicht mehr viel Zeit übrig ist. Dieser Verantwortung müssen wir uns alle stellen.
Meine Damen und Herren, wenn wir für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes eintreten, so ist es nicht unsere Sache, darüber zu entscheiden, wie dieses Selbstbestimmungsrecht ausgeübt wird; das ist Sache der Palästinenser selbst. Nur eines muß auch sicher sein: Das Existenzrecht Israels darf dadurch nicht beeinträchtigt werden. Das ergibt sich aus dem Grundsatz des friedlichen Zusammenlebens der Völker.
Europa kann bei der Suche nach Lösungen eine wichtige Rolle spielen. Wir wollen das auch. Ich denke, daß gerade die Bundesrepublik Deutschland -- und das muß den Sinn dieser Debatte ausmachen - hier ihre Verantwortung erkennen muß. Wir können uns der Hoffnung anschließen, die Asher Ben Natan in seiner Rede zur Woche der Brüderlichkeit ausgesprochen hat, nämlich daß das, was heute schon zwischen Deutschen und Juden möglich ist, eines Tages auch in Jerusalem eintreffen und gelingen möge, ein Tag der Versöhnung und ein Tag der Brüderlichkeit zwischen Juden und Arabern.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Renger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hat Europa in zwei Weltkriegen einen sich ins Unermeßliche steigernden Sturm der Gewalt erlebt. Wir waren Zeugen der Verbrechen und der Menschenverachtung des Hitler-Regimes. Als um so bedrückender empfinden wir das unübersehbare Ausmaß an Gewalt und Barbarei, das wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in weiten Teilen der Welt beobachten müssen.
Das Erschreckende ist nicht allein die ungeheure Zahl der Opfer von Krieg, Folter und anderen physischen und psychischen Verletzungen, sondern gleichermaßen die Erfahrung, daß der Circulus vitiosus der Gewalt nur in den seltensten Fällen durchbrochen werden konnte. Seit 1945 - so stellte Willy Brandt fest - hat es durch Kriege und Bürgerkriege mehr als 20 Millionen Tote, davon 95 % Zivilisten, gegeben. Ich erwähne dies, um die Proportionen dieser Gewalt hier einmal ins rechte Licht zu rücken.
Friedensbemühungen in diesen weltweiten Konflikten waren meist vergeblich, und auch die Vereinten Nationen mußten immer wieder ihre Ohnmacht erkennen und büßten zudem dadurch an Autorität ein, daß sie sich in ihren Verurteilungen von Gewalt oft einseitig von Machtinteressen und Mehrheitsinteressen leiten lassen mußten. Sie sind eben nicht stärker, als wir sie alle machen.
Das hat gerade Israel, besonders in der letzten Zeit, im Übermaß zu spüren bekommen. Seit der Staatsgründung Israels am 14. Mai 1948, also schon lange bevor es besetzte Gebiete gab, sieht sich Israel kriegerischen Angriffen bis hin zu Vernichtungsdrohungen der arabischen Welt ausgesetzt. Dennoch hat Ben Gurion den Arabern damals als gleichberechtigten
Nachbarn Frieden und Zusammenarbeit angeboten. Der seinerzeitige Generalsekretär der Arabischen Liga antwortete: Das wird ein Blutbad werden wie zur Zeit der Mongolen und der Kreuzzüge. - Bereits am 15. Mai 1948, also wenige Stunden nach der Proklamierung des Staates Israel, überschritten die Streitkräfte Ägyptens, Transjordaniens, des Iraks, Syriens und des Libanons die Grenzen. Mehrere Angriffskriege mußte Israel abwehren, und bis heute ist Israel auch dem Terror weiter ausgesetzt, wie auch der letzte Anschlag auf den zivilen Bus wieder bewiesen hat.
Meine Damen und Herren, wenn ich heute zutiefst die Toten im besetzten Gaza-Streifen und in anderen Teilen beklage, wenn ich die unverantwortlichen Übergriffe von israelischen Soldaten verurteile - übrigens wie die meisten Israelis selbst -, wobei ich nicht unerwähnt lassen möchte, daß die Verantwortlichen auch bestraft werden - so habe ich natürlich nicht vergessen, daß jahrelang jüdische Kibbuzim vom Golan beschossen wurden, oder ich erinnere auch an das Massaker 1972, als 11 Mitglieder der israelischen Olympiamannschaft brutal getötet wurden. Den organisierten palästinensischen und arabischen Terror hat ja auch vielfältig die westliche Welt erlebt.
Viele glauben, es sich heute leicht machen zu können, indem sie Israel für die Spannungen und Krisen im Nahen Osten verantwortlich machen, ja manche wollen Israel am liebsten vor ein Tribunal stellen. Das kann nicht hingenommen werden. Wer richten will, der muß erst einmal seine Legitimation nachweisen.
({0})
Ich bin sehr glücklich, daß in dieser Debatte hier ein anderer Ton herrscht, nämlich der Ton, allen Seiten gerecht zu werden.
({1})
Es darf nicht vergessen werden, wenn wir über Israel und die Situation in dieser Region sprechen, daß in diesem Staat Israel vor allem die Überlebenden des Naziterrors eine neue ersehnte Heimstatt gefunden haben, nachdem sie nicht mehr in den Ländern leben konnten, in denen sie und ihre Familien als Freiwild gejagt worden waren und das Grauen über die Ermordung von sechs Millionen jüdischer Menschen aus ganz Europa allgegenwärtig war. In dieses Land Israel waren viele Juden gekommen, die als verfolgte Minderheiten in anderen Teilen der Welt nun endlich frei und in Sicherheit leben wollten. Aber bis heute gibt es keine völkerrechtlich anerkannten und gesicherten Grenzen. Das muß man wissen.
Ich frage eigentlich mehr nach draußen, wo man auch an den Stammtischen redet: Kann es wirklich einen Menschen geben, der den Juden dieses Land wieder streitig machen will? Muß nicht jeder verstehen, daß das Sicherheitsbedürfnis, auch wenn es übersteigert sein sollte, Bestandteil des täglichen Lebens ist? Sollten nicht gerade wir Deutschen in der Art und Weise, wie wir sprechen, zurückhaltend sein,
({2}) auch mit guten Ratschlägen?
Ich erinnere an die Worte Kurt Schumachers, der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg sagte:
Die Hitler-Barbarei hat das deutsche Volk durch Ausrottung von sechs Millionen jüdischer Menschen entehrt. An den Folgen dieser Entehrung werden wir unabsehbare Zeiten zu tragen haben.
Ich glaube, heute hat es keiner besser als Norbert Gansel gesagt, wie man das tragen kann. Ich füge hinzu: Das ist nun einmal die Last unserer Geschichte, aber auch unsere Chance, diese Last durch eine unanfechtbare klare und gerade Haltung abzutragen.
Denen aber, die in Schmutzzeitungen einen neuen Antisemitismus direkt oder unterschwellig unter dem Deckmantel einer moralischen Entrüstung über - sicher empörende - Ausschreitungen einzelner in Gaza und anderswo propagieren, führen eine junge Generation erneut in die Irre. Dagegen müssen wir uns wenden.
({3})
Ich will keineswegs unerwähnt lassen, daß auch Israel völkerrechtswidrige Aktionen unternommen hat, die auf unseren heftigen Widerspruch gestoßen sind, aber auch in Israel scharfe Kritik gefunden haben. Wo gab es denn Demonstrationen gegen solche falschen Entscheidungen? Es war die erste wichtigste Handlung von Ministerpräsident Peres und Verteidigungsminister Rabin, der heute so in der Kritik steht, die israelischen Truppen aus dem Libanon herauszuführen.
({4})
Gerade die Freunde Israels müssen dann reden, wenn von dieser Seite Unrecht geschieht. Aber es kommt immer darauf an, aus welchen Beweggründen man das tut. Sicher ist zu bedauern, daß die Israelis auch politische Gelegenheiten ungenutzt gelassen haben. Der in seinen Ansätzen positive Camp-David-Vertrag hatte nach der Ermordung des ägyptischen Präsidenten Sadat keine Basis mehr. Man fragt sich auch, warum er wohl ermordet worden ist. Die Leistung Sadats, dieses wahrhaft großen Mannes, versandete, obwohl die Israelis mit der Rückgabe des wirtschaftlich schon erschlossenen Sinai ihren Teil des Vertrags gegenüber Ägypten erfüllt hatten. Aber wo waren auch die palästinensischen Gesprächspartner? Es war ja unendlich schwer, sie ausfindig zu machen. Und es ist schon gesagt worden: Stellten sie sich zur Verfügung, so war die Bedrohung für sie selbst nachher so groß, daß sie mit ihrem Leben manchmal schon abschließen mußten.
Es muß heute versucht werden, den Zipfel des Mantels der Geschichte wieder zu ergreifen: im Interesse Israels und für die Menschen, die insbesondere in Gaza und auch in der Westbank in einer nicht zu ertragenden Situation leben. Da hilft es gar nichts, wenn es ihnen in manchen Teilen besser als früher geht. Sie wollen nicht unter fremder Herrschaft leben. Das Problem der palästinensischen Araber muß gelöst werden, will man sie nicht in die Arme eines verhängnisvollen Fundamentalismus treiben. Aber auch aus einfacher schlichter Menschlichkeit müssen wir helfen.
({5})
Die israelische Siedlungspolitik hat leider das Problem nicht leichter gemacht. Die israelische Zeitung der Arbeiterpartei, „Spektrum", schreibt sinngemäß: Es ist keine Überraschung, daß der Aufstand im GazaStreifen entstand, in dem über 600 000 Palästinenser in überfüllten Lagern ohne eine Zukunftsperspektive leben. Es kann nur eine politische Lösung zwischen Israel und denen geben, die von den Palästinensern autorisiert sind, in ihrem Namen zu sprechen.
Wir Sozialdemokraten betrachten es nicht als Einmischung in die Angelegenheiten eines anderen Staates, wenn wir uns erlauben, unsere Meinung zu einem Konflikt zu äußern, der, wenn er nicht beigelegt wird, zu einer uns alle betreffenden Krise werden kann. Das Pulverfaß Nahost liegt vor unserer Haustür. Deshalb betonen die Parteien in der Sozialistischen Internationale, daß der gefährlichen Situation der Gewalt in den besetzten Gebieten ein Ende gesetzt werden und den Menschenrechte volle Geltung verschafft werden muß.
Der SI-Nahostausschuß unterstützt wie die Arbeiterpartei unter ihrem Vorsitzenden, den Außenminister Shimon Peres, die Initiative zu einer internationalen Friedenskonferenz unter der Autorität der fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen. Die Initiative des Außenministers der Vereinigten Staaten, George Shultz, ist ein entscheidender Schritt auf dieses Ziel hin.
Meine Damen und Herren, Konfliktlösung bedeutet, von bloßen Deklarationen wegzukommen und praktische Schritte einzuleiten. Sicher sollten wir Deutschen uns nicht einbilden, hier Vorreiter sein zu können. Ähnliches gilt für die Europäische Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit, deren Parlament - auch der Außenminister hat das eben beklagt - leider gerade bereits abgeschlossene Handelsvereinbarungen abgelehnt hat. Solche Strafmaßnahmen gegen einen demokratischen Staat hat es noch niemals gegen einen nichtdemokratischen Staat ergriffen. Dieses Verhalten stärkt nämlich nur die Intransigenten in allen Lagern dieser Region.
Jetzt kommt es aber darauf an, gerecht zu urteilen und produktiv an Konfliktlösungen mitzuarbeiten. Das heißt u. a., den kompromißbereiten Kräften in Israel und bei den Palästinensern Mut zu machen und sie auch in geeigneter Weise außenpolitisch zu unterstützen, Kräfte, die - wie der israelische Außenminister und mit ihm ein großer Teil der israelischen Bevölkerung sagte - vernünftige Lösungen auf dem Verhandlungswege erreichen wollen. Es wäre zu begrüßen, wenn sich der Premierminister Schamir dieser Auffassung anschließen könnte, die inzwischen weltweites Echo gefunden hat.
Wir alle gehen davon aus, daß eine Lösung nicht anders möglich sein kann als so, daß sie natürlich wirklich sichere Grenzen Israels und sein Existenzrecht bestätigt.
Wir wissen, wie schwer es ist, nach einer langen Zeit der Verhärtung, ja des Hasses, zu tragfähigen Kompromissen zu kommen. Die europäischen Staaten sind aufgerufen, hierbei zu helfen, sich politisch zu engagieren und auch feste materielle Zusicherungen zu geben, sich an dem wirtschaftlichen Aufbau zu beteiligen. Die Welt wartet darauf, daß es nicht nur bei verbalen Bekundungen bleibt, sondern daß auf israelischer wie auf palästinensischer Seite um einen dauerhaften Frieden ernsthaft gerungen wird. Eine Friedenskonferenz darf nicht eine Tribüne zur Selbstdarstellung oder eine Tribüne sein, wo der eine dem anderen das Schlimmste unterstellt. Es ist Zeit für Entscheidungen im Interesse der Menschen in dieser Region. Hier sind die Großmächte besonders gefordert, die für den Frieden in diesem Teil der Welt mitverantwortlich sind.
In diesem Sinne: Shalom!
({6})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Geiger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Selten habe ich so lange über eine Bundestagsrede nachgedacht, und selten ist es mir so schwergefallen, die passenden Worte zu finden; denn wir sehen jeden Tag erschütternde Bilder im Fernsehen.
Gernot Römer hat dies in der „Augsburger Allgemeinen" vom 23. Februar 1988 so beschrieben:
Erschreckendes geschieht im Namen Israels: Soldaten der ruhmreichsten Armee in Nahost, Söhne und Enkel von Hitlers Opfern, schießen auf Kinder; brechen Palästinensern gewollt Knochen; haben versucht, ... Araber ... bei lebendigem Leib zu begraben.
Dürfen wir dazu schweigen? Dürfen wir dies verdammen? Wir Deutschen sind ganz sicher die letzten, die den Staat Israel anklagen dürfen. Aber wir müssen mahnen und klarmachen, daß Gewalt kein Mittel der Politik sein darf, ganz gleich, in welchem Gebiet der Erde.
Beim Aufstand im Westjordanland und in Gaza werden, wie wir uns tagtäglich im Fernsehen überzeugen können, Kinder, Jugendliche und Frauen vorgeschickt. Das stellt die israelischen Soldaten vor eine sehr schwierige Aufgabe. Auf solche Situationen sind die jungen Israelis nicht vorbereitet. Es kommt zu falschen Reaktionen. Die jungen Soldaten sind für Kinderaufstände nicht geschult worden.
Israel hat vier Kriege zur Selbsterhaltung führen müssen und damit ehrenvoll abgeschnitten. Beim jetzigen Kampf gegen die zivile Bevölkerung fühlen sich manche Soldaten so stark provoziert, daß sie auf schlimme Weise überreagieren. Die israelische Justiz versucht, die Übergriffe zu ahnden, und die Presse prangert das Unrecht an; denn es gibt glücklicherweise in Israel eine funktionierende, westlich geprägte, im Abendland verwurzelte Demokratie.
Ich rede nicht dem Verschweigen oder Vertuschen das Wort. Meine Fraktion hat stets die Übergriffe sowohl der israelischen Soldaten als auch der Palästinenser verurteilt und beide Seiten zur sofortigen Gewalteinstellung aufgefordert. Denn eines ist sicher: Jeder geworfene Stein, jeder abgefeuerte Schuß schaffen Haß und machen die Aussöhnung zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk noch schwieriger.
Die Situation in den besetzten Gebieten hat sich in den letzten Jahren sehr verschlechtert. Dies hat zu Eruptionen der Gewalt auf beiden Seiten geführt. Manfred Rowold beschrieb dies in der „Welt" vom 22. Januar 1988 folgendermaßen:
Als 1967 das kleine Israel sich der drohenden arabischen Übermacht erwehren mußte und dies mit Bravour tat, da gebührte den drei Millionen Juden auf diesem Landstrich von der Größe Hessens die Bewunderung der Welt, zumindest der westlichen - David hatte Goliath besiegt. In den zwei Jahrzehnten seither haben sich die Rollen vertauscht, die Sympathien sind ins Wanken geraten. Denn aus David ist in den Augen der breiten Öffentlichkeit ein Goliath geworden. Und jene Palästinenser, die Steine werfen, sind für viele die neuen Davids.
Vor allem das Stagnieren des Friedensprozesses zwischen Israelis und Arabern hat bei den Bewohnern der besetzten Gebiete mehr und mehr zu Frustrationen geführt. Stillstand kann diese Probleme nicht lösen, sondern verschärft sie. Das gilt auch für das israelisch-arabische Verhältnis. Die fehlende Zukunftsperspektive für ihr politisches Schicksal hat die Palästinenser radikalisiert. Die Radikalisierung macht jetzt ihrerseits die Aussichten auf eine Verständigung zunichte.
Die Ausschreitungen einzelner israelischer Soldaten haben das Klima weiter angeheizt. Wer hier wen provoziert - wer kann diese Frage heute in diesem Strudel von Gewalt überhaupt noch beantworten? Deshalb wäre es auch völlig verfehlt, wenn wir hier im Bundestag einseitige Schuldzuweisungen vornähmen. Das würde das Gegenteil von dem bewirken, was wir erreichen wollen. Die Fronten würden sich weiter verhärten, statt Dialogbereitschaft zu fördern.
Die Krise hat in Israel selbst zu einer quälenden Gewissenserforschung geführt. Viele Israelis stellen sich erschrocken die Frage: Wie konnte dies alles geschehen? Fast täglich protestieren israelische Bürger gegen das blutige Geschehen in den besetzten Gebieten und gegen die Palästinenserpolitik ihrer Regierung.
Es spricht für Israel, daß es die Berichterstattung in den besetzten Gebieten nicht behindert hat, sondern daß es sich tagtäglich mit diesen schlimmen Bildern auseinandersetzt. Wo sonst geschieht dies auf der Welt, wo Bevölkerungsgruppen gegen eine Staatsgewalt aufbegehren?
({0})
Von über 100 Toten in Aserbeidschan wird gesprochen, vom Einsatz von Panzern in Armenien, von Unruhen in den baltischen Gebieten, in Kronstadt, in Sri Lanka, im Punjab, um nur einige zu nennen. Bildberichterstattung oder gar Fernsehfilme gibt es darüber nicht, obwohl diese Ereignisse nicht minder erschütternd sind.
({1})
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben aus moralischen und politischen Gründen nicht nur das
Recht, sondern auch die Pflicht, im Rahmen unserer
Möglichkeiten zu einer Friedensregelung im Nahen Osten beizutragen. Daß wir dies nicht allein, sondern mit unseren EG-Partnern und vor allem auch in Absprache mit den USA tun, ist selbstverständlich.
Meine Fraktion rät zur Behutsamkeit und zur politischen Zurückhaltung. Das bedeutet nicht fehlende Teilnahme oder fehlendes Engagement für alles, was den Konflikt entschärft, was die Sprachlosigkeit überwindet und den Ausgleich vorbereitet. Wir unterstützen die Bundesregierung in ihrer Haltung, wie sie auch in der gemeinsamen Erklärung der EG zum Ausdruck kommt.
Wir halten es für absolut erforderlich, daß die Lebensbedingungen für die Bewohner der besetzten Gebiete verbessert werden. Deshalb ist es zu begrüßen, daß die EG Hilfe gewähren will und bestimmten Erzeugnissen aus diesen Gebieten präferentiellen Zugang zum Gemeinschaftsmarkt einräumt. Israel sollte diese Maßnahmen nicht länger behindern. Auf der anderen Seite war es aber auch ein großer Fehler, daß das Europaparlament mit den Stimmen der Sozialisten verhindert hat, daß die jüngsten Kooperationsabkommen mit Israel in Kraft treten können. Sanktionen - wo auch immer - haben keinen Sinn.
Bei einer Debatte über den Nahen Osten sollte der Blickwinkel nicht auf das ungelöste israelisch-palästinensische Dilemma und schon gar nicht auf Israel und die PLO verengt werden. Wir haben es schließlich mit einem ganzen Herd von unterschiedlichen und doch irgendwie untereinander verbundenen Konflikten zu tun. Der ganze Nahe Osten ist heute Krisengebiet. Eine einfühlsame deutsche Politik in Nahost kann der schrittweisen Befriedung ganz sicher dienlich sein.
Noch mehr Gewicht hat die einheitliche Politik der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, wie sie in der Erklärung der Außenminister zum Nahen Osten vom 23. Februar 1988 in Brüssel formuliert wurde.
Für unsere deutsche Politik im Nahen und Mittleren Osten gelten die folgenden Grundsätze:
Erstens. Die Mitverantwortung für die Existenz Israels in sicheren Grenzen gehört zu den Grundfesten der deutschen Außenpolitik. Diese Mitverantwortung bedeutet aber nicht das automatische Einverständnis mit allen Positionen der israelischen Politik. Das galt und gilt insbesondere für Israels Politik in den besetzten Gebieten. Die Siedlungspolitik in diesen Gebieten, von der Israels Freunde im Westen abrieten, hat sich als Bumerang erwiesen. Sie hat Israel letztlich nicht mehr, sondern weniger Sicherheit gebracht.
Zweitens. Seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland gehört der Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung politischer Ziele zu den Grundsätzen unserer Außenpolitik. Daher fordern wir die Anerkennung und Einhaltung dieser Norm zur Konfliktlösung auch für Nahost. Solange die PLO nicht glaubwürdig auf Haß und Terror gegenüber Israel verzichtet, kann sie unserer Auffassung nach kein hilfreicher Partner in dem Prozeß zur friedlichen Konfliktregelung sein. Einer israelischen Regierung könnte kein Staatsgebilde in nächster Nähe zugemutet werden, in dem eine PLO das Sagen hätte,
die zu brutalen Anschlägen und Geiselnahmen bereit ist.
Drittens. Genauso wie wir das Selbstbestimmungsrecht für unser eigenes deutsches Volk fordern, treten wir auch für das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes ein. Das darf aber nicht zu Lasten anderer Völker in Nahost gehen und muß die Lebensinteressen Israels berücksichtigen. Besondere Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit Israels, eventuell eine Entmilitarisierung besetzter Gebiete, könnten dem Rechnung tragen.
Viertens. Wir treten für eine einvernehmliche Verhandlungslösung ein, da nur so ein Ausgleich der Rechte beider Seiten erreicht werden kann. Wir unterstützen dabei alle Initiativen, die dein Friedensprozeß neue Impulse geben und den Dialog zwischen den Beteiligten wiederaufleben lassen.
Ich wiederhole: Der erste und wichtigste Schritt ist die Einstellung der Gewalt auf beiden Seiten.
({2})
Auf der Grundlage dieser Leitlinien tritt die Bundesrepublik Deutschland seit Jahren für Frieden und Stabilität in der für uns politisch, strategisch und wirtschaftlich so wichtigen Region ein. Leider ist diese Region heute friedloser denn je. Die Hoffnungen auf einen Erfolg, die 1979 mit dem Camp-David-Abkommen und nachfolgenden Initiativen verbunden waren, sind geschwunden. Im Libanon halten die Spannungen und die Bürgerkriegssituation an. Der Krieg zwischen Irak und Iran geht brutaler denn je weiter und ist gerade in diesen Tagen wieder eskaliert, ohne daß wir im Bundestag darüber eine Debatte geführt haben.
Wir müssen befürchten, daß es so schnell nicht zur Stabilisierung der Region kommt. Das Mißtrauen sitzt tief und ist durch diejenigen mitzuverantworten, die mit Mord und Terror jahrelang Politik zu machen versuchten. Außer Leid, Fanatismus und Entsetzen hat diese Strategie der Gewalt nichts gebracht. Mit ihr muß eindeutig und endgültig gebrochen werden. Ich sage das bewußt auch vor dem Hintergrund des jüngsten Terroranschlags im Süden Israels, der in dieser Woche wieder sechs Menschenleben gekostet hat.
Der Bürgermeister von Jerusalem und Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Teddy Kollek, ein Mann, der sich um ein friedliches Miteinander von Juden und Arabern große Verdienste erworben hat, hat erst in diesen Tagen die Europäer um Geduld gebeten und an unsere eigene lange und leidvolle Geschichte bis zur Verständigung und Aussöhnung erinnert. Es steht zu befürchten, daß sich der Nahe Osten jetzt auf diesem langen und leidvollen Weg befindet, und wir sollten diesen Weg mit allem Nachdruck zu begradigen versuchen und dabei sowohl unsere guten Beziehungen zu Israel als auch zu den arabischen Staaten einsetzen. Noch haben wir und die Europäer Einfluß auf beide Seiten, den es zu nutzen gilt. Dabei müssen wir unseren Dialog mit den Arabern intensivieren, um ihre Bereitschaft zur Beteiligung an den Friedensbemühungen zu fördern.
Frieden im Nahen Osten ist auch ohne die Großmächte weder denkbar noch haltbar. Sie können mit
allen Konfliktparteien den Frieden durchsetzen und glaubhaft garantieren. Die Vereinigten Staaten sind dankenswerterweise bereits aktiv geworden. Für die Bemühungen von US-Außenminister Shultz hätte ich mir allerdings in den letzen Wochen eine stärkere europäische Rückendeckung gewünscht, auch wenn der Erfolg der Shultz-Mission noch ungewiß ist. Shultz hat zumindest mit einer wahren Kärrnerarbeit versucht, positive Anstöße zu geben. Und den Arabern möchte ich sagen: Die Aufrichtigkeit des Shultz-Engagements können Sie schon daran sehen, daß die jetzige amerikanische Regierung die eventuellen Früchte dieser Politik ja gar nicht mehr selbst ernten kann. Die Araber sollten ebenso wie die Israelis die Vorschläge also ernsthaft prüfen.
Alle Länder im Nahen Osten haben das Recht, innerhalb sicherer, anerkannter und garantierter Grenzen in Frieden zu leben. Solange jedoch um das gleiche Stück Land verschiedene Besitzansprüche miteinander in Fehde liegen, sind die Chancen auf einen dauerhaften Frieden leider gering.
Schließen möchte ich heute mit den Worten von Asher Ben Nathan, dem ersten Botschafter des Staates Israel in der Bundesrepublik, anläßlich des 40-JahreJubiläums am vergangenen Sonntag. Er hat gesagt:
Wie oft, wenn alles schwarz und hoffnungslos aussieht, gibt es Lichtstrahlen, die Quellen neuer Hoffnung sind, die Erkenntnis vieler Araber, daß Israel eine Tatsache ist, mit der man sich abfinden muß und die mit Gewalt nicht zu beseitigen ist. Andererseits wird die auf beiden Seiten sich durchsetzende Erkenntnis, daß man miteinander verhandeln muß, letzthin zu Lösungen führen, die allen Beteiligten das Recht auf Sicherheit, Identität und Selbstverwaltung garantieren.
Ich wünsche sehr, daß er recht behalten wird. Danke schön.
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Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Der historische Ort, in dem auch nach 40 Jahren diese Debatte stattfindet, bleibt auch in diesem Jahr, 1988, Auschwitz. Zwischen Juden und Deutschen gibt es für alle Zeiten keine einfachen Wahrheiten. Wir müssen der Versuchung der heimlichen oder offenen Entlastung widerstehen. Auch mit einer noch so polierten Patentmoral können wir uns nicht vor den Schatten der Vergangenheit in Sicherheit bringen. Weder vergessen noch verzweifeln: Das ist der schwierige Rat, den es anzunehmen gilt. Das begründet das Bündnis des Gewissens mit Israel, Israel als Hoffnung und Zuflucht für die Juden auf der ganzen Welt. Das begründet zugleich die Verpflichtung auf die Unteilbarkeit der Menschenrechte ohne Ausnahme und überall.
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Deshalb muß das Existenzrecht Israels von uns ebenso selbstverständlich anerkannt werden wie das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser.
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Diese zwei Gerechtigkeiten, das Existenzrecht Israels und das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, stehen scheinbar in einem unauflösbaren Widerspruch. Nach Karl Marx entscheidet zwischen zwei gleichen Rechten die Gewalt. Dieser elende Satz, dem vermutlich viele Völkerrechtler zustimmen, führt aber unweigerlich in den Untergang und zur Aufhebung der jeweils eigenen Legitimation. Gewalt verwandelt Gerechtigkeit in Ungerechtigkeit. Das war es, was eine Palästinenserin meinte, als sie einem israelischen Soldaten zurief: „Seid Ihr verrückt geworden? Ihr zerstört Euer eigenes Land. "
Die Machtkonkurrenz der beiden Lager im Nahen Osten, die Siegesbesessenheit, die Sicherheit durch die fortwährende Ausdehnung des jeweiligen Machtbereichs zu erlangen trachtet, wird in Zerstörung und Selbstzerstörung enden. Der israelische Ministerpräsident Schamir auf der einen Seite, im starren Festhalten an dem expansiven Ziel eines Groß-Israel unter Einbeziehung der besetzten Gebiete, und PLO-Außenminister Kadumi auf der anderen Seite, der unverhüllt den ebenso expansiven Machtanpsruch auf Gesamtpalästina unter Einbeziehung Israels proklamiert, sie werden den Frieden nicht erreichen. Unmenschlichkeit, Terror und Gegenterror, getötete palästinensische und jüdische Kinder und Frauen, Haß und Rache werden so nie aufhören.
Zwei Gerechtigkeiten können nur zueinander kommen, wenn sie sich wechselseitig anerkennen. Der fatalistischen Formel von Marx ist der Gedanke eines arabischen Freundes von Henryk Broder vorzuziehen, der meinte, der Klügere gebe erfahrungsgemäß nicht immer nach, daher müsse der Stärkere den ersten Schritt tun. Die israelische Friedensbewegung ist entschlossen, den ersten Schritt zu gehen. Sie demonstriert für „Land gegen Frieden". Ihr vertrauen wir, sie ist unsere Hoffnung, ihr gilt unsere Unterstützung.
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Unsere Hoffnung sind die israelischen Offiziere, von denen einige dem Generalstab angehören, die in einem Brief an Ministerpräsident Schamir zu Verhandlungen mit den Palästinensern aufgefordert haben. Unsere Hoffnung sind israelische Soldaten, die von ihrem Recht auf Befehlsverweigerung Gebrauch machen. Unsere Hoffnung sind israelische Intellektuelle, die zu Gesprächen mit der PLO auffordern. Unsere Hoffnung sind Palästinenser wie Hana Seniora, die ohne Vorbehalte Gespräche mit Israelis führen.
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Unsere Hoffnung sind Uri Avneri und Mate Peled und viele andere, die sich für Verständigung und Zusammenarbeit zwischen Juden und Arabern einsetzen. Unsere Hoffnung ist die Tochter des ermordeten palästinensischen Politikers Sartauwi, die erst vor kurzem zu Gesprächen mit Israelis zusammengetroffen ist. Unsere Hoffnung sind die Juden in der Diaspora, die
in ihrer überwältigenden Mehrheit für eine Verständigung mit den Palästinensern eintreten. Unsere Hoffnung sind alle Juden und Araber, die sich nicht entmutigen und, von wem immer, einschüchtern lassen.
Alle Hoffnung hängt davon ab, daß Gespräche und Verhandlungen in Gang kommen und die Waffen schweigen. Eine internationale Friedenskonferenz unter der Schirmherrschaft der UNO und mit Beteiligung aller Konfliktparteien einschließlich der PLO darf nicht länger hinausgezögert werden. Eine umfassende Lösung kann nicht am Anfang der Verhandlungen stehen. Die direkte Straße geradeaus zum Frieden: Wo soll sie sein? Es kommt darauf an, Übergänge zu finden. Jeder Vorschlag im Sinne von Annäherungen an den Frieden sollte willkommen sein.
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Die Shultz-Initiative ist möglicherweise ein solcher Vorschlag, der bei gutem Willen Bewegung in die verhärteten Fronten bringen könnte, auch wenn er noch nicht eine endgültige Friedensregelung enthält. Der Shultz-Plan kann hilfreich sein, wenn er als Interimslösung verstanden wird. Nicht zufällig lehnen sowohl der israelische Ministerpräsident Schamir als auch der syrische Staatspräsident Assad den Shultz-Plan kategorisch ab. Schamir befürchtet offenbar, daß jede Autonomieregelung nur eine Zwischenphase darstellt, an deren Ende ein palästinensischer Staat nicht mehr zu verhindern ist. Das bewog ihn seinerzeit dazu, gegen die Ratifizierung des Camp-David-Abkommens zu stimmen. Diesem Widerstreben liegt die richtige Erkenntnis zugrunde, daß eine Autonomieregelung eine bessere Ausgangsposition für die Gründung eines palästinensischen Staates ist als der gegenwärtige Zustand. Einige arabische Regierungen widersetzen sich dem Shultz-Plan, weil sie einer Defacto-Anerkennung Israels ausweichen wollen.
Zu einer internationalen Friedenskonferenz gibt es nur eine tödliche Alternative. Wer die Gewalt nicht zum Schiedsrichter machen will, wird auf Maximalforderungen verzichten und Kompromisse suchen müssen. Nur das eröffnet die reale Aussicht auf eine friedliche Nachbarschaft Israels mit einem palästinensischen Staat, auf wirtschaftliche Kooperation zwischen Israelis und Palästinensern und auf Freiheit der Kulturen und Religionen in der gesamten Region.
Shalom! Salam!
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Bulmahn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist vielleicht die überzeugendste Rede, die aus innerer Bewegung abgebrochen wird. Ich danke Otto Schily dafür. Ich danke ihm aber auch dafür, daß er weitergemacht hat.
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Diese Aussprache hat uns allen, besonders uns Jüngeren, gezeigt, daß eine Nahost-Debatte für uns auch eine Debatte über unsere Vergangenheit, über unsere schwere Erbschaft, über unser Selbstverständnis und über unsere Zukunft ist. Die neuerliche Zunahme von Gewalt, die zahlreichen Todesfälle im Gaza-Streifen und in dem Westjordanland bereiten uns allen große Sorge. Die bekanntgewordenen Übergriffe israelischer Soldaten, die Anwendung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen verstoßen gegen fundamentale Menschenrechte. Sie sind nicht zu rechtfertigen und können von uns nicht schweigend übergangen werden. Aber das ist nur eine Seite. Wir dürfen die andere Seite nicht übersehen: fanatisierte Kinder und Jugendliche, die mit Steinen und Molotowcocktails auf israelische Soldaten werfen, Israelis, die überfallen und ermordet werden, nicht nur Soldaten, sondern auch Zivilisten.
Moralische Selbstgerechtigkeit und Überheblichkeit, einseitige Schuldzuweisungen, wie sie in den letzten Wochen häufiger vorkamen, sind in dieser Situation völlig fehl am Platze. Unser historisches Erbe und damit einhergehend die besondere Verantwortung, in der wir stehen, sind keine Frage des Alters, keine Frage einer bestimmten Generation. Sie ist geschichtlicher Fakt, ein Fakt, der uns allen, ob jung oder alt, eine besondere Zurückhaltung im Israel/Palästina-Konflikt auferlegt, ein Fakt, der uns auch besonders sensibel für die Bewegungen in unserem Lande machen sollte, die wieder das Motto „Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" predigen und die selbstgerecht auf andere zeigen.
Unsere Geschichte gibt keinen Anlaß, uns wie Herr Bundesbildungsminister Möllemann moralisch über das Verhalten der israelischen Besatzungstruppen zu entrüsten, einseitige Verurteilungen vorzunehmen und mit Sanktionen zu drohen.
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Es ist gespenstisch, wenn Herr Möllemann erklärt, Israels Ministerpräsident Schamir setze offenbar kühl darauf, daß vor dem Hintergrund des ungeheuerlichen Völkermordes an den Juden während der Naziherrschaft kaum jemand bereit sei, die derzeitige Politik Israels zu kritisieren. Diese einseitige Verurteilung Israels, zudem noch verbunden mit Drohungen durch deutsche Politiker, gibt nur jenen Alt- und Neunazis Auftrieb, die dankbar jede Gelegenheit ergreifen, die Verbrechen der NS-Zeit zu relativieren und zu verharmlosen und sie gegen andere Verbrechen aufzurechnen.
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Das, was in dem Zusammenhang der Nahostdebatte gesprochen worden ist, gesagt worden ist, geschrieben worden ist, in der Presse und in der Öffentlichkeit, hat mich persönlich verletzt. Das macht mir Angst; es macht mir Angst um die Zukunft unserer Demokratie. Meine Damen und Herren, die Förderung antisemitischer Tendenzen, die Verharmlosung der nationalsozialistischen Verbrechen dürfen wir nicht zulassen. Wenn wir sie zulassen, machen wir uns erneut schuldig. Was im deutschen Namen in Europa während des Nationalsozialismus geschehen ist, duldet keinen Vergleich. Der planmäßige Mord an Millionen von Juden ist ein in der Menschheitsgeschichte unvergleichbares Verbrechen.
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Angesichts von Auschwitz und Treblinka kann daher eine deutsche Verurteilung Israels nur zur Verhärtung der Fronten innerhalb Israels führen.
Meine Damen und Herren, ich selbst habe ein Jahr in einem Kibbuz in Israel am Rande der Negev gelebt und gearbeitet. Ich weiß aus meiner persönlichen Erfahrung, wie mißtrauisch und sensibel Israelis - unabhängig von ihrer politischen Einstellung - auf eine derartige Einmischung aus Deutschland reagieren. Sie sind dann, wenn sie Vertrauen zu der Person gefaßt haben, zu diesem Gespräch bereit, aber sie wehren sich gegen plakative, pauschale, der Kompliziertheit der Situation nicht angemessene Kritik - meines Erachtens zu Recht.
Vor dem Hintergrund des Holocaust, der zahlreichen Verfolgungen und Progrome in den anderen Ländern heißt Israeli zu sein, immer mit der Bedrohung und Angst zu leben: vor dem Krieg, vor dem Tod, dem eigenen, dem Tod der Kinder, der Verwandten, zu leben mit der Angst vor Überfällen, vor dem Verlust der Heimat. Kein Israeli wächst ohne diese Angst auf. Sichtbarer Ausdruck hierfür sind die Soldatinnen und Soldaten, das Gewehr auf der Schulter der Zivilisten, die Wachen, die nachts patrouillieren, der Luftschutzbunker unter dem Spielplatz, der Bunker vor dem Gemeinschaftsraum nahe der Synagoge, die militärischen Verteidigungsanlagen und die Camps.
Jeder weiß, daß diese Bedrohung nicht der Vergangenheit angehört. Überfälle, mehr oder minder gewaltsame Auseinandersetzungen, Grenzverletzungen erlebt man täglich. Man hört und man liest darüber. Sie sind Bestandteil des normalen Lebens. Die Bedrohung ist Gegenwart, sie ist nicht eingrenzbar, und sie wirkt sich bis in das kleinste Dorf aus. Viele Israelis leben daher in dem Bewußtsein: Wir sind auf uns allein gestellt und müssen uns selbst verteidigen und schützen, und im Gegensatz zu unseren Großeltern können wir dies und tun es auch.
Eine oberflächliche Betrachtungsweise, zu der die Wahrnehmung des Israel/Palästina-Konflikts per Bild und Film geradezu verführt, macht blind für Ursache und Entwicklung des Konflikts,
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und sie macht - das ist genauso entscheidend - blind für die vielfältigen politischen Strömungen und Gruppierungen in Israel und bei den Palästinensern und deren unterschiedliche Einschätzungen. Es gibt in Israel keine einheitliche Sicht des Palästina-Problems. Es gibt die Gruppe derjenigen, die die Palästinenser als Erbfeinde betrachten, die sie am liebsten auch aus den besetzten Gebieten restlos vertreiben würden, die ein Israel ohne Palästinenser wollen. Es gibt aber auch die wesentlich stärkere Friedensbewegung, die sich für eine Räumung der besetzten Gebiete, für ein nachbarschaftliches Verhältnis, für das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser seit langem einsetzt, die ihnen gleiche Rechte und Chancen
einräumen will. Es gibt die Arbeiterpartei, die sich, wie Annemarie Renger bereits ausgesagt hat, mit ganz konkreten Schritten um einen dauerhaften Frieden bemüht. Es gibt den Likud-Block, und es gibt viele andere kleine Parteien, jeweils mit einer unterschiedlichen Sichtweise. Und - das sollte man nicht vergessen - es gibt die vielen jungen Israelis, die endlich einmal unbelastet, ohne das Schwert im Nakken zu spüren, leben möchten,
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viele, die endlich Frieden wollen, weil es so viele andere notwendige Aufgaben in Israel zu erledigen gibt.
Zur inneren Tragik des Nahost-Konfliktes gehört es, daß die Gründung des Staates Israel nur um den Preis neuer Opfer und neuer Leiden möglich war. Dem Existenzrecht Israels steht das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser gegenüber. Beide Ansprüche sind legitim und schließen sich so lange gegenseitig aus, wie es den Israelis und Palästinensern nicht gelingt, sich auf einen für beide Seiten tragfähigen Kompromiß zu verständigen. Eine Lösung des Nahost-Konflikts ist für beide Seiten eine Frage des Überlebens, eine Frage der Erhaltung ihrer persönlichen, aber auch ihrer politischen und moralischen Integrität.
Eine deutliche Sprache spricht in diesem Zusammenhang ein Aufruf, den fast 500 israelische Psychologen, Psychiater, Sozialarbeiter und Geisteswissenschaftler unterschrieben haben:
Seit 20 Jahren leben die Araber in besetzten Gebieten - ohne Bürgerrechte, in Furcht und Demütigung. Diese Situation hat einen schrecklichen Einfluß auf die jüdische Bevölkerung selbst. Wir sind jeden Tag mit Akten der Unterdrückung beschäftigt. Wir sind dabei, unser Gefühl für menschliches Leid zu verlieren, und unsere Kinder wachsen auf mit den Werten von Diskriminierung und Rassismus. Von einem todbringenden Standpunkt haben wir unsere Soldaten in eine unmögliche Situation gebracht.
Die Situation der Palästinenser ist trostlos. Sie fühlen sich im Stich gelassen von den übrigen arabischen Ländern. Besonders die Menschen, die in Lagern leben, haben nichts als Hoffnungslosigkeit, Armut und den Wunsch nach Rache kennengelernt. Sie sind aufgegeben worden, auch von ihren angeblichen Freunden, für die sie - das ist immer mehr Palästinensern deutlich geworden - nur ein Spielball für deren Interessen waren.
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Krieg ist kein Zustand, der unbegrenzt andauern kann, ohne daß die Beteiligten Schaden nehmen. Es muß möglich sein, eine Friedensordnung zu finden, die sowohl dem Existenzrecht Israels wie dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser Rechnung trägt. Es gibt keine andere Wahl.
Es gibt aber auch Zeichen der Bewegung, Zeichen der Hoffnung. So zeigte die arabische Seite in den vergangenen Jahren, wie etwa auf der 9. Arabischen Gipfelkonferenz von 1982 in Fes, zunehmend Bereitschaft, die staatliche Existenz Israels anzuerkennen.
Ähnliches ist auch in neueren Erklärungen Arafats erkennbar. Hoffnung machen auch die Vorschläge von Außenminister Shultz oder die Vorschläge des israelischen Außenministers Peres, der baldige Wahlen und Autonomieverhandlungen für die besetzten Gebiete sowie eine internationale Nahost-Friedenskonferenz befürwortet.
Gesprächs- und Kompromißbereitschaft sowie Verhandlungen sind der einzige Weg, der aus dieser scheinbar ausweglosen Lage herausführen kann. Gerade deshalb hilft es weder Israel noch den Palästinensern, wenn wir Deutschen Schuldzuweisungen aussprechen und den moralischen Zeigefinger heben. Was notwendig ist, ist, die Bereitschaft zu fördern, miteinander zu reden, nicht nur auf Staatsebene, sondern auch von Frau zu Frau, von Mann zu Mann. Schuldzuweisungen und deklamatorische Appelle helfen in einer derartigen Situation nicht, sondern verhärten die jeweilige Seite, die sich nun noch einmal mehr im Recht fühlt. Sie verhindern somit die Bereitschaft zur Annäherung, zur Akzeptanz des anderen und stärken damit die Gegner eines Friedensplans im jeweiligen Lager.
Wir alle wollen auf dem Weg zum Frieden helfen. Wir dürfen dabei aber zumindest nicht weiter stören.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung für Strafverfolgungsmaßnahmen
- Drucksache 11/281 -
a) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 11/1892 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Stark ({1}) Dr. de With
b) Bericht des Haushaltsausschusses ({2}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 11/1943 Berichterstatter:
Abgeordnete Diller von Schmude
Frau Vennegerts
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Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Stark.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
({0})
Herr Abgeordneter, wenn ich Sie kurz unterbrechen darf. Ich bitte die Damen und Herren, entweder Platz zu nehmen oder den Saal zu verlassen.
Wie ein Staat seine Bürger behandelt, die er zunächst rechtmäßig durch seine Strafbehörden verfolgt und bei denen sich dann letztlich herausstellt, daß die Verfolgung ungerechtfertigt war, ist signifikant dafür, ob ein Staat Rechtsstaat im besten Sinne des Wortes ist.
Die Entschädigung für zu Unrecht erfolgte Strafverfolgungsmaßnahmen war bis zum Jahre 1970 nicht so geregelt, wie sie im Rechtsstaat unseres Grundgesetzes sein sollte. Bis dahin mußte der zu Unrecht Verfolgte praktisch seine Unschuld beweisen, um in den Genuß von Entschädigungsleistungen zu kommen für zu Unrecht erfolgte Untersuchungshaft, für zu Unrecht erfolgte Entziehung des Führerscheins oder sonstige Maßnahmen der Strafverfolgungsbehörden.
Dieser Bundestag hat im Jahre 1970 einstimmig ein meines Erachtens hervorragendes Entschädigungsrecht für zu Unrecht erfolgte Strafverfolgungsmaßnahmen geschaffen.
({0})
Er hat die Unschuldsklausel abgeschafft. Er hat die Beschränkung der Entschädigungsgelder aufgehoben, die damals auf 75 000 DM Kapitalabfindung oder 4 500 DM Jahresrente begrenzt waren. Und er hat etwas eingeführt, um das es heute geht; er hat neben der Erstattung des erlittenen Vermögenschadens, z. B. Verdienstausfall, einen Entschädigungsbetrag für den zu Unrecht erlittenen immateriellen Schaden eingesetzt, und zwar pro Tag erlittener Freiheitsentziehung 10 DM. Der Betrag ist nicht sehr groß.
Es wurde in diesem Zusammenhang von manchen Kollegen von Schmerzensgeld gesprochen. Das ist meines Erachtens aber falsch, weil der Staat diese ungerechtfertigten Strafverfolgungsmaßnahmen ja nicht schuldhaft ergriffen hat, sondern fehlerhaft, wie sich nachträglich heraustellt, wenn die Maßnahme aufgehoben wird. Schmerzensgeld gibt es bekanntlich nur bei Verschulden, z. B. unerlaubter Handlung oder Vorsatz. Deshalb ist der Begriff Schmerzensgeld hier meines Erachtens falsch. Man könnte vielmehr sagen: Der Staat will seinen Fehler mit dieser Zahlung für immaterielle Schäden anerkennen, er will dem Bürger gegenüber, der zwar rechtmäßig, aber letztlich zu Unrecht mit diesen Strafverfolgungsmaßnahmen überzogen wurde, zum Ausdruck bringen: Wir leisten eine gewisse Genugtuung.
Dieser Betrag war 1970 mit 10 DM pro Tag angesetzt worden. Wir erhöhen ihn heute auf 20 DM. Es wird eingewandt, auch das sei nicht schrecklich hoch. Aber ich habe schon gesagt: Der Betrag soll nicht eme Art Schmerzensgeldfunktion haben, sondern im Grunde genommen ein Anerkennungsbetrag in dein Sinne sein, daß der Staat zum Ausdruck bringt: Wir haben hier Fehler gemacht, es tut uns leid, und dafür kriegt der Bürger, der letztlich zu Unrecht in diese Verfolgungsmaßnahmen gekommen ist, in Zukunft diese 20 DM pro Tag.
Das ist der wesentliche Inhalt dieses vom Bundesrat vorgelegten Gesetzentwurfs. Wir stimmen diesem Gesetzentwurf für die CDU/CSU voll und mit Freude zu.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Stark hat mit Recht darauf hingewiesen, daß uns auch bei dem jetzt vorgeschlagenen Betrag unwohl ist, weil er uns als zu gering erscheint. Tatsächlich kann man sehr nachdenklich werden, wenn der immaterielle Schaden, den jemand durch eine 24stündige Inhaftierung erleidet, dem Staat nur 20 DM Entschädigung wert ist.
Daß wir uns aber im Rechtsausschuß zunächst mit diesem Betrag abgefunden haben, liegt daran, daß der Löwenanteil dieser Entschädigungen nicht vom Bund, sondern von den Ländern aufgebracht werden muß. Angesichts der zahlreichen Gesetze, die hier in den letzten Jahren verabschiedet worden sind, die sich kostenmäßig in erster Linie bei Ländern und Gemeinden ausgewirkt haben, sollte man zunächst die Entwicklung in den Ländern abwarten, um dann - so haben wir als SPD das im Rechtsausschuß beantragt - zu überprüfen, ob wir eine weitere Anhebung des Betrages empfehlen müssen. Ich bin dankbar dafür, daß der Rechtsausschuß dem Antrag der SPD auf Beobachtung der Entwicklung und Überprüfung in drei Jahren gefolgt ist.
Ich bin nicht so pessimistisch, daß wir nicht zu einer anderen Lösung kommen könnten; denn gerade im Bereich der strafrechtlichen Entschädigung haben sich in den letzten Jahren Entwicklungen ergeben, die zu einer finanziellen Entlastung führen könnten. Den Löwenanteil bei den Entschädigungsmaßnahmen machen - und ich möchte hier einfügen: Gott sei Dank - nicht Entschädigungen für Inhaftierungen aus, sondern für Sicherstellungen von Fahrerlaubnissen, Führerscheinen. Die Zahl der ungerechtfertigten Sicherstellungen ist in den letzten Jahren zurückgegangen, indem man bei der Polizei in verstärktem Maße von diesen Tütchen zu Digitalgeräten übergeht, die sorgfältiger arbeiten und so die Zahl der unge- rechtfertigten Beschlagnahmen zurückgehen lassen. Das setzt auch Mittel frei, die wir hier sinnvoller verwenden könnten.
Ich bin ganz dankbar, daß wir als nächsten Tagesordnungspunkt - das steht in einem gewissen Zusammenhang - über die Reform der Untersuchungshaft zu reden haben, die nach unserer Auffassung auch die Zahl der unberechtigten, ungerechtfertigten Inhaftierungen und Freiheitsentzügen zurückgehen lassen und uns, so hoffe ich, in die Lage versetzen wird, den eigentlich von allen als zu gering empfundenen Betrag, der hier in Rede steht, weiter anzuheben.
Auch die SPD wird dem Gesetzentwurf zustimmen, und ist dankbar dafür, daß die Beratungen so zügig und schnell erfolgen konnten.
({0})
Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! -
Sie kriegen erst durch mich das Wort, Herr Kleinert; aber ich tue es gerne. Bitte schön, Sie sind dran.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich für die Worterteilung, und ich benutze die letzte Ausführung des Herrn Vorredners, um nicht nur die zügige Beratung im Ausschuß und im Parlament, sondern auch die zügige Beratung heute morgen lobend hervorzuheben. Ich hoffe, daß ich mich dem Stil der Herren Vorredner insoweit anpassen kann.
Unsere bürgerliche Rechtsordnung ist sehr zurückhaltend mit dem Ersatz des immateriellen Schadens. Zu meinem größten Bedauern ist die Rechtsprechung über meiner Ansicht nach zwingende Vorschriften in diesem Bereich - § 847 BGB - mit einer hier bekannten Entscheidung hinausgegangen.
Diese Zurückhaltung beim Ersatz des immateriellen Schadens hat doch wohl ihren Grund darin, daß man das, was der einzelne erleidet, vernünftigerweise nicht messen kann und daß man es auch nie äquivalent wird ausgleichen können, so daß man einerseits Leuten aufsitzen kann, die sich ausnahmsweise - das will ich gerne unterstellen - pudelwohl gefühlt haben und dafür erhebliche Beträge verlangen, während andererseits in der großen Mehrzahl aller Fälle niemand auf die Idee kommen wird, sich die Tatsache, daß er sich plötzlich seiner Freiheit beraubt fühlt - und dies zumeist unter recht mißlichen Umständen -, durch irgendeinen Betrag entgelten zu lassen.
Kollege Hirsch hat mich vorhin in einer Unterhaltung darauf aufmerksam gemacht, daß die einzige vernünftige Bemessungsmethode für dieses immaterielle Schmerzensgeld sein würde, zu prüfen, für welchen Betrag sich der einzelne freiwillig in Haft begeben würde. Das wäre dann der angemessene Betrag, um die erlittene Inhaftierung zu entschädigen.
Wir werden uns diesem Betrag mit der Verdoppelung von 10 auf 20 DM nicht nähern. Es ist uns nach wie vor unbehaglich bei dem Versuch, hier einen ganz kleinen Ausgleich für eine zu Unrecht erlittene Freiheitsentziehung oder für die Unbill bei anderen Strafverfolgungsmaßnahmen - der Herr Vorredner hat auf die Führerscheinproblematik hingewiesen - zu gewähren.
Die Verdopplung ist ja an sich eine statistisch gesehen großartige Tat. Dahinter verbirgt sich allerdings das in FDP-Kreisen bestens bekannte Geheimnis der kleinen Basiszahl; man kann leichter von 10 auf 20 verdoppeln, als von höheren Beträgen her eine Verdopplung vornehmen.
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Deshalb wollen wir diese Ruhmestat hier nicht weiter feiern, sondern hoffen, daß auch der jetzt verdoppelte Betrag möglichst selten ausgezahlt werden muß, weil möglichst wenige Fälle vorkommen mögen, in denen Strafverfolgungsmaßnahmen zu Unrecht erlitten werden. Das ist eine Aufgabe, an der sicherlich unsere Rechtsprechnung täglich arbeitet, der sich alle bewußt sind, die aber nicht ernst genug genommen werden kann und für die hier auch nicht annähernd irgendeine Form von erleichterndem Ersatz gegeben werden kann.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kleinert hat es gerade schon gesagt: Eine Ruhmestat ist das nicht, was wir da heute beschließen, aber es ist besser als nichts. Es ist eine Verdopplung von 10 auf 20 DM.
Der Entwurf, den wir heute zur Abstimmung haben, ist ein Überbleibsel schon aus der zehnten Periode. Wichtig ist hier: der § 7, der den zu Unrecht Inhaftierten einen Anspruch auf Schadenersatz gibt.
Wichtig ist dabei, daß der Schaden, der durch die Verhinderung des Einsatzes der Arbeitskraft entstand, ohnehin ersetzt wird. Das gilt auch für entgangene Gewinnchancen. Diese 10 DM, die bisher pro Tag bei solchen Menschen gezahlt wurden, die zu Unrecht verurteilt wurden oder einsitzen mußten, gelten für den Nicht-Vermögensschaden. Darunter versteht man z. B. psychische, gesundheitliche und anderweitige Schäden, die nicht so ohne weiteres in Mark und Pfennig abgerechnet werden können.
Allerdings sind - das muß man sagen, und das haben wir auch im Rechtsausschuß gemeinschaftlich festgestellt - 10 DM erheblich zu wenig. 20 DM sind auch zu wenig. Wir als GRÜNE hatten den Vorschlag gemacht: Wenn man den Schaden, den die zu Unrecht Inhaftierten erlitten haben, wirklich wiedergutmachen wollte, müßte man sich Gedanken darüber machen, den Schaden analog zum Zivilrecht zu ersetzen, wo im Rahmen eines Prozesses der Schaden exakt festgestellt wird und dann von der Justiz zu tragen ist. Eine derartige gesetzliche Regelung wäre angebracht und würde auch der Rechtssystematik entsprechen; im Verwaltungsrecht müssen staatliche Stellen die Schäden ja auch komplett ersetzen.
Im Rechtsausschuß wurde von seiten der andern Fraktionen - auch von Seiten der SPD, Herr Singer - geltend gemacht, die finanziellen Lasten seien von den Ländern zu tragen, und da die Finanzlage ohnehin angespannt sei, könne man es nicht verantworten, das den Ländern von oben her aufzugeben. Ich bin der Meinung, daß das wieder einmal ein Beispiel dafür ist, daß auch im Rahmen der anstehenden Steuerreform Gelder verfrühstückt werden, die man für solche notwendigen und gerechten Dinge eigentlich bräuchte. Dafür ist dann kein Geld mehr da, und aus diesem Grunde haben wir gesagt: Wir enthalten uns der Stimme. 20 DM sind mehr als 10 DM, aber das ist bei Gott keine Wiedergutmachung, und es ist nicht dem angemessen, was eigentlich angebracht wäre.
Ich hofffe, daß in drei Jahren nicht nur Bestandsaufnahme gemacht wird, sondern daß man sich endlich zu einer angemessenen und gerechten Lösung durchringt.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Stark, aber auch die anderen Vorredner haben es dankenswerterweise bereits übernommen, hier einige Klarstellungen vorzunehmen und über das aufzuklären, was hier gezahlt werden kann und wie die Entstehungsgeschichte dieser gesetzlichen Bestimmung ist. Ich halte das für wichtig, weil wir uns in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen müssen, daß es bis zum Jahre 1971 einen solchen Betrag, dessen Verdoppelung wir nun beschließen wollen, überhaupt nicht gegeben hat. Zustande gekommen ist er damals auf Grund einer Initiative der Justizministerkonferenz aus dem Jahre 1965, und bei den Beratungen im Deutschen Bundestag hat man sich schließlich auf den Pauschalbetrag von 10 DM geeinigt, um sicherzustellen, daß an dieser Stelle nicht eine Differenzierung
- etwa unter sozialen Kategorien - stattfindet, sondern dieser Betrag jedem, aber auch jedem Betroffenen zugute kommt.
Nun kann man sich, wenn man weiß, daß es sich
- darauf ist dankenswerterweise gleichfalls bereits hingewiesen worden - um ein Schmerzensgeld nicht handelt und auch nicht um eine Entschädigung, die den Verlust an Freiheit ausgleichen soll, trefflich darüber streiten, welcher Betrag eigentlich angemessen wäre. Ich will in diesem Zusammenhang noch einmal darauf hinweisen, daß das, was an Vermögensentschädigung von den Ländern aufgebracht werden muß und ausbezahlt wird, nach einer uns vorliegenden Statistik mehr als das Fünffache dessen ist, was hier heute Gegenstand der Beratung ist.
Ich begrüße es, daß wir zu der Verdoppelung kommen. Sie entspricht den wirtschaftlichen Entwicklungen. Man wird eines ferneren Tages auch wieder über eine Erhöhung nachzudenken haben. Wir tun hier einen wichtigen und richtigen Schritt, einen Schritt auf einem sicher auf Kompromiß angelegten Weg, der aber dadurch nicht unrichtiger wird.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf des Bundesrates. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Danke schön. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Stimmenthaltung der Frakion DIE GRÜNEN sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei denselben Enthaltungen wie bei der Abstimmung in der zweiten Lesung ist der Gesetzentwurf angenommen.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutigen Tagesordnung erweitert werden um die Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Mannheim-Schönau. Das ist die Drucksache 11/1992. Eine Aussprache darüber soll nicht stattfinden. - Ich sehe keinen Widerspruch gegen die Aufsetzung auf die Tagesordnung. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe diesen Punkt jetzt auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen auf Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Mannheim-Schönau
- Drucksache 11/1992 Wer für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. de With, Singer, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein ({0}), Dr. Pick, Schmidt ({1}), Schütz, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Untersuchungshaft
- Drucksache 11/688 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Vollzug von Untersuchungshaft bezweckt die Sicherung des Strafverfahrens, soll die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe sicherstellen und eine funktionstüchtige Strafrechtspflege gewährleisten. Dabei darf die Untersuchungshaft nicht vorweggenommene Strafe sein. Sie dient lediglich der Sicherung der Person des Beschuldigten und der Integrität der Beweismittel, von denen die Feststellung der Wahrheit und damit die gerechte Entscheidung abhängt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn sie unbedingt notwendig erscheint. Da kaum eine andere staatliche Maßnahme derart nachhaltig in die menschliche Existenz eingreift, ist die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes hier von ganz besonderer Bedeutung. Der Eingriff ist nur zulässig, wenn und soweit die vollständige Aufklärung der Tat und die rasche Durchführung des Verfahrens, einschließlich der Urteilsvollstreckung, nicht anders gesichert werden können.
Meine Damen und Herren, seit Februar 1987, d. h. seit über einem Jahr, liegt eine von der Bundesregierung in Auftrag gegebene empirische Untersuchung
zur Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in der Bundesrepublik Deutschland vor, die allen Anlaß gibt, das geltende Recht der Untersuchungshaft gründlich zu überarbeiten. Nach den Feststellungen dieser Untersuchung und nach den Feststellungen der deutschen Strafverteidiger im Deutschen Anwaltverein wird in der Bundesrepublik Deutschland, verglichen mit westeuropäischen Staaten, nach wie vor zu oft, zu schnell und für zu lange Zeit verhaftet.
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Nur gegen etwa die Hälte der Untersuchungsgefangenen wird anschließend eine Freiheitsstrafe ohne Bewährung verhängt. Das sind etwa 55 %.
Die Haftrichter erhalten vor Erlaß der Haftbefehle nur selten ausreichende Informationen über die persönlichen und sozialen Verhältnisse der Beschuldigten. Häufig sind ihnen nicht einmal die strafrechtlichen Vorbelastungen bekannt. Haftbefehle wegen Flucht oder Fluchtgefahr, die nach wie vor den Löwenanteil von über 90 % ausmachen, werden immer noch zu häufig lediglich mit formelhaften und nichtssagenden Wendungen begründet. Ebenfalls häufig wird bei der Anordnung der Untersuchungshaft der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht genügend beachtet. So wird Untersuchungshaft vielfach auch im Bagatellbereich, z. B. wegen Beförderungserschleichung, wegen Hausfriedensbruchs durch Übertretung von Hausverboten in Bahnhöfen und selbst bei Vermögensdelikten mit Schäden von unter 100 DM verhängt.
Der hohe Rang des Rechtsguts der persönlichen Freiheit erfordert daher ein Einschreiten des Gesetzgebers, damit der Auftrag der Verfassung, das Grundrecht der persönlichen Freiheit zu schützen, und die Erfordernisse einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege in ein zeitgerechtes, ausgewogenes Verhältnis gebracht werden und den Anforderungen unseres Grundgesetzes entsprochen wird.
Der von uns vorgelegte Gesetzentwurf berücksichtigt die rechtstatsächlichen Ergebnisse der von mir erwähnten empirischen Untersuchungen. Ziel des Entwurfs ist es insbesondere, den Haftgrund der Fluchtgefahr zurückzudrängen und den verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wieder stärker wirksam werden zu lassen. Wir knüpfen in unserem Entwurf den Erlaß eines Haftbefehls an engere Voraussetzungen. Für den Vollzug der U-Haft wegen Verdunklungsgefahr wird eine absolute Höchstdauer, wie sie bisher nur für die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr gilt, bestimmt.
Im einzelnen sieht der Entwurf vor: Der Haftgrund der Fluchtgefahr wird künftig nur noch dann bejaht werden können, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die dringende Gefahr besteht, daß der Beschuldigte oder Angeklagte sich nicht nur vorübergehend dem Verfahren entziehen will. Beim vorübergehenden Sich-Entziehen kann nach unserer Ansicht mit polizeilicher Vorführung und dergleichen wirksam gearbeitet werden. Dazu bedarf es nicht des gravierenden Eingriffs einer mehrere Tage, mitunter sogar Wochen dauernden U-Haft.
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Darüber hinaus soll gesetzlich klargestellt werden, daß bei der Würdigung der Umstände des Einzelfalls auch die persönlichen und sozialen Verhältnisse und Umstände des Beschuldigten berücksichtigt werden müssen. In vielen Fällen hat sich herausgestellt, daß bei rechtzeitiger Einschaltung von Gerichtshelfern und Bewährungshelfern Untersuchungshaft vermieden werden kann. Schließlich wird ein Grundsatz, daß die Fluchtgefahr nicht allein mit der Höhe der zu erwartenden Strafe begründet werden darf, ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen. Dieser Grundsatz ist in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und der Oberlandesgerichte zwar mehrfach bekräftigt worden. Wie die Dokumentation für das Forum des Deutschen Anwaltsvereins zum Recht der Untersuchungshaft nachweist, gibt es jedoch nach wie vor eine Fülle von Haftentscheidungen, in denen gegen diesen Grundsatz immer wieder verstoßen wird.
Auch für Bagatelldelikte wird die Möglichkeit, Untersuchungshaft anzuordnen, eingeschränkt. In der Zukunft darf die Untersuchungshaft bei Taten, die nur mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht sind, nur angeordnet werden, wenn der Beschuldigte sich dem Verfahren bereits einmal entzogen hatte, Anstalten zur Flucht getroffen hat oder in der Bundesrepublik Deutschland ohne festen Aufenthalt ist.
Der sogenannte Haftgrund der Tatschwere nach § 112 Abs. 3 StPO wird, der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgend, in der Weise eingeschränkt, daß für den Erlaß eines Haftbefehls in diesen Fällen der Schwerkriminalität jedenfalls hinreichende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Haftgrunds gegeben sein müssen.
Auch beim Haftgrund der Wiederholungsgefahr, der in der Praxis - hier bin ich fast geneigt, zu sagen: Gott sei Dank - nicht die Rolle spielt, die sich seine Befürworter seinerzeit vorgestellt haben, kommen wir zu einer Einschränkung. Er wird an eine Straferwartung von mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe und damit im Gegensatz zum geltenden Recht an eine Strafhöhe gebunden, bei der eine Strafaussetzung zur Bewährung nicht mehr in Betracht kommt. Wir halten das für logisch und zwingend. Außerdem darf Untersuchungshaft aus diesem Grund künftig nur noch verhängt werden, wenn der Beschuldigte während der letzten drei Jahre - statt früher fünf Jahre - wegen einer Straftat gleicher Art verurteilt worden ist.
Auf der anderen Seite erweitern wir allerdings die Voraussetzungen, und zwar auf die besonders gemeinschädlichen Fälle der §§ 283, 283 a StGB ({2}) und auf die §§ 330, 330a StGB ({3}).
Schließlich wollen wir die bisher geltende Höchstdauer der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr auch auf die Fälle der Haft wegen Verdunklungsgefahr erstrecken. Die Höchstdauer soll ein Jahr betragen. Wir gehen von der Annahme aus, daß selbst in schwierigen und umfangreichen Verfahren innerhalb eines Jahres ein Fall so weit durchermittelt werden kann, daß Verdunklungsversuche fehlschlagen. Nur für den Fall, daß sich während dieses einen Jahres
ein neuer Haftgrund nach § 112 ergibt, darf die Frist um ein Jahr verlängert werden.
Wir haben uns auch zu einer völligen Neufassung des § 116 StPO entschlossen, von dem leider zu wenig Gebrauch gemacht wird. Um unnötige Haftbefehle zu vermeiden, wird gesetzlich klargestellt, daß ein Haftbefehl nicht erlassen werden darf, wenn mildere Maßnahmen geeignet erscheinen, den Zweck der Untersuchungshaft zu erreichen. Zu diesen milderen Maßnahmen gehören Meldepflicht bei der Polizei und ständiger Kontakt zum Bewährungshelfer. Das wird schon nach geltendem Recht so gehandhabt. Nur, das hat bisher lediglich dazu führen können, daß ein Haftbefehl erlassen und außer Vollzug gesetzt wurde. Wir möchten, daß der Haftbefehl in diesen Fällen, in denen die milderen Maßnahmen ausreichen, gar nicht erst in Kraft gesetzt wird, um auf diese Weise die Stigmatisierung des Beschuldigten zu vermeiden.
Abs. 2 Satz i des neuen § 116 StPO verbietet darüber hinaus Anordnungen, mit denen der Beschuldigte nicht einverstanden ist. Diese Regelung verwundert auf den ersten Blick etwas. Aber es gibt durchaus Fälle, wo die sogenannten milderen Maßnahmen einem Beschuldigten weniger erträglich als die Untersuchungshaft erscheinen. Wir meinen, daß der Beschuldigte, der sich dagegen wehrt, die Untersuchungshaft in Kauf nehmen muß.
Die einzelnen Maßnahmen des neuen § 116 entsprechen im wesentlichen dem Katalog des bisher geltenden Rechts, nur heben wir die Zuordnung zu ganz bestimmten Haftgründen auf. Das hat sich in der Praxis nicht bewährt, und das halten wir auch für entbehrlich.
Wir wollen die Sicherheitsleistung auch für weniger wohlhabende, weniger vermögende Beschuldigte erweitern. Auch diesen muß die Möglichkeit eingeräumt werden, durch Gestellung einer Sicherheit, einer Kaution, die Haft abzuwenden. Uns hat es immer gestört, daß diese Art der Haftbefehlsvermeidung ein Privileg für Vermögende und Wohlhabende war.
Schließlich werden wir durch die Einführung des § 131 a der Strafprozeßordnung gesetzlich klarstellen, daß zur Aufklärung der persönlichen und sozialen Umstände des Beschuldigten die Gerichtshilfe herangezogen werden kann und der Haftrichter auch den Bewährungshelfer, sofern einer bestellt ist, fragen soll und fragen kann. Diese Möglichkeiten werden zu wenig genutzt. Sie können in vielen Fällen Irrtümer und mangelnde Informationen beseitigen.
Logischerweise erweitern wir natürlich die Möglichkeiten der sofortigen polizeilichen Vorführung im Verfahren. Wer die Untersuchungshaft einschränkt, muß, um eine zügige Durchführung des Strafverfahrens zu gewährleisten, hier dem Richter die Möglichkeit geben, schon mit der Ladung, wenn er erwartet, daß der Angeklagte nicht kommt, zu verfügen, daß die polizeiliche Vorführung angeordnet wird. Das belastet den Beschuldigten weit weniger als die U-Haft und sichert das Verfahren.
Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der von uns vorgelegte Gesetzentwurf die Zahl der Fälle von Untersuchungshaft mit hoher Wahrscheinlichkeit zurückgehen läßt, damit auch zu weniger Entschädigungszahlungen, von denen wir eben gesprochen haben, führen wird, und insgesamt einen Schritt zu mehr rechtsstaatlichen Verhältnissen bedeutet.
Interessant war für mich in diesem Zusammenhang die Reaktion des Bundesjustizministeriums auf unseren Entwurf. Nach dem mir vorliegenden Zitat aus der „Frankfurter Rundschau" vom 12. August 1987 sei unser Entwurf „unseriös, weil ohne jede fachliche Absicherung durch die Erfahrungen der anwaltlichen und gerichtlichen Praxis". Auf der anderen Seite ist in derselben Stellungnahme des Ministeriums erklärt worden, daß unsere Vorschläge in weiten Teilen mit den Lösungsansätzen eines Positionspapiers des Ministeriums deckungsgleich seien. Wir sind gespannt darauf; dieses Positionspapier ist uns noch nicht bekannt.
Wir sehen den Beratungen im Rechtsausschuß mit Interesse entgegen und sind sicher, daß wir zu einer vernünftigen, angemessenen und zeitnahen Lösung kommen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Marschewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Singer hat hier den Begriff der Notwendigkeit eingeführt. Ich will das zum Anlaß nehmen, kurz einmal in die Geschichte zurückzublicken. Wenn es nicht nötig ist, Herr Kollege Singer, ein Gesetz zu erlassen, so ist es nowendig, keines zu erlassen. Ich meine, dieser Montesquieusche Imperativ sollte den Regelungsdrang insbesondere der Rechtspolitiker ein wenig begrenzen helfen.
Wird in der Bundesrepublik wirklich zu viel und zu schnell verhaftet und zu lange eingesperrt, wie es der Deutsche Anwaltverein vor ein paar Jahren, Herr Kollege, behauptet hat?
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Dieser ersten Frage folgt eine weitere: Woran liegt es eigentlich, daß nach der dann einsetzenden Diskussion die Haftzahlen, die Haftpopulation nicht unerheblich zurückgegangen sind? Es gibt wohl keine andere Erklärung als diese: Die öffentliche Diskussion hat insbesondere zu einer großen Sensibilisierung bei Gerichten und bei Ermittlungsbehörden geführt. Eine Reduzierung der Haftzahlen von 40 000 auf 30 000 zeigt, welch großen Spielraum das geltende Recht der Praxis gegeben hat.
Zugleich, meine ich, ist dies aber ein erfreuliches Zeichen dafür, daß die Praxis bereit ist, problematische Entwicklungen auch ohne Rechtsänderungen zu korrigieren. Denn, meine Damen und Herren, das Strafprozeßrecht und seine Anwendung ist, so meine ich, der Seismograph der Staatsverfassung. Dies hat insbesondere da deutlich zu werden, wo es um den schwerwiegendsten Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen, um die Verhaftung, geht.
Daher sage ich dem Herrn Bundesjustizminister herzlichen Dank dafür, daß er unmittelbar nach EinMarschewski
setzen der Diskussionen eine Untersuchung zur Rechtswirklichkeit der Untersuchungshaft in Auftrag gegeben hat, deren Ergebnisse nunmehr festliegen. Die Dauer der Untersuchungshaft, ist danach mit durchschnittlich 114 Tagen im europäischen Vergleich immer noch zu hoch. Da stimme ich Ihnen, Herr Kollege Singer, selbstverständlich zu.
Nachdenklich stimmt auch, daß bei nicht einmal der Hälfte der Fälle, in denen die Fluchtgefahr wegen der Höhe der Straferwartung Anlaß für einen Haftbefehl war, das Verfahren mit einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr abgeschlossen wurde. Dies stellt, so meine ich, genauso eine Nichtbeachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dar wie die Tatsache, daß in etwa 18 % der Haftbefehl bei Bagatelldelikten ein Ausspruch erfolgte. Auch dies, so meine ich, sollte überlegt werden.
Was die Haftverschonung, die Sie auch angesprochen haben, betrifft: Nicht einmal in einem Viertel der Fälle wurde die Untersuchungshaft ausgesetzt. Dies zeigt natürlich, daß ein gewisser - ich sage ganz bewußt: gewisser - gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht.
Wir werden uns daher der ständigen Aufgabe stellen, die Rechte des einzelnen und die Interessen der Gesellschaft gegeneinander abzuwägen. Wir werden den Freiheitsanspruch des Bürgers sichern; wir haben aber auch gleichzeitig die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege zu beachten.
Nun ein paar Worte zum Antrag der SPD-Fraktion. Ich meine, soweit die Problemanalyse gewisse Postulate hervorruft, stimmen wir sicherlich bei dem einen oder anderen überein, Herr Kollege Singer. Soweit in Ihrem Antrag das Ziel verfolgt wird, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder die Haftentscheidungshilfe zu verbessern, kann man selbstverständlich über verschiedene Dinge reden. Ich bin der Meinung, daß Ihr Entwurf nicht immer dem Umstand Rechnung trägt, die Durchführung eines geordneten Verfahrens zu gewährleisten und die spätere Vollstreckung sicherzustellen. Ich habe - lassen Sie mich dies einmal sagen - den Eindruck: Ihr Entwurf ist hier doch ein wenig übereilt gefertigt worden. Ich werde versuchen, dies ein bißchen zu erläutern.
Ich denke z. B. an Ihren Vorschlag, Fluchtgefahr nur dann anzunehmen, wenn die dringende Gefahr besteht, daß der Beschuldigte sich nicht nur vorübergehend dem Strafverfahren entziehen werde. Meinen Sie wirklich, daß die rein deklaratorische Festlegung und Hervorhebung der persönlichen Verhältnisse im Gesetzestext geeignet ist, die Zahl der Haftfälle zu mindern? Dies wird ja - das wissen Sie - bereits nach geltendem Recht berücksichtigt.
Was Ihren Vorschlag angeht, daß Fluchtgefahr nur dann angenommen werden dürfe, wenn die dringende Gefahr bestünde, daß sich der Beschuldigte dem Verfahren nicht nur vorübergehend entziehen werde: Die Realisierung dieses Vorschlags hätte zur Folge, daß ein Haftbefehl selbst dann nicht ergehen könnte, wenn eindeutig feststeht, daß sich der Beschuldigte ein paar Tage vor dem Hauptverhandlungstermin dem Verfahren durch kurzfristige Flucht
entziehen wird. Das will doch, so meine ich, keiner in diesem Hause.
Das gilt auch für den SPD-Vorschlag zu § 113 der Strafprozeßordnung, nämlich für den Ausschluß der Untersuchungshaft bei sogenannter kleiner Kriminalität. Das sind Verfahrensvorschriften, aber wir wollen sie kurz ansprechen. Sie schlagen vor, daß, wenn eine Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bedroht ist, Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr nur dann angeordnet werden soll, wenn sich der Beschuldigte dem Verfahren bereits einmal entzogen oder Anstalten zur Flucht getroffen hat. Dies hat aber - Herr Kollege Singer, Sie wissen das natürlich aus Ihrer beruflichen Tätigkeit als Staatsanwalt - zur Folge, daß bei Delikten wie schwerem Hausfriedensbruch oder bei Bestechungsdelikten in der Form der Vorteilsannahme und Vorteilsgewährung oder bei Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte Untersuchungshaft grundsätzlich von vornherein ausgeschlossen ist. Ich meine, eine solche Regelung wäre schwerlich mit dem Zweck der Untersuchungshaft vereinbar, die Durchführung des Verfahrens zu sichern.
Dies ist auch, so glaube ich, bei Ihrem Vorschlag zu befürchten, den Sie gerade noch einmal angesprochen haben, nämlich die Untersuchungshaft wegen Verdunkelungsgefahr grundsätzlich auf ein Jahr zu beschränken. Auch dies widerspricht der Praxis. Ich denke insbesondere an etwas umfangreiche Wirtschaftsstrafverfahren.
Dieser Widerspruch wird, so meine ich, auch nicht dadurch aufgelöst, daß in Ihrem Entwurf ausnahmsweise eine Haftstrafe von zwei Jahren - abstrakt natürlich - vorgesehen wird; denn diese Ausnahme soll ja nur dann gelten, wenn ein neuer Haftgrund der Verdunkelungsgefahr hinzukommt. Gerade in diesem Punkt sollten wir doch etwas sensibel sein, meine Kollegen von der SPD. Ich glaube nicht, daß der Bürger das akzeptieren und wirklich als angemessen begreifen würde.
Recht ist doch eigentlich - so verstehen wird es - auf Übereinstimmung angelegt. Diese Übereinstimmung wollen wir erzielen. Wir werden Sie von der Spannung, die Sie vorher hatten - ich darf das unter Kollegen einmal so sagen - , ein bißchen zu erlösen versuchen:
Erstens. Wir werden darüber nachdenken, die Untersuchungshaft wegen Fluchtgefahr bei kleiner Kriminalität von der Straferwartung des konkreten Falles abhängig zu machen; keine Untersuchungshaft also, wenn im Einzelfall eine Freiheitsstrafe von höchstens einem Jahr zu erwarten ist; aber im konkreten Falle, nicht im abstrakten Falle, wie Sie es in Ihrem Entwurf vorsehen. Wir tun das, weil wir damit ungefähr 40 % der bisherigen Fälle erfassen. Das wird sicherlich dazu führen, die U-Haft-Zahlen herabzusetzen.
Ein Zweites: Erforderlich ist auch, so meine ich, etwas öfter als bisher Haftverschonung anzuordnen. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, den Katalog des § 116 der Strafprozeßordnung ein wenig zu erweitern, wobei ich z. B. an einen Paß- oder Personalausweisentzug denke.
Drittens - ein ganz wichtiger Punkt - : Diese Koalition wird sich darüber hinaus mit den Vorausset4690
zungen und der Durchführung der Untersuchungshaft bei jungen Menschen beschäftigen müssen.
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Herr Minister, apokryphe Haftgründe: Untersuchungshaft in der Regel vielleicht erst ab 16 Jahren, pädagogische Betreuung, mehr Heimplätze. Das sind in diesem sehr wichtigen Bereich - auch wegen der Kürze der Zeit - nur ein paar sehr bemerkenswerte Stichpunkte.
Wir werden natürlich über Aufgaben, Zweck und Grenzen der U-Haft erneut befinden müssen; denn darin sind wir uns, so hoffe ich - davon gehe ich aus -, in diesem Hause alle einig: Die Freiheit darf nur eingeschränkt werden, wenn das zur Sicherung der Rechtspflege und zur Bewahrung des Rechtsfriedens unabweisbar notwendig ist. Insbesondere wir Rechtspolitiker sind aufgefordert, hier insgesamt die richtigen, die unabweisbaren Grenzlinien zu ziehen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir selber haben auch einen Gesetzentwurf zu dieser Problematik in Arbeit. Von daher gesehen hätte ich gerne viel dazu gesagt. Das geht nicht; ich beschränke mich auf die wichtigsten Sachen.
Der Entwurf der SPD geht - wie schon richtig gesagt wurde - auf eine angespannte Situation bezüglich der Zahl der Untersuchungsgefangenen zu Beginn der 80er Jahre zurück. Damals wurden sehr viele Menschen eingesperrt, die hinterher nicht verurteilt wurden. Das ist zu Recht kritisiert worden. Die Kritik der Anwaltsvereinigungen richtete sich vor allen Dingen gegen die Praxis der Gerichte, mit pauschalen Begründungen und eine überhöhte Straferwartung voraussetzend in vielen Fällen Untersuchungshaft anzuordnen, in denen sie an sich nicht erforderlich gewesen wäre.
Die meisten der damaligen Gesetzesvorschläge begnügten sich weitgehend damit, die Voraussetzungen in § 112 der Strafprozeßordnung für die Anordnung der Untersuchungshaft dadurch einzuschränken, daß der Begriff der Fluchtgefahr, der in 94 % der Fälle als Grund für den Haftbefehl genannt wird, durch hinzufügen des Wortes „dringend" konkretisiert werden sollte.
Der Arbeitskreis Strafprozeßreform trat 1983 mit einem kompletten Entwurf zur Regelung der Untersuchungshaft an die Öffentlichkeit. Dieser Entwurf geht weit über die DAV-Stellungnahmen und auch über den jetzt vorgelegten SPD-Entwurf hinaus. Nach diesem Entwurf sollte Untersuchungshaft z. B. nur möglich sein, wenn wegen der in Rede stehenden Tat eine vollstreckbare Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr zu erwarten sei.
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Wir sind der Meinung, daß die Regelung, die die SPD jetzt in ihrem Entwurf vorgelegt hat, der damaligen Diskussion nicht angemessen ist. Wir werden in unserem Entwurf eine absolute Höchstdauer von sechs Monaten bis zum Beginn der Hauptverhandlung vorschlagen. Es ist ja immer noch so, daß trotz U-Haft von der Unschuldsvermutung auszugehen ist. Die Untersuchungsgefangenen haben als unschuldig zu gelten. Wir finden, es ist angemessen, daß in diesen Fällen eine intensivere und konzentriertere Ermittlungstätigkeit der Staatsanwaltschaft und Polizei durchgeführt wird, damit die Betroffenen nicht so lange in U-Haft sitzen müssen.
Ein ganz wichtiger Punkt in der Debatte ist auch die Tatsache, daß bereits der Arbeitskreis Strafprozeßreform ebenso wie der Deutsche Strafverteidigertag eine Streichung der §§ 112 Abs. 3 und 112a Strafprozeßordnung, als mit dem Strafverfahrensrecht unvereinbare Vorschriften zur reinen Gefahrenabwehr gefordert haben. Das ist ein ganz heißes Eisen; das wissen wir. Aber wir glauben, Herr Singer, daß die SPD hier überhaupt nichts Substantielles vorgelegt hat, daß das heiße Eisen nicht angefaßt worden ist.
Es ist ja so, daß selbst in der hier von Schöch und Schreiber im Auftrag der Bundesregierung vorgelegten umfangreichen Untersuchung festgestellt und kritisiert wird, daß bei vielen Urteilen ein Automatismus im Zusammenhang mit § 112 Abs. 3 zu beobachten ist. Diese Kommission hat angeregt, entweder § 112 Abs. 3 zu streichen oder zumindest die §§ 129a und 311 Strafgesetzbuch aus § 112 Abs. 3 herauszunehmen und die Vorschrift insgesamt an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anzupassen.
Dem ist im SPD-Entwurf nicht Rechnung getragen worden, und man hat sogar noch die alte Tradition - die bisher immer sichtbar war - , den Haftgrund der Wiederholungsgefahr über Jahrzehnte immer weiter auszudehnen, fortgesetzt.
Sie haben schon gesagt, Herr Singer, daß Sie hier schwere Umweltkriminalität mit hineingenommen haben. Wir glauben, daß die Debatte darüber natürlich geführt werden muß, aber nicht im Zusammenhang mit U-Haft. Da muß ganz woanders angesetzt werden, weil die Elemente der U-Haft-Regelung überhaupt nicht geeignet sind, der schweren Umweltkriminalität vorzubeugen.
Besonders wichtig ist für uns auch noch die Frage einer Pflichtverteidigung für U-Häftlinge. Unserer Vorstellung nach soll der Beschuldigte sofort, nachdem er verhaftet worden ist, einen Pflichtverteidiger gestellt bekommen, wenn U-Haft droht. Denn nur ein Anwalt ist in der Lage, für eine verbesserte Erkenntnisbasis im Interesse des Beschuldigten zu sorgen, indem er dem Haftrichter Informationen über das persönliche und soziale Umfeld des Beschuldigten anbietet. Das Einsperren eines nach der Verfassung als unschuldig geltenden Bürgers ist ein so gravierendes „Sonderopfer", daß eine vernünftige Betreuung und auch Vertretung dieses Gefangenen gewährleistet sein muß.
Herr Präsident, wenn Sie gestatten, würde ich ganz gern noch einen Punkt anführen, der mir in dem Zusammenhang ganz wichtig ist - Herr Marschewski hat das ja auch schon angesprochen - : In dem Entwurf der SPD fehlt vollständig der Bereich UntersuFrau Nickels
chungshaft für Jugendliche. Jugendliche haben hier sehr stark zu leiden. Es ist so, daß im Jugendgerichtsgesetz schon Möglichkeiten vorgesehen werden, anderweitige Lösungen zu finden. Sie haben das ja auch vorgeschlagen. Aber wir glauben, daß das nicht ausreicht.
In der Untersuchung von Schöch und Schreiber wird auf Seite 154 festgestellt, daß gerade junge Menschen, Jugendliche und Heranwachsende, die in U-Haft genommen wurden, später sogar noch seltener zu vollstreckbaren Freiheitsstrafen verurteilt werden als Erwachsene. Dabei ist es so, daß gerade Jugendliche, die bisher noch nicht mit der Strafvollzugsanstalt in Berührung gekommen sind, besonders häufig sehr stark gebrochen werden und überhaupt nicht mit dieser Situation fertig werden. In dem Zusammenhang muß man auch die Selbstmordrate von jugendlichen U-Häftlingen ansprechen. Wir glauben, daß hier unbedingt etwas passieren muß.
Insgesamt ist es wichtig, daß die öffentliche Debatte, die auch jetzt schon zu einer Senkung der Zahl der Untersuchungshäftlinge geführt hat, weitergeführt wird. Aber, Herr Marschewski, man muß auch sicherstellen, daß in Zeiten, in denen die Debatte nicht mehr so intensiv geführt wird, nicht über das Gesetz festgeschrieben bleibt, daß wieder eine unangemessene Anzahl von Menschen, bei denen das nicht nötig wird, in U-Haft genommen werden können.
Danke schön.
Frau Nickels, es ist ja immer wieder erstaunlich, wie viele Worte auf eine Zeiteinheit gehen, gerade wenn man das mit den folgenden Rednern in Vergleich setzt.
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Herr Funke ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich werde mich bemühen, auch etwas schneller zu sprechen.
Vielleicht erreichen Sie einen Mittelwert zwischen den letzten drei Rednern.
Ich sage das deshalb, weil Sie ja gesagt haben: wenn man das mit den folgenden Rednern in Vergleich setzt.
Meine Damen und Herren, wir sehen mit großem Interesse, daß es offensichtlich die Politik der Sozialdemokraten im rechtspolitischen Bereich geworden ist, kurz vor Veröffentlichung der Gesetzentwürfe der Bundesregierung das gleiche Thema auch einmal aufzugreifen, um sozusagen in der Öffentlichkeit den Eindruck entstehen zu lassen, als ob die Bundesregierung nunmehr auf Grund des Drucks der Sozialdemokraten aktiv werde. Dies konnten wir in der Vergangenheit häufiger feststellen.
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- Herr Kollege Singer, ich will das auch gar nicht kritisieren, sondern lediglich einmal feststellen
- denn wir sehen das ja in den Debatten der letzten
Wochen - : Sie kommen jedesmal mit einer Gesetzesinitiative, zu der wir dann sagen können: Die Bundesregierung wird in einem oder zwei Monaten ebenfalls eine Gesetzesinitiative ergreifen; die Arbeiten dazu sind voll in Gang. Ich kritisiere das auch gar nicht, sondern ich stelle das lediglich fest. Ich gewinne dem sogar gute Seiten ab, Herr Singer, weil auf diese Weise diese wichtigen rechtspolitischen Aufgaben, die wir uns alle gestellt haben, auch hier in der Öffentlichkeit - wenn allerdings offensichtlich auch in einem sehr kleinen Rahmen - problematisiert werden. Das hat auch seine guten Seiten.
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Meine Damen und Herren, diese Diskussion - darauf haben Herr Singer und Herr Marschewski schon hingewiesen - geht seit 1982/83. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an das Schlagwort, das vom Deutschen Anwaltsverein geprägt worden ist, in der Bundesrepublik werde zu viel und zu lange verhaftet. Aber solche oberflächlichen Schlagworte - das muß ich gegenüber meinem eigenen Verein, in dem ich auch Mitglied bin, sagen - helfen uns bei der Gesetzesberatung wenig. Deswegen waren empirische Untersuchungen in allen Bundesländern notwendig. Diese liegen jetzt vor. Sie haben eine wissenschaftliche Begleitung bekommen. Mit diesen Ergebnissen können wir etwas anfangen. Sie sind eine gute Diskussionsgrundlage für unser Gesetzesvorhaben.
Ich will auch gleich sagen, dazu zähle ich auch den Entwurf der Sozialdemokraten, denn diesen sollten wir ebenfalls als Diskussionsgrundlage nehmen. So erscheint mir z. B. die beabsichtigte Neufassung des § 112 Abs. 3, also die Angleichung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vom Grundsatz her sehr akzeptabel zu sein. Sicherlich werden wir dieses hier mitaufnehmen.
Das gleiche gilt für § 116 hinsichtlich der Ersatzmaßnahmen. Insoweit könnte man Ihren Antrag, Herr Singer, auch noch weiter fassen, indem wir Paß- und Personalausweis-Entzug mit vorsehen. Ich glaube, da werden wir auf einen gemeinsamen Nenner kommen können.
Ob die Ergänzung der Haftbefehlsvoraussetzungen, wie Sie es in § 112 Abs. 2 StPO vorsehen, eine wesentliche Entlastung bei den Untersuchungshaftzahlen mit sich bringt, wagen wir zu bezweifeln. Statt dessen scheint uns eine Regelung unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit sinnvoll, wonach im Regelfall keine U-Haft erforderlich ist, wenn keine höhere Strafe zu erwarten ist als Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird. Ich glaube, insoweit sind wir völlig identisch, Herr Marschewski. Wir können da eine ganz vernünftige Regelung finden.
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Eine solche Regelung wird auch insoweit einen gewissen Erfolg haben, als damit die bisherigen Untersuchungshaftfälle um 40 % verringert werden können. Das scheint mir auch notwendig zu sein.
Lassen Sie mich bitte in diesem Zusammenhang noch eines sagen. Mich bedrückt wirklich, daß wir heute noch einen Strafvollzug in der Untersuchungshaft haben, der allzu häufig menschenunwürdig ist. Auch insoweit möchte ich Frau Nickels recht geben: Die Vermutung der Unschuld der Untersuchungshäftlinge gilt nun einmal, wir wollen auch davon ausgehen darum müssen wir diesen Menschen dann auch eine menschenwürdige Unterkunft geben. Ich sage einmal bewußt: Unterkunft. Ich weiß, daß die Gefängnisse weder im sanitären noch im sozialen Bereich diesen Erfordernissen gerecht werden. Ich weiß, daß die Länder zur Zeit kein Geld haben. Aber wenn wir die Untersuchungshaftzeit verkürzen, und zwar entscheidend verkürzen, können wir natürlich auch Modernisierungsmaßnahmen einleiten, die dazu führen, daß die Untersuchungshaftanstalten moderner werden und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.
Lassen Sie mich abschließend sagen, daß wir der Novellierung des Rechts der Untersuchungshaft eine hohe Priorität einräumen und diese zu erwartende Novelle zügig beraten werden.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Untersuchungshaft ist der schwerste Eingriff in die persönlichen Rechte, den die Rechtsgemeinschaft im Interesse der Sicherung der Strafrechtspflege dem Bürger abverlangt. Dabei sprechen wir hier - das kann gar nicht oft genug betont werden - von einem Bürger, für den noch die Unschuldsvermutung streitet.
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Die Praxis der Untersuchungshaft muß deshalb auch immer wieder kritisch betrachtet werden.
Ich bin der deutschen Anwaltschaft dankbar, daß sie Ende 1982 eine solche Wertung eingefordert hat. Ihr Vorwurf, es werde zu oft, zu schnell, zu lange verhaftet, konnte sich darauf stützen, daß wir Anfang dieses Jahrzehnts im Vergleich zu anderen westeuropäischen Staaten mit 30 Fällen von Untersuchungshaft pro 100 000 Einwohner im oberen Bereich lagen.
Ich habe bei der damals wieder begonnenen Diskussion - Jahreswende 1982/83 - die Untersuchung bei der Universität Göttingen in Gang gesetzt.
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Dankenswerterweise hat Herr Kollege Marschewski das in der Dimension schon besonders lobend hervorgehoben. Ich glaube aber, daß das Bundesministerium der Justiz gerade hier sein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen braucht. Denn es war ja über die Jahre und Jahrzehnte immer wieder so, daß diese Frage von Zeit zu Zeit in die Diskussion kam. Da wurden kluge Worte gewechselt, da wurde heftig gestritten, nur: immer auf dem Hintergrund eines weithin fehlenden rechtstatsächlichen Wissens. Da traten häufig der Glaube und die Überzeugung und einzelne sehr eindrucksvolle Beispiele an die Stelle dessen,
was man im Grunde braucht, wenn man vernünftige Arbeit leisten will, nämlich ganz handfeste Zahlen und Ergebnisse über einen längeren Zeitraum.
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Deswegen habe ich damals gesagt: Jetzt wird einige Jahre - leider - Sendepause sein müssen. Denn eine sorgfältige Untersuchung nimmt Zeit in Anspruch. Wir haben die Untersuchung aus Göttingen im Mai 1987 bekommen. Sie hatten den Februar erwähnt, Herr Kollege Singer. Das war der erste und vorläufige Bericht. Wir legen schon Wert darauf, nach dem endgültigen zu arbeiten, und haben uns daran orientiert. Wir haben dann zunächst mit den Ländern sehr eingehende Besprechungen geführt. Das muß ja auch sein.
Wenn die SPD hier vorprellend - was ihr gutes Recht, ja vielleicht auch die Pflicht der Opposition ist - einen Beitrag mit einem Entwurf geleistet hat, so ist das nicht zu beanstanden. Ich sage nur: Es wird in aller Kürze seitens der Bundesregierung ein sehr fundierter und abgerundeter Entwurf vorgelegt werden, der dann alles, aber auch alles und insbesondere auch das, was wir in den Gesprächen mit den Ländern an zusätzlichem Wissen und an Kenntnissen erhalten haben, einbezieht.
Der Entwurf der SPD-Fraktion - darauf ist bereits hingewiesen worden - will bei Straftaten, die mit höchstens zwei Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind, Haft wegen Fluchtgefahr ganz ausschließen. Das wäre auf das Ganze gesehen aber ein sehr wenig wirksames Mittel, da nur 3 % aller Fälle von Untersuchungshaft damit erfaßt würden. Zum anderen halte ich es für bedenklich, bei allen diesen Delikten Untersuchungshaft generell zu untersagen. Es muß hier auf den Einzelfall abgestellt werden.
Es wäre wohl besser, an konkrete Straferwartungen anzuknüpfen. Untersuchungshaft könnte etwa dann entfallen - auf diesen Gedanken ist ja bereits hingewiesen worden - , wenn keine höhere Strafe als Geldstrafe oder Freiheitsstrafe von einem Jahr mit Bewährung zu erwarten ist. Im Bereich der kleineren Kriminalität könnte dann dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz am ehesten Rechnung getragen werden. Eine solche Regelung wäre in bis zu 40 % aller Untersuchungshaftfälle anwendbar. Der Richter könnte die erforderliche Prognose im übrigen auch durchaus stellen. Und diese Regelung würde es in bestimmten Einzelfällen aber auch möglich machen, die Haft anzuordnen.
Mir geht der Vorschlag der SPD-Fraktion zu weit, Untersuchungshaft von dringender Fluchtgefahr und nicht nur von der bloßen Gefahr abhängig zu machen. Dazu ist bereits eine Menge gesagt worden.
Ich möchte abschließend noch auf einen Punkt zu sprechen kommen. Das ist die wichtige Frage der Jugendlichen.
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Wir werden uns dieses Problems in mehrfacher Weise besonders annehmen, weil die Untersuchung der Universität Göttingen in eindrucksvoller Weise ergeben hat, daß der Jugendrichter sehr häufig nicht aus Bedenkenlosigkeit, aus Nachlässigkeit, aus FehlerhafBundesminister Engelhard
tigkeit, nein, aus einer zwingenden Verlegenheit heraus zum Mittel der U-Haft greift, wenn er es mit einem Betroffenen zu tun hat, bei dem klar ist, daß er mit einem deutlichen und harten Griff aus kriminellem Milieu herausgeholt werden muß, das ihn umgibt und in das er sich begeben hat, wenn Schlimmeres nicht noch folgen soll. Und weil dann häufig die Möglichkeiten anderweitiger Unterbringung fehlen, greift man zum Mittel der U-Haft, die dafür nicht gemacht ist.
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Aber in einem Lande wie diesem mit geordneten wirtschaftlichen Verhältnissen muß es möglich sein, anderweitige Unterbringungsmöglichkeiten zu schaffen. Es darf nicht auf die Knappheit der Haushalte abgeschoben werden, daß dies nicht gehe. Andere Mittel der Unterbringung gerade für Jugendliche zu finden - das ist ein ganz zentraler Punkt, dem wir uns verpflichtet fühlen.
Es ist erwähnt worden, daß die Fälle der U-Haft in der letzten Zeit um mehr als ein Drittel zurückgegangen sind. Da sieht man, was Diskussion, öffentliche Diskussion in einem solchen Bereich mit sich bringen kann. Denn daß andere Gründe dafür maßgeblich sein sollen, ist nicht zu sehen.
Wir werden uns den Fragen weiter sehr nachdrücklich zu widmen haben. Ich glaube, wir können uns auf diese wichtige Diskussion alle gemeinsam freuen.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD an den Rechtsausschuß zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Damit sind wir, meine Damen und Herren, am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich wünsche Ihnen eine gute Osterpause mit ein bißchen Erholung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 13. April 1988, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.