Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Liste der Zusatzpunkte aufgeführt:
1. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
- Drucksachen 11/1557, 11/1787 -
2. Aktuelle Stunde: Pläne der Bundesregierung zur Änderung der Bedingungen für die Zulassung von Konfliktberatungsstellen für Schwangere
3. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 11/1917 -
4. Beratung des Antrags des Abgeordneten Volmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Lage in Panama
- Drucksache 11/1916 -
5. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Vorhaben der Deutschen Bundesbahn, die Preise ab April 1988 zu erhöhen
- Drucksache 11/1913 -
Der Zusatzpunkt 1 soll am Nachmittag nach der Aktuellen Stunde ohne Debatte zur Beratung aufgerufen werden.
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahreswirtschaftsbericht 1988 der Bundesregierung
- Drucksache 11/1733 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jahresgutachten 1987/88 des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Drucksache 11/1317 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({2}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD
Abbau der Massenarbeitslosigkeit
- Drucksachen 11/18, 11/1708 Berichterstatter: Abgeordneter Kraus
Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN sowie Entschließungsanträge und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/1920, 11/1922, 11/1923 und 11/1924 vor.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, für die gemeinsame Beratung dieser Vorlagen vier Stunden vorzusehen. - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Herrn Bundesminister für Wirtschaft das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte die Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht 1988 auch dazu nutzen, über den kurzen Zeithorizont des Jahres 1988 hinaus einige grundsätzliche konzeptionelle Überlegungen zur Wirtschaftspolitik vorzutragen.
Nur einen Teil der Zukunftsfragen, auf die wir Antworten finden müssen, kennen wir schon heute. Deshalb müssen wir uns angesichts der heraufziehenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen davor hüten, heute politische Einbahnstraßen zu
beschreiten, die wir später unter Inkaufnahme unfallträchtiger und kostspieliger Manöver wieder verlassen müßten.
Das heißt natürlich nicht, auf politische Weichenstellungen zu verzichten, denn nach wie vor sind Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit des wirtschaftspolitischen Rahmens unverzichtbar für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung. Nur darf dieser Rahmen nicht zum Korsett aus gesellschafts-, wirtschafts- und sozialpolitischen Reliquien erstarren, das von den strukturkonservativen Gralshütern der industriellen Massengesellschaft gegen jede Veränderung verteidigt wird, sondern muß Raum zur Anpassung lassen und ständig selber fortentwickelt werden.
({0})
Wir müssen uns darauf konzentrieren, die eigendynamischen Kräfte in Gesellschaft und Wirtschaft so weit zu stärken, daß die neuen Herausforderungen möglichst ohne bruchartige Verwerfungen verarbeitet werden können. Das bedeutet: Die vielschichtigen Fragen der Zukunft fordern ein vernetztes Denken, kein Kästchendenken, das immer schon die Ursache für das verbreitete Mißbehagen an solchen Konzeptionen war und das Politik aus einem Guß nahezu unmöglich gemacht hat.
Meine Damen und Herren, im Zentrum dieser Entwicklungen steht das Individuum. Die Entwicklungstendenzen führen unverkennbar weg von der traditionellen Industriegesellschaft mit Massenproduktion und Großorganisation, mit Zentralität und Normierung. Gleichzeitig verwischen sich ehedem unverrückbar scheinende Grenzen wie die zwischen Arbeit und Freizeit, Berufsleben und Ruhestand. Die Zahl der Menschen wächst, die ihr Leben stärker als bisher selbst bestimmen wollen und auf ihre eigenen Fähigkeiten setzen.
Auch der technische Fortschritt eröffnet in vielen Bereichen neue Freiheiten, Chancen zu einer persönlicheren Lebensgestaltung, und die Grenzen der umfassenden Vorsorge und Wohlfahrt durch den Staat sind in doppelter Hinsicht sichtbar geworden.
Die absehbare Bevölkerungsentwicklung erfordert eine grundlegende Reform der Sozialversicherung. Die Bürokratisierung der Gesellschaft droht Individualität, Freiheit und persönliche Verantwortung zu ersticken.
Parteien und Politiker haben das zum Teil auch schon erkannt. So hat die FDP in ihrem Liberalen Manifest in Saarbrücken am 23. Februar 1985 diese neue Tendenz folgendermaßen ausgedrückt - ich zitiere - :
Wir müssen die politischen Voraussetzungen für den Übergang von der anonymen Massengesellschaft zu einer an der Persönlichkeit orientierten und dezentralisierten Gemeinschaft schaffen. In ihr hat der einzelne den Freiraum zur sinnvollen Lebensgestaltung, zur Selbsthilfe, zur Nachbarschaftshilfe, zur Eigenverantwortung und Mitsprache. Die Liberalen fordern zum Mut auf, die Vernunft zu gebrauchen, zum Mut, sich der Zukunft zu stellen. Der Angst vor dem Fortschritt,
dem Zögern und Zaudern setzen wir eine Gesellschaft aktiver Bürger entgegen.
({1})
Mit der stärkeren Beteiligung der einzelnen an der Gestaltung der Gesellschaft hat der Prozeß des gesellschaftlichen Fortschritts eine neue Stufe der Emanzipation erreicht.
({2})
Diese fordert nicht den unselbständigen Lohnempfänger, dem Staat, Unternehmerschaft oder Gewerkschaft alle Entscheidungen abnehmen, sondern den kompetenten, selbstbewußten, mündigen Mitarbeiter als Mitunternehmer,
({3})
der zwar eines verbindlichen Rahmens gesellschaftlich organisierter Solidarität niemals wird entraten können, der nichtsdestoweniger jedoch in diesem Rahmen seine Arbeit sowie seinen Berufs- und Lebensweg weitgehend selber verantwortet.
({4})
Eine Partei, die zur bestimmenden politischen Kraft der Zukunft werden will, wird für jedermann deutlich sichtbar ihre Politik an diesem Leitbild ausrichten. Im Zentrum ihrer Bemühungen, die Arbeit zu humanisieren, wird die Idee der Selbstverwirklichung des Individuums stehen. Es ist die SPD, die, in den Strickmustern ihres überkommenen sozialstaatlichen Wachstumsmodells verfangen, die gesellschaftliche und politische Sogwirkung des postmaterialistischen Individualismus verkannte.
Meine Damen und Herren, der ganze letzte Teil des Zitats stammte von Herrn Lafontaine. Da, wo Herr Ehrenberg protestierte, begann das Zitat von Herrn Lafontaine.
Ich habe das einmal bewußt ein wenig zusammengestellt, um zu zeigen, daß man dies unabhängig von Parteizugehörigkeit sehen muß; das ist ja bei einer Zukunftskonzeption wichtig; ich hätte auch Herrn Professor Biedenkopf in manchen dieser Passagen zitieren können.
({5})
- Nein. Ich weiß, daß es Ihnen ein bißchen Schwierigkeiten macht, mit den neuen Gedanken von Herrn Lafontaine zurechtzukommen.
({6})
Aber alles, Herr Vogel, muß, wenn wir einen gemeinsamen Horizont erreichen wollen, auch einmal ohne Rücksicht auf parteipolitische Verkrampfungen gesehen werden können; das ist der Punkt.
({7})
Wenn Sie doch wenigstens einmal den Menschen ein
bißchen offener gegenübertreten würden, die in Ihren
eigenen Reihen die Verkrampfungen ablegen, dann wären wir schon ein erhebliches Stück weiter.
Meine Damen und Herren, um die Gegenwart zu meistern, muß man auch Zukunft gestalten können. Allerdings, wenn man das tun will, braucht man auch ein realistisches Bild der Ausgangslage.
({8})
Das Bild der wirtschaftlichen Lage, das von Ihnen, Herr Ehrenberg, und anderen Mitgliedern der Opposition, leider auch von manchen Unternehmensvertretern in der Öffentlichkeit erweckt wird, entspricht nicht den Tatsachen.
({9})
Es gibt natürlich - und gerade in einem Strukturwandel wird es das geben - Regionen und Branchen, die ihre Schwierigkeiten haben. Wir haben das ja auf der Montankonferenz vor kurzem erst erleben müssen.
Ein Blick auf die Wirklichkeit, auch auf die Zahlen in den Statistiken, die diese Wirklichkeit wiedergeben, zeigt aber sehr klar, daß wir nicht in einer Phase der Rezession sind. Da ich weiß, daß die Zahlen der Regierung Sie nicht so überzeugen wie Zahlen anderer Institutionen, empfehle ich Ihnen einen Blick in den letzten Monatsbericht der Bundesbank. Sie kommt in ihrer Analyse zu dem Ergebnis - ich zitiere erneut - :
Die Wirtschaftsentwicklung in der Bundesrepublik war gegen Ende des vergangenen Jahres trotz zeitweiliger Belastungen weiter aufwärts gerichtet.
Das ist richtig. Auch im vierten Quartal des vergangenen Jahres ist das Bruttosozialprodukt gewachsen. Das Vorjahresniveau dürfte um etwa zweieinhalb Prozent übertroffen worden sein. Die jüngsten Wirtschaftsdaten, auch die Einschätzung der Lage durch die Unternehmer und Konsumenten sind gut. In merkwürdigem Gegensatz dazu steht der manchmal gewollte und gemachte Zukunftspessimismus auch mancher wirtschaftswissenschaftlicher Institute.
Ich habe mir einmal - den Spaß kann man nicht sagen - die Arbeit gemacht,
({10})
die Vorhersagen dieser Institute miteinander zu vergleichen und mit dem tatsächlichen Stand zu vergleichen, den die wirtschaftliche Entwicklung erreicht hatte. Es ist manchmal schon sehr seltsam, was da vorhergesagt wird.
Wir dürfen dieser Stimmungsmache nicht nachgeben. Natürlich kann niemand für naiven Optimismus plädieren, aber für Realismus, und zwar nüchternen Realismus, kann man allemal das Wort erheben und das sollte auch Aufgabe der Opposition sein. Denn auch ihr muß daran gelegen sein, daß eine gute Entwicklung nicht durch unsinnige Berichte kaputtgeredet wird.
({11})
Wir wollen im Jahreswirtschaftsbericht eine solche nüchterne, realistische Bilanz für die deutsche Wirtschaft ziehen. Nachdem 1987 zwar ein schwieriges, aber kein schlechtes Jahr war, rechtfertigt auch heute die Bestandsaufnahme kein Krisengerede. 1987 war das fünfte Jahr eines inflationsfreien Wachstumsprozesses.
({12})
Hinter der Wachstumsrate von 1,7 % steht eine kräftige Dynamik der Binnennachfrage, die um rund 3 % anstieg. Ohne die dämpfenden Einflüsse der Außenwirtschaft, wozu wir immer wieder aufgefordert worden sind, nämlich einen Beitrag zu den wachsenden Schwierigkeiten unserer Handelspartner zu leisten, ohne diese dämpfenden Einflüsse aus der Außenbilanz wäre das reale Bruttosozialprodukt in der Bundesrepublik im vergangenen Jahr um 2,8 % gewachsen. Das heißt, wir haben über 1 % Wachstum an unsere Handelspartner abgegeben, damit sie ihre eigenen Schwierigkeiten besser meistern können.
({13})
- Hören Sie erst einmal zu, Herr Ehrenberg. Sie sind ja sonst ein normaler Mensch, wenn man mit Ihnen außerhalb dieses Hauses zusammenkommt. Sie brauchen hier jetzt kein Soll an Störungen abzuliefern. Das ist nicht notwendig.
({14})
Mit unserer günstigen Binnenkonjunktur haben wir erhebliche Wachstumsimpulse für unsere Partnerländer ausgelöst und zugleich einen wichtigen Beitrag zum Abbau der weltwirtschaftlichen Ungleichgewichte geleistet.
({15})
Daß das notwendig war, um auch den protektionistischen Druck abzubauen, möchte ich hier nur noch einmal deutlich unterstreichen; das ist nicht unser heutiges Thema, aber es ist ein wichtiges Thema für unsere zukünftige Entwicklung. Das Preisniveau ist stabil geblieben, der Anstieg der Beschäftigung hat sich fortgesetzt. Deswegen ist, wenn man die Aussichten für 1988 beurteilen will, die Ausgangslage aus dem vergangenen Jahr nicht schlecht.
Auch 1988 wird sich die Aufwärtsentwicklung fortsetzen. Auch in den internationalen Organisationen redet heute niemand mehr von Rezession. Es wird einvernehmlich festgestellt, daß die wirtschaftliche Dynamik in der Welt wie in der Bundesrepublik im Herbst 1987 höher war als zunächst vermutet.
Unsere im Jahreswirtschaftsbericht dargelegte Erwartung, daß unsere Wirtschaft mit einer Rate von 1,5 bis 2 % wachsen wird, also etwa in der gleichen Größenordnung wie im vergangenen Jahr, ist eine realistische Einschätzung. Die OECD hat erst in den vergangenen Tagen ihre eigene Einschätzung für das Wachstum des Bruttosozialprodukts in der Bundesrepublik von 1,25 auf 1,75 % nach oben revidiert. Mit 1,75 % liegt sie exakt in der Mitte des Prognosenspektrums, das wir angenommen hatten.
Die konjunkturellen Fakten, mit denen wir heute zu tun haben, zeigen das auch: Die Industrieproduktion hat bis zuletzt zugenommen. Die Kapazitätsaus4348
lastung ist weiter angestiegen. Das Niveau der Auftragseingänge war immer relativ hoch. Es stimmt, daß der Zuwachs ein wenig nachgelassen hatte. Auch das hat sich im vergangenen Monat wieder korrigiert: Im Januar gab es wieder einen Anstieg. Der private Verbrauch ist kräftig angestiegen, auch die Bauaufträge sind saisonbereinigt wieder gestiegen.
Das heißt, alle Zahlen haben ganz klar gezeigt: Wir setzen diese Aufwärtstendenz fort. Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind nach wie vor gut, die Ertragslage ist verbessert worden, die Kostensituation der Unternehmen hat sich entspannt, die Zinsen sind niedrig, und die Unsicherheit über weiteren Lohnanstieg ist geringer geworden.
Zu Beginn des Jahres ist die zweite Stufe der Steuerreform in Kraft getreten. Sie allein wird im Jahre 1988 rund 14 Milliarden DM an Kaufkraft freisetzen. Insgesamt wird die private Kaufkraft um 50 Milliarden DM zunehmen. Meine Damen und Herren, daß wir dabei auch durch die Entscheidungen der Bürger Beiträge im Bereich der Dienstleistungen für unsere Handelspartner leisten werden, zeigt die Tatsache, daß die deutschen Touristen in diesem Jahr im Ausland 50 Milliarden DM ausgeben werden. Ich glaube nicht, daß man angesichts dieses Bildes davon sprechen kann, daß wir in einer tiefen wirtschaftlichen Krise leben.
Dennoch: Wir sollten nicht blind für die Probleme sein. Wir müssen insbesondere die Lage am Arbeitsmarkt mit weiteren Überlegungen zu entspannen versuchen. Es hat sich hier ein struktureller Anpassungsbedarf angestaut. Deswegen begrüße ich es, daß erneut sowohl bei den Arbeitgebern als auch bei den Gewerkschaften der Wunsch laut wird, gemeinsame Gespräche zu führen. Die Bundesregierung ist dazu bereit, muß allerdings von vornherein sagen, daß alle Beteiligten von ihren dogmatisch vorgefaßten Meinungen abweichen müssen, wenn man endlich einmal ein vernünftiges Ergebnis erzielen will.
({16})
- Ich fange bei mir sehr gerne an. Ich glaube, ich habe jederzeit die Bereitschaft dazu gezeigt.
({17})
- Daß die Gewerkschaft HBV mit ihren Vorstellungen zum Ladenschluß - darauf komme ich noch - genau das Gegenteil dessen will, was die moderne Gesellschaft der Zukunft braucht, nämlich daß man hin muß zu Deregulierungen, wenn man die individuelle Freiheit im Wirtschaftsleben realisieren will, ist inzwischen jedermann klar geworden.
({18})
Es fehlen etwa 1,5 bis 2 Millionen Arbeitsplätze, weil über viele Jahre hinweg und insbesondere zu Beginn dieses Jahrzehnts zuwenig investiert werden konnte. Die Investitionstätigkeit, die eine neue Dynamik entwickelt hat, reicht jetzt nicht aus, um diesen Rückstand aufzuholen. Deswegen müssen wir uns mit der Frage der Attraktivität des Investitionsstandorts Bundesrepublik intensiv befassen. Ich bin nicht der Meinung, daß die Bundesrepublik ein schlechter Investitionsstandort ist; denn wir haben eine hochentwickelte Infrastruktur, einen durchschnittlich hohen Qualifikationsstand bei Unternehmern und Arbeitnehmern, ein hervorragendes berufliches Ausbildungssystem.
All denjenigen, die das duale System noch vor Jahren kritisiert haben, die insbesondere über die Handwerksmeister hergezogen sind, mögen sich heute einmal die Zahlen bei den westlichen Industrieländern ansehen, die auf einem mit uns vergleichbaren Niveau produzieren, die durchschnittlich 15 % Jugendarbeitslosigkeit haben. Bei uns liegt diese Quote bei 7 %.
({19})
- Natürlich sind 7 % auch zu hoch, aber 7 % sind weniger als die Hälfte des Durchschnitts der OECD-Länder. Nehmen Sie das doch endlich zur Kenntnis!
({20})
So kann man doch nicht diskutieren.
({21})
Das ist ein Ergebnis des dualen Bildungssystems, bei dem insbesondere das deutsche Handwerk Vorbildliches zur Ausbildung von Menschen in unserem Lande geleistet hat.
({22})
Wir haben aber auch andere Entwicklungen, beispielsweise ein sehr hohes Lohnniveau, insbesondere Lohnstrukturen, die die erhöhten Beschäftigungsrisiken in bestimmten Sektoren, Regionen und Berufen einfach ignorieren. Nicht zuletzt der beunruhigende Anstieg der Lohnnebenkosten wird dazu führen, daß dieser Investitionsstandort Gefahren ausgesetzt ist. Auch die noch immer zu hohe Belastung der Unternehmen mit Steuern, ein aufwendiges Sozialsystem und nicht zuletzt die vielfältigen Inflexibilitäten und Verkrustungen auf wichtigen Märkten, gerade da, wo Zukunftschancen liegen - beispielsweise in der Telekommunikation - , sind es, die uns behindern.
({23})
Immer wieder - bei der Postreform ist das deutlich zu sehen - gibt es rückwärts gewandte Menschen, die glauben, an den bestehenden Strukturen festhalten zu können, die aber gleichzeitig die Bundesregierung angreifen, sie tue zuwenig für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
({24})
Diese Verantwortung, die da verschoben wird, müssen wir wieder geraderücken. Wer heute über solche flexiblen Regelungen einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten will, ist herzlich eingeladen, sich daran zu beteiligen. Wer das aber nicht will, der soll auch nicht seine Stimme erheben, wenn es darum geht, die Arbeitslosigkeit zu bejammern.
({25})
Sie, die diese Strukturen erhalten wollen, sind es, die den Menschen die Zukunft verbauen. Das müssen wir klar sagen.
({26})
Man darf daraus nicht den Schluß ziehen, daß die Verteidigung unserer Wettbewerbsfähigkeit ein Weg zurück zu unzumutbaren Arbeitsbedingungen ist, daß man etwa das Sozialsystem abbauen oder den Umweltschutz aufgeben müsse. Das ist nicht der Weg. Ich sage hier noch einmal sehr deutlich: Wir sind das Land, das mit wenigen anderen Ländern zusammen zu den höchsten Löhnen der Welt produziert. Wir sind das Land, das zusammen mit Schweden das vollständigste, aber auch das aufwendigste Sozialversicherungssystem hat. Wir sind - weit vor allen Ländern -das Land, das sich die geringste Jahresarbeitszeit leistet. Wir müssen aber mit diesen Ländern auf dem Weltmarkt konkurrieren. Ein Drittel des Bruttosozialprodukts müssen wir auf den Exportmärkten erwirtschaften. Ich bin bereit, diesen hohen Stand der Löhne, des Sozialversicherungssystems abzüglich der Mißbräuche, die wir jetzt bekämpfen wollen, und vielleicht auch eine Erhaltung der Freizeit - da kann man anfangen, nachzudenken, ob das in jedem Fall ein Segen war - , also diesen Stand wirtschaftlichen Wohlstands mit allen anderen zu verteidigen, die bereit sind, die notwendige Flexibilität aufzubringen, damit das möglich wird.
({27})
Diese Kosten müssen wir erwirtschaften, das ist das Problem. Wir brauchen sie nicht zu senken, wir müssen sie erwirtschaften können. Dazu gehören Qualifikation, Flexibilität und ein Verlassen des Denkens,
({28})
das Sie, Herr Haar, immer wieder beweisen, wenn Sie Ihre Aktionen starten, die in das vorige Jahrhundert gehören und mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.
({29})
Deswegen brauchen wir Korrekturen am Bestehenden. Es hilft nichts, die Augen vor diesen Aufgaben zu verschließen. Wir brauchen eine marktwirtschaftliche Aufbruchstimmung. Es gilt, die Hemmnisse im Strukturwandel abzubauen, die kreativen Kräfte freizusetzen, das heißt Vorrang für Wachstumspolitik.
({30})
Ich darf aus dem Sachverständigengutachten zitieren:
Marktveränderungen müssen nicht notwendigerweise Wachstumseinbußen bedeuten; denn sie bringen nicht nur Anpassungslasten und Umstellungsrisiken, sondern auch Chancen mit sich, mit Neuem erfolgreich zu sein, vorausgesetzt, daß Wille und Fähigkeit zur Anpassung zusammenkommen.
Das ist ein altes Gesetz, das für jeden gilt, der in dieser Wirtschaft arbeitet.
Dabei ist nicht nur die Bundesregierung gefordert. Wir müssen in einer internationalen Kooperation auch zustandebringen, daß andere wichtige Handelspartner mit uns gemeinsam diese Aufgaben anpacken. Erfreulicherweise hat sich diese internationale Diskussion in den letzten Monaten deutlich versachlicht. Ich bin zuversichtlich, daß diese Einsicht zu einer größeren Stabilität der außenwirtschaftlichen Bedingungen führen wird, wobei wir nicht übersehen, daß der Dollarkurs seit Jahresbeginn etwa wieder zwei Drittel dessen wettgemacht hat, was er seit Oktober verloren hatte. Aber das bleibt eine ungewisse Größe, und wir können sie nur einigermaßen stabilisieren, wenn wir das zusammen mit unseren amerikanischen Handelspartnern machen.
Strukturen anpassen und kreative Kräfte wecken ist die große Fähigkeit der Marktwirtschaft, die sie allen anderen Ordnungen überlegen macht. Auch hier empfehle ich der Opposition einen Blick in das Buch Ihres vielleicht nur zukünftigen Vordenkers - ich zitiere noch einmal - Oskar Lafontaine. Ich hätte nie geglaubt, daß ich mich auf ihn jemals so berufen könnte, aber es geschehen - ({31})
- Ja, die Zeiten ändern sich, und es zeigt eben, welche strukturerneuernde Kraft marktwirtschaftliches Denken hat, daß selbst solche Menschen zu solchen Einsichten fähig sind.
({32})
Es gibt kein System - hat er gesagt - , das die menschlichen Bedürfnisse besser befriedigt hätte als die Marktwirtschaft.
({33})
- Wenn das schon Karl Marx gesagt hat, dann muß er von einem fundamentalen Mißverständnis ausgegangen sein, als er seine vielen Bücher geschrieben hat.
({34})
Meine Damen und Herren, man sollte sich nicht mit solchen theoretischen Einsichten zufrieden geben - ich sehe schon, Sie kommen selbst in Schwierigkeiten mit Ihren Gründungsvätern - , sondern man sollte das zur praktischen Politik machen.
({35})
- Für den Engels haben Sie sicherlich viel mehr Verständnis, Frau Unruh, weil der ja in der Stadt geboren ist oder gelebt hat, in der Sie jetzt leben.
({36})
- Ja, der Engels war im Vergleich zu Marx etwa soviel besser wie Sie im Vergleich zu Herrn Vogel.
({37})
Eine Wachstumspolitik, die auf die Sprengung solcher Stukturen achtet, meine Damen und Herren, wird Einschnitte in Besitzstände vornehmen müssen, die bisher sakrosankt erscheinen, und sie sprengt
auch verkrustete Strukturen. Das ist unpopulär; denn wir werden dabei manchen Beteiligten zumuten müssen, daß sie auf eigene Vorrechte und Privilegien verzichten, und das fällt natürlich schwer. Strukturwandel muß man sozial flankieren. Aber man darf ihn nicht aufhalten aus Angst davor, solche Besitzstände aufzugreifen und in sie einzugreifen.
({38})
Deswegen muß die Politik bei der Bekämpfung der Krise in manchen Branchen auch darauf bauen können, daß es Politiker und Parteien gibt, die nicht lange Zeit den Eindruck erwecken - durch Solidaritätsaktionen und ähnliches mehr - , als könne man ohne Rücksicht auf wirtschaftliche, insbesondere weltwirtschaftliche und technologische Veränderungen auf den ausgetretenen Pfaden bleiben. Ich habe auf dem Höhepunkt der Diskussion um Rheinhausen, als hier mehrere Aktuelle Stunden veranstaltet worden sind, davor gewarnt, vordergründige Kundgebungen zu veranstalten, Solidaritätsbeweise abzugeben, ohne den Menschen die Wahrheit zu sagen. Ich bin damals hart und schwer angegriffen worden, ich bin der Unmenschlichkeit geziehen worden. Ich möchte heute einmal die Belegschaftsmitglieder und den Betriebsrat von Rheinhausen fragen, was sie davon gehabt haben, daß sich einige Politiker
({39})
- auch von den GRÜNEN - hingestellt und den f al-schen Eindruck erweckt haben, als könne man Standortgarantien abgeben.
({40}) Das war eine tiefe Unmenschlichkeit.
({41})
- Ja, das ist ja ein ganz anderes Problem. Das haben wir in der Montankonferenz deutlich gemacht. Wir haben immer wieder gesagt: Das Problem besteht darin, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Aber mit Brükkensperren und mit Solidaritätskundgebungen, mit denen sie den Eindruck erweckten, als ob dadurch die alten Arbeitsplätze erhalten werden könnten, haben Sie etwas Falsches gemacht. Sie haben in den Menschen falsche Hoffnungen geweckt. Sie haben eine unmenschliche Politik gemacht. Das ist es gewesen.
({42})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?
Ja.
Herr Bundesminister, sind Sie je in Rheinhausen gewesen und haben Sie einmal gehört, was die Menschen dort erlebt haben, unter welcher Bedrückung sie stehen und was sie für konstruktive Vorschläge gegenüber ihren Unternehmern gemacht haben? Haben Sie sich das jemals angehört?
Ich habe mit dem Betriebsrat von Rheinhausen darüber gesprochen.
({0})
- Du lieber Himmel, macht es denn einen Unterschied, ob ich mit dem Betriebsrat in Bonn oder in Rheinhausen rede?
({1})
Das sind diese vordergründigen Argumente, mit denen Sie eine scheinmenschliche Politik machen. Das ist es ja gerade, was ich Ihnen vorhalte.
({2})
Sie wollen so tun, als ob Sie durch Anwesenheit, durch Hochhalten eines Plakates wirtschaftliche Grundtatsachen verändern können.
({3})
Das können Sie eben nicht.
({4})
- Es ist hoffnungslos. Ich beantworte keine Zwischenfragen mehr.
Sie gestatten keine weitere Zwischenfrage?
Nein, weil es hoffnungslos ist, Herr Präsident.
({0})
Ich darf zur Abwechslung einmal Herrn von Dohnanyi zitieren. Er hat gesagt: „Ich weiß jedenfalls aus meiner Hamburger Erfahrung, daß man z. B. Werftarbeitern den Erhalt ihrer Betriebe und Arbeitsplätze politisch nicht versprechen kann. " Das ist wahr. Wenn das endlich einmal begriffen wird, dann hören diese haltlosen, scheinbar menschlichen Kundgebungen auf. Dann kümmert man sich um das, was die Menschen wirklich interessiert, nämlich die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Das ist der Punkt.
({1})
Über Wege zur Überwindung der besonderen Schwierigkeiten an Rhein und Ruhr haben wir in der letzten Woche - Bundesregierung, Unternehmen, Gewerkschaften, Kommunen und das betroffene Bundesland - miteinander gesprochen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Die Montanregionen erhalten zusätzliche regionalpolitische Hilfen zur Flankierung des Strukturwandels, und der Bund verzichtet zugunsten der Montanregionen auf seinen Anteil an den Rückflüssen aus dem EG-Resider-Programm.
Das Konzept der Montankonferenz setzt auf Unterstützung des Anpassungsprozesses auch mit Hilfe des Staates. Aus wirtschaftspolitischer Sicht ist das ein guter Ansatzpunkt. Es ist eine umfassende Entwicklungskonzeption für die bedrohten Montanregionen. Die Umsetzung wird sicher in erster Linie Sache der
Länder und Gemeinden sein. Aber wir können hier von einer guten Basis ausgehen.
Wir müssen die Überkapazitäten zurückführen, Kosten senken und die Wettbewerbsfähigkeit der Regionen dort stärken, wo sie sich in zukunftsgerichtete Felder aufmachen. Die Anpassung der Krisenbranchen ist notwendig. Sie ist aber nur eine Seite des Strukturwandels.
Auf der anderen Seite schafft der Strukturwandel Neues: neue Erzeugnisse, neue Märkte, neue Organisationsformen. Deswegen müssen wir dafür sorgen, daß die Entwickung des Neuen nicht durch die Lasten des Alten verhindert wird. Deswegen haben wir auch im Zusammenhang mit der Steuerreform 1990 19 Milliarden DM an Steuervergünstigungen und steuerlichen Sonderregelungen abgebaut. Das ist nicht nur eine fiskalische Überlegung gewesen. Vielmehr steht dahinter die Überlegung, daß Erhaltungssubventionen das Neue verhindern. Sie werden in der Regel zu Lasten der Kleinen und zugunsten der Großen aufgebracht. Sie führen dazu, daß mit der Erhaltung wettbewerbsunfähiger Arbeitsplätze das Neue behindert wird. Deswegen denke ich, daß wir hier eine gute finanzpolitische Unterstützung haben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ehrenberg?
Bitte sehr. Ich will's noch mal versuchen.
Bitte, Herr Kollege Ehrenberg.
Herr Bundeswirtschaftsminister, halten Sie die beabsichtigte Streichung der Steuerbegünstigung für Nacht- und Sonntagsarbeit erstens für eine Erhaltungssubvention, und - zweitens - sehen Sie darin einen Beitag zu dem Motto „Leistung muß sich wieder lohnen", wenn die, die bereit sind, sonntags und nachts zu arbeiten, von der Steuerreform bestraft werden; und glauben Sie mit dieser Form der von Ihnen gewünschten Flexibilität zu dienen?
Herr Kollege Ehrenberg, wir streichen diese Zuschläge nicht, sondern wir begrenzen sie. Das wissen auch Sie.
({0})
Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied. Wenn man den Anfang der Nacht durch tarifvertragliche Regelungen auf 18 Uhr vorziehen kann und ab dann Zuschüsse und steuerfreie Teile des Lohns beginnen, die man nicht mehr verantworten kann,
({1})
dann ist die Reform ein Stück steuerpolitische Gerechtigkeit wie die Einführung eines gleichen Jahreswagenrabatts.
({2})
Ich kann mich wirklich nur wundern, daß der Herr Spöri, der Vorkämpfer der Gerechtigkeit, wie seine Partei ja auch,
({3})
etwas dagegen hat, daß Arbeitnehmer in unterschiedlichen Firmen den gleichen Betrag steuerfrei als Jahresleistung bekommen, egal, wo sie arbeiten. Wenn ich in einer Brauerei bin und ein Deputat habe oder wenn ich im Kohlenbergbau ein Deputat habe, wenn ich als Arbeitnehmer der Lufthansa einen Freiflug habe oder bei Daimler-Benz einen Jahreswagen bekomme: warum soll nicht jeder den gleichen Betrag von 2 400 DM steuerfrei bekommen? Was ist eigentlich Steuergerechtigkeit, wenn ein Arbeiter bei Daimler-Benz anders behandelt wird als einer bei der Brauerei Dinkelacker, bei der Lufthansa oder bei der RAG? Das möchte ich einmal wissen. Aber Herr Spöri hat jetzt Gelegenheit, mir das zu erklären.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Spöri?
Ja. Ich möchte aufgeklärt werden, wenn es geht.
({0})
Ja, prima. Herr Bangemann,
({0})
ich gehe davon aus,
({1})
daß die von Ihnen vertretene Bundesregierung den Bürgerinnen und Bürgern und den Arbeitnehmern in Baden-Württemberg noch vor einem Jahr versprochen hat, die Steuern durch das Steuerpaket 1990 um 1 000 DM zu senken.
({2})
„Durchschnittlich" haben wir gesagt.
Jetzt stellen die Arbeitnehmer -
Herr Abgeordneter, bitte stellen Sie eine Frage.
Jetzt stellen die Arbeitnehmer fest, . . .
Bitte stellen Sie eine Frage, Herr Abgeordneter Spöri.
. . . daß dies nicht zutrifft. Herr Bangemann, ist es nach dieser Ankündigung für Sie Steuergerechtigkeit, die Steuern um 1 000 DM bei den Arbeitnehmern zu senken, wenn Arbeitnehmer z. B. in der Sonntags- und Nachtarbeit, wenn Arbeitnehmer im Schichtdienst bei Daimler-Benz 1 000 DM mehr an Sozialversicherung und Steuern zu zahlen haben? Ist das für Sie Steuergerechtigkeit?
Sie geben den Beweis dafür, daß Sie erstens auf das, was ich gesagt habe, nicht eingegangen sind, nicht einmal in einer konstruierten Zwischenfrage.
({0})
Zweitens geben Sie den Beweis dafür, daß Sie in Ihren Darstellungen erneut an der Wahrheit vorbeiargumentieren.
({1})
Sie sind weder für die Steuergerechtigkeit noch für die Steuerwahrheit. Aus reinen Popularitätsgründen, um Wählerstimmen zu gewinnen,
({2})
behaupten Sie falsche Sachen. Das ist Ihr Problem.
({3})
Kein Mensch von der Regierung hat behauptet, daß Arbeitnehmer oder gar alle Arbeitnehmer um 1 000 DM entlastet werden.
({4})
Wir haben uns über dieses Thema hier schon mehrmals unterhalten. Daß Sie immer noch bei dieser falschen Behauptung bleiben, zeigt, daß Sie an der Wahrheit kein Interesse haben. Weil Sie mit Ihrer Politik keine Wähler mehr bekommen können, wollen Sie jetzt durch Unwahrheiten Wähler fangen. Das ist Ihr Problem.
({5})
Wir müssen auch bei der Deregulierung Fortschritte machen.
({6})
Deswegen sind der Ladenschluß und die Privatisierung der Bundespost wichtige Signale. Daß es hier eine Verweigerungskoalition gegen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt gibt, ist, finde ich, ein weiterer Beweis dafür, daß diese Regierungskoalition in ihrer Arbeit hochnotwendig ist, um diesen Strukturwandel zu bewältigen.
({7})
Ich sage das auch hier, weil darüber ja in den vergangenen Wochen immer wieder geredet worden ist. Ich bin davon überzeugt, daß es nur diese Regierungskoalition schaffen kann, diesen Zukunftshorizont aufzubauen.
({8})
Deswegen müssen alle in der Regierungskoalition - ich wende mich jetzt nicht an Sie, weil es für Sie nicht das Problem ist - dazu beitragen, daß die Kohäsion und die Zusammenarbeit weiter möglich bleiben. Wer mutwillig aus persönlichen Überlegungen oder weil er für seine Partei irgendeinen Sondervorteil ergattern will, diese Koalition gefährdet, der gefährdet ein
Stück Zukunft für die Menschen in der Bundesrepublik. Ich hoffe, daß das allen klar ist.
({9})
Wir werden auch beim GWB die Novellierungsmöglichkeiten ausschöpfen. Wir haben noch im Frühjahr zu entscheiden, ob wir eine solche Kartellnovelle einbringen. Nach unseren bisherigen Prüfungen wird diese Frage mit Ja zu beantworten sein. Für den Handel brauchen wir eine Novellierung, denn daß der Handel große Sorgen hat, ist klar. Wir müssen uns überlegen, wie sich kleinere und mittlere Unternehmen gegen die Verdrängungspraktiken großer Wettbewerber besser wehren können. Es geht auch um die rechtliche Absicherung der Kooperationsmöglichkeiten von kleinen und mittleren Unternehmungen, und wir müssen überlegen, ob der nach dem Diskriminierungsverbot bestehende Anspruch marktstarker Nachfrager auf Belieferung eingeschränkt werden kann und ob die Vorschriften über Fusionskontrolle geändert werden müssen.
Von gleicher Wichtigkeit - das möchte ich hier ausdrücklich sagen - , wenn nicht vielleicht sogar von größerer Wichtigkeit erscheint mir die Überprüfung der Ausnahmebereiche. Es bestehen hier enge Verbindungen zur Deregulierung. Starker politischer Anstoß kommt übrigens auch von der Europäischen Gemeinschaft. Das europäische Kartellrecht kennt solche Ausnahmebereiche nicht, sondern nur Ausnahmen durch Einzelentscheidungen oder durch Gesamtentscheidungen, was sehr viel vernünftiger ist und uns übrigens auch die Abschaffung dieser Ausnahmebereiche erleichtern würde; denn wir können solche kartellrechtlichen Entscheidungen an die Stelle dessen setzen, was heute dort generell gesagt wird.
Wir müssen letztens, meine Damen und Herren, den Blick auch stärker nach draußen richten. Wir leben nicht auf einer Insel, und wir können nicht so tun, als ob wir bei der Gestaltung unserer Wirtschaftspolitik ohne Rücksicht auf andere, auf Entwicklungen bei unseren Konkurrenten leben könnten. Wir sind in einer Situation der Abhängigkeit von der internationalen Zusammenarbeit. Ein Land, das zum größten Exporteur, zum größten Händler im vergangenen Jahr geworden ist, vor den USA und Japan, kann nicht darauf verzichten, auch international an der Gestaltung von günstigen Bedingungen mitzuarbeiten. Wir versprechen uns viel vom europäischen Binnenmarkt. Seine Vollendung ist die große Chance für mehr Wachstum, mehr Beschäftigung und mehr Dynamik in Europa, aber auch das wird nicht ohne Schmerzen abgehen. Der Wettbewerb um Investitionen, Produktion, Arbeitsplätze und Kunden wird auch hier schärfer werden.
Je enger Europa zusammenrückt, desto kleiner wird - ich sage: Gott sei Dank - der Spielraum für nationale Extratouren. Ein Beispiel für die europäischen Sachzwänge wird bei uns die Unternehmensbesteuerung sein. Wir werden die Unternehmensbesteuerung bei uns senken können, und ich sage Ihnen: Das wird nur über eine Abschaffung der Gewerbesteuer gehen können. Daß wir dabei eine vernünftige AlternativBundesminister Dr. Bangemann
finanzierung für die Gemeinden zustande bringen, ist allen an dieser Diskussion Beteiligten klar.
({10})
Wir müssen auch im internationalen Blick unsere tarifpolitische Wagenburg verlassen. Es gehört schon wirklich ein gehöriges Stück Unverfrorenheit dazu, in der Montankonferenz über eine Krise in einer bestimmten Branche zu jammern und dann dazu beizutragen, daß in der Stahlindustrie ein Tarifabschluß über die 36,5-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich und zusätzlich 2 To Lohnerhöhungen vereinbart wird.
({11})
Das ist kein anständiger Umgang mit der Bundes-, mit der Landesregierung und mit allen an der Montankonferenz Beteiligten, die erhebliche Anstrengungen unternommen haben, um dieser Region und dieser Krisenbranche zu helfen.
({12})
Deswegen müssen wir in der Tarifpolitik ebenfalls neue Wege beschreiten, mehr Wege zur qualifizierten Weiter- und Ausbildung, zur Flexibilisierung, auch zur Differenzierung; denn natürlich kann man nicht in Krisenbranchen gleiche Löhne zahlen wie in den Branchen, denen es gutgeht. Dieses neue Denken, das in keiner Weise Rechte schmälert, sondern das wirklich einmal Ernst macht mit der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und dieser etwas passiven Haltung, mit der auch Arbeitsplatzbesitzer der Situation der Arbeitslosigkeit zuschauen, das ist es, was wir brauchen. Neues Denken brauchen wir.
Ich habe hier nur einige wirtschaftspolitische Akzente setzen können. Wer Wert darauf legt, all das in seinen gesamten Zusammenhängen zu sehen, der möge bitte in den Jahreswirtschaftsbericht schauen.
Worauf es mir ankam, war deutlich zu machen, daß wir nicht zurückfallen dürfen in eine populistische Gefälligkeitspolitik, daß wir auch einmal den Mut haben müssen, Neues auszuprobieren. Wer ständig in den gesellschaftspolitischen Rückspiegel schaut und sich eine andere Welt als die, die vor uns liegt, erträumt, der wird unfähig zur Zukunft. Wer sich in Abwehrkämpfen für überholte Strukturen, fade gewordene Rezepte und die Dogmen der Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts aufreibt, der wird die Fragen der Gegenwart und Zukunft nicht lösen können.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Opposition vergibt sich nichts, wenn sie zugesteht, daß die wirtschaftliche Lage kompliziert und jede nationale Wirtschaftspolitik auf Grund der internationalen Verflechtungen und Abhängigkeiten sehr schwierig geworden ist. Das war während unserer Regierungszeit so - Sie haben das damals leider nie anerkannt -, aber es ist auch heute so geblieben; davon gehe ich aus. Trotzdem fällt es mir schwer, dieses Zugeständnis zu machen, wenn ich mir die selbstgerechte Rede des Herrn Bangemann noch einmal vor Augen führe.
({0})
Ist es eigentlich richtig, daß die Opposition die Probleme beim Namen nennt und die Regierung sie verschleiert?
({1})
Optimismus ist recht und gut, aber Realitätsverlust ist nicht Optimismus.
({2})
Mir bleibt die Hoffnung, daß noch andere Vertreter der Koalitionsparteien hier ein besseres Beispiel bieten und selbstkritisch überprüfen, warum die großen Hoffnungen auf die Wende, auf einen selbsttragenden dauerhaften Aufschwung mit Abbau der Arbeitslosigkeit überhaupt nicht aufgegangen sind. Das sind doch die Fragen, die jetzt im Raum stehen.
Herrn Professor Biedenkopf möchte ich ermuntern, seine wirtschaftspolitischen Argumente nicht nur in Papieren für Experten, sondern auch hier im Plenum vorzustellen. Ich halte sie für bemerkenswert und möchte auch darauf eingehen und sie hier diskutieren.
So müßte man beispielsweise über den Satz von Herrn Biedenkopf reden - ich zitiere - :
Die Qualität unserer Wirtschaft und ihrer Teilordnungen ist dann verbessert, wenn sie ihre jeweiligen Aufgaben ({3}) mit geringerem Verbrauch nicht erneuerbarer Energievorräte und Rohstoffe, weniger nachteilige Wirkungen für Mensch und Umwelt, Geldwertstabilität und ohne dauernde Neuverschuldung der öffentlichen Hände bewältigen können.
Ich halte das für einen wichtigen Ansatzpunkt: die qualitative Erneuerung unserer Volkswirtschaft. Ich fände es gut, wenn die CDU Professor Biedenkopf an der Stelle ernst nehmen würde und ihn nicht weiterhin als politischen Sonderling in ihrer eigenen Fraktion behandelt.
Die Sozialdemokraten haben schon 1975 in ihrem ökonomisch-politischen Orientierungsrahmen und erst recht in ihrem neuen Entwurf zum Grundsatzprogramm festgestellt: Wachstum als Selbstzweck ist Unsinn und hat sich überholt.
Ist anläßlich dieser Diskussion nicht die Frage überfällig, ob das Grundgesetz der Wirtschaftspolitik, nämlich das Wachstums- und Stabilitätsgesetz, überhaupt noch den heutigen Erfordernissen entspricht?
({4})
Stimmen die optimistischen Erwartungen an eine ausschließlich global ausgerichtete Wirtschaftspolitik noch, die den Geist dieses Gesetzes bestimmt? Ist es eigentlich richtig, so wäre zu fragen, so unbekümmert auf die Segnungen eines allein quantitativen Wachstums zu setzen? Ist immer mehr auch immer gut? Kann man angesichts der Strukturbrüche hinnehmen, daß strukturelle Fragen - regional wie sektoral - im Grundgesetz der Wirtschaftspolitik völlig unterbelichtet sind, praktisch überhaupt nicht vorkommen? Sind die internationalen Verflechtungen, so wäre zu fragen, im Gesetz überhaupt hinreichend berücksichtigt?
Mich führen alle diese Fragen zu der Schlußfolgerung, daß noch in dieser Legislaturperiode eine Novellierung des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes ansteht,
({5})
und zwar unter folgenden Aspekten:
Erstens: die Einbeziehung der qualitativen Fragen in das Zielsystem. Da geht es vor allem um die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen als Wachstumsschranke.
Zweitens: die Konkretisierung des grundgesetzlich vorgegebenen Ziels von der Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland.
({6})
Die allein globale Ausrichtung des Gesetzes bewältigt die regionalen Strukturprobleme überhaupt nicht mehr.
Drittens: die Verpflichtung aller wirtschaftspolitischen Institutionen auf alle Ziele des Gesetzes. Das gilt z. B. für die Geldpolitik der Deutschen Bundesbank. Ich bin für Autonomie, aber für Verpflichtung auf alle Ziele, auch auf das Ziel der Beschäftigung.
({7})
Viertens: die Berücksichtigung der internationalen Verflechtungen, insbesondere auch der Erfordernisse der Koordination der Wirtschaftspolitik in der Europäischen Gemeinschaft. Wir reden von 1992, aber faktisch kommt in der Ideenwelt des Wachstums- und Stabilitätsgesetzes Europa nicht vor.
Alle diese Aspekte gehören diskutiert. Sie sind - das hat die Rede gerade gezeigt - in der derzeitigen Wirtschaftspolitik der Bundesregierung unterbelichtet. Primär wurde und ist in den letzten Jahren auf Wachstum und nichts als Wachstum gesetzt worden.
({8})
Wir haben Sie vor dieser einseitigen Strategie gewarnt, denn so illusionär konnte auch damals, 1982, keiner sein, daß das automatisch zur Räumung des Arbeitsmarktes führt.
Auch wenn wir, Herr Ehrenberg, diese Wachstumsgläubigkeit in dieser einseitigen Art nicht geteilt haben,
({9})
haben wir das gute Recht, heute zu fragen: Sind die selbstgestellten Ziele der Bundesregierung und der Koalition erreicht worden? Sind die Wachstumsraten höher als früher? Ist mehr investiert worden? Wurden mehr Arbeitsplätze als in der Vorperiode geschaffen?
({10})
Das sind doch die Fragen am eigenen Maßstab. Die Antwort lautet eindeutig: Nein. Gegenüber der Aufschwungphase in der zweiten Hälfte der 70er Jahre bleibt das Niveau der Arbeitsplätze zurück, bleiben die Wachstumsraten zurück und bleiben die Investitionen zurück. Das ist eine Tatsachenfeststellung, an der Sie nicht vorübergehen können. Auf diese Tatsachenfeststellungen ist eine Analyse notwendig: Was sind die Hintergründe?
Meine Damen und Herren, Sie hatten 1987 vor der Wahl die Fortsetzung des Aufschwungs versprochen. Wie wir heute wissen, war das reine Propaganda. Unsere damalige Feststellung, das sei eine Konjunkturlüge, hat sich als wahr erwiesen. Jetzt, vor den Wahlen in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, erneuern Sie diese Aufschwungpropaganda. Dabei müßten die Wirtschaftsdaten der letzten Monate auch bei Ihnen höchste Alarmstufe auslösen.
Ich nenne nur drei Punkte:
Erstens. Die Arbeitslosigkeit nimmt erneut zu. Gegenüber dem Vorjahr wird heute bekanntgegeben - in den Nachrichten ist es schon - : 30 000 mehr Arbeitslose als im Februar 1987, in einem Februar, der so milde war und ein so gutes Wetter hatte, daß sogar im Außenbereich und selbst an Autobahnen noch gebaut wurde. Das ist die Wahrheit.
({11})
Zusammen mit den nicht registrierten Arbeitslosen haben wir jetzt 3,5 Millionen Arbeitslose in der Bundesrepublik Deutschland.
Zweiter Punkt. Der saisonbereinigte Index des Auftragseingangs im verarbeitenden Gewerbe ist dem Volumen nach vom letzten August bis Anfang 1988 um 8 % abgesackt.
Drittens. Die inländischen Auftragseingänge im Investitionsgütergewerbe - da waren wir uns immer einig; das ist der strategische Punkt - sind in vier Monaten um nicht weniger als 14 To zurückgefallen.
Angesichts dieser Daten müßte wirtschaftspolitisch gehandelt werden. Das wissen Sie auch ganz genau. Ich bin allerdings schon froh, daß nun das törichte Gerede von Strohfeuerprogrammen nicht mehr möglich ist, denn Sie haben ja, wenn auch in sehr winzigem Ausmaß, im Dezember ein Programm aufgelegt. Das kann ja wohl kein Strohfeuerprogramm sein. Sie sagen immer, das sei etwas ganz anderes. Ich sage
Ihnen: Das ist in Miniausführung eine Kopie unseres Elements „Arbeit und Umwelt" ;
({12})
leider viel zu klein, leider nicht umfassend genug.
Ich bin ja auch froh, daß Sie einen Schritt getan haben im Hinblick auf die Montanregionen. Auch das sind Forderungen, die wir im letzten Jahr entwickelt haben und die damals immer abgelehnt wurden.
Meine Damen und Herren, im Abkommen der westlichen Industriestaaten vom Februar 1987 war vereinbart worden, daß sich die Überschußländer Japan und die Bundesrepublik Deutschland verpflichten, ihre Binnenwirtschaft anzukurbeln und damit die Leistungsbilanzüberschüsse zurückzuführen. Sie halten sich an dieses Abkommen nicht. Reden Sie sich nicht auf die weltwirtschatlichen Probleme heraus. Die Politik dieser Koalition, ihre mangelnde internationale Solidarität, ist selber ein weltwirtschaftliches Problem, ist selber eine Krisenursache.
({13})
Es war deshalb kein Zufall, daß auch auf dem Sondergipfel der EG unter der deutschen Präsidentschaft das Thema Arbeitslosigkeit überhaupt nicht vorgekommen ist. Man muß sich das klarmachen: Man streitet sich tagelang über Raps, und man hat kein Wort übrig zum Thema der 16 Millionen Arbeitslosen in der EG. Das ist die Wahrheit.
({14})
Meine Damen und Herren, Herr Bundeswirtschaftsminister, ich empfehle Ihnen, was Ihre Wirtschaftsphilosophie anbetrifft
({15})
- ich war selber überrascht - , gelegentlich den Artikel Ihres Staatssekretärs Schlecht vom 4. Februar 1988 im „Handelsblatt" . Herr Schlecht gab dort zu, daß die wirtschaftspolitische Wunderformel dieser Bundesregierung „Mehr Gewinne bedeuten mehr Investitionen und führen auch zu mehr Arbeitsplätzen" versagt habe. Das ist der Kern dieses Artikels, wahrhaftig ein bemerkenswertes Eingeständnis eines der Koautoren des berühmten Lambsdorff-Papiers, daß das eigene Konzept nach fünf Jahren versagt hat.
Wir haben seit Jahren immer wieder betont: Mehr Gewinne allein garantieren noch lange keine Investitionen, vor allem dann nicht, wenn die entsprechende Massenkaufkraft fehlt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lambsdorff?
Ja, bitte.
Bitte sehr.
Herr Roth, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, daß wir das Thema „Warum stimmt die Kette: höhere Gewinne, höhere Investitionen, mehr Arbeitsplätze?" an dieser Stelle schon im Oktober oder November bei der Debatte zum Haushalt diskutiert haben und daß ich genau diese Fragen gestellt habe, die Herr Schlecht jetzt wiederholt hat, die Sie damals aber leider nicht beantwortet haben und auf die Sie damals nicht eingegangen sind.?
Also, Sie haben jetzt die Chance, sorgfältig zuzuhören. Ich werde dazu gleich etwas sagen.
({0})
Sie haben unsere Warnung in den Wind geschlagen und haben systematisch in den Jahren die kaufkräftige Nachfrage vergessen. Letztlich sagten Sie, die Umverteilung zugunsten der Gewinneinkommen würde jedem zugute kommen; denn wenn diese Gewinneinkommen erst zuwachsen würden, dann würde die Lust am Investieren steigen und die Investitionen würden dann zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit führen.
({1})
Das war nach unserer Auffassung nicht nur ungerecht, sondern auch ohne jede Wirkung.
Es gibt nämlich keinen Zweifel: Die Finanzierungssituation der deutschen Unternehmen ist besser als jemals zuvor.
({2})
Die Selbstfinanzierungsquote im Jahr 1986 betrug 115 %, die 87er Zahlen sind noch nicht bekannt. Sie werden nicht schlechter sein. Was heißt das? Das heißt, daß im Schnitt der Unternehmen Geld gespart wurde, daß im Schnitt der Unternehmen gar kein Fremdkapital mehr für Investitionen notwendig geworden ist. Man kann auch sagen: Im Schnitt der Unternehmen haben wir eine Tendenz: weg vom Produktionsunternehmen, hin zur Bank und zur Finanzkapitalbildung.
({3})
Natürlich ist das eine Durchschnittszahl, meine Damen und Herren, die verdeckt, daß viele kleinste, kleine und mittlere Unternehmen in einer sehr viel schlechteren Lage sind. Aber das zeigt dann doch auch, daß manche Großunternehmen im Geld schwimmen und eben nicht investieren. Das ist das Problem der Wirtschaftspolitik, mit dem Sie sich nicht auseinandersetzen.
({4})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Grünbeck?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Roth, würden Sie dann zur Kenntnis nehmen, daß die Eigenkapitalquote der kleinen und mittleren Betriebe heute branchenbezogen zum Teil unter 10 % liegt und damit Ihre Philosophie der Eigenfinanzierung überhaupt nicht mehr in Ordnung ist?
Sehen Sie, es gibt also offenbar Finanzstrukturprobleme, die Sie in Ihrer Politik gar nicht
berücksichtigen. Nach sechs Jahren konservativ-liberaler Koalition sind Sie nunmehr dabei, einzugestehen, daß sich die Eigenkapitalquote bei kleinen und mittleren Unternehmen weiter verschlechtert hat. Was geben Sie sich damit anderes als ein schlechtes Urteil über Ihre eigene Politik?
({0})
Denn die Umverteilung zugunsten der Unternehmen hat sich auch für die kleinen und mittleren Unternehmen nicht ausgezahlt. Noch nie in einer Periode der Nachkriegszeit war der Aufschwung der Investitionen so schwach wie diesmal. In der Zeit zwischen 1982 und 1987 ist das Produktionspotential pro Jahr nur um 1 bis 2 % gestiegen. In der Aufschwungphase zwischen 1975 und 1980 ist das Produktionspotential doppelt so stark gewachsen.
Das war übrigens die Phase - erinnern Sie sich -, in der Sie von der CDU von der 100-Milliarden-DMInvestitionslücke gesprochen haben. Was für eine Investitionslücke haben wir jetzt? Eine 300-MilliardenDM-Investitionslücke? Oder ist das alte Argument nicht mehr wahr?
Statt in Sachinvestitionen zu gehen, haben die Unternehmen Rekordbeträge in Finanzanlagen gesteckt, übrigens zum großen Teil in ausländische. In der Zeit von 1982 bis 1986 ist das Auslandsvermögen von deutschen Wirtschaftsunternehmen und Privaten von 29 Milliarden DM auf 160 Milliarden DM angeschwollen. Ein beträchtlicher Teil davon ist allerdings durch den Börsenkrach und den Dollarverfall verlorengegangen.
Was ist das für eine Politik? Ihre Politik hat die Massenkaufkraft geschwächt.
({1})
Sie hat die gesamtwirtschaftliche Nachfrage gedrosselt. Gleichzeitig wurden die Absatzerwartungen der Unternehmen gedrückt und deshalb die Investitionen behindert. Sie haben die Binnenwirtschaft massiv gebremst und das Heranwachsen extremer Leistungsbilanzüberschüsse provoziert.
({2})
Das heißt, Sie können sich heute nicht auf internationale Probleme herausreden. Sie haben die Probleme selbst geschaffen.
Sie hatten auch geglaubt, daß der beschworene Daueraufschwung irgendwie und irgendwann die Regionalprobleme lösen würde. Daraus wurde nichts. Jetzt brechen die Struktur- und Regionalprobleme mit neuer Wucht auf. Es gibt bisher kein Konzept von Ihnen - auch heute ist von dem Thema nichts angeklungen - , um auf diese Probleme wirksam einzugehen.
({3})
- Ladenschluß, ja, das ist die Antwort auf 25 % Arbeitslosigkeit in den strukturbenachteiligten Regionen der Bundesrepublik Deutschland. Man muß die beiden Aspekte nur einmal zusammenführen, um die Dimension der politischen Debatte in der Bundesregierung zu erkennen.
Im Jahreswirtschaftsbericht findet man zum Thema Regionalpolitik Leerformeln über Marktkräfte und Forderungen nach Lohnsenkung bzw. stärkerer Lohndifferenzierung.
({4})
Meine Damen und Herren, was soll das denn? Wollen Sie die Löhne der Werft- und der Stahlarbeiter auf ein koreanisches Niveau senken?
({5})
Um wieviel sollen sie nach Ihrer Auffassung eigentlich sinken, damit man in Deutschland wieder Schiffe bauen kann? Das kann doch nicht die Antwort auf einen Strukturwandel sein!
({6})
Herr Bangemann, an der Stelle bricht Ihre Argumentation. Sie sind immer für einen Strukturwandel. Aber dann sind Sie plötzlich für niedrigere Löhne, damit der Strukturwandel gebremst wird. Ich glaube, das ist keine Antwort auf unsere Probleme.
({7})
Meine Damen und Herren, der Jahreswirtschaftsbericht sagt nichts zu den katastrophalen Arbeitslosenzahlen in jenen Gebieten.
Nun hat sich die Bundesregierung bei der Ruhrgebietskonferenz etwas bewegt. Das wurde auch Zeit. Wir finden, es wurde viel zuviel Zeit unnütz vertan. Es bedurfte - das ist beschämend - des Anstoßes der Menschen im Revier. Ohne die großen Demonstrationen hätte es keine Montankonferenz gegeben. Das ist die Wahrheit.
({8})
Wir sehen im Ergebnis der Revierkonferenz einen ersten Schritt, dem aber weitere folgen müssen. Wir glauben, eine Zukunftsinitiative Montanregion mit Beteiligung des Bundes nach Art. 104 a des Grundgesetzes ist notwendig und bleibt auf der Tagesordnung. Es ist auch eine Ergänzung notwendig, was die übrigen Regionen betrifft.
Meine Damen und Herren, zu einem wirklichen Trauerspiel wächst sich die Mittelstandspolitik der Bundesregierung aus. Die, die aus dem Mittelstandsbereich der Union nach mir reden, sollten dazu einmal Stellung nehmen. Das sollte z. B. Herr Hauser, mein Nachredner, zu einem Zitat aus einer Handwerkerzeitung tun. Sie haben mit dieser Zeitung ein bißchen was zu tun.
Die Jahre aktiver Mittelstandsförderung durch den Bund scheinen zu Ende zu gehen,
schreibt das „Deutsche Handwerksblatt" in seiner Ausgabe vom 15. Januar. Weiter heißt es:
Zeitlich befristete Programme läßt man auslaufen oder verlegt das Auslaufen sogar auf einen früheren Zeitpunkt. Bei den unbefristeten Förderungsmaßnahmen geht die Politik dahin, die HausRoth
haltsansätze im Rahmen der mittelfristigen Finanzplanung zurückzunehmen.
({9})
Es ist eindeutig, daß wir schrittweise einen Kahlschlag in der Mittelstandspolitik bekommen, aus fiskalischen Gründen. Nach Ihrer eigenen Finanzplanung werden die Mittel zur Förderung kleiner und mittlerer Selbständiger und Unternehmen von 1987 bis 1991 mehr als halbiert, von 1,1 Milliarden DM auf 485 Millionen DM. Ich weiß nicht, ob die Mittelstandswähler von 1987 das von der Koalition erwartet haben.
Im nächsten Jahr will die Bundesregierung eines der wertvollsten Instrumente, das Eigenkapitalhilfeprogramm, einstellen. Ich bin traurig darüber, weil wir Wirtschaftspolitiker aller Fraktionen das damals erfunden haben. Übrigens war auch die FDP dabei. Die klägliche Ersatzlösung mit den Bürgschaften, die Herr Bangemann neuerdings vorschlägt, ist für die Existenzgründer keinen Pfifferling wert. Denn die Existenzgründungskredite à la Bangemann sind nicht billiger, sondern teurer als marktüblich. Die Existenzgründer werden nämlich für die großzügig gewährten Bürgschaften des Bundeswirtschaftsministeriums voll zur Kasse gebeten, nach Marktzinsen. Ich teile deshalb die Auffassung des Kollegen Wissmann, der in den letzten Tagen erklärt hat, daß sich diese Bangemann-Lösung voraussichtlich „negativ auf die Existenzgründungsneigung" auswirken wird. Herr Wissmann, es wäre gut, wir würden heute hören, daß die größere Koalitionsfraktion zu diesen Plänen von Herrn Bangemann definitiv nein sagt.
({10})
Dann klären wir in diese Debatte endlich einmal etwas.
Meine Damen und Herren, die seit langem geforderte Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage für kleine Unternehmen bleibt blockiert. Statt diese in Übereinstimmung mit nahezu allen mittelstandspolitisch relevanten Verbänden zu fordern und zu verwirklichen, entlastet die Bundesregierung hohe Einkommen unabhängig davon, ob investiert wird oder nicht.
Meine Damen und Herren, seitdem die außenwirtschaftliche Schönwetterperiode vorbei ist, leidet der Aufschwung an Atemnot, und jetzt geht ihm die Luft aus. Jetzt wird das Versagen der Wirtschaftspolitik der letzten Jahre für jedermann offenkundig. Wer in den letzten Wochen die Zeitungen und Zeitschriften der Unternehmer liest, ist überrascht, wie viele Verbände, wie viele Einzelpersonen von Gewicht - das ist nicht nur Edzard Reuter, sondern es sind viele andere auch - nun auf Distanz zur Koalition und ihrer Wirtschaftspolitik gehen. Kaum jemand betrachtet derzeit die Bundesregierung so kritisch wie die unternehmensorientierte Presse, weil sie auf die weltwirtschaftlichen Probleme keine Antwort findet. Ich erinnere nur an entsprechende Worte des Präsidenten der BDA, Herrn Dr. Murmann.
({11})
Nicht selten sind das übrigens Mitglieder der CDU. Das müßte wenigstens bei Ihnen in der größeren Koalitionspartei zur Überlegung führen.
Meine Meinung ist: Die Regierung Kohl ist mit ihrer bisherigen Wirtschaftsphilosophie am Ende. Ihre Rezepte haben versagt. Im Jahreswirtschaftsbericht müssen Sie auch eingestehen, daß die Massenarbeitslosigkeit erneut zunimmt. Es ist ein Kurswechsel notwendig, meine Damen und Herren. Die Investitionen sind das Schlüsselproblem. Über sie sollten wir heute diskutieren. Dabei ist es unwichtig, ob es sich um private oder öffentliche Investitionen handelt. Beide müssen in den nächsten Jahren steigen, wenn wir Wirkungen am Arbeitsmarkt haben wollen.
({12})
Deshalb muß die Steuerpolitik darauf ausgerichtet werden. Nur wenn die Binnennachfrage stärker steigt, kommt es zu Investitionen in neue Arbeitsplätze. Jetzt z. B. eine Verbrauchsteuererhöhung zu diskutieren, in einer labilen ökonomischen Situation, ist schon vom Ansatz her falsch. Sie wäre ganz falsch von den Wirkungen auf den Wirtschaftskreislauf her.
({13})
Für den Unternehmensbereich gilt: Nur diejenigen sollten wirklich steuerlich gefördert werden, die auch tatsächlich investieren. Nicht die Gewinne sollten gefördert werden, sondern die Investitionen in Arbeitsplätze. Deshalb - jetzt ist Herr Grünbeck schon weggerannt ({14})
- sagen Sie es ihm weiter - sind wir dafür, eine steuerliche Investitionsrücklage einzuführen. Sie würde die Eigenkapitalschwäche der kleinen und kleinsten Unternehmen wirksam bekämpfen. Machen Sie an der Ecke mit.
({15})
Im übrigen: Warum hören Sie nicht auf den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit? Warum hören Sie nicht auf den CDA-Vorsitzenden, Herrn Fink? Beide haben Vorschläge gemacht, die, wenn auch nur in der halben Größe, in der Idee deckungsgleich mit dem sind, was die SPD seit Jahren vorschlägt.
({16})
Meine Damen und Herren, wir müssen regionale Schwerpunkte für die Bewältigung des Strukturwandels setzen. Die Ansatzpunkte aus der Montanrunde reichen nicht aus. Der Bund muß einen Teil der Finanzierung der Zukunftsinitiative Montanregion und vor allem des Zukunftsprogramms Küste übernehmen. Gleichzeitig müssen die von hoher Arbeitslosigkeit geplagten Gemeinden und Länder von den Kosten der Sozialhilfe entlastet werden, so daß sie wieder in die Lage versetzt werden, zu investieren. Die Vorschläge von Herrn Ministerpräsident Albrecht zur Übernahme der Hälfte der Sozialhilfekosten durch den Bund sind unseres Erachtens richtig. Wir unterstützen diese Vorschläge.
({17})
Außerdem ist es nur richtig, die Gemeinden von den hohen Kosten der Sozialhilfe bei Dauerarbeitslosigkeit zu entlasten.
({18})
Natürlich bleibt Arbeitszeitverkürzung als ein Schritt zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit auf der Tagesordnung.
({19})
Wir begrüßen im Gegensatz zu Ihnen, Herr Bangeman, den Tarifabschluß im Stahlbereich.
({20})
Wir verteufeln ihn nicht. Er wird etwa 4 000 Arbeitsplätze sichern - keine neuen bringen.
({21})
Einkommenssicherung und Arbeitszeitverkürzung sind vereinbar und keine Gegensätze.
({22})
Entscheidend, meine Damen und Herren, ist, daß der Verteilungsspielraum beachtet und nicht überstrapaziert wird. Wir sind seit jeher der Meinung, daß die Addition aus Kosten der Arbeitszeitverkürzung und Einkommenssteigerung dem Spielraum aus dem Produktivitätszuwachs entsprechen muß. Diese Kombination von Arbeitszeitverkürzung bei Einkommenssicherung ist richtig und bleibt richtig, und wir unterstützen sie bei den Gewerkschaften und bei den Arbeitgebern, wenn sie verhandeln.
({23})
Vorstellungen, nach denen allein Arbeitszeitverkürzungen ohne jeden Einkommensausgleich beschäftigungspolitisch, kreislaufmäßig besser wirken würden, halte ich für wirtschaftspolitisch nicht begründet.
({24})
Ohne eine positive Entwicklung der Masseneinkommen - und das haben wir in den letzten Jahren gesehen; das sind eben die Löhne - wird Nachfrage fehlen. Somit werden sich die Probleme der Wirtschaft nicht lösen, sondern verschärfen. Aber es kommt auf ausgewogene Verhandlungen an. Und wenn es ein Land in Europa gibt, das bei Arbeitszeit- und Lohnfragen immer wieder gesamtwirtschaftlich vernünftige Kompromisse zustande gebracht hat, dann ist es die Bundesrepublik Deutschland.
({25})
Meine Damen und Herren, die Probleme, die uns heute so bedrängen, sind mit nationaler Wirtschaftspolitik, also isoliert nicht zu lösen. Sie werden von uns nicht dasselbe Spiel erleben, das Sie 1982 hier aufgeführt haben, als mitten in einer Weltwirtschaftskrise so getan wurde, als sei der Bund schuld an den Problemen der Weltwirtschaft. Aber man muß etwas tun, um im internationalen Bereich voranzukommen. Nichtstun auf internationaler Ebene ist keine Antwort auf die Abhängigkeit und Verflechtung.
Unsere Antwort lautet: Vertiefung der europäischen Koordination der Wirtschafts-, Währungs- und Beschäftigungspolitik. Wir bedauern, daß der Herr
Bundeskanzler die EG-Präsidentschaft bisher nicht genutzt hat, um Ansätze zu einem europäischen Beschäftigungspakt durchzusetzen.
({26})
Das wird nicht einfach, aber das muß begonnen werden.
Nur wenn die Europäische Gemeinschaft den Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit koordiniert aufnimmt, kann sich europaweit und damit auch bei uns ein Erfolg einstellen. Der Bundesrepublik wächst hier zusammen mit dem französischen Partner eine Führungsrolle zu. Das ist keine Anmaßung, meine Damen und Herren, sondern eine Folge der Wirtschaftskraft der Bundesrepublik Deutschland, der stärksten Wirtschaftskraft in der Europäischen Gemeinschaft. Wir drängen uns ja nicht auf, sondern werden von den anderen aufgefordert, diese Rolle zu übernehmen.
Gerade am Beginn einer sehr kritischen Phase der Weltwirtschaft hat es keinen Sinn, sich mit weltwirtschaftlichen Problemen zu entschuldigen, sondern man muß die internationale Kooperation vertiefen. Ich freue mich, daß Herr Bundesaußenminister Genscher die europäische Währungsunion und eine europäische Zentralbank unterstützt. Wir unterstützen auch die Forderung, daß das ein unabhängiges, ein autonomes Institut sein muß. Wie kann man eigentlich ernsthaft vom Binnenmarkt Europa reden, wenn man im Jahr 1992 x Währungen und keine gemeinsame Währungsinstitution hat?
({27})
Sie haben uns da an Ihrer Seite.
Meine Damen und Herren, nicht hinnehmen können wir es, wenn man mit Europaargumenten und anderen Begründungen plötzlich weit über 40 Milliarden DM Schulden hat, ohne daß ein aktiver Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit aus dem Etat zusätzlich herauskommt. Ändern Sie Ihre Politik! Wir tragen Lasten dort mit, wo sie beschäftigungsorientiert eingesetzt werden, aber wir akzeptieren keine Überschuldung aus passiver Hinnahme von rezessiven Tendenzen am Arbeitsmarkt.
({28})
Ändern Sie Ihre Politik! Verlassen Sie Ihre Dogmen! Das Wende-Papier des Grafen Lambsdorff hat sich als der größte wirtschaftspolitische Bluff der letzten Jahre erwiesen.
({29})
Kehren Sie von diesem Kurs ab! Die Zeit der Wendemanöver ist vorüber. Ein Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ist angesagt.
({30})
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Roth, Sie haben hier eben in Ihren Ausführungen zu den aktuellen Fragen wieder ähnliche Bemerkungen gemacht,
Hauser ({0})
wie Sie sie schon in Ihrer Presseerklärung am 27. Januar nach der Vorlage des Jahreswirtschaftsberichts gemacht haben, und haben dann die derzeitige Situation mit dem sogenannten Konjunkturhoch des Jahres 1980 in Vergleich gesetzt und immer den Eindruck erweckt, das sei nun der Höhepunkt Ihrer eigenen wirtschaftspolitischen Leistungen gewesen.
Wenn Sie einmal die Ergebnisse des Jahres 1980 mit denen des Jahres 1987 in Relation setzen, müssen Sie feststellen, daß wir 1980 ein Wirtschaftswachstum von 1,5 % hatten und 1987 eines von 1,7 %, wobei der Sokkel, auf dem dieser Prozentsatz gerechnet wird, im Jahre 1987 erheblich höher lag als im Jahre 1980.
Die Inflationsrate lag damals bei 5,4 %, heute liegt sie bei 0,2 %. Die Arbeitslosenzahlen stiegen damals zum erstenmal - und zwar bis zum Ende Ihrer Regierungsverantwortung mit erheblich steigender Tendenz - auf knapp unter zwei Millionen. Die Zinsen lagen damals bei fast 9 %; heute liegen sie bei 6 %. Damals hatten wir ein Rekordleistungsbilanzdefizit, während wir heute einen Überschuß haben.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Ja, bitte schön.
Herr Kollege Hauser, würden Sie die Güte haben, dem Plenum und der Öffentlichkeit bei dieser Aufzählung von Daten des Jahres 1980 auch mitzuteilen, daß die Arbeitslosenzahl exakt 889 000 betrug, nicht - wie heute - 2,5 Millionen?
Ja, ich habe aber gerade darauf hingewiesen, daß damals - unter Ihrer Regierungsverantwortung - der Anstieg der Arbeitslosigkeit, und zwar mit Steigerungsraten von zum Teil an die 100% jährlich, begann und daß innerhalb von wenigen Jahren die Zahl, die damals in der Größenordnung lag, die Sie jetzt dargestellt haben, rasant auf unter zwei Millionen angewachsen ist.
({0}) - Nein, bis zum Regierungswechsel.
Meine Damen und Herren, die Bundestagsfraktion der CDU/CSU teilt die Auffassung der Bundesregierung: 1987 war für die deutsche Wirtschaft zwar ein schwieriges, aber kein schlechtes Jahr, und dies wird auch 1988 so bleiben. Wir werden einen weiteren Anstieg der Beschäftigungszahlen haben. Trotzdem haben wir beim Abbau der Arbeitslosigkeit weiterhin erhebliche Probleme. Diese Problematik wird von niemandem bagatellisiert.
Diese Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis von Politik, vor allen Dingen auch von Tarifpolitik. Wo es Tarifautonomie gibt, da kann der Staat keine Beschäftigungsgarantie abgeben. Die Sozialpartner tragen zwar nicht allein, aber in hohem Maße Verantwortung für die Beschäftigung. Der Staat kann die Rahmenbedingungen gestalten und die wirtschaftliche Tätigkeit erleichtern. Er muß dafür sorgen, daß Leistung sich lohnt und Investitionen begünstigt werden. Das sind keine Schlagworte einer angeblichen Ellbogengesellschaft; aus solchen Rahmenbedingungen entsteht
Wachstum. Es entsteht nicht, weil die Regierung das so will, sondern weil viele einzelne eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen anstreben.
Wir sind auch nicht der Meinung, Herr Kollege Roth - und der Meinung sind wir nie gewesen -, daß Wachstum allein in der Lage wäre, all diese Probleme zu lösen.
Die Diskussion über die Arbeitslosigkeit leidet aber an einem schweren Manko. Sie wird von vielen Beteiligten ausschließlich unter sozialpolitischen Gesichtspunkten geführt. Die Sozialpolitik ist aber erst dann gefordert, wenn es um die Verwaltung der Arbeitslosigkeit geht. Uns aber geht es nicht um die Verwaltung der Arbeitslosigkeit, sondern um deren Bewältigung.
({1})
Hier ist ein wirtschaftliches Problem angesprochen.
Dieser Fehler in der Diskussion hat seine Ursache darin, daß wir die ursprünglich einmal von Ludwig Erhard angelegte Einheit von Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik aus den Augen verloren haben. Hier ist ein gefährliches Verhältnis von Gegensätzen entstanden. Viele vergessen, daß erfolgreiche Wirtschaftspolitik und leistungsfähige Sozialpolitik einen unauflöslichen Zusammenhang bilden.
({2})
Wir alle sollten uns darüber einig sein, daß es sich bei der Frage nach dem Abbau der Arbeitslosigkeit in erster Linie um ein wirtschaftliches und ein strukturpolitisches Problem handelt. Der Strukturwandel ist die eigentliche Herausforderung für die Bewältigung der Zukunftsprobleme.
Nur wenn es uns in den nächsten Jahren gelingt, diesen Strukturwandel aktiv zu fördern, werden wir auch das Problem der Arbeitslosigkeit dauerhaft lösen können.
({3})
Wir müssen bereit sein, meine Damen und Herren, alle hierfür notwendigen Entscheidungen zu treffen. Dazu gehört auch, daß bestimmte sogenannte soziale Errungenschaften auf den Prüfstand gestellt werden.
Es steht doch außer Zweifel - und nicht erst seit dem verdienstvollen, aber leider verdrängten Beitrag von Renate Merklein - , daß die meisten sozialen Wohltaten von ihren Empfängern mitfinanziert werden, wobei allerdings eine gewaltige Summe durch Mißbrauch, Verschwendung und bürokratische Fehlleistung verschlungen wird.
Die gesamte Diskussion leidet unter der scheinsozialen Irreführung des aufgeregten Propagandageschreis vom Sozialabbau. Solange der Streit um die bessere Arbeitsmarktpolitik von einer Seite ausschließlich unter Verteilungsgesichtspunkten geführt wird, kommen wir zu keiner brauchbaren Lösung; denn das Ergebnis solcher Politik führt zu der Frage: Was nützt ein hohes Niveau von Löhnen und Sozialleistungen, wenn im Ergebnis die Arbeitnehmer über Steuern und Beitragssätze für den Schaden aufkommen müssen, der genau dadurch entsteht, daß vielen
Hauser ({4})
von ihnen die Zugangshürde zum Arbeitsmarkt zu hoch geworden ist?
Das ist auch ein Punkt, der im Zusammenhang mit der Frage des Lohnabschlusses in der Stahlindustrie einmal bewertet werden sollte.
Wenn der Nachweis erbracht werden kann, daß bestimmte soziale Schutzmaßnahmen und Sozialleistungen zur Arbeitslosigkeit vieler Menschen führen, so sind diese Schutzmaßnahmen und Leistungen nicht sozial, sondern scheinsozial. Es hat keinen Sinn, diese Diskussion von vornherein mit Tabus zu verhindern; damit ist keinem Arbeitslosen geholfen.
Es ist zweifellos ein Schritt der Koalition in die richtige Richtung, wenn sie beschlossen hat, keine kostenwirksamen Sozialgesetze für einen Zeitraum von zwei Jahren zu beschließen. Dieser Zeitraum sollte allerdings von allen Beteiligten zum Nachdenken genutzt werden. Denn machen wir uns nichts vor: In der breiten Öffentlichkeit werden Steuern und Sozialabgaben nicht dem Grunde nach unterschieden, sondern in ihrer Gesamthöhe beurteilt. Das schönste Steuerentlastungsprogramm nützt überhaupt nichts oder, wie manche hier sagen, kommt draußen nicht an, wenn auf der Sozialabgabenseite weitere Erhöhungen vorgenommen werden.
Ein umfangreiches Entlastungsprogramm für alle Bürger muß deshalb nicht nur die steuerlichen Abgaben berücksichtigen, sondern auch die Sozialabgaben, die längst die Grenze der Belastbarkeit erreicht haben.
Wir müssen in dieser Diskussion zu einer neuen Dimension kommen. Sozial ist nur eine arbeitslosenfreundliche Politik. Eine Politik und Gesetze jedoch, die sich sozial nennen, aber in Wirklichkeit die Arbeitslosigkeit durch die Erhöhung der Arbeitskosten einbetonieren, verdienen nicht das Prädikat „sozial".
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Meine Damen und Herren, in diesem Zusammenhang ist auch die Diskussion um die Frage der Arbeitszeitverkürzung zu sehen. Auch die Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich ist eine Steigerung der Lohnkosten, die die Probleme der Arbeitslosigkeit nicht erleichtert, sondern sie weiter erschwert.
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In diesem Zusammenhang muß man sagen, daß damit nicht zum Abbau der Arbeitslosigkeit beigetragen wird, sondern daß man eine solche Maßnahme in Wirklichkeit schon fast als beschäftigungsfeindlich betrachten kann.
Ich sprach vorhin von dem notwendigen Strukturwandel. Hier spielen die mittelständischen Unternehmen zunehmend eine führende Rolle. Der Klein- und Mittelbetrieb von heute, technisch auf hohem Niveau und von seiner Betriebsgröße her flexibel genug, um Marktnischen zu nutzen und einen schnellen Nachfragewandel nachzuvollziehen, ist die einzig richtige Antwort auf die vielleicht zu späte Erkenntnis, daß eine rohstoffarme und lohnkostenintensive Volkswirtschaft wie die unsere in der weltwirtschaftlichen Arbeitsteilung, auf die wir nun einmal angewiesen sind, mit großindustrieller Massenfertigung in Zukunft nicht mehr die Rolle spielen kann, an die wir uns aus der Vergangenheit her gewöhnt haben.
Meine Damen und Herren, das Bewußtsein der unternehmerischen Verantwortung im Mittelstand hat dazu geführt, daß gerade hier die so dringend benötigten Arbeitsplätze angeboten werden. In der kleinsten Größenklasse der Betriebe, in Betrieben mit 1 bis 20 Beschäftigten, haben in den zurückliegenden Jahren fast 600 000 Menschen einen neuen Arbeitsplatz gefunden, während in den Großbetrieben mit mehr als 500 Beschäftigten in der gleichen Zeit 225 000 Arbeitsplätze abgebaut worden sind.
Wer also den Zusammenhang zwischen Arbeitsmarkt und Wirtschaftspolitik wieder stärker herausarbeiten will, muß diesem Ergebnis Rechnung tragen. Mittelstandspolitik heißt nicht Politik für kleinere und gegen größere Unternehmen; ganz im Gegenteil. Aber erfolgreiche Mittelstandspolitik darf nicht als nachrangiger Teilbereich unserer Wirtschaftspolitik insgesamt verstanden werden. Wenn der Mittelstand die dringend benötigten Arbeitsplätze anbietet, muß sich diese Leistung auch in unserer Politik niederschlagen. Sie muß sich niederschlagen in gleichen Rahmenbedingungen für alle Unternehmen, im Ausgleich für größenbedingte Wettbewerbsnachteile, in einer Steuer- und Sozialpolitik ohne Sonderregelungen. Eine solche Politik muß vielmehr von vornherein mittelstandsgerecht und damit im besten Sinne des Wortes praktikabel sein.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Herr Präsident, meine Redezeit ist leider kurz vor dem Ende.
({0})
Ich möchte jetzt nicht zu Lasten meiner Kollegen hier die Zeit überziehen. Ich bitte um Verständnis.
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Mehr kann die Politik nicht leisten; sie darf es nach unserer marktwirtschaftlichen Ordnung auch nicht.
Hierzu gehört die Sicherung des Wettbewerbs. Sie ist eine der entscheidenden Aufgaben marktwirtschaftlicher Politik. Wettbewerb und Strukturpolitik gehören für uns zusammen. Die Strukturpolitik soll den Markt von Hemmnissen befreien, und der Wettbewerb soll ihn steuern. Wer Arbeitsplätze im Wettbewerb sichern will, wer dafür ist, daß neue Arbeitsplätze entstehen, der muß den Wettbewerb schützen, der muß schädliche Konzentrationsprozesse in allen Wirtschaftsbereichen aufhalten. Ich bin sehr dankbar, Herr Bundesminister, daß Sie heute morgen hier ein klares Ja zu der notwendigen Novelle zum GWB gesagt haben. Wir begrüßen deshalb auch die Aussagen, die dazu im Jahreswirtschaftsbericht gemacht worden sind. Nur wenn wir alle Möglichkeiten nutzen, die uns rechtlich und tatsächlich zur Verfügung stehen, werden wir in der Lage sein, die schwerwiegenden StrukHauser ({2})
turumwandlungen zu bewältigen und damit der Massenarbeitslosigkeit zu begegnen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Sellin.
Herr Präsident! Die Bundesregierung legt den Jahreswirtschaftsbericht gemäß § 2 des Gesetzes zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft vor. Die wirtschaftspolitische Entscheidungssituation stellt sich für die herrschende politische Auffassung nach dem Motto „Wachsen oder weichen" dar. Die Rede von Herrn Bangemann habe ich noch im Ohr.
Es ist deshalb konsequent, daß der Sachverständigenrat sein Gutachten 1987/88 unter den Titel „Vorrang der Wachstumspolitik" gestellt hat. Der Brükkenschlag zwischen Weisen und Regierung wird ersichtlich. Die Prognoseinstitute feilschen im Kommastellen der erwarteten Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts. Die Bundesregierung orientiert sich selbstverständlich an den höheren Werten, um psychologischen Optimismus zum Gegenstand eigener Politik zu erheben. Dabei weiß jeder, daß sich der konjunkturelle Aufschwung der letzten Jahre längst in einen Abschwung verwandelt hat. Die regelmäßig nach unten korrigierten Steuereinnahmeschätzungen vergrößern die Nettoneuverschuldung unter Bundesminister Stoltenberg und sind beredtes Zeugnis dieses Abschwungs.
Uns GRÜNE interessiert bei dieser Debatte die Notwendigkeit, das wirtschaftspolitische Ziel, stetiges und angemessenes Wachstum volkswirtschaftlich erzielen zu wollen bzw. zu müssen, in Frage zu stellen, durch ein anderes Ziel zu ersetzen. Wir wollen, daß als neue Perspektive das Ziel der umwelt- und sozialverträglichen Wirtschaftsweise in den wirtschaftspolitischen Zielkatalog aufgenommen wird.
Zur Unterstützung dieses strategischen Wechsels in der beabsichtigten Wirtschaftsweise fordern wir in einem heute vorgelegten Entschließungsantrag, daß die Bundesregierung aufgefordert wird, zugleich mit dem Jahreswirtschaftsbericht einen Bericht zur Entwicklung der ökologischen und sozialen Folgekosten des Wirtschaftswachstums vorzulegen. Wird diesem Antrag durch Zustimmung aller Fraktionen stattgegeben, dann haben wir in einem Jahr hier eine völlig andere Gemengelage politischer Auseinandersetzung zu erwarten. Es müßte im einzelnen die Auseinandersetzung geführt werden, welche Wirtschaftszweige wachsen sollen und welche Wirtschaftszweige schrumpfen sollen, um zu einer umwelt- und sozialverträglichen Wirtschaftsweise zu kommen. Sektorale und strukturelle Wirtschaftspolitik würden die Debatte bestimmen. Die herrschende Wirtschaftsphilosophie von Herrn Bangemann, Lambsdorff und Company kennt nur die Expansion als kennzeichnenden Stil und kennzeichnende Methode deutscher Wirtschaftspolitik, auch im Rahmen der Konzeption des europäischen Binnenmarktes.
Bei dieser mehr oder weniger rein quantitativ auf neue, zusätzliche Märkte orientierten Politik werden die kontraproduktiven Effekte und Ergebnisse dieser exportorientierten Wirtschaftsweise völlig außer acht gelassen. Ökologische und soziale Zerstörung werden sowohl hier als auch im jeweiligen Exportland nicht beachtet. Der Bumerangeffekt herrschender Industriepolitik zeigt sich in Forschungsergebnissen über die quantitative Erfassung ökologischer und sozialer Folgekosten der herrschenden Wirtschaftspolitik.
In einer Studie des Wissenschaftszentrums Berlin aus dem Jahre 1987 werden beispielsweise folgende Folgekosten ausgewiesen: Folgekosten aus Umweltschäden 12,5 Milliarden DM, Folgekosten aus der Verkehrspolitik 52,3 Milliarden DM - davon allein Personen- und Sachschäden 17,4 Milliarden DM -, Folgekosten der Gesundheitspolitik 40,7 Milliarden DM. Insgesamt ergibt sich eine Summe von 157,9 Milliarden DM. Das entspricht einem Volumen von 10 % des Bruttosozialprodukts, und da ist vieles nicht eingerechnet, erst recht der Verlust an immateriellen Werten wie das Aussterben von Pflanzen und Tieren oder die Zerstörung der Natur an sich, weil sie nicht bewertbar sind. Christian Leipert vom Wissenschaftszentrum Berlin und Lutz Wicke vom Umweltbundesamt haben mit ihren Veröffentlichungen über die ökonomische Kontraproduktivität herrschender Wachstumspolitik den politischen Diskurs dafür eröffnet, daß auch Kurt Biedenkopf im „Handelsblatt" feststellen mußte: Wirtschaftswachstum, ausgedrückt im Zuwachs des Bruttosozialproduktes, ist kein zuverlässiger Maßstab mehr für wirtschaftlichen Fortschritt und die Verbesserung der Qualität unseres Gemeinwesens.
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Er fordert: Wachsen muß die Intelligenz unserer Ordnungen und ihrer Strukturen und Einrichtungen. Der Abschied Biedenkopfs vom Bruttosozialprodukt als Maßstab für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt wird von dieser Bundesregierung nicht geteilt, er wird negiert.
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Ich plädiere für den politischen Streit darum, was für eine Wirtschaftspolitik zu intelligenteren Lösungsstrategien führt als die herrschend umweltzerstörende Wirtschaftsweise.
Ich will die ökologisch und sozial ausgewiesene wirtschaftspolitische Konzeption der GRÜNEN für eine differenzierte Wirtschaftsentwicklung, die den Umbau der Industriegesellschaft zum Gegenstand hat, am Beispiel der Energiepolitik skizzieren. Unser politisches Ziel heißt: Energiewende durch Energieeinsparung. Die GRÜNEN fordern wirtschaftspolitische Rahmendaten, die Energiesparen zum attraktiven, erstrangigen Kalkulationsgegenstand jeder Investitionsentscheidung machen.
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Solaranlagen und andere regenerative Energieanlagen werden nicht nachgefragt, weil die Importpreise für Öl, Gas und Kohle so stark verfallen sind. Die Endlichkeit der fossilen Energieträger wird von den Weltmarktpreisen nicht signalisiert. Die Energieverschwendung in den Industrieländern findet ungebro4362
chen statt, sie hat sogar wieder zugenommen. Der Ölschock ist vergessen; mehr als zehn Jahre liegt er zurück. Wir fordern die Erhebung einer Primärenergiesteuer auf Öl, Gas und Kole, um die Energiesparmotivation aus ökologischen Gründen ökonomisch durchzusetzen. Das Energiesparmotiv soll von uns praktiziert und muß in der EG international vertreten und durchgesetzt werden.
Zweitens. Die politische Gestaltung von relativen Energiepreisen zueinander durch das Instrument der Primärenergiesteuer sollte dazu beitragen, daß jeweils der emissionsgeringste fossile Brennstoff bevorzugt wird.
Drittens. Die Einnahmen der Primärenergiesteuer sind für Energiesparinvestitionen zu verausgaben, z. B. Förderung der Kraft-Wärme-Koppelung, insbesondere bei dem Einsatz von Gas, Wärmedämmung und Verbreitung moderner Heizungstechnik und Warmwasser im Wohnungsbau, Abbau und Ersatz elektrischer Nachtspeicherheizungen,
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Subventionierung von Investitionen für den Einsatz von Wind- und Wasserkraft, der thermischen Sonnenenergie und der Bioenergie, Aufbau von Forschungs- und Anwendungsvorhaben zur Nutzung der Wasserstofftechnologie, Energiesparen im Verkehrswesen durch Vorrang für den öffentlichen Personennahverkehr und Benachteiligung des individuellen motorisierten Verkehrs.
Viertens. Diesen ausgewählten Wachstumssektoren stehen energiepolitisch gewünschte Sektoren gegenüber, die schrumpfen sollen.
a) Die GRÜNEN wollen den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie, da es eine friedliche und sichere Nutzung dieser Energie nicht gibt; dies bedarf der politischen Bewertung.
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b) Die Reservekapazitäten der Energiewirtschaft sind nachweislich so riesig, daß der befristete Wechsel zu fossilen Brennstoffen aus sicherheitspolitischen Gründen möglich und zu bevorzugen ist.
c) Die Sicherung der Steinkohlekapazitäten und damit die Sicherung der Arbeitsplätze der im heimischen Steinkohlenbergbau Beschäftigten ist für den Ausstieg aus der Kernenergie solange zu subventionieren, bis durch den Aufbau regenerativer Energien und von Energiespartechnologien Ersatzarbeitsplätze im Ruhrgebiet, im Saarland usw. geschaffen worden sind.
d) Energiewirtschaftliche Rationalität hat Vorrang vor dem blinden Gesetz des Marktes. Die Verluste bei der Energieumwandlung von der Primärenergie zur Endenergie - müssen minimiert werden. So lautet die Philosophie.
Der Umbau der Industriegesellschaft läßt sich strukturell auch an anderen Zielen ökologischer Politik durchspielen. Die GRÜNEN setzen sich für eine differenzierte Wirtschaftsentwicklung mit aufeinander abgestimmten Instrumenten der Wirtschaftspolitik ein: erstens Rohstoffsteuern - Beispiel Primärenergiesteuer - , zweitens Abgaben - z. B. Stickstoffabgabe in der Landwirtschaft - gegen die Chemie in der Landwirtschaft -, drittens Verbote, z. B. Abschalten der Atomkraftwerke, viertens Gebote, z. B. das Einhalten von Grenzwerten bei der Zulassung von Kraftfahrzeugen; US-Normen ist das Stichwort.
Diese Maßnahmen widersprechen angeblich dem Deregulierungspostulat der Bundesregierung. Ich kann dem überhaupt nicht zustimmen, da die Bundesregierung dort reguliert, wo es uns nicht paßt, aber ihr in den Kram paßt. Zum Beispiel schreibt erstens das Energiewirtschaftsgesetz das Machtmonopol der Energieversorgungsunternehmen fest. Kleine Energieanlagenbetreiber können ihre Stromproduktion nicht rentabel in das überregionale Netz einspeisen. Kommunale Energieunternehmen werden behindert.
Zweitens. Die Bundestarifordnung Elektrizität verhindert, daß ein Stromtarif eingeführt wird, der einen Anreiz zum Stromsparen beinhaltet. Das heißt, wir wollen einen linearen, einheitlichen, zeitvariablen Tarif.
Drittens. Die Bundesregierung erläßt im Rahmen der Steuerreform eine Amnestie, damit hinterzogene Steuern auf Kapitalerträge erlassen werden können.
Viertens. Die Bundesregierung verlagert den Bankenerlaß in die Abgabenordnung und erreicht damit, daß Ermittlungsmöglichkeiten des Finanzamtes gegenüber Steuerpflichtigen unterbunden werden.
Fünftens. Aus der Sicht der Bundesregierung besteht Regulierungsbedarf für Einkommensbezieher wie Herrn Lambsdorff, damit eine Steuerhinterziehung nicht vielleicht zum zweitenmal festgestellt werden kann. Deregulierung und Regulierung sind politische Kampfbegriffe für oder gegen etwas, bei jedem einzelnen Gegenstand der Politik.
Sechstens. Jede Richtlinie der Europäischen Gemeinschaft normiert, harmonisiert etwas, was in den meisten Fällen eine Nivellierung von politischen Standards in eine ökologisch und sozial weniger verträgliche Richtung bedeutet, z. B. die EG-Normen für die Abgaswerte von Autos im Verhältnis zu den schärferen US-Normen oder Strahlengrenzwerte oder maximale Arbeitsplatzkonzentrationswerte. Alles wird nach oben nivelliert.
Siebtens. Deregulierung ist eine politische Propagandablase, hinter der sich interessengeleitete Regulierung verbirgt. Seit Regierungsantritt der CDU/ CSU/FDP-Koalition hat die Arbeitslosigkeit um zirka eine halbe Million Menschen zugenommen. Die Nettoneuverschuldung hat mit mindestens 40 Milliarden DM im Jahr 1988 den seriösen Anstrich von Herrn Stoltenberg demontiert.
Die wirtschaftspolitische Konzeption von Bundeskanzler Kohl schlägt sich in Briefen von Franz Josef Strauß nieder. Schlampig gearbeitet wurde bei der Erarbeitung der Steuerreform. Das Unrechtsbewußtsein der Steuerhinterzieher durch nicht angegebene Zinserträge wird von Herrn Stoltenberg entdeckt. Es wird gepflegt und gehegt durch einen Amnestieteil im Referentenentwurf. Die Quellensteuerdiskussion löst die Gründung von Bankenanlagefonds in Luxemburg
aus. Herr Glos von der CDU/CSU-Fraktion entdeckt die Kapitalflucht und kritisiert hilflos das professionelle Geschäft des Kreditgewerbes. Die Urteilsfähigkeit der Regierung in wirtschaftspolitischen Angelegenheiten ist zerstört. Zu diesem Schluß muß man kommen, wenn man sich die Differenzen und Ungereimtheiten der letzten Wochen ansieht.
Aktueller Gegenstand der wirtschaftspolitischen Auseinandersetzung ist der Kampf um die Wochenarbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst. Die Tarifauseinandersetzung soll vorrangig die überfällige Wochenarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich bringen. Die Forderung nach vollem Lohnausgleich hat die Gemüter insbesondere in der SPD erhitzt. Für die GRÜNEN ist die Debatte mehrere Jahre alt und nichts Neues. In unserem Programm steht eindeutig, daß wir für den Vorrang der Wochenarbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich für die unteren und mittleren Einkommen gegenüber anderen Formen der Arbeitszeitumverteilung sind. Soweit die Position.
Die Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst hat wie jede andere Tarifverhandlung folgende drei Verteilungsebenen zu beachten. Erstens. Wie erfolgt die Verteilung zwischen Gewinnen und Löhnen in der Volkswirtschaft? Da ist festzustellen, daß die bereinigte Lohnquote heute auf dem Niveau von 1960 liegt. Das hat diese Regierungskoalition innerhalb von fünf Jahren geschafft.
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Von da aus muß dem zugestimmt werden, was im Ifo-Bericht über die Strukturentwicklung 1987 steht: Eine Analyse der Veränderungen in der Lohnhierarchie zwischen 1973 und 1986 zeigt ein Zurückbleiben der Löhne im öffentlichen Dienst. Demgegenüber hat sich eine Reihe von hoch subventionierten Zweigen in der Lohnhierarchie, z. B. die Luft- und Raumfahrtindustrie - man denke an den Airbus von Franz Josef Strauß und Herrn Riedl - , ganz nach oben geschoben.
Die zweite Ebene. Wie soll der zur Verteilung anstehende Finanzierungsspielraum auf die Bestandteile Lohnerhöhung und Arbeitszeitverkürzung aufgeteilt werden? Wir haben da die Position: Arbeitszeitverkürzung hat Priorität zugunsten der Arbeitslosen.
Drittens. Die durchschnittliche Tariflohnerhöhung läßt sich unterschiedlich stark auf die verschiedenen Einkommensgruppen verteilen. Eine Lösung sind Sockelbeträge, die prozentual die unteren Einkommen begünstigen, z. B. den „kleinen" Postbeamten oder Bahnbeamten. Eine andere Lösung, die sich für den öffentlichen Dienst anbietet, wo die Gehälter im Tarifbereich bis 7 400 DM gehen, ist, daß die Beschäftigten im höheren Dienst, die Juristen, die Richter, die Ärzte und die Lehrer, keinen vollen Lohnausgleich erhalten. Solch eine Lösung verlangt aber - das vergißt Herr Lafontaine natürlich völlig - , daß die Tarifverhandlungen im Ergebnis fiskalpolitisch definierte Neueinstellungsgarantien bringen müssen und daß diese haushaltsrechtlich definiert werden müssen.
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Viertens. Oskar Lafontaines Debatte während der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst muß als Beitrag eines öffentlichen Arbeitgebers gewertet werden,
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der eindeutig und einseitig die Interessen des saarländischen Haushalts vertritt. Es bewertet die Lohnkosten höher als andere Kosten der Produktion. Im öffentlichen Dienst betragen die Personalkosten zirka 30 %.
In der Gesamtwirtschaft ist der Lohnkostenanteil im Durchschnitt sogar noch geringer. Längst sind für die hochproduktive Wirtschaft der Bundesrepublik die Wechselkursschwankungen und nicht die Lohnkosten die entscheidende Größe der Wettbewerbsfähigkeit.
Das „Handelsblatt" schreibt am 15. Februar 1988, die Arbeitskosten seien zumindest für die deutsche Industrie nicht das entscheidende Investitionsmotiv. - Man höre zu! - Kopfzerbrechen macht den Investoren allenfalls die Kapitalrentabilität teurer Produktionsanlagen.
Daher wundert es überhaupt nicht, daß die Strategie lautet: Maschinenlaufzeiten verlängern, Samstags- und Sonntagsarbeit und Nachtarbeit einführen. Dagegen sollte man sich wehren.
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Die betriebswirtschaftliche Logik erschlägt die Lebensqualität der Menschen. Die zunehmende Schicht-, Nacht-, Samstags- und Sonntagsarbeit ist das Zeugnis mächtiger Kapitalinteressen und hat mit der Propaganda von Flexibilisierung und Deregulierung überhaupt nichts zu tun. Das ist ein Kampfbegriff.
({9})
Es ist Tatsache, daß Lafontaines Debatte den Schulterschluß mit der FDP vorbereiten kann bzw. ideologisch vorbereiten soll.
({10})
Das Lob der FDP blieb nicht aus. So stellt sich nur noch die Frage, ob Lafontaine der Meinung zustimmt, die Graf Lambsdorff im General-Anzeiger in dieser Woche geäußert hat: In den unteren Einkommen muß Solidarität geübt werden in dem Sinne, daß nicht nur die vorhandene Arbeit, sondern das damit verbundene Einkommen neu verteilt wird. - Man höre genau zu! Neuverteilung unter den unteren Einkommen.
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Vielleicht gewinnt Oskar Lafontaine noch etwas dazu, wenn er unter den oberen Einkommen sein Einkommen mit Graf Lambsdorff teilt. Diese Frage sollte man einmal in den Raum stellen.
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Erwärmt sich der stellvertretende SPD-Vorsitzende
demnächst auch noch für Tarifverträge mit Offnungs4364
klauseln, so daß die armen Bundesländer wie das Saarland andere Gehälter als die Nachbarländer Baden-Württemberg und Bayern zahlen?
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Diese Frage stellt sich allerdings, wenn man diese Debatte während eines Tarifkampfs vom Zaun bricht. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn es der Möglichkeit dient, politische Optionen von Bündnissen erneut zu testen und zu sondieren.
Wir GRÜNEN halten es für notwendig, die Arbeitszeitverkürzung im öffentlichen Dienst bei vollem Lohnausgleich für untere und mittlere Einkommen durchzusetzen und mit der Garantie von Neueinstellungen im Haushalt des jeweiligen Bundeslandes zu verbinden.
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Staatliche Fiskalpolitik durch Reallohnkürzung lehnen wir strikt ab. Das ist unsere Position.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Politische Diskussion heißt Streit um den besten Weg zur Lösung von Problemen, heißt nicht, dem politisch Andersdenkenden üble Argumente und üble Absichten zu unterstellen.
({0})
Was wir soeben hier gehört haben, war ein denunziatorischer Ansatz von Politik.
({1})
- Es geht nicht um mich. - 1983 sind Sie hier mit Blumen und der Politik der Milde und der Sanftheit eingezogen.
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Seither arbeiten Sie fortgesetzt mit ehrabschneiderischen Unterstellungen. Ich empfehle Ihnen: Tun Sie das doch in Ihrer Fraktion weiter - da praktizieren Sie das ja, keine Fraktion geht so miteinander um wie Ihre - , aber verschonen Sie uns im Plenum damit!
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Vor wenigen Tagen hat der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung in Berlin, Herr Krupp, ziemlich kategorisch festgestellt: Die Wirtschaftspolitik hat versagt, die Angebotspolitik funktioniert nicht, es fehlt an Nachfrage. Das Urteil des ehemaligen Kandidaten für den Posten des Bundeswirtschaftsminister ist ebenso falsch wie die von ihm gegebene Begründung.
Mangelt es an Nachfrage, Herr Roth? Der private Konsum hat 1985 die Konjunktur getragen. Er wird es auch 1988 tun. Wo haben Sie den Mangel an privater Nachfrage entdecken können?
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Jeder, der das Ausgabeverhalten unserer Mitbürger im Weihnachtsgeschäft gesehen hat, wer die Entwicklung der realen Einkommen verfolgt, kann doch nicht zu diesem Urteil kommen. Allein die Energiepreissenkungen haben in den letzten Jahren für Private und Industrie ein Nachfragevolumen von ca. 40 Milliarden DM freigesetzt. Dieses Jahr erwarten wir einen Kaufkraftzuwachs, nicht zuletzt durch die Steuerentlastung und ebenfalls durch sinkende Energiepreise, in der Größenordnung von 50 Milliarden DM. Kein Konjunkturprogramm, so schön man es sich auch ausdenken wollte, könnte dieses Volumen auch nur annähernd schaffen. Am privaten Konsum fehlt es nicht.
({5})
Funktioniert die Angebotspolitik nicht? Nach meiner Meinung ist die Antwort wieder ein klares Nein. Wir haben nicht zuviel, wir haben eher zuwenig Angebotspolitik betrieben. Teilweise ist das darauf zurückzuführen, daß die Resultate nicht befriedigen. Die Stichworte heißen: zu langsame Deregulierung, nur geringfügige Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, zu zögerliche Privatisierung und kein Subventionsabbau.
Herr Professor Biedenkopf hat sich zu dem Thema - es ist gut, daß Sie darauf eingegangen sind, Herr Roth - ja geäußert: Werden wir überhaupt die politische Kraft haben, Subventionen abzubauen? Ich bin durchaus bereit - ich werde mich nachher noch zum Thema Wachstumsdiskussion äußern - , zu dem, was Herr Biedenkopf gesagt hat, einiges auszuführen. Im übrigen haben wir diese Diskussion unter uns längst aufgenommen. Ich wünschte mir, daß die CDU es auch täte. Ich konnte bisher nur eine einzige öffentliche Äußerung zu Ihrem Papier lesen, Herr Biedenkopf, und das war meine eigene.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Ja, gern.
Herr Kollege Lambsdorff, können Sie uns erklären, vor dem Hintergrund dessen, was Sie eben über die Erfolge der Angebotspolitik und der Deregulierung gesagt haben, warum seit 1985 erstmals seit den frühen 50er Jahren die Investitionsquote unter 20 % liegt und dabei bleibt?
Herr Ehrenberg, ich kann nur ebenso wie Herr Roth sagen: Hören Sie gut zu, ich kommen dann noch dazu.
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Ich habe gerade gesagt, daß es nicht zuviel Angebotspolitik, sondern eher zuwendig gibt. In diesem Bereich liegen die Versäumnisse.
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Ich zitiere aus einer der letzten Ausgaben des „Economist" :
Die Wirtschaft der Bundesrepublik ist geplagt mit Starrheiten: eng regulierte Arbeitsmärkte, großzügige Arbeitslosenunterstützung und Vorschriften, die alles regeln, von der Ladenöffnungszeit bis zur Zusammensetzung des Biers.
Die Opposition kritisiert auch heute wieder die Steuerpolitik. Zu Unrecht. Hinter dem Qualm der Diskussion um Einzelheiten gerät langsam in Vergessenheit, daß wir die Einkommen- und Körperschaftssteuer um netto 50 Milliarden DM senken und daß 25 Milliarden davon allein auf die Einführung des linear-progressiven Tarifs, auf die Beseitigung des „Mittelstandsbauches" entfallen. Damit entlasten wir endlich die kleineren unt mittleren Einkommen, die Leistungsträger der deutschen Wirtschaft, und damit mildern wir endlich die leistungstötenden Grenzsteuersätze.
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Die FDP, meine Damen und Herren, steht zu dieser Steuerreform als einem Kernstück der Wirtschaftspolitik der Bundesregierung. Wir bedauern es - das sage ich ganz offen - , daß aus den Reihen unseres Koalitionspartners immer wieder Stimmen laut werden, die der psychologischen Wirkung dieser Entlastung entgegenwirken. Herr Strauß und Herr Späth wissen doch, daß man auch die beste Politik zerreden kann. Übrigens, meine Damen und Herren, ich bin ja gespannt: Der Herr Bundeskanzler hat kürzlich den Generalsekretär der FDP gerügt, weil er vom rechtgläubigen Weg der Energiepolitik abgewichen ist. Kriegt Herr Späth jetzt auch eins drauf?
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Meine Damen . und Herren, warum kommen wir beim zentralen Punkt, beim Abbau der Arbeitslosigkeit, nicht voran? „Gebt mehr öffentliches Geld aus", wird uns geraten, auch heute wieder. Aber unsere Defizite steuern die Marke von 4% des Bruttosozialprodukts an. Sie sind damit höher als das amerikanische Haushaltsdefizit. Allerdings, sie können bei uns aus dem privaten Sparaufkommen, also aus dem Inland finanziert werden, und die Preissteigerungsrate liegt bei fast 0 Prozent. Das sieht in den USA anders aus. Deshalb sind die Defizite für uns und bei uns hinnehmbar. Ihnen entgegenzuwirken wäre wachstums-
und beschäftigungshindernd. Weiter erhöhen können wir sie aber auch nicht.
„Macht leichtere Geldpolitik, senkt die Zinsen", lautet ein anderer Rat, auch von Ihnen heute wiederholt, Herr Roth. Aber der Diskontsatz von 2,5 % ist der niedrigste in der Geschichte der Bundesrepublik, und an Liquidität mangelt es doch wahrhaftig nicht. Ein Blick in die Bilanzen vieler Unternehmen - Sie haben sich ja selber einige angeguckt - macht das klar. Die Bundesbank überschreitet ihr Geldmengenziel permanent, auch im Januar wieder, nicht zuletzt wegen der Interventionen in den Devisenmärkten.
Fazit: Die Wirtschaftspolitik besitzt keinen fiskalpolitischen und keinen geldpolitischen zusätzlichen Spielraum. Das verstehen jetzt auch endlich unsere Partner in den Vereinigten Staaten und anderswo. Die SPD versteht es immer noch nicht. Ihr Entschließungsantrag von heute, meine Damen und Herren, empfiehlt die falschen Rezepte. Wir werden ihn ablehnen.
Was uns fehlt - Herr Ehrenberg, Sie haben recht - , sind Investitionen. Darüber habe ich hier schon vor einem halben Jahr gesprochen. Warum folgen die Investitionen den höheren Gewinnen nicht? Noch einmal, meine Damen und Herren, der „Economist" :
Die Bundesrepublik steckt in einer Falle. Rückläufige Exporte führen zu niedrigeren Investitionen, die ihrerseits ein langsameres Wachstum erzeugen, das dann wiederum zu niedrigeren Investitionen führt. Gleichzeitig vermindert langsameres Wachstum die Steuereinnahmen der öffentlichen Hand, was die Fähigkeit zu Steuersenkungen behindert, und dies behindert das Binnenwachstum, das verlorengegangene Exporte ersetzen könnte.
Die für 1988 erwartete Wachstumsrate von etwa 1,5 % ist nicht hoch. Ist sie aber enttäuschend? Unsere Wirtschaft - der Bundeswirtschaftsminister hat mit Recht darauf aufmerksam gemacht - wächst im sechsten aufeinanderfolgenden Jahr. Einen Abschwung will Herr Sellin festgestellt haben? Keine Rede davon.
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Die Zahlen des Bundeswirtschaftsministeriums - gerade auch für die Auftragseingänge im Monat Januar - zeigen deutlich, daß wir die gesetzten, die zu erreichenden, die erwarteten Ziele in diesem Jahr aller Voraussicht nach erreichen können.
Aber, meine Damen und Herren, haben wir uns nicht - damals noch gemeinsam in der Regierung, Herr Roth - in der Rezession 1981/82 gewünscht, daß wir lieber längerfristig bescheidene Wachtumsraten als steile Aufschwünge und nachfolgende Einbrüche haben möchten? Die FDP hat im Gegensatz zu manchen Sozialdemokraten und zu manchem Gewerkschafter, ganz zu schweigen natürlich von den GRÜNEN, dem Null-Wachstum niemals das Wort geredet.
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Aber wir fragen: Können wir realistischerweise Wachstumsraten erwarten, wie wir sie beim Wiederaufbau unseres zerstörten Landes hatten? Sind anhaltende 1,5 bis 2 % reales Wachstum vor dem Hintergrund eines Landes mit abnehmender Bevölkerung nicht ein annehmbares Ergebnis? Wenn das so ist, meine Damen und Herren, dann müssen wir für man4366
che Einrichtungen unseres Landes Konsequenzen ziehen. Ich nenne das Stichwort Alterssicherung, die auf höheren Wachstumserwartungen aufbaut. Dann müssen wir unsere Anstrengungen darauf richten, den erreichten Lebensstandard zu erhalten und diejenigen daran teilhaben zu lassen, die auf der Schattenseite leben. Es wäre doch wahrhaftig nicht wenig, wenn uns dies gelänge.
Vor dem Hintergrund einer demographischen Entwicklung, die das Durchschnittsalter der Bevölkerung deutlich ansteigen lassen wird, ist dies keine leichte Aufgabe. Diese Veränderung der Altersstruktur wird weitreichende Folgen haben, z. B. auf das Konsumverhalten der Menschen. Die älter werdenden Menschen werden nicht weniger Geld ausgeben, aber sie werden andersgeartete Ansprüche haben, auf die sich das Angebot einstellen muß. Sie werden Folgen auch für die Mentalität einer Bevölkerung haben, die stärker in Kategorien der Wahrung des Erreichten denken wird, als wir das heute noch gewohnt sind. Wann hat es das in Deutschland zum letztenmal gegeben, daß wir beinah 50 Jahre ohne Krieg und ohne Inflation leben durften? Viele Menschen haben geerbt, manche zweimal, kleine Vermögen sind gebildet worden. Das macht die Menschen risikobewußter, risikoscheuer, macht sie, nicht im parteipolitischen Sinn, konservativer. Dies alles wird auch politisches Gewicht haben. Der relative Anteil der Älteren an Wahlentscheidungen wird sich von Wahl zu Wahl erhöhen.
Einer solchen Zielsetzung, Bewahrung und Sicherung des Erreichten, müssen sich allerdings alle anschließen, nicht nur die Politik. Eine Rentenreform ohne Zutun von Beitragszahlern und Rentnern ist ebensowenig denkbar wie eine Reform des Gesundheitswesens ohne Zugeständnisse der wirtschaftlich Beteiligten. Arbeitslosigkeit kann nicht ohne die Mitverantwortung der Tarifvertragsparteien bekämpft werden. Mit Recht hat der Bundeskanzler kürzlich gesagt, die Wirtschaftspolitik könne die Fehler der Tarifpolitik nicht wiedergutmachen. Sie kann es auch nicht für die Fehler der Sozialpolitik.
Die laufende Tarifrunde gibt wenig Anlaß zu Optimismus. Der Abschluß in der niedersächsischen Stahlindustrie kann doch nur zu der Frage führen: Ziehen die Tarifvertragsparteien aus der Montanrunde, aus der Montankonferenz, die Schlußfolgerung, der Steuerzahler werde für den von ihnen angerichteten Schaden schon aufkommen?
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Meine Damen und Herren, die Diskussion um Arbeitszeitverkürzung mit oder ohne vollen Lohnausgleich sollte nicht gleich wieder von Herrn Vogel erstickt werden. Wer an die Arbeitslosen denkt, muß sich dieser Frage stellen. Arbeitslos sind allerdings gerade nicht die, die über 5 000 DM im Monat verdienen. Fast 60 To unserer registrierten Arbeitslosen sind ungelernte oder angelernte Arbeitskräfte. Sie sind die Opfer der falschen Tarifpolitik, die Folgen der Politik der Sockellohnerhöhungen.
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Schließen Sie, meine Damen und Herren, bitte aus dieser Analyse nicht: Die FDP, die Liberalen, sehen verzagt, sehen mutlos in die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. - Im Gegenteil, wenn ein hochindustrialisiertes Land seine Probleme lösen kann, dann ist es die Bundesrepublik Deutschland.
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- Ja, ich weiß, Herr Conradi, daß Sie das glauben. Die Architekten halten Sie für einen guten Abgeordneten und die Abgeordneten für einen guten Architekten.
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Der Fleiß unserer Arbeiter, das Können unserer Unternehmer, und hier besonders der kleinen und mittleren Unternehmer, der Handwerker und der Selbständigen, ihrer aller Leistungsbereitschaft, gepaart mit der richtigen marktwirtschaftlichen Wirtschaftspolitik, das sind die Grundlagen für diesen berechtigten Optimismus.
Wir, die Liberalen, die Freie Demokratische Partei, fordern die Bundesregierung auf, diesen Weg verstärkt weiterzugehen. Die Richtung stimmt, das Tempo könnte beschleunigt werden. Wir werden die Bundesregierung dabei unterstützen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte versuchen, hier zwei Thesen zu verdeutlichen. Die erste These lautet: Dieser Regierung wurde in der öffentlichen Meinung einmal wirtschaftspolitische Kompetenz zugesprochen. Aber diese Kompetenz schmilzt dahin wie Schnee in der Sonne. Immer weniger, selbst der angestammten Freunde dieser Regierung, glauben, daß diese Regierung noch wirtschaftspolitische Kompetenz besitzt. Zweitens: Es mangelt dieser Regierung an ordnungspolitischer Orientierung. Ich behaupte: Ludwig Erhard, wenn er miterleben würde, was sich diese Regierung erlaubt, würde sich im Grabe umdrehen, weil er sich schämen müßte.
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Meine erste These - mein Kollege Wolfgang Roth hat es schon gesagt - : Selbst Staatssekretär Schlecht erkennt mittlerweile an, daß die Argumentationskette „mehr Gewinne, höhere Investitionen, Arbeitsplätze" nicht gehalten hat. Diese Argumentation verfolgen wir im Grunde seit 1980. Selbst nach fünf Jahren Aufschwung gibt es immer noch 400 000 Beschäftigte weniger als zum Zeitpunkt des letzten Aufschwungs 1980. Seit 1983 haben wir in diesem Lande eine Arbeitslosenquote von über 9 %. Das ist eine Arbeitslosigkeit, die höher ist als 1950, eben nach dem Kriege. Immer mehr Bürger wollen deshalb wissen: Was will diese Regierung endlich gezielt tun, um die Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?
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Ich will ehrlich sagen: Wir Sozialdemokraten haben im Grunde, wenn es vernünftig ist, überhaupt nichts
gegen Deregulierung oder Entbürokratisierung. Nur, ich sage: Man soll hier endlich Roß und Reiter nennen. Man soll einmal konkret werden. Mit solchen allgemeinen Sprüchen kann man doch nichts erreichen. Wenn allerdings die Regierung behauptet, mit einer Änderung des Ladenschlußgesetzes, durch die Beseitigung der Allgemeinverbindlicherklärung in Tarifverträgen oder durch die Privatisierung der Bundespost würden Arbeitsplätze geschaffen, dann ist das eine immanente Lüge, dann ist das Scharlatanerie.
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Meine Damen und Herren, die Neuverschuldung ist in diesem Jahr mit 45 Milliarden DM anzusetzen, fünf Jahre nach dem Aufschwung eine Rekordneuverschuldung. Dabei brauchten wir dringend zusätzliche Ausgaben für private und öffentliche Investitionen. Die Neuverschuldung wird aber benutzt, um Subventionen zu finanzieren.
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Zusätzliche Verschuldung wäre ja durchaus sinnvoll, wenn die Regierung zugeben würde, daß wir eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts haben. Aber Bundeswirtschaftsminister Bangemann malt die Situation in rosarot. Deshalb ist es so verwerflich, daß die Neuverschuldung nach oben getrieben wird. Dieser Regierung mangelt es nicht nur an Kompetenz, es mangelt ihr auch an wirtschaftspolitischer Führung.
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Ich habe gesagt, das Soziale sei der Regierung im Leitbild der Marktwirtschaft verlorengegangen. Dieses Soziale wird seit langem systematisch demontiert. Ludwig Erhard hatte 1961 verkündet:
Wir sind stolz und für unser Land glücklich, daß wir gerade auf sozialem Gebiet große Erfolge erzielen konnten.
Der Wohlfahrtsstaat
- schreibt dagegen Herr Bangemann ist der unmenschlichste Staat, den man sich denken kann.
Es wird weiter eifrig das demontiert, was Sozialdemokraten und Christdemokraten einmal gemeinsam erarbeitet hatten.
Bereits jetzt ist der soziale Kern unserer Wirtschaftsordnung verlorengegangen. Die Regierung leidet in der Tat an ordnungspolitischer Orientierungslosigkeit.
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Es ist eine falsche ordnungspolitische Weichenstellung, wenn verstärkt finanzielle Mittel für den Airbus zur Verfügung gestellt werden, wenn man Milliardenbeträge in die Projekte Columbus oder Hermes hineingeben will und gleichzeitig die Forschungsförderung für kleine und mittlere Unternehmen kürzt und die Existenzgründungshilfen für kleine und mittlere Unternehmen beseitigt. Das muß man kritisieren.
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Es ist eine falsche ordnungspolitische Weichenstellung, wenn die Schatzkassen der Großkonzerne immer voller werden, prall gefüllt sind und dieses Geld benutzt wird, um systematisch kleine und mittlere Unternehmen aufzukaufen.
Aus dem Jahreswirtschaftsbericht, über den wir debattieren, geht hervor: Zusätzliche Konjunkturimpulse gibt es in dieser Zeit nicht, die vor uns liegt. Dabei hat gestern gerade das Ifo-Institut einmal mehr festgestellt: Es besteht erheblicher Handlungsbedarf. Selbst Botschafter Burt geißelt an dieser Regierung eine Haltung, die er als Chauvinismus beschreibt. Sie denkt, wie Ihr amerikanischer Freund sagt, nicht über den Kirchturm hinaus. Dabei wäre durchaus manches Sinnvolle dringend zu tun.
Erstens. Das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht müßte schnellstens, und zwar durch aktive Politik, endlich abgebaut werden.
Zweitens. Der Realzins muß noch weiter nach unten gedrückt werden. Er hat im Vergleich zu früheren Jahren immer noch eine erhebliche Höhe.
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Drittens. Die Bekämpfung der weltweiten Schuldenkrise müßte von dieser Regierung endlich einmal angepackt werden.
Das sind die wichtigsten internationalen Aufgaben, die vor uns liegen, aber die Bundesregierung tut nichts.
Es gibt auch binnenwirtschaftliche Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur, insbesondere zur Belebung der öffentlichen und der privaten Investitionen. Über das Programm der Kreditanstalt für Wiederaufbau urteilt zum Beispiel der Chefökonom der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung", Herr Dr. Barbier: Ist die Bundesregierung von allen guten Geistern verlassen? - Diese billigen Kredite fließen in die reichen Städte und Gemeinden, die sie nicht nötig haben.
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Die Kommunen, die sie dringend nötig haben, können sie nicht bezahlen.
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- Das kritisiert mein Freund Wolfgang Roth genauso wie ich.
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Dementsprechend sieht unser Antrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit eine Umstrukturierung dieser Hilfen vor.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Graf Lambsdorff?
Bitte.
Herr Kollege Jens, darf ich nur zur Klärung der Fronten darauf aufmerksam machen, daß ich in dieser Frage mehr auf Ihrer, der kritischen Seite als auf der befürwortenden Seite des Herrn Roth stehe?
Mein Kollege Roth kritisiert diese Tatsache der extrem ungerechten Verteilung dieser Mittel genauso wie ich. Da sind wir völlig einer Meinung.
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Das Geld kann doch nicht nach Sindelfingen fließen. Das muß dorthin fließen, wo die Arbeitslosigkeit besonders hoch ist.
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Deshalb muß das Programm umstrukturiert werden. Wir fordern, daß die Zinsen anders konditioniert werden.
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- Etwa indem die Gemeinden, die die Gelder dringend brauchen, minimale, vielleicht gar keine Zinsen zahlen. Die Gemeinden, die nicht wissen, wohin mit dem Geld - wie Sindelfingen - , sollen dagegen ruhig anständige Zinsen bezahlen.
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- Das würde die Kreditanstalt für Wiederaufbau schon regeln.
Meine Damen und Herren! Unsere Vorschläge sind in dem Antrag zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit niedergelegt.
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Ich erinnere zum Beispiel an die Einführung einer steuerstundenden Investitionsrücklage insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Aus meiner Sicht ist es dringend erforderlich, daß einbehaltene, investierte Gewinne endlich wieder niedriger besteuert werden als ausgeschüttete, konsumierte Gewinne.
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Professor Giersch schrieb unlängst in der „Wirtschaftswoche" - er hat damit völlig recht - :
Was in aller Welt hindert diese Regierung eigentlich daran, aus Eigeninteresse endlich das zu tun, was andere aus Eigeninteresse von ihr verlangen?
Ich sage Ihnen, diese Regierung ist Gefangene der eigenen Ideologie. Sie ist auch eine Gefangene der mächtigen Interessengruppen in dieser Gesellschaft. Das muß geändert werden. Ihre Politik richtet sich gegen die breiten Schichten in diesem Lande. Wir brauchen endlich eine gesamtwirtschaftlich orientierte Wirtschaftspolitik und mehr Hilfen für kleine und mittlere Unternehmen. Damit diese Politik endlich ein Ende hat, gehört diese Regierung abgelöst.
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Das Wort hat der Abgeordnete Wissmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich dachte eigentlich, die Diskussion über den Jahreswirtschaftsbericht sollte nicht in einem Schlagwortabtausch bestehen; sie sollte vielmehr ein Versuch zu einer gründlicheren Analyse der Situation sein, in der wir uns befinden. Herr Kollege Jens, diesen Anspruch hat Ihr Beitrag allerdings nicht erfüllt. Ich hätte mir gewünscht, daß durch Sie oder durch Herrn Roth zumindest einige der nachdenklichen Ansätze von Herrn Lafontaine bezüglich des Zusammenhangs von Lohnentwicklung und Arbeitslosigkeit in diese Debatte eingebracht worden wären; denn wir können doch nicht daran vorbeigehen, meine Damen und Herren, daß wir in einem zusammenwachsenden europäischen Binnenmarkt größtes Interesse daran haben müssen, daß der Investitionsstandort Bundesrepublik Deutschland seine Attraktivität erhält und ausbaut.
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Wir müssen doch wissen, daß in einem solchen einheitlichen europäischen Binnenmarkt Produkte dort hergestellt werden, wo sie am billigsten produziert werden können oder wo dem Investor nach der Besteuerung der größte Ertrag für sein eingesetztes Kapital übrigbleibt. „Neue Perspektiven durch den europäischen Binnenmarkt" war ein wesentliches Kapitel dieses Jahreswirtschaftsberichts. Sicher: Es gibt gute Gründe, in Deutschland zu investieren. Die Verläßlichkeit der wirtschafts- und finanzpolitischen Rahmenbedingungen
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die Qualifikation der Arbeitnehmer, die moderne Infrastruktur: das sind zweifelsohne Pluspunkte, die auch von sozialdemokratischen Kollegen in den letzten Tagen erwähnt worden sind.
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Aber wir müßten doch in diesem Kreis von wirtschaftspolitisch Interessierten blind sein, wenn wir die wachsenden Gefahren für die Zukunft des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland übersähen. So betrugen die deutschen Direktinvestitionen im Ausland zwischen 1985 und 1987 48,8 Milliarden DM,
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während im gleichen Zeitraum lediglich 6,1 Milliarden DM vom Ausland in der Bundesrepublik investiert wurden. Für jede Mark, die Ausländer bei uns in diesem Zeitraum investierten, flossen acht Mark in das Ausland.
Wir dürfen, meine ich, diese Gefahren nicht übersehen, sondern wir sollten uns endlich in einem offenen Diskurs darum bemühen, Beiträge zu leisten, wie wir die Herausforderungen für den Industriestandort möglicherweise mit gemeinsamer Anstrengung bewältigen können.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Herr Wissmann, können Sie uns genau vor diesem Hintergrund erklären, warum
bis einschließlich 1981 Jahr für Jahr die ausländischen Investitionen in der Bundesrepublik höher waren als deutsche Investitionen im Ausland und warum es erst ab 1982 umgekehrt ist?
Herr Kollege Ehrenberg, eine ernsthafte Antwort hat mehrere Teile. Sie sagt zum ersten: In einer Welt zunehmender währungspolitischer Unsicherheiten werden Firmen, die am Weltmarkt orientiert sind, stärker als bisher darauf schauen, Produktionen nicht nur im Inland zu haben.
Herr Kollege Ehrenberg, zweitens ist es natürlich klar, daß es in einem zusammenwachsenden europäischen Binnenmarkt in einer Zeit, in der andere Länder ebenfalls große Anstrengungen unternehmen - wie etwa Großbritannien -, eine noch genauere Betrachtung der Qualität des Investitionsstandortes gibt. Deswegen haben wir ja in der Steuerreform einen ersten Schritt zur Senkung des Körperschaftsteuersatzes gemacht. Deswegen gehen wir ja den Weg der Entlastung von kleinen und mittleren Unternehmen bei der Einkommensteuer. Worum ich jetzt nur bitte, ist, daß Sie mit uns den Weg gehen,
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beispielsweise auch die Lohn- und Lohnnebenkostenbelastung,
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die größere Flexibilität in die Betrachtung einzubeziehen.
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Darauf richtet sich mein Diskussionsbeitrag im wesentlichen.
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Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, die Lohn- und Lohnzusatzkosten in der Bundesrepublik sind die höchsten im Vergleich aller Industrienationen. Der Stundenlohn einschließlich der Lohnzusatzkosten eines Industriearbeiters betrug in der Bundesrepublik Mitte 1987 32,70 DM, in den USA 25,10 DM, in Japan 24,80 DM und in Großbritannien 17,60 DM. Hohe Lohnkosten können die gutverdienenden Unternehmen sicher aushalten. Aber ich will es hier ganz klar sagen: Die Kombination hoher Lohnkosten und im Weltmaßstab unvergleichlich hoher Lohnzusatzkosten droht vor allem die kleinen und mittleren Betriebe zu erdrosseln. Meine Damen und Herren, deswegen kann die Forderung nicht sein: Lohnsenkung. Die Forderung muß vielmehr lauten: Wenn wir ein so hohes Lohnniveau als attraktiver Industriestandort wirtschaftlich halten wollen, dann müssen wir die Anstrengungen zum Strukturwandel, zu mehr Flexibilität, zur Qualifikation nicht abschwächen, sondern verstärken;
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denn nur dann sind wir in der Lage, diese Position zu behaupten.
Ein zweiter Punkt, der für die Qualität des Industriestandorts ebenfalls wichtig ist: Die Gesamtsteuerbelastung der Gewinne ist in der Bundesrepublik höher als in den meisten vergleichbaren Ländern. Deswegen war es richtig, mit der Senkung des Körperschaftsteuersatzes anzufangen. Deswegen ist es notwendig, die ertragsunabhängigen Steuern - Grundsteuer, Gewerbekapitalsteuer, betriebliche Vermögensteuer - in die Betrachtung einzubeziehen.
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Deswegen ist es notwendig, dafür zu sorgen, daß wir in der kommenden Wahlperiode nach den jetzt bereits erfolgten Schritten eine deutliche Senkung der Unternehmenssteuern erfahren, damit wir nicht im europäischen Maßstab mit einer Gesamtbelastung bis zu 66 % auch im Jahre 1990 - Schweiz und Großbritannien: 35 % - an Attraktivität verlieren. Das müssen wir doch gemeinsam beraten; denn wir wissen doch genau: Von der Attraktivität des Investitionsstandorts Bundesrepublik hängen Hunderttausende, ja Millionen von Arbeitsplätzen ab. Deswegen finde ich es gut, wenn Lafontaine den Zusammenhang von Lohn und Arbeitslosigkeit hervorhebt. Ich wünsche mir nur, daß endlich auch Herr Vogel und der DGB bereit wären, auf eine solche differenzierte Diskussion auch heute hier im Haus einzusteigen und nicht länger die alten Schlagworte vor sich herzutragen.
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Der dritte Punkt, meine Damen und Herren, im Jahreswirtschaftsbericht erfreulicherweise angesprochen: Wir müssen uns Gedanken machen, ob wir denn ein genügendes Maß an Flexibilität und Differenzierung in den Lohnentwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland haben.
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Es ist weitgehend unbekannt in der Öffentlichkeit, daß gerade in den Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit überdurchschnittlich hohe Löhne gezahlt werden. So lag 1986 der Bruttostundenverdienst eines Industriearbeiters in Hamburg um 10,8 % über dem Bundesschnitt, in Bremen um 7,6 %, im Saarland um 2,8 %, während der Bruttostundenverdienst in Baden-Württemberg nur um 1,2 % über dem Bundesdurchschnitt lag
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und im angeblich so reichen Bayern sogar 7 % unter dem Bundesschnitt. Meine Damen und Herren, wenn man das nun einer branchenspezifischen Betrachtung unterzieht, dann werden die Ergebnisse noch bemerkenswerter. Im hochsubventionierten Steinkohlenbergbau,
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einer wirklichen Krisenbranche, lag die Bezahlung 1986 um 13,4 % über dem Bundesdurchschnitt.
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Meine Damen und Herren, es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Arbeitnehmer am Erfolg ihres
Unternehmens teilhaben und gut verdienen. Aber in den Krisenbranchen erfordert jeder Lohnabschluß zusätzliche Subventionen, und deswegen ist es volkswirtschaftlich mehr als fragwürdig, wenn sich ausgerechnet die nordrhein-westfälische Stahlindustrie in Sachen Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhung zum Tarifführer macht und damit negative Signale in breiten Teilen unserer Volkswirtschaft auslöst.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?
Gern, bitte schön.
Herr Wissmann, würden Sie wirklich vorschlagen, daß die Schwere der Arbeit im Stahlbereich und im Bergbau unter Tage nicht durch höhere Einkommen entgolten werden soll? Sind Sie wirklich so zynisch?
Herr Roth, ich schlage vor, daß die Lohnzuwächse in Regionen mit schweren Krisenproblemen wesentlich weniger hoch ausfallen als in Regionen und in Unternehmen mit guten Verdiensten.
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Und diese Differenzierung ist dann nicht gegeben, wenn in der nordrhein-westfälischen Stahlindustrie Abschlüsse getätigt werden, die über denen des Schnitts der übrigen Branchen liegen und nicht nachgeahmt werden können.
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Ich finde, wir sollten Abstand von dieser Schlagwortbetrachtung nehmen, als wollten die einen Lohnsenkungen und die anderen Lohnerhöhungen. Nein. Wir müssen uns über die Frage Gedanken machen, wie wir zu einer flexibleren Tarifpolitik mit Öffnungsklauseln, zu einer stärkeren Berücksichtigung der regionalen und branchenmäßigen Unterschiede kommen können. Meine Damen und Herren, wir wissen doch genau - und auch jeder von Ihnen sagt es doch im internen Bereich - : Wir kriegen die Arbeitslosigkeit nur runter, wenn alle zusammen etwas tun, der Staat, aber auch die Tarifparteien. Wenn die Tarifparteien denen helfen, die schon drin sind, und die vergessen, die draußen sind, kann es nicht gelingen, die Arbeitslosigkeit so zu senken, wie wir sie doch gemeinsam senken wollen.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Dr. Skarpelis-Sperk?
Ich habe zwei Zwischenfragen zugelassen. Jetzt habe ich nur noch wenige Minuten. Ich darf Sie bitten, mir die Gelegenheit zu geben, meine Ausführungen jetzt zu Ende zu führen.
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- Ich habe im Unterschied zu Kollegen hier Zwischenfragen zugelassen, aber möchte jetzt Rücksicht auf die Kollegen nehmen, die nach mir sprechen.
Meine Damen und Herren, wenn man das Thema eines flexibleren Arbeitsmarktes und einer flexibleren Tarifvertragspolitik anspricht, kommt man nicht an dem erheblichen Nachholbedarf vorbei, den wir in der Bundesrepublik Deutschland bei der Schaffung von Teilzeitarbeitsplätzen haben. Fast 300 000 Menschen suchen laut der jüngsten Arbeitsmarktstatistik ausschließlich Teilzeitarbeit. Sie sind als arbeitslos registriert. 600 000 Menschen, die Arbeit haben, würden nach Untersuchungen die Arbeitszeit gern reduzieren. Bei einer Untersuchung in fünf Unternehmen mit über 3 000 Mitarbeitern ist von McKinsey festgestellt worden, daß mehr als 60 % aller Arbeitsplätze wirtschaftlich teilbar und 38 % aller Mitarbeiter an Teilzeitarbeit interessiert wären. Wir liegen auf der Liste der vergleichbaren Industrienationen der westlichen Welt heute, was den Ausbau von Teilzeitarbeitsplätzen angeht, auf dem zweitletzten Platz.
Meine Damen und Herren, müßte es daher nicht eine gemeinsame Anstrengung geben, im öffentlichen Dienst und in der privaten Wirtschaft durch Anstrengungen der Tarifvertragsparteien mit einer breiten Offensive für mehr Teilzeitarbeit denen, die nur nach Teilzeitarbeit suchen, Chancen zu geben? Hätten wir dann nicht wenigstens ein Problem des Arbeitsmarktes besser als bisher in den Griff bekommen?
({1})
- Herr Kollege Roth, lohnt es sich denn nicht, darüber einmal - auch über Parteigrenzen hinweg - zu sprechen?
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Müssen wir denn solche differenzierten Wirklichkeiten des Arbeitsmarktes mit Brettern vor dem Kopf diskutieren?
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- Herr Kollege Roth, ich würde mir wünschen, daß Sie in Ihren eigenen Reihen dazu beitragen, daß der Lafontainesche Ansatz endlich Politik der SPD wird, und daß wir in unseren eigenen Reihen das tun, was wir bereits begonnen haben, nämlich im öffentlichen Dienst die Chancen für Teilzeitarbeitsplätze zu erhöhen.
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Dann haben wir an beiden Fronten das Notwendige getan.
Oswald von Nell-Breuning hat im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit zur Arbeitszeitverkürzung folgendes ausgeführt - ich zitiere Wirksam kann man die Arbeitslosigkeit nur bekämpfen, wenn diejenigen, die Arbeit haben, bereit sind, etwas von der Arbeit abzugeben - und auch die dazugehörigen Einkünfte.
Ich finde, wir sollten solche unkonventionellen Ansätze, die nicht nur die Verantwortung des Staates, sondern auch und nicht zuletzt die Verantwortung der Tarifparteien betreffen, offener, vorurteilsfreier als bisher ansprechen, denn wir werden auf dem Weg zu mehr Beschäftigung nicht vorankommen, wenn jeder seine Vorurteile pflegt, sondern nur dann, wenn wir grenzüberschreitend bereit sind, Vorurteile zu überwinden und an den Wurzeln der Arbeitslosigkeit anzusetzen.
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In diesem Sinne ist, so finde ich, der Jahreswirtschaftsbericht mit seinen Aussagen zur Tarifpolitik und mit seinen Aussagen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes ein Dokument, das in die richtige Richtung weist. Die Koalitionsparteien werden diesem Weg folgen und werden ihn in den kommenden Monaten auch durch präzise und konkrete Vorschläge im einzelnen vertiefen. Ich hoffe, die Sozialdemokraten tragen dazu vorurteilsfrei bei und bleiben nicht in den alten Schützengräben sitzen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
({0}) Bitte, Herr Stratmann!
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Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Herr Kollege Roth, Stratmann pennt nie, sondern hatte gerade noch ein wichtiges Kurzgespräch mit dem Kollegen Klaus Hasenfratz. Weil der aus Bochum kommt, ist mir das ganz besonders wichtig.
Ich finde es fatal, daß in der Debatte sowohl um den Jahreswirtschaftsbericht als auch um den darauf bezogenen Antrag der SPD-Fraktion „Abbau von Massenarbeitslosigkeit" die Probleme der Montanregionen einschließlich des Ruhrgebiets als der größten Montanregion sträflich vernachlässigt werden.
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Deswegen möchte ich mich in meinem Redebeitrag auf diesen Aspekt der regionalen Strukturpolitik und insbesondere der Zukunft der Montanregionen konzentrieren und mich auf das Ergebnis der Montanrunde in der letzten Woche beziehen.
Die Montanrunde hat ein zwiespältiges Echo in der Öffentlichkeit gefunden.
({1})
- Herr Stahl, ein sehr zwiespältiges! Herr Kohl mit der Bundesregierung hat es begrüßt. Ministerpräsident Rau sprach von einem Tag des Erfolgs für das Ruhrgebiet. Aber, Herr Stahl, es muß Ihnen doch zu denken geben, daß in der Belegschaft und im Betriebsrat von Rheinhausen einhellig Wut und Empörung über das Nicht-Ergebnis der Montanrunde vorgeherrscht haben. Ich möchte für uns GRÜNE sagen, daß wir diese Wut und diese Empörung inhaltlich voll
teilen, und ich möchte das an einzelnen Punkten ausführen.
Die Montanrunde hat sich vom Ergebnis her betrachtet als ein großangelegtes Polittheater erwiesen. Dem Ruhrgebiet ist eine Milliarde DM Investitionshilfe verteilt auf Bund, EG und Landesregierung Nordrhein-Westfalen versprochen worden. Bei diesen Investitionshilfezusagen sind jedoch die Nöte der anderen Montanregionen vernachlässigt worden, insbesondere die des Saarlandes - vom Saarland ist so gut wie überhaupt nicht die Rede -, Südwestfalens und des Aachener Reviers.
Wenn wir einmal die zugesagte eine Milliarde DM Investitionshilfe mit dem vergleichen, was man mit einer Milliarde DM Investitionen bauen kann, dann stellt man fest - um ein Beispiel zu nennen -, daß allein die letzte Bauphase des Atomkraftwerks Lingen II im Jahre 1987/1988 - es soll im Sommer ans Netz gehen -, also im letzten Baujahr, eine Milliarde Investitionssumme verschlingt. Das ist die Investitionssumme, mit der Sie einem Ruhrgebiet helfen wollen, das heute über 16 % Arbeitslosigkeit hat und nach den Aussagen von Ministerpräsident Rau durch die Kahlschlagpolitik bei Kohle und Stahl in den nächsten Jahren noch 100 000 dazu bekommen wird. Angesichts dieser Dimensionen erweist sich das, was Sie dem Ruhrgebiet hier anbieten, noch nicht einmal als ein Trostpflaster und als ein wohlinszeniertes Polittheater.
Es ist festzustellen, daß die Bundesregierung mit der Landesregierung NRW zusammen für den Anstieg der Massenarbeitslosigkeit im Ruhrgebiet und in den Montanregionen mit verantwortlich ist und sich aktiv an der Kahlschlagpolitik bei Kohle und Stahl beteiligt.
Erstens. In der Kohlerunde im letzten Dezember ist einvernehmlich vereinbart worden, daß bis 1995 30 000 Arbeitsplätze in den Kohlregionen abgebaut werden, Herr Meyer, ohne daß Ersatz-Arbeitsplätze in der Kohlerunde vereinbart worden sind..
Zweitens. Bundesregierung und Landesregierung von NRW sind sich einig, daß in den Stahlregionen und in den Stahlunternehmen Kapazitäten und Arbeitsplätze abgebaut werden müssen, ohne daß vor dem Abbau neue Arbeitsplätze in hinreichender Anzahl am Ort zur Verfügung gestellt werden. Der neueste Clou von Anfang Februar ist, daß die Landtagsfraktion der SPD in Nordrhein-Westfalen, unterstützt von der Landesregierung, eine Entschließung verabschiedet hat, in der sie ihre Zustimmung zu der Schließung von Stahlwerken erklärt, d. h. auch zu der Schließung von Krupp-Rheinhausen, ohne daß vorher Ersatzarbeitsplätze vor Ort geschaffen sind.
Es sind uns Informationen zugegangen, daß schon im Januar 1988 die Landesregierung in einem Gespräch dem Vorstandsvorsitzenden der Krupp Stahl AG, Herrn Cromme, signalisiert hat, er möge doch die Hütte in Rheinhausen schnell schließen, damit der Krach aufhöre.
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- „Was" fragen Sie. Ja, das ist ein Faktum. Erkundigen Sie sich über die Informationen bei der größten
Tageszeitung im Ruhrgebiet, der „WAZ". Dort liegen die Informationen vor.
An dem Gespräch mit Herrn Cromme haben teilgenommen: für die Landesregierung Wirtschaftsminister Jochimsen und Arbeitsminister Heinemann und für die Fraktion der Fraktionsvorsitzende Farthmann. Sie haben signalisiert: Damit der Krach aufhöre und - ich interpretiere à la Bangemann - ein besseres Investitionsklima dort herrsche, solle die Hütte schnell dichtgemacht werden. Das war eine konzertierte Aktion mit der Landtagsfraktion.
Genau seitdem dies Anfang Februar an die Öffentlichkeit gegeben worden ist, sind die Belegschaft und der Betriebsrat in Rheinhausen sehr verunsichert worden.
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Zum Glück haben sie sich nach der Montanrunde wieder gefangen - wir unterstützen das - und haben sich entschieden, den Widerstand gegen die Schließung in Rheinhausen weiter aufrechtzuerhalten.
Ich möchte für die GRÜNEN betonen: Auch nach der Montanrunde gilt für uns: Der Stahlstandort in Rheinhausen muß erhalten werden; alle Stahlstandorte müssen erhalten werden, und zwar so lange, bis vor Ort neue Arbeitsplätze in ausreichender Zahl bereitgestellt worden sind.
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Wir GRÜNEN fordern für die Zukunft der Montanregionen und insbesondere für das Ruhrgebiet ökologisch orientierte Umbauprogramme. Wir sind selbst dabei, ein Umbauprogramm für eine Öko-Region Ruhrgebiet zu entwickeln und nach der Sommerpause vorzustellen.
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Öko-Region heißt ökologisch verträgliche Industrie- und Dienstleistungsregion.
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- Gar nicht; hören Sie doch einmal zu, Herr Schulhoff. - Erstes Element eines solchen Umbauprogramms „Ökoregion" : Wir brauchen ein Technologieprogramm „Sanfte Chemie". Nach Aussagen der Landesregierung ist Nordrhein-Westfalen der Produzent von 40 % des Sondermülls, insbesondere von ChemieSondermüll, in der Bundesrepublik - 40 % des Sondermülls!
Was macht die Landesregierung in ihrem ZIM-Programm = „Zukunftsinitiative Montanregionen" - was Sie in Ihrem Antrag „Abbau der Massenarbeitslosigkeit" begrüßen? Das Ruhrgebiet soll mit einer Latte von sogenannten Abfallentsorgungszentren, Bodenverfestigungsanlagen und dem Bodensanierungszentrum Bochum überzogen werden, mit ökologisch völlig unausgereiften Techniken. An die Ursache des Übels, die Produktion von Chemie-Sondermüll, wird überhaupt nicht herangegangen.
Wir fordern mit einem Sonderprogramm „Sanfte Chemie", durch Umstellung der Produktionsverfahren, durch entsprechende Technikentwicklung schon den Anfall von Sondermüll zu verhindern, statt hinterher mit zweifelhaften Entsorgungstechniken die Umwelt weiterhin zu belasten, statt Altlasten zu sanieren Neulasten zu schaffen und lediglich Entsorgungstechnik à la Verschiebebahnhöfen zu konstruieren.
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- Altlastensanierung ist sehr notwendig, ist absolut notwendig. Aber dazu ist es notwendig, ausgereifte Techniken zu entwickeln. Gucken wir uns die Techniken an: Die Techniken, die die Landesregierung NRW dort anbietet, sehen so aus, daß beispielsweise in Verfestigungsanlagen die Altlast lediglich von der einen Stelle genommen wird, mit Zement vermischt wird, an einer anderen Stelle abgelagert und mit Folie abgedichtet wird, wobei die Hersteller der Folie sagen: Garantie nur für 30 Jahre. Was Sie hier unter dem Etikett von Altlastensanierung schaffen, sind Neulasten für die nächste Generation. Das ist Umweltpolitik à la Verschiebebahnhofpolitik und hat mit Ökologie überhaupt nichts zu tun.
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Zweites Element eines Umbauprogramms „Ökoregion Ruhrgebiet" ist ein Technologieprogramm „Ökologische Energiewende". Gerade im Bereich des Energiezentrums Ruhrgebiet, dem Energiezentrum für NRW und für die Bundesrepublik, gibt es unheimlichen Investitionsbedarf und damit auch Möglichkeiten, Arbeitsplätze im Alternativenergiebereich zu schaffen. Der Kollege Sellin hat in seinem Redebeitrag dazu ausführlich Stellung genommen.
Weil meine Redezeit um ist, möchte ich noch einen letzten Gesichtspunkt erwähnen: Ich komme gerade aus dem Wahlkampf aus der Baden-WürttembergRegion Unterer Neckar: Heidelberg und Mannheim. Die Legende, daß Baden-Württemberg oder auch Bayern sich mit einer vorsorgenden regionalen Strukturpolitik und Wirtschaftspolitik von einer verfehlten Strukturpolitik in NRW abheben, wird vorbei sein. Nach der Entscheidung von BBC, alleine in ihren bundesrepublikanischen Produktionsanlagen 4 000 Arbeitsplätze abzubauen, wird die Arbeitslosigkeit in Mannheim auf über 10 % gehen. Die Mannheimer Region wird sich zum Ruhrgebiet von Baden-Württemberg entwickeln. Was wir für das Ruhrgebiet gerade entwickeln, nämlich ein Programm für eine Ökoregion Ruhrgebiet, ist, denke ich, ebenfalls für andere krisengeschüttelte Regionen notwendig, ebenfalls auch für die Region Unterer Neckar notwendig. Wir werden uns sicherlich bald mit unserem baden-württembergischen Kollegen Willi Hoss an die Arbeit machen, auch für andere Regionen, auch im sogenannten „Musterländle" solche Programme zu entwickeln.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Biedenkopf.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Diskussion des Jahreswirtschaftsberichtes der BundesregieDr. Biedenkopf
rung gibt Gelegenheit, über einige der Grundfragen der Wirtschaftspolitik nachzudenken und zugleich die Entwicklungen in diesen Grundfragen voranzuschreiben. Ich möchte das in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit im wesentlichen für zwei Fragen tun: für die Entwicklung des Wirtschaftswachstums und die daraus zu ziehenden Konsequenzen sowie für die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt.
Zunächst zum Wirtschaftswachstum: Wir befinden uns - darauf hat der Bundeswirtschaftsminister bereits hingewiesen - inzwischen im fünften Jahr eines regelmäßigen Wachstums unserer Volkswirtschaft. Bis Ende 1987 hat es keine wesentlichen Abschwächungen gegeben. Dabei ist es allerdings für die tatsächliche Bewertung der Wachstumsprozesse hilfreich, wenn man sich nicht ausschließlich auf den prozentualen Zuwachs des Bruttosozialprodukts, bezogen auf die jeweils zurückliegende Basis, beschränkt, sondern die Zahlen etwas genauer betrachtet; denn der prozentuale Zuwachs, bezogen auf die jeweils zurückliegende Basis, enthält zwei Ungenauigkeiten. Zum ersten gibt er keine Auskunft darüber, welche Auswirkungen die demographischen Veränderungen auf die Entwicklung des Bruttosozialprodukts gehabt haben.
Zum zweiten muß bei einer gleichmäßigen Leistung der Volkswirtschaft der prozentuale Zuwachs des Bruttosozialprodukts abnehmen, weil das Niveau, von dem aus der Zuwachs gemessen wird, ständig zunimmt.
Deshalb ist eine auskunftsfähigere Analyse dann möglich, wenn ich danach frage, wie stark denn das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung ist und wie stark es in absoluten Zahlen zu vergleichbaren Preisen gewachsen ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Bitte schön.
Herr Kollege Biedenkopf, können Sie bei dieser Bedeutung, die Sie dem Niveau beimessen - was ja heißt: je höher das Niveau, desto geringer müssen die Zuwachsraten sein - , erklären, warum in den USA mit einem höheren Niveau als der Bundesrepublik 1987 die Wachstumsrate um einen vollen Prozentpunkt höher war und warum in der Bundesrepublik die Zuwachsraten in Baden-Württemberg doppelt so hoch sind wie in Niedersachsen, trotz eines höheren Niveaus in Baden-Württemberg?
Herr Kollege Ehrenberg, ich würde mich gern bemühen, so etwas zu erklären, wenn es für die Ausführungen, die ich hier zu machen beabsichtige, in irgendeiner Weise relevant wäre. Es ist völlig irrelevant.
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- Das hat mit der Praxis nichts zu tun, wenn Sie Amerika und Deutschland, Baden-Württemberg und Niedersachsen miteinander vergleichen, ohne irgendeine Auskunft darüber zu geben, welchem Sinn dieser
Vergleich dienen soll, was Sie eigentlich vergleichen wollen, welche zurückliegenden Bedingungen die unterschiedlichen Entwicklungen betreffen.
Wir haben heute völlig unstreitig über das Wachstum des Bruttosozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Sie wissen genau so gut wie ich, daß das nicht von Friedrichshafen bis Flensburg exakt und konstant überall gleichmäßig verläuft, Herr Kollege Ehrenberg; sonst brauchten wir keine Regionalförderung und viele andere der Dinge nicht, die Sie ständig anmahnen, um die unterschiedlichen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik Deutschland wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
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Lassen Sie mich jetzt zu dem zurückkehren, was ich eigentlich sagen möchte. Wenn wir die Entwicklung des Bruttosozialprodukts in der Bundesrepublik Deutschland in der vorgeschlagenen Weise betrachten, dann machen wir die interessante Erfahrung, daß es sich um eine außerordentlich konstante Entwicklung handelt. Von 1982 bis 1983 ist das Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung, in konstanten Preisen von 1980, um 538 DM gestiegen. In Preisen von 1980 betrug das Bruttosozialprodukt in 1983 1 500 Milliarden DM, pro Kopf der Bevölkerung 24 403 DM.
Ich will Sie jetzt nicht mit Zahlen langweilen, sondern nur die Steigerungsraten ab 1982/83 in absoluten Zahlen pro Kopf der Bevölkerung mitteilen: auf 1983 um 582 DM, auf 1984 um 903 DM, auf 1985 um 569 DM, auf 1986 um 584 DM und auf 1987 um 513 DM.
Wir haben also - das ist doch das Entscheidende - eine Volkswirtschaft, bei der - bezogen auf die Bevölkerung, die ja schließlich die wirtschaftliche Leistung erbringt - in den letzten Jahren ein konstanter Zuwachs in absoluten Zahlen erfolgt ist. Wir können davon ausgehen, daß sich auch für das Jahr 1988, immer gemessen an der Bevölkerung selbst, diese Entwicklung fortsetzen wird.
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Bitte schön, Herr Conradi.
Herr Professor, wären Sie so liebenswürdig, Ihre Zahlen um die Entwicklung der Lohnquote zu ergänzen, d. h. um den Anteil, den die arbeitende Bevölkerung tatsächlich am Bruttosozialprodukt hatte?
Das will ich gern tun; bloß paßt es jetzt nicht hier in den Zusammenhang. Ich komme nachher darauf zurück, Herr Conradi. Das ist überhaupt kein Problem. Die Lohnquote ist - das wissen wir alle - zurückgegangen.
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- Ja und, was sagt das denn? Das sagt doch überhaupt nichts über die Einkommen der Privathaushalte aus, Herr Conradi. Sie wissen doch ganz genau, daß die Einkommen der Privathaushalte in der Bundesre4374
publik Deutschland in den letzten 30 Jahren einen immer höheren Anteil am Kapitaleinkommen hatten.
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Sie müssen sich doch die Gesamteinkommen der Privathaushalte ansehen. Wenn Sie nur auf die Arbeitseinkommen blicken - ich komme gern noch einmal darauf zurück - , werden Sie feststellen, daß das völlig ungenaue Entwicklungen signalisiert.
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- Herr Kollege Roth, ich habe nur zehn Minuten Zeit, und die Hälfte der Zeit ist schon herum. Ich bitte um Entschuldigung, aber ich möchte wenigstens noch einige Bemerkungen machen.
({3})
- Ich weiß, wir würden sie uns gerne gegenseitig gewähren, aber das ist jetzt nicht möglich.
Hier kommt es mir auf folgendes an: Wenn es richtig ist, daß wir in den letzten fünf Jahren ein relativ stabiles Wachstum gehabt haben, dann folgt daraus, daß kein Anlaß besteht, dieses Wachstum durch staatliche Maßnahmen, insbesondere durch Neuverschuldung, zu stützen, und es besteht kein Anlaß, den Wachstumsprozeß durch staatliche Maßnahmen zu forcieren. Würde man das jetzt tun, wäre das kontraproduktiv. Die Wachstumskräfte würden dadurch nicht gestärkt, sondern durch die mit der Neuverschuldung verbundenen Belastungen und Konsequenzen würde der Prozeß eher gehemmt.
Abgesehen davon haben wir auch nicht die Spielräume dazu, eine Konjunkturförderung zum jetzigen Zeitpunkt zu verantworten oder auch nur durchzuführen. Die Neuverschuldung hat sich so entwickelt, daß sie - da stimme ich mit Graf Lambsdorff überein - auf jeden Fall nicht mehr gesteigert werden kann. Deshalb stehen uns für zusätzliche Maßnahmen dieser Art keine Mittel zur Verfügung.
({4})
Das Wachstum, von dem ich gesprochen habe, ist sicherlich erwünscht. Aber wir können aus der Entwicklung der letzten Jahre - ich wäre dankbar, Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn man darauf in den künftigen Jahreswirtschaftsberichten noch etwas intensiver eingehen würde - auch eine andere Schlußfolgerung ziehen, nämlich daß ein relativ konstanter und solider Zuwachs des Bruttosozialproduktes zu den Problemen Arbeitslosigkeit und Reform und Finanzierbarkeit der Sozialsysteme, wenn überhaupt, dann nur einen geringen Beitrag leistet.
({5})
Diese Erkenntnis bedeutet, daß wir in bezug auf die Lösung dieser Fragen auf andere Strategien verwiesen werden. Wir müssen sowohl in bezug auf die Bewältigung der Beschäftigungsprobleme als auch in bezug auf die Bewältigung der Probleme der sozialen
Systeme zur Kenntnis nehmen, daß Wachstum als solches wenig, wenn überhaupt, zur Lösung beiträgt.
Dies bedeutet zweierlei: Es bedeutet einmal, daß man - was zur Zeit nicht nötig ist - eine Forcierung des Wachstums jedenfalls nicht mit Beiträgen rechtfertigen könnte, die das Wirtschaftswachstum zur Lösung solcher Probleme zu leisten hätte; vielmehr müßten wir andere Gründe dafür haben. Zweitens müssen wir in bezug auf die Problemlösungen auf andere Strategien zurückgreifen.
Ich will das anhand von zwei Punkten nur kurz illustrieren. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt ziemlich eindeutig, daß die Zuwachsergebnisse in bezug auf die Beschäftigungslage im wesentlichen bei denen ankommen, die schon Arbeit haben. Das heißt, diejenigen, die schon Arbeit haben - ich unterstelle jetzt einmal, relativ gesehen, eine konstante Einkommensverteilung - , nehmen den Zuwachs im wesentlichen auf. Wenn Verschiebungen stattfinden, sind es keine Verschiebungen zugunsten Unbeschäftigter, also Arbeitsloser.
({6})
- Das, was ich jetzt sage, hat mit der Steuerreform überhaupt nichts zu tun.
({7})
Die Steuerreform ist eine Frage der Verteilungsgerechtigkeit innerhalb der Beschäftigten und zwischen den Beschäftigten, den Selbständigen und den Unternehmen, aber durch eine Änderung des Steuerrechts würden bei den Arbeitslosen keine zusätzlichen Mittel ankommen.
({8})
- Herr Ehrenberg, das ist doch Unfug, was Sie da reden. Erstens wird die Kasse nicht leer gemacht, und zweitens wird mit Sicherheit, wenn überhaupt, eine Steuerreform nicht mit einer solchen Absicht betrieben. Zwischen den verschiedenen politischen Gruppierungen in diesem Hohen Haus sollte doch zumindest so viel Verständigung möglich sein, daß wir alle daran interessiert sind, das Beschäftigungsproblem zu lösen.
({9})
Das zweite ist: Die Sozialsysteme wachsen schneller als das Bruttosozialprodukt, so daß sich die Probleme, die im Sozialsystem auftreten, nicht durch Wachstumsforcierung lösen lassen. Das Wachstum führt vielmehr immer dazu, daß die Sozialansprüche dem Wachstum weiter vorauseilen. Auch hier müssen deshalb andere Wege der Problemlösung gefunden werden.
({10})
Zum zweiten Punkt, zur Beschäftigung: Ich möchte darauf hinweisen, daß die gegenwärtigen Schwierigkeiten, die großen Probleme auf dem Arbeitsmarkt nicht gelöst werden können - ich muß das sehr kurz
machen - durch eine lineare Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich.
({11})
Es ist mir wichtig, auch das als Ergebnis der Erfahrungen der letzten Jahre festzuhalten. Die Diskussion, die inzwischen durch Äußerungen von Oskar Lafontaine, von Dohnanyi und Schröder in Niedersachsen in der SPD in Gang gekommen ist, zeigt, welche ungeheure Schwierigkeit es macht, diese offensichtlich richtige Feststellung in die politische Praxis umzusetzen. Arbeitszeitverkürzung führt dann zu einer größeren Nachfrage nach Arbeitskräften, wenn sie nicht mit vollem Lohnausgleich erfolgt; sonst nicht.
Ich beziehe mich abschließend - ich muß zum Ende kommen - auf das, was Pater von Nell-Breuning bereits vor Jahren vorgetragen hat und dem damals auch in der Sozialdemokratischen Partei jedenfalls nicht offen widersprochen wurde. Deshalb wird auch eine Arbeitszeitverkürzung dort, wo es keinen Produktivitätsfortschritt gibt wie z. B. in weiten Teilen des öffentlichen Dienstes, nicht zu einer Entlastung des Arbeitsmarktes führen.
({12})
Sie wird vielmehr dazu führen, daß die Kosten steigen.
Wir müssen uns in den zukünftigen Jahreswirtschaftsberichten - das ist der letzte Satz und gleichzeitig eine Bitte - etwas intensiver mit der Entwicklung der insgesamt nachgefragten Arbeitsmenge, der insgesamt geleisteten Arbeitszeit pro Kopf der Bevölkerung und mit dem Umstand befassen, daß ein wesentlicher Teil der Neubeschäftigung, die wir in den letzten Jahren gehabt haben, nicht durch Vermehrung der Nachfrage nach Arbeit, sondern durch andere Verteilung der Nachfrage nach Arbeit möglich geworden ist, d. h. durch Fraktionierung des Arbeitsmarktes. Auch in Zukunft wird ein wesentlicher Teil der Beschäftigungserfolge nur möglich sein, wenn wir die Lehren aus den vergangenen fünf Jahren in diesem Zusammenhang ziehen.
({13})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Spöri.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lieber Herr Bundeswirtschaftsminister, selbst die etwas geschönten Zahlen des Jahreswirtschaftsberichtes machen eines deutlich - das kam auch gerade eben in der Rede von Herrn Biedenkopf zum Ausdruck - : Das konservative Wirtschaftskonzept, d. h. die Zauberformel „Höhere Gewinne gleich mehr Wachstum gleich weniger Arbeitslose" hat zumindest in der Praxis nicht funktioniert,
({0})
und das trotz einer beispiellosen Umverteilung des Volkseinkommens von unten nach oben zugunsten der Gewinne in den letzten Jahren.
Die Bundesregierung - das steht jetzt fest - hat den weltwirtschaftlichen Aufschwung in den letzten vier Jahren beschäftigungspolitisch nicht dazu genutzt, um Massenarbeitslosigkeit in diesem Land abzubauen. Die Bundesrepublik - das ist einfach die Realität, Herr Bangemann - geht mit einer einmaligen Rekordarbeitslosigkeit von über 2,5 Millionen und einer staatlichen Finanzierungskrise mit völlig außer Kontrolle geratenen Bundesfinanzen in einen konjunkturellen Abschwung. Die Bundesregierung - insbesondere Sie, Herr Stoltenberg - hat während des weltwirtschaftlichen Aufschwungs in den letzten Jahren unsere finanziellen Reserven, die wir heute dringend brauchen würden, um konjunkturpolitisch gegensteuern zu können, durch eine falsche, einseitig angebotsorientierte, Wirtschaftspolitik verjubelt.
({1})
Herr Stoltenberg - Sie gehen ja sicher gleich darauf ein - , Sie sind inzwischen beim Bundeshaushalt nicht nur bei 29,5 Milliarden Nettokreditaufnahme, wie es noch im vorigen November geplant war, sondern nach Ihren eigenen Worten bei 40 Milliarden DM und werden nach der nächsten Steuerschätzung im Mai dieses Jahres nach den Landtagswahlen zugeben, daß Sie bei 45 Millarden DM Neuverschuldung liegen. Erst dann werden Sie den Bürgern finanzpolitisch reinen Wein einschenken.
Sie wollen auch in der Steuerpolitik den gleichen Trick wie schon im vorigen Jahr exerzieren. Ich habe gehört, daß auf Grund einer Intervention des baden-württembergischen Ministerpräsidenten die Beschlußfassung über das Steuerpaket 1990 nicht, wie ursprünglich geplant, am 16. März im Bundeskabinett stattfinden soll, sondern erst nach der Wahl.
({2})
Das ist der gleiche Trick wie im vorigen Jahr, als Sie vor der Landtagswahl in Schleswig-Holstein den Arbeitnehmern angeboten haben: Jeder kriegt 1 000 DM mehr; das heißt Steuersenkung. Nach der Wahl im meerumschlungenen Schleswig-Holstein haben Sie den Arbeitnehmern die Kröten serviert: Abbau des Arbeitnehmerfreibetrags, Abbau des Weihnachtsfreibetrags, Abbau des Essensfreibetrags, Besteuerung der Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeitszuschläge und viele andere Kröten.
({3})
Dieses Trickspiel soll diesmal wiederholt werden.
Ich kann nur eines raten: Sagen Sie den Bürgern vor der Wahl in Baden-Württemberg und auch in Schleswig-Holstein, welche Verbrauchsteuern Sie erhöhen wollen!
({4})
Die Bürger in diesem Land haben ein Recht darauf, vor den Wahlen informiert zu werden, welche steuerpolitischen Pläne Sie haben. Das geflügelte Wort vom mündigen Bürger in unserer Demokratie wird zu einer hohlen Phrasendrescherei, wenn man den Leuten immer erst nach den Landtagswahlen des jeweiligen Jahres steuerpolitisch reinen Wein einschenkt.
({5})
Aber nun zu Herrn Bangemann zurück. Wo ist er denn?
({6})
- Haussmann und Bangemann.
({7})
Herr Bangemann, Sie haben eine schlimme Diskussion angefacht, und zwar um die Gewerbesteuer. Genau in einer Phase der konjunkturrellen Abkühlung treten Sie eine Diskussion über die Abschaffung der Gewerbesteuer los. In einer Phase, wo heute schon Kommunen im Hinblick auf die Steuerausfälle durch das Steuerpaket 1990 Investitionspläne zurückfahren, verunsichern Sie zusätzlich die Kommunen durch eine Diskussion über den Abbau der Gewerbesteuer. Dies ist verantwortungslos. Sie sind damit in diesem Land zu einem Konjunkturrisiko geworden.
({8})
Sie werden Ihre Änderungsvorschläge eh nicht durchsetzen.
({9})
Denn das, was Sie da mit einem Ausgleich für die Kommunen über einen erhöhten Umsatzsteueranteil vorgeschlagen haben, können Sie nicht ohne Änderung der Finanzverfassung in der Bundesrepublik Deutschland durchsetzen. Und das geht niemals mit uns in diesem Haus.
({10})
Wir werden dem niemals zustimmen.
({11}) Dazu bräuchten Sie eine Zweidrittelmehrheit.
({12})
Wenn man die Ziele dieser Regierung, Herr Bangemann, angefangen bei dem Versprechen, die Arbeitslosigkeit auf eine Million abzubauen, bis zu der Ankündigung, die öffentliche Kreditbelastung zu senken, und dazu die Fakten betrachtet, die inzwischen eingetreten sind, kann man nur sagen: Es gibt in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland keine Bundesregierung, die im Hinblick auf die selber gesteckten Ziele und Erwartungen wirtschafts-, beschäftigungs- und finanzpolitisch so kläglich versagt hat wie die amtierende Regierung Kohl/Bangemann.
({13})
Das Scheitern der konservativen Wirtschaftsideologie zeigt sich auch darin, wie jetzt von der Grundrichtung her auf Bundes- und auf Landesebene immer mehr sozialdemokratische Ansätze der Wirtschaftspolitik übernommen werden, weil diese Konzepte richtig sind. Sie werden leider nicht konsequent durchgesetzt, nicht konsequent angewendet, sondern nur halbherzig, aber immerhin von der Worthülse, von der Grundrichtung her. Was wir aber wirklich brauchten, Herr Bangemann, ist in dieser Richtung eine mittelfristig angelegte ernsthafte Investitionsoffensive, mit der die seit Jahren sinkende volkswirtschaftliche Investitionsquote wieder mit dem Ziel angehoben wird, durch Maßnahmen zur Sanierung und Rettung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zusätzliche Dauerarbeitsplätze in diesem Land zu schaffen. Das von uns vorgelegte Sofortprogramm „Arbeit, Umwelt und Investition" weist dafür den richtigen Weg.
({14})
Eine konsequente Investitionsstrategie zur Rettung und Sanierung unserer Umwelt und unserer natürlichen Lebensgrundlagen ergibt sich aus einem neuen Grundwiderspruch einer trotz enormer Probleme reichen Volkswirtschaft wie der Bundesrepublik Deutschland. Dieser neue Grundwiderspruch besteht heute darin, daß wir zwar auf der einen Seite ein hohes Pro-Kopf-Einkommen und eine hohe volkswirtschaftliche Produktivität haben, trotz aller regionaler und sektoraler Probleme, daß wir aber andererseits auch Spitzenwerte bei der Naturbelastung, bei der Umweltzerstörung und deshalb auch bei umweltbedingten Erkrankungen haben, z. B. bei Atemwegserkrankungen, bei Allergien und beim Pseudokrupp unserer Kinder.
Mich hat eine Zahl erschreckt, die ein Freund von mir - er ist CDU-Mitglied - vom Umweltbundesamt ausgerechnet hat: Durch die Art, wir wir gegenwärtig produzieren, richten wir Jahr für Jahr einen Umweltschaden von über 100 Milliarden DM an, und insofern ist die ökologische Krise längst zu einer ökonomischen Krise in dieser Gesellschaft geworden.
({15})
- Herr Schulhoff, hören Sie sich das an! Wir zerstören unsere Wälder, wir vergiften unsere Gewässer, wir vernichten unsere Bausubstanz und schädigen vor allen Dingen unsere eigene Gesundheit, und dieser Raubbau ist aus ökonomischen, aus ökologischen, aber auch aus ethischen Gründen in diesem Land nicht mehr länger zu verantworten.
({16})
Wenn sich Politik nicht nur kurzatmig in Tagesreaktionen erschöpfen will, dann muß sie sich auch im Hinblick auf die Zukunft unserer Kinder und unserer Enkel orientieren. Wir müssen in diesem Land endlich eines begreifen: Wir dürfen es als gegenwärtig lebende Generation und als gegenwärtig verantwortliche Politiker nicht zulassen, daß in wenigen Jahrzehnten der Industriegeschichte in der Bundesrepublik, d. h. in wenigen Sekunden der Erdgeschichte, all das an natürlichen Lebensgrundlagen vergiftet und zerstört wird, was eine Schöpfung in Milliarden an Jahren geschaffen hat. Dieses Recht haben wir in unserem Land nicht.
({17})
Es reicht aber nicht aus, die Industriegesellschaft in der heutigen Form, wie sie produziert, anzuprangern. An Anprangerungskompetenz fehlt es nicht. Es gibt keinen Ausstieg aus dieser Industriegesellschaft für uns, es gibt nur ihre ökologische Erneuerung,
({18})
und deswegen müssen wir jetzt eine große Investitionsanstrengung zur Erhaltung dieser natürlichen Lebensgrundlagen in Gang setzen. Deshalb sind radikale ökologische Konsequenzen im Produktionsprozeß jetzt erforderlich, wenn wir nicht weiter den biologischen Ast absägen wollen, auf dem wir alle gemeinsam in der Bundesrepublik sitzen.
({19})
Wir erleben gegenwärtig in der Bundesrepublik einen rasanten volkswirtschaftlichen Strukturwandel.
({20})
Ich bin der Auffassung, daß wir diesen Strukturwandel nur durch eine vorbeugend aktive Strukturpolitik bewältigen können.
({21})
- Die kommen. Wenn man für vorbeugend aktive Strukturpolitik ist, muß man erkennen, daß man sich nicht auf den erfolgreichen Branchenstrukturen von heute ausruhen darf. Gerade in Regionen mit heute noch unterdurchschnittlicher Arbeitslosigkeit, mit relativ günstiger Wirtschaftsstruktur, mit unterdurchschnittlichen Arbeitslosenzahlen sollte man sich nicht auf den bisherigen Branchenlorbeeren ausruhen.
({22})
Die heutigen Probleme im Montanbereich und im Werftenbereich dürfen strukturpolitisch als Warnung nicht in den Wind geschlagen werden. Speziell in den heutigen Renommierbranchen wie z. B. Fahrzeugbau, Elektroindustrie und Maschinenbau werden auf Grund des Produktivitätsfortschritts bis zum Jahr 2000 in großem Umfang Arbeitsplätze wegfallen, wenn wir weltwirtschaftlich konkurrenzfähig bleiben wollen.
({23})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Sofort nach Beendigung dieses Gedankengangs.
Geben Sie mir dann bitte ein Zeichen.
Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die das Land Baden-Württemberg und die Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit der Stadt Stuttgart finanziert haben. Deshalb, meine Damen und Herren, gibt es keinen Anlaß, auch nicht von Baden-Württemberg und nicht vom mittleren Neckarraum, der relativ reich ist, aus, heute mit Arroganz und plumper Selbstgefälligkeit auf Krisenregionen herabzuschauen.
({0})
So, bitte.
Herr Dr. Lammert.
Herr Kollege Spöri, wollen Sie mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, die jeweils aktuellen Strukturen nicht zu konservieren, sondern im Hinblick auf die Zukunft ständig fortzuschreiben, und mit Ihrem Hinweis auf die Notwendigkeit einer vorausschauend aktiven Strukturpolitik zum Ausdruck bringen, daß eine solche vorausschauend aktive Strukturpolitik in Nordrhein-Westfalen eben nicht stattgefunden hat?
Meine Damen und Herren, ich habe auf die Notwendigkeit hingewiesen, daß jetzt in starken Wirtschaftsregionen, wo unterdurchschnittlich Arbeitslosigkeit herrscht, durch eine vorbeugend aktive Strukturpolitik Vorsorge für den künftigen Wegfall von Arbeitsplätzen getroffen wird. Der Wegfall droht bis zum Jahr 2000. Wenn Sie mich auf die Probleme im Montansektor ansprechen, kann ich nur sagen: Die entscheidenden Versäumnisse in den Montanregionen, z. B. im Saarland oder aber auch in Nordrhein-Westfalen, im Ruhrgebiet, wurden unter CDU-Regierungen gemacht,
({0})
unter Franz Meyers z. B. und unter Herrn Zeyer von der CDU, meine Damen und Herren.
({1})
- Das stimmt doch. Wer war denn im Saarland Ministerpräsident?
({2}) Herr Stratmann, bitte.
Herr Stratmann, bitte.
Herr Spöri, was sind denn konkret Ihre radikalen industriepolitischen Weichenstellungen angesichts der dargestellten Probleme und angesichts der Analyse der IG Metall für den monostrukturierten Stuttgarter Raum? Was sind also konkret Ihre radikalen Weichenstellungen für einen solchen Konzern wie Daimler-Benz? Und was sind konkret Ihre radikalen Weichenstellungen angesichts der Bedeutung, die BBC für die Mannheimer Region hat, und angesichts der HTR-Exportstrategien von BBC in die Sowjetunion, die gleichzeitig von der Landesregierung Nordrhein-Westfalen politisch protegiert werden?
Herr Stratmann, Sie gehen von dieser Studie für den mittleren Neckarraum aus. Diese Studie zeigt, daß im mittleren Neckarraum bis zum Jahr 2000 30 000 Arbeitsplätze in den heutigen Renommierbranchen wegfallen werden. Deswegen müssen wir heute strukturpolitisch aktiv vorbeugend handeln.
({0})
- Sie fragen, wie. Zum Beispiel durch zusätzliche Investitionen zur Erneuerung unseres Energiesektors, durch Investitionen, die dazu dienen sollen, die Kernenergie, die veraltet und gefährlich ist, zu überwinden. Dazu sind zig Milliarden an neuen Investitionen erforderlich. Dies wird eine Investitionsdynamik auslösen, die gleichzeitig neue Arbeitsplätze als Ersatz
für die wegfallenden Arbeitsplätze schafft, die wir gerade angesprochen haben.
({1})
Herr Stratmann, Sie brauchen nicht so lange zu stehen, die Antwort ist jetzt formal beendet. Jetzt gehe ich weiter.
({2})
Meine Damen und Herren, ich werde jetzt noch konkreter. Herr Stratmann, wir müssen dort auf eine aktive, offensive Technologie- und Investitionspolitik setzen, wo wir die veraltete und gefährliche Kernenergie überwinden können. Im Bereich der Kernenergie ist das deshalb notwendig, weil das „Weiter so" in der Energiepolitik weder vom Betriebsrisiko noch von den ungelösten Entsorgungsproblemen her gesehen verantwortbar ist.
({3})
- Ach, das sind doch alles alte Hüte, Herr Stratmann.
- Deswegen ist die geplante Inbetriebnahme - hören Sie doch mal zu, wenn Sie Fragen stellen - neuer Kernkraftwerke wie z. B. Neckarwestheim II entsorgungspolitisch genauso verantwortungslos wie ein Flugzeugstart ohne Landepiste, meine Damen und Herren.
({4})
Wir brauchen einen geordneten Übergang zu einer sicheren und naturverträglichen Energieversorgung ohne Kernkraft.
Wenn wir aber von dieser überholten Technologie herunterkommen wollen, Herr Stratmann, dann müssen wir industriepolitisch auf neue Technologien setzen, die an die Stelle dieser Kerntechnologie treten können, d. h. auf neue Energieträger oder auf Stromeinspartechnologien wie z. B. auf eine schnelle industriepolitische Einführung des Supraleiters, der mittelfristig 30 To des bisherigen Stromverbrauches einsparen kann, auf einen breiteren Einsatz der Mikroelektronik dort, wo mit ihr technologisch, z. B. im industriellen Bereich, zusätzlich Strom eingespart werden kann, auf Entstickungsanlagen, auf Entschwefelungsanlagen und Filtertechnik zur sauberen und umweltfreundlichen Energieerzeugung mit der Kohle und vor allen Dingen, Herr Stratmann, auf neue, regenerative Energiequellen wie die Solarenergie und die faszinierende Perspektive einer Solar-Wasserstoff-Technologie, die ökologisch die Umwelt nicht belastet.
({5})
Nur wenn wir auf diese neuen Technologien setzen, öffnen wir uns die Möglichkeit für eine Zukunft ohne Kernkraft. Diese Erneuerung unserer Energieversorgung erfordert eine gigantische volkswirtschaftliche Kraftanstrengung mit einem riesigen Investitionsvolumen im Umfang von Hunderten Milliarden DM. Sie erfordert eine große wirtschaftliche Kraftanstrengung, die aber zugleich die Chance bietet, neue Märkte, neue Arbeitsplätze der Zukunft zu sichern.
Meine Damen und Herren, mit dem Festhalten an ganz offenkundig überholten Technologien wie der Kernkraft gibt die Politik unserer Wirtschaft keine neuen, tragfähigen Impulse für langfristige Investitionen. Politische Führung hat in diesem Land abgewirtschaftet, wenn sie die Fähigkeiten unserer deutschen Facharbeiter, Techniker und Ingenieure in gefährlichen und damit umstrittenen Bahnen hält, statt ihre Kräfte für die ökologische Erneuerung freizumachen, um heute schon die Arbeitsplätze von morgen zu sichern.
({6})
Diese notwendige investitions- und technologiepolitische Neuorientierung erfordert gerade in Zeiten der konjunkturellen Schwäche, der konjunkturellen Abkühlung eine besondere Kraftanstrengung. Deswegen kann diese Neuorientierung nicht im totalen Konflikt der gesellschaftlichen Gruppen untereinander in dieser Volkswirtschaft gelingen, sondern nur im Grundkonsens der großen am Wirtschaftsleben beteiligten sozialen Gruppen. Wir müssen deshalb versuchen, zwischen den unterschiedlichen Interessen tragfähige Brücken zu schlagen.
Ich plädiere in diesem Zusammenhang nicht für eine Neuauflage der Konzertierten Aktion in der überbesetzten, arbeitsunfähigen Form eines großen Debattierklubs, wie sie sich zuletzt entwickelt hatte. Aber es wäre in diesem Land schon den Versuch wert, die Vertreter dieser Gruppen für einen gemeinsamen Investitions- und Beschäftigungspakt wieder an einen Tisch zu bringen. Wir brauchen eine konzertierte Initiative für Beschäftigung und Umwelt, eine konzertierte Initiative der großen gesellschaftlichen Gruppen unter Führung der Bundesregierung!
({7})
Dabei kommt es an auf eine konsequent ökologisch orientierte Investitionspolitik, eine Umstellung unseres volkswirtschaftlichen Produktionsprozesses. Es kommt darauf an, Fortschritt endlich so zu begreifen, daß Wohlstandsicherung ohne Rücksicht auf unsere natürlichen Lebensgrundlagen nicht mehr möglich ist. Wir brauchen in unserem Land einen neuen Fortschritt, der Wohlstandsicherung durch natur- und menschenverträgliche Spitzentechnologien mit der Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, unserer Umwelt und unserer Gesundheit vereinbar macht. Dies geht nur, wenn wir das notwendig radikal ökologische Denken, meine Damen und Herren, mit einer aktiven industrie- und technologiepolitischen Konzeption verbinden. Nur wenn es in diesem Land in der praktischen Politik gelingt, diese Integration von umwelt- und industriepolitischen Zielen vorzunehmen, werden wir der zentralen Gestaltungsaufgabe der 90er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland gerecht, die da heißt: Sicherung der Beschäftigung und Sicherung unserer Umwelt. Dafür werden wir Sozialdemokraten kämpfen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Stoltenberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das zentrale Thema des Jahreswirtschaftsberichts und wohl im Kern auch dieser Debatte ist, daß wir wirtschaftspolitische Prioritäten und Entscheidungen zu diskutieren haben, natürlich auch im Bereich der Finanzpolitik und der Gesellschaftspolitik, unter dem Vorzeichen anhaltenden, aber verlangsamten Wirtschaftswachstums. Langsameres Wirtschaftswachstum, das schafft viele Folgeprobleme sogar bei denen, die zwar prinzipiell gegen Wachstum sind, aber in ihren alltäglichen Forderungen immer hohes Wachstum voraussetzen, wenn es um die eigenen Einkommen geht.
({0})
Langsameres Wirtschaftswachstum, das schafft objektiv tiefgreifende Probleme für die Staatsfinanzen, für die Beschäftigungspolitik und für die Grundlagen der sozialen Sicherung.
Ich glaube schon, daß wir in der öffentlichen Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland noch nicht so weit sind, daß wir die Folgen wirklich insgesamt erkennen und daß wir einen notwendigen Grundkonsens unter Einbeziehung der großen Verbände, der gesellschaftlichen Gruppen erzielt haben.
Was sind denn die Ursachen? Ich glaube, die wichtigste Ursache - dies kommt ja auch in der Stellungnahme im Gutachten des Sachverständigenrates sehr klar zum Ausdruck - ist eine tiefgreifende Veränderung der außenwirtschaftlichen Situationen. In den vergangenen drei Jahren haben wir eine Abwertung des amerikanischen Dollars, der unverändert zentralen und wichtigsten Währung des Erdballs, im Verhältnis zur D-Mark von rund 3,40 DM auf 1,70 DM erlebt. Das hat Konsequenzen, das hat Wirkungen, die nach meiner Meinung in der deutschen Öffentlichkeit immer noch nicht im vollen Umfang begriffen sind.
Sie sind offenkundig: Wir stehen in der Situation eines verschärften Wettbewerbs, den wir übrigens auch ohne die drastischen Wechselkursparitäten bekommen würden. Wenn wir noch tiefgründiger als in manchen Äußerungen über Beschäftigungsperspektiven reden, dann müssen wir uns doch darauf einstellen, daß neue, dynamische Industrienationen in diesen Jahren um Marktanteile und Arbeitsplätze in einer Form konkurrieren, die eine große Herausforderung für uns darstellt, nicht nur für Regierung und Parlament, sondern natürlich auch für Arbeitgeber, Gewerkschaften, für Investoren und für die Erwartungen an Umverteilungsprozesse oder Einkommenszuwächse für jene, die sichere oder relativ sichere Arbeitsplätze haben.
Wir spüren die Wirkungen im verlangsamten Wachstum in einem Abbremsen der Exportdynamik. Dies ist nicht völlig ausgeglichen durch die erfreuliche Verstärkung der Binnennachfrage, die unbestreitbar ist. Lesen Sie die Fakten, die Daten, die Einschätzungen im Sachverständigengutachten.
Es hat in der Tat auch Wirkungen auf die privaten Investitionen. Niemand hat schon vor dieser Diskussion behauptet, meine Damen und Herren, daß es eine Automatik zwischen verbesserten Erträgen der Unternehmen und Investitionen gibt, wobei ich daran erinnern möchte, meine Damen und Herren der SPD, daß wir sehr wohl auch notleidende Großunternehmen haben, die hier zuletzt bei der Montanrunde mit neuen Subventionsforderungen vor der Haustür standen. Es gibt keine Automatik zwischen besseren Unternehmenserträgen und Investitionen. Aber genauso richtig ist die andere Feststellung: Ohne gute Unternehmenserträge gibt es nicht private Investitionen in dem Umfang, daß davon die Beschäftigungssituation positiv beeinflußt werden kann.
({1})
Der Sachverständigenrat sagt - ich stimme dem voll zu - : Die entscheidende Ursache für die Verlangsamung der Investitionen ist folgende - ich zitiere - :
Viele Investoren sind offensichtlich durch die starken Wechselkursschwankungen verunsichert worden. Geplante Investitionsvorhaben wurden gestrichen oder zurückgestellt.
Deswegen müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen - sicherlich neben vielen anderen; aber in der Kürze der Zeit möchte ich sie in den Mittelpunkt stellen - : Was können wir in der internationalen Zusammenarbeit und durch nationale Politik tun, um mehr Stabilität in den außenwirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu erreichen?
({2})
- Eine Zwischenfrage gern, Herr Kollege Jens. Mit Blick auf die fortgeschrittene Zeit möchte ich dann weitersprechen.
Herr Minister, es haben schon andere versucht, die Schuld für binnenwirtschaftliches Versagen der Außenwirtschaft zuzuschieben. Können Sie konstatieren, daß wir trotz der Schwierigkeiten, die Sie angesprochen haben, immer noch einen enormen Exportüberschuß haben und daß unsere Exportwirtschaft diese Schwierigkeiten hervorragend gemeistert hat?
Sie können aus meinen Ausführungen wirklich nicht herleiten, daß ich binnenwirtschaftliche Versäumnisse „oder ein angebliches Versagen" der Außenwirtschaft zuschieben will. Nichts von dem, was ich gesagt habe, gibt zu dieser Vermutung Anlaß.
Ich finde schon, daß sich unsere Unternehmen bisher überwiegend im Wettbewerb gut behauptet haben. Aber wir spüren doch bei vielen Unternehmen von Flensburg bis Konstanz die Spuren, die Wirkungen des härteren Wettbewerbs, auch im Beschäftigungssektor. Auch das trifft zu.
({0})
- Nichts von dem, was ich gesagt habe, steht im Widerspruch zu Ihrem Zwischenruf. Ich möchte gern fortfahren.
Was in dieser Bilanz der veränderten Wechselkursbedingungen und -entwicklungen allerdings zu kurz kommt - vor allem in Ihren Betrachtungen, meine Damen und Herren von der SPD - , ist die Tatsache, daß wir infolge rückläufiger Importpreise nebenbei einen nachhaltigen Stabilitätsgewinn erzielt haben. Man muß einmal das unterstreichen, was der Kollege Martin Bangemann angesprochen hat. Die Situation ist: Wir hatten zwei Jahre lang bei den Lebenshaltungskosten völlige Preisstabilität. Jetzt im dritten Jahr beträgt die Preissteigerungsrate allenfalls knapp 1 %. Ich muß Ihnen sagen: Man muß in der Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland Jahrzehnte zurückgehen, um eine Mehrjahresperiode vergleichbarer Stabilität mit ihren außerordentlich positiven sozialen Wirkungen zu finden.
({1})
Deswegen wird das Thema Geldwertstabilität in der währungspolitischen Diskussion, aber auch in den politischen Entscheidungen und, wie ich hoffe, auch in den Tarifabschlüssen der Gewerkschaften und der Arbeitgeber seine hohe Priorität behalten müssen.
Unter den genannten Vorzeichen wird immer wieder die Forderung nach verstärkter internationaler Zusammenarbeit erhoben. Sie ist im Kern berechtigt. Ich sage das den Skeptikern innerhalb und außerhalb des Hauses, die daran zweifeln, daß dies möglich ist. Aber man muß - das sage ich denjenigen, die in dieser Hinsicht übertriebene Erwartungen an uns richten - auch die Bedingungen und Grenzen einer solchen Zusammenarbeit erkennen.
Die wichtigste Aufgabe ist sicherlich, die gefährlichen Ungleichgewichte, die im Außenhandel und in den Leistungsbilanzen zwischen den großen Industrienationen bestehen, ohne Brüche und ohne das Absinken bedeutender Partnerländer in die Rezession zu meistern. Unter diesem Vorzeichen ist heute die Bereitschaft der Vereinigten Staaten, Japans und auch der europäischen Staaten größer, diese internationale Kooperation zu verstärken, als das vor drei, vier oder sechs Jahren der Fall war.
Wir sehen das in den nachhaltigen Bemühungen, die GATT-Runde zu einem Erfolg zu bringen; bei uns geschieht das unter der Federführung und mit dem aktiven Einsatz des Bundeswirtschaftsministers. Wir sehen es darin - das ist ermutigend - , daß alle, die sich in der Regierungsverantwortung massiven protektionistischen Forderungen ausgesetzt sehen, diesbezüglichen Anfechtungen widerstehen. Das muß man trotz mancher Kritik in anderen Punkten auch hinsichtlich der Haltung der amerikanischen Administration anerkennend sagen. Wir sehen es in einer etwas größeren Konvergenz in der Finanzpolitik zwischen den Industrieländern und darin, daß das Thema der Vermeidung der Inflation und der Stabilitätspolitik in allen wichtigen Industrieländern - auch in vielen kleineren - eine höhere Priorität gewonnen hat.
Dieses höhere Maß an Konvergenz ist die Voraussetzung für stabilere Wechselkurse. Wir haben bezüglich der Stabilisierung der Wechselkurse in Verbindung mit Konvergenz in der sogenannten Louvre-Vereinbarung vom Februar letzten Jahres einen pragmatischen Zugang gewählt. Nach den Erschütterungen im Oktober, die auch deshalb entstanden, weil es damals Zweifel an dem Willen zur Fortsetzung dieser Zusammenarbeit gegeben hat, sind wir mit der Erklärung vom 23. Dezember 1987 zu einer Erneuerung dieser Zusammenarbeit gekommen. Diese Erklärung der Finanzminister und Notenbankpräsidenten ist zunächst mit einiger Skepsis aufgenommen worden. Aber ich kann jetzt, fast zweieinhalb Monate später, feststellen: Dieser Wille zur erneuerten Zusammenarbeit und ihre Konkretisierung auch in Aktionen der Notenbanken hat die Märkte beeindruckt. Diese Erklärung ist ernstgemeint. In der internationalen Wirtschaftspresse - nicht so sehr in der deutschen - hat die Stellungname meines amerikanischen Kollegen James Baker vorgestern in einem Ausschuß des Kongresses große Beachtung gefunden. Der amerikanische Kollege hat gesagt: Wir meinen es ernst, wenn wir sagen, ein weiterer Fall des Dollars wäre schädlich, nicht nur für unsere Partner, sondern auch für uns. Er hat zur Überraschung vieler gesagt, daß es in der Notwendigkeit der Anpassungsprozesse, auch im Ausschöpfen der Spielräume für Wachstum, was die Finanzpolitik anbetrifft, Einvernehmen zwischen der amerikanischen Administration, Japan und der Bundesrepublik Deutschland gibt. So müssen wir weiter vorangehen.
Wir haben seit dem 31. Dezember eine Aufwertung des Dollars bis heute um rund 8 % gegenüber der Deutschen Mark. Nebenbei bemerkt, Herr Kollege Spöri: Wenn wir den Kurs von heute am 31. Dezember, dem Bilanzstichtag, gehabt hätten, hätten wir einen Bundesbankgewinn von rund 6 Milliarden DM gehabt. Das ist eine Fußnote zu dem Thema „Haushalt und Finanzen", das wir in anderem Zusammenhang in Kürze hier erörtern werden.
Ich will auch den bedeutenden Beitrag des Europäischen Währungssystems hervorheben. Daß im Europäischen Währungssystem nach den Turbulenzen seit Oktober Stabilität gewährleistet werden konnte, ist ein bedeutsamer Beitrag. Die Notenbanken haben einen wichtigen Beitrag geleistet, auch die zu Unrecht von einzelnen Politikern in Frankreich kritisierte Bundesbank. Aber auch die Regierungen haben einen Beitrag geleistet. Die Entscheidung der französischen Notenbank und Regierung, die Zinsen auch in einer für Frankreich schwierigen Anpassungssituation anzuheben, hat die Ernsthaftigkeit unterstrichen, mit der Frankreich - das gilt auch für andere Partner - an der Aufrechterhaltung der Wechselkurse im Europäischen Währungssystem vital interessiert ist. Das ist für uns bedeutsam. Über 50 % unserer Exporte gehen in den Bereich des Europäischen Währungssystems und der Länder, die mit ihm verbunden sind: Österreich, Schweiz, deren Wechselkurse sich ähnlich entwikkeln. Knapp 20 % gehen in den Dollarraum. Ich hebe das hier vor dem Deutschen Bundestag hervor, weil ich der Meinung bin, daß manche unserer Unternehmer, verunsichert durch den Schock der Entwicklung von Oktober bis Ende Dezember, diese positiveren
Rahmenbedingungen - gemessen an der damaligen Einschätzung - auch erkennen und zu vernünftigen Investitionen zur Bewältigung der Zukunftsprobleme und zur Verbesserung ihrer Marktbedingungen nutzen sollten.
({2})
Es gibt keinen Grund zum Attentismus unter diesen Voraussetzungen.
Hier müssen wir vorangehen. Wir sollten über Wechselkurse nicht leichtfertig spekulieren. Ich bin ernsthaft überrascht, wenn ich heute vom Vorstandsmitglied einer großen deutschen Bank in der Wirtschaftspresse die Einschätzung höre, wir würden in wenigen Monaten ein neues Realignment haben. Da werden dann schon Kursveränderungen genannt. Ich rate auch den verantwortlichen Sprechern der Deutschen Bank und der deutschen Banken,
({3})
den Börsenhändlern und auch - mit gebotenem Respekt; denn die sind etwas unabhängiger - den wirtschaftswissenschaftlichen Instituten, nicht solche Spekulationen zu beleben, weil das falsche Signale für die Märkte sein können, die den Interessen der Bundesrepublik Deutschland und ihrer exportorientierten Wirtschaft überhaupt nicht entsprechen können.
Wie geht es weiter, meine Damen und Herren? Es ist vieles dazu zu sagen. Wir bekennen uns zu einer Verstärkung der währungspolitischen Zusammenarbeit in Europa und über sie hinaus. Wir sind für konkrete Fortschritte. Aber diese Diskussion sollte von allen, die sich im politischen Feld daran beteiligen, wirklich mit einer sorgfältigen fachlichen Fundierung geführt werden. Wir sollten klarmachen, daß bei allen möglichen Entwicklungen und Fortschritten in der währungspolitischen Zusammenarbeit in Europa das Ziel der Geldwertstabilität eine ganz hohe Priorität behalten muß.
({4})
Die Bundesregierung bekennt sich dazu. Es geht hier nicht um bloßen Aktionismus. Jeder Schritt muß in den vorrangigen Aufgaben, auch in der Eigengesetzlichkeit der Währungspolitik wohlbegründet sein. Und die Bundesregierung hat ja ihre Ausgangsposition vor kurzer Zeit sehr klar formuliert. Das Problem mit den Großen Anfragen - wenn ich das einmal offen sagen darf - in diesem Hause ist, daß sie so umfangreich sind, daß wichtige Antworten kaum noch in der öffentlichen Diskussion beachtet werden.
({5})
Die Bundesregierung hat am 4. Februar die Große Anfrage der Kollegen der SPD in der Frage 15 beantwortet. Das ist die Position der Bundesregierung zur Frage der Weiterentwicklung im EWS. Ich zitiere aus dieser Antwort der Bundesregierung:
Die Schaffung eines einheitlichen europäischen Wirtschaftsraumes macht eine stetig fortschreitende Annäherung der Wirtschafts- und Währungspolitiken der Mitgliedstaaten auf der Basis stabiler Preise sowie die Stärkung des Europäischen Währungssystems notwendig. Ein entscheidender Schritt ist die volle Liberalisierung des Kapitalverkehrs. Nachdem die private Nutzung der ECU in der Bundesrepublik Deutschland jetzt möglich ist, sind Voraussetzungen für eine stärkere Nutzung geschaffen. Längerfristiges Ziel ist die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, in der dann auch eine unabhängige und dem Stabilitätsziel verpflichtete Europäische Zentralbank eine einheitliche Wirtschafts- und Währungspolitik wirksam unterstützen kann.
Hier werden kurzfristige Entscheidungsmöglichkeiten und längerfristige Ziele definiert.
Die wichtigste Aufgabe, die jetzt ansteht, um die wir uns am Montag im ECOFIN-Rat, Finanzminister und Wirtschaftsminister, wieder bemühen wollen, ist, auf der Grundlage der Vorschläge der Kommission endlich die verbindlichen Entscheidungen im Rat über die Liberalisierung des Kapitalverkehrs erreichen. Das ist die Nagelprobe
({6})
für jene - und das sind leider viele - , die im Augenblick noch zögern. Dagegen helfen verbale Bekenntnisse zu irgendwelchen Zukunftsinstitutionen, für die erst einmal die Fundamente zu schaffen sind, nicht weiter. Wir brauchen einen liberalisierten Kapitalverkehr in Europa - das ist eine elementare Voraussetzung für Fortschritte in der Währungspolitik -, mit längeren Übergangsfristen für die neuen Mitgliedstaaten und die Schwachwährungsländer.
({7})
- Natürlich.
Und hierauf können weitere Entwicklungen aufbauen.
Herr Bundesminister, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Ja.
Herr Minister, welchen Niederschlag wird die von Ihnen unterstrichene und von uns begrüßte Notwendigkeit der Geldwertstabilität bei der Behandlung der Ratifizierungsvorschriften für die deutsch-französische Wirtschafts- und Währungsvereinbarung finden?
Graf Lambsdorff, ich kenne Ihr starkes Interesse an dieser Frage. Sie haben dazu auch in der ersten Debatte nach dem Pariser Gipfel Stellung genommen. Ich will hier sagen, daß die Abstimmung innerhalb der Bundesregierung für die Zuleitung des Vertragsgesetzes im Gange ist und daß wir noch nicht über eine endgültige Formel gesprochen haben. Aber ich glaube, daß wir in Kürze Ihre Frage werden beantworten können, wenn wir innerhalb der beteiligten Ressorts einen einheitlichen Kabinettsvorschlag erzielt haben werden.
({0})
- Gerne.
Würden Sie bereit sein, davon Kenntnis zu nehmen, Herr Minister, daß ich mit einer Verweisung dieses Themas in die Begründung des Gesetzentwurfs unter keinen Umständen einverstanden sein könnte?
Dieser Hinweis hat natürlich große Bedeutung für die Meinungsbildung in der Bundesregierung,
({0})
ich bin sicher, auch bei allen anderen Kollegen, die an diesen Abstimmungsgesprächen teilnehmen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Abschluß noch einige Sätze zu den weitergehenden internationalen Fragen des Währungssystems sagen: Ich glaube nicht, daß wir die Voraussetzungen für eine Reform des Weltwährungssystems objektiv haben. Überlegungen, zu stabilen Wechselkursen zurückzukehren, und anderes mehr, wie sie jetzt auch von französischer Seite zur Diskussion gestellt werden, sind unter den jetzigen Bedingungen, wie ich vermute, nicht realisierbar. Aber ich bin dafür, daß wir den pragmatischen Ansatz, den wir im Februar in Paris gewählt und im Dezember erneuert haben, versuchen fortzusetzen, mit der nötigen Flexibilität, daß wir aber vor allem durch größere Konvergenz in der zugrunde liegenden Politik alles tun, was mehr Stabilität in den Wechselkursentwicklungen bedeuten kann. Das ist für uns eine Kernfrage, wenn wir über Wirtschaft, Beschäftigung und Investitionen und den Standort Bundesrepublik Deutschland reden.
Es geht um die Anpassungsfähigkeit. Und das berührt viele andere Stichworte, die in dieser Diskussion genannt werden. Anpassungsfähigkeit ist nicht etwas Negatives, etwas Passives, es ist die schöpferische Kraft, sich auf neue, veränderte Bedingungen einzustellen.
Es macht keinen Sinn, Herr Kollege Spöri, hier in einer interessanten und ausführlichen Rede über den großen technologischen Aufbruch zur Lösung der Beschäftigungsprobleme zu reden und das ganze Thema der Kosten, der Lohnnebenkosten, der notwendigen Differenzierung, des stabilitätsgerechten Verhaltens von Unternehmern und Gewerkschaften schlicht auszuklammern. Das, was Sie hier versuchen, führt nicht zu Ergebnissen.
({1})
Es macht - das will ich nur in einer Fußnote sagen - auch nicht viel Sinn, daß Sie mich jahrelang kritisiert haben, unsere Politik der sparsamen Ausgabengestaltung würde zum Kaputtsparen führen, und jetzt unsinnigerweise behaupten, wir oder ich hätten in den letzten Jahren die finanziellen Reserven verjubelt. Damit werden Sie in Baden-Württemberg intelligente Bürger kaum beeindrucken können. Nachdem Sie in diesem Hohen Hause jahrelang vom Kaputtsparen geredet haben, ist Ihre jetzige Argumentation nur noch als absurd zu bezeichnen!
({2})
Wir haben die Neuverschuldung bei Bund, Ländern und Gemeinden in wenigen Jahren halbiert. Unter den genannten Bedingungen und durch Sonderfaktoren wie finanzielle Belastung durch die EG und verlorener Bundesbankgewinn müssen wir für dieses Jahr eine höhere Neuverschuldung in Kauf nehmen. Deswegen erinnere ich an den Kabinettsbeschluß vom 7. Januar, daß dies für ein Jahr unter schwierigen Anpassungsbedingungen vertretbar ist, daß wir dann aber durch die in der Koalition vereinbarten Maßnahmen die Neuverschuldung wieder deutlich zurückführen werden.
Unter dieser Prämisse leistet die Finanzpolitik ihren Beitrag. Sie können das auch im Jahresgutachten nachlesen. Aber auch die Grenzen sind hier in der Diskussion genannt worden: Die Finanzpolitik leistet ihren Beitrag, auch die Währungspolitik muß ihn leisten. Aber letzten Endes geht es darum, ob in einer freiheitlichen Gesellschaft auch Arbeitgeber und Gewerkschaften bereit sind, von Förderung der Beschäftigung nicht nur zu reden, sondern auch in Solidarität mit den Arbeitslosen zu handeln. Das ist der Maßstab, an dem sie zu messen sind!
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Ehrenberg.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem im Jahreswirtschaftsbericht steigende Arbeitslosigkeit projektiert ist, aber nichts dazu gesagt wird, wie man davon wieder herunterkommt, und nachdem der Bundeswirtschaftsminister dazu auch nichts gesagt hat, kann es sein, daß jemand in diesem Hause oder anderswo vielleicht die Hoffnung hatte, der Bundesfinanzminister würde hier etwas bieten. Herr Stoltenberg hat das dann ganz zum Schluß auch getan, nämlich mit dem Bezug auf die Kabinettsbeschlüsse von Anfang des Jahres, wo ja für 1989 massive Erhöhungen von Verbrauchsteuern angedroht worden sind. Mit dieser Ankündigung haben Sie der schon schwachen Konjunktur noch einen Tritt nach unten versetzt.
({0})
Ich habe den Eindruck, daß, nachdem Herr Biedenkopf mit der Philosophie des verlangsamten Wachstums begonnen hat, jetzt auch der Finanzminister auf dieser Linie liegt. Er tut so, als wären uns so schwache Wachstumsraten, wie wir sie haben, als Gottesurteil oder als Naturgesetz auferlegt worden.
({1})
- In der Tat will ich das, weil ich glaube, daß mit Ihren Spekulationen die Arbeitslosigkeit nie zu beseitigen ist!
({2})
Herr Bundesfinanzminister, Sie haben mit Recht auf die Notwendigkeit größerer internationaler Koordination hingewiesen. Nur, Herr Bundesfinanzminister, warum haben Sie dann den vereinten Rufen aus Tokio, Washington und Paris nach expansiverer Politik hier bei uns nicht Folge geleistet? Das wäre ein wichtiger Schritt zu besserer Koordination mit unseren Partnern, die - wie Japan - ein doppelt so hohes oder - wie die USA - ein um die Hälfte höheres
Wachstum als wir in der Bundesrepublik haben; vielleicht sollten wir dem einmal nacheifern.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Bitte sehr.
Herr Ehrenberg, wenn Sie also mit höheren Wachstumsraten als in den letzten Jahren das Vollbeschäftigungsziel erreichen wollen, frage ich Sie, wie hoch erstens die Wachstumsraten
- und zwar über einen mittelfristigen Zeitraum - sein müssen, zweitens mit welchen Volumina staatlicher Investitionszuschüsse Sie diese hohen Wachstumsraten erreichen und finanzieren wollen und wie Sie drittens diese über einen mittelfristigen Zeitraum hohen Wachstumsraten den Umweltpolitikern Ihrer eigenen Partei schmackhaft machen können.
({0})
Das ist sehr einfach zu beantworten. Wenn Sie unsere Politik verfolgt hätten, wüßten Sie das auch. Ich bin zufrieden, wenn wir die Wachstumsraten der zweiten Hälfte der 70er Jahre wieder gewinnen; die lagen zwischen 2,5 und 4 % und wurden durch ein großes öffentliches Investitionsprogramm angestoßen und in Gang gesetzt, das in erster Linie der Verbesserung der Umwelt gedient hat, nicht ihrer Schädigung.
({0})
Sie werden doch wohl nicht abstreiten, daß das Rhein-Bodensee-Programm ein vernünftiges Investitions- und Umweltprogramm war, das mit 9 Milliarden DM dotiert war, und daß auch die anderen Maßnahmen in erster Linie der Verbesserung der Umwelt dienen.
({1})
- Ja, Sie können sich darauf berufen.
Jedenfalls haben Sozialdemokraten in der zweiten Hälfte der 70er Jahre vorexerziert, daß man mit qualitativ gesteuerten hohen Wachstumsraten Beschäftigung und Umwelt in gleicher Weise verbessern kann. Das ist in der Statistik nachzulesen; ich bitte Sie, das zu tun.
({2})
Aber - jetzt an die Regierung gesprochen - es wäre ja wohl von der Regierung aus gesehen endlich Zeit, zu den Aufträgen des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes, die, Herr Bundeswirtschaftsminister, von der Bundesregierung verlangen, Stabilität des Preisniveaus, hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gleichzeitig anzusteuern, zurückzukehren. Von diesen vier Zielen haben Sie drei Ziele grob verfehlt. Ein einziges, nämlich die Preisstabilität, haben Sie erreicht, und das mit Hilfe von 30
Preissenkung bei den Importgütern. Sonst wären Sie auch hier von der Zielerreichung weit entfernt.
Ich muß schon sagen: Drei Zielverfehlungen bei einem Katalog von vier Zielen - das, was Sie hier vorgelegt haben, ist die Bilanz des beschäftigungspolitischen Bankrotts der Angebotspolitik.
({3})
Über die Standortverschlechterungen der Bundesrepublik haben alle miteinander gesprochen und fanden immer nur die Löhne als Ursache und nichts anderes.
({4})
- Diejenigen, die hier gesprochen haben, ja; Sie nicht, Herr Cronenberg; Sie sprachen ja heute nicht. Diejenigen, die hier gesprochen haben, fanden dies so, der Bundeswirtschaftsminister als erster. Er bietet dann Deregulierung, Flexibilisierung und andere Heilmittel an. Seit fünf Jahren betreiben Sie das doch.
({5})
Aber die Umkehrung der Investitionsströme hat genau in diesen fünf Jahren stattgefunden. Daß ausländische Investitionen an der Bundesrepublik vorbeigehen und deutsche ins Ausland drängen, ist doch erst der Fall, seit Sie regieren. Vorher war das nicht so.
({6})
- Nein, ich übertreibe nicht; Sie können es in der amtlichen Statistik nachlesen.
Auch in bezug auf die Löhne würde ich doch sehr empfehlen, einen Blick in die amtliche Statistik zu werfen. Für 1987 sind die Zahlen noch nicht perfekt, aber die von 1980 bis 1986 genügen auch. 1987 hat sich die Entwicklung in die gleiche Richtung fortgesetzt.
Sie können dort finden, daß die Nettolohn- und Gehaltssumme von 1980 bis 1986 um 78 Milliarden DM gestiegen ist und die Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen um 156 Milliarden DM, also um gut das Doppelte.
Um Herrn Biedenkopfs Äußerung, der nicht mehr da ist, hier gleich vorwegzunehmen: Der Anteil der Vermögenseinkommen an diesen 156 Milliarden DM beträgt lediglich ein knappes Sechstel. Davon entfällt wiederum die Hälfte auf Selbständigenhaushalte, so daß also dieses Ausweichen des Herrn Biedenkopf hier nicht stimmt. Es ist eindeutig, daß der doppelt so hohe Anstieg der Nettoeinkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen zu der schwächsten Investitionstätigkeit geführt hat, die es in dieser Republik je gab.
({7})
Seit 1985 liegt die Investitionsquote unter 20 %, und seit 1983 liegt die Arbeitslosigkeit über 2 Millionen. Das heißt, Herr Bundeswirtschaftsminister, dies ist eine Bilanz des beschäftigungspolitischen Bankrotts.
({8})
Ich muß Sie leider, nachdem Sie hier zu Rheinhausen gesagt haben, wer dort demonstriere, der vertrete eigentlich eine unmenschliche Politik, auf etwas ansprechen, bei dem ich davon ausgehen muß, daß die „Süddeutsche Zeitung" am 22. Februar richtig zitiert hat.
({9})
Dieser Zeitung nach hat der Bundeswirtschaftsminister bei der Eröffnung der Frankfurter Messe u. a. gesagt, daß die Arbeitslosen für ihr Schicksal auch mit verantwortlich sind. Denn da zwei Drittel der Langzeitarbeitslosen nicht hinreichend qualifiziert seien, müsse - jetzt wird wörtlich zitiert jeder einzelne dann mal in die Hände spucken und sein eigenes Schicksal in die Hand nehmen.
Herr Bundeswirtschaftsminister, ich würde gerne von Ihnen hören, ob In-die-Hände-Spucken schon berufliche Qualifizierung bringt.
({10})
Diesen Ausdruck nehme ich Ihnen nicht übel, aber ich würde gerne von Ihnen konkret wissen, wo denn die 1,6 Millionen ungelernten Arbeitslosen von dieser Regierung einen Ausbildungsplatz und eine Stätte für berufliche Qualifizierung geboten bekommen.
({11})
Ich würde von Ihnen gerne weiter wissen, warum denn auch 900 000 hochqualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seit fünf Jahren arbeitslos sind. Darauf sollten Sie einmal konkret antworten und nicht mit großen Worten.
({12})
Wenn Sie das tun, dann kommen Sie vielleicht nicht in der Erfüllung, aber wenigstens in der Zielrichtung an den Auftrag des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes heran.
So bietet der Jahreswirtschaftsbericht leere Floskeln, beschönigende Worte, und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bekommen gesagt: Die Arbeitslosigkeit steigt weiter, und die Regierung tut nichts dagegen.
({13})
Sie haben sich, wenn auch gedrängt, wenn auch erst mühsam herangeführt, zu einer Regelung für die Montanregion in Nordrhein-Westfalen entschlossen. Wo bleibt das Konzept für die Stahlstandorte in Niedersachsen, Bremen und Hamburg? Wo bleibt ein Küstenprogramm? Nichts davon findet sich im Jahreswirtschaftsbericht, nichts davon fand sich hier in der Debatte.
Also, Herr Bundeswirtschaftsminister, wenn Sie auch nur einen Teilbereich des Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes ernst nehmen,
({14})
dann müssen Sie mehr tun und dürfen hier nicht nur
schöne Worte machen. - Herr Wolfgramm, vorausschauende Strukturpolitik und konkretes Handeln
wird von der Regierung erwartet. Sie macht schöne Worte.
Wäre die Bundesregierung eine Aktiengesellschaft, der Gang zum Konkursrichter wäre bei dieser Bilanz fällig.
({15})
Die Regierungsparteien haben noch die Chance, die Bundesregierung davor zu bewahren. Nehmen Sie den Antrag der SPD-Bundestagsfraktion zum Abbau der Arbeitslosigkeit an, und wachen Sie darüber, daß die Bundesregierung das erfüllt. Dann haben Sie die Chance, diesen Konkurs zu vermeiden.
Herzlichen Dank.
({16})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kraus.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Nach dieser Bankrottrede des Herrn Kollegen Ehrenberg müßte eigentlich jeder Außenstehende, der die Verhältnisse in der Bundesrepublik überhaupt nicht kennt, zu der Auffassung kommen, hier handele es sich um ein Land, in dem das Elend überall grassiert.
Tatsache ist aber doch wohl, daß selbst im letzten Jahr mit seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten die Verhältnisse ganz anders sind: Selbst 155 000 neue Arbeitsplätze wurden geschaffen. Wir hatten ein vernünftiges wirtschaftliches Wachstum. Die beruflichen Chancen der Jugend haben sich deutlich verbessert. Wir hatten eine ganz beachtliche Steigerung der Realeinkommen im letzten Jahr.
Ich glaube, es ist nur fair, wenn man versucht, vernünftige Maßstäbe zu der Frage zu finden, ob wir uns hier in der Bundesrepublik mit anderen messen können. Ich denke hier an zwei Vergleichsmöglichkeiten, zum einen an die Jahre vor dieser neuen Bundesregierung, zum anderen an den Vergleich mit gleichzusetzenden Industriestaaten.
({0})
Sagen sie mir bitte, Herr Ehrenberg, wo es insgesamt besser läuft als in der Bundesrepublik,
({1})
unter folgender Berücksichtigung. Erstens: Wo gibt es mehr Umweltschutz, mehr soziale Sicherheit? Wo wird mehr für die Familie getan? Wo wird weniger an Zeit gearbeitet? Wenn Sie alle diese Dinge vernünftig berücksichtigen, auch unter dem Gesichtspunkt, daß bei uns die Bevölkerung nicht zunimmt, was in anderen Ländern der Fall ist, dann müssen Sie zu dem Ergebnis kommen, daß sich unsere Situation gegenüber jeder anderen vergleichbaren durchaus positiv abhebt.
({2})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Ehrenberg?
Bitte schön, Herr Ehrenberg.
Herr Kollege Kraus, wären Sie bereit, gewissermaßen als Antwort auf Ihre Frage die Gegenfrage zu akzeptieren: Ist Ihnen bekannt, daß Schweden eine höhere Außenhandelsverflechtung hat als wir, nämlich 38 % Außenhandel, und daß dort bei höherem Lohnniveau, höherem Sozialleistungsniveau und größerer Computer- und Roboterdichte gleichzeitig die geringste Arbeitslosigkeit in der westlichen Welt besteht? Ist Ihnen das bekannt?
Herr Ehrenberg, mir ist auch bekannt, daß in Schweden beispielsweise die Verhältnisse im Gesundheitswesen so sind, daß die Leute praktisch verzweifeln.
({0})
- Sicher ist es dort so. Die Verhältnisse im dortigen Gesundheitswesen sind bei weitem schlechter, als das bei uns der Fall ist. Ist Ihnen das nicht bekannt, Herr Stratmann? Wenn man solche Dinge vernachlässigt, ist es ohne weiteres möglich, künstlich geschaffene Arbeitsplätze zu halten.
Das ist aber nicht unser Problem. Herr Ehrenberg, ich glaube, hier besteht ein grundsätzliches Mißverständnis: Wir brauchen in der Bundesrepublik nicht irgendeine Beschäftigung, sondern wir brauchen produktive, wirtschaftlich rentierliche Arbeitsplätze. Die können Sie nicht auf diese Weise schaffen, wie Sie es hier vorschlagen.
({1})
Ich möchte überhaupt nicht in Abrede stellen, daß wir trotz der allgemein nicht schlechten Situation natürlich unsere Probleme haben. Wir haben unsere Probleme mit der zu hohen Zahl von Arbeitslosen. Aber geben Sie doch bitte auch zu, daß da einige Punkte hereinspielen, die unabänderlich sind, z. B. das Drängen der geburtenstarken Jahrgänge auf den Arbeitsmarkt, die Bereitschaft von immer mehr Frauen, eine Erwerbstätigkeit anzunehmen.
Und geben Sie doch auch zu, daß die Arbeitsmarktstatistik als solche einfach nicht mehr aussagefähig genug ist. Wie wäre es sonst erklärbar, daß in manchen Bereichen und in relativ vielen Regionen heute Arbeitskräfte händeringend gesucht werden, diese aber nicht zu finden sind, während gleichzeitig in der Statistik eine sehr hohe Zahl von Arbeitslosen auch in diesen Berufen ausgewiesen wird?
Sie haben vorhin die Frage gestellt, ob wir etwa für die 900 000 Facharbeiter keine Arbeit hätten. Herr Ehrenberg, ich bin überzeugt davon: Auch hier wäre über eine höhere Flexibilität und eine höhere Mobilität der Betroffenen ein Teil der Probleme zu lösen.
({2})
Herr Ehrenberg, dazu noch einige Bemerkungen. Es gibt eine Menge von Gebieten, in denen qualifizierte Kräfte wie beispielsweise Elektroingenieure gesucht werden. In anderen Gebieten haben wir sie. Die Leute sind zum Teil nicht bereit, die Mobilität aufzubringen, die notwendig wäre, um solche Plätze auszufüllen.
Interessanterweise gilt das auch für weniger qualifizierte Kräfte. Sie haben sicher schon gehört, daß in der Gastronomie in weiten Bereichen Arbeitskräfte gesucht werden, aber nicht zu finden sind. Gastronomen werden im vertraulichen Gespräch zugeben, daß sie einen erheblichen Bedarf an Arbeitskräften dadurch ausgleichen, daß sie auf die 440-DM-Regelung ausweichen und auch schon einmal jemanden einstellen, von dem man überhaupt nicht weiß, daß er dort eingestellt wurde.
Das geht sogar so weit, daß sich solche renommierten Einrichtungen wie das Collegium Augustinum in München, eine der evangelischen Kirchen nahestehende Organisation, die Altenheime und Krankenhäuser betreibt, bereits heute aufgefordert fühlen, einen Aufruf an die Politiker zu erlassen, doch wieder zuzulassen, daß Arbeitskräfte aus Drittländern nach Deutschland kommen, d. h. Ausländerinnen, damit sie diese ausbilden können, um die Deckung des Arbeitskräftebedarfs im Rahmen der Altenpflege für die nächsten Jahre überhaupt sicherstellen zu können. Sie wollen auf diese Weise auch die aktuellen Schwierigkeiten, die sie haben, bekämpfen.
Diese Dinge darf man doch nicht übersehen. Wir haben es hier mit einem Arbeitsmarkt zu tun, der mehrfach gespalten ist: regional, berufsspezifisch, nach Branchen, nach Arbeitsanfall usw.
Ich möchte auch noch ein Wort zur Frage der Zumutbarkeit sagen - mir scheint das schon ein wichtiger Punkt zu sein - : zumutbar für den Arbeitgeber, zumutbar für den Arbeitnehmer, bedingt durch die persönlichen Voraussetzungen, die jeder für seine Arbeit mitbringt. Ich glaube schon, daß es zwischenzeitlich manche Leute gibt, die das Recht auf Arbeit als ein Recht auf eine ganz bestimmte Tätigkeit, zu ganz bestimmten Bezahlungen, in einer ganz bestimmten Region auffassen. Dieses Recht kann kein Mensch, kann kein Staat auf der Welt garantieren.
({3})
Natürlich bin ich auch nicht der Meinung, daß jedem jede Arbeit zugemutet werden kann. Wir müssen auf den gesundheitlichen Zustand, auch auf die Ausbildung und auf das Alter des einzelnen Rücksicht nehmen. Aber daß hier mehr an Zumutbarkeit notwendig wäre, würde ich sehr wohl meinen.
({4})
- Herr Ehrenberg, wie würden Sie sich denn erklären, daß heute bis zu 50 % der Leute, die von der Bundesanstalt an Weiterbildungseinrichtungen verwiesen werden, einfach aufhören, nicht weitermachen? Warum eigentlich? Warum ist das eine so hohe Zahl? Vielleicht liegt das schon auch daran, daß eben das, wovon Sie vorhin gesagt haben, daß man es nicht tun sollte, nämlich den einzelnen auch an seine eigene Verantwortung zu erinnern, hier tatsächlich doch getan werden müßte.
Zur Frage der Mindestlohn-Arbeitslosigkeit ein Wort: Ich bin hier ausdrücklich nicht der Meinung, daß unsere Nettolöhne für die breite Masse der Beschäftigten etwa zu hoch seien; das ist ganz sicher nicht der Fall. Ich denke hier an die hohen Lebens4386
grundbelastungen gerade in den Ballungsräumen. Was aber mit Sicherheit zu hoch ist, sind die Gesamtlohnkosten, die der einzelne Arbeitnehmer im Betrieb verursacht. Im lohnintensiven Betrieb gilt zwischenzeitlich der Satz: Der Facharbeiter kann sich den Facharbeiter, wenn er dessen Leistung beansprucht, praktisch nicht mehr leisten. Es kommt also sehr darauf an, die Lohngesamtkosten nicht zu erhöhen.
Und da ist, um das abschließend noch zu sagen, mein Hauptansatzpunkt die Frage der Arbeitszeitverkürzung. Hier wird ja von Ihrer Seite in erster Linie die Arbeitszeitverkürzung - sprich: die Wochenarbeitszeitverkürzung - als das Rezept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit schlechthin dargestellt. Tatsache ist wohl, daß der kapitalintensive Betrieb, der relativ wenig Löhne zu zahlen und relativ hohe Kapitalkosten hat, bei kluger Ausnutzung einer Vereinbarung mit den zuständigen Gewerkschaften, nämlich die Maschinen länger arbeiten zu lassen und dafür den Menschen kürzere Arbeitszeit - bei vollem Lohnausgleich oder auch ohne Lohnausgleich - zu geben, dahin kommen kann, daß sich das betriebswirtschaftlich für ihn rechnet. Bloß, Herr Ehrenberg, es ist die Minderheit der Unternehmen, nämlich die wenigen, die bereit und in der Lage sind, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Und für die arbeitsplatzschaffenden Unternehmen wirkt jede Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich - gleich, welcher Höhe - natürlich lohnkostensteigernd und damit in einem diesem uns eigentlich allen gemeinsamen Anliegen widersprechenden Sinne, nämlich zur Vermehrung von Arbeitsplätzen beizutragen.
({5})
- Das können Sie doch ausrechnen. Ich wundere mich, Sie sind doch im DGB ein führender Mann. Auch Ihre Gesellschaften im DGB haben es doch niemals geschafft, die Arbeitszeit zu verkürzen
({6})
und hier mit einem besonderen Beispiel voranzugehen. Keiner schafft es, hier wird immer theoretisiert.
({7})
Es gibt Betriebe, für die es sich betriebswirtschaftlich rechnet, mit Sicherheit nicht bei der großen Zahl der lohnintensiven Betriebe, die in der Lage wären, Arbeitskräfte wirklich zusätzlich einzustellen.
({8})
Deswegen ist das kein geeigneter Weg, uns hier aus der Bredouille zu helfen.
Ich bin auch der Meinung, daß wir hinsichtlich der Frage des Mißbrauchs unserer Statistik
({9})
und der Möglichkeiten der Arbeitslosigkeitsmeldung schlechthin etwas tun müssen. Ich kann das im einzelnen jetzt nicht mehr ausführen. Aber wir werden uns mit diesem Thema in nächster Zeit ganz sicher besonders beschäftigen. Wir werden dann Gelegenheit haben, dazu noch einiges zu sagen.
Im übrigen denke ich, daß wir, wie ich anfangs schon gesagt habe, mit unserer Situation in der Bundesrepublik durchaus zufrieden sein können: Wir haben, gemessen in absoluten Zahlen, pro Kopf der Bevölkerung ein gutes Wachstum des Bruttosozialprodukts, und wir haben ordentliche Einkommensverhältnisse. Wenn wir so weiterarbeiten können, werden wir sicher auch das bisher ungelöste Problem der großen Zahl von Arbeitslosen auf unterschiedlichen Wegen einer vernünftigen Lösung ein Stück näherbringen können.
Ich bedanke mich.
({10})
Das Wort hat Frau Dr. Skarpelis-Sperk.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn ich auf der Regierungsbank den Bundeswirtschaftsminister - ein Buddhalächeln zeigt er jetzt nicht mehr -, den birnenförmigen Bangemann so sitzen sehe,
({0})
dann ist sichtbar, mit welcher Gelassenheit, ja, Leichtfertigkeit im Jahreswirtschaftsbericht dieses Jahres über zentrale Fehlentwicklungen in unserem Land, vor allem in den Regionen hinwegformuliert wird.
({1})
- Wenn ich mir die Unterschiede in den Lebens- und Arbeitschancen, die Situation der Arbeitslosen, die Situation in den Regionen ansehe und mir dazu Ihre Rezepte anhöre, muß ich Ihnen sagen: Mich hat die Gelassenheit wirklich gewundert, mit der einige hier über diese Probleme hinwegformulieren.
({2})
Die Gefahr, arbeitslos zu werden oder von Armut betroffen zu sein, ist doch immer deutlicher davon abhängig, ob man oder frau in Göppingen oder in München, in Leer, Passau, Saarlouis oder Dortmund lebt. Von einer Gleichartigkeit, ja, Gleichheit der Lebensverhältnisse - wie sie das Grundgesetz ausdrücklich fordert - kann vor allem mit Blick auf die Erwerbs- und Einkommensmöglichkeiten immer weniger die Rede sein. Davon müßte ein Jahreswirtschaftsbericht sprechen und zu diesem Thema überzeugende wirtschafts- und finanzpolitische Vorschläge anbieten. Statt dessen findet sich der knappe Satz: „Schließlich war erneut ein beträchtlicher Unterschied zwischen den Regionen zu verzeichnen." Das ist alles.
Lassen Sie mich deswegen doch einige nüchterne Fakten ins Gedächtnis rufen:
Erstens. Die Ungleichheit zwischen den prosperierenden Gebieten auf der einen und den strukturschwachen, ländlichen sowie den altindustriellen Regionen auf der anderen Seite nimmt weiter zu.
Zweitens. Die Arbeitslosenzahlen in den strukturschwachen, ländlichen Gebieten sind mittlerweile katastrophal.
Drittens. In den altindustrialisierten Räumen, im Norden, im Westen und im Südosten unseres Landes mit ihrer Konzentration auf schrumpfende Branchen wie Stahl, Schiffbau, Kohle, aber auch Textil- und Schuhindustrie häufen sich die arbeitsplatzvernichtenden Wirkungen des Strukturwandels. Die Zukunftsaussichten dieser Regionen sind, wenn es bei der bisherigen Politik bleibt, schlicht düster.
Von alledem ist bei Ihnen nichts zu lesen. Diese Regierung läßt ganze Regionen arbeitsmarktpolitisch verkommen
({3})
und wäscht im Jahreswirtschaftsbericht ihre Hände in Unschuld mit der Feststellung, dafür seien laut Grundgesetz die Länder und Regionen zuständig.
({4})
Es ist ja sicher nicht ganz falsch, daß die auch mit zuständig sind. Aber glauben Sie, Herr Bangemann, es tröstet die Arbeitsmarktregionen in Leer, Passau, Vechta, Dortmund, Bochum und Saarlouis darüber hinweg, daß sie die Hitliste, d. h. die ersten zehn Plätze der Massenarbeitslosigkeit in dieser Republik anführen?
({5})
Glauben Sie, daß es so uninteressant ist, daß die Arbeitslosenquote in Leer mittlerweile 25 To beträgt, dort also jeder vierte arbeitslos ist,
({6})
während Göppingen mit 4 % relativ gut dasteht?
Ich möchte Sie an Art. 91 a des Grundgesetzes erinnern; denn danach wirkt die Bundesregierung bei der Erfüllung von Länderaufgaben mit, wenn die Aufgaben für die Gesamtheit bedeutsam sind und die Mitwirkung des Bundes zur Verbesserung der Lebensverhältnisse erforderlich ist.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Lammert?
Bitte.
Würden Sie uns freundlicherweise, Frau Kollegin Skarpelis-Sperk, darüber aufklären, welche Bundesregierung in den letzten 40 Jahren zur Wahrnehmung der von Ihnen gerade zitierten Mitverantwortung - Mitverantwortung! - für die regionale Wirtschaftsentwicklung - insbesondere für das Ruhrgebiet, das Sie als Beispiel herangezogen haben - mehr Maßnahmen und mehr öffentliche Mittel mobilisiert hat als die im Augenblick amtierende Bundesregierung?
Ich werde im Verlaufe meiner Rede, lieber Herr Kollege Dr. Lammert, präzise darauf eingehen,
({0})
was Sie den Regionen, den Betroffenen gerade wirtschaftspolitisch, finanzpolitisch in diesem Jahr konkret gekürzt haben oder zu kürzen vorhaben. Das werde ich Ihnen Stück für Stück beweisen. Sie tönen nämlich, auch im Ruhrgebiet, nur großartig. Aber was bei der Montankonferenz herausgekommen ist, ist nichts anderes als dies: Wenn Sie die Gelder zusammenzählen, die die Bundesregierung, das Land Nordrhein-Westfalen und die EG mobilisieren - das ist ein erster Schritt, nicht mehr - , werden es jährlich 400 Millionen sein - gegenüber 500 Millionen, die vergangene Bundesregierungen in den letzten 15 Jahren im Schnitt eines jeden Jahres für das Ruhrgebiet mobilisiert haben. Jetzt sind es 100 Millionen DM pro Jahr weniger, lieber Herr Kollege Lammert.
({1})
- Ich bitte um Verständnis, daß ich - wir haben nun nicht mehr sehr viel Zeit - meine Rede ein Stückchen weiter vortrage.
Gestatten Sie die Zwischenfrage?
Gut, wenn es eine Ruhrdebatte wird.
({0})
Ich stelle eine ganz leichte.
({0})
Herr Kollege Stratmann, lassen Sie sich nicht entmutigen.
Da Sie gerade die Zuschüsse früherer Bundesregierungen an das Ruhrgebiet erwähnt haben, frage ich: Wie stehen Sie denn dazu, daß die Landesregierung Nordrhein-Westfalen von 1985 bis 1988 unter dem politischen Titel „Arbeit und Umwelt" die Mittel um insgesamt exakt 534 Millionen DM gekürzt hat
({0})
und daß durch das, was sie heute als ZIM propagiert, nämlich durch 180 Millionen DM pro Jahr, noch nicht einmal ihre eigenen Kürzungen kompensiert werden?
({1})
Lieber Herr Kollege Stratmann - ich habe ihn im Wirtschaftsausschuß lange genug genossen.
({0})
Er ist nicht so fürchterlich, wie er aussieht. Die Frage ist relativ leicht zu beantworten, Herr Kollege. Es ist einfach folgendermaßen. Wenn Sie die Finanzsituation unserer Bundesländer ansehen,
({1})
dann werden Sie mit mir in der Einschätzung einig gehen, daß die gegenwärtige Finanzverteilung zwischen den Bundesländern - darin werden mir Ihre Kollegen von der CDU aus Schleswig-Holstein und Niedersachsen zustimmen - allmählich unerträglich
ist und einen zentralen Verfassungsartikel berührt, in dem gefordert ist, die Gleichheit der Lebensverhältnisse in unserem Land zu sichern.
({2})
Ich kann zwar - ich diskutiere natürlich auch auf Bundesparteitagen und am Rand von Finanztreffen mit dem Kollegen Posser - darüber klagen, daß bestimmte Ausweitungen der Länderhaushalte nicht in dem Umfang erfolgen, wie sie wünschenswert sind.
({3})
Aber Sie wissen auch, daß gerade Länder und Kommunen nicht mehr die Spielräume zur Verschuldung in der Konjunkturpolitik haben, wie sie die Bundesregierung hat und nutzen könnte.
({4})
Zu dem Thema der Sozialhilfe und ihrer ungleichen Verteilung über diese Republik möchte ich schweigen.
Zurück zu der Frage, was die Bundesregierung zur Änderung der Lebensverhältnisse in diesem Land tut. Dazu möchte ich ein von Ihnen selbst bestelltes Gutachten des RWI, Herr Dr. Bangemann, kurz zitieren.
({5})
- Doch, das Gutachten war bestellt und bezahlt. ({6})
- Dort heißt es - ich zitiere wörtlich - :
Die Hartnäckigkeit der Schwierigkeiten beim Ausgleich zwischen Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage liegt darin begründet, daß es bisher nicht gelungen ist, die Bedingungen für ein Wirtschaftswachstum zu schaffen, daß im nötigen Maße rentable und international wettbewerbsfähige Arbeitsplätze mit sich bringen würde . . . Dies ist vor allem ein Problem der globalen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik.
Offen gesagt: Ich möchte nicht so weit wie das RWI gehen und allein der regionalen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik die Schuld für die regionalen und die Branchenprobleme anlasten. Aber unbestreitbar richtig ist, daß die dramatische Verschärfung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung anzulasten ist.
({7})
Sie bieten an keiner Stelle ein Rezept an, wie dem wirtschaftlichen und sozialen Kollaps der altindustriellen, aber auch der strukturschwachen ländlichen Regionen wirksam entgegenzutreten sei.
({8})
Statt Hilfe haben Sie in der Summe für die Regionen nur Verschlechterungen anzubieten; das zu Ihnen, Herr Lammert: Erstens. Die intensiven Verhandlungen mit der EG haben zu einem Kompromiß der Bundesregierung zu Lasten der Problemregionen geführt.
({9})
Die Förderintensität wurde gesenkt und damit die Attraktivität der Regionalförderung erheblich vermindert.
({10})
Zweitens. Sie beschönigen in kaum zu überbietender Weise die regionalen Auswirkungen Ihrer Steuerreform. Damit hätten Sie doch etwas kompensieren können. Wir verlangen doch nicht von der Bundesregierung, daß sie in Brüssel auftritt wie der Zampano und mit einem Fingerschnipp bessere Kompromisse reinholt. Wenn sie aber sieht, daß sich die Situation für die Problemregionen dadurch verschlechtert, hätte sie sich überlegen müssen, ob sie den Regionen auch noch regionale Lasten aus der Steuerreform auflädt. Das ist doch die entscheidende Frage.
Im Jahreswirtschaftsbericht erwähnen Sie mit keinem einzigen Wort den Ausfall der Mittel, zu dem es durch die Abschaffung der regionalen Investitionszulage in den Problemgebieten kommt. Das dürften gut und gern 1 Milliarde DM pro Jahr sein. Die Zuschüsse im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe, die Sie dafür um 500 Millionen DM aufgestockt haben, müssen von den Unternehmern versteuert werden. Das bedeutet, der Ausfall wird nur zu einem Viertel kompensiert, d. h. netto verlieren die Problemregionen 750 Millionen DM.
Was die Montankonferenz angeht, so habe ich bereits ausgeführt, daß das Ruhrgebiet im Vergleich der letzten 15 Jahre netto etwa 100 Millionen DM pro Jahr weniger bekommt.
({11})
- Ich habe bereits alles addiert, und wir haben es bereits im Schnitt zugerechnet.
Mit Ihren Maßnahmen senken Sie die kurz- und mittelfristige Kapitalrentabilität fast aller Neu- und Erweiterungsinvestitionen in den Problemregionen deutlich ab. Dann soll der Faktor Arbeit das alles wieder kompensieren! Anders kann man Ihren Vorschlag, eine stärkere Differenzierung der Löhne vorzunehmen, gar nicht deuten.
Wir Sozialdemokraten lehnen diesen Vorschlag nicht nur deswegen ab, weil wir ihn für unsozial und ungerecht halten.
({12})
- Lafontaine hat nichts davon gesagt, daß man die Löhne auch noch regional absenken soll. Es wäre auch unvernünftig, einen Ingenieur deswegen schlechter zu bezahlen, weil er in Hamburg und nicht in München beschäftigt ist. Oder soll Mercedes demnächst seine Haustarifverträge ändern, weil Beschäftigte in Bremen und nicht in Stuttgart arbeiten?
Im übrigen darf ich Ihnen eines sagen: Was Sie da sagen, ist auch noch ökonomisch schlecht. Sie sollten
Ihre eigenen Strukturberichte, die Sie bestellt haben, einmal gründlich lesen. Dort heißt es wörtlich: „Eine relative Senkung des Lohnniveaus in wachstums- und produktivitätsschwachen Branchen ist aber im Grunde eine strukturkonservierende, die langfristige Wachstumsperspektive einengende Maßnahme. " - Das kommt nicht nur vom RWI, sondern ähnlich auch vom DIW und früher vom Ifo. Das heißt, mit der Politik, die Sie verlangen, untergraben Sie langfristig den Strukturwandel. Es fällt Ihnen doch in der Tat nichts anderes ein, als den Strukturwandel auf dem Rücken der Arbeitnehmer auszutragen.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kittelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wer die Frau Kollegin Skarpelis aus dem Ausschuß persönlich kennt, der weiß - das darf ich allen sagen, die sie nicht kennen - : Sie ist sonst sehr viel netter, sie ist charmanter, und sie ist in ihren Argumenten an sich auch flüssiger. Ich weiß nicht, ob sie heute einen Hofphotographen bestellt hat und besonders kämpferisch wirken wollte.
Diese Chauvis!
({0})
Herr Jens ist auf dem Wege, Professor zu werden, und wird sich langsam auch diesem neuen Stil - in der Sache hart und in der Form nett - anpassen müssen.
({0})
Die Verelendungskampagnen, die wir im letzten Redebeitrag und vor allen Dingen im Beitrag von Herrn Jens gehört haben, gehen doch voll an der Realität in der Bundesrepublik Deutschland vorbei.
Meine Damen und Herren, ich habe gehört, daß Herr Dr. Vogel vor kurzem einen Kaminabend gemacht hat, zu dem er die Herren Lahnstein, Reuter, Rohwedder eingeladen hatte. Ich weiß nicht, Herr Roth, ob Sie die Chance hatten, dabeizusein. Man sagte mir, daß hinterher die Köpfe geraucht haben und daß Herr Vogel in dem Verkaufen der Politik, die die SPD jetzt betreibt, sehr zurückhaltend war.
({1})
- Nein. Aber diejenigen, die dabei waren, haben danach hoffnungsvoll geäußert, es sei wie ein Hauch von Optimismus, daß Herr Vogel sehr nachdenklich war. Die heutigen Diskussionsbeiträge, die Sie geliefert haben, sind im Verhältnis zu dem, was von außen kommt, etwas einseitig. Herr Roth, Sie wurden am Schluß wieder von der Wirklichkeit eingeholt. Ich muß Ihnen zugestehen, daß Sie einen nachdenklichen, wenn auch leider nicht sehr alternativreichen Beitrag geliefert haben.
Nun zu dem, was im Hinblick auf Nordrhein-Westfalen hier gesagt worden ist. Nachdem Herr Minister Bangemann auf die Frage, was nach der Montankonferenz Nordrhein-Westfalen geschehen ist, im Hinblick auf den Lohnkompromiß eingegangen ist, und nach dem, was Sie hier gesagt haben, ist es wirklich schon ein starkes Stück, die jahrelang versagende Regionalpolitik eines Herrn Minister Rau hier nach der Devise darzustellen: Haltet den Dieb. Das nimmt Ihnen keiner ab, und insofern sollten Sie in der Frage auch etwas konstruktiver sein. Denn wenn die Bundesregierung in dieser Frage nicht weiter hilft, wird Nordrhein-Westfalen mit seinen Problemen alleine auch nicht fertig werden. Es ist schon ein Stück aus dem Tollhaus, diejenigen, die hier Hilfe geleistet haben, auch noch mit Steinen zu bewerfen. Ich halte es für unfair, was Sie hier machen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich darf noch auf einige Probleme eingehen, die heute etwas zu kurz gekommen sind, nämlich auf die Problematik der Außenwirtschaft, des Protektionismus und die damit zusammenhängenden Fragen. Sie wissen, meine Damen und Herren, daß diese Regierung sich nichts vorzuwerfen hat, daß wir nicht nur Marktöffnung für auswärtige Produkte predigen, sondern daß wir sie auch praktizieren. Trotzdem müssen wir alle gemeinsam der Frage des EG-Binnenmarktes eine größere Bedeutung zumessen, als es in der Vergangenheit geschehen ist.
Die vor kurzem abgeschlossene EG-Gipfelkonferenz hat bewiesen, wie engagiert sich die Bundesregierung - nicht nur Bundeskanzler Kohl, sondern die gesamte Bundesregierung - hier für den Ausbau des Binnenmarktes eingesetzt hat. Herr Roth, das steht übrigens im Gegensatz zu Ihren einleitenden Bemerkungen. Ich glaube, daß die Präsidentschaft, die leider nur ein halbes Jahr dauert und erst einmal umgesetzt werden muß, von der Bundesregierung hervorragend geführt wird.
Wir haben an sich jeden Anlaß - das liegt mehr und mehr auch an unseren Politikern - , die Abwehrreaktion in der Bevölkerung gegen Europa wieder zu beseitigen. Ist es denn ein Wunder, daß man in der Bevölkerung glaubt, daß wir an Europa nur zahlen, wenn die Klagen über Europa von den maßgebenden Politikern unverhältnismäßig breit in die Öffentlichkeit getragen werden? Natürlich müssen wir bei der EG-Agrarreform mehr zahlen, als wir bekommen. Auf der anderen Seite exportieren wir rund 60 % unserer Waren in den EG-Raum; deshalb sind wir, die deutsche Wirtschaft, schon heute die großen Nutznießer der EG. Das muß der deutschen Bevölkerung mehr klargemacht werden, damit wir nicht erleben, daß wir selber Europa so kaputtreden, daß, wenn wir demnächst Europawahl haben, keiner in der Lage ist zu erkennen, warum er überhaupt zur Wahl gehen soll.
Was den Binnenmarkt, der vor uns liegt, angeht, meine Damen und Herren, so haben wir alle einen riesigen Nachholbedarf. Hier müssen wir uns gemeinsam - in diese Frage hoffe ich wirklich auch einmal die GRÜNEN mit einbeziehen zu können, zumindest von der Problemdarstellung her - anstrengen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland die Voraussetzungen für den EG-Binnenmarkt schaffen. Ich bin sicher, viele haben noch nicht erkannt, daß andere Länder - was auch ein bißchen an der Struktur dieser
Länder, die zentraler geführt sind, liegt - in dieser Frage schon sehr viel weiter sind, als wir es uns vorstellen.
Deshalb müssen wir, um zu einem funktionsfähigen Binnenmarkt zu gelangen, alles tun, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ich darf Ihnen sagen
- ich bin sicher, auch mit für die FDP zu sprechen -, daß die Koalition die nächsten Monate nutzen wird, um durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit in dieser Frage auch der teilweise noch schlafenden Wirtschaft und Industrie in Erinnerung zu rufen, was insbesondere auch für sie davon abhängt.
({3})
- Du hast nachher noch vier Minuten, um das zu sagen.
Es bleibt dabei, daß wir in dieser Frage an einem Strick ziehen müssen. Europa braucht einen eigenen dynamischen Binnenmarkt - er ist unverzichtbar -, denn nur dieser Binnenmarkt wird uns in die Lage versetzen, gegenüber Japan und den USA konkurrenzfähig zu sein. Was wir sehr häufig übersehen
- wir erwähnen meistens dieses Dreieck - , ist, daß die Entwicklung in Südostasien teilweise von einer solch enormen Durchschlagskraft ist, daß auch wir in der Frage unserer Konkurrenzfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit dort einiges tun müssen.
Wir haben vorhin sehr ausführlich über die Frage gesprochen: Ist die Bundesrepublik Deutschland als Industriestandort noch wettbewerbsfähig? Ich unterstreiche all das, was an Bedenken von Herrn Minister Bangemann und von Matthias Wissmann vorgetragen worden ist. Trotzdem ist das für uns eine Herausforderung. Der europäische Binnenmarkt muß auch ein Beispiel für liberalen Welthandel sein. Wir müssen in der EG davon absehen - ich weiß, die Versuchung ist immer wieder groß, vor allen Dingen für die strukturschwachen Regionen - , uns abzuschotten. Wir müssen beispielhaft sein. Denn nur dann, wenn wir beispielhaft sind, können wir in diesem Zusammenhang auch die jüngsten handelspolitischen Verstöße der USA kritisieren, die weiterhin unangemessen und schädlich sind. Einerseits haben sich die USA vehement dafür eingesetzt, im Rahmen des GATT die handelspolitischen Probleme multilateral aus dem Weg zu räumen, aber auf der anderen Seite spielen sie jetzt mit dem Gedanken, das multilaterale Handelssystem durch Regionalisierung auszuhöhlen. Dies können wir nicht hart genug kritisieren. Wir müssen die USA auffordern, dieses Spiel mit dem Feuer einzustellen. Wir brauchen den liberalen Welthandel, wir brauchen aber keinen „regionalisierten Einzelhandel" .
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ganz wenige Worte noch zu einem Thema sagen, bei dem einige immer glänzende Augen bekommen und die Realität ganz anders aussieht. Im Rahmen unserer Chancen und Möglichkeiten im Weltmarkt reden wir sehr häufig - zu Recht - von Südostasien, weil dort Entwicklungen stattfinden, bei denen wir, wenn wir dort nicht rechtzeitig mit einsteigen, abgehängt werden. Andererseits ist es unverhältnismäßig übertrieben - die vor uns liegende Leipziger Messe wird es wieder beweisen - , wie man die Chancen und Möglichkeiten im Osthandel einschätzt. Abgesehen davon, daß der Osthandel im Gesamtpotential zwischen 5 und 6 % ausmacht, der Handel mit der DDR, wie der letzte Bericht des Bundeswirtschaftsministeriums bewiesen hat, sogar nach unten geht, sind die Chancen dort nur zu nutzen, wenn in den Ostblockstaaten nicht nur von Perestroika und Glasnost geredet wird, sondern wenn man dort endlich darangeht, die Grundstrukturen der Wirtschaft zu ändern. Diese Staaten sind nicht konkurrenzfähig, wenn sie nicht bereit und in der Lage sind, ihre Produktpalette zu erweitern, so daß sie auch bei uns Abnehmer finden. Wir können doch den Osthandel nicht dauernd unter dem sozialen Gesichtspunkt weiterführen nach der Parole: Wir müssen doch einmal sehen, wie wir denen ein bißchen abnehmen können, denn denen da drüben geht es doch so schlecht. - Der Osten ist vielmehr herausgefordert - abgesehen von seiner Ideologie, hat er ja bis vor kurzem auch noch angegeben, daß er uns in all dem, was ihm zur Verfügung steht, irgendwann einmal überholen will - , den Menschen dort endlich einmal eine Chance zu geben, durch Leistung zu überzeugen. Denn sie sind doch nicht dümmer als wir. Vielmehr gibt ihnen das System, dem sie unterworfen sind, keine Chance, sich wirtschaftlich zu bewähren.
({4})
- Das ist doch nicht zum Lachen. Gehen Sie doch einmal hin in die DDR. Gehen Sie doch einmal hin nach Polen, nach Ungarn, in die Sowjetunion, um zu sehen, wie die Menschen dort wirtschaftlich leben müssen.
({5})
Wenn ich sage, daß das System diesen Menschen eine Chance geben muß, hätte ich Ihren Beifall und nicht Ihre kritischen Zwischenbemerkungen erwartet.
({6})
- Das war natürlich ein außerordentlich sachlicher Beitrag, der Ihnen eine Gehaltserhöhung als Parlamentarische Geschäftsführerin einbringen sollte.
Meine Damen und Herren, ich darf abschließend folgendes sagen. Wir, die CDU/CSU, werden gemeinsam mit der FDP alles zur Lösung der weltwirtschaftlichen Probleme tun müssen - in letzter Zeit haben wir durch Stärkung des Binnenmarktes schon alles getan, um einen Rückgang unserer Überschüsse zu begünstigen. Wir sind internationale Verpflichtungen eingegangen - , denn wir sind darauf angewiesen, die Wettbewerbsvorteile der Bundesrepublik Deutschland gegenüber anderen Staaten zu stärken und zu festigen. Davon leben wir. Daran führt auch keine Diskussion vorbei; sie wäre abwegig.
Schönen Dank.
({7})
Letzter Redner ist Herr Abgeordneter Dr. Haussmann.
({0})
Keine Angst, es tut nicht weh.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Bangemann hat das Thema vorgegeben: Wenn in der Automobilindustrie, wenn bei Philips, bei BBC, in der Stahlindustrie, wenn bei Kohle und Werften alte Arbeitsplätze wegfallen, dann muß hier eine Antwort gegeben werden, wo neue entstehen.
({0})
Die Regierung kann nicht im einzelnen bestimmen, an welchem Ort und in welcher Branche neue Arbeitsplätze für Menschen entstehen, sondern sie hat die Pflicht und die Aufgabe, den Strukturwandel so zu bestimmen und so zu lenken, daß der Markt neue Arbeitsplätze sucht.
Deshalb gibt es eben drei Antworten. Erstens. Auch Subventionen werden auf Dauer nicht zu neuen Arbeitsplätzen im Ruhrgebiet führen, wenn nicht die dortige Politik für ein anderes Investitionsklima sorgt.
({1})
Subventionen alleine reichen nicht. Es wäre viel, viel wichtiger, wenn Sie im Bereich der Gewerkschaften, wenn die Landesregierung im Bereich des WDR dafür sorgen würde, daß kleine und mittlere Unternehmer auch Lust bekommen, nicht nur in Baden-Württemberg und Bayern, sondern auch in Nordrhein-Westfalen zu investieren.
({2})
Wer heute darüber lacht, der wird sich noch daran erinnern, daß die Zurverfügungstellung von Subventionen allein nicht reicht, sondern daß wir ein anderes Klima brauchen.
Zweitens. Meine Damen und Herren, ich gebe Herrn Lafontaine ausdrücklich recht. Er hat endlich für einen Sozialdemokraten und Gewerkschafter zum erstenmal in aller Offenheit und Ehrlichkeit den wichtigen Zusammenhang zwischen Lohn und Beschäftigtenzahl angesprochen.
({3})
Es ist eine Tatsache, daß man einen knapper werdenden Verteilungsspielraum nicht zweimal ausschöpfen kann.
({4})
- Ich bitte um Verständnis, ich habe nur noch zwei Minuten. Ich werde die Diskussion im Ausschuß gerne weiterführen.
Man kann entweder die Massenkaufkraft verbessern, oder aber man kann die Arbeitszeit verkürzen. Beides zusammen geht nicht. Deshalb war es ein mutiger Vorstoß von Herrn Lafontaine, daß er auf diesen wichtigen Zusammenhang hingewiesen hat.
Herr Wissmann hat zu Recht darauf hingewiesen, daß strukturschwachen Gebieten und schwachen Branchen nur dann geholfen wird, wenn die Tarifpartner in ihrer Lohnpolitik darauf Rücksicht nehmen. Ich habe vor drei Jahren diese Diskussion in der Bundesrepublik mit eröffnet.
({5})
Ich freue mich, daß es heute immer mehr Anhänger gibt. Die Lohnpolitik muß auf schwache Gebiete, auf kleine und mittlere Betriebe stärker Rücksicht nehmen.
({6})
Es ist nicht in Ordnung, meine Damen und Herren, daß in strukturschwachen Gebieten die Löhne höher sind als in strukturstarken Gebieten.
({7})
Letzter Punkt: Die Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik braucht eine steuerpolitische Perspektive für die 90er Jahre. Wir sollten uns keiner Illusion hingeben. Elf andere EG-Staaten werden uns zuliebe die Gewerbesteuer nicht einführen, meine Damen und Herren. Deshalb sollten wir jetzt rechtzeitig mit den Städten und Gemeinden eine vernünftige Alternativlösung suchen. Die FDP ist dazu bereit.
({8})
Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung und das Jahresgutachten des Sachverständigenrates an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Wir kommen jetzt zu den Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD. Die Fraktion der SPD und die Fraktion der GRÜNEN wünschen, daß die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/1920, 11/1923 und 11/1924 an dieselben Ausschüsse überwiesen werden wie der Jahreswirtschaftsbericht. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Wir stimmen jetzt über den Tagesordnungspunkt 2 c ab, und zwar zunächst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1922. Wer stimmt diesem Antrag zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD abzulehnen. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Das ist dann so beschlossen.
Vizepräsident Frau Renger
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 bis 7 auf:
3. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 22. Oktober 1986 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über die Haftung gegenüber Dritten auf dem Gebiet der Kernenergie
- Drucksache 11/891 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({0})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
4. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Hypothekenbankgesetzes und anderer Vorschriften für Hypothekenbanken
- Drucksache 11/1820 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({1})
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
5. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 2. Juni 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Bulgarien zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
- Drucksache 11/1832 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Finanzausschuß
6. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 53 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 24. Oktober 1936 über das Mindestmaß beruflicher Befähigung der Schiffsführer und Schiffsoffiziere auf Handelsschiffen
- Drucksache 11/1897 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({2}) Ausschuß für Verkehr
7. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen Nr. 125 der Internationalen Arbeitsorganisation vom 21. Juni 1966 über die Befähigungsnachweise der Fischer
- Drucksache 11/1898 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 bis 11 auf:
8. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({4})
zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1985 - Einzelplan 20 zu dem Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1986 - Einzelplan 20 -- Drucksachen 10/5470, 11/328, 11/1774 Berichterstatter: Abgeordneter Scheu
9. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({5}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen
Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in München gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksachen 11/1366, 11/1775 Berichterstatter:
Abgeordnete Kühbacher Roth ({6})
Zywietz
Frau Vennegerts
10. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({7}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritte Änderung des Vorschlags für eine Verordnung ({8}) des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften
- Drucksachen 11/1450 Nr. 2.2, 11/1776 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Esters Borchert
11. a) Beratung der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses ({9}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 11/1879 -
b) Beratung der Sammelübersicht 46 des Petitionsausschusses ({10}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 11/1880 -
c) Beratung der Sammelübersicht 49 des Petitionsausschusses ({11}) über Anträge zu Petitionen
- Drucksache 11/1883 Eine Aussprache zu diesen Punkten ist nicht vorgesehen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu den Anträgen des Präsidenten des Bundesrechnungshofes? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Vizepräsident Frau Renger
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses betreffend die Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke auf Drucksache 11/1775? - Die Gegenprobe! - Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Gegenstimmen angenommen.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaften auf Drucksache 11/1776? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist angenommen.
Wir stimmen nun über die Sammelübersichten 45, 46 und 49 des Petitionsausschusses ab.
({12})
- Das habe ich mir gedacht.
Wer stimmt der Sammelübersicht 45 des Petitionsausschusses zu? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen einiger GRÜNER ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Wer stimmt der Sammelübersicht 46 zu? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der GRÜNEN angenommen.
Wer stimmt der Sammelübersicht 49 zu? - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei einigen Gegenstimmen von den GRÜNEN angenommen worden.
Meine Damen und Herren, wir treten in die Mittagspause ein.
({13})
Um 14 Uhr geht es weiter mit der Fragestunde. Ich unterbreche die Sitzung.
({14})
Wir setzen die unterbrochen Sitzung fort. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Fragestunde
- Drucksache 11/1899 Wir kommen zuerst zum Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Herr Staatsminister Dr. Stavenhagen steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 6 des Abgeordneten Verheugen auf:
Welche in- oder ausländische öffentliche oder private Stelle oder von einer solchen Stelle beauftragte Agentur war an der Planung, Organisation und Finanzierung des Aufenthaltes der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundeskanzler, Frau Berger, im Februar dieses Jahres in Südafrika und Namibia beteiligt?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, in der Fragestunde am 25. Februar habe ich deutlich gemacht, daß es sich bei der Reise von Frau Berger ins südliche Afrika um eine private Informationsreise handelte. Frau Berger folgte einer
Einladung der Vereinigung der südafrikanischen Bergwerksindustrie, die die Reise auch geplant und organisiert hat. Die Einladung war bereits vor längerer Zeit ausgesprochen worden, als Frau Berger noch Vorsitzende des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages war. Bei einigen Fragen der Organisation hat Frau Berger auch die hiesige südafrikanische Botschaft eingeschaltet.
Zusatzfrage, Herr Verheugen.
Herr Staatsminister, ist die Einladung der Vereinigung der südafrikanischen Bergwerke an Frau Berger als Privatperson gerichtet gewesen?
Sie ist, Herr Kollege, an Frau Berger zu einer Zeit ergangen, wo Frau Berger noch nicht Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundeskanzler war.
Zweite Zusatzfrage, Herr Verheugen.
Ist es zutreffend, daß das Außenministerium der Republik Südafrika den Aufenthalt von Frau Berger in Südafrika organisiert hat?
Herr Kollege, nach meiner Information wurde Frau Berger wohl von einem Mitarbeiter des Außenministeriums am Flughafen abgeholt.
Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Herr Staatsminister, wenn denn die Reise von Frau Berger eine Privatreise nach Namibia war: Wir erklären Sie sich, daß diese Reise in enger Zusammenarbeit mit der sogenannten Übergangsregierung und durch sie vorbereitet und in allen Einzelheiten organisiert war?
Herr Kollege, nach meiner Information gab es diese enge Zusammenarbeit und Vorbereitung nicht, sondern die Vorbereitung erfolgte nach meiner Information von der Vereinigung der südafrikanischen Bergwerksindustrie.
({0})
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Simonis.
Herr Staatsminister, können Sie ausschließen, daß diese Reise von der Südafrikanischen Union bezahlt wurde?
Frau Kollegin, ich bin über die Rückfinanzierung der Bergwerksindustrie nicht im einzelnen informiert. Aber nach meiner Information hat die Vereinigung der südafrikanischen Bergwerksindustrie die Reise bezahlt und sonst niemand.
Ich rufe die Frage 7 des Abgeordneten Verheugen auf:
In welcher Weise hat die Bundesregierung sichergestellt, daß der in südafrikanischen Medien verbreitete Eindruck, die Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundeskanzler, Frau Berger, habe in Südafrika offizielle Gespräche geführt, korrigiert wird?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
Herr Kollege, falls in den südafrikanischen Medien ein solcher Eindruck entstanden sein sollte, hat die Bundesregierung hierzu keinen Anlaß gegeben. Die Bundesregierung sieht daher auch keine Notwendigkeit, Spekulationen dieser Art in Südafrika entgegenzutreten.
Ich habe im übrigen in der Fragestunde im Deutschen Bundestag am 25. Februar 1988 namens der Bundesregierung für jedermann deutlich gemacht, daß es sich bei der Südafrikareise von Frau Berger um eine private Informationsreise handelte. Ich wiederhole das hier.
Zusatzfrage, Herr Verheugen.
Herr Staatsminister, ist Ihnen die Berichterstattung der „Allgemeinen Zeitung" Windhoek vom 22. Februar bekannt, in der es heißt, daß die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeskanzleramt, Lilo Berger, zusammen mit einer Delegation in Namibia angereist sei, und wo es wörtlich heißt, daß diese Delegation von Frau Berger „geführt wird" - eine Delegation?
Herr Kollege, mir ist diese von Ihnen zitierte Pressemitteilung nicht bekannt. Aber den Teilnehmerkreis der Reise habe ich in der letzten Fragestunde umfassend und vollständig wiedergegeben.
Herr Verheugen hat noch eine Zusatzfrage.
Herr Staatsminister, ich muß Sie nun wirklich fragen: Ist es innerhalb der Bundesregierung üblich, daß Mitglieder der Bundesregierung Einladungen von Industrieverbänden in Länder annehmen dürfen, die ein ausgesprochenes politisches Krisengebiet sind und deren Außenpolitik von der Bundesregierung scharf kritisiert wird?
Herr Kollege, ich kann Ihre Frage mit Nein beantworten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Penner.
Herr Kollege Stavenhagen, haben Sie Verständnis dafür, daß zumindest Teile der Öffentlichkeit Schwierigkeiten haben, die Funktion, die Frau Berger bekleidet, von ihrer Rolle als Person gerade bei einer Reise, wie sie hier in Rede steht, zu trennen?
Ich kann Ihre Frage mit Ja beantworten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Herr Staatsminister, hätte nicht auch in diesem Falle der Bundeskanzler wie gegenüber dem Bundesarbeitsminister ein Machtwort sprechen können, daß diese Reise nicht opportun sei?
Herr Kollege, der Bundeskanzler war lediglich über eine private Reise während des Urlaubs von Frau Berger informiert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Toetemeyer.
Herr Präsident, mit Verlaub, meine Frage vorhin bezog sich auf Namibia und war nicht beantwortet. Ich wiederhole in diesem Zusammenhang meine Frage: Herr Staatsminister, wie erklären Sie sich, daß Frau Berger mit ihrer Delegation von der Übergangsregierung empfangen und in ihrem Programm von der Übergangsregierung als Delegation der Bundesrepublik behandelt worden ist?
Herr Kollege, nach meiner Information hat Frau Berger im Rahmen ihrer Informationsreise, wo sie auch mit vielen anderen gesprochen hat, Vertreter der namibischen Interimsregierung privat gesprochen, zwei, nach meiner Unterrichtung. Von einem Empfang der Delegation kann ich aus diesen Unterlagen nichts herleiten.
Zusatzfrage des Abgeordneten Andres.
Herr Staatsminister, vom Bundesarbeitsminister gibt es die Äußerung, daß er seine Reise nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagen würde. Sind Sie nicht der Auffassung, daß es besser gewesen wäre, wenn es für Frau Berger einen solchen Sankt-Nimmerleins-Tag geben würde?
Herr Kollege, die Reise war als Urlaubs- und private Informationsreise ordnungsgemäß angemeldet worden. Eine weitere Verantwortung für diese Reise kann die Bundesregierung wirklich nicht übernehmen.
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Simonis.
Herr Staatsminister, ich entnehme Ihrer Antwort gerade, daß die Reise ordnungsgemäß angezeigt worden ist. Ist dabei auch angezeigt worden, daß diese Reise von einem ausländischen Unternehmensverband bezahlt werden würde?
Nein.
Eine Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Hiller ({0}).
Herr Staatsminister, von wem ist diese Reise finanziert worden?
({0})
Herr Kollege, die Reise ist von der Vereinigung der südafrikanischen Bergwerksindustrie finanziert worden.
({0})
- Die volle Reise, ja.
({1})
Gibt es eine weitere Zusatzfrage? - Bitte schön, Herr Bachmaier.
Zu welchem Zweck, möchte ich fragen, wurde diese Reise durchgeführt, und welchen Zweck hat die Anmeldung einer solchen Reise, Herr Staatsminister?
Herr Kollege, Parlamentarische Staatssekretäre sind wie alle Mitglieder der Bundesregierung selbstverständlich gehalten, ihre urlaubsbedingte Abwesenheit dem jeweiligen Ressortminister oder wie in diesem Fall dem Bundeskanzler, anzuzeigen.
Den Zweck der Reise habe ich ja gesagt.
Die Einladung liegt lange zurück. Sie stammt aus der Zeit, wo Frau Kollegin Berger Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Petitionsausschusses war.
Wir sind damit am Ende der Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes. Ich danke dem Staatsminister für die Beantwortung der Fragen.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Pfeifer steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 12 der Abgeordneten Frau Würfel auf:
Mit welchen Substanzen/Medikamenten beschäftigen sich die bisher vom Bundesgesundheitsamt erstellten Transparenzlisten, die der Information des niedergelassenen Arztes dienen sollen, und wie viele dieser Transparenzlisten sind an die Ärzte ausgeliefert worden?
Herr Präsident! Frau Kollegin Würfel, die Transparenzkommission hat bisher 15 Transparenzlisten erstellt; sie decken ca. 40 % des gesamten Arzneimittelumsatzes der zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordneten Arzneimittel ab. Die bisher erstellten Transparenzlisten erstrecken sich z. B. auf Herz- und Kreislauferkrankungen, Durchblutungsstörungen, Stoffwechselleiden und Migräne.
Die Transparenzlisten werden gemäß § 39b Abs. 1 des Arzneimittelgesetzes im Bundesanzeiger veröffentlicht. Sie richten sich an die Heilberufe und können beim Bundesanzeiger bezogen werden.
Die Transparenzlisten umfassen den gesamten apothekenpflichtigen Arzneimittelmarkt der bisher von der Transparenzkommission bearbeiteten Anwendungsgebiete. Sie sind in hervorragender Weise geeignet, den verordnenden Arzt in pharmakologisch-therapeutischer und in preislicher Hinsicht zu informieren, so daß sie auch zur Kostendämpfung beitragen können.
Der Bundesregierung ist nicht bekannt, wie viele Ärzte die bisher erarbeiteten Transparenzlisten bezogen haben. Die Bundesregierung prüft zur Zeit, ob und in welcher Weise die Transparenzlisten den Heilberufen besser als bisher zugänglich gemacht werden können.
Frau Abgeordnete Würfel, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist es richtig, daß der bisherige Weg nicht nur der war, die Transparenzlisten im Bundesanzeiger zu veröffentlichen, sondern daß es darüber hinaus die direkte Zusendung an die Ärzte gegeben hat?
Das ist richtig. Auf Anforderung werden solche Transparenzlisten auch zugesandt.
Bitte schön, Frau Würfel, Sie haben eine weitere Zusatzfrage.
Ist damit zu rechnen, daß die im Bundesgesundheitsamt bereits angefertigte Transparenzliste zu einer weiteren Wirkstoffgruppe in naher Zukunft an die Ärzte ausgeliefert werden kann?
Wenn Sie die Transparenzliste meinen, die Gegenstand Ihrer zweiten Frage ist, werde ich darauf noch eingehen. Sie ist inzwischen im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Dann rufe ich gleich die Frage 13 der Abgeordneten Frau Würfel aus:
Ist es zutreffend, daß eine seit Monaten fertiggestellte Transparenzliste an die Ärzte nicht ausgeliefert wird, und, wenn ja, warum nicht?
Herr Staatssekretär, Sie sind wieder dran.
In der Regel verstreichen zwischen dem Beschluß der Transparenzkommission und der Veröffentlichung einer Transparenzliste ein bis zwei Monate, die für die Schlußredaktion und für Druckarbeiten benötigt werden.
Die Transparenzliste „Koronare Herzkrankheit" , die Sie vermutlich meinen, wurde im Juli 1987 beschlossen; die Publikation wurde aber zunächst bis zum Jahresende zurückgestellt, damit nach Möglichkeit noch ergänzende Angaben zur Bioäquivalenz bestimmter Fertigarzneimittel in die Liste aufgenommen werden konnten. Diese Angaben zur Bioäquivalenz konnten jedoch noch nicht erarbeitet werden, so daß die Liste nunmehr am 26. Februar 1988 im Bundesanzeiger publiziert worden ist. Die Transparenzkommission bringt aber in ihrem Vorwort zum Ausdruck, daß beabsichtigt ist, diese Liste in absehbarer Zeit um Angaben zur Bioäquivalenz von Kalziumantagonisten zu ergänzen.
Bitte schön, Frau Würfel, eine Zusatzfrage.
Somit ist auch aus Ihrer Sicht damit zu rechnen, daß diese Transparenzliste in naher Zukunft an die Ärzte ausgeliefert werden kann, wenn diese Angaben zur Bioäquivalenz und Bioverfügbarkeit eingefügt sind?
Nein, diese Transparenzliste ist an sich jetzt schon zugänglich, aber sie wird in der von mir geschilderten Weise möglicherweise noch ergänzt werden.
({0})
Keine weiteren Zusatzfragen; dann rufe ich die Frage 14 des Abgeordneten Eylmann auf:
Hat die Bundesregierung bei der Verabschiedung des Entwurfs einer Verordnung zur Änderung der Nährwert-Kennzeichnungsverordnung und Diätverordnung die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in Zusammenhang mit der Behandlung des Bluthochdrucks mit neuartigen Medikamenten ({0}) herangezogen, und schließt sie dabei aus, daß die als Salzersatz zum Einsatz kommenden Ersatzstoffe schädliche Auswirkungen für Hypertoniker haben?
Herr Kollege Eylmann, die Bundesregierung hat bei der Erarbeitung des Entwurfs der Verordnung zur Änderung der NährwertKennzeichnungsverordnung und der Diätverordnung alle ihr zugänglichen damit in Zusammenhang stehenden wissenschaftlichen Erkenntnisse herangezogen. Nach Auffassung der Bundesregierung wird durch die Vorschriften der Diätverordnung für Kochsalzersatz und damit hergestellte diätetische Lebensmittel der Schutz der Hypertoniker, die diese Erzeugnisse verzehren, vor schädlichen Auswirkungen der als Salzersatz zum Einsatz kommenden Ersatzstoffe sichergestellt.
Durch die erwähnte Änderungsverordnung zur Diätverordnung wird der gesundheitliche Verbraucherschutz weiter verbessert. So werden künftig bei kali-umhaltigem Kochsalzersatz und diätetischen Lebensmitteln mit entsprechenden Zusätzen der Warnhinweis „Bei Störung des Kaliumhaushalts, insbesondere bei Niereninsuffizienz, nur nach ärztlicher Beratung verwenden" und darüber hinaus die enthaltene Kaliummenge anzugeben sein.
Bitte schön, Herr Eylmann, eine Zusatzfrage.
Hat die Bundesregierung bei der Verabschiedung dieses Entwurfs bedacht, daß nach neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen sehr umstritten ist, ob das Kochsalz tatsächlich den Bluthochdruck verursacht, und daß insbesondere auch umstritten ist, ob, wenn überhaupt eine solche Folge eintritt, dafür das Natrium oder das Chlor verantwortlich zu machen ist?
Herr Kollege Eylmann, die Bundesregierung hat alle im Zusammenhang mit dieser Verordnung nach ihrer Auffassung relevanten Fragen, in denen eine Beratung durch die Wissenschaftler erforderlich war, mit den Wissenschaftlern beraten. Denn dem Beschluß über diese Verordnung ist ja eine breite Diskussion über den Entwurf vorausgegangen. So hat beispielsweise auch die ernährungsmedizinische Abteilung des Bundesgesundheitsamtes zu diesen Fragen Stellung genommen. Auch der Bundesgesundheitsrat hat sich prinzipiell für eine Reduzierung des Salzverbrauchs ausgesprochen.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Eylmann.
Wie erklärt es sich dann die Bundesregierung, daß z. B. in dem Ärztemagazin „Der Kassenarzt" , Ausgabe Oktober 1987 zu diesem Vorhaben der Bundesregierung sehr kritisch Stellung genommen wird?
Herr Kollege, auch ich habe diese Ausführungen in dieser Zeitschrift gesehen. Diese Ausführungen sind in meinen Augen aber angesichts der Voten etwa der ernährungsmedizinischen Abteilung des Bundesgesundheitsamtes nicht überzeugend.
Ich rufe gleich Ihre zweite Frage, die Frage 15, auf:
Wie steht die Bundesregierung zu der Tatsache, daß nahezu identische Vorhaben zur Senkung des Kochsalzverbrauchs in den USA ({0}) und in der Schweiz ({1}) gescheitert sind?
Nach den der Bundesregierung von regierungsamtlicher Seite der USA sowie dem Bundesamt für Gesundheitswesen der Schweiz jüngst zugegangenen Informationen trifft es nicht zu, daß vergleichbare Vorhaben in diesen Ländern gescheitert sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Eylmann.
Trifft es denn zu, daß in der Schweiz einige Zeit lang die Frage, ob man in ähnlicher Weise auf eine Verminderung des Kochsalzverbrauchs hinwirken sollte, kontrovers diskutiert worden ist und daß zur Zeit kein konkretes Gesetzgebungs- oder Verordnungsvorhaben in der Schweiz in dieser Richtung als Ergebnis dieser Diskussion besteht?
Nach einer Auskunft des Bundesamtes für Gesundheitswesen in Bern, die dem Ministerium vorliegt, wurden in der Schweiz gesetzgeberische Maßnahmen, wie sie jetzt in der Bundesrepublik Deutschland durchgeführt werden, in der Tat bisher nicht getroffen. Die Schweizer Stellen verfolgen aufmerksam das deutsche Vorhaben. Man ist daran interessiert, auch wenn die eigenen Überlegungen noch nicht so weit fortgeschritten sind, um dann gesetzgeberische Maßnahmen einleiten zu können.
Ihre letzte Zusatzfrage. Bitte schön, Herr Elymann.
Sind der Bundesregierung ähnliche Gesetzgebungsvorhaben aus anderen Ländern bekannt, die auf eine Verminderung des Kochsalzverbrauchs hinwirken sollen?
Auf Grund Ihrer Anfrage habe ich mich nochmals erkundigt, wie die Situation vor allem in den Vereinigten Staaten von Amerika gesehen wird. Wir haben hier bei der amerikanischen Botschaft nochmals nachgefragt. Nach den dort erhaltenen Auskünften wurden in den USA im Jahre 1981 Aktionen zur Senkung des Kochsalzverbrauchs begonnen. Es handelt sich hierbei um gesetzParl. Staatssekretär Pfeifer
geberische Maßnahmen zur Regelung der NatriumKennzeichnung bei Lebensmitteln unter bestimmten Bedingungen.
Zum anderen wurden dort von Regierungsseite und von privaten Organisationen Aktionen zur Aufklärung der Bevölkerung gestartet, um den Verbraucher auf die Gefahren bei hoher Salzzufuhr in bezug auf Bluthochdruck hinzuweisen. Die amerikanischen Regierungsstellen sind nach Auskunft der amerikanischen Botschaft mit dem Ergebnis zufrieden. Der Kochsalzverbrauch nimmt ab.
Das war es. Wir sind am Ende dieses Fragenbereichs, weil die Frage 16 des Abgeordneten Eigen und die Frage 17 der Abgeordneten Frau Dr. Dobberthien schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers des Auswärtigen auf. Frau Staatsminister Dr. Adam-Schwaetzer steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Die Frage 32 der Abgeordneten Frau Fuchs ({0}) soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 33 des Abgeordneten Heistermann:
Ist die Bundesregierung mit dem Bundesminister des Auswärtigen der gleichen Meinung, daß im Rahmen einer kooperativen Sicherheitspolitik qualitative Veränderungen der Struktur von Streitkräften durchgeführt werden müssen, damit es auf keiner Seite die Fähigkeit zur Invasion gibt?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung ist der Auffassung, daß autonome Verteidigungsanstrengungen der Ergänzung durch kooperative Sicherheitsstrukturen bedürfen. Dazu gehört vor allem: Auf keiner Seite darf die Fähigkeit zur Invasion gegeben sein, so wie dies im Westen schon heute der Fall ist.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf die Erklärung zur konventionellen Rüstungskontrolle, die gestern vom NATO-Gipfel verabschiedet wurde, hinweisen. Dort heißt es, daß - ich zitiere - „Streitkräfte nur der Kriegsverhütung und Selbstverteidigung dienen" sollten. Es soll eine Lage geschaffen werden, in der die Streitkräftedispositive sowie die Zahl und Dislozierung von Waffensystemen Überraschungsangriffe und raumgreifende Offensiven unmöglich machen.
Wichtiges Mittel dafür sind Abrüstungsschritte, die Ungleichgewichte und Überlegenheit abbauen und Gleichheit auf niedrigerem Niveau herstellen.
Zu einer kooperativen Sicherheitspolitik gehören weitere Elemente: Wirksame Mechanismen eines weltweiten politischen Krisenmanagement sind erforderlich.
Das Netz von vertrauensbildenden Maßnahmen muß weiterentwickelt und immer dichter werden.
Feindbilder müssen abgebaut, Friedensgesinnung zur Achtung vor dem anderen muß gefördert werden.
Herr Heistermann, Zusatzfrage? - Bitte schön.
Frau Staatsministerin, welche konkreten Vorschläge hat die Bundesregierung beim NATO-Gipfel eingebracht? Wären Sie in der Lage, dem Haus kurz darzustellen, welche Struktur die Bundeswehr im Rahmen einer solchen Konzeption haben sollte?
Herr Abgeordneter, ich kann Ihnen natürlich das NATO-Kommuniqué von gestern, das Sie aber zweifellos heute schon in den Händen haben, zu diesen entsprechenden Teilen vorlesen.
Nein, das dürfen Sie nicht, Frau Staatsminister.
Wichtig scheint mir zu sein, daß gestern die Entscheidung, die wir auch begrüßen, gefallen ist, daß das Angebot von asymmetrischen Reduzierungen von Generalsekretär Gorbatschow ernst genommen wird und auf seine Stichhaltigkeit geprüft werden soll. Es ist wichtig, daß als Endergebnis definiert worden ist, ein Verhältnis herzustellen, das keiner Seite die Möglichkeit zu einem Überraschungsangriff oder raumgreifenden Operationen einräumt.
Weitere Zusatzfrage, Herr Heistermann.
Frau Staatsministerin, können Sie bei den Panzern und anderen Geräten in etwa quantifizieren, was Sie als ausreichend zur Verteidigung ansehen und wo Sie die Grenze sehen, wo die Invasionsfähigkeit beginnt? Wenn Sie schon konkrete Vorschläge dort entwickelt haben, muß es der Bundesregierung doch auch möglich sein, hier dem Hohen Hause diese Überlegung ein wenig näher darzustellen.
Herr Abgeordneter, die Erklärung von gestern war eine Grundlage, auf der nun auch innerhalb des Bündnisses ein konkretes Verhandlungsmandat weiter beraten und entschieden werden soll. Zu der Frage dieses Verhandlungsmandates ist ebenfalls gestern auf dem Gipfel ausführlich Stellung genommen worden. Aber das ist eben eine Frage, die auch im Bündnis letztlich noch entschieden werden muß.
Zusatzfrage, Frau Traupe.
Frau Staatsministerin, wie lange wollen sich die Mitglieder der NATO Zeit nehmen, um gegenüber dem Warschauer Pakt einen Vorschlag über die qualitativen Veränderungen der Struktur unserer Streitkräfte vorzustellen?
Frau Abgeordnete, Sie kennen die Vorstellungen, daß die konventionellen Abrüstungsverhandlungen in einem
1 KSZE-Rahmen mit eingebunden werden sollen. Auch dazu hat der NATO-Gipfel gestern Stellung genommen. Es geht jetzt darum, dies weiter zu konkretisieren und ein solches Verhandlungsmandat zu verabschieden. Wir gehen davon aus, daß dem eine sehr hohe Priorität eingeräumt werden wird.
Aber natürlich muß ein solches Verhandlungsmandat auch im Zusammenhang der Ergebnisse des Wiener Folgetreffens gesehen werden, das jetzt noch läuft, und im Zusammenhang mit Ergebnissen in allen Körben der KSZE-Schlußakte von Helsinki.
Zusatzfrage des Abgeordneten Penner.
Frau Staatsminister, die Bundesregierung ist in der Vergangenheit nicht müde geworden, auch im Rahmen des westlichen Bündnisses eigene und europäische Sicherheitsinteressen zu betonen. Wie sehen denn unsere Interessen aus?
Herr Abgeordneter, es ist richtig, daß allein schon auf Grund der geographischen Gegebenheiten die europäischen Staaten Sicherheitsinteressen haben, die sie auch gemeinsam definieren und dann im Bündnis gemeinsam umsetzen wollen. Die Konkretisierung solcher Vorstellungen wird im einzelnen in den nächsten Monaten sicherlich noch Gesprächsgegenstand sowohl in europäischen Gremien als auch natürlich in der NATO sein und ihren Einfluß auf die Formulierung des endgültigen Mandats für die konventionellen Abrüstungsverhandlungen haben.
Herr Präsident, ich glaube, ich habe keine zweite Frage. Das ist schade.
Nein, Sie haben keine zweite Frage, obwohl ich sie mir vorstellen könnte.
Herr Jungmann ist der nächste Fragesteller.
Frau Staatsministerin, Sie haben immer von konventioneller asymmetrischer Abrüstung und der Prüfung des Angebots von Gorbatschow in diesem Bereich gesprochen. Welche Überlegungen haben sich denn auf dem NATO-Gipfel durchgesetzt, die die Bundesregierung in der vorigen Woche hier in der Regierungserklärung im Hinblick auf Verhandlungen über Raketen kürzerer Reichweite unter 500 km und bei nuklearen Gefechtsfeldwaffen vorgetragen hat?
Herr Abgeordneter, die Frage der Nuklearwaffen kürzerer Reichweite ist in dem gestern verabschiedeten Kommuniqué nicht angesprochen, weil die bodengestützten Kurzstreckenraketen nach unserer Auffassung nicht in den konventionellen Abrüstungsbereich gehören.
Die Frage der Artillerie wird in ihrer konkreten Ausformulierung sicherlich auch ihren Niederschlag im Mandatsauftrag finden.
Was die Formulierung zu den Kurzstreckenwaffen im heutigen Kommuniqué anbetrifft, so kann ich Ihnen sagen, daß der NATO-Gipfel heute die Beschlüsse von Reykjavik vom 12. Juni des vergangenen Jahres bestätigt hat, in denen die Bereiche, in denen nach Auffassung des Bündnisses Abrüstungsfortschritte notwendig sind, ausformuliert worden sind. Darunter findet sich auch der Hinweis auf Abrüstungsfortschritte im Bereich der nuklearen Kurzstreckenwaffen.
Zusatzfrage, Frau Simonis.
Frau Staatsministerin, ich möchte gern den Faden von Herrn Kollegen Penner aufnehmen und Sie fragen: Mit welchen konkreten Vorstellungen wird denn die Bundesregierung in diese Konferenz gehen? Falls die Beantwortung dieser Frage den Rahmen hier sprengt: Sind Sie gewillt, uns dies rechtzeitig zuzuleiten, so daß die Fraktionen dann auch einmal an den Segnungen dieser Vorstellungen teilnehmen können?
Frau Abgeordnete, Sie wissen, daß die Bundesregierung in den dafür zuständigen Gremien zu allen Fragen gern Auskunft gibt,
({0})
selbstverständlich auch zu den Fragen, die die Sicherheit der Bundesrepublik betreffen, weil dies ja ein Gebiet ist, das uns gemeinsam interessiert.
Zusatzfrage des Abgeordneten Andres.
Frau Staatsminister, gehen wir denn fehl in der Annahme, daß es dazu überhaupt keine Vorstellungen der Bundesregierung gibt?
({0})
Herr Abgeordneter, Sie können die Frage, die Sie hier gerade gestellt haben, ja noch einmal in einem anderen Gremium des Deutschen Bundestages stellen. Ich bin ganz sicher, daß sich daraus interessante Diskussionen ergeben werden.
Nun hatten wir alle die Hoffnung, es würde hier mal so richtig politisch, und jetzt wird es in ein anderes Gremium verwiesen, Frau Staatsminister.
({0})
- Ich nehme an, es ist zur Kenntnis genommen worden.
Herr Abgeordneter, Sie wissen, daß es Fragen gibt, die in unterschiedlichen Gremien diskutiert werden. Es gibt Fragen, die vor der Öffentlichkeit diskutiert werden, und andere Fragen, die nicht in allen Details vor der Öffentlichkeit diskutiert werden.
Ich rufe die Frage 34 des Abgeordneten Zumkley auf:
Ist die Bundesregierung der Ansicht, daß die im Zeitalter der Ost und West umfassenden Überlebensgemeinschaft alleine rechtfertigungsfähige kooperative Sicherheitspolitik keine Ausnahme der Bereitschaft zu Rüstungskontrolle duldet - weder bei konventionellen Waffen und Streitkräften noch bei nuklearen -, sondern im Gegenteil einen breitangelegten Abrüstungsprozeß verlangt?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Herr Abgeordneter, der Weg zu einer dauerhaften Sicherung des Friedens und zur Verhinderung jeden Krieges bedarf einer kooperativen Sicherheitspolitik und gemeinsamer Anstrengungen, denen sich kein Staat entziehen darf. Das umfassende Bemühen um Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein integraler Bestandteil der Sicherheitspolitik des Nordatlantischen Bündnisses. Beim Verzicht auf Überlegenheit und bei der Bereitschaft zur Rüstungskontrolle darf es keine Ausnahme geben.
Die Bundesregierung nutzt daher alle Verhandlungsstränge bilateraler multilateraler Art, um über Gleichgewicht und Abschreckung hinaus zu umfassenden neuen, verläßlichen Strukturen der Kriegsverhinderung zu kommen.
Zusatzfrage, Herr Zumkley.
Frau Staatsministerin, wird die Bundesregierung eine Reduzierung oder, besser noch, dritte Nullösung im Bereich nuklearer Kurzstreckenraketen angesichts der dann immer noch ausreichend vorhandenen nuklearen Einsatzmittel befürworten, gegebenenfalls also auch auf eine Kopplung mit der konventionellen Stabilität verzichten?
Herr Abgeordneter, die Beschlußlage dazu und die Haltung des Bündnisses in diesen Fragen ist ganz klar. Sie ist auf dem heutigen Gipfel noch einmal bestätigt worden. Ich darf Sie darauf hinweisen, daß das Bündnis auf seiner Tagung in Reykjavik im Juni 1987 und in Brüssel im Dezember 1987 beschlossen hat, daß im Zusammenhang mir der Herstellung konventioneller Stabilität in Europa und der weltweiten Beseitigung chemischer Waffen auch die amerikanischen und sowjetischen landgestützten Nuklearraketen kürzerer Reichweite deutlich und überprüfbar mit dem Ziel gleicher Obergrenzen reduziert werden sollen. Das Bündnis befaßt sich mit dieser Thematik im Rahmen der weiteren Entwicklung seines Gesamtkonzeptes für Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle.
Eine Zusatzfrage, der Abgeordnete Heistermann.
Frau Staatsministerin, könnten Sie eine Aussage dazu machen, wie die Bundesregierung die atomaren Gefechtsfeldwaffen eigentlich beurteilt und wann sie beabsichtigt, diese auf dem Boden der Bundesrepublik Deutschland abzubauen?
Herr Abgeordneter, ich hatte in einer früheren Frage bereits darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung durchaus die Möglichkeit sieht, Artillerie, die auch doppelt einsatzfähig ist, als einen Verhandlungsgegenstand bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung zu sehen. Dies ist eben der Ausgangspunkt. Das heißt, hier ergibt sich die Frage der weiteren Behandlung dieses Themenkreises innerhalb des Bündnisses bei der Abfassung eines Verhandlungsmandats für die konventionelle Rüstungskontrolle.
Zusatzfrage des Abgeordneten Penner.
Frau Staatsminister, wie will die Bundesregierung in einem wesentlichen Teil mit zunehmender Zeit überhaupt zu Abrüstungsvereinbarungen kommen, wo doch die rückläufige Geburtenrate zu einseitigen Maßnahmen geradezu zwingen wird?
Herr Abgeordneter, Sie wissen so gut wie ich, daß die Bundesregierung bei ihren eigenen Verteidigungsanstrengungen immer Wert darauf gelegt hat, daß die notwendigen Verpflichtungen erfüllt werden, aber durchaus immer die Entwicklung, auch die innere Entwicklung, zur Kenntnis genommen und sich darauf eingestellt hat.
({0})
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Frau Staatsminister, Sie haben auf die Frage nach der Null-Lösung bei Nuklearraketen kürzerer Reichweite auf das Kommuniqué von Reykjavik und auf die Beschlüsse von Brüssel hingewiesen und haben dann von reduzierten Obergrenzen in diesem Bereich gesprochen. Ich frage Sie konkret bei 88 Systemen im Bereich der NATO und über 300 000 Systemen auf dem Gebiet des Warschauer Paktes: Welche niedrigeren Obergrenzen hat die Bundesregierung im Auge? Verweisen Sie mich bitte nicht auf sonstige Gremien, denn nicht jeder Abgeordnete hat Zugang zu den von Ihnen angesprochenen „sonstigen Gremien". Sie wissen, daß der Auswärtige Ausschuß, der Verteidigungsausschuß und der Unterausschuß Abrüstung und Rüstungskontrolle geschlossene Ausschüsse sind, also nicht zugänglich für alle Abgeordneten sind. Die deutsche Öffentlichkeit und die übrigen Abgeordneten haben aber auch ein Interesse an den Vorstellungen der Bundesregierung.
Herr Abgeordneter, bei der Beantwortung dieser Frage brauche ich Sie nicht an irgendein anderes Gremium zu verweisen. Ich kann hier natürlich den weiteren Abrüstungsverhandlungen nicht vorgreifen, aber wenn die Bundesregierung - übrigens in Übereinstimmung mit den NATO-Beschlüssen - sagt, daß ein Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau hergestellt werden soll, ist noch nicht definiert, wo dieses niedrigere Niveau liegt; es ergeben sich eine Reihe von denkbaren Alternativen. Nur eines ist völlig klar, es ist
davon die Rede, ein „niedrigeres Niveau" herzustellen.
({0})
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Traupe.
Sehr verehrte Frau Staatsminister, anläßlich der internationalen Wehrkundetagung hat Herr Senator Nunn ein sehr konkretes Abrüstungskonzept von amerikanischer Seite vorgestellt. Ich möchte Sie deshalb noch einmal fragen, wann die NATO ein eigenes konkretes, von der Bundesregierung und dem deutschen Parlament akzeptiertes, breit angelegtes Abrüstungsangebot unterbreitet.
Frau Abgeordnete, ich habe in der Beantwortung einer früheren Frage bereits darauf hingewiesen, daß wir in der Erarbeitung eines Gesamtkonzeptes eine wirklich vorrangige Aufgabe sehen. Gerade die deutsche Bundesregierung hat in den vergangenen Wochen immer wieder darauf hingewiesen. Das Schlußkommuniqué des NATO-Gipfels von Brüssel von heute reflektiert das durchaus auch wider. Ich bin ganz sicher, daß die NATO insgesamt der Formulierung eines Mandats für die konventionellen Abrüstungsverhandlungen sehr hohe Priorität einräumt.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Erler.
Frau Staatsminister, Sie haben in der Antwort auf die Frage des Kollegen Zumkley den Begriff der kooperativen Sicherheitspolitik aufgegriffen und auch ausgeführt. Können Sie uns vielleicht sagen, welches aus Sicht der Regierung der Unterschied zwischen den Prinzipien der kooperativen Sicherheitspolitik und den Prinzipien der gemeinsamen Sicherheit ist, die die Sozialdemokraten nachdrücklich vertreten?
Herr Abgeordneter, ich habe die Prinzipien der Bundesregierung, von denen sie sich bei der Formulierung ihrer eigenen sicherheitspolitischen Position leiten läßt, eben ausgeführt. Je mehr Bürger mit diesen Prinzipien übereinstimmen, desto besser ist es, denke ich, auch für die gemeinsame Diskussion, die wir für unsere eigene Sicherheit in der Bundesrepublik führen.
({0})
Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Toetemeyer auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Aussage des Beauftragten des Bundeskanzlers in Südafrika, wonach sich dieses Land auf dem Weg einer Reform befindet, unter dem Aspekt des Verbots der politischen Betätigung aller Oppositionsgruppen ({0}) und der Gewerkschaften?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Herr Präsident, ich würde die Fragen 35 und 36 gerne zusammen beantworten.
Der Fragesteller ist einverstanden. Dann rufe ich auch die Frage 36 des Abgeordneten Toetemeyer auf:
In welcher Weise beabsichtigt die Bundesregierung auf Südafrika einzuwirken, um das Recht freier politischer Betätigung wiederherzustellen?
Bitte schön, Frau Staatsminister.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hat in der Debatte des Deutschen Bundestages am 4. Februar 1988 ausführlich zur Reise des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß in das südliche Afrika Stellung genommen. Diesen Ausführungen der Bundesregierung zur Reise von Ministerpräsident Strauß ist nichts hinzuzufügen.
Die Maßnahmen vom 24. Februar 1988 sind nach unserer Überzeugung ein weiterer Schritt in die falsche Richtung, der dazu beiträgt, das innenpolitische Konfliktpotential in Südafrika zu vergrößern und den dringend notwendigen nationalen Dialog zu verhindern. Die Bundesregierung hat deshalb gemeinsam mit ihren europäischen Partnern in einer Erklärung am 26. Februar 1988 die jüngsten Maßnahmen der südafrikanischen Regierung gegen Antiapartheidorganisationen auf das schärfste verurteilt und die südafrikanische Regierung aufgefordert, diese Maßnahmen unverzüglich zurückzunehmen.
Bundeskanzler Kohl hat am 29. Februar 1988 seine tiefe Sorge über die jüngsten Vorgänge in Südafrika zum Ausdruck gebracht und die südafrikanische Regierung zur Rücknahme der Verbote aufgefordert.
Wir werden darüber hinaus gemeinsam mit unseren europäischen Partnern zu prüfen haben, wie der politische Druck auf Pretoria noch wirksamer gestaltet werden kann.
Herr Toetemeyer, erste Zusatzfrage.
Frau Staatsministerin, beurteilt die Bundesregierung es als einen Erfolg der Reise des Beauftragten der Bundesregierung, des bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, wenn sich unter den kurz nach seiner Abreise gebannten Organisationen z. B. das Komitee zur Unterstützung der Eltern von Gefangenen und der südafrikanische nationale Studentenverband befinden? Hält sie - ich wiederhole meine Frage - das für einen Erfolg der Reise des Beauftragten der Bundesregierung?
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung kann keine Spekulationen darüber anstellen, welche Ereignisse die südafrikanische Regierung dazu veranlaßt haben, die Maßnahmen zu ergreifen, die von der Bundesregierung aufs schärfste mißbilligt werden und deren Rücknahme sie unverzüglich verlangt hat.
Zweite Zusatzfrage, Herr Toetemeyer.
Was gedenkt die Bundesregierung außer dem Ausdruck großer Sorge zu tun, um sicherzustellen, daß internationale Pressefreiheit in Südafrika hergestellt wird? Ich frage das angesichts der Tatsache, daß mein Kollege im südafrikanischen
Parlament Pieter Soal von der PFP vor genau einer Woche in einer Fragestunde auf eine entsprechende Anfrage die Antwort bekommen hat, im Jahre 1987 sei insgesamt 187 internationalen Journalisten die Reise nach Südafrika nicht gestattet worden.
Herr Abgeordneter, die Bundesregierung bedauert die Haltung der südafrikanischen Regierung auch in dieser Frage zutiefst. Sie wissen genauso gut wie wir alle, daß alle Maßnahmen, die bisher ergriffen worden sind, nicht dazu geführt haben, die südafrikanische Regierung zu einem Einlenken oder auch zu einem Umdenken zu bewegen. Wir bedauern das alle zutiefst. Aber wir wissen eben auch, daß es schwierig ist und wie schwierig es ist, die Regierung eines Staates zur Aufgabe ihrer Politik zu bewegen.
Dritte Zusatzfrage, Herr Toetemeyer.
Stimmt die Bundesregierung der Auffassung der deutschen Firma Mercedes-Benz in Südafrika zu, die in einer Presseerklärung vom 26. Februar ausgeführt hat - ich zitiere - : „Wir erklären unsere ausdrückliche Besorgnis über die Ausnahmebeschränkung für die südafrikanischen Gewerkschaften. Wir sind der Ansicht, daß diese Entwicklungen die Bemühungen um bessere industrielle Beziehungen stark behindern werden"?
Die deutsche Bundesregierung hat sich, genauso wie sie es gemeinsam mit ihren europäischen Partnern 1985 festgelegt hatte, dagegen gewandt, daß die Industrie ihre Bemühungen in Südafrika verstärkt. Entsprechende Aufforderungen und Hinweise sind ergangen, wie es in der Europäischen Gemeinschaft festgelegt gewesen ist. Sie wissen aber sehr wohl, daß wir in einem Land leben, in dem die Marktwirtschaft das Prinzip der wirtschaftlichen Betätigung ist und damit staatliche Eingriffe in diesem Bereich nicht möglich sind.
Die vierte Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Toetemeyer.
Ist die Bundesregierung bereit, über reine Deklamationen hinaus endlich etwas zu tun, damit in Südafrika demokratische Rechte herbeigeführt werden; und wie beurteilt sie in diesem Zusammenhang die Forderung des anglikanischen Erzbischofs Tutu von gestern an die Westmächte, zu diesem Zweck alle ihre Botschafter abzuziehen?
Herr Abgeordneter, ich habe bereits in der ursprünglichen Antwort darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung gemeinsam mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft, aber natürlich auch in anderen möglichen internationalen Gremien überlegt, welche Schritte zu diesem Zeitpunkt weiterhin notwendig werden könnten.
Frau Dr. Hamm-Brücher, bitte schön.
Herr Präsident, da es sich um zwei Fragen gehandelt hat, gehe ich davon aus, daß ich zwei Zusatzfragen habe.
Frau Staatsminister, da sich nun herausgestellt hat, daß die Mission des Beauftragten der Bundesregierung ergebnislos verlaufen ist: Wird man daraus Konsequenzen ziehen und in Zukunft Beauftragte nach Südafrika nur dann schicken, wenn sie wirklich eine Kompetenz in diesen Fragen haben?
({0})
Frau Abgeordnete, die Bundesregierung wird
({0})
sich wirklich die Frage der Beauftragung einzelner Personen, in ihrem Sinn tätig zu werden, selbstverständlich sorgfältig in jedem einzelnen Fall überlegen.
({1})
Weitere Zusatzfrage.
Frau Staatsminister, Ihnen ist sicher bekannt, daß in diese Unterdrükkungsmaßnahmen der jetzigen südafrikanischen Regierung auch die Sperrung ausländischer Mittel einbezogen ist. Ich frage die Bundesregierung, ob sie bereit und entschlossen ist, dafür zu sorgen, daß deutsche Mittel, die von uns zur Unterstützung von Antiapartheidsbewegungen nach Südafrika kommen, den Adressaten erreichen werden.
Frau Abgeordnete, dies ist bei den Maßnahmen der südafrikanischen Regierung der Punkt, der uns über alles andere hinaus zusätzlich betroffen gemacht hat, weil die Bundesregierung wie andere demokratische Staaten mit der Unterstützung natürlich auch eine Hilfe an die betroffene Bevölkerung liefern wollte und geliefert hat. Wir werden selbstverständlich sorgfältig und gründlich überlegen, wie wir die Möglichkeiten einer weiteren Hilfe an die betroffene Bevölkerung sicherstellen können.
({0})
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jungmann.
Frau Staatsministerin, trifft es zu, daß, wie der Kollege Toetemeyer in seiner ersten Frage sagt, der Ministerpräsident des Landes Bayern nicht Beauftragter der Bundesregierung, sondern Beauftragter des Bundeskanzlers war, und läßt sich daraus schließen, daß der Bundesaußenminister nicht an der Beauftragung des Herrn Strauß beteiligt war?
Herr Abgeordneter, die Reise des bayerischen Ministerpräsidenten in das südliche Afrika ist hier im Deutschen Bundestag, wenn ich das richtig in Erinnerung habe, sowohl in Fragestunden als auch mit Sicherheit in einer Debatte ausführlich behandelt worden, und ich
denke, zu dem Zeitpunkt ist alles Notwendige dazu gesagt worden.
({0})
Sie haben keine weiteren Zusatzfragen?
({0})
- Sie sollten ein bißchen schneller überlegen, Herr Jungmann. Sie dürfen.
Herr Abgeordneter, die Antwort darauf finden Sie in der Tat in den Protokollen des Deutschen Bundestages über die Debatte, die hier im Plenum stattgefunden hat.
Frau Staatsministerin, es ist mir schon klar, daß ich das dort finde. Nur müssen sich dann die Vertreter der Regierung - sind Sie da nicht meiner Auffassung -
Herr Kollege, es muß eine Frage sein. Wir sind hier großzügig, aber nicht übertrieben.
Ja. Sind Sie nicht auch meiner Auffassung - das war die Frage - , daß, wenn schon zitiert wird, richtig aus den Protokollen des Deutschen Bundestages zitiert werden sollte und nicht immer von der Vertreterin der Bundesregierung gesagt werden sollte: Herr Strauß war von der Regierung beauftragt, während er in Wirklichkeit vom Bundeskanzler beauftragt war?
Auch dies ist keine Frage, Herr Kollege Jungmann. Die Frau Staatsminister muß nicht antworten, wenn sie nicht will.
Ich werde im Protokoll noch einmal nachlesen, was ich gesagt habe. Es war jedenfalls keine Absicht.
Jetzt kommt der Herr Abgeordnete Kuhlwein zu einer Zusatzfrage.
Frau Staatsministerin, darf man aus Ihrer Antwort auf die erste Frage der Kollegin Frau Hamm-Brücher schließen, daß die Bundesregierung heute die Kompetenz des Beauftragten, der da nach Südafrika gereist ist, für Südafrikafragen in Frage stellt?
Herr Kollege, ich muß Ihnen sagen, ich halte die Entwicklung in Südafrika für so dramatisch und darüber hinaus dazu angetan, uns so betroffen zu machen, daß ich eigentlich der Meinung bin, daß wir über diese eher innenpolitisch orientierten Streitigkeiten hinausgehen sollten, und wirklich jetzt die Maßnahmen miteinander überlegen sollten, die uns möglich und geeignet erscheinen, tatsächlich noch ein Umdenken in der südafrikanischen Regierung zu bewirken.
Ich habe das eben schon einmal ausgeführt. Wir alle stehen vor der Schwierigkeit, daß man nicht sicher sein kann, welche Auswirkungen welche Maßnahme haben wird. Aber es geht wirklich darum, Apartheid in Südafrika abzuschaffen, und es geht wirklich darum, sich Wege zu überlegen, wie wir diesem Ziel näherkommen können. Denn es ist nun einmal so, daß die Einwirkung von außen, wenn eine Regierung entschlossen ist, eine bestimmte Politik durchzusetzen, sehr, sehr schwer ist.
({0})
Ich habe das auch nicht als eine Frage verstanden. Wir wollen das hier nicht übertreiben, Herr Kollege Kuhlwein. Es war schon ein Fragezeichen da, aber es war im Grunde eine rhetorische Form von Frage, und insofern kann die Frau Staatsminister, die eigentlich schon eine Antwort gegeben hat, darauf verzichten, noch eine weitere zu geben.
Herr Penner hat sich noch zu einer Zusatzfrage gemeldet.
Frau Staatsminister, hat denn im Lichte der jüngsten, nach der Bundestagsdebatte eingetretenen Ereignisse in Südafrika aus der Sicht der Bundesregierung der Besuch des bayerischen Ministerpräsidenten der Südafrikapolitik der Bundesregierung gedient?
Herr Abgeordneter, es ist hier im Deutschen Bundestag über die Auswirkungen der Reise des bayerischen Ministerpräsidenten ins südliche Afrika diskutiert worden. Bei dieser Gelegenheit hat der Bundeskanzler klar und deutlich gemacht, daß die Südafrikapolitik der Bundesregierung unverändert weitergilt, daß sie unverändert davon bestimmt ist, daß Apartheid abgeschafft gehört, daß Apartheid nicht reformfähig ist, daß wir verlangen, daß die politischen Gefangenen freigelassen werden, daß wir verlangen, daß die Opposition sich betätigen darf, daß wir die Herstellung demokratischer Zustände in Südafrika verlangen und daß wir die Menschenrechte für alle Südafrikaner fordern.
Bitte schön, Herr Penner.
Gnädige Frau, das ist zwar die Darstellung der Politik der Bundesregierung, aber damit ist meine Frage nicht beantwortet. Ich will es noch einmal versuchen. Hat die von Ihnen dargestellte Position der Bundesregierung durch die Reise von Franz Josef Strauß eine Stärkung erfahren?
({0})
Ich habe Ihre Frage in meiner vorherigen Antwort im Kern durchaus beantwortet. Aber ich möchte noch einmal unterstreichen: Die Debatte über die Reise war Anlaß, im Deutschen Bundestag die Politik der Bundesregierung gegenüber Südafrika, Namibia, den betroffenen
Menschen noch einmal klar und deutlich zu unterstreichen. Ich denke, auch dies ist wichtig.
({0})
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke der Frau Staatsministerin für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den nächsten Geschäftsbereich auf. Das ist der Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Jahn steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe Frage 44 des Herrn Abgeordneten Bachmaier auf :
Aus welchen Gründen verzögert sich die Vorlage der erst für Herbst 1987, dann für Ende 1987, dann für Anfang 1988 angekündigten Vorschläge der nach Sandoz eingesetzten interministeriellen Arbeitsgruppe Umwelthaftungsrecht/Umweltstrafrecht zur Weiterentwicklung dieser Rechtsbereiche, und wie beurteilt die Bundesregierung nach den Vorkommnissen bei Transnuklear und NUKEM die Forderungen des ehemaligen BGH-Präsidenten Gerd Pfeiffer u. a. nach härterer Bestrafung der Umweltkriminalität im Atom- oder Chemiebereich mit Freiheitsstrafen bis zu 15 Jahren?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Bachmaier, Prüfungsergebnisse der interministeriellen Arbeitsgruppe Umwelthaftungsrecht/Umweltstrafrecht, die aus Vertretern des Bundesministeriums der Justiz und des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit besteht, liegen bisher noch nicht vor, weil die eingesetzten Arbeitskreise ihre Prüfungstätigkeit noch nicht vollständig abgeschlossen haben. Auf Grund der Schwierigkeit und des Umfangs der Materien, insbesondere im Umwelthaftungsrecht, hat die notwendige Prüfung mehr Zeit in Anspruch genommen, als dies ursprünglich vorgesehen war.
Die Bundesregierung hält das derzeitige strafrechtliche Sanktionensystem für Umweltdelikte grundsätzlich für ausreichend. Die Strafen sind erst 1980 durch das 18. Strafrechtsänderungsgesetz erheblich verschärft worden. Das deutsche Umweltstrafrecht enthält international gesehen mit die schärfsten Regelungen über Freiheitsstrafen. Ein Bedürfnis, im allgemeinen Umweltstrafrecht höhere Strafdrohungen einzuführen, hat sich auch in der Praxis nicht ergeben. Höhere Strafen als drei Jahre Freiheitsstrafe bei Umweltstraftaten sind bisher von Gerichten nicht rechtskräftig verhängt worden. Die Bundesregierung sieht daher keine Notwendigkeit, Forderungen nach einer Erhöhung des Höchstrahmens für Freiheitsstrafen auf 15 Jahre aufzugreifen.
Auch der nordrhein-westfälische Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Verbesserung des Umwelthaftungsrechts und des Umweltstrafrechts von 1987 hat diese Forderung nicht erhoben.
Die Überzeugung, daß das geltende Umweltstrafrecht grundsätzlich ausreichende Strafrahmen enthält, schließt allerdings Änderungen bei einzelnen Tatbeständen nicht aus. So könnte beispielsweise überlegt werden, für besonders schwere Fälle des unerlaubten Umgangs mit Kernbrennstoffen den bisherigen Strafrahmen zu erhöhen. Die Bundesregierung wird solchen Überlegungen unter Berücksichtigung der Ergebnisse der interministeriellen Arbeitsgruppe und der Erörterungen auf dem nächsten Deutschen Juristentag verstärkt nachgehen.
Herr Bachmaier, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, wie erklären Sie sich dann eigentlich, daß die Bundesregierung schon mehrfach und immer wieder seit der Sandoz-Katastrophe den Bericht dieser interministeriellen Arbeitsgruppe angekündigt hat und daß sie es jüngst in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD-Fraktion zum Umweltstrafrecht wieder getan hat, daß aber die dort vorgegebenen Zeitrahmen nicht nur einmal, sondern mehrfach, immer wieder verletzt worden sind? Hat dies seine Ursache eventuell darin, daß es Außeneinflüsse auf die tätigen Arbeitsgruppen gibt, oder worin liegen die innermateriellen Schwierigkeiten, so daß die Bundesregierung noch nicht einmal zur Abfassung eines Zwischenberichts kommt, und zwar in beiden Bereichen nicht?
Herr Kollege Bachmaier, es ist immer schwierig, ein genaues Datum anzugeben, und auf dieser genauen Datumsangabe reiten Sie heute herum. Ich habe mir die Sitzungstermine der interministeriellen Arbeitsgruppe zusammenstellen lassen. Die Arbeitsgruppe hat, nachdem sie konstituiert worden ist, insgesamt rund 20 Sitzungen abgehalten und hat auch mit Versicherern und Industrie die notwendigen Gespräche geführt. Wenn die Arbeit bis heute noch nicht endgültig abgeschlossen ist, dann liegt es an der Schwierigkeit der Materie. Sie wissen selbst, daß hier Neuland im Haftungsrecht beschritten wird. Ich denke an die Umweltschäden, bei denen der Verursacher nicht festgestellt werden kann, und ich denke an Umweltschäden bei genehmigten Anlagen, die sich im Rahmen der zulässigen Emissionen halten. Das sind Fragen, bei denen es bisher keine Vorgaben gibt und wir Neuland betreten. Ich glaube, es ist sachgerecht, daß wir dann an die Öffentlichkeit treten, wenn die wichtigsten Zweifels-fragen geklärt sind.
Eine Zusatzfrage, Herr Bachmaier.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie jetzt einige Beispiele für Probleme beim Haftungsrecht genannt haben: Worin liegen denn die Probleme, die sich beim Umweltstrafrecht ergeben? Denn beides ist ja nicht zwingend voneinander abhängig. Auch hier haben Sie bisher alle Zusagen zur Erstellung von Zwischenberichten nicht eingehalten.
Herr Kollege Bachmaier, es ist Absicht der Bundesregierung, die Berichte zur gleichen Zeit vorzulegen. Es gibt erste Zwischenergebnisse im Umweltstrafrecht. Danach soll der Grund und Boden besser auch strafrechtlich geschützt werden, und es gibt bei der Luftreinhaltung die Überlegungen, den Strafschutz zu erweitern. Mehr kann ich aber, um Ergebnissen nicht vorzugreifen, heute hier nicht ausführen.
Ich rufe die Frage 45 des Abgeordneten Bachmaier auf:
Wird die Bundesregierung die in letzter Zeit erhobenen Forderungen des ehemaligen BGH-Präsidenten Gerd Pfeiffer und auch des IG-Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler nach höheren Strafen für Umweltdelikte, nach Anzeigepflicht für Gerichte und Behörden, nach strafrechtlicher Verantwortung der Unternehmens-Geschäftsführung für Umweltdelikte und nach Kündigungsschutz für Arbeitnehmer, die Umweltstraftaten anzeigen, aufgreifen, und wenn nicht, warum nicht?
Sie betrifft den selben Bereich. Herr Bachmaier, Sie können anschließend weitere Zwischenfragen stellen. Zunächst hat der Staatssekretär das Wort.
Herr Kollege Bachmaier, zu dem Thema höhere Strafen im Umweltstrafrecht habe ich in der Vorfrage Stellung genommen. Ich komme jetzt zu den anderen Punkten im Rahmen der Frage 45.
Wie sie wissen, haben in den letzten Jahren bereits einzelne Länder, nämlich Bayern, Nordrhein-Westfalen und 1987 das Saarland und Berlin, im Wege des Verwaltungserlasses Mitteilungspflichten für Amtsträger von Umweltbehörden gegenüber Strafverfolgungsbehörden eingeführt. In mehreren anderen Ländern sind entsprechende Regelungen in Aussicht genommen. Ehe Vorschläge zur Einführung einer gesetzlichen Anzeigeverpflichtung aufgegriffen werden, wird zunächst geprüft, ob sich die in Verwaltungserlassen geregelte Anzeigepflicht bewährt.
Was Forderungen nach strafrechtlicher Verantwortung von Unternehmensleitern betrifft, ist darauf hinzuweisen, daß diese sich nach allgemeinen Grundsätzen als Täter oder als Teilnehmer an von anderen Betriebsangehörigen begangenen Taten strafbar machen können. Da das Umweltstrafrecht generell auch fahrlässiges Handeln unter Strafe stellt, können selbst Überwachungs- und Organisationsmängel nicht nur bußgeldrechtlich, sondern sogar strafrechtlich relevant werden, wenn ihnen eine schuldhafte Sorgfaltspflichtverletzung, bezogen auf eine konkrete Straftat, zugrunde liegt. Die Einführung einer darüber hinausgehenden auf Umweltstraftaten beschränkten strafrechtlichen Sonderregelung für Unternehmensleiter hält die Bundesregierung nicht für vertretbar. Der Arbeitskreis Umweltstrafrecht neigt allerdings dazu, bei Aufsichtspflichtverletzungen im Zusammenhang mit der Begehung betriebsbezogener Straftaten die Einführung eines allgemeinen Straftatbestandes zur Erwägung zu geben. Nach Vorliegen des Berichts der Arbeitsgruppe wird die Bundesregierung diesen Erwägungen auch unter dem Gesichtspunkt des Bedürfnisses weiter nachgehen.
Zusatzfrage, Herr Bachmaier.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie vorhin anklingen ließen, daß die Bundesregierung bei schweren Verstößen beim Umgang mit Kernbrennstoffen an einen erhöhten Strafrahmen denkt: Können Sie vielleicht kurz umreißen, was Sie als einen schwereren, mit einem höheren Strafrahmen versehenen Verstoß ansehen und an welche Erhöhung des bislang mit einer Obergrenze von fünf Jahren Freiheitsstrafe versehenen Strafrahmens Sie denken?
Ich habe mich über die Einfügung des Wortes „kurz" gefreut, Herr Kollege Bachmaier. Dies gilt für Sie beide, sowohl was Fragen als auch was Antworten betrifft.
Herr Kollege Bachmaier, Sie werden verstehen: Ich kann den Ergebnissen der Kommission nicht vorgreifen. Aber ich möchte in Ihre Erinnerung rufen, daß bereits jetzt schwere Fälle von Gefährdungen mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren geahndet werden können. Für den Bereich des Atomstrafrechts sieht das Strafgesetzbuch in den Tatbeständen über das Herbeiführen einer Explosion durch Kernenergie und über den Mißbrauch ionisierender Strahlen noch härtere Strafen vor, die in besonders schweren Fällen bereits jetzt bis lebenslang reichen können.
Zusatzfrage, Herr Bachmaier.
Noch eine abschließende Frage: Herr Staatssekretär, werden in die Betrachtungen der Bundesregierung auch Möglichkeiten mit einbezogen, Arbeitnehmer, die eine Umweltstraftat in ihrem Betrieb entdecken, vor arbeitsrechtlichen Folgen zu schützen?
Herr Kollege Bachmaier, nach § 612a BGB darf der Arbeitgeber einen Arbeitnehmer nicht benachteiligen, weil er in zulässiger Weise seine Rechte ausgeübt hat. Eine vom Arbeitgeber ausgesprochene Kündigung, die gegen dieses Maßregelverbot verstößt, ist nach § 134 BGB bekanntlich nichtig.
Ob eine Strafanzeige eines Arbeitnehmers gegen seinen Arbeitgeber die Kündigung des Arbeitsverhältnisses dieses Arbeitnehmers wegen seines Verhaltens rechtfertigt, hängt nach der Rechtsprechung vom Ergebnis einer Abwägung der Drucksituation und Pflichtenkollision ab, in denen sich der Arbeitnehmer insgesamt befand einerseits, und der Situation, in die der Arbeitgeber durch die Strafanzeige geraten ist, andererseits.
Jetzt kommen wir zu Frage 46 der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin:
Ist der Bundesregierung das Urteil des Berliner Landgerichts vom 14. Dezember 1987 bekannt, wonach es unverantwortlich ist, ein Kind „im noch schulpflichtigen oder gar pubertären Alter von einem homosexuellen Paar erziehen zu lassen" ({0}), und hält es die Bundesregierung wegen der zu befürchtenden Konsequenzen dieser Gerichtsentscheidung für die gesellschaftliche Bewertung von Homosexualität und somit für die gesellschaftliche Stellung der Schwulen und Lesben für notwendig, dem durch eine gesetzliche Regelung entgegenzuwirken?
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß die Drucksache 11/1899 einen sinnentstellenden Fehler enthält. Der Satz muß heißen: ,,... wonach es unverantwortlich ist, ein Kind ... "
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Oesterle-Schwerin, die Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 14. Dezember 1987 ist der Bundesregierung aus der von Ihnen zitierten Presse bekannt.
Von einer Stellungnahme zu dieser Entscheidung möchte ich absehen. Die Bundesregierung betrachtet es nicht als ihre Aufgabe, Entscheidungen unabhängiger Gerichte in Einzelfällen generell kritisch oder zustimmend zu würdigen.
Allgemein ist darauf hinzuweisen, daß die Personensorge für ein Kind das Recht umfaßt, die Herausgabe des Kindes von jedem zu verlangen, der das Kind dem Personensorgeberechtigten widerrechtlich vorenthält. Das Vormundschaftsgericht kann dieses Recht einschränken, wenn sich das Herausgabeverlangen als eine das Kindeswohl gefährdende, mißbräuchliche Sorgerechtsausübung darstellt. Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, den gesetzgebenden Körperschaften eine Änderung dieser Rechtslage vorzuschlagen.
Zusatzfrage, Frau Oesterle-Schwerin.
Herr Staatssekretär, wenn die Bundesregierung das nicht beabsichtigt, was gedenkt die Bundesregierung denn dann zu tun, um der Diskriminierung von lesbischen Müttern und schwulen Vätern entgegenzutreten, und wie gedenkt sie den Schaden von deren Pflegekindern abzuwenden, der dadurch entsteht, daß diese Kinder jederzeit von ihren Pflegeeltern weggerissen werden können?
Frau Kollegin, Ihrer Fragestellung liegt die Unterstellung zugrunde, daß die Urteile der deutschen Gerichtsbarkeit eine Diskriminierung für Homosexuelle bedeuten. Ich kann das nicht nachvollziehen.
Weitere Zusatzfrage, Frau Oesterle-Schwerin.
Keine.
Dann kommt die Frage 47:
Wird die Bundesregierung Bestrebungen fördern, die Betreuung von Kindern durch Schwule und Lesben nicht nur auf Problemfälle wie HIV-infizierte Kinder zu beschränken ({0})?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, die Bundesregierung begrüßt das soziale Engagement von Bürgern, die sich als Pflegepersonen für HIV-infizierte Kinder zur Verfügung stellen. Die Erteilung einer Pflegeerlaubnis setzt dabei ganz allgemein voraus, daß in der Pflegestelle das leibliche, geistige und seelische Wohl des Kindes gewährleistet ist. Die sexuelle Orientierung des Bewerbers um eine Pflegeerlaubnis ist nur insoweit von Bedeutung, als sie geeignet ist, das Wohl des zu betreuenden Kindes zu gefährden. Dabei ist auf die Situation im Einzelfall abzustellen.
Maßnahmen der Bundesregierung in diesem Bereich erscheinen daher weder geboten noch ratsam.
Zusatzfrage, Frau
Oesterle-Schwerin.
Wie beurteilt die Bundesregierung das Angebot des Jugendamtes der Stadt Hannover, für das Kind einer HIV-infizierten Mutter ausdrücklich auch lesbische und schwule Paare als Pflegefamilien zuzulassen?
Ich habe keine Veranlassung, diesen Tatbestand hier zu kommentieren.
Keine weitere Zusatzfrage. Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereiches. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Voss steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 48 des Abgeordneten Engelsberger auf:
Welches waren die Gründe für die Entscheidung der Bundesregierung, die Investitionszulage für Anlagen zur Erzeugung regenerativer Energien ({0}) ab 1990 zu streichen, und ist der Bundesregierung bekannt, daß diese umweltfreundlichen Energien im freien Wettbewerb gegenüber anderen und subventionierten Energieträgern, z. B. deutsche Steinkohle bzw. Kernenergie, ohne Investitionsförderung nicht konkurrenzfähig sind und auf absehbare Zeit auch nicht sein können?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Engelsberger, den Koalitionsvereinbarungen entsprechend wird die Bundesregierung den Entwurf eines Steuerreformgesetzes 1990 voraussichtlich am 22. März dieses Jahres vorlegen, der zur Finanzierung der Tarifreform 1990 den Wegfall der Förderung nach dem Investitionszulagengesetz ab 1990 und damit auch den Wegfall der Investitionszulage für regenerative Energieträger vorsieht.
Die Bundesregierung hält den Wegfall des Investitionszulagengesetzes insbesondere deshalb für geboten, weil die Schwierigkeiten bei der Anwendung dieses Gesetzes, auch des § 4 a des Investitionszulagengesetzes, zu einer oft unterschiedlichen Verwaltungspraxis und damit zu Rechtsunsicherheit und Wettbewerbsverzerrungen geführt haben. Die Bundesregierung hält den Wegfall des § 4 a des Investitionszulagengesetzes aber auch unter energiepolitischen Gesichtspunkten für vertretbar. Sie ist der Auffassung, daß sich auch die neuen Energietechnologien nach jahrelanger Förderung dem Wettbewerb stellen müssen. Regenerative Energien dürfen keine Dauersubventionsempfänger werden.
Im übrigen läßt auch die geringe Inanspruchnahme der Investitionszulage bei Solar- und Windkraftanlagen darauf schließen, daß diese Art der Förderung nicht geeignet ist, entscheidende Anstöße zur Markteinführung zu geben. Es ist deshalb auch nicht zu befürchten, daß der Wegfall dieser Förderung die weitere technische und wirtschaftliche Entwicklung dieser Anlagen beeinträchtigen wird. Die Bundesregierung wird aber die Erforschung und Entwicklung in diesem Bereich mit gegenüber den letzten Jahren erhöhten Mitteln weiterhin fördern.
Eine Zusatzfrage, Herr Engelsberger.
Herr Staatssekretär, ist sich die Bundesregierung bewußt, daß die Streichung der Fördermaßnahmen für regenerative Anlagen letzten Endes das Aus für die Markteinführung dieser Energien bedeutet, und wird hier nicht deutlich, daß der von der Bundesregierung immer wieder beteuerte Grundsatz der Kernenergie als zeitlich begrenzter Übergangsenergie, die durch regenerative Energien ersetzt werden soll, seine Glaubwürdigkeit verliert?
({0})
Ich bin nicht dieser Meinung, Herr Kollege. Ich habe Ihnen soeben die Schwierigkeiten bei der Anwendung des Investitionszulagengesetzes geschildert. Wir haben nach langer Diskussion und vielen Überlegungen die Meinung gehabt, daß man zu diesem Zeitpunkt darauf verzichten kann. Denn, Herr Kollege: Jede Subventionierung hat den Sinn, eine Sache über eine gewisse Zeit hin zu unterstützen. Ich glaube, wir müssen uns auch im Hinblick auf die Haushaltssituation, die wir haben, daran gewöhnen, daß Subventionen zeitlich begrenzt werden, und uns daher auch daran gewöhnen, daß sie dann eines Tages wegfallen. Die Bundesregierung glaubt, daß der Zeitpunkt hierfür nun gekommen ist.
Zusatzfrage, Herr Engelsberger.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der für regenerative Energien zuständige Fachminister, Heinz Riesenhuber, die Forderung nach Markteinführung regenerativer Energien erhoben und gesagt hat, jetzt seien Hilfen für alternative Energien nötig, die sich vor allem wegen des derzeit niedrigen Ölpreises auf dem Markt noch nicht behaupten können? Steht diese Aussage des Forschungsministers Riesenhuber nicht in krassem Gegensatz zu der Meinung Ihres Hauses, die Sie soeben vorgetragen haben?
Herr Kollege Engelsberger, ich habe nicht nur die Meinung des Bundesfinanzministeriums, sondern ich habe auch die Meinung der Bundesregierung vorgetragen. Ich glaube, daß sich Mitglieder der Bundesregierung da insofern einschließen lassen müssen.
({0})
Mir fiel auch eine ein, Herr Kollege Engelsberger. Aber wir haben noch weitere Kollegen, die sich gemeldet haben.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Daniels ({0}).
Herr Staatssekretär, sind Sie der Meinung, daß die sogenannten regenerativen Energien mittlerweile eine veraltete Technologie darstellen und daß aus dem Grunde - auch im Vergleich zu anderen Ländern wie Japan und USA, in denen ja in Sachen Markteinführung sehr viel investiert wird - zur Markteinführung hier nichts mehr getan werden müßte?
Die Bundesregierung ist der Meinung, Herr Kollege, daß das, was zur Markteinführung notwendig war, bisher geschehen ist. Der Meinung, daß es sich hier um veraltete Energien handelt, kann ich mich aber nicht anschließen.
Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, kann man, da Sie gesagt haben, daß bestimmte Investitionsförderungen nach bestimmten Zeiten auslaufen müßten, davon ausgehen, daß die Bundesregierung auch daran denkt, die Investitionsförderung für die Kernenergie 1990 auslaufen zu lassen?
Herr Kollege, ich habe eben gesagt, daß es sich die Bundesregierung zur Aufgabe gemacht hat, alle Förderungen, die Subventionscharakter haben, auf den Prüfstand zu stellen und zu entscheiden, wann sie wegfallen können. In dem Fall, den wir gerade debattieren, ist sie der Meinung, daß dieser Zeitpunkt jetzt gekommen ist.
({0})
Zusatzfrage des Abgeordneten Uldall.
Herr Staatssekretär, kann es sein, daß bei der Beurteilung dieses Sachverhalts durch den Bundesforschungsminister diesem Minister nicht bekannt war, daß auf Grund der verbesserten Abschreibungsbedingungen z. B. für Wirtschaftsgebäude und der Senkung der Steuersätze im Rahmen der Steuerreform die Investitionsvoraussetzungen für die bisher durch diesen Ausnahmetatbestand geförderten Unternehmen ohnehin verbessert worden sind?
Herr Kollege, ich bin in der schwierige Lage, über den Wissensstand eines Kollegen nicht die letzte Auskunft geben zu können. Ich könnte mir vorstellen, daß er das weiß und dennoch eine andere Meinung hat. Ich kann mir aber auch das Gegenteil von dem vorstellen.
Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Sellin.
Herr Staatssekretär, haben Sie ein Interesse daran, daß der Verbrauch von Öl, nachdem der Ölpreis so verfallen ist, weiterhin zunimmt und nicht durch regenerative Energien bekämpft wird?
Herr Kollege, der Preis, den wir zur Zeit beim 01 festzustellen haben, wird natürlich in gewisser Weise dazu führen, daß der Verbrauch nicht eingeschränkt wird. Andererseits aber glaube ich nicht, daß diejenigen, die sich aus anderen Erwägungen für regenerative Energien entParl. Staatssekretär Dr. Voss
scheiden, eine große Hemmschwelle zu überwinden haben.
({0})
Zusatzfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie uns hier so verdienstvoll erläutert haben, daß Subventionen gegeben werden, damit sie eines Tages wieder abgestellt werden können, möchte ich Sie fragen, ob Sie uns schon einen Termin für die Airbus-Subvention sagen können.
({0})
Frau Kollegin, das würde den Rahmen dieser Fragestunde sprengen. Aber genauso wie bei allen anderen Subventionen wird natürlich auch beim Airbus diese Frage gestellt und entsprechend entschieden werden. Aber zur Zeit ist in der Lage, in der sich der Airbus befindet, und bei der Bedeutung, die der Airbus für die Flugindustrie Europas in den zukünftigen Jahren haben wird, dieser Zeitpunkt noch nicht gekommen.
Es war zwar nicht zum Thema, aber trotzdem gelungen. Sie hatten ja auch geantwortet.
Herr Mechtersheimer möchte noch eine Zusatzfrage stellen.
Was haben Sie von seiten des Ministeriums geplant, um die offenkundigen Nachteile für die Erzeugung regenerativer Energien auszugleichen? Denn man darf wohl nicht davon ausgehen, daß Sie den Rückgang wünschen.
Insgesamt ist geplant, Herr Kollege, daß der Wegfall der Förderung nach dem Investitionszulagengesetz durch eine Erhöhung der Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe um 500 Millionen DM ersetzt wird.
({0})
Wir kommen zu der Frage 49 des Abgeordneten Engelsberger:
Gibt es bei der Bundesregierung Überlegungen, eine Energiesteuer auf nicht erneuerbare Energien zu erheben mit dem Ziel, die Einführung der regenerativen Energien zu fördern und zu beschleunigen, um so die Umweltbelastung durch fossile Brennstoffe zu vermindern?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Engelsberger, innerhalb der Bundesregierung gibt es gegenwärtig keine Überlegungen zur Erhebung von Steuern auf nicht erneuerbare Energien, um über einen dadurch möglicherweise bewirkten stärkeren Einsatz regenerativer Energien Umweltbelastungen zu verringern. Wegen der geographischen und klimatischen Gegebenheiten ist der wirtschaftliche Einsatz regenerativer Energieträger in unserem Lande nur sehr begrenzt möglich. Eine spürbare Entlastung der Umwelt allein durch eine vermehrte Nutzung von Sonne, Wind und Wasser zur Energieerzeugung wäre daher kaum zu erwarten.
Zusatzfrage, Herr Engelsberger.
Herr Staatssekretär, da muß ich mir schon die Zusatzfrage erlauben, wieso dann die Bundesregierung immer wieder darauf verweist, daß bereits im nächsten Jahrhundert die Kernenergie durch alternative Energien ({0})
das können letzten Ende nur regenerative Energien sein - ersetzt werden soll. Ist es nicht unstrittig, daß bei den derzeitigen Preisen von Öl und Kohle auf dem Weltmarkt regenerative Energien bei uns keine Chance haben,
({1})
und wäre es da nicht sinnvoll, letzten Endes eine Steuer zu erheben, um mit diesen zusätzlichen Steuermitteln Regenerativanlagen bei uns zu fördern, die für den heutigen Markt einfach zu teuer sind?
Herr Kollege, wir alle wissen, daß hier eine revolutionäre technische Entwicklung zu erwarten ist. Wir debattieren hier über die Möglichkeiten, die wir auf Grund der Technik haben, die wir zur Zeit beherrschen. Hier sind die Möglichkeiten natürlich viel, viel geringer, als sie, wie ich glaube und hoffe, sein werden, wenn wir einige Jahrzehnte weiter sind. Sie wissen doch, daß zur Zeit durch diese regenerierbaren Energiequellen nur rund 2 % unseres Energiebedarfs gedeckt werden. Das wird irgendwann anders sein. Aber dafür bedürfen wir einer Technologie, die wir zur Zeit noch nicht haben und dementsprechend auch nicht einsetzen können.
({0})
Herr Staatssekretär, der Bundesregierung ist doch sicher bekannt, daß nach den Aussagen von Klimaexperten durch Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe bereits in der ersten Hälfte des nächsten Jahrhunderts die Erdatmosphäre so weitreichend verändert sein wird, daß weite Teile Mitteleuropas nicht mehr bewohnbar sein werden? So soll beispielsweise der Wasserspiegel der Nordsee um 60 bis 80 m steigen, so daß Schleswig-Holstein - ({0})
- Um 60 bis 80 m; er steigt ja jetzt schon pro Jahr um 5 mm - ({1})
- Das im Rahmen einer Frage vorzutragen, ist natürlich zu umfangreich. Aber wir könnten das einmal in einer Aktuellen Stunde behandeln.
({2})
Aber angesichts dieser Tatsache müssen doch Maßnahmen ergriffen werden, und zwar umgehend, wie von den Klimaexperten und den Experten der Deutschen Physikalischen Gesellschaft gefordert wird, um
die Verbrennung fossiler Brennstoffe letzten Endes zu reduzieren.
Herr Kollege, die Ausarbeitungen und Überlegungen, die Sie genannt haben, sind der Bundesregierung natürlich bekannt. Inwieweit sie auf einer realistischen Grundlage beruhen, ist eine andere Frage. Hier sind Deutungen, glaube ich, möglich. - Aber die Bundesregierung sieht zur Zeit keine Notwendigkeit, das mit einer zusätzlichen Steuer zu belegen, was an fossilen Brennstoffen verwendet wird.
Zusatzfrage des Abgeordneten Daniels.
Gehe ich richtig in der Annahme, daß sich die Umweltfürsorge der Bundesregierung nicht darauf erstrecken wird, entscheidende Maßnahmen zu ergreifen, um die Umweltbelastungen zu verringern, sondern es dem Zufall überläßt, ob wir zu einem möglichst frühen Zeitpunkt auf umweltfreundlichere Technologien in der Energieversorgung umsteigen können? Ist das die Verantwortung der Bundesregierung in diesem Bereich?
Nein, das ist sie nicht, Herr Kollege. Die Bundesregierung überläßt auch hier nichts dem Zufall. Sie hat in vielen Bereichen etwas getan, um die Umweltbelastungen entsprechend zu reduzieren. Sie sieht in diesem Falle nur nicht in einer Steuer die richtige Maßnahme, um hier weiterzukommen.
({0})
Zusatzfrage des Abgeordneten Sellin.
Herr Staatssekretär, überrascht es Sie eigentlich, daß Herr Töpfer angesichts des Finanzvolumens, das über 20 Jahre in die Kernenergie geflossen ist, einen Großforschungsbereich regenerative Energieanlagenforschung und -entwicklung fordert und sich von daher für eine Strategie einsetzt, Energieeinsparung zur Wirtschaftsphilosophie zu erheben, und Sie daher eine Verantwortung tragen, die relativen Preise eingesetzter Energien zu manipulieren und nicht - durch den Weltmarkt - verfallen zu lassen?
Herr Kollege, ich habe es schon mehrmals gesagt: Zur Zeit sieht die Bundesregierung keine Notwendigkeit, hier mit einer zusätzlichen Steuer zu Werke zu gehen. Die Möglichkeiten, die die Bundesregierung hat, bereits genutzt hat und auch noch nutzen wird, reichen nach ihrer Ansicht zum jetzigen Zeitpunkt aus, so daß man auf eine Steuer zusätzlicher Art verzichten kann.
Zusatzfrage des Abgeordneten Uldall.
Herr Staatssekretär, teilen Sie die auch von zahlreichen Abgeordneten dieses Hauses geäußterte Auffassung, daß eine Steuer wie die Einkommensteuer völlig überfordert wäre, wenn man ihr alle Politikbereiche wie z. B. den Umweltschutz, die Sozialpolitik, die Verkehrspolitik auflasten würde, um diese durch sie zu regulieren?
Ich stimme Ihrer Auffassung völlig zu, Herr Kollege. Nur habe ich aus Zeitgründen, weil ich gehalten bin, kurz zu antworten, das nicht auch noch alles ausgeführt.
Ich rufe Frage 50 der Frau Abgeordneten Simonis auf:
Gibt es Zusagen von seiten der Bundesregierung an die vier norddeutschen Küstenländer, insbesondere Schleswig-Holstein, die Sozialhilfeleistungen durch die Bundesregierung zu übernehmen bzw. dafür einen finanziellen Ausgleich zu schaffen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Simonis, die Bundesregierung steht mit den genannten Bundesländern in einem Gedankenaustausch über die einschlägigen Fragen. Einer der wesentlichen Gesichtspunkte ist angesichts des eigenen Finanzbedarfs des Bundes die Finanzierbarkeit derartiger Maßnahmen.
Frau Simonis, bitte schön, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, habe ich Ihre Antwort dahingehend richtig verstanden, daß Herr Albrecht in einem Gespräch mit dem Herrn Bundeskanzler entweder die falschen Eindrücke gewonnen hat oder daß der Herr Bundeskanzler diesen wichtigen Aspekt, den Sie hier gerade erwähnt haben, nicht gekannt hat und deswegen dem Herrn Ministerpräsidenten nicht hat sagen können?
Nein, Frau Kollegin, ich habe bereits in der vergangenen Fragestunde ausgeführt, daß der Bundeskanzler dem niedersächsischen Ministerpräsidenten die Prüfung dieser sehr gewichtigen und schwerwiegenden Frage zugesagt hat.
Eine weitere Zusatzfrage, Frau Simonis.
Herr Staatssekretär, wie darf ich dann Ihre Antwort aus der letzten Fragestunde interpretieren, in der Sie von einer wohlwollenden Prüfung, die auch von Ihrem Hause mitgetragen werden wird, gesprochen haben? War das damals zur Beruhigung der Fragesteller gedacht?
Nein, Frau Kollegin. Auch eine wohlwollende Prüfung ist eine Prüfung.
({0})
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, erinnern Sie sich daran, daß Sie in der letzten Woche in der Fragestunde am 24. Februar 1988 dem Kollegen Andres exakt dieselbe Antwort gegeben haben, nur daß Sie heute Ihre Antwort vom Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen allein auf die Ministerpräsidenten
I der genannten Länder erweitert haben, und sind Sie mit mir der Auffassung, daß diese Antwort eigentlich dem Brauch, das Parlament umfassend zu informieren, widerspricht? Wir möchten wissen, zu welchen Ergebnisse Sie gekommen sind. Sie überprüfen nämlich schon etwas länger als nur eine Woche.
Herr Kollege, es gehört zu einer Prüfung, daß man das Ergebnis nicht voraussagen kann. Auch das habe ich in der letzten Fragestunde bereits zum Ausdruck gebracht. Ich erinnere mich sehr wohl an die Antworten, die ich in den letzten beiden Fragestunden zu diesem Komplex gegeben habe. Ich habe dem an sich nichts hinzuzufügen.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, sehen Sie denn angesichts der Finanzlage des Bundes überhaupt eine Chance, daß die Prüfung mit einem Ergebnis im Sinne der Wünsche des niedersächsischen Ministerpräsidenten ausgeht?
Herr Kollege, das alles wird Inhalt der Prüfung sein. Sie kennen die Finanzlage des Bundes, die ich Ihnen hier nicht im einzelnen darzulegen brauche.
Zusätzlich darf ich Ihnen noch sagen - auch das habe ich hier bereits betont -, daß natürlich auch die Interessen der anderen Bundesländer mit einzubeziehen sind. Sie werden vielleicht wissen, daß der bayerische Finanzminister und der baden-württembergische Finanzminister gegen derartige Pläne bereits Gegenvorstellungen erhoben haben.
Ich rufe Frage 51 der Abgeordneten Frau Simonis auf:
Plant die Bundesregierung für den Fall, daß das Land Niedersachsen einen weiteren Finanzausgleich bzw. andere Finanzhilfen bekommt, auch dem Land Schleswig-Holstein in entsprechender Weise zu helfen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin Simonis, die Bundesregierung beachtet bei den Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern stets den Grundsatz der Gleichbehandlung der Bundesländer.
Frau Simonis, eine Zusatzfrage.
Das haben Sie ohne Prüfung festgestellt? - Das war eine Vorbemerkung, keine Frage.
Herr Staatssekretär, können Sie denn in Ihre Prüfung mit aufnehmen, in welchem Ausmaß Sie den strukturschwachen Küstenländern helfen können, wenn die Steuersenkungspläne vor allem der FDP - Gewerbesteuer - wahr werden, um diese Länder von den mehr als 4 Milliarden DM zu entlasten, die heute schon als zusätzliche Sozialhilfekosten auf ihnen lasten?
Frau Kollegin Simonis, durch die Steuerreform werden die Länder nur in
dem Maße belastet, in dem sie auch, wenn ich es einmal so sagen darf, an den Vorzügen teilhaben. Die Bundesregierung hat zugesagt - und sie legt auch Wert darauf - , daß niemand überproportional belastet wird, weder im Länderbereich noch im Gemeindebereich.
Eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, sind Sie gewillt, in Ihre wohlwollende Prüfung mit einzubeziehen, wie dem Nord-Süd-Gefälle, das ja durch Ihre Steuerreform meines Erachtens verstärkt wird, entgegengewirkt werden kann?
Frau Kollegin, ich darf Ihnen hier zusagen, daß alle sinnvollen Erwägungen und alle weiterführenden Überlegungen natürlich in die Prüfung einbezogen werden.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.
Herr Staatssekretär, können Sie denn hier sagen, wann Sie mit der Prüfung der Frage, die jetzt zur Debatte steht, begonnen haben? Denn Ihre Antworten lassen ja den Eindruck zu, als hätten Sie mit der Prüfung noch gar nicht begonnen. Da sich Ministerpräsident Albrecht schon am 30. Dezember 1987 öffentlich dazu geäußert hat, frage ich Sie weiter, wann diese Prüfung abgeschlossen ist, denn mittlerweile haben wir den 3. März 1988.
Herr Kollege, Ihr Eindruck ist nicht zutreffend. Es haben bereits weitere Gespräche nach dem Gespräch - ({0})
- Ja, Herr Kollege, Gespräche sind natürlich Teile einer Prüfung, weil Sie zuerst einmal alle Aspekte der Vorstellungen der einzelnen Beteiligten kennenlernen müssen. Insofern ist die Prüfung im Gange. Wann sie abgeschlossen sein wird, hängt natürlich auch und nicht zuletzt davon ab, welche Widerstände gegen einen derartigen Plan von dieser oder jener Seite erhoben werden. Die letzte Feststellung muß, wie ich immer gesagt habe, berücksichtigen, daß diese Maßnahme für den Bund finanzierbar ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Kuhlwein.
Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß Sie bei einer Änderung des Finanzausgleichs oder bei der Prüfung von Möglichkeiten veränderter Finanzhilfen alle Länder gleich behandeln wollen. Darf ich daraus schließen, daß Sie keinen Spielraum dafür sehen, bei einer solchen Operation die strukturschwachen norddeutschen Länder gegenüber den süddeutschen Ländern zu begünstigen?
Herr Kollege, Sie wissen ebenso gut wie ich, daß der Bund in den letzten Jahren häufig an die Länder, die Sie ansprechen, Finanzhilfen zusätzlicher Art gegeben hat.
Eine Zusatzfrage des Abgeordneten Andres.
Herr Staatssekretär, Sie haben eben gesagt, die Dauer des Prüfverfahrens hänge davon ab, welche Widerstände sich gegen diese Absichten abzeichneten. Nun haben Sie in einer weiteren Antwort vorhin gesagt, zwei Landesregierungen hätten schon Widerstand angekündigt. Können Sie mal ein bißchen informativer sagen, welche Widerstände denn es noch dagegen gibt?
Herr Kollege, es ist, wenn man sich die Materie ansieht, leicht ersichtlich, daß die Finanzierung, die hier vorgeschlagen wird, also die Übernahme von 10 Milliarden DM Sozialhilfekosten durch den Bund und dafür die Übergabe von 4 % Mehrwertsteuer der Länder und die Finanzierung des Restes durch Steuererhöhungen im Verbrauchsteuerbereich, sehr kompliziert ist. Allein an diesen drei Kriterien sehen Sie schon, wie schwierig die Materie ist und daß hier natürlich ein Finanzvolumen von sehr großem Ausmaß umgeleitet würde. Von daher können Sie, glaube ich, nicht verlangen, daß eine Bundesregierung in einer so schwierigen Frage einen schnellen Entschluß und eine schnelle Entscheidung trifft, ohne alle Auswirkungen in jeder Hinsicht geprüft zu haben.
Die Fragen 52 und 53 der Abgeordneten Frau Blunck sollen schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 54 des Abgeordneten Kuhlwein:
Um welche besonderen Maßnahmen, die zur Reduzierung der wirtschaftlichen und finanziellen Ungleichgewichte zwischen den Bundesländern ergriffen werden sollen, handelt es sich bei der Zusage des Bundeskanzlers an den niedersächsischen Ministerpräsidenten?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Kuhlwein, die Bundesregierung steht mit dem Ministerpräsidenten des Landes Niedersachsen in einem Gedankenaustausch über die im Zusammenhang mit regional unterschiedlichen Wirtschafts- und Finanzentwicklungen auftretenden Fragen. Eine Zusage des Bundeskanzlers gibt es nicht.
Ich kann auch hier nur auf meine Antwort in der letzten Fragestunde verweisen, wonach einer der wesentlichen Gesichtspunkte die Finanzierbarkeit der Vorschläge ist. Dabei muß der eigene Finanzbedarf des Bundes berücksichtigt werden.
Herr Kuhlwein, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, käme denn die von Niedersachsen vorgeschlagene Übernahme eines Teils der Sozialhilfekosten durch den Bund prinzipiell für die Bundesregierung in Frage?
Herr Kollege Kuhlwein, ich habe eben gesagt, daß dieser Vorschlag, der ja als wesentliches Merkmal die Übernahme der Hälfte der Sozialhilfekosten enthält, in der Prüfung ist. Von daher kann ich jetzt dieser Prüfung nicht vorgreifen und kann Ihnen in der Richtung, in der Sie fragen, keine Antwort geben.
Herr Kuhlwein, eine zweite Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung denn schon eine ungefähre Vorstellung, wann mit dem Abschluß dieser Prüfung zu rechnen ist?
Ich habe eben gesagt, Herr Kollege, daß das von den Kriterien abhängt, die hier alle zu berücksichtigen sind.
({0})
Eine Zusatzfrage, Frau Simonis.
Herr Staatssekretär, Sie haben nun schon zum zweitenmal als Kriterium die Finanzierbarkeit angeführt. Ist nicht auch das Gebot des Grundgesetzes, gleiche Lebensverhältnisse in allen Teilen der Bundesrepublik herzustellen, ein Kriterium, und ist das Nichtstun nicht ein Verstoß gegen das Grundgesetzgebot?
({0})
Ich muß mich auch hier wiederholen, Frau Kollegin. Die Bundesregierung hat bei allen Maßnahmen, die sie bisher getroffen hat, die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland im Auge. Sie wird das auch in Zukunft zu beachten wissen.
Eine Zusatzfrage, Herr Jungmann.
Herr Staatssekretär, gibt es denn überhaupt Ansätze von Überlegungen in der Bundesregierung, wie die hohe Arbeitslosigkeit in den norddeutschen Küstenländern vielleicht auf anderem Wege, als hier diskutiert, bekämpft werden kann, und wenn ja, welche Überlegungen können Sie dem Parlament denn mitteilen?
Herr Abgeordneter, das steht nun nicht in direktem Zusammenhang mit der Frage.
({0}) - Nein.
({1})
Ich habe noch den Wunsch des Abgeordneten Hiller nach einer Zusatzfrage. Diesen werde ich noch berücksichtigen.
Herr Staatssekretär, können Sie etwas über den finanziellen Spielraum sagen, von dem die Bundesregierung bei diesen Überlegungen ausgeht?
Der finanzielle Spielraum ist ja durch den Vorschlag, der hier gemacht worden ist, in gewisser Weise vorgegeben. Es dreht sich darum, daß 10 Milliarden DM Sozialhilfekosten übernommen werden sollen, daß hierfür - das würde rund 5 Milliarden DM ausmachen - Umsatzsteuer auf den Bund übertragen werden soll und daß der Rest - das ist der weitere Punkt des Vorschlages - durch Verbrauchsteuererhöhungen refinanziert werden soll. Die Schwierigkeiten, die sich hiermit schon stellen, sind all denjenigen bekannt, die die Diskussion der letzten Monate verfolgt haben, Herr Kollege.
Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Jungmann auf:
Mit welchem finanziellen Aufwand beabsichtigt die Bundesregierung, die hohe Arbeitslosigkeit in den vier norddeutschen Küstenländern zu bekämpfen, und trifft es zu, daß der Bundeskanzler solche Hilfen nur dem Niedersächsischen Ministerpräsidenten zugesagt hat?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Jungmann, die Verbesserung der schwierigen Arbeitsmarktlage ist eines der vorrangigen wirtschaftspolitischen Ziele der Bundesregierung. Zur Lösung dieser Frage steht die Bundesregierung in einem ständigen Gedankenaustausch mit allen Bundesländern.
Herr Jungmann, Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, können Sie hier denn mitteilen, zu welchen Ergebnissen dieser Gedankenaustausch insbesondere mit den norddeutschen Küstenländern zur Verbesserung der Arbeitsmarktsituation in den norddeutschen Küstenländern geführt hat?
Ich habe eben bereits gesagt, Herr Kollege, daß die Bundesregierung dem Norden unseres Vaterlandes in der letzten Zeit sehr substantielle Finanzhilfen hat zukommen lassen, um die Situation, die hier zu beklagen ist, mildern zu helfen.
Sie haben eine weitere Zusatzfrage, Herr Jungmann.
Herr Staatssekretär, würden Sie die Freundlichkeit besitzen, mir einmal mitzuteilen, welche besonderen finanziellen Förderungen für die norddeutschen Küstenländer auf Grund der großen Aufmerksamkeit, die die Bundesregierung der hohen Arbeitslosigkeit in diesen norddeutschen Küstenländern widmet, erfolgt sind?
In den letzten Jahren sind hier Finanzhilfen in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen DM gegeben worden, Herr Kollege.
({0})
Herr Uldall, mein Problem ist folgendes. Ich hätte gerne noch Ihre Frage als letzte aufgerufen, obwohl wir bereits eine Minute über die Zeit sind. Ist es Ihnen lieber, Ihre Frage noch beantwortet zu bekommen?
Dann lieber meine Frage.
Ich fände es nicht ganz fair, wenn wir hier lauter Zusatzfragen zulassen und Ihre Frage nicht mehr drannehmen. Deshalb rufe ich jetzt die Frage 56 auf, Herr Uldall.
Welche Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, im Rahmen der Steuerharmonisierung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ({0}) die von den meisten Staaten abweichende Besteuerung der Kapitalerträge in Luxemburg der Praxis in den übrigen EG-Staaten anzugleichen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Uldall, die Bundesregierung sieht zur Zeit keine realistischen Möglichkeiten, durch die Steuerharmonisierung die luxemburgische Besteuerung der aus Luxemburg abfließenden Kapitalerträge der Praxis in den meisten übrigen EG-Staaten anzugleichen und dabei zur Einführung einer Kapitalertragssteuer auch in Luxemburg zu kommen. Die vorgesehene Liberalisierung des Kapitalverkehrs macht es allerdings notwendig, auch die Besteuerung der Kapitalerträge in Europa neu zu erörtern. Bei diesen Gesprächen wird sich die Bundesregierung für eine möglichst breite Harmonisierung einsetzen.
Zusatzfrage, Herr Uldall.
Werden diese Harmonisierungsbemühungen sich auch auf die direkten Steuern erstrecken, oder konzentriert sich das im wesentlichen auf die indirekten Steuern wie z. B. die Salzsteuer?
Sie wissen, Herr Kollege, daß die Harmonisierung der indirekten Steuern der Problemkreis ist, der zuerst auf der Tagesordnung steht. Aber es wird natürlich im weiteren Verlauf und im weiteren Erreichen des Binnenmarktes notwendig sein, daß wir auch an diesen Bereich herangehen.
Letzte Zusatzfrage, Herr Uldall.
Sieht die Bundesregierung, Herr Staatssekretär, die Durchführung der sogenannten kleinen Kapitalertragsteuer in der Bundesrepublik dadurch gefährdet, daß eben ein Schlupfloch in Luxemburg besteht?
Nein, Herr Kollege, die Bundesregierung ist nach eingehender Prüfung dieser Frage und nach eingehender Diskussion der Meinung, daß das nicht der Fall sein wird.
Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs, weil die Frage 57 des Abg. Gerster ({0}), die Fragen 58 und 59 des Abg. Dr. Jobst, die Fragen 60 und 61 des Abg. Hinsken, die Frage 62 des Abg. Grünbeck sowie die Fragen 63 und 64 des Abg. Conradi auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Der Abg. Dr. Hauchler hat seine beiden Fragen 77 und 78 zurückgezogen.
Wir sind am Ende unseres Zeitbudgets für die Fragestunde. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen.
Vizepräsident Westphal
Ich rufe nun den nächsten Tagesordnungspunkt auf; es handelt sich um den Zusatztagesordnungspunkt 2:
Aktuelle Stunde
Pläne der Bundesregierung zur Änderung der Bedingungen für die Zulassung von Konfliktberatungsstellen für Schwangere.
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Dobberthien.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Der Wirrwarr aus dem Hause Süssmuth ist perfekt. In der Koalition vereinbart, seit Beginn der Legislaturperiode wiederholt angekündigt, inhaltlich bereits von vielen Ärzten, Beratungsstellen und Frauenverbänden abgelehnt, vom Koalitionspartner heftig kritisiert, nun liegt er vor: der Entwurf eines sogenannten Beratungsgesetzes zum § 218.
Dieses Hin und Her haben Frauen, Ärzte und Beratungsstellen enorm verunsichert. Deshalb haben wir, die sozialdemokratische Bundestagsfraktion, eine Aktuelle Stunde zu den Plänen der Bundesregierung für ein Beratungsgesetz beantragt.
Die Öffentlichkeit hat Anspruch, zu erfahren, was auf Schwangere in schwierigen Konfliktsituationen zukommen soll. Was unter dem harmlosen Titel „Schwangerenberatungsgesetz" ausgebrütet wurde, ist reiner Etikettenschwindel. „Bedrängungsgesetz" wäre der angemessenere Name gewesen.
({0})
Erstens. Der Druck auf Beratungsstellen nimmt zu. Ihnen wird die Pflicht auferlegt, Frauen zur Austragung ihrer ungewollten Schwangerschaft zu drängen. Andernfalls verlieren sie ihre Anerkennung.
({1})
Aus der vertrauensvollen Beratung wird die direktive Beratung.
({2})
Lesen Sie selber Ihren Gesetzentwurf.
({3})
Zweitens. Der Druck auf Ärzte wird erhöht. Der beratende und die Indikation stellende Arzt soll zur Teilnahme an jährlichen Fortbildungsveranstaltungen, die aber nicht medizinischer Art sind, verpflichtet werden. Verstöße des indizierenden Arztes werden mit Bußgeldern bis zu 10 000 DM geahndet. Welcher Arzt ist unter solchen Bedingungen noch bereit, an der Fortbildung teilzunehmen und Eingriffe vorzunehmen?
Drittens. Der größte Druck aber wird den betroffenen Frauen aufgebürdet. Dem Entwurf liegt ein zutiefst frauenfeindliches Menschenbild zugrunde.
({4})
Es wird unterstellt, werdendes Leben müsse vor der Mutter statt gemeinsam mit ihr geschützt werden. Daher erzwingt die Bundesregierung durch Aufbau neuer Barrieren massiven und einseitigen Einfluß auf die verantwortliche Entscheidung der Frau. Mehrfach kontrolliert, zur Fortsetzung der Schwangerschaft genötigt werden Frauen wieder einem demütigenden Hürdenlauf ausgesetzt. Dem werden sich viele Frauen entziehen. Es ist zu befürchten, daß wohlhabende Frauen wieder ins Ausland fahren, während schwächere in die Illegalität abgedrängt werden.
({5})
- Nein, wir haben es eben nicht gerne so.
Frau Ministerin Süssmuth, Sie enttäuschen die Hoffnung zahlloser Frauen. Das sogenannte Beratungsgesetz wird das erste eigene frauenpolitische Gesetz seit Ihrer Amtsübernahme sein. Sie nennen sich Ministerin für Frauen, aber dieses Gesetz ist kein Gesetz für Frauen,
({6}) sondern ein Antifrauengesetz.
({7})
Auch wenn der § 218 formal bestehenbleibt, wird er mit Ihren Plänen substantiell ausgehöhlt. Ich sage Ihnen: Dieses Gesetz wird keinen Schwangerschaftsabbruch verhindern, sondern nur Tränen, Angst und Heimlichtuerei wieder verstärken.
({8})
Sie riskieren wieder neue Grauzonen. Das wäre ein Rückfall in die Zeit vor 1975.
Frau Ministerin, Sie sind klug genug zu wissen, daß die Gleichung „höherer Druck auf Schwangere gleich weniger Abbrüche" nicht aufgeht. Das Gegenteil gilt. Gehen Sie den erfolgreicheren holländischen Weg mit niedrigeren Abbruchzahlen! Greifen Sie zu wirklich geeigneten Maßnahmen, z. B. zu Prophylaxe, Aufklärung, vorbeugende Verantwortung des Mannes! All dies haben Sie in Ihrem Gesetzentwurf sträflich vergessen.
({9})
Warum nur Millionen für die AIDS-Verhütung und nichts für die Verhütung unerwünschter Vaterschaften? Beachten Sie doch hier einmal das Verursacherprinzip!
Frau Süssmuth, wir bitten Sie: Machen Sie Ihrem Namen als Frauenministerin Ehre! Seien Sie so mutig wie bei AIDS! Werfen Sie die Pläne zur Erschwerung der Beratung in den Papierkorb der Geschichte!
({10})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Verhülsdonk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Dobberthien, ich habe die Debatten der 70er Jahre mitgemacht, und ich weiß, was damals an Verwirrung und Verunsicherung der Frauen angerichtet worden ist. Es
ist sehr bedauerlich, daß Sie jetzt eine Neuauflage dieser Debatten inszenieren wollen.
({0})
Sie polemisieren und verwirren. Deswegen will ich einen betont sachlichen Beitrag zu dem leisten, um was es geht.
({1})
Der Schutz des menschlichen Lebens, auch des ungeborenen, ist eine Zentrale Aufgabe des Staates. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Grundsatzurteil vom 25. Februar 1975 dem Gesetzgeber, also auch Ihnen, ins Stammbuch geschrieben. Danach wird vom Staat erwartet, daß er „Beratung und Hilfe anbietet mit dem Ziel, die Schwangere an die grundsätzliche Pflicht zur Achtung des Lebensrechts des ungeborenen Lebens zu mahnen, sie zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen und sie - vor allem in Fällen sozialer Not - durch praktische Hilfemaßnahmen zu unterstützen".
({2})
Das Bundesverfassungsgericht hat also ganz konkrete Zielvorgaben für die Schwangerschaftskonfliktberatung, wie sie im geltenden § 218b vorgeschrieben ist, gemacht. Leider, kann ich nur sagen, haben wir 13 Jahre gebraucht, bis wir jetzt darangehen, diese Vorgaben des Gerichts endlich bundesweit gleichermaßen umzusetzen. Ein Bundesberatungsgesetz zum § 218, wie es die Bundesregierung jetzt auf der Grundlage der Koalitionsbeschlüsse von CDU/CSU und FDP einbringen will, ist meines Erachtens längst überfällig.
({3})
Es ist vor allem deswegen überfällig, weil die SPD weder während ihrer Regierungszeit in Bonn noch in den von ihr regierten Ländern dafür gesorgt hat, daß der Verfassungsauftrag auch nur annähernd von den Beratungsstellen erfüllt werden kann. So sind die Beratungsstellen in den SPD-Ländern personell und finanziell so schlecht ausgestattet, daß sie sich nicht zur Vermittlung konkreter Hilfen an schwangere Frauen in Notlagen imstande sehen. Das behauptet Pro Familia bekanntlich immer wieder. Nicht einmal die Bundesmittel aus der Stiftung „Mutter und Kind" werden den Frauen vermittelt, auch wenn sie nachfragen. Eigene Landesstiftungen der SPD fehlen überall.
({4})
Die schlechte personelle Ausstattung der Beratungsstellen führt dazu, daß für die Beratung einer Frau in einer Konfliktsituation lediglich eine halbe bis eine Stunde Zeit zur Verfügung steht. Das soll ausreichen bei einer sowohl für die Mutter wie für das ungeborene Kind so schwerwiegenden Entscheidung?
Ein wesentliches Ziel des Beratungsgesetzes ist es deshalb, in allen Bundesländern gleich gute Voraussetzungen für die Arbeit der Beratungsstellen zu schaffen.
({5})
Wir wollen sicherstellen, daß werdende Mütter in Notlagen eine so umfassende Beratung in Anspruch nehmen können, wie sie sie benötigen, auf Wunsch auch noch nach der Geburt ihres Kindes. Die Frauen sollen schon in den Beratungsstellen erfahren, welche materielle Unterstützung und welche menschliche Hilfe sie erhalten können und nicht mehr von einem Amt zum nächsten geschickt werden.
Wer darauf mit bösartiger Polemik reagiert wie Sie, meine lieben Kolleginnen, muß sich fragen lassen, was er eigentlich will und ob ihm überhaupt daran gelegen ist, den Frauen ein Ja zu ihrem Kind zu ermöglichen. Das dumme Gerede der SPD-Kolleginnen von der Bevormundung der Frauen zeigt doch nur, wie wenig sie davon wissen, unter welchem psychischen Druck die Frauen oft stehen, vom Partner alleingelassen oder gar zum Abbruch gedrängt. Wie sollen sie, auf sich allein gestellt, da überhaupt einen Ausweg finden, wenn nicht mit Hilfe von Beratung?
Das Beratungsgesetz will den von unserer Verfassung gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens verbessern. Abtreibung ist Tötung ungeborenen Lebens und kann nur straffrei gelassen werden, wenn die schwere Notlage der Frau auf keine andere zumutbare Weise abgewendet werden kann, sagt das Verfassungsgericht in seinem Urteil.
Erst vor einer Woche haben wir hier ernst und verantwortlich über die Möglichkeiten und Gefahren der Fortpflanzungsmedizin diskutiert. Da waren sich alle einig, daß werdendes menschliches Leben in der Retorte vor dem Forscherdrang geschützt werden müsse. Ich kann mich nur wundern, wenn dem Embryo im Mutterleib weniger Schutz und Lebensrecht zugestanden werden soll.
({6})
Das Beratungsgesetz bedeutet keine Änderung des geltenden Strafrechts. Es soll aber dafür sorgen, daß die im Strafrecht vorgeschriebene Beratung ernstgenommen wird, denn hier geht es um das Prinzip „Hilfe statt Strafe".
({7})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Endlich haben wir Gelegenheit, über ein Gesetz zu debattieren, das nunmehr seit über einem Jahr wie ein Damoklesschwert über den Köpfen der Frauen hängt. Was uns in den letzten Tagen als Vorlage für das Beratungsgesetz bekanntgeworden ist, ist noch eine Verschärfung gegenüber den ursprünglichen Plänen. Und die waren schon schlimm genug. Aber wir freuen uns, daß die Frauen in der Koalition offenbar nicht alles schlucken wollen, was ihnen da vorgesetzt wurde, zumal wir feststellen mußten, daß das Beratungsgesetz in wesentlichen Teilen einfach vom bayerischen Beratungsgesetz abgeschrieben worden ist.
Es ist allerdings auch zu hoffen, daß am Ende des Streits, der sich ja nun abzeichnet, nicht nur einige kosmetische Änderungen herauskommen werden; denn das geplante Beratungsgesetz ist in allen seinen Elementen eine Zumutung für Frauen. Das positive Wort Beratung, der positive Sinn von Beratung wer4414
den von Ihnen, Frau Süssmuth, für ein Gesetz mißbraucht, das einzig und ausschließlich auf die Bevormundung von Frauen zielt.
({0})
Der Trick dabei ist, daß Sie den Zugriff auf die Frauen über diejenigen planen, von denen Frauen in der schwierigen Situation einer ungewollten Schwangerschaft besonders abhängig sind. Eingeschüchtert werden durch das Beratungsgesetz nämlich die Ärzte und Beraterinnen. Aber die Leidtragenden sind am Ende die Frauen; denn die angedrohten drakonischen Bußgelder und Sanktionen werden nur dazu führen, daß immer weniger Ärzte überhaupt noch bereit sind, Frauen zu helfen. Mit anderen Worten: Es wird immer schwieriger, einen Arzt zu finden, der den Abbruch vornimmt. Die Frauen werden wieder viel häufiger selbst bezahlen müssen. Sie werden wieder eher sexuell erpreßbar durch skrupellose Ärzte. Das ist keineswegs übertrieben schwarzgemalt; denn das alles hat es schon einmal gegeben.
Das geplante Beratungsgesetz hat also nicht nur symbolischen Charakter, um die Scharfmacher in den Reihen der Union zufriedenzustellen. Es ist ein ernst zu nehmender Angriff auf die halbwegs liberale Abtreibungspraxis, die es ohnehin nur in einigen Regionen der Bundesrepublik gibt.
Diese liberale Praxis gilt es zu verteidigen. Aber - das möchte ich den lieben Kolleginnen von der SPD sagen - es muß auch klipp und klar gesagt werden, daß der bestehende § 218 mit der Zwangsberatung die juristische und ideologische Grundlage für die von der CDU/CSU jetzt vorangetriebenen Verschärfungen ist.
({1})
Das Beratungsgesetz ist kein Angriff auf den § 218, sondern es ist der bestehende § 218 auf die Spitze getrieben.
({2})
Schwangerschaft gegen den Willen der Frau ist wie eine Vergewaltigung. Nur die Betroffene selbst kann entscheiden, ob sie eine ungewollte Schwangerschaft dennoch annehmen will oder ob sie ablehnt, das zu tun. Frau Süssmuth setzt auf Bevormundung, wir GRÜNEN setzen auf die Entscheidungsfreiheit der Frauen.
Die Konfliktsituation einer ungewollten Schwangerschaft ist nicht zu lösen durch Verbote, durch Demütigungen und auch nicht durch das Einreden von Muttergefühlen. Sie ist nur dadurch zu lösen, daß eine liberale Atmosphäre geschaffen wird, in der sich jede Frau darüber klarwerden kann, was sie will, in der sie frei und ohne Sanktionen entscheiden kann
({3})
und in der alle notwendigen Voraussetzungen dafür existieren, daß ihre Entscheidung auch wirklich frei ist.
Dazu gehört, daß es keine sozialen und materiellen Notlagen geben darf, die für eine Frau der Grund zur Abtreibung sein könnten. Diesem Ziel sollten Sie sich einmal widmen, meine Damen und Herren von der CDU/CSU,
({4})
und zwar nicht mit symbolischen Kleckerbeträgen à la „Mutter und Kind", sondern durch Maßnahmen gegen Frauenerwerbslosigkeit und durch die Schaffung von Rechtsansprüchen - wohlgemerkt - auf ausreichende soziale Leistungen.
({5})
Solange Sie das nicht tun, solange sind Sie für jede Abtreibung, die auf Grund einer materiellen Notlage vorgenommen wird, mit verantwortlich.
({6})
Zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit von Frauen gehört ebenso, daß es in jeder Stadt und in jedem Landkreis die Möglichkeit zum ambulanten Schwangerschaftsabbruch gibt. Dazu gehört auch ein umfassendes Beratungsangebot, und zwar auf der Basis von Freiwilligkeit. Dazu gehören bessere Aufklärung und krankenkassenfinanzierte Verhütungsmittel.
Wenn diese Bedingungen erfüllt sind - einen entsprechenden Gesetzentwurf haben wir GRÜNEN ja gestern vorgestellt -, dann und nur dann - das garantiere ich Ihnen - werden Abtreibungen zu einem früheren Zeitpunkt als heute stattfinden, wird es weniger ungewollte Schwangerschaften geben und wird es damit letztlich auch weniger Abtreibungen geben, als das heute in der Bundesrepublik der Fall ist.
({7})
Das beweisen die Erfahrungen in anderen Ländern.
Wären also weniger und frühere Abtreibungen Ihr Hauptziel, dann würden Sie unsere Vorschläge unterstützen. Daß Sie statt dessen dieses Beratungsgesetz planen, zeigt, daß Sie anderes im Kopf haben. Ihnen geht es nämlich offensichtlich gar nicht in erster Linie um die psychischen Probleme von Frauen, auch nicht um das Wohl der Kinder oder um die Zahl der Abtreibungen. Dann würden Sie nämlich anders handeln.
Ihnen geht es um nichts anderes als um die Kontrolle und Bevormundung von Frauen.
({8})
Die sind zu aufmüpfig und zu anspruchsvoll geworden. In einer Zeit, wo Erwerbsarbeit knapp ist und die Geburtenrate nicht nach den Wünschen der Bevölkerungspolitiker ausfällt, ist Gebärpflicht angesagt. Das und nichts anderes ist der schnöde Hintergrund für all die Moral, die uns hier dauernd um die Ohren geschlagen wird.
({9})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Bei dem Entwurf handelt es sich um ein Ausführungsgesetz zu den §§ 218 und 219 des Strafgesetzbuchs. Es versteht sich
Deutscher Bundestag - 1 i. Wahlperiode Frau Würfel
von selbst, daß ein Ausführungsgesetz nicht das eigentliche Gesetz verschärfen kann. Einige Passagen des Entwurfs bedürfen deshalb aus unserer Sicht der Korrektur.
Es ist an uns, diesen Entwurf mit einer liberalen Handschrift zu versehen und unterschiedliche Interessenlagen, die unter Koalitionspartnern ganz selbstverständlich sind, auf der Basis der Koalitionsvereinbarung zu berücksichtigen. Dabei gilt es folgendes zu beachten:
Wir alle, die wir mit diesem Gesetzentwurf befaßt sind, werden gemeinsam darauf achten müssen, daß aus unserer guten Absicht, den Frauen eine qualifiziertere und sachkundigere Beratung anzubieten, am Ende nicht ein Beratungsverhinderungsgesetz wird.
({0})
Für mich bedeutet dies, daß wir ratsuchende Frauen einerseits durch ein Gesetz nicht bevormunden dürfen, daß andererseits jedoch sichergestellt sein muß, daß einer ratsuchenden Frau, die sich in einer für sie ausweglos erscheinenden Konfliktsituation befindet, eine Beratung angeboten wird, bei der sie das Gefühl hat, in ihrer eigenen persönlichen, fraulichen Menschenwürde begriffen zu werden.
({1})
Keinem Menschen, keinem Mann und keiner Frau, fällt es leicht, sein Innerstes zu offenbaren und vor fremden Menschen alle Gedankengänge, alle Nöte, alle Lebensumstände darzulegen. Wir dürfen auch nicht vergessen, daß hinter einer Frau, die eine Beratungsstelle aufsucht, in vier von fünf Fällen ein Mann steht, der sie durch Druck auf sie oder durch mangelnde Zuwendung und mangelnde Unterstützung in dieser Situation veranlaßt, einen Abbruch der Schwangerschaft überhaupt in Erwägung zu ziehen.
({2})
Bevor eine Frau eine Beratungsstelle betritt, hat sie bereits einen Kampf in sich ausgefochten, ganz zu schweigen von der Auseinandersetzung mit dem Erzeuger des ungeborenen Lebens. Können Sie sich eine Frau vorstellen, bei der die Regel für einige Tage ausgeblieben ist und die in diesen Tagen nicht abgewogen hätte, was für Konsequenzen die Schwangerschaft für sie selbst hätte und ob sie den berechtigten Ansprüchen und Bedürfnissen eines Kindes an Liebe und Zuwendung emotional, räumlich und zeitlich gerecht werden kann?
({3})
Wenn eine problemorientierte Beratung dem Anspruch genügen soll, den wir an eine Beratung stellen, dann muß diese Beratung die Frau befähigen, eine Entscheidung zu treffen, mit der sie ein ganzes Leben lang zu leben hat.
({4})
In jedem Fall muß es die Frau tragen, egal, in welche Richtung sie sich nach sorgfältigem Abwägen aller für sie bedeutsamen Gesichtspunkte entscheidet.
Für mich steht außer Frage, daß eine fundierte, sachkundige, problemorientierte Beratung mit dem Aufzeigen von Problemlösungen, z. B. der Vermittlung eines Ausbildungsplatzes oder der Bereitstellung von Kinderbetreuung oder der Zusage eines Arbeitsplatzes, sowie die Zurverfügungstellung ausreichender finanzieller Mittel einer ratsuchenden schwangeren Frau ihre Zweifel nehmen können, ob sie sich dieser Schwangerschaft gewachsen fühlt und ob sie ihrer Verantwortung gegenüber dem geborenen Leben gerecht werden kann.
({5})
Entscheidend wird es dabei darauf ankommen, daß die ratsuchende Frau sicher sein kann, daß ihr gesellschaftliches Umfeld, das heißt ganz besonders ihr Partner, ihre Entscheidung für das Kind mitträgt.
({6})
Die Gesellschaft kann nicht einerseits ihr Gewissen dadurch erleichtern, daß sie für das ungeborene Leben zu Recht einen ganz besonderen Schutz verlangt, während sie auf der anderen Seite dem geborenen Leben und damit auch der Mutter nicht genug Hilfestellung gibt.
({7})
Wenn es in der Begründung zum Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1975 heißt, daß mit einer Entschärfung des Straftatbestands „Schwangerschaftsabbruch" die Schaffung einer kinderfreundlichen Umwelt einherzugehen hat, darf hier nicht nur die Frage erlaubt sein, wie weit wir mit der Schaffung dieser kinderfreundlichen Umwelt gekommen sind, sondern sind wir gehalten, auf die teilweise erbärmliche Situation Alleinerziehender in unserer Gesellschaft hinzuweisen,
({8})
wobei auch die hohe Rate an Kinderselbstmorden und die hohe Rate an Kindesmißhandlungen ebenso erwähnt werden müssen wie das Fehlen kindergerechter Arbeitszeiten,
({9})
das Fehlen von Kinderbetreuungseinrichtungen beispielsweise bei Unternehmen, der Mangel an Ganztagsschulen, das Fehlen steuerlicher Absetzbarkeit von Haushaltshilfen in Privathaushalten
({10})
und die längst nicht gelöste Fragestellung der Vereinbarkeit von Kindern und Erwerbstätigkeit.
({11})
Hier müssen wir ebenso ansetzen, wenn wir das ungeborene Leben wie das geborene Leben schützen wollen.
({12})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Weyel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es gut, daß wir uns heute zu einem Zeitpunkt über den Inhalt des vorgesehenen Gesetzes unterhalten, wo es noch nicht als fertige Drucksache vorliegt und man manches, was heute gesagt wird, vielleicht noch bedenken kann.
Die Bundesregierung will für die Anerkennung der Beratungsstellen einheitliche Regelungen treffen, aber gleichzeitig wird das dann in einem Satz dadurch wieder aufgehoben, daß man den Ländern die Kompetenz gibt, darüber hinaus Anerkennungsvoraussetzungen zu bestimmen, und insofern, Frau Verhülsdonk, stimmt Ihre Aussage der gleichen Bedingungen in allen Ländern eben dann nicht mehr.
({0})
Ich möchte nur auf die eine Forderung eingehen, daß Fachleute, wie Ärzte, Juristen und Psychologen, am Ort der Beratungsstelle zur Verfügung stehen müssen. Ich bin Abgeordnete aus einem großen, ländlichen Wahlkreis. Wenn diese Bestimmung hier hereinkommt, dann heißt das, daß ein großer Teil unserer bestehenden Beratungsstellen nicht mehr arbeiten kann, weil diese Bedingung im ländlichen Raum nicht überall zu erfüllen ist. Auch hier, Frau Verhülsdonk, sieht das in Ihrem Koblenzer Bereich sicher anders aus. Fragen Sie mal bei den Westerwälder Beratungsstellen nach, wie dort die Situation ist!
Ich habe in den letzten Monaten Gespräche mit allen Beratungsstellen, von den kirchlichen Einrichtungen über die Freien Wohlfahrtsverbände bis zu Pro Familia geführt, und zwar nicht mit den Geschäftsführern, sondern mit den Beraterinnen. Ich möchte daraus einfach einige Tatsachen hier vorstellen und Sie fragen, ob sich daran eigentlich mit einer gesetzlichen Änderung etwas bewegen würde.
Es wird mir berichtet, daß eines der größten Probleme die Schwellenangst der Frauen vor der Beratung überhaupt ist, weil sie gezwungen werden, vor einer ihnen meist unbekannten Person viele Einzelheiten ihres Privatlebens auszubreiten. Viele Beraterinnen haben mir gesagt: Auch heute schon liegt die Vermutung nahe, daß eine ganze Anzahl von Frauen, die es sich finanziell leisten können, eben diesen beschwerlichen Weg nicht gehen und gleich den Weg ins Ausland nehmen.
Ein Zweites ist die Frage, was eigentlich das Hauptproblem bei den Frauen ist, die zur Beratung kommen, vor allem aus einer sozialen Notlage. Da steht an erster Stelle das Partnerschaftsproblem. Die Frau, die sich negativ mit der Schwangerschaft auseinandersetzt, hat meistens als größtes Problem, daß sie vom Partner nicht unterstützt oder verlassen ist. Es ist auch heute so, daß die Partner in den normalen Fällen kaum bereit sind, sich zur Beratung einzufinden, daß sie sich drücken. Eine Ausnahme bilden die sehr jungen Paare - die Grenze wird bei etwa 25 Jahren angesetzt - , die zu zweit kommen. Denen ist dann auch in vielen Fällen zu helfen, wobei man auch das gesamte Lebensumfeld betrachten muß.
Da haben wir eine weitere Entwicklung, die ich als sehr negativ ansehe. Wir haben eine große Anzahl von
Beratungsstellen, in denen es außer der Schwangerenberatung noch andere Beratungsbereiche gibt. Eines der großen Probleme, die es zur Zeit in diesen Beratungsstellen gibt, ist die Schuldnerberatung; denn viele Familien geraten beim Verlust des Arbeitsplatzes des Hauptverdieners nicht nur in die Situation, einen Arbeitsplatz finden zu müssen, sondern z. B. auch in die Situation, daß ihr Haus versteigert werden soll, weil sie die Raten nicht mehr zahlen können und derartiges mehr. Die Schuldnerberatung ist eine ganz wichtige Beigabe - das hat auch Frau Würfel soeben ausgeführt - zu der Beratung der Schwangeren.
({1})
Ich stelle fest, daß zur Zeit in zahlreichen Einrichtungen Beratungen eingeschränkt oder völlig eingestellt werden, weil Personal wegen Geldmangels entlassen wird oder Zeitverträge nicht verlängert werden.
Ich möchte noch eine letzte Gruppe erwähnen: Das ist die Gruppe der sehr jungen Frauen, die häufig gar nicht oder zu spät kommen, teils aus Unkenntnis, teils aber auch aus dem Grunde, weil sie einem extremen psychischen Druck sowohl aus der Familie als auch vom Ausbildungsplatz oder vom Arbeitgeber ausgesetzt sind, daß sie sich erst trauen, wenn es eigentlich schon zu spät ist. All diese Dinge, Frau Süssmuth, werden durch Ihr Gesetz nicht geändert. Deswegen bitte ich Sie, noch einmal sehr sorgfältig darüber nachzudenken.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Männle.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Selbsternannte Krisenmanagerinnen der SPD beantragten eine Aktuelle Stunde zu einem geplanten Gesetz, das momentan noch nicht einmal als Referentenentwurf existiert.
({0})
Sie veranstalten verbale Schlammschlachten.
({1})
Davon möchte ich ganz ausdrücklich Frau Weyel ausnehmen,
({2})
die von ihrer eigenen Fraktion wegen ihrer sehr sachlichen Rede leider überhaupt keinen Beifall bekommen hat.
({3})
- Leider.
Ich erinnere an die gestrige SPD-Pressekonferenz. Hier herrschte der Kampfruf: Geschlossenheit und Widerstand gegen die selbstaufgebauten Buhmänner von CDU und CSU - Frau Dobberthien hat vorhin noch Frau Süssmuth diesen Buhmännern zugesellt - die sich auf dem Weg zur groß angelegten EntmündiFrau Männle
gung, Diskriminierung und Gängelung von Frauen befänden.
Wahrheitsgemäße Aufklärung ist für viele von Ihnen ein Fremdwort. Differenzierte Argumentation wie die soeben von Frau Weyel weicht leider häufig plattem politischen Marketing.
({4})
Wir verwahren uns gegen den unverschämten Vorwurf, wir betrachteten Frauen als dumm, unmündig und - so ist gestern noch gesagt worden - blutrünstig. Erinnern wir uns doch an die Debatten im Rahmen der Reform des § 218. 1974 hieß es - ich würde sagen: vielversprechend - im Entschließungsantrag der Fraktionen der SPD und FDP:
Die Beratung soll insbesondere über solche zwischenmenschliche, gesellschaftliche und staatliche Hilfsangebote unterrichten, die die Fortsetzung der Schwangerschaft in verantwortlicher Entscheidung der Mutter sowie die Lage der Mutter selbst und des Kindes erleichtern können.
Ein Jahr später präzisierten die Verfassungsrichter die Aufgabe von Beratungsstellen. Frau Verhülsdonk hat vorhin darauf hingewiesen; ich brauche es deshalb nicht extra zu zitieren. Aber leider besteht die Notwendigkeit, selbstverständliches Gedankengut und höchstrichterliche Entscheidungen zu wiederholen. Das zeigt sich in Veröffentlichungen des DGB, in „Frauen und Arbeit" , wo von einer Pro-Familia-Vertreterin steht: „Schwangerschaftsabbruch ist ein normales Ereignis im Leben vieler Frauen. Deshalb gehört es auch als normaler Teil zum Leben einer Gesellschaft dazu." - Das ist nicht unsere Position.
({5})
Frau Krieger, wir wollen keinen früheren Schwangerschaftsabbruch, wir wollen überhaupt keinen Schwangerschaftsabbruch.
({6})
Frauen befinden sich bei Schwangerschaften zugegebenermaßen manchmal in Konfliktsituationen. Hierzu wollen wir Beratung anbieten. Beratung zugunsten des Lebens ist Ausdruck der Werteordnung unserer Verfassung. Dies - wiederum an Sie gerichtet, meine Damen von der SPD - als sanfte Gewalt, als versteckte Bevormundung, als Entmündigung zu bezeichnen heißt nicht nur den Staat von seiner Schutz- und Fürsorgepflicht freizusprechen, sondern auch die einzelne Frau sich selbst zu überlassen.
({7})
Eigenverantwortliches Handeln der Frau und Verantwortung der Gesellschaft für die Frauen sind keine Gegensätze.
Wir wollen helfende Beratung, und wir wollen, daß in dieser helfenden Beratung alle in die Pflicht genommen werden. Der Entschluß, eine Schwangerschaft fortzusetzen, ist vielfach von der Einschätzung, der Toleranz und der Hilfe abhängig, die die Frau von der Familie und der sozialen Umwelt erwarten kann. Das vorschnelle Verurteilen einer Frau, die sich zu einer Abtreibung entschließt, ist heuchlerisch, wenn Väter,
Verwandte, Bekannte, Arbeitgeber und Mitbürger die Erziehungsleistung einer Frau als individuelles Geschäft betrachten und sich als kritische Kommentatoren verstehen,
({8})
sich anmaßen, ab und an mit mahnendem und strafendem Blick die Erziehung zu begleiten, ohne selbst Mitverantwortung zu tragen.
({9})
In einem geplanten Beratungsgesetz wollen wir, vorausgesetzt, die Ratsuchende wünscht es, Väter und ihr nahestehende Personen miteinbeziehen; besonders die Väter sind gefordert. Ihr Mittun am Entstehen neuen Lebens schließt auch Mitverantwortung für das entstandene Leben ein. Wir wollen flächendeckende Beratung. Wir wollen, daß Beratungsstellen finanziell verbessert werden. Ganz richtig, Frau Weyel, dies ist notwendig. Dazu brauchen wir das Beratungsgesetz. Wir brauchen die Einheit von Beratung und Vermittlung von Hilfsangeboten.
({10})
Wir wollen gut informierte und motivierte Beraterinnen. Dazu ist es notwendig, daß auch diese eine Unterstützung erhalten. Wir wollen Beratung, die nicht nur die Schwangerschaft selbst begleitet, sondern darüber hinaus auch später angeboten wird, auf Wunsch auch mehrere Jahre. Dazu brauchen wir ein Schwangerschaftsberatungsgesetz.
({11})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Becker-Inglau.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Männle, ich habe Sie in meiner sehr kurzen Zeit hier im Parlament eigentlich schon sehr viel sachlicher, besser und nicht so polemisch erlebt.
({0})
Wenn Sie sich für das Beratungsgesetz einsetzen, wäre es viel besser, Sie würden schon vorher etwas für Aufklärung, angefangen in Schulen, tun.
Aber nun zu dem, was ich dazu zu sagen habe. In einem Beratungszentrum für Familienplanung und Schwangerschaftskonflikte und Fragen der Sexualität in meiner Heimatstadt sind an einem Tag, wie es der Zufall so will, von der gleichen Beraterin zwei Beratungen bei zwei Studentinnen durchgeführt worden, bei denen deutlich wird, daß sich Frauen zu einer bereits gefaßten Entscheidung beraten lassen wollten. In beiden Beispielen haben die Frauen eine ähnliche Familiensituation, ähnliches Alter, gleiche Semesterzahl, einen Freund, der auch studiert; Eltern nicht am Studienort; sie beziehen beide BAföG.
Die Aussage der ersten Studentin bei der Beratung: Ein Glück, ich bekomme BAföG; mit meinem Freund
ist alles okay; er macht mit und unterstützt mich beim Kriegen des Kindes; ich muß aber weiter studieren. - Die Beraterin berät in der jetzt schon möglichen Art und Weise und hilft mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln: „Wohin mit dem Kind während des Studiums?", Wohnsituation, Umzug, Schwangerschaft, Finanzen, Stiftungen, weitere Beratungsangebote und alles, was sonst noch möglich ist. - Frau Würfel, die Studentin entscheidet sich nach der bisher schon üblichen Beratung in solchen Zentren - Sie sollten da einmal nachfragen - für das Austragen des Kindes.
({1})
Zu erwarten ist eine glückliche Mutter, die das Wohl ihres Kindes im Auge hat.
({2})
Die Aussage der zweiten Studentin: Ich habe nur BAföG und muß einen Schwangerschaftsabbruch machen. Mein Freund würde das Kind wohl wollen, aber ich traue mir das nicht zu. Mit dem Studium und meinen Eltern habe ich schon so viele Probleme - sie weint dabei -; ich schaffe das alles nicht, ich bin selbst noch nicht erwachsen, ich traue mir gar nichts mehr zu. - In der Beratung kommt es zunächst zum Gespräch - auch diese Beratung ist bereits üblich - über die persönliche Situation, über die Ängste, das Selbstwertgefühl, die Partnerschaft, die Überforderung, das Angebot zu regelmäßigen Einzel- oder Gruppengesprächen für Frauen in gleichen Situationen. Darüber hinaus werden ihr alle anderen beim ersten Beispiel aufgezählten Hilfen angeboten. Es gibt keine moralischen Bewertungen seitens der Beraterin, weil jede Frau ihre eigene Entscheidung treffen, tragen und ertragen muß.
({3})
In einem zweiten Beratungstermin bittet diese junge Frau um die Ausstellung der Bescheinigung einer Notlagenindikation. Sie will zu diesem Zeitpunkt in ihrer augenblicklichen Verfassung kein Kind. Sie entscheidet sich gerade mit der Beratung nach § 218 gegen eine Fortsetzung der Schwangerschaft. Der Arzt bescheinigt ihr diese Notlagenindikation, in der diese Frau bei der schwierigen Situation steckt.
({4})
Jetzt frage ich Sie, Frau Professor Frauenministerin Süssmuth, mit welchem Recht Sie in so einem Fall einer Beraterin, einer Ärztin eines Beratungszentrums unterstellen, eine Frau zur Abtreibung verführt zu haben, statt zur Fortsetzung der Schwangerschaft gezwungen zu haben.
Bereits im Jahr der Frau 1975 war im Bundesverfassungsgerichtsurteil zu einer solchen Situation zu lesen - ich zitiere und komme da auf Frau Verhülsdonk zurück, die aus dem gleichen Urteil schon zitiert hat -:
Das Lebensrecht des ungeborenen Lebens kann zu einer Belastung der Frau führen, die wesentlich über das normalerweise mit einer Schwangerschaft verbundene Maß hinausgeht. Es ergibt
sich die Frage der Zumutbarkeit, mit anderen Worten: die Frage, ob der Staat auch in solchen Fällen mit den Mitteln des Strafrechts die Austragung der Schwangerschaft erzwingen darf. In einer solchen Konfliktlage, die im allgemeinen auch keine eindeutige moralische Bewertung zuläßt und in der die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft den Rang einer achtenswerten Gewissensentscheidung haben kann, ist der Gesetzgeber zur besonderen Zurückhaltung verpflichtet.
({5})
In Interviews zu dieser Problematik erzählen Sie sehr sympathisch, Frau Ministerin, daß sich Frauen ohne Druck für die Fortsetzung einer Schwangerschaft entscheiden können müssen. Aber meines Erachtens muß sich eine Frau ohne Druck genauso gegen die Schwangerschaft entscheiden können. Das läßt der Entwurf Ihres sogenannten Beratungsgesetzes nicht zu.
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Mit Ihrem immer noch unter der Hand verteilten sogenannten Beratungsgesetzentwurf wollen Sie die Möglichkeit der freien eigenen Entscheidung der Frau ohne Druck in eine Bevormundung der Frau umformulieren. Sie haben sich damit zum Trojanischen Pferd von denjenigen der CDU/CSU-Fraktion machen lassen, denen kein Mittel schlecht genug ist, den § 218 in der bestehenden Form auszuhöhlen, wenn man ihn schon nicht in die alte Form zurückholen kann.
({7})
Mir wäre lieber, Frau Ministerin, Sie übernähmen hierbei die Rolle der Kassandra. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, daß es die Frauen aller Fraktionen in Gemeinsamkeit zustande bringen, die jetzige Situation für die Frauen nicht zu verschlechtern,
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wie es mit dem uns ins Haus stehenden sogenannten Beratungsgesetz beabsichtigt ist. Ich kann nur die Bitte äußern: Lassen Sie dieses Gesetz in der Schublade.
Vielen Dank.
({9})
Ich erteile das Wort der Frau Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In einer Broschüre für Frauen im Schwangerschaftskonflikt unter dem Titel „Vor der Entscheidung steht die Beratung" heißt es:
Es gibt sicher Hilfen, an die Sie im Moment gar
nicht denken oder über die Sie vielleicht gar
nichts wissen. Oft gibt es Wohnungsprobleme zu klären, Ehekonflikte auszuräumen, die in Frage gestellte berufliche und schulische Ausbildung zu sichern oder ein zerbrochenes Verhältnis mit Familienangehörigen oder dem Partner wieder zusammenzufügen.
Mit diesem Text hat Katharina Focke die Frauen über die Reform des § 218 StGB im Jahre 1976 informiert. Wer heute, mit Beraterinnen, aus welcher Einrichtung auch immer, spricht, wird erfahren, daß bei allem Bemühen nach wie vor die gleichen Probleme anstehen, daß die Beratungsstellen viel leisten, aber über zuwenig Möglichkeiten verfügen, das zu erbringen, was für Frauen an Hilfen notwendig ist.
({0})
Es fehlt an vielem: an Zeit und Geld, an ausreichendem Personal.
({1})
Weil dies so ist, weil es oft nicht einmal für die Zeit reicht, die man für eine vertiefte Beratung braucht, werden viele Frauen alleingelassen, denen man helfen möchte. Wenn die Bundesregierung jetzt darangeht, die Beratung in diesem zentralen Bereich inhaltlich und von den Mitteln her zu verbessern, ihre Aufgaben insbesondere im Bereich der Hilfen und der Intensität der Beratung zu erweitern, heißt es, hier setze die Bundesregierung mit Schikanen gegen die Frauen an.
({2})
Ich habe mich stets dafür eingesetzt und mich auch oft genug dafür schelten lassen müssen, daß der Schutz des ungeborenen Lebens nicht durch eine Verschärfung des Strafrechts gewährleistet werden kann. Wer die Notlagen von Frauen ernst nimmt, kann sich hier allerdings nicht darauf beschränken, dies einfach zur Kenntnis zu nehmen, zu sagen: Die bisherigen Hilfen in der Beratung reichen aus. Frauen im Schwangerschaftskonflikt brauchen mehr Hilfe, und ich werde dafür sorgen, daß sie dieses Mehr an Hilfe auch erhalten.
({3})
Nichts zu tun ist eine diffamierende und verächtliche Antwort an die Frauen, die man mit dem Hinweis allein läßt: Es bleibt dir ja der Abbruch. Dies kann doch wirklich nur die Ultima ratio sein.
({4})
Ich lasse mir nicht vorwerfen, dies sei ein Gesetz gegen die Frauen. Wie kann ein Gesetz, das Beratung und Hilfen anbietet, gegen die Frauen gerichtet sein?!
({5})
Es gibt für mich keine Alternative zur Hilfe.
({6})
Ich denke, Sie sollten mit Nachdruck und Nachdenklichkeit jene Experten lesen, die in der Schwangerschaftskonfliktberatung seit Jahrzehnten tätig sind, auch lange Zeit bei „Pro Familia" im Kuratorium mitberaten haben, einen Mann wie Petersen, der sagt:
Wir hatten geglaubt, daß eine Zeit für einen sensibleren Umgang mit dem Schwangerschaftskonflikt gekommen sei, daß es inzwischen möglich sei, nicht die Frage der Bevormundung, sondern der schweren seelischen Krisen von Frauen nach einem Abbruch sehr viel intensiver in den Blick zu nehmen und alles zu tun, damit bei diesen Frauen durch Vermeidung des Schwangerschaftsabbruchs weniger an Schaden entsteht.
({7})
Wenn Sie erklären, Verhütung werde im Gesetzentwurf, der jetzt zur Diskussion steht, nicht beachtet, muß ich Ihnen sagen: § 4 des zukünftigen Entwurfs spricht ausdrücklich von der Familienplanung und der Notwendigkeit, diese zu intensivieren.
({8})
Abbruch ist keine Alternative und keine Abwendung der schweren Probleme.
({9})
- Das Wort „Familienplanung" kommt sehr wohl vor. Aber was Sie nicht lesen möchten, lassen sie geflissentlich aus.
({10})
Wir brauchen ein Beratungsgesetz, weil die Voraussetzungen für das, was in den 70er Jahren angekündigt und als notwendig erachtet worden ist, in der Tat nicht gegeben sind.
({11})
So wie Sie die Stiftung „Mutter und Kind" ablehnen, obwohl sie eine Hilfe für Frauen ist, so wie Sie Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub als ungeeignete Hilfe ständig kritisieren, so kritisieren Sie auch die Verbesserung der Beratung, die Ansprüche - sowohl bei den Frauen als auch in den Beratungsstellen - auf Verbesserung von Leistungen, wie es sie noch nie zuvor gegeben hat.
({12})
Sie sagen, wir legten es darauf an, Frauen zu knebeln, sie zu bevormunden. Es ist hier bereits das Verfassungsgerichtsurteil in seinen Zielbestimmungen genannt worden. Worum es hier geht, möchte ich mit Blick auf Petersen noch einmal sagen: Eine Frau, die sich in einer Drucksituation befindet, ist oft gar nicht in der Lage, Schwangerschaft überhaupt anzunehmen.
({13})
- Es geht hier nicht um Entscheidung durch jemand anderen. Wenn Sie auch hier den Entwurf aufmerksam lesen, stellen Sie deutlich fest, daß hier alle Gesichtspunkte und Hilfen an die Hand gegeben werden, damit sie letztendlich verantwortlich entscheiden kann.
({14})
Aber zu erklären, daß die Beraterinnen und Berater nicht voll mitverantwortlich sind, heißt sich der Verantwortung zu entziehen und sie auf die Frau allein
abzuschieben. In dieser Situation ist volle Mitverantwortung erforderlich und gegeben.
Ich denke, daß die hier genannten Beispiele für das Alleingelassenwerden durch Partner oder Eltern wichtige Hinweise geben, wo nicht nur Informationen über Hilfen weitergegeben werden sollen, sondern Personen zur Verfügung stehen müssen, die auch helfen, Konflikte zu lösen oder zu verringern, Wohnung, Betreuung oder Arbeitsplatz sowie Ausbildung zu gewährleisten. Ich denke, das ist eine Hilfe, die den Frauen nicht verwehrt werden sollte.
In der Frage, was in den unterschiedlichen Regionen gegeben sein muß, geht es darum, daß ein Arzt, Jurist oder Psychologe hinzugezogen werden kann, aber nicht hinzugezogen werden muß. Ich kann mich nur wundern, daß Sie, als Fortbildung für die Ärzte in Berliner und Bremer Richtlinien von SPD-Regierungen festgeschrieben wurde, nicht aufgeschrien haben. Fortbildung ist dort ausdrücklich mit der Maßgabe festgelegt, Anerkennung gegebenenfalls abzusprechen. Es ist sicherlich darüber zu diskutieren, ob wir das im Standesrecht oder woanders regeln. Aber zu sagen, Fortbildung sei nicht notwendig, zwinge die Ärzte, sich an dieser Aufgabe nicht mehr zu beteiligen, leuchtet mir nicht ein.
({15})
Wenn heute in der beschriebenen Weise gegen den Entwurf des Beratungsgesetzes polemisiert wird, so kann ich das nur für einen Versuch halten, anderes zu transportieren, Hilfe zu verweigern.
({16})
Ich lasse mir nicht vorwerfen, ich täte etwas gegen die Frauen.
({17})
Ihnen nicht zu helfen wäre der größte Verstoß in dieser Sache.
({18})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt ({0}).
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren! Meine Damen! Sehr geehrte Frau Ministerin, Sie haben vor kurzer Zeit gesagt, wir haben beim § 218 die rigideste Form in Europa, und trotzdem wird bei uns mehr abgetrieben als anderswo.
Der Entwurf, den Sie uns hier vorlegen, verstärkt diesen Druck. Er ist geprägt von Mißtrauen gegen Frauen, Beratungsstellen und Ärzte. Welches Frauenbild liegt Ihrem Diskussionsentwurf zugrunde? Das der Frau, die ihre Verantwortung gegenüber dem Leben ihrer Kinder, der geborenen und der ungeborenen, und ihrem eigenen kennt, oder das der Frau, die eine solche Verantwortung nicht kennt und bei der diese erst geweckt werden muß?
Wenn Sie hier gerade sagen, wir hätten etwas gegen Ärztefortbildung: Überhaupt nichts haben wir dagegen. Wir sind dafür, und zwar gerade und auch im Rahmen der Schwangerschaftsberatung. Aber wo im
Gesundheitswesen gibt es noch so eine Vorschrift, ob bei Internisten, Gynäkologen oder wem auch immer, wo ein Fortbildungsangebot mit Geldbußen bis zu 10 000 DM bewehrt ist? Das ist hanebüchen. Nirgendwo gibt es so etwas.
({0})
Aus diesen und anderen Gründen ist dieses Gesetz - wenn es irgendwann eines werden sollte - eine substantielle Veränderung des § 218. Die Beratungsstellen sollen um den Preis ihrer Anerkennung unter anderem die Mittel der Stiftung „Mutter und Kind" gewähren. Das bedeutet das Aus für Beratungsstellen von Pro Familia, der Arbeiterwohlfahrt, ja, sogar des Diakonischen Werks, das erst kürzlich beschlossen hat, daß Schwangerschaft kein Stiftungsobjekt sein kann, und sie künftig die Stiftungsmittel nicht mehr vergeben wollen, und zwar nicht aus ideologischen Gründen - wer hätte denn von uns etwas dagegen, daß Frauen in Not zusätzliches Geld bekommen? -, sondern weil dies Hilfen ohne Rechtsanspruch sind, weil sie als Gnadenerweis gegeben werden und dies keine Sicherheit für die Lebensgrundlage bedeutet.
({1})
Die Beratungsstellen sollen ebenfalls um den Preis ihrer Anerkennung und weit über den vom Bundesverfassungsgericht gesteckten Rahmen hinaus in einer weltanschaulich vorgegebenen Richtung beraten. Heißt das, daß künftig Kontrollen der Beratungsgespräche stattfinden sollen? Nein, mit diesem Diskriminierungsgesetz - und ich bleibe dabei - , das Sie als ersten Entwurf in Ihrer Funktion als erste Frauenministerin der Bundesrepublik vorlegen, verbessern Sie die Lage der Frau bei einem Schwangerschaftskonflikt nicht, Sie verschlechtern sie.
({2})
Sie haben doch mit Ihrem vorhin genannten Zitat erkannt, daß mit Strafe und Gesetzen Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verhindern sind. Sie wollen angeblich Beratung mit Rechtsanspruch sichern. -Das geht doch alles schon heute. Das ist doch nicht das, was die Beratungsstellen wollen. Was wir brauchen, sind Hilfen mit Rechtsanspruch.
({3})
Dazu gehört erstens, ungewollte Schwangerschaften durch bessere Aufklärung und Sexualerziehung zu verhindern. Dazu gibt es in Ihrem Entwurf eine winzige Kann-Vorschrift - „Familienplanung kann Gegenstand der Beratungsstellen sein" - und keine Aktivitäten Ihres Ministeriums. Da könnten Sie nämlich aktiv werden. Da könnten Sie dazu beitragen, hier etwas zu tun, und zwar mehr, als Herr Geißler damals mit dem Einstampfen von Aufklärungsbroschüren getan hat.
({4})
Das zweite und Wichtigere - das hat auch Frau Würfel gesagt - ist das Schaffen einer frauen-, kinder- und familienfreundlichen Gesellschaft. Hier sehen Sie als mitzuständige Ministerin zu, wie die
Frau Schmidt ({5})
finanziellen Spielräume durch eine unsoziale Steuerreform weggefegt werden.
({6})
So wird keine Verbesserung der Lage der alleinerziehenden Frauen erreicht werden können. So wird Arbeitslosigkeit nicht reduziert werden können. So kann Schüler- und Studenten-BAföG, für Frauen ein ganz wesentlicher Bestandteil, nicht verbessert werden. So werden Kommunen nicht in die Lage versetzt, bessere Kinderbetreuungseinrichtungen zu bieten, und vieles andere mehr. Dort müssen wir ansetzen, wenn wir das gemeinsame Ziel, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu verringern, erreichen wollen.
({7})
Wir haben in unserem Entschließungsantrag 1986 gesagt:
Die Entwicklung der letzten Jahre hat die Erkenntnis bekräftigt: Schwangerschaftsabbruch bedeutet stets Ohnmacht vor unbewältigten Konflikten.
Gerade die betroffenen Frauen empfinden das. Deshalb denkt und handelt falsch und ungerecht, wer die Frauen an den Pranger stellt, sie mit Vorwürfen überzieht
({8})
und ihnen einseitig Verantwortung zuweist.
Ihr Diskussionsentwurf, Frau Ministerin, stellt Frauen, Ärzte und Beratungsstellen an den Pranger. Wir werden ihn - hoffentlich mit vielen gemeinsam in diesem Parlament - ablehnen.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoffacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Arbeitsentwurf des Beratungsgesetzes, über den wir heute sprechen, findet - wie kann es anders sein? - die volle Unterstützung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, weil er, jetzt in Gesetzesform gegossen, den Inhalt der Koalitionsvereinbarungen wiedergibt.
Die Zielvorstellung dieses Entwurfs macht deutlich, daß der umfassende Schutz des ungeborenen Lebens, wie er in der Verfassung vorgeschrieben ist, durch praktische Beratung der Schwangeren weiter gesichert werden soll.
Offenbar ist nun nicht ganz klar, was dort von der Verfassungsgerichtsentscheidung enthalten ist und was im Vollzug einer solchen Entscheidung auch für die weitere Gesetzgebung von Bedeutung ist. In der Verfassungsgerichtsentscheidung heißt es sehr deutlich - ich darf zitieren - , daß der Lebensschutz der Leibesfrucht grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft einen Vorrang genießt vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden darf.
Dies sind bereits 1975 vom Bundesverfassungsgericht geprägte Sätze.
({0})
Wir fühlen uns in dieser Verpflichtung. Und wir fühlen uns in der Verpflichtung, gerade durch die praktische Beratung der schwangeren Frau dieses Recht und die Möglichkeit, ihr in der Not auch weiter zu helfen, zu sichern. Ebenfalls ist dieses umfassende Hilfsangebot deutlich wiedergegeben worden.
Wir erwarten von zahlreichen Hilfsangeboten mehr als von einer uns von der Opposition immer wieder fälschlicherweise, so muß ich sagen, unterstellten Verschärfung von Gesetzesvorschriften.
Dieser Entwurf zeigt, daß meine Fraktion nicht nur eine punktuelle Beratung will,
({1})
sondern eine auf Zeit angelegte Begleitung von Mutter und Kind. Dies ist in dem Beratungsentwurf eine Neuerung, die wir für richtig halten.
({2})
Meine Damen und Herren, die Debatte hat ebenfalls gezeigt, daß auch unser Koalitionspartner auf der Basis der Koalitionsvereinbarung ein Beratungsgesetz wünscht. Wer die Koalitionsvereinbarung aufmerksam liest, weiß, daß in diesem Gesetzentwurf das enthalten ist, was auch in der Koalitionsvereinbarung niedergelegt ist.
({3})
Natürlich gibt es einige Details, über die in der Koalition gesprochen werden muß. Darüber werden wir uns im Beratungsgang verständigen. Es gibt aber keinen Anlaß, nun, wie es in der Presse schon geschehen ist, aus diesem Beratungsbedarf einen künstlichen Streit hochzustilisieren, der sich zwischen der CDU/ CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion konstruieren ließe.
({4})
Die Koalition erweist sich auch in diesem Fall als voll handlungsfähig.
Meine Damen und Herren, von der Opposition wird bisweilen - wir haben es soeben von Frau Schmidt gehört - vom Hindernislauf und vom Hürdenlauf der Frauen und von der Knebelung gesprochen. Ich meine, Frau Schmidt, daß nicht gesagt werden kann,
({5})
daß Beratungsstellen als Preis für ihre Anerkennung nun auf die freiwillige Entscheidung verzichten müßten, selber eine Beratung durchführen zu können. Niemand zwingt sie dazu, und es ist bisher so, daß es gerade für die Beratungsstellen selbstverständlich auch Vorschriften gibt, an die alle Beratungsstellen sich gebunden wissen. Ich verstehe deshalb nicht, daß dieses umfangreiche Hilfsangebot, das hier gemacht
wird, ins Gegenteil verkehrt werden und sich, wie Sie sagen, gegen die Frauen richten sollte. Ich kann dies nicht verstehen.
({6})
Sehr wohl verstehen kann ich, daß Frau Weyel und auch Frau Würfel an das Anforderungsspektrum der gesamten Beratungshilfe noch weitere Wünsche haben.
({7})
Ich glaube auch, daß der Beratungsgang des Gesetzentwurfes in den einzelnen Vorbereitungsstadien durchaus Anforderungen an unsere Phantasie stellt, damit der in Not geratenen Frau ein möglichst umfassendes Hilfsangebot unterbreitet werden kann.
Meine Damen und Herren, ich meine, daß dieser Entwurf so, wie wir ihn vorliegen haben, als Arbeitsentwurf ein weiterer Fortschritt dahin ist, den Frauen zu helfen und auch der Verfassungsgerichtsentscheidung gerecht zu werden, nämlich in gleicher Weise dem Schutz des ungeborenen Kindes zu dienen und der in Not geratenen Frau zu helfen.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
({0})
Meine Damen und Herren! Ich finde das Beratungsgesetz ist ein klassisches Beispiel dafür, wie man erst ein Problem schafft und dann, wenn man feststellt, daß es so nicht funktioniert, noch einen draufsetzt, statt das Problem selbst wieder aus der Welt zu schaffen. Da wird erst eine unsägliche Regelung eingeführt, die besagt, daß Ärzte, also in der Regel Männer, darüber zu entscheiden haben, ob eine Frau ihre ungewollte Schwangerschaft abbrechen lassen darf oder ob ihr die ungewollte Mutterschaft zuzumuten ist.
({0})
Die Fragestellung an sich ist schon empörend, und es wundert mich nicht, daß zahlreiche Ärzte, zumindest diejenigen, die gegenüber dem Problem einigermaßen sensibel sind, feststellen mußten, daß sie im Grunde mit dieser Entscheidung völlig überfordert sind. Ich glaube, es ist auch grundsätzlich menschlich überhaupt nicht möglich, eine solche Entscheidung über einen anderen Menschen zu treffen, zumal als Mann über eine Frau.
Welche Konsequenz zieht nun Frau Süssmuth daraus? Statt diese unhaltbare Regelung abzuschaffen und die Entscheidung dorthin zu geben, wo sie gut aufgehoben wäre, nämlich bei der Frau selbst, setzt sie noch einen drauf und führt eine sogenannte Fortbildung für Ärzte ein, die letztlich nur dazu dient, den Ärzten einzureden, daß sie den Frauen einreden sollen, daß diese ihre ungewollte Schwangerschaft um jeden Preis austragen sollen.
({1})
Damit lösen Sie das Problem der Ärzte nicht - und schon gar nicht das Problem der Frauen; Sie verschärfen es nur.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, daß sich der Entwurf eines Gesetzes über die Beratung von Schwangeren völlig der Aufgeregtheit und Polemik, die hier gelegentlich geübt wird, zu entziehen hat. Wir haben uns vielmehr an der gesetzlichen Fassung der §§ 218 ff. des Strafgesetzbuches zu orientieren, und wir haben uns nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 25. Februar 1975 zu richten.
Für die Koalitionsparteien gilt, daß die Koalitionsvereinbarung ohne Wenn und Aber und ohne Zusätze und ohne Abstriche einzuhalten ist.
({0})
Der besonderen sozialen und psychischen Situation der Schwangeren muß ein Beratungsgesetz des Bundes gerecht werden, das auch gleichzeitig dem Schutz des sich entwickelnden Lebens dient. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist insoweit völlig eindeutig.
Ein zu verabschiedendes Beratungsgesetz wird sich ausschließlich an der Beratung der Schwangeren zu orientieren haben. Es darf aber nicht als Vehikel benutzt werden, die §§ 218 ff. StGB in irgendeiner Weise zu verschärfen oder auszuhebeln.
({1})
Die FDP wird sich an der Abfassung dieses Gesetzes intensiv beteiligen und sichert allen Beteiligten eine gründliche und zügige Behandlung zu. Wir alle wissen, wie schwierig diese Aufgabe sein wird, sind doch besonders schwierige Sachverhalte zu berücksichtigen. Dabei sollte man sich nicht unter zeitlichen Druck setzen oder gar setzen lassen. Denn wir tun den Betroffenen keinen Gefallen, wenn wir mit heißer Nadel unter zeitlichem Druck solche Gesetze verabschieden.
Bei einem Gesetzentwurf sollte man sich an folgenden Punkten orientieren.
Erstens. Die um Rat nachsuchende Frau sollte einen Rechtsanspruch auf finanzielle Hilfe haben und sollte nicht später darauf verwiesen werden können, daß nunmehr die Gelder z. B. der Stiftung ausgegangen seien.
({2})
Zweitens. In der besonderen psychischen Situation muß auf eine schnelle Beratung und Indikationsfeststellung Wert gelegt werden.
({3})
Drittens. Dieses Gesetz sollte als Bundesrahmengesetz für die Länder verbindlich sein.
({4})
Zusätzliche Regelungen hinsichtlich der Beratung sollten für die Länder nicht möglich sein, um zu vermeiden, daß unterschiedliche Handhabungen im Bundesgebiet erfolgen.
({5})
Viertens. Es ist selbstverständlich, daß den Ärzten auferlegt wird, sich fortzubilden. Das sehen ja auch deren eigene Standesrichtlinien vor,
({6})
genauso wie es dies in anderen freien Berufen ebenfalls gibt. Es besteht daher überhaupt kein Anlaß, Einzelvorschriften - gegebenenfalls mit Straf- oder mit Bußgeldandrohungen - zu erlassen, wie und wie häufig man sich als Arzt fortzubilden hat.
({7})
Fünftens. Das Gesetz wird insbesondere auch die Frage zu regeln haben, ob eine Verknüpfung zwischen der kassenärztlichen Versorgung und der statistischen Meldepflicht überhaupt verfassungsmäßig zulässig ist.
({8})
Sechstens. Die Voraussetzungen für die Anerkennung von Beratungsstellen sollten nicht in kasuistischer Weise aufgezählt werden, sondern es sollte lediglich normiert werden, daß diese Beratungsstellen dem Sinn und Zweck der Beratung entsprechen müssen.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war etwas erschrocken, als ich zu Beginn der Debatte gehört habe, mit welchen Popanzen hier gekämpft werden soll. Da wird von „Diskriminierungsgesetz" gesprochen, von „Bedrängungsgesetz"
({0})
von „Frauenfeindlichkeit", von „Zwangsberatung".
({1})
Das sind alles Dinge, die offenbar nur in Ihrer Phantasie existieren, aber überhaupt nicht in der Realität.
({2})
Ich will auf einige dieser Punkte sehr gerne eingehen, um Ihren darzutun, daß ich das nicht nur so sage.
Was heißt hier denn „Bedrängungsgesetz"? Da soll Druck ausgeübt werden, ist hier vorhin gesagt worden. Heißt es, Druck auf Frauen in schwierigen Konfliktsituationen auszuüben, wenn man ihnen Hilfe anbietet, wenn man ihnen Rat anbietet? Wieso heißt es Druck ausüben, wenn ich erwarte, daß diejenigen, die die Beratung durchführen, auch entsprechende Fortbildungsmaßnahmen besuchen? Bei den ärztlichen Fortbildungsveranstaltungen z. B., die hier ein paar mal eine Rolle gespielt haben, geht es doch nicht um medizinische Fortbildung, sondern darum, daß Mediziner, die von ihrer Ausbildung her eben nichts für soziale Beratung vorgebildet sind, eine zusätzliche Hilfe erlangen.
({3})
Ich glaube auch, daß eigentlich Sie selbst von der Unmündigkeit der Frauen ausgehen. Ich will Ihnen das auch begründen: Sie sagen, dieses Gesetz ginge von unmündigen Frauen aus. Wieso eigentlich? Ich vermute, daß Sie den Frauen nicht zutrauen
({4})
- es mag sein, daß das mein Weltbild ist; dazu stehe ich auch - , daß sie mündig sind, und zwar so mündig, daß sie eine sachgerechte Beratung in ihre Entscheidung einbeziehen und daß sie nicht durch sachgerechte Beratung unfrei in ihrer Entscheidung sind.
({5})
Sie haben nämlich gesagt, das wäre eine unfreie Entscheidung. Ich als Frau muß mich dagegen wehren, daß meine Mitfrauen in der Bundesrepublik mit mir nicht in der Lage sein sollten, eigenverantwortlich zu entscheiden, nachdem sie sachgerecht, umfangreich, und korrekt beraten worden sind.
Sie sprechen auch davon - darüber war ich besonders erschrocken - , daß dieses alles nicht nur Bevormundung und Einschüchterung sei, sondern ein Angriff auf die Abtreibungspraxis. Frau Krieger, vielleicht mißverstehe ich Sie, ich hoffe es eigentlich: Ihre Rede hat auf mich den Eindruck gemacht, als wollten Sie eigentlich sagen: Jede Frau hat das Recht auf Abtreibung.
({6})
- Ich bin Ihnen für die Ehrlichkeit dankbar. Dann kann ich jetzt nämlich das sagen, was ich, falls das stimmen sollte, gerne hier vortragen wollte.
({7})
- Nein, es kommt keine alte Leier vom neunten Monat, es kommen überhaupt keine alten Leiern. Bei mir können an dieser Stelle allein schon deshalb keine alten Leiern kommen, weil ich erst seit einem Jahr dem Bundestag angehöre. Aber auch bei meinen Kolleginnen und Kollegen habe ich keine alten Leiern feststellen können.
({8})
Konflikte treten doch nicht deshalb auf, weil der Frau irgendein Ungeschick allgemein üblicher Art zugestoßen ist, sondern es gibt deshalb einen schwerwiegenden Konflikt, weil hier wirklich zwei Rechte so wie sonst nirgendwo zusammenstoßen. Es geht jedesmal um das Recht auf Leben, einmal um das Recht auf Leben der Mutter und einmal um das Recht auf Leben
des noch nicht geborenen Kindes. Insofern - das gebe ich zu - ist das eine Frauenfrage. Das ist ein Konflikt, dem Männer in der Tat praktisch nie ausgesetzt sein können, weil die Biologie das so nicht vorgesehen hat. Aber das bedeutet nicht, daß deshalb die Frauen in dieser Ausnahmesituation Verfügungsrecht über Leben bekommen könnten. Niemand von uns - Sie nicht, ich nicht, wir alle nicht - hat das Recht, über menschliches Leben zu verfügen - niemand von uns.
({9})
Es ist nicht so, als ob nur Sie mit Schwangerschaftsberaterinnen gesprochen hätten. Das tun wir natürlich auch. Auch Sie sprechen wahrscheinlich nicht nur mit denen, die Ihre Ansicht unterstützen. So sprechen auch wir nicht etwa nur mit konfessionellen Beraterinnen, sondern durchaus auch mit Beraterinnen, die bei Pro Familia, bei der Arbeiterwohlfahrt, bei der Caritas oder bei all den Gruppierungen, die es gibt, arbeiten. Diese sagen uns immer, daß es Situationen und Konfliktlagen gibt, in denen sich die Frauen bei dieser Entscheidung auch tatsächlich überfordert fühlen.
({10})
- Das trifft ja nicht zu, was Sie da sagen. Die Beraterinnen lehnen es nicht ab. - Wir brauchen ordentliche Beratung, und wir brauchen den Schutz beider Leben. Wenn es eine so harte Konfliktsituation, wie sie auch das Verfassungsgericht dargestellt hat, gibt, daß es zu einer achtenswerten Gewissensentscheidung der Frau kommt, dann wollen wir ihr helfen, diese Entscheidung verantwortlich zu treffen.
Ich sage Ihnen, Frauen, die Mütter werden, haben besonderen Anspruch auf Hilfe. Die verbesserte Beratung, die vorgesehen ist, soll und wird ein Teil dieser Hilfe sein.
({11})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Pack.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die erste Abstimmung, an der ich in diesem Bundestag teilgenommen habe, war die zu § 218 im Jahre 1974. Seinerzeit bestand in einem zentralen Punkt, auch zwischen SPD, FDP und Union, Einigkeit, nämlich den Schwangeren zu helfen. Nichts anderes wollen wir: den Schwangeren helfen!
({0})
Ich zitiere aus der Bundestagsdebatte aus dem Jahre 1974 Ihren damaligen Kollegen und Fraktionsvorsitzenden Wehner:
In vielen Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft wegen einer persönlichen oder sozialen Notlage bedroht ist, wird das Leben des Ungeborenen durch eine einfühlsame und helfende Beratung erhalten werden können.
({1})
Damit rückt die Beratung in den Mittelpunkt der
insgesamt auf Lebensschutz gerichteten Maßnahmen. Die Beratung soll insbesondere über solche zwischenmenschliche, gesellschaftliche und staatliche Hilfsangebote unterrichten, die die Fortsetzung der Schwangerschaft in verantwortlicher Entscheidung der Mutter sowie die Lage der Mutter selbst und des Kindes erleichtern können.
({2})
Meine Damen und Herren, nichts anderes will unser Beratungsgesetz, das heute in einem groben Vorentwurf vorliegt! Ich möchte feststellen: Dem, was damals Herbert Wehner gesagt hat, sind leider in den Jahren der Regierungszeit der SPD keine Taten gefolgt. Erst danach gab es das Erziehungsgeld. Erst danach gab es die Erziehungszeiten im Rentenrecht.
({3})
Erst danach gab es die Stiftung „Mutter und Kind" Erst danach gab es Hilfen für die berufliche Wiedereingliederung von Frauen durch das Arbeitsförderungsgesetz. Und jetzt soll uns das Beratungsgesetz genau in diesem Punkt Hilfe geben.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, damals hat auch Frau Dr. Focke, die damalige Ministerin für Jugend, Familie und Gesundheit gesprochen. Ich möchte sie zitieren:
Das Kernstück der Reform und zugleich eine Aufgabe, die über den § 218 hinausreicht ... sind sozialpolitische, gesellschaftspolitische Maßnahmen zur Verbesserung der Situation der Frauen, wie ich glaube, drei für uns relevante Bereiche: erstens in Beratung und Hilfen, bevor eine Schwangerschaft eintritt, zweitens in Beratung und Hilfen für schwangere Frauen in Konflikt-und Notsituationen und drittens frauen- und familienpolitische Maßnahmen ganz allgemein.
Genau das realisieren wir heute.
({5})
Wir wollen nämlich helfen statt strafen. Das ist unser zentraler Gedanke. Der Abbruch, meine Damen und Herren, ist doch nur die allerletzte Möglichkeit, auf die wir eine Frau verweisen sollten. Wer macht sich denn überhaupt einmal Gedanken über die körperlichen und seelischen Langzeitfolgen einer solchen Tat?
Wir haben heute eine Diskussion, eine Lebensschutzdebatte im Zusammenhang mit den neuen gentechnologischen Möglichkeiten. Da fordern die GRÜNEN ein Verbot der pränatalen Diagnostik. Frau Regula Schmidt-Bott fordert für die Fraktion DIE GRÜNEN im Rahmen der Anhörung - ich war anwesend - :
Mir geht der Hut hoch, wenn man einer Mutter nicht zumuten kann, ein behindertes Kind auszutragen.
Ich stimme ihr zu. Aber ich frage sie allen Ernstes: Wie
kann sie denn einerseits glaubhaft eine solche Ansicht
vertreten und andererseits die ersatzlose Streichung des § 218 verlangen?
({6})
Meine Damen von der SPD, Sie denken ja ähnlich verquer. Wie können Sie denn glaubwürdig einen wirksamen Embryonenschutz außerhalb des Mutterleibes einfordern, aber das werdende Leben im Mutterleib ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des Selbstbestimmungsrechts der Frau sehen?
({7})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt keine einfachen Lösungen, im Konfliktfall zwischen dem Recht auf Leben und dem sehr wohl zu sehenden Interesse der Frauen in Notsituationen zu entscheiden. Aber wer wie SPD und GRÜNE alle Maßnahmen zur Unterstützung und Beratung von Schwangeren einschließlich der Beratung zur Stärkung der eigenverantwortlichen Annahme ungeborenen Lebens als Diskriminierung oder Verschärfung ablehnt, handelt unverantwortlich.
({8})
Im Ringen um Lösungen tun wir uns sehr schwer. Wir sind wie Sie nicht für eine Verschärfung des § 218, aber wir sind gegen zunehmende Unaufgeklärtheit und Mißbrauch, die in einer Abtreibung eine Form der erweiterten Empfängnisverhütung sehen.
Aber erst recht sind wir gegen denunziatorisches Miesmachen durch SPD und GRÜNE von Hilfen und unterstützenden Maßnahmen für Frauen in Notsituationen. Warum unterstützen Sie denn nicht unser Anliegen, das doch auch Ihr Anliegen sein müßte, finanzielle und soziale Hilfen zu ermöglichen? Genau das will das Beratungsgesetz.
Warum sind Sie nicht mit mir der Ansicht wie Ihre Kollegin Frau Dr. Timm, die schon 1973 in der Debatte gesagt hat:
Es muß gelingen, den Frauen eine Form der Beratung in diesen Fragen anzubieten, die es ihnen ermöglicht, in Abwägung aller denkbaren, bei dieser Entscheidung mitspielenden Faktoren ihre Verantwortung zu tragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, eine Politik, die dem Recht auf Leben nicht dient, ist eine unsäglich miserable Politik.
({9})
Sie fordern mit uns Friedensschutz, Schutz der Umwelt, Schutz der Luft, Schutz des Wassers, Schutz des Bodens. Dann kann es doch wohl nur in Ihrem und in unserem Sinne sein, wenn wir ein Beratungsgesetz machen, das auch zum Schutz des ungeborenen Lebens beiträgt.
Danke schön.
({10})
Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 zur Tagesordnung auf :
Zweite und Dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Europawahlgesetzes
- Drucksache 11/1557 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({0})
- Drucksache 11/1787 Berichterstatter: Abgeordnete Krey Lüder
Schröer
Frau Dr. Vollmer
({1})
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung. Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/1919 ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit großer Mehrheit ist dieser Änderungsantrag angenommen.
({2})
- Es hat sich eine ganze Reihe Ihrer Fraktionsmitglieder in der Weise der Stimme enthalten, daß sie sich an der Abstimmung nicht beteiligt haben.
({3})
- Herr Abgeordneter Penner, ich sehe das von hier oben und bitte, nicht zu widersprechen; es ist sinnlos.
Wer Art. 1 in der Ausschußfassung mit der soeben beschlossenen Änderung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit Mehrheit angenommen.
Ich rufe Art. 2 und 3, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Keine. Enthaltungen? - Keine. Die aufgerufenen Vorschriften sind also einstimmig angenommen.
Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Kann ich davon ausgehen, daß wir sofort in die dritte Beratung eintreten? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch; es ist mit der erforderlichen Mehrheit beschlossen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Gesetzentwurf ist mit großer Mehrheit angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Wahlprüfungsausschusses
zu den gegen die Gültigkeit der Wahl zum
Vizepräsident Stücklen
11. Deutschen Bundestag eingegangenen Wahleinsprüchen
- Drucksache 11/1805 Berichterstatter:
Abgeordnete Buschbom Wiefelspütz
Hierzu wünschen die Berichterstatter das Wort. Trifft das zu? - Ich erteile das Wort Herrn Abgeordneten Wiefelspütz.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Als einer der beiden Berichterstatter in Wahlprüfungssachen will ich einige wenige Bemerkungen zur Beschlußempfehlung und zum Bericht des Wahlprüfungsausschusses machen. Nach dem Wahlprüfungsgesetz ist jeder Wahlberechtigte berechtigt, die Gültigkeit der Wahl zum Deutschen Bundestag prüfen zu lassen. Hinsichtlich der Wahl zum 11. Deutschen Bundestag sind insgesamt 47 Wahleinsprüche eingegangen. Nach Rücknahme von 7 Wahleinsprüchen verbleiben 40 Wahleinsprüche, über die heute Sachentscheidungen zu treffen sind.
Bei den Wahleinsprüchen, bei denen mir die Berichterstattung oblag, schlägt der Ausschuß dem Bundestag vor, die Einsprüche als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen. In der Mehrzahl der Fälle konnten Wahlrechtsverstöße nicht festgestellt werden. Aber auch in den Fällen, in denen der Ausschuß Wahlrechtsverstöße feststellen mußte oder zumindest für erwägenswert hielt, sind die Einsprüche offensichtlich unbegründet, denn nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Wahleinsprüchen gegen die Gültigkeit von Bundestagswahlen können nur solche Wahlfehler als erheblich anerkannt werden, die auf die Mandatsverteilung von Einfluß waren oder hätten sein können. Infolgedessen scheiden alle Verstöße von vornherein als unerheblich aus, die das Wahlergebnis nicht berühren. Das trifft nach den Ermittlungen des Ausschusses auf alle Einsprüche zu, bei denen Wahlfehler festgestellt wurden oder von uns zumindest für möglich gehalten wurden.
Es versteht sich im übrigen von selbst, daß diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts keine Aufforderung ist, die strikte Einhaltung des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag weniger ernst zu nehmen. Verstöße gegen Wahlrechtsbestimmungen sind keine Kleinigkeit. Das gilt auch dann, wenn der Rechtsverstoß keinen Einfluß auf die Mandatsverteilung hatte oder hätte haben können.
Der Wahlprüfungsausschuß bearbeitet die Wahleinsprüche in einem prozeßähnlichen Verfahren. Der Ausschuß ist jedem Wahleinspruch mit der gebotenen Sorgfalt nachgegangen. Wir haben besonderen Wert darauf gelegt, daß das Vorbringen der Einspruchsführer möglichst lückenlos aufgenommen und beschieden wird.
An dieser Stelle ist dem Ausschußsekretariat unter der Leitung von Ministerialrat Dr. Kretschmer für die sorgfältigen und präzisen Vorarbeiten herzlich zu danken. Hervorheben möchte ich auch den konstruktiven und kollegialen Arbeitsstil im Wahlprüfungsausschuß. Das gilt insbesondere für den Mitberichterstatter, den Kollegen Buschbom.
Der Wahlprüfungsausschuß hat sich nicht darauf beschränkt, die 47 Wahleinsprüche zu bearbeiten. Auf Grund der Erfahrungen in Wahlprüfungsangelegenheiten schlagen wir dem Hause vor, die Bundesregierung um Prüfung zu bitten, ob in bestimmten Bereichen Änderungen von Wahlrechtsvorschriften und von Vorschriften über das Wahlprüfungsverfahren angebracht sind. Auf diese Vorschläge wird Kollege Buschbom näher eingehen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat als Berichterstatter Herr Abgeordneter Buschbom.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich habe im Grunde nur ein Korreferat zu den Ausführungen meines Coberichterstatters zu halten.
Ich erwidere den an mich ergangenen Dank in gleicher Weise, lieber Herr Wiefelspütz. Unser Beratungsklima war ausgezeichnet. Ich wünschte, es wäre in allen Ausschüssen so.
Etwas zur Statistik - das ist vielleicht ganz erwähnenswert - : Wir haben in der 1. bis 8. Legislaturperiode 259 Wahleinsprüche gehabt. Das sind 32,4 pro Wahlperiode. Die Zahl ist im 9. Bundestag etwas angestiegen. Im 9. Bundestag hatten wir 58, im 10. Bundestag 47 und im 11. Bundestag auch wieder 47. Wir haben in diesen drei Wahlperioden also ein Mittel von 50,6 Wahleinsprüchen. Wenn man bedenkt, daß etwas über 38 Millionen Wähler gewählt haben, kommt man zu der richtigen Relation. Es ist also ein ganz, ganz geringer Teil von Wählern, die sich beschwert gefühlt haben.
In der 9. Wahlperiode hatten wir bei den 58 Wahleinsprüchen 1 Rücknahme, 57 zurückweisende Entscheidungen, 8 Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht, die sämtlich verworfen worden sind.
In der 10. Wahlperiode hatten wir 47 Einsprüche: 4 Rücknahmen, 43 zurückweisende Entscheidungen, 4 Beschwerden an das Bundesverfassungsgericht, von denen 3 verworfen und 1 zurückgenommen worden sind. Die eine Beschwerde ist deswegen zurückgenommen worden, weil inzwischen die Beschwer weggefallen war. Der Beschwerdeführer war durch unsere Gesetzgebung - Änderung unseres Wahlrechtes in bezug auf im Ausland lebende deutsche Bürger; es handelte sich um einen Beamten bei der Europäischen Kommission - beschwerdefrei gestellt worden. Es ist also zu konstatieren, daß das Bundesverfassungsgericht hier durch unsere Gesetzgebung Arbeit gespart hat.
In der 11. Wahlperiode haben wir, wie gesagt, 47 Beschwerden gehabt, davon 7 Rücknahmen. Über 40 Beschwerden war zu entscheiden. Meine Berichterstattung betrifft 19 Wahleinsprüche; die Anlagen 21 bis 39.
Im einzelnen lassen sich diese 19 Entscheidungen in folgende Fallgruppen einteilen: 4 Fälle, in denen
Organisationsmängel behauptet werden; 2 Einsprüche, die sich gegen das zugrunde liegende Wahlrecht wenden; 3 Fälle, in denen die Besetzung oder das Verfahren von Wahlgremien beanstandet wird; 5 Einsprüche, in denen Wahlrechtsbeschränkungen gerügt werden; 2 Fälle, in denen die Wahlwerbung beanstandet wird; schließlich 3 Fälle, in denen Wahlfehler festzustellen sind.
Im einzelnen wurden folgende Organisationsmängel gerügt: beim behördlichen Umgang mit Wahlbriefen; fehlende Zusendung von Briefwahlunterlagen; unzureichende Stimmkabinen; unzulässige statistische Erhebungen. Alle waren nicht ausreichend dargelegt und nachgewiesen.
Bei den Beanstandungen wegen des Zählverfahrens Niemeyer habe ich sehr beachtliche Ausführungen zur Kenntnis nehmen müssen. Ich habe den Eindruck, daß über das Verfahren Niemeyer das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.
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Zu den Wahlgremien gab es drei Fälle: Wahlvorstände falsch besetzt; Nichtzulassung als Partei durch Bundeswahlausschuß ; unzulässiges Verfahren beim Kreiswahlausschuß; ebenfalls im Einzelfall nicht dargelegt und nachgewiesen.
An Wahlrechtsbeschränkungen wurden vorgetragen: Behinderung älterer Bürger durch den Winterwahltermin und durch schwer lesbare und schwer verständliche Wahlberechtigungskarten. Auch hier lohnt sich Nachdenken. Eine Wahlrechtsbeschränkung wurde von einem Einzelbewerber vorgetragen, der 19 % der Zweitstimmen erhalten hat. Er macht Benachteiligungen geltend, die sich aber im Einzelfall ebenfalls nicht nachweisen ließen. Berliner und Ausländer und nicht seßhafte Deutsche machen Wahlbeschränkungen geltend. Auch hiervon einen interessanten Fall: Bürger mit einem Hauptwohnsitz in Berlin und Nebenwohnsitz in Frankreich ohne weiteren Wohnsitz in einem der anderen Länder der Bundesrepublik Deutschland. Das ist ein für Berlin beachtenswerter Wahlrechtsfall.
Weiter wurden geltend gemacht: Unzulässige Wahlwerbung; verspätete Absendung von Wahlunterlagen; Wahlrecht fälschlich vom Staatsanwalt verneint; eine den Umständen nicht gerecht werdende restriktive Auslegung von Briefwahlvorschriften.
In all diesen drei Fällen, in denen wir Wahlfehler festgestellt haben, waren diese unbeachtlich, weil die unterbliebenen Stimmabgaben nicht zu einer anderen Mandatsverteilung hätten führen können.
Alle diese Fälle waren offensichtlich unbegründet. Nach § 6 des Wahlprüfungsgesetzes bedurfte es demnach keiner mündlichen Verhandlung und keiner Anhörung von Zeugen. Daher kann der Bundestag so, wie vorgeschlagen, entscheiden.
Die rote Lampe leuchtet. Ich kann also zu den Empfehlungen nichts mehr sagen. Es geht dabei um Anfechtungsfristen und die Wahlprüfungsbeschwerde. Ich bitte, dies der Vorlage zu entnehmen.
Ich schließe mich dem Dank an die Mitarbeiter an und bitte den Bundestag, der Beschlußempfehlung zu entsprechen.
({1})
Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung.
Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Wahlprüfungsausschusses? Ich bitte um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist die Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 und den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf:
13. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Förderung von Frauen in Entwicklungsländern
- Drucksache 11/859 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({0})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
ZP3 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit
- Drucksache 11/1917 -Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit ({1})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Luuk.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Minister kommen und gehen. An dem uns seit der Wende sattsam bekannten Trott der Bonner Entwicklungspolitik hat sich aber nichts geändert. Es ist fatal, dies auch jetzt noch, ein gutes Jahr nach dem Amtswechsel im BMZ, feststellen zu müssen. Aber es bleibt bittere Realität.
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Am Beispiel „Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit" haben wir eine Kontinuität entwicklungspolitischer Wortblasen dieser Bundesregierung zu beklagen. Wohltönende Erklärungen aus Regierungsmund - Frauen sind schließlich „in" - haben nach wie vor Konjunktur. Aber es geschieht nichts. Außer Reden nichts gewesen.
Nach der Weltfrauenkonferenz von Nairobi - das ist fast drei Jahre her - hatte endlich auch der Amtsvorgänger des Ministers Klein das unbekannte Wesen Frau für die Entwicklungspolitik entdeckt. Spät, sehr spät hat sich Herr Warnke zu jenem Satz durchgerungen, den ich zitieren darf: „Die Entfaltung der schöpferischen Kräfte in der Dritten Welt heißt insbeson4428
dere, den hervorragenden Beitrag der Frau zur Entwicklung zu würdigen". Das schien beinahe programmatisch, was da gesagt wurde, aber dieser Satz trog; denn bei der verbalen Würdigung ist es dann ja auch geblieben. Zwar hat der Minister selbst ebenso wie sein Parlamentarischer Staatssekretär diese Würdigung bei allen passenden Gelegenheiten wiederholt, und sogar der Kanzler hat sich in seiner Regierungserklärung zu solchen entwicklungspolitisch wohltönenden Sprechblasen durchgerungen. Taten aber blieben Fehlanzeige. Nichts tun und schön darüber reden, die entwicklungspolitische Rolle der Frau ins rechte Licht, die Hände in den Schoß legen, das ist das Motto der Entwicklungszusammenarbeit dieser Regierung, und genau das gilt es zu kritisieren.
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Wir Sozialdemokraten haben im September letzten Jahres
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den heute zur Diskussion stehenden Antrag zur Förderung von Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit eingebracht. Der vor zwei Tagen eingebrachte Antrag der GRÜNEN wiederholt im wesentlichen unsere Forderungen. Wir wollen dafür sorgen, daß das regierungsamtliche Phlegma endlich überwunden wird; denn das Thema „Frauen in der Dritten Welt" ist nicht über Nacht als Problembündel vom Himmel gefallen. Es wird seit Jahren in allen Facetten diskutiert und beschrieben.
Wie ist denn die Lage der Frauen, die bis heute lediglich verbal von dem zuständigen Minister gewürdigt wird? Frauen leisten mehr als zwei Drittel der Arbeitsstunden, sie erhalten gerade ein Zehntel des Welteinkommens und verfügen über ein ganzes Prozent des Weltvermögens. Dafür sind zwei von drei Analphabeten Frauen, und mehr als die Hälfte der Frauen in der Dritten Welt hat keinen Zugang zu medizinischer Hilfe. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln ist zu gut zwei Dritteln von Frauen abhängig, aber nach schlechter alter Tradition sind es die Frauen, die als letzte essen dürfen, das Wenige, was noch geblieben ist, wenn überhaupt etwas geblieben ist.
Im Entwicklungsprozeß ihrer Länder spielen Frauen eine Schlüsselrolle: Überwindung des Hungers und Familienplanung, das sind die größten Probleme der Dritten Welt, und für die Problemlösungen sind in erster Linie die Frauen zuständig. Entscheidungskompetenz wird ihnen aber nicht eingeräumt, denn Entwicklungsplanung, die wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen der Länder in Afrika, Asien und Lateinamerika liegen in den Händen von Männern. An den Frauen geht die Entwicklung vorbei.
Vor einem Jahrzehnt nun haben die Entwicklungsstrategen der Weltbank endlich die Frauen entdeckt, aber unser Minister hat sich diese neue Erkenntnis bis heute nicht zu Herzen genommen und in die Politik einfließen lassen, auch nicht nachdem die internationale Forschung die bis dato entwicklungspolitisch unsichtbaren Frauen hat sichtbar werden lassen und festgestellt hat, woran es entwicklungspolitisch entscheidend mangelt: am Zugang der Frauen zu einem adäquaten Einkommen, am Zugang zu Bildung und Gesundheit, zu Kredit und Technik. Einzig an Arbeit mangelt es den Frauen in der Dritten Welt nicht, dafür aber um so mehr am Erlös aus dieser Arbeit.
Die zunehmende wissenschaftliche Diskussion über die Rolle der Frau in der Dritten Welt hat schon in den 70er Jahren ihren Niederschlag auf der internationalen politischen Ebene gefunden. Auf der Weltfrauenkonferenz in Mexiko wurde ein Aktionsplan verabschiedet, die UN-Frauendekade wurde ausgerufen, die Situation der Frau in der Dritten Welt sollte nachhaltig verbessert werden. Entschließungen und Richtlinien wurden verabschiedet, kurzum, der Verbalfeminismus wurde geboren, dem die bundesdeutsche Entwicklungszusammenarbeit bis heute immer noch anhängt.
In der politischen Praxis aber war das Ergebnis all dieser Aktivitäten wenig ermutigend. Fest steht, daß die Hauptadressaten der Entwicklungsprogramme Männer blieben, die als Familienoberhaupt angesehen wurden, wobei man von der irrigen Annahme ausging, daß der Nutzen aus den Programmen die Frauen und Kinder automatisch erreichen würde. Fest steht auch, daß die Entwicklung von Wirtschaft und Industrie sowie die Veränderung der Funktion und Struktur der in der Dritten Welt dominierenden Landwirtschaft zu Produktions- und Existenzformen geführt haben, welche die geschlechtsspezifischen Unterschiede eher zugespitzt als ausgeglichen haben. Statt Teilhabe an der Entwicklung also Fehlanzeige. Wesentliches Ergebnis dieser Fehlentwicklungen, die von den Industrieländern geduldet, ja sogar gefördert werden, ist die Zunahme der gesellschaftlichen Ungleichheit in der Dritten Welt; denn die Eigentums-und Besitzverhältnisse, die Unterschiede von Verdienst und Lohn, die höchst unterschiedlichen Chancen für Bildung und Beruf haben den Status der Frau weiter verschlechtert. Die ehedem klar definierte Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau ist abgelöst worden durch die sich verstärkende Dominanz der Männer, die über Eigentum an Land und Produktionsmitteln verfügen und die die Frauen mehr und mehr in eine untergeordnete und abhängige Rolle drängen.
Die zunehmende Marktorientierung, die Mechanisierung der Landwirtschaft, das Eindringen kapitalistischer Produktions- und Marktpraktiken in den Wirtschaftsbereich der Dritten Welt haben dazu geführt, daß die dominierende Rolle der Frau in der Agrarwirtschaft mehr und mehr verloren ging. Infolge des limitierten Zugangs zu neuer Technologie - denn die wurde ja der Zielgruppe Mann anvertraut - arbeiten die Frauen in der Landwirtschaft weiterhin nach althergebrachten Methoden, und dies hat trotz Mehrarbeit eine Verschlechterung ihrer materiellen Situation zur Folge. Die Existenzgrundlage verschlechterte sich, das gesellschaftliche Ansehen der Frau wurde weiter unterminiert. Die Industrialisierung schließlich hat diese Situation weiterhin zum Negativen befördert, denn die nationalen wie internationalen Unternehmen in der Dritten Welt haben das bislang ungenutzte Humankapital Frau entdeckt, die Frau als letzte Kolonie, extrem billig, immer verfügbar, leicht zu manipulieren. Statt an der Entwicklung
teilzuhaben, wurde der Frau immer mehr Arbeit ohne angemessene finanzielle und soziale Entlohnung aufgebürdet.
Konkret führt dies zur Feminisierung des Elends, zur Ausbeutung der Frau unter dem Pseudobegriff Entwicklung. Diese Politik der Verkennung und Vernachlässigung der Zielgruppe Frau in der Dritten Welt hat der Frau die Lasten der Entwicklung aufgebürdet, ihr aber die Früchte vorenthalten. Ich kann dem Bundesminister den Vorwurf nicht ersparen, daß er diese Entwicklung wider besseres Wissen hat treiben lassen, daß er die Gefahr zwar erkannt hat, ihr aber nur mit Worten und nicht mit Taten begegnet ist. Zu diesem konkreten Handeln wollen wir mit unserem Antrag auffordern. Es herrscht nämlich Handlungsbedarf.
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Machen Sie endlich die Förderung von Frauen in den Entwicklungsländern zum praktischen Bestandteil Ihrer Politik! Das heißt, endlich ein Referat Frauenförderung in Ihrem Hause einzurichten, ein Referat, das sachlich wie personell wohlausgestattet ist, das Kompetenzen erhält und kein Mauerblümchendasein fristen muß. Dieses Referat muß Zugang zu Planungs- und Entscheidungsprozessen auf allen Ebenen haben.
Wir empfinden es als Hohn, wenn nach der langen Diskussion, der Beschlußfassung im Ausschuß und den wiederholten Ankündigungen, wie man jetzt hört, die Einrichtung eines Referates etwa für Frauen, Familie, Jugend, soziokulturelle und übersektorale Fragen die Antwort des Ministers sein soll.
Wir haben die Aufgaben des Referats Frauenförderung sehr genau beschrieben. Verfallen Sie bitte nicht dem Irrglauben, allein das Einfügen des Wortes „Frau" in ein Bauchladenreferatsschild würde unseren Ansprüchen bereits genügen; denn Arbeit wird es für diese Mitarbeiter zur Genüge geben, zumal ihnen die Aufgabe obliegen wird, bei allen Entwicklungsvorhaben die Auswirkungen auf Frauen und die Akzeptanz durch die Frauen zu untersuchen. Wer Frauen wirklich fördern will, muß sie bei der Lösung ihrer Probleme unterstützen, und diese Probleme sind: extrem hohe Arbeitsbelastung, schlechter Gesundheitszustand, Ausbildungsdefizite und daraus wie aus der geringen Produktion der weiblichen Landwirtschaft überaus bescheidene Einkommensmöglichkeiten.
Aus diesem Problemtableau läßt sich die Zielrichtung dieser dringend erforderlichen frauenspezifischen Entwicklungszusammenarbeit ablesen. Es bedarf einer Arbeitserleichterung durch die Einführung erschwinglicher Kleintechnologien für Haushalt wie Landwirtschaft. Es bedarf einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung, einer Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktivität, einer verstärkten Einkommensschaffung und schließlich einer Verbesserung von Bildung und Ausbildung der Frauen. Das sind die Ansätze, auf die hin das Referat Frauenförderung die bundesdeutschen Projekte für die Dritte Welt zu untersuchen hat.
Es muß dafür gesorgt werden, daß der Frauenanteil vor allem in Entscheidungsfunktionen staatlicher Entwicklungsinstitutionen beträchtlich erhöht wird.
Die Sensibilität für Frauenbelange in der Dritten Welt wird durch die vorhergesehene Umorganisation im BMZ nicht gewährleistet. Entscheidend ist, daß dort, wo Frauenförderung betrieben werden sollte, endlich einmal einige Frauen sitzen. Denn dort, wo über Praxisnähe unserer Entwicklungszusammenarbeit entschieden wird, wo eben das zum Tragen kommen soll, was hier in diesem Hause und auch im Ministerium an hehren Grundsätzen verkündet wird, gibt es eine reine Männerdomäne. Dort ist es wie in der eben kritisch betrachteten Praxis der Dritten Welt; nur mit Wehmut kann ich hier an Marie Schlei denken.
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Wir können nicht glauben, daß bei den etwa 60 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die im Zuge der Reorganisation des BMZ ihre Aufgaben und Stühle wechselten, keine qualifizierte Frau ist, die diese Aufgabe übernehmen konnte. Hier fehlt der Wille.
In diesen Zusammenhang gehört auch unsere Forderung, die Zahl der Pilotprojekte für Frauen zu erhöhen und die Forschung gezielt für den Bereich Frauen in Entwicklungsländern auszubauen. Begleitend dazu muß auch hierzulande für eine entsprechende Öffentlichkeitsarbeit gesorgt werden. Es müssen Seminare und Fachtagungen, es muß Mitarbeiterfortbildung veranstaltet werden, damit die besondere Rolle der Frau in den Entwicklungsländern deutlich gemacht werden kann.
Herr Köhler, der Minister ist nicht hier, darum richte ich diesen Appell an Sie: Sorgen Sie jetzt dafür, daß mit der Realisierung der Vorgaben unseres Antrages ein Stück praktische Politik verwirklicht wird, deren Notwendigkeit ja von niemandem bestritten wird!
Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat die Problematik jüngst wie folgt beschrieben: Hilft man einem armen Mann, investiert er sein Geld in einen Transistor und später in ein Motorrad. Was man einer Frau leiht, gibt sie für die Kinder und für die Unterkunft aus. Der Mann denkt zuerst an sich und die Gegenwart, die Frau denkt an die anderen und an die Zukunft. - So weit der Bundespräsident. Handeln Sie nach diesem Motto!
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Rönsch ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin Luuk, ich bedaure eigentlich, daß Ihre Rede unter dem Motto gestanden hat: Nichts hören, nichts sehen, viel sagen. - Sie haben vollkommen ignoriert, was in den letzten fünf Jahren im BMZ passiert ist. Ich werde Ihnen jetzt Punkt für Punkt nachweisen, daß sich dort sehr viel geändert hat und daß Ihre Rede, die Sie hier gehalten haben, nicht der Wirklichkeit entspricht.
Wir von der CDU/CSU verstehen von jeher entwicklungspolitische Zusammenarbeit als praktizierte Solidarität mit den Menschen in der Dritten Welt. Wir begreifen sie als Herausforderung an unseren politischen Weitblick und an unser Gewissen. In diesem Rahmen besitzt auch die Förderung der Frauen in
Frau Rönsch ({0})
Afrika, in Asien und in Lateinamerika bei uns, die wir uns dem Leitmotiv der Partnerschaft zwischen Mann und Frau verschrieben haben, einen ganz besonderen Stellenwert.
Von unserem Selbstverständnis ausgehend, haben die Arbeitsgruppe Wirtschaftliche Zusammenarbeit und die Gruppen der Frauen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im vergangenen Jahr gehandelt. Wir haben uns in einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe Frauenförderung zusammengeschlossen, Initiativen ergriffen und die Berücksichtigung von Frauen in allen Projekten der deutschen Entwicklungshilfe gefordert, also frauengerechte Gestaltung staatlicher Entwicklungsarbeit. Die Kirchen und auch nichtstaatliche Organisationen haben in der Vergangenheit längst gehandelt gehabt.
Wir forderten erfolgreich, die in der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit tätigen Mitarbeiter aller Organisationen entsprechend aus- und fortzubilden, um sie für Frauenprobleme noch mehr zu sensibilisieren. Schließlich forderten wir ebenfalls - ich betone an dieser Stelle nochmals: mit großem Erfolg - die personelle Verankerung der Frauenförderung im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Ihnen, meine Herren und Damen von der SPD, gilt an dieser Stelle mein Dank. Denn obgleich wir auch ohne Ihre Hilfe, die Sie uns in Ihrem Antrag ja nun signalisiert haben, zu dem von uns angestrebten Ziel gekommen wären, so haben Sie doch unsere damaligen Ideen aufgegriffen, sie für gut befunden, Sie haben unser Arbeitspapier abgeschrieben - allerdings ohne das Copyright zu beachten -, und Sie haben sie in Ihren Antrag aufgenommen. Sie können das in der einschlägigen Fachpresse nachlesen.
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- Auch die Journalisten haben Ihnen das nachgewiesen. Ich kann Ihnen das gerne zeigen. Auch wenn es weh tut, es ist eine Tatsache.
Das Ergebnis, das Sie - wenn ich Sie jetzt richtig verstehe - auch ein wenig für sich zu reklamieren versuchen, will ich Ihnen nicht vorenthalten: Erstmals seit dem Bestehen des Ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit, das ja nun immerhin seit 1962 besteht - Sie haben auch Marie Schlei als Ministerin angesprochen; was hat sie für die Frauen im Ministerium getan? Was hat sie für die Frauen in der Dritten Welt getan? „Minister kommen und gehen, aber nichts wurde getan", das Zitat stammt von Ihnen, Frau Luuk, ich kann Ihnen nur zustimmen: es wurde in der Vergangenheit wenig getan; jetzt aber weise ich Ihnen nach, daß zwei Minister etwas getan haben -, richtet diese Bundesregierung jetzt ein eigenständiges Frauenreferat ein, das sich getreu und unserem Verständnis nach auch mit Jugend- und Familienfragen sowie mit dem soziokulturellen Umfeld beschäftigt, ja, ich meine, beschäftigen muß. Denn bekanntlich leben auch die Frauen in den Ländern der Dritten Welt auf der südlichen Halbkugel meistens nicht alleine. Diese Frauen aus ihrer familiären Eingebundenheit zu isolieren und womöglich als rückständig-exotische Exemplare des weiblichen Geschlechts mit extremem feministischen Nachholbedarf darzustellen,
({2})
das wäre sicher die schlechteste aller Formen der Frauenförderung.
Die Aufgaben des neuen Referats, das im übrigen den Zuschlag beider im BMZ 1988 eingerichteten Planstellen erhielt, umfassen somit sowohl die gezielte Förderung von Frauen in Entwicklungsländern als auch die Förderung ihrer Kinder, ihrer Familien mit dem Ziel, Grundbedürfnisse zu befriedigen und die Armut durch die Hilfe zur Selbsthilfe zu bekämpfen. In diesem Sinne erhielt die Förderung der Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit eine Querschnittsfunktion und bleibt nicht auf einzelne Sektoren beschränkt.
Noch auf einen weiteren Punkt will ich an dieser Stelle Ihre Aufmerksamkeit lenken. Während unserer Regierungszeit wurde im BMZ die Grundlage dafür gelegt, daß auch Führungspositionen in diesem Ministerium zunehmend von Frauen besetzt werden können.
({3})
- Aber wie viele Frauen im Ministerium, und wie hat sich das auf die Frauen in der Dritten Welt ausgewirkt, auf die es hier ankommt und für die die Förderung sein sollte?
Der Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der Mitarbeiter im Ministerium beträgt bisher 26 %. Doch wir haben schon durch die Praxis der Neueinstellung die Gewichte entscheidend verschoben. Denn der Anteil der in den vergangenen Jahren neu eingestellten Frauen lag im höheren Dienst immerhin bei 42,9 % und im gehobenen Dienst sogar bei 51,8 %. Ich meine, daß damit die Basis geschaffen ist, um den Einfluß der Frauen auf die Entwicklungsarbeit allgemein und speziell auf die Förderung der Frauen in den DritteWelt-Ländern langfristig zu sichern und zu verbessern.
Das BMZ nimmt an dieser Stelle eine Vorbildfunktion bei den Ministerien ein. Die anderen Ministerien könnten sich an diesem Vorbild orientieren.
Den Ministern, die in dieser Zeit Verantwortung trugen und tragen, nämlich Herrn Dr. Warnke und Minister Klein, sei hiermit mein ganz herzlicher Dank ausgesprochen. Sie haben hier sehr viel getan.
({4})
- Permanent. Wenn Sie die ganze Zeit anwesend gewesen wären, hätten Sie gehört - ({5})
- Ja, das muß auch so sein; denn Sie haben an dieser Stelle nichts getan, für die Frauenförderung gar nichts.
Die SPD läuft mit ihrem doch sehr schön abgeschriebenen und nachgekarteten Antrag bei uns, bei
Frau Rönsch ({6})
der CDU, offene Türen ein, ja, Sie laufen hinterher. Wenn man einmal bei dem sportlichen Bild bleibt: Sie lassen entscheidende Hürden aus, und Sie treffen auch erst als zweite im Ziel ein. Doch Sie kommen nicht nur zu spät, Sie haben auch noch abgekürzt; denn ich vermisse in Ihrer Vorlage zwei ganz entscheidende und für uns richtungsweisende Aussagen, nämlich:
Erstens. Westlich geprägte Emanzipationsbilder helfen den Frauen in der Dritten Welt nicht weiter. Ich wende mich deshalb gleichermaßen gegen die gescheiterten Ideologien des Sozialismus, wonach sich die Frau nur in der Arbeitswelt emanzipieren kann, wie gegen die militanten Feministen, wonach sich die Frau nur gegen den Mann emanzipieren kann, allerdings auch gegen die rückständigen Formen des Konservativismus, wonach die Frau nur an den Herd und in das Heim gehört.
({7})
Für uns gilt die Voraussetzung, daß Frauenförderung die kulturellen, religiösen und sozialen Rahmenbedingungen der Dritten Welt berücksichtigen muß.
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Dafür bin ich, Herr Professor Holtz. Vorhandene Werte können nicht einfach über Bord geworfen werden. Sie sind statt dessen fortzuentwickeln. Tun wir das nicht, meine ich, schlägt das Pendel um, wie das in einigen islamischen und auch afrikanischen Ländern bereits geschehen ist. Der westliche Kultureinfluß wird als eine Bedrohung für die eigene Identität begriffen. Fundamentalismus, Nationalismus - das sind dann die Folgen.
Ich vermisse in Ihrem Antrag zweitens die Berücksichtigung des familiären Umfelds der Frauen, die Sie fördern wollen. Wir wollen die Männer in der Projektplanung nicht grundsätzlich ausschließen. Unsere Vorstellung zielt auf eine gleichberechtigte partnerschaftliche Beziehung zwischen Mann und Frau in der Familie.
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Wenn Sie mit den vor Ort tätigen Mitarbeitern einmal reden, dann stellen Sie fest, daß die das ganz genauso sehen. Die Mitarbeiter in den staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen werden Ihnen bestätigen, daß man ohne die Männer vor Ort effektiv nichts tun kann. Die Bereitschaft zur Unterstützung von Frauenprogrammen wird wesentlich erhöht, wenn die männlichen Entscheidungsträger im Dorf beteiligt sind und um Rat gefragt werden.
({10})
Das können Ihnen die Experten vor Ort immer bestätigen.
Meinen eigenen Parteifreunden lege ich ans Herz: Unsere Frauenförderung darf auch nicht den Irrtum begehen, die tatsächliche wirtschaftliche und soziale Position der Frau in Afrika zu verkennen. Auch unsere europäischen Familienbilder sind nicht schablonenhaft in dem Sinne zu übertragen, daß der Mann als der Ernährer der Familie, die Frau als abhängige Hausfrau eingestuft wird. Die Frauen sind als das zu erkennen und zu fördern, was sie vielfach sind, nämlich hackenschwingende, die Ernährung ihrer Familie erst sicherstellende Landfrauen, zugleich Händlerinnen auf den lokalen Märkten, die knüpfen, häkeln, schnitzen, schreinern und bauen - und dies alles neben der Erziehung der Kinder und der Aufgabe als Haushaltsvorstand und gleichzeitig Ehefrauen. Diese Frauen müssen Verfügungsgewalt über nützliche und arbeitssparende Gerätschaften erhalten. Sie müssen ausgebildet werden; insbesondere die Grundausbildung tut not. Auch eine einfache Kosten-NutzenRechnung muß von diesen Frauen erstellt werden können. Frauen können zudem sehr gut mit Geld umgehen, meine Herren;
({11})
ihnen sollte Zugang zu Kleinkrediten gewährt werden. Vor allem aber müssen die Eigeninitiativen der Frauen aufgegriffen und gefördert werden. Sie selbst müssen ihre Bedürfnisse formulieren und Wege vorschlagen, wie sie umzusetzen sind. Hierbei sollten wir ihnen helfen, zur Seite stehen, Hilfe zur Selbsthilfe geben.
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Ihre Anträge, meine sehr geehrten Herren und Damen von der SPD und auch von den GRÜNEN, verweisen wir in die Ausschüsse. Wir werden unsere Vorstellungen dort noch einmal einbringen. Ich meine, daß unser Weg den Frauen in den Entwicklungsländern dann weiterhilft.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.
„Die Entwicklungspolitik der Union läßt sich von den Grundwerten Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität leiten", erklärt die Gruppe der Frauen der CDU/CSU-Fraktion; siehe Pressedienst vom 13. Juli 1987. Wir dürfen annehmen, daß eine solche Erklärung bei Frauen aus der Dritten Welt Gelächter und Kopfschütteln hervorruft; die wissen es nämlich besser. Und so ganz sicher scheinen sich in diesem Punkt auch die CDU/CSU-Frauen nicht zu sein, da sie im gleichen Atemzug feststellen, daß selbige Entwicklungspolitik die Frauen vernachlässige und diskriminiere. Das soll nun anders werden. Eine Arbeitseinheit „Frauenförderung" im BMZ wird geschaffen.
Die Kolleginnen der SPD-Fraktion wiederum verstehen sich offenkundig als Nachlaßverwalterin der Weltfrauenkonferenz in Nairobi 1985. Sie betonen die „Schlüsselrolle" der Frau im Entwicklungsprozeß und verlangen ihre gezielte Förderung. Dies, so führen sie aus, diene „der Verwirklichung von Menschenrechten und der Wahrung der Menschenwürde". Wer mag ihnen da widersprechen?
Wenn die Frauenbenachteiligung jetzt sogar Thema im BMZ ist, dokumentieren sich darin das
praktische Scheitern und die ideologische Niederlage bisheriger Lösungsansätze für die noch fortschreitende wirtschaftliche und soziale Verelendung in den Ländern der Dritten Welt oder unentwickelt gehaltenen Ländern. Deren Benachteiligung, meine Herren und wenigen Damen Entwicklungspolitiker, ist Teil und Resultat eines Prozesses, der einige Männer auf Kosten aller Frauen privilegiert.
Die Integration in die Entwicklungspolitik, die Sie sich zum Ziel gesetzt haben, ist längst vollzogen. Denn aus Ernährerinnen, Bäuerinnen und Medizinerinnen wurden Hausfrauen, Dienstmädchen und Prostituierte, die, ihrer früheren sozialen Stellung beraubt, das Überleben der Familie organisieren, wo Staat, Ökonomie und Entwicklungshilfe versagten. Das ist die Melodie der Unterentwicklung. Auch wenn der Taktstock von der rechten in die linke Hand wechselt: Es bleibt ein Stock.
Ob sozialdemokratischer Paternalismus früherer oder konservatives Patriarchat heutiger Konzepte: Die Hierarchie der Geschlechter ist nicht gegeben, sondern hergestellt. Sie paßt ins Programm auch der Entwicklungspolitik. Dabei wurde das weibliche Arbeitsvermögen keineswegs ignoriert, wie manchmal verheißen wird, sondern war mit-berücksichtigt, mit-gedacht, mit-geplant. Denn der Weltmarkt, so wie er funktioniert, setzt die Entwertung und Ausbeutung der weiblichen Arbeitskraft notwendig voraus.
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Da wundert nicht, wenn der weiße Mann auf Reisen in armen Ländern, diese Verhältnisse in Kauf nehmend und von ihnen profitierend, gerade von jenen Frauen schwärmt, die dem Elend trotzen, die selbstlos, verantwortungsbewußt und mütterlich handeln - so der frühere Entwicklungshilfeminister Warnke und Bundespräsident von Weizsäcker.
Ich gebe zu: Auch unser Antrag wird den Frauen in der Dritten Welt nicht gerecht. Das kann er auch gar nicht. Denn eine wirkliche Feminisierung der Entwicklung schließt gerechte Verhältnisse auch auf Makroebene ein. Die GRÜNEN im Bundestag haben dazu bereits mehrfach Stellung genommen, Positionen, Konzepte, Initiativen vorgelegt. Ein Mehr von allem - Geld, Stellen, Projekten - führt dem Ziel jedenfalls nicht eben näher. Zu vieles wurde bereits durch das Wenige versaut. Die Frauen besonders zu berücksichtigen und partizipieren zu lassen, das war noch nicht einmal bei ihren eigenen Männern vorgesehen. Solange die Machos hier wie dort an ihren Privilegien und Geldtöpfen hängen, bleibt die Haushaltskasse leer; das kann Ihnen jede Frau vorrechnen. Alle institutionellen, formalbezogenen Ansätze von Frauenförderung sind bestenfalls geeignet, nicht noch alles schlimmer zu machen, als es ohnehin schon ist.
Eine frauengerechte Entwicklung muß sich - daran geht kein Weg vorbei - an den Bedürfnissen und Ressourcen der Dritten Welt selbst orientieren. Sie muß von männlicher Bevormundung und ungerechten Wirtschaftsbeziehungen befreit werden.
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Kurzum: Sie muß von den Prämissen Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ausgehen, von Eigenversorgung. Alles andere ist kapitalistische und patriarchalische Ausbeutung.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Folz-Steinacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute mit der Situation von Frauen in Entwicklungsländern beschäftigen, müssen wir dies auch mit der Frage nach der Stellung der Frauen im wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Leben verbinden. Es geht hierbei nicht um eine Emanzipationsdebatte, die von vielen, meine Damen und Herren, aber nicht nur von den Männern schon wegen des Begriffs leichtfertig abgetan würde. Es geht vielmehr um die Achtung und Verwirklichung der in der Charta der Vereinten Nationen festgelegten Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen, ohne Unterschied des Geschlechtes.
Wir sind uns bewußt, daß eine Benachteiligung von Frauen die Menschenwürde verletzt und zutiefst ungerecht ist. Gleichstellung bedeutet jedoch nicht, alles um jeden Preis und möglicherweise sogar gegen den Willen der Betroffenen gleichmachen zu wollen. Gleichberechtigung der Frauen heißt für mich, für die FDP: gleichberechtigte Partnerschaft von Mann und Frau in allen Lebensbereichen, also die volle und aktive Mitwirkung von Frauen an Entscheidungsprozessen und ihre gerechte Teilhabe an den Früchten des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts in einer menschlichen Gesellschaft. Freiheit und Selbstbestimmung des einzelnen lassen sich nur verwirklichen, wenn wir sozial- und gesellschaftspolitische Benachteiligungen von Frauen abbauen und Chancengleichheit in allen Lebensbereichen herstellen. Es bedarf einer nachhaltigen Bewußtseinsbildung, besser gesagt: Bewußtseinsänderung, wenn wir dieses Ziel erreichen wollen.
Denn wir müssen feststellen, daß es trotz vieler Verbesserungen in den letzten Jahren nach wie vor, und zwar weltweit, eine nicht zu akzeptierende Benachteiligung der Frauen in der Politik, der Wirtschaft, der Wissenschaft - ich bestehe nicht unbedingt auf dieser Reihenfolge - und auch bei der sozialen Absicherung im Alter gibt. Dabei geht es für viele Menschen um existentielle Fragen. Das dürfen wir hierbei nicht vergessen. Gerade Frauen in den Ländern der Dritten Welt sind gegenüber den Männern in vielfältiger Hinsicht benachteiligt. Ihre Lage ist vor allem durch sehr schwere Lebensbedingungen gekennzeichnet. Darunter verstehe ich hohe, sehr hohe Geburtenraten, eine ganz schnelle Geburtenfolge, Mangel-, Fehlernährung. Eine unzureichende medizinische Versorgung, mangelnde Umwelthygiene setzen diese Frauen großen gesundheitlichen Gefahren aus. Sie müssen unter härtesten Bedingungen für die Ernährung ihrer Familie sorgen und tragen gegenüber ihren Kindern die größere Verantwortung. Ihr sozialer Status benachteiligt sie im Bereich der Ausbildung und erschwert ihnen den Zugang zu vielen Berufen und damit auch zu einem angemessenen Einkommen,
wenn man hier überhaupt von einem angemessenen Einkommen reden kann.
Angesichts dieser Situation kommt einer verstärkten Förderung von Frauen in Entwicklungsländern im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit eine ganz besondere Bedeutung zu. Entwicklungspolitik muß daher, und ich betone: noch stärker als bisher auf die Bedürfnisse der Frauen eingehen.
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- Ich habe es deswegen betont.
Die Grundlage dafür wurde durch die Weltfrauenkonferenz 1985 in Nairobi geschaffen. Auf Mexiko möchte ich hier nicht eingehen. Das auf dieser Konferenz einstimmig verabschiedete Abschlußpapier enthält vorausschauende Maßnahmen und Strategien der Frauenpolitik bis zum Jahre 2000. Es enthält vielfältige Vorschläge zur Verbesserung der Situation der Frauen in den Entwicklungsländern, teils durch frauenspezifische Maßnahmen, teils durch Maßnahmen, die einer allgemeinen Verbesserung der Lebensbedingungen dienen. Wir begrüßen die Erklärung der Bundesregierung, sich mit Nachdruck für die Umsetzung der Empfehlungen des Strategiedokuments einzusetzen und eine Förderung von Frauen sowie die stärkere Berücksichtigung ihrer Belange im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit sicherzustellen. Und wir werden sicherlich auch sehr genau aufpassen, daß das umgesetzt wird.
Eine frauengerechte Entwicklungspolitik verlangt, daß im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit die aktive Beteiligung der Frauen gewährleistet ist. Planung und Durchführung der Projekte sollten, müssen dem Rechnung tragen.
Die dazu erforderlichen Voraussetzungen hat die Bundesregierung inzwischen durch die Einrichtung eines nur für Frauenförderung zuständigen Referates im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit geschaffen, und zwar ist der Stichtag der 15. März. Hier habe ich mich schlau gemacht.
Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie die mit dieser Querschnittaufgabe verbundenen Ziele nachhaltig verfolgt und eine Förderung von Frauen in allen Sektoren der Entwicklungszusammenarbeit ermöglicht. Bevorzugt sollten allerdings solche Bereiche gefördert werden, bei denen Frauen eine Schlüsselrolle im Entwicklungsprozeß übernehmen können, ich möchte hier nicht sagen: spielen können. Sie sollten sie also wirklich übernehmen. Damit meine ich insbesondere die kleinbäuerliche Landwirtschaft, Handwerk und eben auch das Kleingewerbe.
Wichtig sind weiterhin die Förderung basisnaher Kreditsysteme und Hilfen für die Selbsthilfeorganisationen. Aber auch Maßnahmen, die die allgemeine Lebenssituation der Frauen verbessern, gehören in diesen Zusammenhang und sollten auf keinen Fall vergessen werden.
Bei allen guten Absichten hinsichtlich einer stärkeren Förderung von Frauen dürfen wir aber auch den Blick für das Mögliche nicht verlieren. Manchmal habe ich den Eindruck, daß dieser Blick schon längst verlorengegangen ist. Wir müssen uns immer bewußt sein, daß die seit Jahrhunderten, ich möchte es sogar noch erweitern: seit Jahrtausenden gewachsenen kulturellen Traditionen nicht abrupt verändert werden können. Ich weise hier nicht auf die tausendjährige Männerherrschaft hin, meine Herren.
({1})
Häufig müssen erst soziale Vorurteile abgebaut werden, um eine aktive und gleichberechtigte Mitwirkung der Frauen am Entwicklungsprozeß zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, Frauenförderung in der Entwicklungszusammenarbeit erfordert also eine flexible, und zwar auf die jeweilige Situation des Landes abgestimmte Vorgehensweise. Und nur unter Berücksichtigung der kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen lassen sich entwicklungspolitische Förderprogramme erfolgreich verwirklichen. Gefordert ist eine entwicklungspolitische Zusammenarbeit, die frei von jeder Art Bevormundung ist und Selbstvertrauen und Eigenständigkeit der Entwicklungsländer zum Ziel hat; ich sage hier „zum Ziel hat", leider Gottes ist es nicht immer so. Ihre Traditionen sollten und müssen respektiert und ihre kulturelle Identität bewahrt bleiben.
Forderungen nach vermehrten Eigenanstrengungen der Entwicklungsländer müssen diese Gesichtspunkte beachten. Politischer Dialog und Projektvereinbarungen dürfen die Souveränität der Entwicklungsländer nicht beeinträchtigen. Meine Damen und Herren, gerade in den zuletzt genannten Punkten unterscheiden sich unsere Auffassungen von den im Antrag der SPD-Fraktion erhobenen Forderungen. Das verkennt auch der Antrag der GRÜNEN, der insbesondere in seiner Begründung an der Wirklichkeit vorbeigeht.
({2})
- Vielleicht ändert sich das, Frau Kollegin.
Dies gilt auch für solche Forderungen, die zur Behandlung der Frauenförderung als eines Sonderproblems der Entwicklungszusammenarbeit führen würden. Die Förderung von Frauen im Entwicklungsprozeß sollte jedoch unserer Meinung nach integraler Bestandteil aller entwicklungspolitischen Förderungsprogramme sein. Frauenspezifische Projekte können zwar in besonderen Fällen erforderlich sein; eine Erhöhung der dafür bereitzustellenden Förderungsmittel ist jedoch nicht entscheidend für den angestrebten Entwicklungserfolg.
({3})
Bemühungen um eine Erhöhung des Frauenanteils in staatlichen Entwicklungsorganisationen werden grundsätzlich auch von uns begrüßt, aber, meine Damen und Herren, Sie wissen: Quotierungen lehnen wir ab. Das gilt nach wie vor.
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- Wir überzeugen durch Klasse!
({5})
Allerdings darf eine mögliche Bevorzugung von Männern nicht durch eine sachlich nicht gerechtfertigte Bevorzugung von Frauen ersetzt werden.
Trotz Übereinstimmung in den Zielen kann die FDP-Bundestagsfraktion den vorliegenden Anträgen nicht zustimmen. Eine weitere parlamentarische Beratung ist, so denke ich, erforderlich. Ich beantrage daher eine Überweisung an die zuständigen Fachausschüsse.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Niehuis.
Herr Präsident! Sehr verehrte Herren und Damen! Heute wurde schon mehrfach erwähnt, daß über Frauenförderung in Entwicklungsländern schon lange geredet wird, und ich frage mich: Hat das hier bei uns eigentlich eine Bewußtseinsänderung bewirkt? Wenn ich mir den letzten entwicklungspolitischen Jahresbericht der Bundesregierung, den von 1986, anschaue, stelle ich fest - und das sehe ich ganz anders als Sie, Frau Rönsch -, daß es nur einen ganz kleinen Abschnitt „Frauenförderung" gibt, und in diesem ganz kleinen Abschnitt „Frauenförderung" steht dann:
Auch Frauen sollen aus der Entwicklung ihrer Länder und der Entwicklungshilfe Nutzen ziehen.
Welches groteske, ignorante Gönnertum steckt eigentlich hinter diesem Satz!
({0})
Hier wird der Eindruck erweckt, irgendwelche Menschen - wohl besser: Männer - entwickelten die Welt, und nun werde es Zeit, daß sie von dem Erwirtschafteten den Frauen etwas abgeben. Solch eine Aussage, Frau Rönsch, noch im Jahre 1986, obwohl die Weltbank schon 1973 das Scheitern der Entwicklungsstrategie beklagte und die Schlüsselrolle der Frau in der Entwicklungspolitik erkannte!
Man entdeckte zugegebenermaßen damals nicht die Frau als Person, schon gar nicht als soziales Wesen; man entdeckte sie Schlichtweg als ungenutzte Ressource, deren Leistungsfähigkeit und Verantwortungsbewußtsein - bis hin zur guten Rückzahlungsmoral bei Krediten - man zu nutzen wußte. Dann hieß die neue Maxime: Integration von Frauen in die Entwicklung.
Wir haben heute gehört, daß der Arbeitsmarkt in den Entwicklungsländern gespalten ist: hier die weltmarktorientierte, besser bezahlte Arbeit der Männer im modernen Sektor, dort die unterbezahlte Arbeit der Frauen in der ländlichen Versorgungs- und Hauswirtschaft mit mittlerweile geringerem sozioökonomischem Ansehen. Weil es für die Familien nicht reicht, darf die Frau dazuverdienen.
Was ist hier eigentlich passiert? Hat die Kolonialzeit etwa ohne Rücksicht auf die in den entsprechenden Ländern gewachsenen Traditionen das hier bei uns übliche kleinbürgerliche patriarchalische Familienmodell auf die Entwicklungspolitik übertragen, ein Modell, in dem der Mann als Familienernährer hochstilisiert und der Frau die mittlerweile unterbewertete Tätigkeit als Hausfrau in der Subsistenzwirtschaft zugewiesen wurde, allerdings mit der Möglichkeit, dazuzuverdienen? Insofern, Frau Rönsch, können Frauen in der Tat westlichen Einfluß als Bedrohung empfinden. Solch ein Ideologieexport wäre ungeheuerlich, und dennoch, es gibt Anzeichen dafür.
Im Informationsvermerk des BMZ „Frauenprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit" vom 24. Mai 1984 steht unter dem Kapitel „Bildung", daß Frauen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden müßten, weil dies die Voraussetzung zur Erzielung von zusätzlichem Einkommen sei, zusätzlich zur Hausund Subsistenzwirtschaft - die Frau als Zuverdienerin also.
Die Krönung vom Ganzen ist eine Äußerung, die Sie, Herr Staatssekretär Köhler, in einem Interview der „Nordwest Zeitung" vom August letzten Jahres gemacht haben. Da sagen Sie:
Wir müssen die Situation der Frauen erleichtern, die meist nur Kärrnerarbeit leisten, aber kaum zu produktiver Tätigkeit gelangen.
Wie kann man die Arbeit der Frauen in den Entwicklungsländern als kaum produktiv bezeichnen, wenn man doch weiß, daß diese Frauen nicht selten bis zu 80% der Nahrungsmittel erwirtschaften, mehr als ein Drittel der Haushalte in der Dritten Welt führen, mehr als 50 % der Arbeitsleistung in der Landwirtschaft erbringen, und das alles zusätzlich zu Hausarbeit und Familie?
Wer solch eine Abwertung der Frauenarbeit macht, der muß mir erklären, warum in dem gleichen Informationsvermerk des BMZ etwas von der Schlüsselrolle der Frau im Entwicklungsprozeß steht; das ist ein Widerspruch.
({1})
Im gleichen Interview, Herr Staatssekretär, haben Sie auch gesagt, Entwicklungshilfe dürfe kein Werkzeug der Frauenemanzipation sein.
({2})
Welche Realitätsferne! Sie lägen doch viel richtiger, wenn Sie festgestellt hätten, daß Entwicklungspolitik nicht länger ein Werkzeug europäisch patriarchalischer Familienideologen sein darf. Dann würden Sie den Kern der Entwicklung viel eher treffen. Was haben Sie eigentlich gegen Frauenemanzipation? Das können Sie ja gleich einmal erklären. Die gehört zur Frauenfrage nun einmal dazu - hier und dort, jede auf ihre Art und Weise.
Ich mahne dieses hier an, um deutlich zu machen, wie dringend wir ein gut ausgestattetes Frauenreferat im BMZ brauchen, um z. B. auch Ihnen, Herr Staatssekretär, solche Irritationen in Zukunft zu ersparen.
({3})
- Na gut, er soll so weitermachen.
Frau Rönsch, Sie haben gesagt, die Ad-hoc-Frauengruppe habe bestanden. Sie hat ja bestanden, und sie hat sich auch Gedanken gemacht. Aber Sie meinen dann, diese Ad-hoc-Frauengruppe habe in irgendeiner Weise Erfolg gehabt.
Nun, wir haben gehört, ein Frauenreferat solle kommen. In diesem Informationsvermerk „Neuorganisation des BMZ" vom 16. Februar 1988 steht - und ich nehme ja an, daß nicht gleich alles umgekippt wird und daß es bei dieser Regierung noch stimmt - :
Für Frauen wird ein neues Referat geschaffen, das sich auch mit den angrenzenden Bereichen Familie, Jugend im größeren Zusammenhang der soziokulturellen Bedingungen befaßt.
Wenn ich das richtig verstehe, geht es erstens nicht um ein Frauenreferat, sondern um ein Referat Jugend, Familie, Frauen und welche soziokulturellen Bedingungen es sonst noch gibt.
Zweitens. Wenn Sie schon meinen, dieses Frauenreferat mit anderen Bereichen koppeln zu müssen, dann frage ich mich: Warum koppeln Sie das nicht mit ländlicher Entwicklung, warum nicht mit Energiefragen, warum nicht mit Infrastruktur? Warum koppeln Sie das ausschließlich mit Familie und Jugend? Da kann ich nur sagen: Die patriarchalische Familienideologie läßt auch hier grüßen.
({4})
- Eigentlich nicht, aber man muß es ja einmal sagen.
Im übrigen, Herr Staatssekretär, stimme ich einer Aussage von Ihnen zu, nämlich einer Aussage, die Sie am 17. April 1985 im Ausschuß gemacht haben. Da sagten Sie:
Ein der Außenwirkung wegen geschaffenes Frauenreferat würde in der Tat keine Fortschritte bringen.
Da haben Sie recht, und an dieser Aussage werden wir Sie messen.
({5})
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Köhler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hätte sehr gerne mit der Feststellung begonnen, daß es auch in dieser Frage einen entwicklungspolitischen Gemeinbesitz gibt. Nach der Polemik, die ich hier zum Teil gehört habe, fällt das schwer. Trotzdem kann bei Lichte besehen kein ernsthafter Mensch bestreiten - und das tut auch kein ernsthafter Mensch - , daß die Rolle der Frau im Entwicklungsprozeß weiterhin stärker berücksichtigt werden muß. Darüber sind wir uns doch wohl hoffentlich alle einig.
Insofern sind auch die Anträge der Fraktion der SPD und auch der Fraktion DIE GRÜNEN - das stelle ich durchaus mit Genugtuung fest - etwas, was in vielen Punkten mit unseren Auffassungen übereinstimmt, auch wenn Sie hier eben fleißig so getan haben, als gäbe es solche Übereinstimmungen nicht. Aber vieles von dem, was Sie hier vorgetragen haben, ist klarer Bestandteil der entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung. Das kann man ja zum Teil an wortwörtlichen Übereinstimmungen des SPD -Antrages mit unseren Äußerungen feststellen. Ich versage mir einen Kommentar zu dieser wörtlichen Übereinstimmung.
({0})
Die Bundesregierung hat sich an der internationalen Diskussion über die Förderung der Frauen in der Entwicklungszusammenarbeit von Anfang an aktiv beteiligt. Sie hat über die Jahre auf diesem Gebiete gestaltend mitgewirkt, übrigens auch schon zu Zeiten, als Sie, meine Damen und Herren von der SPD, die Regierungspolitik in diesem Bereich bestimmten.
({1})
Die Leitlinie der OECD - ich wundere mich, daß Sie diese beharrlich nicht zur Kenntnis nehmen, sondern Ihre Weltrechnung erst bei der Weltfrauenkonferenz von Nairobi anfängt - , die in der Frage der Frauenförderung die internationale Gebergemeinschaft verpflichten, sind im November 1983 erlassen worden. Sie tragen in weiten Bereichen unsere Handschrift, in enger Abstimmung mit Regierungen und Parlamenten wie Norwegen, Schweden und Kanada. Sie haben hier eben bei ihrer Kritik an uns gleich in großen Rundumschlag eine gute Anzahl Ihrer Parteifreundinnen in diesen Ländern, die entwicklungspolitisch besonders profiliert sind, mit beleidigt.
Die konzeptionellen Überlegungen, die unserer Politik zugrunde liegen, sind Ihnen seit langem bekannt. Wir sind gewillt, bei jedem Vorhaben, wo immer die Möglichkeit besteht, Frauen einzubeziehen. Dies gilt für Planung, Durchführung und natürlich auch für den Projekterfolg. Konkret heißt das: Bei jedem relevanten Vorhaben wird die Frage nach den Auswirkungen auf die Frau gestellt, und das nicht erst ab morgen oder seit gestern. Nachteilige Auswirkungen für die Frauen müssen vermieden, vorgefundene Benachteiligungen kompensiert werden.
Wir haben über die ganzen Jahre - auch das ist im Ausschuß oft genug besprochen worden - den Weg gewählt, daß Frauenförderung auf die Integration der Frauen in Projekte setzt, also sektorübergreifend sein muß, und die Frauen sowohl im sozialen und familiären Bereich als auch in ihrer Eigenschaft als Wirtschaftsteilnehmer fördert, ob sie nun Produzentinnen sind oder Händlerinnen.
Dort, wo dieser beschriebene integrative Ansatz nicht möglich ist - etwa aus soziokulturellen Gründen oder wegen eines besonderen Nachholbedarfs, z. B. bei den üblichen Unterprivilegierungen der Frauen in der Ausbildung in vielen Ländern der Dritten Welt - , sind wir bereit - und wir tun es auch -, Projekte mit Frauen als alleiniger Zielgruppe durchzuführen.
Bei unseren Überlegungen lassen wir uns allerdings von dem Grundsatz leiten, daß die Frauen in den Entwicklungsländern selbst zu entscheiden haben, wo eine deutsche Förderung ansetzen soll. Ihre Bedürf4436
nisse und ihr kulturelles Selbstverständnis müssen Richtschnur für unsere Politik sein. In diesem Sinne, Frau Kollegin Niehuis, habe ich in dem genannten Interview vor einer Übertragung westeuropäischer Emanzipationsmodelle auf andere Situationen dort zu warnen versucht. Ich stelle es damit sehr gerne klar, wenn es uns hier in der Beratung weiterhilft.
Genauso beruht Ihre andere Attacke, die die Beteiligung der Frauen an der produktiven Arbeit betrifft, eigentlich ganz klar auf einem Mißverständnis. Gemeint ist hier, daß die Frauen in einer für sie einkommenerzielenden Arbeit völlig unterprivilegiert sind, daß man sie schuften läßt, ohne daß sie davon etwas haben. In dieser Hinsicht sind wir, glaube ich, ganz und gar einer Meinung in unserer Kritik.
Ihre Anträge, meine Damen und Herren von der SPD und von den GRÜNEN, enthalten, wenn ich das recht sehe, Vorschläge, die sehr weitgehend mit unseren Vorstellungen zu harmonisieren sind, auch wenn sie im Falle der GRÜNEN allerdings von einer ideologisch verzerrten Analyse der Lage in den Entwicklungsländern weitgehend entwertet werden.
Ich möchte doch in aller gebotenen Kürze auf einige, sagen wir einmal: Ungereimtheiten im SPD-Antrag eingehen, die - ich kann es nicht anders verstehen - auf dem für Sie vielleicht traditionell gegebenen Glauben erwachsen sind, daß perfekte Bürokratisierung die Dinge lösen könne. So soll nach Ihren Vorstellungen die Bundesregierung Nicht-Regierungsorganisationen zur Frauenförderung ausdrücklich ermutigen und das sogar im Bundeshaushalt verbindlich verankern.
Ganz abgesehen davon, daß, wie Sie genau wissen, seit 25 Jahren das Verhältnis jeder Bundesregierung zu den Nicht-Regierungsorganisationen eine solche Gängelung nicht möglich macht und auch wider die eigentlichen Vorteile gerade dieser Zusammenarbeit mit den Nicht-Regierungsorganisationen wirken würde, ist das auch zugleich eine Verkennung der bedeutenden Leistungen der Nicht-Regierungsorganisationen im Bereich der Frauenförderung. Insofern halte ich diesen Vorschlag in der Tat für befremdlich. Wir wollen im Verhältnis der Bundesregierung zu Kirchen und Stiftungen nicht in eine oberlehrerhafte Position kommen. Das verbieten schon der wechselseitige Respekt und die Gleichberechtigung. Ich halte dieses Ansinnen für abwegig.
Etwas antik kommt mir auch der Vorschlag vor, die Projektpartner in den Entwicklungsländern zur Erstellung von Richtlinien zur Frauenförderung zu drängen, und das gerade in einer Phase, in der in den ärmsten Ländern die Projektpartner auf Grund ihrer Gesamtsituation nicht einmal die nötigsten Leistungen überhaupt erbringen können.
({2})
Entwicklung - das müßte uns eigentlich allen klar sein - kann doch nicht durch ein Richtlinienwerk par ordre du mufti verordnet werden. Das muß faktisch an der Basis ansetzen. Bürokratische Richtlinien halte ich in dieser Hinsicht schlichtweg für schädlich.
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Sie haben vorgeschlagen, bei Regierungsverhandlungen an die Entwicklungsländern ein Aidemémoire zur Frauenförderung zu übergeben. Ich hoffe, Frau Kollegin Adam-Schwaetzer, die eben noch da war, nimmt es mir nicht übel, wenn ich sage: Das mag zwar zur Sinnerfüllung diplomatischer Existenz beitragen, aber der Entwicklungspraktiker weiß doch wohl, wie fruchtlos dieses Überreichen eines solchen Papiers wäre.
Es kann auch in der Frauenförderung nicht darum gehen, daß wir den Ländern der Dritten Welt sozusagen Vorstellungen zu Protokoll geben, die sie zur Kenntnis zu nehmen haben. Es kommt doch darauf an, daß wir mit ihnen in konkreten Maßnahmen das wirkliche Tun vereinbaren, um das es hier geht.
Wir betrachten in solchem Verständnis die Frauenförderung als einen Schwerpunkt der Entwicklungszusammenarbeit. Entsprechend wird die Frauenförderung in diesen Tagen im Zuge der Neuorganisation des BMZ von einem neu eingerichteten Querschnittsreferat gesteuert und koordiniert werden, das mit einer entsprechenden Kompetenzbreite ausgelegt ist, um wirklich wirksam werden zu können. Deswegen auch seine Verbindung mit dem Oberziel der Armutsbekämpfung, das uns doch allen so wichtig ist. Wir werden hier in keiner Weise einen Weg gehen - ich wiederhole Gesagtes - , der als eine Alibi-Organisationsform verstanden werden könnte. Das gilt auch für die personelle Besetzung.
Forschungsvorhaben zur Frauenförderung - wie von der SPD gefordert - sind bereits in Arbeit und in Angriff genommen. Soviel zu Ihrem Antrag.
Pilotprojekte, welche neue Ansätze zur Förderung von Frauen erproben und weiterentwickeln sollen, sind seit langem Bestandteil der Arbeit. Im Moment sind Pilotvorhaben dieser Art in einer Größenordnung von 40 Millionen DM im Projektstock enthalten. Die Summierung von frauenrelevanten Projekten seit 1979 ergibt immerhin eine Größenordnung, die 5 Milliarden DM deutlich überschreitet.
Natürlich wird es auch innerhalb der Entwicklungshilfeverwaltung Fortbildungsmaßnahmen geben, die zum besseren Verständnis der Belange der Frauen in der Dritten Welt dienen. Der stark gestiegene Anteil der Frauen im höheren und gehobenen Dienst des BMZ ist in diesem Zusammenhang besonders erfreulich. 1982 hatte das Ministerium im höheren Dienst 13,54 % Frauen. Bei unseren Einstellungen seit 1983 sind 43 % im höheren Dienst auf Frauen entfallen, im gehobenen Dienst sogar 52 %.
Meine Damen und Herren, in den weiteren Beratungen wird darüber zu sprechen sein, wieweit sachgerechte Problemlösungen in den Anträgen, die hier zur Beratung stehen, enthalten sind. Ich habe meine Zweifel angemeldet.
Ich möchte aber noch einmal herausstellen, daß in Teilen der Analyse und auch bei den Empfehlungen vielfältige Betrachtungen enthalten sind, mit denen
wir übereinstimmen können. Ich hoffe, daß es uns in den Beratungen gelingt, in diesem schwierigen und wichtigen Problembereich, in dem es nicht so sehr darauf ankommt, was wir hier in Deutschland denken, sondern in dem es darum geht, viele Regierungen, viele Länder, viele Gesellschaften für neue Wege zu gewinnen, wo wir nicht mit Hochmut dahergehen können, zu einem hohen Maß an Übereinstimmung zu kommen.
Ich möchte damit nicht die Auseinandersetzung über den richtigen Weg entwerten. Ich möchte auch nicht den Gegensatz zwischen Regierung und Opposition abschaffen. Aber ich biete Ihnen für die Beratungen faire Zusammenarbeit an, damit wir zu gemeinsamen Anstrengungen kommen; denn wir haben hier eine gemeinsame Verantwortung zur konkreten Hilfe für die Menschen in den Ländern der Dritten Welt.
({4})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Ich stelle Zustimmung fest. - Es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Großen Anfrage des Abgeordneten Brauer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Maßnahmen zum Doping im Sport - Drucksache 11/457 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1915 vor.
Im Ältestenrat ist für diese Beratung eine Redezeit von bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vorgesehen worden. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. - Es ist so beschlossen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Brauer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Gäste! Die Kommerziade von Little Dallas ist vorbei.
({0})
- Von Little Dallas. Sie waren ja mit. Es war ja sehr ähnlich, was da gelaufen ist.
Mit ihr ist die ursprüngliche olympische Idee vorbei. Allen, wirklich allen, ist deutlich geworden, daß die olympische Idee mit ausdrücklicher Billigung und Unterstützung der Sportfunktionäre und Politiker meistbietend verkauft wurde, die sich heute so lauthals über das unerträgliche Ausmaß der Vermarktung entrüsten. Die Aufregung betrifft nicht die innige Verflechtung von Politik, Wirtschaft, Medien und Sport, sondern daß dies offenkundig geworden ist. Die Wettkämpfe haben lediglich die wahren Machtverhältnisse offengelegt und damit die olympische Illusion beschädigt, die Illusion von der heilen, unpolitischen und zweckfreien Welt des Sports. Die starken Worte gegen den Kommerz und für ein reineres Olympia verfolgen vor allem einen Zweck: Die olympische Idee muß wenigstens nach außen so hochgehalten werden, daß sie auch künftig noch brauchbar und zu vermarkten ist. Blutet Olympia aus, dann wäre auch die Kuh, die gemolken werden soll, geschlachtet. Olympische Spiele sind für die Zuschauer und damit für den Kommerz nur dann interessant, wenn sie den Anschein einer heilen Sportwelt mit den dazugehörenden Ritualen wie Feuer, Eid und olympische Großfamilie vermitteln.
({1})
- Das war sehr wichtig und hing unmittelbar mit der Olympiade zusammen.
Um Geschäfte mit dem Sport zu machen, muß gegen - ({2})
- Der Zusammenhang ist deutlich: Die Ölmultis, die im NOK vertreten waren und die die Olympiade finanziert haben, genau diese Ölmultis nehmen den Indianern ihr Land; sie haben es zerstört. Das ist der Zusammenhang.
Wer also Geschäfte mit dem Sport machen möchte, muß gegen die Kommerzialisierung wettern.
({3})
Auch deshalb müssen Politiker und Sportfunktionäre alles tun, um den Höchstleistungssport als gesund und sauber zu preisen, obwohl sie alle wissen, daß Höchstleistungssport und permanente pharmakologische Behandlung untrennbar verbunden sind.
Wie sagte doch letzte Woche ein hoher Sportfunktionär der bundesdeutschen Olympiamannschaft in Calgary in einem vertraulichen Gespräch zu mir: „Nehmen tun sie alle was".
({4})
Wird ein Hochleistungssportler dabei erwischt, verbotene Pharmaka genommen, Blutdoping oder Urinaustausch gemacht zu haben, so wird der Fall individualisiert und als Verfehlung eines einzelnen abgetan. Es muß von der gängigen Praxis abgelenkt werden, damit die Illusion vom sauberen heilen Sport aufrechterhalten werden kann.
Mit den sportpolizeilichen Mitteln der SPD wie Ausweitung der strafrechtlichen Verfolgung, Ausschluß aus dem Verband, Stopp der finanziellen Förderung, macht die SPD dem Innenminister Zimmermann Konkurrenz und löst damit das Problem in keiner Weise.
({5})
Die intensive pharmakologische Behandlung zur Vorbeugung von Verletzungen und Erkrankungen, zur physiologischen und psychischen Leistungssteigerung oder zur Überwindung der menschlichen Leistungsgrenze ist nämlich keine individuelle Angelegenheit des Sportlers.
Internationale Wettbewerbe im Kraftsport sind ohne Anabolika nicht mehr zu gewinnen. Das ist eine Aus4438
sage eines ganz führenden Sportwissenschaftlers. Hat sich z. B. eine Sportlerin auf den Weg zum Höchstleistungssport begeben, so ist sie Leistungserwartungen etwa seitens der Sportförderung, des Trainers, des Verbandschefs, des Sponsors, der Sportmedien, der Zuschauer und insbesondere auch ihres Arztes ausgesetzt. Unter diesem ständigen Erfolgsdruck stehend ist es naheliegend, nach pharmazeutischen Präparaten zu greifen.
Nach Aussagen von Professor Hollmann, dem international renommierten Sportmediziner, sind, wie gesagt, ohne Anabolika internationale Wettbewerbe im Kraftsport nicht mehr zu gewinnen. In 18 Disziplinen seien ohne den zweifelhaften Segen der Chemie Weltklasseleistungen nur noch in Ausnahmefällen möglich. Meine Damen und Herren, wir haben das Zeitalter des chemischen Athleten erreicht.
Was könnte man nun eigentlich machen? Dopingkontrolle ist ein untaugliches Mittel zur Lösung des Problems, setzt sie doch die Überwachung der Sportlerinnen und Sportler im Training und bei Wettkämpfen voraus, müßte eine Analytik entwickelt werden, die alle Stoffe erfaßt und bei jedem neuen Stoff sofort verfügbar wäre.
Ich zeige Ihnen jetzt die offizielle Dopingliste, Stand 1984.
({6})
Die Liste ist lang, und wir müßten sie heute noch um einige Meter verlängern.
({7})
- Das ist auch so klein geschrieben, Peter Büchner, daß man es eh nicht lesen kann. Auf der Liste stehen nämlich so viele Stoffe. Wir haben das einfach nur fotokopiert.
Das sind nur die verbotenen Stoffe. Wenn wir noch die durch Genmanipulation erzeugten anderen Mittel dazunehmen, so ist das eine beinahe endlose Liste. Sie sehen, ich habe regelrecht Schwierigkeiten, den Anfang wiederzufinden.
({8})
- Das würde ich gerne tun.
Der vorgeschlagene Gesundheitspaß ist ebenfalls ein untaugliches Instrument, weil verbotene Stoffe eh nicht eingetragen würden und weil der Sportler beim Besuch eines weiteren Wunderdoktors keine Eintragungen vornehmen ließe, um das besondere Vertrauensverhältnis zum persönlichen Leibarzt nicht zu erschüttern.
({9})
- Dazu komme ich jetzt. Wir haben dazu ja einen ganz konkreten Antrag heute eingebracht.
Geradezu bedenklich ist der Ruf nach mehr und intensiverer Betreuung durch die Sportmediziner. Betrachtet man dazu die Stellungnahme der Sportmediziner, wird deutlich, daß unter dem Deckmantel der Prävention und der Substitution eine pharmakologische Dauerbehandlung durchgeführt werden soll. Weniger das harte Doping - Stoffe auf dieser Liste - als vielmehr diese permanente pharmakologische Behandlung der Spitzensportler ist das eigentliche Problem. Der tragische Tod Birgit Dressels war nicht durch hartes Doping bedingt, sondern durch eine Vielzahl von Mitteln aus dem Bereich der Substitution und Prävention, die als weiches Doping bezeichnet werden müssen. Birgit Dressel starb, weil eine Vielzahl von weichen Dopingmitteln eingesetzt wurde, deren synergetische Wirkungen und körperliche Reaktionen nicht bestimmbar waren. Wie viele Hochleistungssportler lief auch sie als menschliches Versuchskaninchen.
Der Glaube, mit mehr Medizin weniger Doping zu erreichen, ist ein fataler Irrglaube. Denn wer verabreicht den Sportlern die Wundermittel?
Im Spitzensport geht es mehr denn je um verordnete Spritz- und Schluckkuren, damit die Athleten genau zum richtigen Zeitpunkt ihr Optimum erreichen, ohne daß die verbotenen Dopingmittel nachweisbar sind. Die biologische Belastbarkeit des Menschen ist erreicht. Das läßt sich auch ohne weitere Menschenversuche feststellen. Aber der Spitzensport und seine Medizinmänner sind nicht bereit, dies als unüberwindbare Schranke hinzunehmen. An der Leistungsfähigkeit des Körpers wird herummanipuliert, indem Technik, Medizin, Pharmazie eingesetzt werden. Wir müssen uns das vereinfacht so vorstellen: Wie bei einem hochgezüchteten Rennmotor entscheidet nicht allein die PS-Zahl über Sieg oder Niederlage, sondern das, was die Techniker noch dazutüfteln.
Nicht alle Sportmediziner sind so erfolgsbesessen. Es gibt auch besonnene und nachdenkliche wie Heidi Schüller
({10})
und Wildor Hollmann, der sagt: „Olympischer Geist, olympisches Ideal, das ist gewinnbezogenes, leistungsbestimmtes, muskuläres Handeln unter dem Einsatz von Gesundheit und Moral. " Diese Aussage charakterisiert zutreffend den Zustand des Höchstleistungssports.
Da Höchstleistung an pharmakologische Dauerbehandlung gebunden ist, wobei die Übergänge zwischen hartem und weichem Doping fließend sind, haben wir den Antrag eingebracht, die Höchstleistungssportförderung des Bundes einzustellen. Ich betone: die Höchstleistungssportförderung. Gegen Leistung im Sport haben wir nichts.
({11})
Wir können uns eine bessere Verwendung vorstellen. Am Beispiel Olympia: Schwergewicht auf internationalen kulturellen Veranstaltungen, wo auch Sport stattfinden kann; Olympia als Treffpunkt alles Jugendlichen der Welt mit vielfältigen Begegnungsmöglichkeiten. Es würde einerseits der olympischen Idee guttun, wenn diese Gelder den Jugendlichen dei Dritten Welt die Begegnung ermöglichen würden Andererseits nehmen wir GRÜNEN so unsere gesundheitspolitische Verantwortung wahr.
Ich danke Ihnen.
({12})
Das Wort hat der Abgeordnete Sauer ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich gehe zuerst auf die Ausführungen des Kollegen Brauer über Calgary ein. Wir beklagen mit ihm den übertriebenen Kommerz bei diesen Spielen. Wir sagen auch, daß dann, wenn das IOC diesen Weg weitergeht, die olympische Idee vor die Hunde geht. Die Medien haben sicher ihren Platz bei den Olympischen Spielen. Aber sie dürfen nicht die Sportler zu Statisten degradieren und nicht den Ablauf der Spiele bestimmen, wie es leider durch die Fernsehgesellschaft abc geschah.
({0}) Wir beklagen diesen unerträglichen Zustand.
Aber wir schütten nicht das Kind mit dem Bad aus,
({1})
was die GRÜNEN offensichtlich tun. Wir appellieren an das IOC und seinen allzu geschäftstüchtigen Präsidenten Samaranch, das Rad einer übertriebenen Kommerzialisierung zurückzudrehen.
({2})
Das deutsche NOK ist bei diesem Appell eingeschlossen.
({3})
Wir sprechen heute über ein sehr schwieriges und kompliziertes Thema, bei dem wir als Gesetzgeber nur beschränkt tätig werden können. Humanität im Leistungssport zu erreichen ist in erster Linie Sache des autonomen Sports. Trotzdem sind wir aufgerufen, uns um dieses Thema zu kümmern und gegebenenfalls dem Sport gesetzgeberisch Flankenschutz zu geben. Dabei muß das Wohl des Spitzensportlers im Vordergrund stehen.
Bei den GRÜNEN steht im Vordergrund, so meine ich, mit einer übertriebenen Darstellung des Doping-Problems den Spitzensport wieder einmal madig zu machen. Sie sagen „Spitzensport ist gleich Spritzensport" und diskriminieren die große Schar von sehr aktiven, leistungsfähigen, niemals Dopingmittel nehmenden Spitzensportlern des deutschen Sports wie der gesamten Welt.
({4})
Wir haben diese ideologischen Verklemmungen nicht; für uns gibt es auch keinen Dualismus zwischen Breiten- und Spitzensport. Gerade der junge Mensch braucht den Spitzensportler als Vorbild, um selbst Sport zu treiben und auch seinen Idolen nachzueifern.
Aber lassen Sie mich ganz unzweideutig sagen: Das Erreichen von Leistungen durch Manipulation am eigenen Körper wird von uns schärfstens verurteilt und abgelehnt. Diese unerlaubten Mittel stellen nicht nur eine Gefährdung der Gesundheit der Athleten dar, sondern sie verstoßen auch gegen die Ethik des Sports sowie gegen die Chancengleichheit. Diese unerlaubten Mittel sind unfair.
Wir haben das Thema „Humanität im Spitzensport" im Sportausschuß im letzten Oktober in einer Anhörung durchgesprochen. Wir haben dieses Thema damals aufgegriffen, weil wir auch unter dem Eindruck des Todes der Leichtathletin Birgit Dressel standen. Heute ist dieser Tod schon wieder aus dem öffentlichen Bewußtsein gewichen, obwohl noch viele Fragen, die damals gestellt wurden, sehr akutell sind.
Diese Anhörung hat folgendes Ergebnis gebracht, und das sollte der Herr Kollege Brauer auch mal zur Kenntnis nehmen: Die Quote von ca. 2 % positiver Fälle stellt sicher ein Problem dar, sie ist aber nicht geeignet, den Spitzensport als Ganzes in Mißkredit zu bringen. Setzt man die Dopingfälle in Relation zu den Tausenden von Spitzensportlern, so wird klar: Das Problem Doping ist ein Problem, aber es ist nicht d a s Problem des Sports.
Wir müssen diese Manipulationen mit Medikamenten verhindern, und hier sind in erster Linie die Sportmediziner aufgerufen, die die Athleten sorgfältig betreuen müssen. Hier ist auch die Forderung angebracht: Bei den entstehenden Olympiastützpunkten müssen verstärkt Sportmediziner zum Einsatz kommen und die Athleten gerade in diesen Fragen verantwortungsvoll beraten. Wir dürfen es nicht zu Verhältnissen kommen lassen, bei denen Sportler vor ihren Ärzten geschützt werden müssen. Der Arzt muß in dieser Frage ein wahrer Vertrauensarzt sein. Dieser Arzt darf nicht nur geben, sondern er muß auch in der Lage sein, Medikamente zu versagen, und er muß auch, wenn er z. B. Hausarzt ist, die Dopingliste beachten und kennen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang den offenkundig gewordenen Meinungsstreit über die Grenzen zwischen unerlaubten Mitteln und medizinisch notwendiger Betreuung, z. B. nach Verletzungen, aber auch in der Regenerationsphase ansprechen. Dieser Kampf der Sportmediziner darf nicht auf dem Rücken der Aktiven, der Athleten ausgetragen werden. Wir dürfen nicht akzeptieren, daß die Dopingliste verlängert und dadurch gleichzeitig die Liste gesunder und leistungsfähiger Athleten verkürzt wird.
Wir haben seit dem Jahr 1974 beim Bundesinstitut für Sportwissenschaft einen Beauftragten für Dopinganalytik, und dieser Beauftragte nimmt regelmäßig bei bedeutenden nationalen und internationalen Sportveranstaltungen Dopinguntersuchungen vor. Wirkungsvoll Manipulationen bekämpfen, dies können nur die Sportverbände selber. Sie können z. B. weitere Kontrollen beschließen.
Ich darf in diesem Zusammenhang unseren Bundespräsidenten von Weizsäcker zitieren, der in einer vielbeachteten Rede vor dem NOK 1985 gesagt hat:
Wo immer auch die Grenze der Leistungsfähigkeit liegen mag, es gibt eine Grenze. Die Frage ist, ob wir zumindest in einigen Disziplinen diese Grenze nicht schon erreicht, vielleicht gar schon überschritten haben.
Sauer ({5})
Gegebenenfalls müssen Verbände auf ihr Startrecht in solchen Sportarten und Disziplinen verzichten, in denen weitere Leistungssteigerungen nur noch durch medizinisch-pharmakologische Manipulationen zu erreichen sind. Freiwilliger Leistungsverzicht unter diesem Gesichtspunkt, der darf nicht zu Kürzungen in der Förderung führen. Im Gegenteil.
Ich möchte hier als Beispiel das Gewichtheben ansprechen. Für mich stellt sich auch die Frage nach den Normen für Europameisterschaften und Weltmeisterschaften, die in einigen Fällen nur noch mit medikamentösen Manipulationen zu erreichen sind. Als Beispiel möchte ich hier die Festlegung der Kugelstoßnorm für Frauen bei der letzten Weltmeisterschaft erwähnen. Diese Norm von 20,40 Meter ist wirklich nur noch mit Medikamenten zu erreichen, die dann in der Trainingsphase genommen werden. Rechtzeitig vor dem Wettbewerb wird dann abgesetzt, und dann kann man beim Wettbewerb diese anabole Steroide nicht mehr nachweisen.
({6})
- Herr Kollege Büchner, ich habe mich sehr über die Aussage des ehemaligen Weltmeisters in der Nordischen Kombination, Hermann Weinbuch, gefreut, der in den Tagen von Calgary meinte, er lehne Doping ab, weil er sich schämen würde, mit Hilfe von unerlaubten Mitteln eine Medaille erreicht zu haben. Wir müssen dann aber auch ertragen, daß unsere Athleten einmal nicht so erfolgreich sind, wie sie es vorher waren und wie wir es vielleicht von ihnen erwartet haben. Mir ist ein 29. Platz ohne Manipulation lieber als eine Medaille, die nur unter Einsatz von Medikamenten gewonnen werden konnte. Hier muß das Hoch und das Tief sportlicher Leistungsfähigkeit akzeptiert werden.
({7})
Begrüßenswert ist die Initiative der Sportorganisationen, die sich im Sommer in Montreal treffen wollen, um eine internationale Dopingcharta zu erarbeiten. Damit könnte auch die Grundlage für eine Harmonisierung der einschlägigen Vorschriften in den einzelnen Ländern geschaffen werden.
Die CDU/CSU bekennt sich ausdrücklich zur Förderung des Spitzensports. Die Aktiven, die in diesen Bereich vordringen, erfüllen aber nicht nur ihr eigenes Leistungsbedürfnis, sondern auch die Erwartungen unserer Gesellschaft. Sie dienen auch dem Ansehen unseres Landes. Die Förderung des Spitzensports ist eine Aufgabe gesamtstaatlicher Repräsentation. Spitzensport verlangt den Einsatz sämtlicher vertretbarer Hilfsmittel zur Steigerung der Leistung, jedoch nicht jenseits der Grenze, die durch Wahrung der Gesundheit, Chancengerechtigkeit sowie Menschenwürde gesetzt ist. Wir lehnen daher die Anwendung sämtlicher Mittel, die diese Grenzen verletzen, ab.
({8})
Lassen Sie mich ein letztes Wort zu dem Antrag der GRÜNEN sagen. Wir werden diesem Antrag nicht zustimmen, weil genau die Grundsätze, die Sie hier vorschlagen, zum Großteil schon in den Bewirtschaftungsgrundsätzen, in den Förderrichtlinien enthalten sind.
({9})
Sportfachverbände und Sportler, die gegen die Dopingbestimmungen verstoßen, bekommen vom Bund keine Förderung. Deswegen ist dieser Antrag obsolet. Wir lehnen ihn ab.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Schmidt ({0}).
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Benutzung von Dopingmitteln hat sich in den letzten Jahren ständig ausgeweitet. Das zeigen einmal die offiziellen Statistiken, das zeigt aber auch der Hinweis desjenigen, der für diese Statistiken in letzter Zeit in erster Linie verantwortlich zeichnet, nämlich des Anti-Doping-Beauftragten Professor Donike, der auch von einer riesengroßen Dunkelziffer spricht.
Größter Problemsektor scheint unter quantitativen Aspekten die Einnahme von anabolen Steroiden zu sein, zumal gerade hier ein Übergang in Richtung eines falsch verstandenen Freizeitsports und ein Übergang in Richtung Bodybuilding in Fitneß-Studios stattfindet. Ich denke, das sollte man vorausschicken, wenn man als erstes die Forderung aufstellt - und ich bekräftige sie hiermit - : Der Dopingmarkt unterscheidet sich nur graduell von der Drogenszene; er muß massiv bekämpft werden.
Viele Vorfälle, auch spektakulärer Art, haben in den vergangenen Jahren die Gefahren für die Sportlerinnen und Sportler aufgezeigt, die mit der Anwendung von Dopingmitteln verbunden sind. Der Fall Birgit Dressel, der hier auch schon erwähnt worden ist, der allerdings auch einige andere bedauerliche Hintergründe hatte und zugleich die unhaltbare Situation zwischen Sport und Medizin offenbarte, rückte das Problem in den Blickpunkt, wird aber nach Art der Behandlung anderer Probleme in unserer Gesellschaft und anderer Fehlhandlungen massivst verdrängt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an Tschernobyl und Harrisburg.
Aus diesem Grunde hat die SPD-Fraktion in den vergangenen Monaten dafür gesorgt, daß ohne große Zeitverzögerung im Oktober 1987 zunächst ein umfassendes Hearing zum Gesamtkomplex „Humanität im Spitzensport" durchgeführt wurde, dessen Protokoll seit kurzem vorliegt und nun kontinuierlich ausgewertet werden muß. Im Vorgriff darauf hatte ich noch im Oktober des vergangenen Jahres nach dem geschilderten grauen Markt der Dopingmittel gefragt, meine Damen und Herren, aber lediglich eine oberflächliche Antwort der Bundesregierung erhalten.
Außerdem hat die SPD-Fraktion vor einigen Wochen eine Anfrage zum Stand und zur Förderung der Sportwissenschaft eingebracht. Meine Fraktion hat im
Deutscher Bundestag - 1 1. Wahlperiode Schmidt ({0})
übrigen im Sportausschuß die Beratung des von Professor Donike vorgelegten und vorhin angedeuteten Dopingberichts beantragt und zusätzlich für den 11. März d. J., also am Freitag der kommenden Woche, eine Aussprache mit der Anti-Doping-Kommission des Bundesinstituts für Sportwissenschaft vereinbart.
Ich glaube, das sind eine ganze Menge von Maßnahmen, die dem aktuellen Stand der Dinge angemessen sind. Wir wollen also eine intensive und sachgerechte Beratung der Dopingproblematik erreichen. Wir lassen aber auch keinen Zweifel daran, daß nach einer derartigen gezielten Aktivität aus dem politischen Raum nunmehr bald ein konkretes Handeln der eigentlich Verantwortlichen wünschenswert ist.
({1}) - Ich komme sofort darauf, Herr Baum.
Die Anfrage der GRÜNEN vom Juni 1987 und der nachgereichte Entschließungsantrag von heute zeichnen sich in ihrem Frageteil und in ihrer Darstellung zweifellos durch eine prinzipiell ordentliche Sachkenntnis aus; dennoch sind sie in einer ganzen Reihe von Teilen als Schnellschuß leicht erkennbar. Im übrigen ist die Anfrage in ihrem Vorspann wegen des völlig übertrieben dargestellten Umfangs der Dopingszene und wegen der pauschalen Vorverurteilung des Leistungssports in seiner Gänze nicht zu akzeptieren. So kann man an diese Sache nicht herangehen. Dennoch warte ich gespannt auf die nunmehr seit acht Monaten in Arbeit befindliche Antwort der Bundesregierung.
({2})
Unter Voranstellung des Prinzips vom humanen Leistungssport fordert die SPD alle Verantwortlichen im Sport nachdrücklich auf, nun endlich den Generalangriff auf das Doping zu starten. Calgary hat für mich zwar erneut die zunehmende Ohnmacht des Sports vor der gefährlichen Mischung von kommerziellem Einfluß und mancher Eitelkeit bewiesen. Ich will das hier aber dennoch deutlich gesagt haben, weil ich glaube, daß gerade auch diese beiden Faktoren nicht unwesentliche Triebfedern für die Einnahme von Dopingmitteln sind. Gerade deshalb muß sich der Sport aus diesen Umklammerungen lösen und sie zu beherrschen lernen. Ich sage es schon jetzt für meine Fraktion und für mich deutlich: Wenn der Sport es selber nicht schafft, dann muß er von der Politik dazu gebracht werden.
({3})
Welche Ohnmacht sich aus der Sicht des Sports in diesem Zusammenhang darstellt, hat u. a. das Hearing, das ich vorhin zitiert habe, ergeben. Ich zitiere einen der wichtigsten Vertreter in diesem Hearing mit folgenden Worten:
Die Spitzenverbände stehen den Dopingkontrollen sehr unterschiedlich gegenüber. Einige sagen ja, andere nein. Der DSB hat keinen unmittelbaren Einfluß auf das Handeln der Verbände, er kann sie nicht zwingen. In der Sportmedizinerausbildung ... ist der DSB seit Jahren sehr aktiv, allerdings ohne Erfolg. Zuständig sind hier die Gesundheitsminister der Länder.
Auch die DSB-Rahmenrichtlinien und die Grundsatzerklärung für den Spitzensport bleiben beide im Ansatz stecken und werden mehr vom Prinzip Hoffnung und von Appellen getragen als von klaren und deutlichen Maßnahmevorgaben.
Ich will mich, meine Damen und Herren, nicht drastischer, als ich es jetzt anschließend gleich tue, zum Zustand der deutschen Sportmedizin äußern, aber einige Worte müssen, glaube ich, doch ganz deutlich in diese Richtung gegeben werden. Sie sollte ihre inneren Grabenkämpfe schnellstens überwinden und alles daransetzen, ihren richtigen Pfad im Kampf gegen das Doping zu erfüllen. Es kann nicht darum gehen, die Leibarzteigenschaft bei publikumswirksamen Sportveranstaltungen zu sichern, es geht um viel mehr. Die Sportmedizin ist es, die dafür sorgen muß, daß durch ausreichende und fachgerechte Betreuung der Athletinnen und Athleten, z. B. bei der Trainingssteuerung, der Gedanke an das Doping überflüssig wird.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Aber natürlich, Herr Kleinert.
Herr Kollege Schmidt, hätten Sie die Güte, neben Ihren sicher ehrenwerten und gutgemeinten Überlegungen, daß nun endlich einmal etwas getan werden müsse, uns hier auch mitzuteilen, auf welchem Wege ihrer Meinung nach die von Ihnen hier angesprochenen Ziele erreicht werden könnten? Ich habe dazu nämlich noch nichts gehört.
Wenn Sie mir noch die drei Minuten Zeit, die ich habe, geben würden, dann würden Sie auch das noch feststellen. Warten sie mal in Ruhe ab!
Durch Ausweitung der ärztlichen Betreuung - ich will das an dieser Stelle zunächst fortsetzen; dies ist auch ein Teil der Antwort auf Sie, Herr Kleinert - schon im Kinder- und Jugendbereich, durch Langzeituntersuchungen über die Folgeschäden und durch intensive Betreuung in den Leistungszentren und Olympiastützpunkten wäre manches auf dem Dopingsektor vermeidbar.
Ich will aber auch hinzufügen - um dann wiederum klarzumachen, im welchem Zwiespalt sich die Sportmedizin hier an dieser Stelle offensichtlich noch befindet - , daß beispielsweise jemand wie Professor Liesen auch in unserem Hearing mitgeteilt hat, daß es nach seiner Auffassung in einzelnen Bereichen des Leistungssports ohne eine solche medikamentöse Manipulation - so will ich es dann doch deutlich nennen - nicht mehr geht. Dies ist vorweg zu verurteilen.
Ein zweiter sehr widersprüchlicher Aspekt, den auch wir erneut an dieser Stelle festhalten, ist der, daß es eine ganze Reihe von Dopingmitteln gibt, die auf der Liste, die der Kollege Brauer vorhin gezeigt hat,
Schmidt ({0})
stehen, die also verboten sind, die man aber ohne Probleme und Schwierigkeiten, ohne ärztliche Verordnung in einer Apotheke hier bei uns kaufen kann.
Wenn man diese Überlegungen einbezieht, dann kann man verstehen, was der Schweizer Professor und Mediziner Dr. Howald u. a. in einem Interview in den DSB-Mitteilungen unter der Überschrift „Unsere Feinde sind die Ärzte, nicht die Athleten" zum Ausdruck gebracht hat. Dies kann man nur nachdrücklich unterstreichen. Er hat unter Hinweis auf die internationale Wettbewerbssituation ausgeführt:
Die deutsche Sportmedizin ist meines Erachtens auf einem ganz üblen Holzweg. Sie meint immer noch, mit diesen Methoden den Rückstand zu den anderen Deutschen aufholen zu können. Aber die Sportler der DDR sind nicht deshalb so gut, weil sie sich dopen, sondern weil sie dort besser ausgewählt und trainiert werden. Es ist eine billige Entschuldigung, immer zu sagen, in der DDR wird systematisch gedopt.
So Professor Howald aus der Schweiz, der übrigens Mitglied der medizinischen Kommission des Internationalen Olympischen Komitees ist und deswegen auch mit deutschen Sportmedizinern an einem Tisch sitzt.
Hiermit hängt -- dies will ich dann auch zum Ausdruck bringen - eine Ausweitung aller sportwissenschaftlichen Arbeiten sehr eng zusammen, allerdings im wohlverstandenen Interesse der Athleten zur Vermeidung von Doping und zur Sicherung des Leistungssports.
Im übrigen darf ich hinzufügen, daß sich die SPD nachdrücklichst dafür ausspricht, daß Fördermittel, wenn sie nun schon vergeben werden, unter dem Aspekt einer Sicherung dieser von mir vorgetragenen Gedanken ausgegeben werden. Ich will auch hinzufügen, daß das Strafrecht nach meiner Auffassung durchaus eine ganze Reihe von Möglichkeiten bietet, nachdrücklicher als bisher in der Öffentlichkeit mit diesem Thema umzugehen und vor allen Dingen auch die nach meiner Auffassung immer wieder festzustellende Situation, daß es sich beim Doping um ein Kavaliersdelikt handelt, abzubauen.
Es bleibt schließlich nur die nachdrückliche Aufforderung an die Sportorganisation, an die Sportmedizin und die Sportwissenschaft sowie an die Bundesregierung, jetzt ohne Zeitverzögerung an diese Dinge heranzugehen. Wer sagt uns, daß nicht schon Experten daran sind - Herr Brauer hat es angedeutet - , mit gentechnischen Manipulationen künftige Weltrekordler zu produzieren?
Ich will zum Schluß mit einem Satz auf den Entschließungsantrag der GRÜNEN eingehen: Er ist zu einem Teil völlig überzogen, zum anderen Teil nicht deutlich genug formuliert. Er kann an dieser Stelle von uns deswegen nicht akzeptiert werden. Wir sehen ihn aber als eine deutliche Warnung an die von mir zitierten Verantwortlichen in Sport, Sportmedizin und Sportwissenschaft an und schließen nicht aus, daß auch die SPD-Fraktion zu einem späteren Zeitpunkt, den wir jetzt noch nicht fixieren wollen, auf dieses
Thema in der hier angedeuteten Form zurückkommt.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Baum.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist sicher so, daß Doping ein schwerwiegendes Problem im Leistungssport ist, aber nicht nur dort, wobei man etwas ratlos ist, wenn man die Stellungnahmen liest. Ich habe mir auch noch einmal das Protokoll zur Anhörung durchgelesen. Es sind ganz unterschiedliche Meinungen geäußert worden von sehr anerkannten Leuten.
Herr Hollmann hat ausgeführt:
Man muß davon ausgehen, daß ein hoher Prozentsatz von Spitzensportlern derartige Maßnahmen in den Trainingsplan
- wohlgemerkt -mit einbezieht. Die Erwartungen nennenswerter Gewinnsummen verstärkt verständlicherweise diese Tendenz. Umgekehrt proportional verringert sich die Achtung vor der Gesundheit des Gegners und verringert sich die Respektierung des Fair play.
Das ist eine sehr weitreichende Besorgnis. Andere, z. B. Professor Keul, weisen darauf hin, daß Wettbewerbsverzerrungen durch die Einnahme von Medikamenten weitgehend überschätzt werden, da nur wenige Sportarten davon betroffen seien. Es gibt Statistiken, die einigermaßen beruhigend sein können. Aber es gibt eine große Dunkelziffer. Ich frage z. B.: Was geschieht in der Trainingsphase? Professor Donike weist ja besonders auf diesen Bereich hin, der sich nur schwer kontrollieren läßt.
({0})
- Bisher nur spärlich kontrolliert wird, Herr Kollege.
Ich habe gelesen, daß das Olympische Komitee jetzt in Calgary seine Medizinische Kommission versammelt hat. Dort ist ein Moralkodex verabschiedet worden, weil es, wie es heißt, im Vorfeld der Olympischen Spiele eine gewisse Anzahl von Zwischenfällen im Bereich des Doping gegeben hat. Also, man versucht hier, festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Und ich komme zu dem Ergebnis, daß weder eine Dramatisierung noch eine Verharmlosung gerechtfertigt ist. Ich komme zu dem Ergebnis, zu dem auch der Bundespräsident in seiner schon erwähnten Rede gekommen ist, daß die überwältigende Mehrheit der Sportler dieser Welt ihre Leistung auf ehrliche Weise erbringt.
({1})
Ich habe keinen Gegenbeweis. Ich weiß natürlich, Herr Kollege Brauer, daß dem Leistungssport, wie er heute betrieben wird, die Gefahr des Doping immanent ist. Aber ich halte sie dennoch für beherrschbar.
Es ist auch wichtig, hier noch einmal darauf hinzuweisen, daß Doping nicht nur ein Problem des Leistungssports ist. Dieses Phänomen ist in unserer Gesellschaft in einem bestimmten Bereich weit verbreitet, nämlich im Bereich des Bodybuilding und der Fitneß-Center, also im Bereich des Breitensports. Der Mißbrauch dieser Wirkstoffe, sagt Professor Donike, hat dort jedes vernünftige Maß überstiegen. Auch das muß man sehen.
Was kann nun gegen Doping unternommen werden? Ich weiß, daß sich der deutsche Sport mit dem Problem immer wieder beschäftigt. Ich weiß, daß auch die Bundesregierung das tut, und ich unterstütze das alles. Es sind wirksame Maßnahmen getroffen worden. Die medizinische Betreuung wird zur Zeit ausgebaut. Hierbei handelt es sich, meine ich, um einen Schlüssel zur Bekämpfung dieses Phänomens. Eine umfassende, verantwortliche medizinische Betreuung ist notwendig. Und ich weiß auch, daß die Sportmedizin hier streitet, daß es ganz unterschiedliche Meinungen und auch eine ganz unterschiedliche Beratung gibt.
In diesem Zusammenhang muß ich auch hier noch darauf hinweisen, daß ich mit den Sportmedizinern bedaure, daß es an den deutschen Universitäten bis heute keinen Ausbildungsgang „Sportmedizin" gibt. Willi Weyer hat bis zu seinem Lebensende immer wieder darauf hingewiesen, daß hier ein Nachholbedarf ist. Die Kultusminister haben sich diesem Wunsch verschlossen.
Von entscheidender Bedeutung sind allerdings die Ursachen für das Doping. Wir müssen uns fragen: Wo liegt das Motiv? Der Bundespräsident hat dazu ausgeführt:
Das Problem des Doping ist, so hört man, sowohl sportethisch wie sportmedizinisch ungewöhnlich schwer zu lösen. Daß hier bestimmte Grenzen, die von der Natur selbst gesetzt sind, nicht überschritten werden dürfen, steht außer Frage. Fraglich bleibt jedoch, wo diese Grenzen zu ziehen sind. Hier liegt nicht nur ein Problem der Chancengleichheit. Hier ist der Sportler in der Gefahr, seinen Leib und seinen weiteren Lebensweg entscheidend zu gefährden.
Und er sagt weiter:
Der Spitzensport hat die Grenzen der menschlichen Leistungsfähigkeit immer weiter hinausgeschoben.
Man wartet ja geradezu begierig auf immer neue Leistungen. Wir können ja gar nicht genug kriegen. Neue Rekorde sind gefragt.
Zu der Zeit, da die Sportbegeisterung weltweit geworden ist, nähert sich der Sport seinen eigenen inneren Grenzen. Die breite Anteilnahme der Bevölkerung am Sport übt einen gewaltigen Druck aus, die Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Der Sport aber wird seine menschenwürdige ... Wirkung nur behalten können, wenn er . , . diesem Druck standhält, wenn er seine inneren Gesetze erhält, wenn er die Grenzen sieht und akzeptiert.
Der Bundespräsident sagt schließlich - und ich stimme dem ausdrücklich zu - :
Der Sport selbst befindet sich in einer Grenzsituation.
Das heißt: Er ist immer wieder gefragt, die Grenzen zu ziehen, um einer wachsenden Professionalisierung und Kommerzialisierung standzuhalten. Und es ist natürlich so - darauf weist Herr Hollmann auch hin - , daß diese Professionalisierung zu immer neuen, immer mehr Wettkämpfen führt. Also, eine Forderung müßte z. B. sein, wieder Ruhepausen einzuführen, nach den Olympischen Spielen nicht schon wieder zu neuen Weltcup-Veranstaltungen zu hetzen.
({2})
Wir müssen fragen, ob die Mindestaltersgrenzen richtig sind. Wir müssen fragen, ob die Regeln richtig sind. Wir müssen den Ausbau der sportmedizinischen und biomechanischen wissenschaftlich fundierten Trainingssteuerung fordern. Die Sportler sind nicht Objekte; sie müssen Subjekte der Entscheidung sein. Sie müssen sich in ihren Verbänden immer wieder durchsetzen.
Wir erleben diese unglaublichen Leistungssteigerungen. Die Erwartungen des Publikums gehen immer welter. Sport ist zum big business geworden. Man ist hin- und hergerissen. Natürlich kann sich der Sport aus dieser Kommerzialisierung nicht lösen. Er ist Teil dieser Gesellschaft. Auch diese Leistung muß belohnt werden. Es werden große Geldströme in Bewegung gesetzt. Das Fernsehen transportiert die Namen und die Leistungen in alle Welt. Die Frage ist aber, ob die Kommerzialisierung so weit gehen muß, wie wir sie in Calgary erlebt haben. Ich sage: nein. So weit darf sie nicht gehen. Hier müssen Grenzen gesetzt werden. Wir können nicht den Ablauf etwa von Olympischen Spielen anderen Gesetzen unterwerfen als den sportlichen Notwendigkeiten und Gegebenheiten, wie das hier geschehen ist. Ich empfehle dringend dem IOC, das ja aus der Welt des Sport abgehoben hat und irgendwo in goldenen Höhen schwebt, sich wieder auf die Bedürfnisse des Sports zu besinnen. Ich empfehle den Weltfachverbänden des Sports dringend, verantwortlich auf das IOC einzuwirken, daß die sportlichen Bedingungen so gesetzt werden, wie sie die Wettkämpfer brauchen. Uns empfehle ich, nicht immer nur auf die Medaillen zu starren. Herr Kollege Sauer hat das auch gesagt. Auch der 4. Platz ist in Ordnung. Auch der 6. Platz kann sehr ordentlich sein, auch der 10.
({3})
Ein prima Spiel, ein faires, hartes, gutes Eishockeyspiel, auch wenn man verliert, ist etwas wert. Wir sollten auch in den öffentlichen Medien nicht diesen Medaillenfetischismus zutage treten lassen,
({4}) der die letzten Wochen gekennzeichnet hat.
Ich meine also, wir müssen dafür sorgen, daß die Olympischen Spiele nicht pervertiert werden. Ich stehe zu dem olympischen Gedanken. Er ist gut, und er ist nicht tot. Die Sportler wollen ihn, und die Welt
will ihn. Aber er muß reformiert werden. Nicht die Abschaffung der Olympischen Spiele, sondern ihre Reform ist notwendig.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kleinert?
Bitte sehr. Wenn ich dann noch zwei Minuten habe.
Herr Kollege, wie verträgt sich Ihr energisches Appellieren in der Richtung, daß man nicht auf die Medaillen sehen solle, mit der Tatsache, daß, wenn ich mich recht erinnere, auch von seiten der Bundesregierung und Fraktionen dieses Hauses nach dem miserablen Abschneiden der bundesdeutschen Sportler bei der Leichtathletikweltmeisterschaft in Rom - von allen Seiten, nicht nur von der Öffentlichkeit und von den einschlägig bekannten Boulevardzeitungen - Konsequenzen in der Richtung gefordert wurden, daß man endlich einmal darüber nachdenken müsse, wie man in Sachen Leistung wieder konkurrenzfähiger wird?
({0})
Wie verträgt sich das? Herr Baum, könnte es sein, daß gerade bei diesem Thema
({1})
so ein bißchen die Gefahr besteht,
({2})
daß man schnell in eine Doppelmoral absinkt?
Es müssen schon beeindruckende Leistungen sein. Man muß das Gefühl haben: Hier wird gekämpft.
({0})
In diesem Leichtathletikverband ist einiges nicht in Ordnung. Das muß man dann auch kritisieren können. Das wird ja noch möglich sein.
Wir werden im April die Olympischen Spiele auswerten. Es hat hervorragende Leistungen gegeben, gute Wettkämpfe, eine gute Gastfreundschaft. Aber es ist eine Krise im Weltsport festzustellen, meine ich. Wir sollten hier in der Bundesrepublik alles tun, um unseren Beitrag zu leisten. Ertl hat z. B. in Calgary zu Recht festgestellt: Bei dieser Art der Organisation der Spiele geht die Menschlichkeit flöten. Ich habe ihm zugestimmt. Er hat recht. Er hat das gespürt.
Ich stelle weder die Leistungssportförderung der Bundesregierung in Frage noch die Olympischen Spiele. Ich bin der Meinung, wir können die Gefahren, denen der Leistungssport und auch die Olympischen Spiele ausgesetzt sind, beherrschen.
Ich möchte dem deutschen Sport abschließend sagen: Er hat jetzt die Chance, mit den Olympiastützpunkten die Betreuung der Sportler wesentlich zu verbessern und auszubauen, auch die medizinische Betreuung. Ich habe überhaupt kein Verständnis, wenn bei einigen Stützpunkten das deshalb nicht klappt, weil, Herr Staatssekretär, sich die verantwortlichen Träger des Sports in eine kleinliche Kompetenzrangelei begeben, in Hahnenkämpfe über ihren Einfluß. Das werden wir im Sportausschuß sehr aufmerksam verfolgen und dann möglicherweise Konsequenzen ziehen. Wir sind ja übereingekommen, die gesamte Sportförderung von seiten des Parlaments etwas selbstbewußter zu behandeln.
({1})
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Spranger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Schmidt, zu Ihrer Anmahnung der Antwort auf die Große Anfrage möchte ich doch feststellen:
({0})
Wir haben wegen des Hearings, das im Oktober stattgefunden hat, dem Präsidenten des Deutschen Bundestages ohne Widerspruch durch die Fraktionen mitgeteilt, daß wir dieses Hearing noch auswerten wollen. Deswegen sind wir auch der Meinung, die Debatte heute hätte besser erst nach der Auswertung und nach der Antwort auf die Große Anfrage stattgefunden.
({1})
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, bekennt sich ausdrücklich zum Hochleistungssport. Der Hochleistungssport setzt Zeichen für Leistungswillen und realistische Selbsteinschätzung, für Fairneß und Achtung des anderen. Er vermittelt also Werte, die für viele gesellschaftliche Bereiche von Bedeutung sind. Der Hochleistungssport gibt entscheidende Impulse für die Verbreitung und Weiterentwicklung des Sports in seinen vielfältigen Ausprägungen und ist wegen seiner Vorbildfunktion mit dem Breiten- und Freizeitsport untrennbar verbunden. Der Hochleistungssport dient der gesamtstaatlichen Repräsentation unseres Staates nach innen und außen und leistet zugleich einen Beitrag zur Entwicklung und Verbesserung internationaler Beziehungen.
Aber: Die Bundesregierung akzeptiert nur einen humanen Leistungssport. Für internationale Erfolge im Spitzensport dürfen nicht alle Mittel recht sein. Das Menschenbild und die Werteordnung des Grundgesetzes dürfen nicht in Frage gestellt werden. Das heißt aber für die Bundesregierung auch: Der Spitzensport muß von Doping und anderen Manipulationen am Athleten frei sein. Die Bundesregierung unterstützt deshalb alle Maßnahmen gegen Doping im Sport.
Es wird nicht verkannt, daß in vielen Sportdisziplinen die Leistungsgrenzen der Sportler erreicht sind und die Gefahr besteht, die physischen Leistungsgrenzen mit unerlaubten Mitteln hinauszuschieben. Ich weise aber mit aller Entschiedenheit den Vorwurf der GRÜNEN zurück, mit dem sie ihre Große Anfrage begründen, daß nämlich noch nie im Sport so viel
geschluckt, gespritzt oder mit anderen unerlaubten Mitteln Leistung manipuliert worden sei wie heute und daß sich ein hoher Anteil der in der Bundesrepublik Deutschland geförderten Athleten dope. Das ist einfach unzutreffend.
Ein solcher in den Raum gestellter pauschaler Vorwurf gegen unsere Athleten und auch gegenüber deren Betreuern ist haltlos und durch nichts zu belegen. Ein solcher Vorwurf dient der Sache nicht, er verunglimpft nur, und das haben unsere Athleten nicht verdient.
({2})
Es ist auch eine gänzlich unzulässige Unterstellung, wenn in der Großen Anfrage der GRÜNEN behauptet wird, daß „Höchstleistungen und Rekorde mit Hilfe von pharmakologischer Manipulation zwangsläufig geworden sind".
1987 hat der Beauftragte für Dopinganalytik, Professor Donike in Köln, 1 530 Proben, die von deutschen Sportlern stammen, untersucht. Davon waren 62, also 4 %, positiv, 147 Proben, davon 45 positive - das sind über 30 % -, stammen allerdings von Bodybuildern, so daß sich der Prozentsatz für traditionelle Sportarten noch weiter relativiert
({3})
und damit knapp über 1 % liegt. Das ist immer noch zuviel, aber zu einer Panikmache besteht kein Anlaß. Das ist auch von Rednern in dieser Debatte, ich glaube, von Herrn Baum, zum Ausdruck gebracht worden.
Es ist unzulässig, meine Damen und Herren, von einer kleinen Minderheit auf die große Mehrheit zu schließen, so wie Sie das tun wollen.
Die Bundesregierung bleibt dabei, daß in erster Linie der Sport auf Grund der ihm garantierten Autonomie aufgerufen ist, das Dopingproblem zu lösen, und zwar national wie international. Der Sport, d. h. die einzelnen Verbände, müssen darüber nachdenken, ob allein Wettkampfkontrollen ausreichen oder ob nicht auch Kontrollen im Training, wie sie bereits bei einigen Verbänden, z. B. dem Deutschen Schwimmverband auf freiwilliger Basis oder in modifizierter Form beim Bund Deutscher Radfahrer, bestehen, eingeführt werden müssen.
({4})
- Ja, gut, das ist aber Sache des Sportes. Und wir sind uns wohl darüber einig: Das können wir nicht verordnen.
In den skandinavischen Ländern hat man mit Kontrollen im Training gute Erfahrungen gemacht. Für die Einführung einer staatlichen Doping-Polizei, die gelegentlich gefordert wird, besteht, derzeit jedenfalls, kein Anlaß. Wir setzen auf die Regelungsfähigkeit des Sports auch in diesem Bereich. Der Sport muß sich den aktuellen Fragen stellen, so z. B. der Frage, ob nicht eine neue Definition der Substitution erforderlich ist.
({5})
Der Bundesinnenminister hat in der Vergangenheit die medizinische Betreuung der Hochleistungssportler finanziell in besonderer Weise unterstützt. Die Bundesregierung ist an einer weiteren Verbesserung der medizinischen Betreuung äußerst interessiert.
Die Olympiastützpunkte, für deren Aufbau die Bundesregierung seit zwei Jahren erhebliche finanzielle Mittel bereitstellt, dienen gezielt der Optimierung der medizinischen Betreuung der Athleten sowie der physiotherapeutischen Behandlung. Die Verbesserung der medizinischen Betreuung an den Olympiastützpunkten sollte auch ein wichtiger Weg sein, dem Doping schon im Ansatz zu begegnen.
({6})
Die Bundesregierung setzt auf eine ständige und vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Athleten und Medizinern, auf eine vorbehaltlose Aufklärung über die Risiken des Dopings. Wenn diese Aufklärung mit verbesserten Trainingsmethoden einhergeht, sollten die Athleten überzeugt sein, daß der Griff zum Dopingmittel überflüssig ist. Das gesamte Umfeld der Athleten - Trainer, Betreuer und vor allem Ärzte - ist hier gefordert.
({7})
Mit Sorge sieht die Bundesregierung, daß die stetige Zunahme der Zahl der Termine auf dem nationalen und dem internationalen Wettkampfkalender keine hinreichenden Möglichkeiten für einen stabilen Trainings- und Wettkampfaufbau sowie für den damit notwendigerweise verbundenen Regenerationsprozeß bietet; die Kollegen Sauer und Baum haben das bereits angeschnitten. Das kann auch nach Auffassung der Bundesregierung dazu führen, daß der Athlet versucht, durch die Einnahme von pharmazeutischen Mitteln, die Substanzen verbotener Wirkstoffgruppen enthalten, den Regenerationsprozeß zu verkürzen bzw. die Heilung von Verletzungen zu beschleunigen.
Die Bundesregierung wird im übrigen auch weiterhin die Arbeit des Beauftragten für Dopinganalytik beim Bundesinstitut für Sportwissenschaft finanziell unterstützen. 1988 beträgt die Förderung immerhin 550 000 DM. Die Bundesregierung nutzt gern die Gelegenheit, dem Beauftragten für Dopinganalytik, Herrn Professor Donike, für die von ihm geleistete Arbeit, die auch in der ganzen Welt Anerkennung findet, ausdrücklich zu danken.
({8})
Soweit der Bundesinnenminister den Bundessportfachverbänden Sportförderungsmittel bewilligt, ist Bestandteil der Bewilligungsbescheide, daß Verbänden, die schuldhaft gegen die von den zuständigen nationalen oder internationalen Sportorganisationen erlassenen Dopingbestimmungen verstoßen, die Förderung entzogen werden kann.
({9})
Herr Kollege Sauer, auch insofern ist der Antrag der GRÜNEN durch die Wirklichkeit überholt.
({10})
4446 Deutscher Bundestag - 1 i .Wahlperiode Parl. Staatssekretär Spranger
Bei den mit Mitteln des Bundesministers des Innern finanzierten hauptamtlichen Bundestrainern sind die vorn Deutschen Sportbund erlassenen Rahmenrichtlinien zur Bekämpfung des Dopings Bestandteil des Dienstvertrages. Ein Verstoß gegen das Dopingverbot berechtigt zur Kündigung aus wichtigem Grund. Auch damit sind Grenzen gezogen, die den Gebrauch von Dopingmitteln verhindern sollen. Herr Kollege Schmidt, mir ist aus der letzten Zeit kein Antrag Ihrer Fraktion bekannt, der gegenüber irgendwelchen Verbänden vorsieht, ihnen wegen Dopingverstoßes die Mittel zu entziehen.
({11})
- Auch Ihnen ist in diesem Bereich offensichtlich nicht mehr aufgefallen als dem Bundesinnenminister.
Häufig wird dahin gehend argumentiert, unsere Athleten seien in einigen Disziplinen im internationalen Vergleich nicht mehr konkurrenzfähig, weil ausländische Athleten ihre Spitzenleistungen auf Grund der Einnahme von unerlaubten Mitteln erreichten. Der Präsident des Deutschen Sportbundes hat bei der letzten Sportministerkonferenz dazu ja ausdrücklich Stellung genommen.
Lassen Sie mich mit der Feststellung schließen, daß Doping ein ernstes Problem ist, das sich aber nicht zum parteipolitischen Streit eignet. Patentrezepte, wie das Dopingverbot strikt eingehalten werden kann, hat keine Partei. Wir müssen alle an einem Strang ziehen. Das sind wir den Sportlern und ihrer Gesundheit und letztlich dem Sport insgesamt schuldig.
Die Beantwortung der Großen Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN sieht die Bundesregierung mit dieser Debatte als erledigt an.
({12})
Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1915. Es ist beantragt, diesen Antrag federführend an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und zur Mitberatung an den Sportausschuß zu überweisen. Das Haus ist damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
Lage in Panama
- Drucksache 11/1934 Hier ist zwischenzeitlich auf Drucksache 11/1934 ein interfraktioneller Antrag eingebracht worden. Die Anträge auf den Drucksachen 11/1428 ({0}) und 11/1916 sind zurückgezogen worden.
Für die Beratung dieses Tagesordnungspunktes ist eine Stunde vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schreiber.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Lage in Panama hat sich dramatisch zugespitzt. Die neuesten Meldungen sprechen von gewaltsamen Auseinandersetzungen in Panama-City und von erheblichen Unruhen. Die Pressefreiheit ist faktisch abgeschafft. Die Zentralen von demokratischen Parteien wie der Christdemokratischen Partei Panamas sind von Militärs geschlossen worden. Der Vorsitzende der Christdemokratischen Partei, Ricardo Arias Calderon, darf, nachdem er sich zu einem Vortrag in Miami befand, nicht mehr in seine Heimat nach Panama zurückkehren.
Meine Damen und Herren, diese Situation deutete sich bereits vor Wochen an. Das war auch der Grund für die Initiative der CDU/CSU-Fraktion vor einigen Wochen, im Dezember und wieder im Januar, die wir jedoch wegen der unüberschaubaren Lage nach Rücksprache mit den anderen Fraktionen und auch dem Auswärtigen Amt zurückgestellt haben.
Auch heute - das muß man hinzufügen - ist die Lage sicher unübersichtlich. Ich denke aber: Wenn ein Appell des Deutschen Bundestages überhaupt einen Sinn haben soll, dann muß er gerade jetzt ausgesprochen werden. Denn wenn sich die Situation erst einmal verfestigt hat, dann sind Appelle und moralische Interventionen nur noch von beschränktem Wert. Deshalb begrüßt es meine Fraktion, daß sich der Deutsche Bundestag am heutigen Tage mit der Lage in Panama befaßt.
Warum ist Panama, ein kleines Land, von so großer Wichtigkeit?
Erstens. Panama ist ein geostrategisch bedeutsamer, unmittelbarer Nachbar einer krisengeschüttelten Region.
Zweitens. Die Situation in dieser Krisenregion strahlt auf ganz Lateinamerika aus. Nicht umsonst haben sich die Staaten Kolumbien, Mexiko, Venezuela und eben auch Panama zur Contadora-Gruppe zusammengeschlossen, um den Friedensprozeß in Zentralamerika in Gang zu bringen.
Drittens. Gerade eines dieser Mitglieder der Contadora-Gruppe droht nun ausgerechnet in einer Phase, in der Dynamik in den Friedensprozeß Mittelamerikas durch den Arias-Plan gekommen ist, zu einem neuen Krisenherd zu werden.
({0})
Ich denke, man muß feststellen, daß sich die demokratische Situation in Panama in den letzten Jahren insgesamt negativ entwickelt hat. Die Wahlen waren umstritten; ihre Ergebnisse wurden in Frage gestellt. Das Militär und die jeweiligen Militärmachthaber spielten immer wieder eine große und übermächtige Rolle.
Die innere Entwicklung war und ist gekennzeichnet durch eine Eskalation der Gewalt. Der Dialog zwischen den Machthabern und den oppositionellen gesellschaftlichen Gruppierungen, den Parteien, den Gewerkschaften und der Kirche, ist seit langem unterbrochen. Vertreter der Opposition wurden durch geheuerte Banden wir Freiwild behandelt.
Ich möchte hier nur zwei Beispiele aus einem Flugblatt herausgreifen. Ich zitiere:
Bekanntmachung: An die ehrenwerten Mitglieder des nationalen Bürgerkreuzzuges. Gesucht wird Monsignore . . ., tot oder lebendig.
Dann folgen Gründe, warum er gesucht wird. Es schließt sich die Aufforderung an:
Wenn du ihn siehst, töte ihn! Belohnung: die ewige Dankbarkeit eines ganzen Volkes, das nach Gerechtigkeit dürstet.
Ein gleiches Flugblatt existiert mit dem Namen des Vorsitzenden der Christdemokraten Panamas, Ricardo Arias Calderon.
Die Verstrickung des herrschenden Militärs in den Drogenhandel ist seit Monaten Gegenstand von Ermittlungen und seit Wochen, was General Noriega betrifft, auch der Anklage durch die USA, wie überhaupt der Drogenhandel zu einer neuen Form der Ausbeutung und einer neuen Form der Diktatur für Lateinamerika zu werden droht. Ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Situation in Bolivien, Peru und Kolumbien, wo es vor dem Hintergrund des Drogenhandels und gewaltsamer Auseinandersetzungen immer wieder zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommt. Ohne jetzt auf die Situation im einzelnen eingehen zu wollen, die hier sicher auch eine Rolle spielt, wenn es uni die wirtschaftliche Situation innerhalb dieser Länder geht, muß festgestellt werden, daß gerade der Drogenhandel zu einem immer größeren Problem für die lateinamerikanische Region zu werden droht.
Ich möchte aus der Sicht der CDU/CSU-Bundestagsfraktion folgendes anmerken.
Die mit Hilfe einer willfährigen Parlamentsmehrheit von den Streitkräften vollzogene Absetzung des Präsidenten Del Valle hat das Land endgültig in eine offene Militärdiktatur von General Noriega verwandelt.
Alle Versuche der Opposition, zu einem Dialog zu gelangen, sind an dem Festhalten der Streitkräfte an dem, wie ich schon ausführte, schwerer krimineller Delikte beschuldigten General gescheitert. Solange in Panama die demokratische Ordnung nicht hergestellt wird, kann die derzeitige, putschartig an die Macht gelangte Regierung keine demokratische Legitimation beanspruchen.
({1})
Ich denke, daß die Bundesregierung dies auch in bezug auf die Akkreditierung des neuen Botschafters berücksichtigen wird.
Wir nehmen zur Kenntnis, daß die Länder Argentinien, Uruguay, Bolivien, Ecuador, Venezuela, Honduras, El Salvador und Guatemala ihre Botschafter aus
Panama offensichtlich zurückgezogen bzw. in ihre Hauptstädte zurückbeordert haben.
Ferner ist festzustellen, daß sich die Präsidenten Alfonsin, Sanguinetti, Alan Garcia, Lusinchi, Duarte und Cerezo zugunsten des konstitutionellen Präsidenten Del Valle und gegen die Absetzung durch Noriega ausgesprochen haben.
Es gibt auch eine ganze Reihe von früheren Parteigängern von Noriega, die jetzt zur Opposition übergewechselt sind, z. B. Botschafter, die sich weigern, in ihr Land zurückzugehen. All dies sind Zeichen dafür, daß die Lage in Panama dramatisch ist und daß auch ein breites Spektrum der Politiker Panamas aus allen Parteien die Situation als dramatisch ansehen und die Entwicklung der letzten Tage, der letzten Wochen und der letzten Monate ablehnen.
Meine Damen und Herren, angesichts der geschilderten Lage begrüße ich die Entscheidung der Bundesregierung, die Verhandlungen mit Panama Ober weitere Zusagen im Rahmen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit auszusetzen. Wir erwarten, daß die Bundesregierung gemeinsam mit den EG-Partnern klarstellt, daß eine Fortführung der freundschaftlichen Beziehungen zu Panama nur möglich ist, wenn sich die Situation im Sinne demokratischer Maßstäbe entwickelt.
Dazu gehören vor allem die Wiederherstellung der Presse- und der Versammlungsfreiheit, die Respektierung der Menschenrechte, dazu gehört natürlich auch die Aufhebung der Einreiseverbote der Mitglieder der Opposition. Ich wies bereits darauf Irin, daß unser Parteifreund unserer Schwesterpartei, Arias Calderon, derzeit nicht in seine Heimat zurückkehren darf.
Ich möchte an dieser Stelle auch betonen - diese Information haben wir eben erst von Arias Calderon per Telefon bekommen -, daß die gesamte Opposition den Kanalvertrag begrüßt und die Umsetzung dieses Vertrages aktiv betreiben wird. Entsprechende Erklärungen hat die Opposition gegenüber der Regierung der USA abgegeben.
Meine Damen und Herren, daß die Lage in Panama auch von anderen gesellschaftlichen Gruppierungen außer den Parteien so gesehen wird, können Sie einer Meldung der katholischen Nachrichtenagentur KNA vom 1. März 1988 entnehmen, aus der hervorgeht, daß die Bischöfe Panamas eine Untersuchung gegen General Noriega verlangen, daß sie in einem Hirtenwort Vorwürfe gegenüber Noriega erheben und die von ihm hergestellte derzeitige politische Lage ablehnen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, zum Schluß möchte ich Panama an die Maßstäbe erinnern, die es sich als Mitglied der Contadora-Gruppe und durch die Respektierung der Verträge von Esquipulas, dem Friedensabkommen von Guatemala, selbst gesetzt hat. Wir alle wissen, wie schwierig die Situation in Zentralamerika ist. Wir alle wissen, wie schwierig es ist, einen Friedensprozeß in dieser krisengeschüttelten Region auf den Weg zu bekommen. Wir alle begrüßen, daß mit dem Arias-Plan Dynamik in die Friedensbemühungen in dieser Region gekommen ist.
Wir alle müssen im Zusammenhang mit der Krisensituation in Panama feststellen, daß diese Situation dazu angetan ist, all das in Frage zu stellen, was in den letzten Wochen und Monaten in Zentralamerika in Gang gekommen ist.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wischnewski.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Es ist gut, daß in dieser so wichtigen Frage die Fraktionen des Deutschen Bundestages in der Lage sind, eine gemeinsame Haltung einzunehmen. Wir alle schauen in diesen Tagen und Wochen mit Besorgnis, aber auch mit Bestürzung auf die Entwicklung in Panama. Dieses Land, das so groß ist wie Österreich und 2,3 Millionen Einwohner hat, hat seine besondere strategische Bedeutung nicht nur für die Vereinigten Staaten und Lateinamerika, sondern eigentlich für die ganze Welt.
Panama ist die Brücke zwischen Zentralamerika und Lateinamerika. Von entscheidender Bedeutung ist der Panamakanal. Er verbindet mit 86 km den Atlantik und den Pazifik an seiner schmalsten Stelle. Dieser Kanal ist seit dem Jahre 1914 ununterbrochen in Betrieb. Neuerdings gibt es neben dem Kanal eine Pipeline. Wenn ich noch die Freihandelszone hinzunehme, dann sind diese drei Dinge eigentlich die wirtschaftliche Grundlage des Landes.
Wenn wir in der historischen Entwicklung ein paar Jahre zurückschauen, haben wir folgendes festzustellen:
1968 hat das Militär in Panama die Macht übernommen. Damals war Torrijos noch ein verhältnismäßig junger Oberstleutnant. Er hat sich dann an die Spitze vorgearbeitet, wurde General und Präsident des Landes. Er hat ganz offensichtlich während seiner Zeit die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich gehabt. Er hat auch für eine demokratische Entwicklung gesorgt, die bei weitem noch nicht in vollem Umfang eingetreten war. Aber es hat Bemühungen während dieser Zeit gegeben.
Im Jahre 1981 ist Torrijos bei einem Flugzeugunfall umgekommen, und auch heute kann niemand genau sagen, ob es wirklich ein Unfall oder ein Attentat war, ob er umgebracht worden ist.
Mit dem Tode Torrijos begann der Weg von Noriega und begannen die Schwierigkeiten im Lande. Die Schwierigkeiten im Lande sind laufend stärker geworden, bis sich im vergangenen Jahr die Zuspitzung der Entwicklung gezeigt hat, wie wir sie erlebt haben, in den letzten Wochen in ganz besonderem Maße.
Die Situation hat sich seit Mitte des vergangenen Jahres immer mehr zugespitzt: Es hat Demonstrationen und Streiks gegeben. Es hat aber vor allem Repressionen gegeben, Verbot von Medien, Behinderung der Opposition, Verhaftungen. Es hat dann zur Absetzung des Generals durch den Staatspräsidenten geführt. Unmittelbar danach sind der Staatspräsident und sein Vizepräsident - das sage ich jetzt in Anführungszeichen - durch das Parlament abgewählt worden.
Wir wissen in der Zwischenzeit alle, wie das Parlament besetzt war und wie die Situation gewesen ist. Gestern gab es wieder neue, schwere Unruhen. Dennoch muß ich sagen, nach meiner Auffassung sind noch lange nicht alle Fragen geklärt. Wir werden heute auch nicht in der Lage sein, alle Klarheit herbeizuführen.
Ich habe Verständnis dafür, daß diese Region, daß Panama für die Vereinigten Staaten von besonderer Bedeutung ist. Früher war der Panamakanal eine Lebensfrage für die Vereinigten Staaten. Das ist er heute sicher bei weitem nicht, aber er ist ein ganz, ganz wichtiges Problem für die Vereinigten Staaten.
Die Vereinigten Staaten haben in Panama ihr Südkommando, und neben der National Guard Panamas, bestehend aus 20 000 Offizieren und Soldaten, gibt es mindestens 10 000 amerikanische Soldaten, die dort ihren Dienst tun entsprechend den Regelungen, die es aus der Vergangenheit in bezug auf den Schutz des Panamakanalvertrages gibt. In der Zwischenzeit gibt es den Vertrag, und es gibt hier natürlich auch Differenzen, ob das Südkommando, das die Strategie für die Militärpolitik der Vereinigten Staaten gegenüber Lateinamerika entwickelt, dort noch seinen Platz haben soll.
Viele Jahre war Noriega der Mann der Vereinigten Staaten. Darüber darf es nicht den geringsten Zweifel geben. Heute ist er in den Vereinigten Staaten angeklagt. Es ist aber noch nicht so lange her, daß er dort auf der Pay Roll gestanden hat. Die Untersuchungen, die im Parlament angestellt worden sind, die Zeugenaussagen, die es in dieser Hinsicht gegeben hat, sind ganz klar und eindeutig.
Offensichtlich hat es lange Zeit Probleme in der Außenpolitik der Vereinigten Staaten gegenüber dieser Region gegeben. Ich glaube nicht, daß State Department, CIA, Pentagon und NSC immer in Obereinstimmung bei ihrer Politik gegenüber diesem Lande gehandelt haben. Es gibt viele Beweise dafür, daß das sehr oft auseinandergegangen ist.
Für mich gibt es einen Vorgang, der der Klärung bedarf. Im Februar, also vor einigen wenigen Tagen, haben drei frühere Staatspräsidenten Lateinamerikas, Carlos Andrés Perez aus Venezuela, Oduber aus Costa Rica und Michelsen aus Kolumbien, Gespräche mit Noriega geführt. Sie haben nicht nur Gespräche mit ihm geführt, sondern mit ihm auch eine schriftliche Vereinbarung getroffen. Diese Vereinbarung hat Noriega unterzeichnet. Sie bestand aus fünf Punkten, und über diese Punkte möchte ich informieren:
a) Die Beibehaltung des Datums für freie Wahlen nach der Verfassung für 1989.
b) Die Garantie, daß saubere Wahlen stattfinden, daß die Wahlgesetze reformiert werden, um die Rechte der Opposition deutlicher zum Ausdruck zu bringen, daß ein Wahlgericht gebildet wird, das die Aufgabe haben sollte, die richtigen Wahlen zu kontrollieren und die Opposition zu ihrem Recht kommen zu lassen.
c) Die totale Wiederherstellung der Meinungsfreiheit in Presse, Rundfunk und Fernsehen.
d) Vor den freien Wahlen sollte der General Noriega zurücktreten. Es sollte ein neuer Oberbefehlshaber der Nationalgarde bestellt werden, der kein politischer General ist. Es sollte sichergestellt sein, daß die Nationalgarde der zivilen Ordnung unterstellt wird.
e) Eine Entspannung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten durch die Respektierung des Prinzips der Nichteinmischung und die friedliche Übergabe des Kanals entsprechend den vertraglichen Vereinbarungen, wie sie zwischen Carter und Torrijos getroffen worden sind, d. h. bis zum 31. Dezember 1999.
In der Vereinbarung stand, daß das durch die Vereinigten Staaten, Venezuela, Kolumbien und Costa. Rica überwacht werden soll. Diese vier sollten sich verpflichten, dafür Sorge zu tragen, daß das politische Leben in Panama eine demokratische Grundlage findet. Mir ist gesagt worden, der General habe dieses Papier zusammen mit den drei Expräsidenten unterschrieben. Kurze Zeit danach ist er abgesetzt worden. Und dann hat die Angelegenheit den Lauf genommen, wie wir ihn alle kennen.
Ich glaube, wir müssen dieser Angelegenheit genauer nachgehen; denn wenn sich drei demokratische Präsidenten - drei demokratische Präsidenten! - darum bemüht haben, einen Weg zu finden, um Panama aus dieser gefährlichen Situation herauszubringen, dann wird man auch feststellen müssen, woran das gescheitert ist. Ich bin heute nicht in der Lage, zu sagen, wer der Schuldige ist. Ich werde in dieser Frage mit meinem Urteil auch sehr vorsichtig sein.
Unsere Forderungen an die Bundesregierung, an die Europäische Politische Zusammenarbeit stimmen weitgehend überein:
Erstens. Es geht in Panama um die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung.
Zweitens. Es geht in Panama um die Wiederherstellung und Stärkung der Demokratie.
Drittens. Es geht um die Wiederherstellung der Pressefreiheit; denn gerade in den letzten Tagen sind erneut die Zeitungen verboten worden.
Viertens. Es geht um die Kontrolle der Streitkräfte durch die gewählten demokratischen Organe. Nur wenn die Streitkräfte der Kontrolle gewählter demokratischer Organe unterstellt sind, wird auch in Panama die Chance für die Demokratie bestehen.
Fünftens. In dieser Situation bitten wir die politischen Parteien in Panama, den Dialog untereinander zu führen und gemeinsam darum bemüht zu sein, aus dieser schwierigen Situation einen Ausweg zu finden. Aber diejenigen, die im Augenblick in der Regierung amtieren, müssen auch bereit sein, diesen Dialog zu führen, damit man gemeinsame Wege findet.
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Ich denke, daß das, was in dem Papier mit den drei Präsidenten unterschrieben worden ist, dann die Grundlage für einen Dialog sein kann; denn das sind alles Punkte, die wir gemeinsam unterschreiben können. Dazu gehört selbstverständlich, daß die Opposition, soweit sie draußen ist, ins Land zurückkehren muß. Ich erinnere mich noch sehr gut des Gesprächs mit dem Generalsekrelar Ihrer Schwesterpartei, das ich im vorigen Jahr selbstverständlich geführt habe.
Der letzte Punkt ist die konsequente und korrekte Einhaltung des Carter/Torrijos-Vertrags über die Übergabe der Verantwortung für den Panamakanal an Panama mit .Jahresende 1999, damit die freie Schiffahrt auch für die Zukunft gesichert ist. Denn dies ist im Interesse nicht nur Panamas, sondern auch des freien Welthandels.
Panama hat, wie Sie, Herr Kollege Schreiber, sagen, in der Zeit der Contadora-Initiative eine durchaus positive Rolle gespielt. Wir alle hoffen und wünschen, daß Panama so schnell wie möglich zur Demokratie und normalen Verhältnissen zurückkehrt, damit es auch für die Zukunft einen Beitrag in der schwierigen Situation in Zentralamerika leisten kann.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mich sehr kurz fassen. Denn dem, was die Kollegen Schreiber und Wischnewski gesagt haben, kann ich im wesentlichen zustimmen. Das ist kein Wunder; denn wir waren es ja, die gestern mit dem Kollegen Volmer beisammengesessen sind und versucht haben, eine gemeinsame Resolution zu verfassen.
Es ist erfreulich, daß bier die Meinungen so übereinstimmen. Ich sage ausdrücklich, daß erfreulich auch ist, daß die Zwölf im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit so schnell reagiert haben, indem sie bereits gestern eine Erklärung herausgegeben haben, die sich inhaltlich weithin mit dem deckt, was in diesem Haus übereinstimmende Meinung ist. Insoweit ist sogar ein Teil dessen, worum wir heute die Bundesregierung bitten, bereits erledigt. Aber es kann damit natürlich nicht sein Bewenden haben. Ich komme gleich darauf zurück.
Die Lage, wie sie ist und wie sie sich entwickelt hat, ist von den Kollegen Schreiber und Wischnewski überzeugend dargelegt worden. Es handelte sich hier wohl um die erste offen ausgetragene Machtprobe zwischen den Militärs und den Zivilpolitikern, nachdem die Einflußmöglichkeiten der zivilen Regierung ja ohnehin nicht sehr stark entwickelt waren. Herr Kollege Wischnewski, Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß die Verhältnisse so schön hundertprozentig demokratisch dort natürlich auch vorher nicht gewesen sind.
Gleichwohl muß man feststellen, daß die Vorgänge der letzten Tage, die zur Ablösung der Regierung Del Valle und zur Einsetzung der Regierung, gegen die verfassungsmäßige Bedenken bestehen, geführt haben, eben doch zeigen, daß das sich jetzt hier voll durchgesetzt hat,
Ich erwarte, daß sich der Kollege Volmer anschließend noch mit der Rolle der USA auseinandersetzen
4450 Deutscher Bundestag - 1 1. Wahlperiode Irmer
wird, wie es im ursprünglichen Entschließungsantrag der GRÜNEN zum Ausdruck kommt. Ich weise deshalb prophylaktisch darauf hin, daß es mir einigermaßen eigenartig erscheint, wie hier eine Intervention der USA zugunsten einer Zivilregierung und gegen einen General, der sich kraß verfassungswidrig verhält, beurteilt wird.
({0})
Genau dies erscheint mir etwas pikant. Die GRÜNEN sind es ja normalerweise, die nach Sanktionen, welcher Art auch immer, rufen und sich dafür stark machen, daß man sich in Verhältnisse anderer einmischt. Ich will nicht sagen, daß das immer falsch ist. Aber es ist doch sehr merkwürdig, daß dann, wenn die USA einmal dazu beitragen wollen, einen General zu stürzen, ausgerechnet dies von Ihnen massiv kritisiert wird.
Wir haben die Aufgabe, all das, was in unserer Macht steht, zu tun.
({1})
- Sie erklären mir das gleich, ich bin auf Ihren Beitrag sehr gespannt, Herr Volmer. - Ich fürchte, es ist wenig genug, um einen Versöhnungsprozeß im Inneren Panamas zu fördern. Welche Mittel hier angewandt werden sollten, vermag ich heute übend nicht zu sagen. Es ist schon gesagt worden: Die Lage ist nach wie vor unübersichtlich.
Was man aber verlangen muß - insofern stimme ich wieder mit allen überein -: Die jetzt amtierende Regierung muß dringend aufgefordert werden, diesen Versöhnungsprozeß selbst mitzutragen. In der Konfrontation kann er nicht gelingen, und insbesondere mit der im Augenblick stattfindenden Unterdrückung der Opposition kann dies nicht geschehen.
Ich habe erfahren, daß der Vizepräsident Esquivel, der gleichfalls abgesetzt wurde, im Augenblick unauffindbar ist. Er ist ein angesehener Gynäkologe. In dem Krankenhaus, wo er tätig ist, wurde auf Befragen mitgeteilt, dieser Herr sei dort unbekannt. Wir müssen uns ernsthaft Sorgen machen um Leib und Leben derer, die jetzt von diesen Maßnahmen betroffen sind. Wir müssen es hier ganz laut sagen, daß wir uns für die Sicherheit, für die Freiheit dieser Menschen einsetzen. Wir fordern dann die Opposition auf, mit der wir zum Teil sehr gute Beziehungen unterhalten - Schwesterparteien, auch wir haben eine Schwesterpartei in Panama - , daß sie alles tut, um den Dialog zur Aussöhnung, zur Mobilisierung aller demokratischen Kräfte in Gang zu setzen. Hoffen wir, daß die jetzt amtierende Regierung der Opposition dazu die Möglichkeit gibt.
Meine Damen und Herren, wir sind, wie es in unserem Entschließungsantrag steht, besorgt und bestürzt. Wir erwarten, daß die Bundesregierung alles tut, um dazu beizutragen, daß in Panama Demokratie und Menschenrechte wiederhergestellt werden können.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Volmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir befassen uns heute mit der Situation in einem Land, das bis vor einiger Zeit unseres Erachtens tatsächlich eine sehr positive Rolle in Zentralamerika gespielt hat, vor allen Dingen was seine Außenpolitik im Rahmen des Contadora-Prozesses angeht. Auch die Innenpolitik von Herrn Torrijos gab sehr viel Anlaß zu Hoffnung, was Demokratisierungsprozesse und vor allen Dingen eine Wirtschaftspolitik angeht, die zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten formuliert war.
Wenn wir uns heute über die zugespitzte innenpolitische Situation unterhalten, die wir genauso einschätzen und bewerten, wie dies meine Vorredner getan haben - deshalb möchte ich darauf im einzelnen nicht weiter eingehen - , so müssen wir uns aber auch die Frage stellen, wie es zu einer solchen Zuspitzung kommen kann. Nur zu konstatieren und dann Forderungen zu erheben, die sicherlich zum großen Teil vernünftig sind, reicht nicht aus, sondern man muß schon ein bißchen tiefer auch danach schauen, wo bei anderen Ländern vielleicht Verantwortlichkeiten liegen, die mit Panama in den letzten Jahren intensive Beziehungen gepflegt haben oder in Wirtschaftskontakten stehen.
Die Wirtschaftspolitik Torrijos, die zum großen Teil von der Bevölkerung mitgetragen wurde, ging u. a. zugrunde, als 1979 der Internationale Währungsfonds diesem Land eine Anpassungsmaßnahme wie vielen anderen Ländern aufzwang, die auch beinhaltete, daß die sozialen Errungenschaften der Torrijos-Ara langsam wieder zurückgenommen werden mußten. Löhne und Gehälter wurden eingefroren, Preise für Grundnahrungsmittel und grundlegende Dienstleistungen wurden freigesetzt, die fortschrittliche Arbeitsgesetzgebung wurde auf Druck des IWF aufgegeben. Es ist wohl kein Wunder, daß die arbeitende Bevölkerung dann zu rebellieren beginnt und daß dann dieser üble Kreislauf in Gang gesetzt wird, den wir aus vielen anderen Ländern der Dritten Welt kennen, nämlich soziale Unruhen, Aufstände und auf der anderen Seite dann die harte Hand des Staates, der dann teilweise zu brutalen Mitteln greift oder greifen muß. Wie auch immer, es bleibt ihm dann in der inneren Logik dieses Prozesses gar nichts anderes übrig.
Dieser Prozeß wurde zunehmend stärker. Er wurde verschärft nach dem sehr mysteriösen Tod von Herrn Torrijos, als Noriega dann stärker wurde.
Nun ein Wort zu Noriega. Dies ist auch eine Antwort auf die Frage des Kollegen Irmer. Noriega war ja anfangs ein Mann der Vereinigten Staaten. Er wurde von ihnen zumindest teilweise ausgehalten und für verschiedene Operationen eingesetzt. Anfangs hatten die Vereinigten Staaten gar kein Problem mit diesem Herrn Noriega. Dieses Problem bekamen sie, als Noriega ihnen von der Fahne ging, als er plötzlich nicht mehr das Lied derer singen wollte, die ihn bezahlten, sondern anfing, auch mit Kuba und Nicaragua positive Beziehungen zu pflegen. In dem Moment hat sich das Verhältnis verändert.
Wir sollten also zumindest einige Schlaglichter auf das außenpolitische Verhältnis zwischen den VereiVolmer
nigten Staaten und Panama werfen. Die Kanalzone ist dabei ein wichtiges Beispiel, das schon angesprochen wurde. Wir sollten uns vergegenwärtigen, daß die Vorwürfe gegen Noriega, die wir überhaupt nicht bestreiten - wir haben nicht den geringsten Grund, Noriega zu verteidigen - , er sei in Drogenhandel verwickelt, zum erstenmal, wie ich glaube, 1979 von Jesse Helms in den Vereinigten Staaten erhoben wurden, dem gleichen Jesse Helms, der noch 1976 zu den Kanalverträgen wörtlich gesagt hat: „Es gibt absolut nichts zu verhandeln bezüglich des Kanals. Wir haben ihn gekauft, wie haben ihn bezahlt, wir haben ihn gebaut. Er gehört uns, und wir werden ihn behalten. " Soweit Helms.
Man muß doch zumindest die Frage stellen, ob zu dem Zeitpunkt, in dem der von den Vereinigten Staaten gekaufte Noriega nicht mehr mitspielt, dieser Mann plötzlich nationale Identität ausprägt, einen eigenständigen Kurs fährt und kein Garant mehr für ein gutes Verhältnis zu den Vereinigten Staaten mehr ist, und man muß fragen, ob die Vereinigten Staaten in dem Moment unter der Fragestellung, was aus dem Kanal wird, nicht in einer bestimmten Form ihre Politik ändern. Nun haben die Oppositionsgruppen tatsächlich betont, sie würden sich an die Verträge, an die Carta Torrijos, halten. Aber trotzdem erhebt sich die Frage: Was passiert denn dann mit dem Kanal? Wird er dann in nationales Eigentum, in Volkseigentum überführt, oder wird er privatkapitalistisch weiter betrieben, u. a. mit US-amerikanischem Kapital? Dies sind Unterschiede, und ich glaube schon, daß sich die Vereinigten Staaten durch einen bestimmten Druck auf Panama die Option offenhalten, diese Frage so zu entscheiden, wie sie für sie selbst optimal ist.
Der zweite Aspekt ist die Contadora-Politik. Die USA haben immer schon versucht, Panama aus dem Contadora-Prozeß herauszulösen und dem Block der sogenannten Demokratien von Guatemala, El Salvador und Honduras anzugliedern, damit dort die gleiche antisandinistische Politik, die gleiche Politik gegen Nicaragua betrieben wird. Dies hat Panama bisher nicht gemacht. Die Außenpolitik Panamas war aus unserer Sicht eindeutig korrekt. Sie war fortschrittlich. Sie verdient, von uns gewürdigt zu werden, und wir hoffen, daß Panama auch in Zukunft diese positive Rolle wieder wird spielen können. Nur, ich befürchte tatsächlich, daß die Attacken, die gegen Noriega geritten werden, wozu er ja wirklich jeden Anlaß gibt, nicht nur aus der Sorge motiviert sind, die Demokratie in Panama selbst wiederherzustellen, sondern auch von dem Motiv bestimmt sind, Panama über den Hebel der Kritik an Noriega auf eine andere außenpolitische Linie zu verpflichten, die stärker den Interessen der Vereinigten Staaten in Zentralamerika Rechnung trägt, die sich nicht mehr solidarisch dem Friedensprozeß verpflichtet fühlt und die nicht immer wieder die Interessen Nicaraguas in der Region mit absichern hilft.
Wir hoffen, daß Panama infolge einer Redemokratisierung seine positive Rolle wieder wird spielen können. Voraussetzung dafür ist, daß die Menschenrechte gewahrt bleiben. Dabei bin ich der Auffassung: Wir dürfen nicht nur von den politischen Menschenrechten reden, sondern wir müssen auch von den sozialen Menschenrechten reden, denn wenn nicht langfristig Lebensformen für die Bevölkerung geschaffen werden, die ihr auch tatsächlich Lebenschancen eröffnen, dann wird sich dort auch keine Demokratie stabilisieren können. Wir hoffen, daß dies dennoch der Fall sein wird.
Danke.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Müller.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte auch ich wie die anderen Sprecher begrüßen, daß wir, ein freigewähltes Parlament, in der Lage sind, eine gemeinsame Haltung in einer Frage auszudrücken, die uns alle bewegt. Es geht um die Zukunft der Demokratie in einem anderen Lande. Dieses Land hat zur Zeit keine gute Presse. In einer Tageszeitung von heute aus München lese ich die Schlagzeile „Gangster ergreift die Staatsmacht".
Ich glaube, man sollte das Land Panama nicht unbedingt nach denen beurteilen, die zur Zeit die Macht in Panama ausüben. Es gibt keinen Zweifel daran, daß diejenigen, die heute undemokratisch über die Macht in Panama verfügen, Verbindungen zu Kreisen haben, die man nicht gerade als demokratisch, gesetzestreu oder positiv einschätzen kann. Es gibt hier die Medellin-Connection des Drogenhandels, es gibt eine Abhängigkeit, in die man sich, aus welchen Gründen auch immer, begeben hat, eine Abhängigkeit, die schon in den letzten Jahren dazu geführt hat, daß das herrschende Militär in Panama über erhebliche Geldmittel verfügte, sich eine gewisse Loyalität auch bestimmter Gruppen der Bevölkerung in diesem Lande zu kaufen, wenn ich das so formulieren darf.
Wir wissen, daß viele Einrichtungen, die Geld und Devisen für das Land bringen, von Noriega und seinen Militärs kontrolliert werden. All das, was in den Zeitungen zu lesen war und was in den Vereinigten Staaten auch im Zusammenhang mit einer Gerichtsverhandlung, was die Drogenverbindung anbelangt, an das Licht der Öffentlichkeit kam, müssen wir nicht im einzelnen beurteilen. Wir können uns an den Satz halten, der da lautet: Wo viel Rauch ist, ist sicher auch ein starkes Feuer. Ein Staatschef, ein Militärchef, der wirkliche Machthaber dieses Landes, der offiziell ein Einkommen von 20 000 Dollar hat, verfügt über Geldmittel, die in die Millionen gehen, was deutlich macht, daß mit unseren Maßstäben dort kaum gemessen werden kann.
Wir wissen, daß die Opposition immer stärker unterdrückt wurde, unterdrückt wird, daß die oppositionellen Zeitungen geschlossen wurden, daß Rundfunk und Fernsehen gleichgeschaltet wurden und daß schließlich nach der Absetzung des Oberkommandierenden der Nationalgarde der Präsident abgesetzt wurde, der die zuvor erwähnte Absetzung vorgenommen hat, ein sehr eigenartiger Vorgang für jeden Staat, wenn man sich das einmal durch den Kopf gehen läßt. Dies geschah unter Umständen, die sehr eigenartig waren, denn bei dieser Parlamentsabstimmung stimmten Leute ab, die, wie wir wissen, dazu
gar nicht berechtigt waren. Herr Noriega erklärte, daß er sich dem neuen Präsidenten voll unterordne, der - das ist eine interessante Formulierung - ein kontinentaler Führer sei. Führermentalität wird heute also in Panama hochgehalten.
Der neue Präsident wurde auch gefragt, worauf er seine Legalität stütze. Er antwortete, er glaube schon, er sei legal gewählt, zumindest die Streitkräfte stünden voll hinter ihm. Ich glaube, auch diese Aussage macht deutlich, welches Demokratieverständnis der neue Präsident Panamas hat.
Herr Kollege Wischnewski, Sie haben in ihren Ausführungen davon gesprochen, Noriega sei der Mann der USA gewesen. Sie haben es ein paar Sätze später gleich wieder relativiert, indem Sie sagten: Da gab es wohl Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Pentagon, dem CIA und dem Außenministerium. - Ich glaube, damit haben Sie recht. Noriega war ein Mann, der auf verschiedenen Klavieren gespielt hat, in erster Linie in seinem persönlichen Interesse und dem der Gruppen, die hinter ihm stehen und die ihm helfen. Daraus kann man als Demokrat natürlich auch eine Lehre ziehen: Es ist für Demokraten immer schlecht, zu sehr nach Generälen zu schauen, wenn man sich in der Außenpolitik auf irgend jemanden verlassen möchte. - Das gilt auch in diesem Fall.
Wer ist der Schuldige an der heutigen Entwicklung? Es gibt keinen Zweifel, daß es diejenigen sind, die in Panama Menschenrechte verletzen, die in Panama den Weg zur Demokratie abgeblockt haben.
Wir sind, glaube ich, gemeinsam einer Meinung, daß die Opposition Freiheit und Rederecht haben muß, daß ihre Zeitungen erscheinen müssen, daß sie über Fernsehen und Rundfunk ihre Meinung ausdrücken können muß und daß diejenigen, die im Ausland sind, zurückkehren können müssen, um an diesem demokratischen Prozeß mitzuwirken. Wir sollten alle bei den Parteien, zu denen wir Verbindung haben - bei den Christdemokraten wir, Sie, die Sozialdemokraten, vielleicht bei der PRD; die PRD hat ja einen Observer-Status bei der Sozialistischen Internationale - , darauf einwirken, daß nicht ein neuer permanenter Krisenherd in einer Zone geschaffen wird, die nicht nur geographisch erdbebengefährdet ist, sondern auch politisch. Das sollte unser gemeinsames Interesse sein.
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Das Wort hat Herr Staatsminister Schäfer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mit Interesse Ihren Ausführungen, Herr Kollege Müller, gelauscht, habe einige Passagen überdacht und mir dann gesagt: Diese Ausführungen würden auch zu einem anderen südamerikanischen Staat passen, der mit P anfängt, über den hier leider noch nie diskutiert worden ist. Aber das war jetzt ein Hinweis des Abgeordneten Schäfer.
({0})
- Wir wollen jetzt nicht buchstabieren. Es ist aber interessant, wie sich manche Bilder gleichen, daß einige Bilder hier aber nicht so intensiv behandelt werden.
Die Bundesregierung hat seit dem Ausbruch der Unruhen im vergangenen Juni die innenpolitische Entwicklung in dem strategisch und weltwirtschaftlich so wichtigen Land - Herr Wischnewski hat das vorhin sehr ausführlich beschrieben - mit wachsender Besorgnis verfolgt. Die Ereignisse der letzten Tage haben diesen Sorgen neue Nahrung gegeben. Die verfassungswidrige Absetzung Präsident Delvalles hat der Sache der Demokratie in Zentralamerika - das ist hier zum Ausdruck gekommen - und in Panama im besonderen einen weiteren schweren Schlag versetzt.
Ich erinnere mich noch an meinen Aufenthalt bei der Einführung des Präsidenten Barletta 1985, als ich gerade in Zentralamerika war. Kurz danach war dieser Präsident abgesetzt, und zwar auf Druck des Militärs unter Delvalle. Er war zwar der Vizepräisent, aber auch auf Wunsch des Militärs. Nun ist Herr Delvalle wiederum vom Militär abgesetzt worden.
Ich will nur darauf hinweisen, daß die ganze Entwicklung in Panama äußerst komplex ist - das müssen wir hier sehen - und daß die Absetzungen verschiedener Persönlichkeiten, die schon vorher erfolgt sind, auch nicht unbedingt den jetzt abgesetzten Präsidenten ganz rechtfertigen. Ich glaube, das muß man auch sagen.
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In Panama steht jedenfalls viel auf dem Spiel - das ist hier zum Ausdruck gekommen -: Demokratie und Menschenrechte, aber auch die regionale Stabilität. Die letzten Wochen und Monate haben aber auch gezeigt - darauf ist hier hingewiesen worden -, daß Panama - ich meine jetzt die Mehrheit seiner Bevölkerung - angesichts seiner besonderen historischen Erfahrungen außerordentlich empfindlich reagiert, wenn von außen massiv Einfluß genommen wird. Auch das muß man, glaube ich, sehen.
Zweifellos aber ist die Krise in Panama gleichzeitig eine Verfassungskrise, eine moralische Krise des Militärs und eine außenpolitische Krise im Verhältnis zu den USA.
Die zwölf europäischen Außenminister haben in den letzten Tagen bei der San-José-Konferenz in Hamburg die politischen und wirtschaftlichen Probleme Zentralamerikas mit ihren Kollegen aus Zentralamerika, der Contadora-Gruppe und der Gruppe der acht lateinamerikanischen Staaten erörtert. Durch die Beiträge unserer Partner zog sich wie ein roter Faden die Tendenz und die Erkenntnis, daß gerade in Zentralamerika Fortschritte auf dem Weg der Demokratisierung die Voraussetzung sowohl für politische Stabilität wie für wirtschaftliche Entwicklung und soziale Gerechtigkeit sind. Auch Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte gedeihen nur in einem freiheitlichen innenpolitischen Klima.
Daher kann die Bundesregierung die jüngste Entwicklung in Panama nur bedauern. Ich möchte jeden Anschein vermeiden, wir wollten uns in die inneren Angelegenheiten Panamas massiv einmischen. Die
sehr engen und vertrauensvollen Beziehungen, die sich innerhalb unseres Gesprächs mit den Staaten Zentralamerikas und der Contadora-Gruppe entwikkelt haben, geben mir aber die Möglichkeit, hier zu sagen, daß wir hoffen, Panama möge bald wieder eine Regierung haben, die demokratisch legitimiert ist und die Zustimmung der breiten Bevölkerung hat. Die Außenminister der Contadora-Gruppe und der sogenannten Unterstützergruppe, die sich jetzt „Gruppe der Acht" nennen, haben sich am 26. Februar in Cartagena getroffen und festgestellt, daß demokratische Grundsätze in Panama mißachtet zu werden drohen. Sie haben die Mitgliedschaft Panamas in der Gruppe der Acht vorerst suspendiert. Dementsprechend haben sie Panama auch gebeten, an dem Treffen der Acht mit den zwölf europäischen Staaten am 1. März in Hamburg nicht teilzunehmen.
Die Europäer haben auf diese Situation auch gemeinsam reagiert; Herr Kollege Irmer hat vorhin darauf hingewiesen. Ich darf hier aus der Erklärung der Europäischen-Politischen Zusammenarbeit zitieren, die gestern abgegeben worden ist:
Die Zwölf haben mit großer Besorgnis die jüngsten Ereignisse in Panama verfolgt. Sie sind der Ansicht, daß die schwierigen politischen und wirtschaftlichen Probleme der Region nur gelöst werden können, wenn sich die Prinzipien der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Unabhängigkeit durchsetzen. Die Zwölf appellieren an diejenigen, die jetzt in Panama Regierungsgewalt ausüben, den Weg zum inneren Frieden und zur Demokratie freizumachen.
Ihr Antrag, der ja ein Antrag aller Fraktionen des Deutschen Bundestages ist, wird uns Gelegenheit geben, zu verdeutlichen, daß wir gemeinsam bemüht bleiben, den Weg zur Demokratie und zu freien Wahlen in Panama wieder zu eröffnen.
({2})
Wir kommen zur Abstimmung über diesen interfraktionellen Antrag zur Lage in Panama. Ich habe zu fragen: Wer stimmt für diesen Antrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich darf feststellen, daß der Antrag einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Unruh, Frau Trenz und der Fraktion DIE GRÜNEN
Anwendung des Heimgesetzes auf Altenwohngemeinschaften
- Drucksache 11/1598 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Im Ältestenrat ist ein Redebeitrag von zehn Minuten je Fraktion vereinbart worden. - Widerspruch gegen diese Vereinbarung ergibt sich nicht. So darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich erteile der Abgeordneten Frau Unruh das Wort.
Herr Präsident! Werte Volksvertreter und -vertreterinnen! Die Anwendung des Heim gesetzes auf Altenwohngemeinschaften hat in den letzten 13 Jahren, in denen ich als Bundesvorsitzende der Grauen Panther darüber ständig berichtet bekommen habe, sehr oft dazu geführt, daß wir uns gesagt haben: Es kann doch in der Bundesrepublik Deutschland nicht möglich sein, daß alte Menschen - und „alt" fängt bei uns im Staate mit über 60 an -, wenn sie sich einen eigenen Dauerwohnsitz gesucht haben, von dort dann im Rahmen des Heimgesetzes über die Heimaufsicht aus selbstgewählten Wohnsitzen - mit dem ersten Wohnsitz ordentlich angemeldet - von der Polizei oder anderen in ein Heim zwangsverlagert werden. Es wird also alten Menschen über 60 nicht zugestanden, dort zu leben, so sie möchten.
Ehe ein Mensch wie ich das begriffen hatte, konnte ich über die Strukturen, die wir bei den Grauen Panthern entwickelt hatten, in den letzten 13 Jahren sehr, sehr viel eingreifen. Wir haben in der Bundesrepublik ungefähr 200 Bauernhöfe, Dauerpensionen, Wahlfamilien, also Menschen, die sich familienähnlich miteinander verbunden fühlen, unter unseren Schutz stellen können. Die Gewährung unseres Schutzes - natürlich immer erst in der letzten Minute erbeten - hat dann doch dazu geführt, daß wir gesagt haben: Was ist denn mit unseren Wohlfahrtsverbänden los, was ist denn mit den Kirchen los? Wie können Kirchengemeinden es überhaupt gestatten, daß Menschen aus ihrer Kirchengemeinde - teilweise direkt aus dem Krankenbett, Wohnung aufgelöst - irgendwohin kommen? Die Angehörigen erfahren davon, wurden aber überhaupt nicht gefragt - das Ganze nennt man dann ja Pflegeheime oder Psychiatrien -, und auf einmal kommen die Alten wieder zu Bewußtsein und sagen dann: Ich möchte nach Hause. - Aber das Zuhause gibt es nicht mehr. Sie haben dann mit Angehörigen oder mit Vertrauensfreunden irgend etwas gestrickt, um aus den Mehrbettzimmern - wohlgemerkt: das ist dann Dauerwohnsitz - herauszukommen. Solche Menschen haben unsere Hilfe erbeten: Helft uns! Helft uns! Helft uns!
Wir haben daraus ein Konzept gemacht. Wir haben im wesentlichen darüber 200 Außenstellen in der Bundesrepublik bekommen, um dieses alternative familienähnliche Miteinander unter unserem „Dach des Seniorenschutzbundes" verwirklichen zu können. Das Heimgesetz ist nämlich grausam. Es soll die Alten schützen. Doch ist die Heimaufsicht bundesweit leider nicht dazu angetan, das zu erfüllen. Bundesweit wird oft in übelster Art eingewirkt, um z. B. alte Menschen zu vertreiben und die, die diese alten Menschen aufgenommen haben, unter Androhung von 10 000 DM Strafe zu veranlassen, ganz schnell die Alten freizugeben, damit sie leerstehende Pflegebetten belegen.
Was jungen Menschen gestattet ist - Wohngemeinschaften zu bilden -, ist den Alten nicht gestattet.
({0})
- Mit Ihrem Zwischenruf „Natürlich ist das gestattet" können Sie mir überhaupt nicht imponieren.
({1})
Ich stecke 13 Jahre in dieser Arbeit.
({2})
- Wenn Sie 20 Jahre in dieser Arbeit stecken, dann betrübt es mich sehr, daß wir heute erstmalig darüber sprechen. Wir können heute erstmalig überhaupt nur darüber sprechen, weil mir die GRÜNEN ein Mandat gegeben haben und weil es letztlich die GRÜNEN gestatten, daß alte Menschen über 60 bitte schön da ihren Wohnsitz nehmen dürfen, wo es ihnen paßt.
({3})
- Ich hoffe, daß wir darüber genauso einen Konsens herstellen wie beim Vormundschaftsgesetz. Etwas anderes ist von Ihnen in 100 Jahren auch nicht erreicht worden, selbst wenn Sie schon 20 Jahre hier sitzen. Sie haben es versäumt. Wir Alten sind wiederum den GRÜNEN dankbar, daß wir jetzt mit gemeinsamer Kraft etwas ändern können.
Ein neues Heimgesetz liegt im Entwurf vor. Es ist aber genauso erschütternd: Die Rechte der Bewohner sind so vernachlässigt, daß es schlimmer nicht mehr geht. Was wir mit diesem ersten Antrag bezwecken wollen, ist, daß ganz schnell eine Verordnung erlassen wird, nach der alte Menschen bundesweit in Wohngemeinschaften, die sich dann - freiwillig - bilden können, so leben können, wie es ihnen paßt, und daß nicht alles „heimgerecht" sein muß. Noch schlimmer ist, daß, wenn ein Mensch zum Pflegefall wird, die Wohnungen - Bauernhöfe, Pensionen - mit Bauordnungsvorschriften versehen werden. Wir leben in unseren eigenen Familien auch nicht nach Bauordnungsvorschriften.
Ich kann mir ein Urteil darüber erlauben. Ich habe meinen Lebensweg geordnet. Ich wohne mit zwölf anderen alten Menschen in einer Wohngemeinschaft. Dazu gehören acht schwere Pflegefälle, die einmal als Schwerstpflegefälle eingestuft waren. Wir haben es immerhin den Wohlfahrtsverbänden vormachen können, daß auch andere Lebensformen möglich sind und daß alte Menschen nicht so verlassen sind, wie es immer dargestellt wird. In einer kleinen Wohnung kann man keinen Pflegefall aufnehmen. Aber zusammen mit Angehörigen, mit Vertrauensleuten kann man seinen eigenen Lebensabend durchaus anders gestalten, als ausgerechnet in ein Pflegeheim zu kommen. Das ist Sinn der ganzen Sache.
Wir haben gezeigt, daß das auch für schwere Pflegefälle möglich ist. Wir haben gezeigt und bewiesen, daß das auch für Menschen möglich ist, die aus der Psychiatrie zu uns gekommen sind. Wir haben sie vor der Polizei retten können. Wir haben ihnen, obwohl ihre Zimmer von der Polizei versiegelt worden waren, einen Bungalow anmieten und das Leben für diese Menschen dann anders gestalten können. Ich könnte Ihnen jetzt wirklich Dinge erzählen, keine Märchen, sondern die bittere Wahrheit, wie bis heute vernachlässigt worden ist, auch gebrechliche alte Menschen so leben zu lassen, wie sie wollen.
Das Interessanteste ist für Sie vielleicht dies - weil Sie, Herr Link, ein Mann sind - : Wir haben z. B. zwei 66jährige Männer, deren Frauen verstorben waren, aus einer Dauerpension retten müssen, weil dort das Polizeiauto vor der Tür stand - beide hatten selbst ein Auto -, um sie in die Psychiatrie zu bringen.
Ich könnte Ihnen am laufenden Band solche Dinge erzählen. Das reicht bis zu Eingriffen in die Familie, weil die Behörde verrückt spielte. So etwas geschah z. B. in Helmstedt, wo der Sohn nicht nur seine 78jährige Mutter bei sich hatte, sondern auch deren Freundin, 80 Jahre alt. Weil der Sohn auffällig geworden war, das falsche Parteibuch hatte, sollte er tyrannisiert werden. Man sagte ihm, die über 80jährige habe ausgesagt, Sie gebe jeden Monat 800 DM in die Familie, und er würde sich daran bereichern. Also sollte „die Alte" dort herauskommen und in ein Pflegeheim gebracht werden. Auch das ist nicht gelungen.
Auch die Ansammlung alter Damen in Niedersachsen konnte letztlich von uns Grauen Panthern beschützt werden.
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Diese Ansammlung gibt es also nach wie vor. Die alten Damen leben familienähnlich zusammen. Die Heimaufsicht hat es nicht geschafft, dieses zu zerstören.
Ich kann Ihnen nur noch eines mit auf Ihren eigenen Lebensweg geben: Engagieren Sie sich lieber zu Hause in der Kirchengemeinde. Das, was wir Grauen Panther geschafft haben, könnte in jeder Kirchengemeinde, könnte bei jedem Wohlfahrtsverband geschehen. Lassen Sie Ihr Klopfen frommer Sprüche. Lassen Sie uns zusammen etwas tun. Wir könnten nämlich die nächsten sein, denen so etwas passiert.
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Das Wort hat der Abgeordnete Link ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Unruh, das ist bei Ihnen und bei den GRÜNEN immer wieder das gleiche: Da werden Wahrheiten, die an sich sehr sympathisch sind, auch für mich, hier dargestellt, da werden Halbwahrheiten dargestellt, Desinformationen mitgeteilt und das alles mit einer so säuselnden Stimme, daß es dann in der Bevölkerung im doppelten Sinne Unruh' gibt. Ich bitte Sie also, die Dinge wirklich ein bißchen konkreter zu nennen. Auch das, was Sie gerade mit drei Sätzen zu Neustadt am Rübenberge gesagt haben, stimmt so gar nicht.
Ich will es gleich vorweg sagen. Der hier zur Beratung anstehende Antrag der GRÜNEN - Drucksache 11/1598 - enthält weder vom Inhalt noch von der Sachlage her ein berechtigtes Anliegen. Sie kennen ganz genau den Zeitplan für die Novellierung des Heimgesetzes: Stellungnahme der Verbände zu dem zweiten Diskussionsentwurf bis Anfang April 1988 - Sie wissen, daß wir in den Fragenkatalog auch die zum Teil berechtigten Fragen, die Sie gestellt haben,
Link ({0})
aufnehmen werden - , anschließend Ressortabstimmung innerhalb der Bundesregierung, danach Erarbeitung der Kabinettsvorlage bis zur Sommerpause und dann die parlamentarischen Beratungen.
Aber Sie wollen mit Ihrem Antrag heute eine besondere Aufmerksamkeit erreichen. Ich muß sagen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Das am 1. Januar 1975 in Kraft getretene Heimgesetz hat wesentlich zur Verbesserung der Situation in den Heimen für ältere Menschen und behinderte Mitbürger beigetragen. Das, was nach 1975 diesbezüglich gelaufen ist, ist geradezu vorbildlich.
Frau Unruh, Sie können noch so gute Gesetze machen: Diese Gesetze müssen von - auch fehlbaren - Menschen ausgeführt werden. Darum wird es immer wieder Fehler geben, auch wenn wir hier vom Bund die besten Gesetze machen. Deshalb dürfen Sie hier nicht so pauschal verurteilen.
Seitdem ist sichergestellt, daß die Erlaubnis, ein Heim zu führen, an bestimmte Voraussetzungen geknüpft ist. Ebenso enthält das Gesetz Vorschriften über ein Mitwirkungsrecht, durch das ältere Mitbürger bei einer Heimunterbringung vor Bevormundung und Übervorteilung geschützt werden sollen. Das ist also auch ein Sinn des Gesetzes gewesen.
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- Ja, Frau Unruh, wenn das natürlich alles nicht stimmt, wenn das alles schlecht ist, haben wir eben nicht die Diskussionsgrundlage, die Sie vorhin noch gefordert haben.
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Der Gesetzgeber kann allerdings nur Rahmenbedingungen schaffen, die weitgehend - sich sage bewußt nur: weitgehend - Schutz vor Mißbrauch bieten. Mitmenschlicher Umgang mit dem Nächsten oder auf die Bedürfnisse älterer Menschen abgestellte Zuwendung gegenüber Heimbewohnern können nicht verordnet werden; sie zeigen sich vielmehr in der ständigen Hilfsbereitschaft der Pflegekräfte. Auch das wissen Sie.
Ich will auch ein Wort zu Neustadt am Rübenberge sagen - Sie haben dazu ja nur drei Sätze gesagt - und will auch darauf eingehen, daß Sie sagen: Ältere Mitbürger können sich nicht in Wohngemeinschaften zusammenfinden. Natürlich können sie es! Es gibt dafür viele Beispiele. Es geht nur um den Augenblick, in dem sie Dienstleistungen in Anspruch nehmen. In Neustadt am Rübenberge hat eine Dame, die ein Haus hatte, die älteren Mitbürger in das Haus geholt. Sie hat dann beim Landessozialamt in Hildesheim einen Antrag gestellt, ihr Heim anerkannt zu bekommen. Dadurch ist das Landessozialamt in Hildesheim erst darauf gekommen, daß sich hier etwas tut, und dann hat man nachgefragt. Sonst könnten diese älteren Herrschaften dort bis heute leben; es hätte sich keiner darum gekümmert.
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Wenn Sie schon ein Beispiel bringen, dann bitte die ganze Wahrheit, nicht immer nur Halbwahrheiten, wie es Ihnen anscheinend zu eigen ist.
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- Ja, Sie sind wahrscheinlich die einzige,
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die die ganze Wahrheit kennt.
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Die in der Begründung des Antrags der GRÜNEN angeführte Behauptung, daß nach dem Wortlaut der gültigen Fassung des Heimgesetzes nicht geklärt ist, ob Altenwohngemeinschaften als Heime betrachtet werden können, in unzutreffend. Auch das wissen Sie. Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß der Zusammenschluß mehrerer Personen in einer gemeinschaftlichen Einrichtung nicht schon als Heim bezeichnet werden kann. Da es hier in der Vergangenheit Mißverständnisse gegeben hat, werden wir das in die Novelle noch deutlicher hineinschreiben, obwohl es schon heute - wenn auch vielleicht nicht für alle Juristen - deutlich ist.
Um in dieser Frage eine Klarstellung und bessere Abgrenzung von Wohngemeinschaften gegenüber stationären Alteneinrichtungen, Übergangsheimen, rehabilitativen Wohnheimen für psychisch Behinderte und andere Wohnformen der Altenhilfe zu erreichen, ist allerdings eine Novelle zum Heimgesetz vorgesehen. Es kommt also noch klarer und noch deutlicher.
Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 soll neu gefaßt werden. Bei einer Definition des Heimbegriffs werden nunmehr folgende Kriterien zugrunde gelegt: Es muß eine Einrichtung, also die organisatorische Zusammenfassung sächlicher und personeller Mittel unter der Verantwortung eines Trägers, betrieben werden. Die Einrichtung wird mit dem Ziel einer Unterbringung der in Abs. 1 Satz 1 genannten Personen entgeltlich betrieben. Die Bezahlung der zu gewährenden Leistungen ist also begriffliche Voraussetzung für das Vorliegen eines Heimes im Sinne des Heimgesetzes. Der Betrieb der Einrichtung muß personenneutral sein. Im Gegensatz insbesondere zur Unterbringung in der Familie können die als Bewohner aufzunehmenden Personen jederzeit wechseln. Zur Aufnahme in Heimen bedarf es keiner besonderen persönlichen Beziehung oder Bindung, an die Bestand und Funktion der Wohnform geknüpft werden. Eine bestimmte Mindestzahl von Bewohnern ist nicht erforderlich. Auch Einrichtungen mit weniger als fünf Personen können im Hinblick auf die Zielrichtung des Heimgesetzes in § 2 Heime im Sinne des Gesetzes sein.
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Unverständlich ist mir die Kritik der GRÜNEN. Es trifft einfach nicht zu, daß in der Vergangenheit willkürlich Wohngemeinschaften älterer Menschen zu Heimen erklärt wurden, wenn hierfür nicht eindeutig
Link ({8})
die Voraussetzungen vorgelegen haben. Es hat gerade die Arbeitsgemeinschaft auf Bundesebene getagt, und der ist keine Situation wie die in Neustadt bekannt gewesen, wo es ja zugegebenerweise bis zum Gericht ging. Daß es immer wieder Einzelfälle gibt, habe ich vorhin zugegeben, und wir hoffen ja auch, daß wir dies mit der Novellierung des Gesetzes für die Zukunft ausschließen können. Aber selbst wenn das in Einzelfällen so geschehen sein sollte, besteht keine Veranlassung dazu, von behördlicher Willkür zu sprechen. Willkür gibt es - ich habe vorhin gesagt, daß es Menschen sind, die da arbeiten - immer wieder, sowohl bei den Pflegenden als auch bei den Behörden, aber im großen und ganzen kann man als Politiker überhaupt nicht anders, als den Behörden und insbesondere den Zehntausenden von Pflegenden ganz herzlich für die aufopferungsvolle Arbeit, die sie Tag für Tag leisten, zu danken. Statt sich hierhinzustellen und so zu verallgemeinern, hätten Sie besser einmal ein Wort des Dankes an diese Leute gesagt, die in vorbildlicher Weise ihre Arbeit tun.
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Gerade die Schaffung einer Heimaufsicht, eines Heimbeirates oder auch der Erlaß einer Heimmindestbauverordnung haben vielfach dazu beigetragen, durch die Führung eines Heimes auf rechtlich geordneter Grundlage den älteren Menschen eine altersgerechte Lebensführung zu ermöglichen.
Frau Unruh, Sie wissen doch auch ganz genau, daß die Mindestbauverordnung erst in vielen Heimen das geschaffen hat, was wir uns heute unter wohngerecht vorstellen. Verurteilen Sie doch nicht so pauschal!
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Wenn man ein solches Gesetzes hat, dann muß man es auch anwenden.
Wir wissen alle zu gut, was es bedeutet, im Alter isoliert und einsam zu sein und den Lebensabend ohne Kontakt zu den Mitmenschen verbringen zu müssen.
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So ist es auch einfach unser Bestreben, bei der gesetzlichen Regelung zur Abdeckung des Pflegefallrisikos den älteren Menschen so lange wie möglich eine ambulante Betreuung zukommen zu lassen. - Auch hier täten die GRÜNEN gut daran, an diesem Gesetz mitzuarbeiten und nicht nur zu kritisieren, wie wir das ja heute mittag schon einmal bei der Diskussion über den § 218 oder bei dem Beratungsgesetz gehört haben. Es gibt immer nur Kritik und keine positive Mitarbeit von seiten der Opposition.
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Wenn sich die SPD da meldet, will ich das wohl auch gerne sagen. - An diesem Grundsatz halten wir fest und befürworten daher die Unterbringung in einem Heim für den Fall, daß nicht auf andere Weise die
Betreuung und Pflege älterer Menschen gesichert werden kann.
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Ich bin also der Auffassung, daß es keinen Anlaß gäbe, Herr Eimer, dieses Gesetz dem Ausschuß zu überweisen. Da aber unser Koalitionspartner FDP das will, kommen wir dem gerne ungern nach. Ich meine, es ist insofern überflüssig, als wir sowieso demnächst die Novellierung des Gesetzes bei uns im Ausschuß und in den Koalitionsgesprächen haben.
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- Sie ist herzlich eingeladen.
Frau Unruh, ich will Ihnen zum Schluß noch sagen
- ich habe das zu Beginn schon gesagt - : Frau Unruh, manchmal sind mir Ihre Forderungen sehr sympathisch. Nur, man kann nicht immer nur in der Sozialpolitik fordern und fordern und fordern, sich aber bei den anderen beiden Säulen, der Wirtschafts- und der Finanzpolitik, verweigern; denn Wirtschafts- und Finanzpolitik geben erst die Grundlage für den Staat, an Geld zu kommen und auch eine vernünftige Sozialpolitik zu machen. Das sollten Sie einmal überlegen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Seuster.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Dem Bundestag liegt heute ein Antrag der GRÜNEN vor, der fordert, eine Verordnung zu erlassen, die klarstellt, was eine Wohngemeinschaft ist, damit das noch deutlicher wird. Frau Unruh hat hier an mehreren Beispielen gezeigt, daß es da schon Abgrenzungsschwierigkeiten in der Vergangenheit gegeben hat.
Auch die SPD-Fraktion will natürlich nicht, daß jede Wohngemeinschaft automatisch unter ein Heimgesetz fällt. Wohngemeinschaften junger Leute, von Studenten oder auch jungen Familien, sind uns schon eine Selbstverständlichkeit, und ich glaube, niemand käme auf die Idee, diese Wohngemeinschaften jetzt unter das Heimgesetz zu stellen. Also warum soll es bei älteren Menschen anders sein?
Genauso wie für junge Leute bietet auch für ältere Leute solch eine Wohngemeinschaft durchaus erhebliche Vorteile. Ich denke z. B. daran, daß sich die Miete, die Stromkosten oder sämtliche Nebenkosten, zum Teil auch die Verpflegung oder die Pflege der Wohnung aufteilen lassen, daß dadurch besonders auch die Bezieher geringer Einkommen, besonders die Frauen mit geringen Renten, eine Möglichkeit des Zusammenlebens haben, die ihnen dann doch einige Freiheiten erlaubt.
Ganz wichtig ist für mich aber auch die psychische Verfassung. Wenn man in solch einer Wohngemeinschaft lebt, hat man Kontakt, kann gemeinsame Hobbys pflegen und kann etwas unternehmen und kann sich vielleicht in manchen Fällen, wenn das ZusamFrau Seuster
menleben in der Familie eben nicht so störungsfrei läuft, da neu entfalten. Zudem sind Mitglieder einer Wohngemeinschaft auch in der Lage, sich gegenseitig das Gefühl der Sicherheit zu geben.
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Im Falle der Erkrankung ist man nicht auf sich allein gestellt.
Sicher ergeben sich genauso wie in der Familie oder genauso, wie wenn man alleine lebt, schwerwiegendere Probleme, wenn eine dauernde Pflegebedürftigkeit besteht. Dies sind sicherlich nicht anders zu werten als eben auch in anderen Einrichtungen, d. h. in der Familie oder bei Alleinlebenden, und müssen auch genauso behandelt werden.
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Außerdem kann nicht oft genug betont werden, daß Alter heute anders aussieht als noch vor Jahrhunderten oder vor Jahrzehnten. Heute sind alte Menschen in der Mehrzahl durchaus in der Lage, ihre eigenen Belange zu vertreten und auch ein eigenständiges Leben zu führen.
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Wir alle wissen, daß die Menschen in unserer Gesellschaft älter werden; die Lebenserwartung steigt. Das bedeutet für die Betroffenen zusätzliche gewonnene Jahre, stellt aber den einzelnen und die Gesellschaft auch vor neue Probleme. Hier sind insbesondere die Gemeinden gefragt. Es ist Phantasie und Vielfalt gefragt.
Schließlich sieht ein Leben für den Bürger je nachdem, wie er sich einrichtet - Sie haben gesagt: Ich habe meine Form gefunden - , anders aus. Man sollte diese Vielfalt respektieren.
Die SPD-Fraktion begrüßt jede Initiative und jedes Modell, wodurch es älteren Menschen erlaubt ist, möglichst lange selbstbestimmt und selbstverantwortlich zu leben.
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Hier muß es zusätzliche Hilfen geben, die im ambulanten Bereich angesiedelt sind. Städte und Gemeinden müssen finanziell in die Lage versetzt werden, diese Leistungen zu erbringen. Es fehlt nicht am guten Willen, es fehlt schlicht und einfach am Geld.
Um welches Problem geht es hier heute, wenn wir auch Wohngemeinschaften durchaus positiv sehen? Was ist also der Antrag der GRÜNEN? Die Bundesregierung wird aufgefordert, umgehend eine Verordnung gemäß § 1 Abs. 2 des Heimgesetzes zu erlassen, durch die klargestellt wird, daß Wohngemeinschaften alter Menschen und Mehrgenerationen-Wohngemeinschaften nicht unter das Heimgesetz fallen. In der Begründung ihres Antrages beklagen die GRÜNEN, daß bisher nach dem Gesetzeswortlaut offenbleibt, ob Altenwohngemeinschaften dem Heimgesetz unterliegen. Das heißt, daß sie nicht gleichartige Einrichtungen sind wie Altenheime oder Altenwohnungen.
Zunächst einmal sollte der Begriff Altenwohnheim nocht etwas genauer angesehen werden im Gegensatz zu Altenwohngemeinschaften. Rein äußerlich sind die Unterschiede oftmals nicht sehr groß. Es gibt heute auch Heime, die nur wenige Menschen aufnehmen. Aber der Unterschied liegt darin, daß eben ein Entgelt gezahlt wird, daß der Personenkreis wechseln kann, daß er nicht von bestimmten Verbindungen abhängig ist, ob sie nun familiär sind oder in anderer Form bestehen.
Aber Einrichtungen von Wohngemeinschaften sind etwas anderes. Das sind Menschen, die sich freiwillig zusammenschließen und gemeinsam ihren Lebensabend verbringen wollen. Hier ist die Grenze sicherlich oftmals fließend. Aber ich meine schon, daß man da sehr genau unterscheiden muß. Wenn ich freiwillig etwas mache, mich freiwillig zusammenschließe, nicht will, daß der Staat in diese Gemeinschaft hineindirigiert, kann ich mich andererseits aber auch nicht als Heim fühlen und die finanziellen Leistungen, die eben für Heime vorgesehen sind, beanspruchen,
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sondern da muß ich mich genauso verhalten wie alte Leute, die zu Hause leben, oder wie alte Leute, die alleine leben. Auch diese Zusammenhänge müssen dann hergestellt werden.
Es ist auch kein Träger da, wenn ich eine Wohngemeinschaft bilde. Dann mache ich das alleine und bin auch für mich selbst verantwortlich. Ich muß dann für mich selbst die Konsequenzen ziehen, wenn es nicht klappt oder irgendwelche anderen Dinge eintreten, die mir das Wohnen in dieser Gemeinschaft nicht mehr ermöglichen.
Ich habe gerade gehört, daß wir etwa nach der Sommerpause damit rechnen können, daß das Heimgesetz novelliert wird. Ich glaube, daß man die Begriffe schon noch einmal abgrenzen sollte, um sehr deutlich zu machen, was wir meinen. Ich muß hier noch einmal sagen, daß wir von der SPD im Heimgesetz durchaus keine Gängelung sehen. Ganz im Gegenteil: Wir sehen im Heimgesetz einen großen Schutz für die älteren Menschen. Ich meine schon, daß die räumliche Situation und die personelle Situation vorgegeben werden müssen. Denn die Schwierigkeiten in den Altenheimen rühren daher, daß nicht genügend Personal vorhanden ist. Jeder, der sich etwas damit beschäftigt, weiß auch, daß es finanzielle Dinge sind, die die Heime daran hindern, mehr Personal einzustellen. Denn sie haben einen festen Schlüssel. Wenn sie den verlassen, können sie die Kosten nicht mehr umlegen, und damit bleibt der Träger auf den Restkosten sitzen. Hier muß eine Änderung geschaffen werden. Ich glaube, daß man das in der Novellierung noch einmal sehr genau feststellen kann.
Für uns ist auch ein Punkt ganz wichtig: die Mitbestimmung der Menschen in diesen Häusern, daß sie auch dort soweit wie möglich selbstbestimmt leben können.
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Auch in einem Altenheim muß das in einem größeren
Umfang als heute möglich sein. Deshalb brauchen wir
auch eine Heimaufsicht. Sie ist ganz wichtig. Ich
meine, gerade die Heimaufsicht sollte gestärkt werden. Ich kenne viele Fälle, in denen es sehr schwierig ist, etwas nachzuweisen. Man weiß zwar, daß etwas nicht in Ordnung ist. Wenn man das nicht intensiv mit der Heimordnung nachprüft, wird es nicht so deutlich. Deshalb muß die Heimaufsicht gestärkt werden. Deshalb brauchen wir ein Heimgesetz, das ganz deutlich macht, wie wir mit den alten Menschen in diesen Heimen umgehen, insbesondere auch mit den behinderten - oftmals auch jüngeren - Mitbürgern. Es geht also um eine Stärkung der Heimaufsicht.
Wenn ich über die Heimaufsicht spreche, muß ich noch einen Punkt erwähnen, nämlich die Situation vieler alter Menschen, insbesondere der Rentner, die sich urplötzlich zu Sozialhilfeempfängern degradiert fühlen - oder dies auch sind - , wenn sie in ein Altenheim eingewiesen werden und nur noch ein Taschengeld haben und die Familien zur Leistung herangezogen werden. Dann gibt es Schwierigkeiten in den Familien, auch große finanzielle Schwierigkeiten, wenn auf die Familie plötzlich eine Lawine zukommt, die sie vorher überhaupt nicht eingeplant haben.
Deshalb ist für uns die Absicherung des Pflegerisikos, wie sie jetzt vorgesehen ist, nämlich allein im Rahmen der Finanzierung durch die Krankenkassen, nicht tragbar; denn dann bleibt der große Teil all der Menschen, die in Heimen leben, wieder außen vor.
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- Sie sind jetzt schon eine ganze Weile an der Regierung, Sie hätten auch schon eine Menge tun können.
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Wir werden diese Novellierung sicherlich sehr sorgfältig prüfen. Wir werden alles tun, was dazu führt, daß alte Menschen, so lange, wie sie mögen, und so lange, wie sie können, selbstbestimmt leben können. Das muß das Ziel einer Novellierung sein. Daran werden wir alle unsere nächsten Schritte messen.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Norbert Eimer.
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Ich habe bei Ihnen sorgfältig zugehört; hören Sie bitte bei mir auch zu.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der GRÜNEN erinnert mich an einen Fall, der sich vor Jahren in Bayern zugetragen hat: Da brachten Eltern ihre Kinder nicht im Kindergarten unter, sie schlossen sich zusammen, um die Kinder abwechselnd zu betreuen, stellten auch eine zusätzliche Kraft ein und bekamen prompt Schwierigkeiten mit den Behörden. Ihre Einrichtung wurde wie ein
Kindergarten behandelt. Es wurde das Kindergartengesetz angewendet. Man stellte fest, daß keine ausgebildete Kindergärtnerin eingestellt war und daß die baulichen Voraussetzungen - wie z. B. die WC-Höhe - nicht mit den Vorschriften des Kindergartengesetzes übereinstimmten.
Eine Privatinitiative, von der ja jede Gemeinschaft lebt, wurde hier abgewürgt. Die Fälle, auf die sich der vorliegende Antrag bezieht, Frau Unruh, scheinen mir ähnlich zu sein.
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Aber es ist nicht die Bösartigkeit der Verwaltung, der Bürokratie, die das verursacht, sondern es ist die Kehrseite von gut gemeinten Schutzgesetzen.
Wenn die FDP bei den einzelnen Schutzgesetzen auf diese Probleme hinweist, werden wir allzu leicht als die Partei der Kälte dargestellt, als diejenigen, die unsozial seien, als diejenigen, die soziale Leistungen und Sicherungen abbauen wollten. Diese Diffamierung kommt zum Teil auch aus den Reihen der GRÜNEN.
Jetzt haben auch die GRÜNEN jenes Problem entdeckt. Aber ich meine, so einfach, wie es dargestellt ist, ist es leider nicht. Und weil nicht tiefer gefragt wurde, kommen auch keine Antworten.
Wer die vielfältigen Einrichtungen kennt, weiß, daß es ein fließender Übergang ist von einem typischen Heim auf der einen Seite zu der Oma im Familienverband auf der anderen Seite. Beim Heim ist es selbstverständlich, daß eine Aufsicht notwendig ist, bei der Oma in der Familie selbstverständlich nicht.
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- Natürlich. Bitte, Frau Unruh, ich versuche ja, versöhnlich zu sein. Bitte schieben Sie doch Ihren Arger, den Sie heute hier vielleicht gehabt haben, nicht auf mich.
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- Vielen Dank für die Hilfe, Herr Kollege. Ich werde jetzt nicht immer beide Geschlechter aufzählen.
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Was muß aber passieren, wenn sich z. B. privat alte Menschen zusammenschließen und mit Familienanschluß in kleinen Gruppen leben, z. B. drei bis fünf Personen? Sie haben einen solchen Fall erwähnt. Wenn das geschäftsmäßig passiert, muß sicher eine gewisse Aufsicht da sein, aber doch wohl nicht die volle Anwendung des Heimgesetzes. Was passiert, wenn man zu Hause nicht die eigene Oma/Opa aufnimmt, sondern eine ferne Verwandte, die als Gegenleistung für diese Pflege einen ordentlichen Beitrag zahlt? Sie sehen, der Übergang ist fließend, und ebenso fließend muß das Heimgesetz, die Aufsicht behandelt werden, bis hin zur Aufgabe jeder Kontrolle. Wohngemeinschaften älterer Menschen, die sich selbst verwalten, dürfen natürlich nicht unter diese Aufsicht gestellt werden, auch Wohngemeinschaften jüngerer Menschen werden nicht kontrolEimer ({4})
liert. Kann man aber auch dann noch von einer Wohngemeinschaft sprechen, wenn die Gemeinschaft der älteren Menschen Dienstleistungen vergibt und Angestellte hat? Könnte es nicht sein, daß alte, rüstige Menschen die Führung an sich ziehen und andere alte Menschen ausbeuten? Ist dann eine Kontrolle nötig? Auf der anderen Seite haben wir, wie ich schon gesagt habe, auch keine Kontrolle, wenn sich junge Menschen zusammenschließen und in Wohngemeinschaften leben.
Wie definieren wir gleichartige Einrichtungen? Muß sich in gleichartigen Einrichtungen analog zu den Altenheimen auch in diesen Einrichtungen ein Beirat formieren? Auch wenn wir uns für das selbstbestimmte Leben im Alter einsetzen, müssen wir doch Mindeststandards für Wohngemeinschaften garantieren, oder nicht? Ich frage deswegen das Ministerium, ob es bereits geprüft hat, wann Verordnungen angewendet werden müssen und wann nicht. Wo sind die Abgrenzungen?
Sie sehen, ich habe einen ganzen Katalog von Fragen aufgestellt, die wir alle hier noch nicht beantworten können. Sie müssen aber gestellt und auch beantwortet werden. Deswegen war ich der Meinung, daß es zweckmäßig ist, daß wir darüber einmal im Ausschuß beraten. Es wurde bereits von Herrn Link gesagt, das Ministerium ist bereits tätig, eine Novellierung ist angekündigt. Von dieser Seite her wäre es vielleicht nicht notwendig gewesen. Ich meine aber, es ist doch zweckmäßig, wenn sich auch der Bundestag mit Fragen an das Ministerium wendet und wenn er dadurch vielleicht noch ein bißchen auf die Gesetzgebung einwirken kann.
Ich will in diesem Zusammenhang noch auf das Heimgesetz eingehen: Kleine Heime von sechs bis zwanzig Personen haben einen Heimbeirat bzw. einen Sprecher. Bei 21 bis 50 Heimbewohnern sind drei Heimbeiräte vorgesehen. Die größeren Heime kommen für die Betrachtung, die ich vorhabe, nicht in Betracht. Ich frage mich, ob in den kleinen Einrichtungen nicht besser alle Mitglieder beteiligt werden könnten, ob es notwendig ist, einen Delegierten zu wählen, der vielleicht die Probleme, die da anstehen, allein nicht so leicht bewältigen kann, als wenn dies gemeinsam geschieht. Ich frage mich, ob diese einzelne Person genügend Rückgrat gegenüber den Heimen haben kann, um die Interessen der alten Menschen zu vertreten. Welche Gründe sprechen eigentlich dagegen, besonders unter Berücksichtigung der ansteigenden Zahlen Schwerstzupflegender, den Heimbeirat auf Nicht-Heimbewohner auszudehnen? Ich meine damit: Sollte man den Insassen nicht erlauben, auch Personen zu wählen, die von außerhalb kommen, die noch mehr Spannkraft haben, noch mehr Durchsetzungsvermögen, um die Interessen der alten Menschen zu sichern? Wohlgemerkt, nicht kommen müssen, sondern es liegt in der Hand der alten Menschen, die hier wählen können.
Ich will einen Vergleich bringen: Aktionäre wählen in den Aufsichtsrat auch nicht nur Leute, die im Betrieb arbeiten, sondern auch Leute von außen. Ich glaube, wir müssen uns überlegen, ob das aktive
Wahlrecht der Insassen nicht durch Einschränkung des passiven - ({5})
- Das ist der technische Ausdruck. Ich bin der Meinung, wir sollten uns nicht um solche Kleinigkeiten streiten, wenn es um Inhalte geht. Ich habe wirklich versucht, versöhnlich zu arbeiten.
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Sie haben gehört, daß ich dazu beigetragen habe, daß dieser Antrag in den Ausschuß kommt. Ich finde es etwas merkwürdig und auch kleinlich, wenn Sie hier so an einem Ausdruck herummäkeln.
Wir müssen uns überlegen, ob wir das aktive Wahlrecht der Insassen nicht durch Einschränkung des passiven Wahlrechts ebenfalls einschränken und damit dem Heimbeirat Kraft und auch ein bißchen Biß nehmen.
Ich glaube, der Fragenkatalog, den ich aufgestellt habe, zeigt, daß es nicht genügt, zu einem Problem nur einen Stein ins Wasser zu werfen und zu schauen, welche Ringe er zieht. Der Antrag der GRÜNEN ist ein bißchen. Ich meine, wir müssen hier wirklich noch nachfragen. Wir Politiker sind da etwas gefordert. Die FDP will dazu dadurch beitragen, daß wir diesen Antrag im Ausschuß beraten. Ich hoffe, daß es zu einer guten Beratung kommt.
Vielen Dank.
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Zum Schluß hat das Wort der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie Sie wissen, begrüßt die Bundesregierung jede Eigeninitiative und Selbsthilfe der Bürger im gesellschaftspolitischen Bereich.
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- Auch der Bürgerinnen. - Wenn sich ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger zu Gemeinschaften zusammenfinden, um sich in ihrer Lebensführung gegenseitig zu ergänzen und zu unterstützen, dann ist das sicher eine gute Sache, die volle Unterstützung verdient. Diese zwischenmenschlichen Verbindungen basieren auf dem partnerschaftlichen Konsens jedes einzelnen Teilnehmers. Sie bedürfen deshalb in der Tat nicht besonderer staatlicher Regelungen, wie sie beispielsweise im Heimgesetz enthalten sind. Darüber besteht, wenn ich es richtig sehe, in dieser Debatte Konsens.
Eine ganz andere Frage ist, ob alle als Wohngemeinschaften bezeichneten Einrichtungen zu solchen auf partnerschaftlichem Konsens beruhenden Gemeinschaften zu rechnen sind oder ob es sich - darauf haben ja mehrere Redner hingewiesen - im Ein4460
zelfall nicht eher um ein Heim handelt. Hierbei kommt es sicher nicht auf die Bezeichnung derartiger Gemeinschaften an, sondern darauf, wie die Beziehungen der Beteiligten tatsächlich gestaltet sind. Handelt es sich beispielsweise um einen Zusammenschluß gleichberechtigter und gleich verantwortlicher Partner mit dem Ziel einer gemeinsamen Lebensführung, bei der insbesondere eine persönliche und wirtschaftliche Abhängigkeit der Beteiligten zu einem die Einrichtung betreibenden Dritten fehlt, so ist es sicherlich anders, als wenn ältere Menschen in einer Einrichtung aufgenommen werden, die von einem Träger mit fachlicher und wirtschaftlicher Verantwortung zum Zwecke der Unterbringung dieser Personen entgeltlich betrieben wird und die in ihrem Bestand und Zweck von Wechsel und Zahl der Bewohner unabhängig ist.
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Nur in dem letzteren Fall kann meines Erachtens - das möchte ich noch einmal klarstellen - das Heimgesetz Anwendung finden. Insoweit sieht die Bundesregierung kein Bedürfnis, eine Verordnung zu erlassen, in der ausdrücklich bestimmt wird, daß Wohngemeinschaften und Mehrgenerationswohngemeinschaften nicht unter das Heimgesetz fallen. Meine Damen und Herren, sie fallen nicht darunter.
Herr Staatssekretär, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Unruh?
Bitte schön.
Ich möchte den Abend wie Sie jetzt auch beenden. Ich meine nur vom Grundsatz des Denkens her: Sind Sie nicht auch der Auffassung, daß ich mit meinem Geld letztlich da leben kann, wo ich will?
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- Nein, das können Sie heute eben nicht.
Frau Kollegin, das habe ich ja gerade versucht darzulegen.
Sind Sie nicht auch meiner Meinung, daß die Wirklichkeit heute bei weitem anders aussieht, als Sie es jetzt darstellen?
Aus diesem Grunde möchte ich jetzt gerne in meiner Rede fortfahren. Zu diesem Punkt will ich nämlich gerade noch etwas sagen.
Frau Kollegin Unruh, unbeschadet dessen, was ich ausgeführt habe, beabsichtigt die Bundesregierung eine Novellierung des Heimgesetzes - das hat Herr Kollege Link zum Ausdruck gebracht - , in der u. a. auch die den Anwendungsbereich des Gesetzes regelnde Bestimmung neu gefaßt werden soll. Die Bundesregierung hat allen Beteiligten dazu Ende des vergangenen Jahres einen Diskussionsentwurf zugeleitet - ich habe diesen Diskussionsentwurf auf Grund unserer kürzlichen Diskussion in der Fragestunde auch Ihnen nochmals zugeleitet - und um eine Stellungnahme bis zum April gebeten.
Unser Ziel ist es, nach Eingang und Auswertung dieser Stellungnahmen einen Referentenentwurf bis zur Sommerpause vorzulegen und im Herbst dieses Jahres einen Regierungsentwurf dem Parlament zuzuleiten.
Lassen Sie mich noch etwas sagen. Niemand ist, wie es in der Begründung des vorliegenden Antrags anklingt, in diesem Gesetzgebungsbereich für obrigkeitliche Kontrolle über die Wohn- und Lebensgestaltung unserer älteren Mitbürger und Mitbürgerinnen. Vielmehr wollen wir auch die Beziehungen zwischen Heimbewohnern und Heimträgern auf partnerschaftlicher Grundlage gestalten helfen. Auch das ist ein Ziel dieser Novellierung. Dies ist eine bestimmende Maxime unserer Gesetzgebung in diesem Bereich.
Dazu gehört selbstverständlich der Schutz der Heimbewohner vor Beeinträchtigung ihrer besonderen Interessen und Bedürfnisse, auf den ältere Mitbürger wegen ihres Alters oder ihrer Gebrechlichkeit vielfach angewiesen sind. Aber dazu gehören auch die Anerkennung der Arbeit und die Motivierung derer, die in den Heimen oft mit großem Einsatz und ausgesprochener Kompetenz sich als Partner unserer älteren Mitbürger verstehen.
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Dieses Engagement verdient ein Wort des Dankes.
Ich finde es nicht gut, daß in Ihrem Antrag und auch in Ihrem Beitrag zu dieser Debatte da und dort ein Zungenschlag anklingt, der sich gegen die Heime richtet.
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Das verdienen vor allem viele Mitarbeiter in den Heimen nicht.
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Ich meine, wir sollten alles vermeiden, was einen generellen Gegensatz zwischen dem selbstbestimmten Leben im Alter auf der einen Seite und den Lebensformen in den Heimen auf der anderen Seite aufbaut.
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Unter keinen Umständen sollten wir die Lebensformen in den Heimen, auch wenn es in Einzelfällen zu kritisierende Vorgänge gibt,
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generell mit diskriminierenden Etiketten versehen, die ungerecht und unrichtig sind.
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Wir sollten das im Interesse der Bewohner dieser Heime nicht tun. Wir sollten das im Interesse unserer älteren Menschen in diesem Land nicht tun. Und wir
sollten es auch im Interesse der vielen engagierten Pflegerinnen und Pfleger in diesen Heimen nicht tun, die wir nicht demotivieren, sondern motivieren sollten.
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Darüber hinaus ist es Ziel unserer Novellierung, Unklarheiten im Gesetz zu beseitigen und gesetzliche Lücken auszufüllen. Dabei sollen in die gesetzliche Definition des Heim-Begriffs auch Kriterien Eingang finden, welche die Frage der Anwendung bzw. Nichtanwendung des Heimgesetzes auf die Wohngemeinschaft zweifelsfrei klären.
Ich wünsche mir eine sachbezogene und, wenn es geht, möglichst unpolemische Erörterung unserer Novellierungsabsichten. Dabei werden wir auch über die Fragen im einzelnen noch einmal sprechen können, die Herr Kollege Eimer hier angesprochen hat. Die Bundesregierung ist dazu bereit.
Ich meine, daß wir nur mit einer solchen sachlichen und unpolemischen Debatte über die Novellierungsabsichten, die die Bundesregierung und die Regierungskoalition haben, unseren älteren Mitbürgern helfen, und zwar sowohl den älteren Mitbürgern, die ihren Lebensabend in den Heimen verbringen, als auch den älteren Mitbürgern, die in Wohngemeinschaften leben. Beides ist uns gleich wichtig.
Vielen Dank.
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Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich nehme an, Widerspruch gegen diesen Vorschlag erhebt sich nicht. - So darf ich das als beschlossen feststellen.
Meine Damen und Herren, wir sind nunmehr am Ende unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung auf morgen, Freitag, den 4. März 1988, 9 Uhr ein.
Bevor ich die Sitzung schließe, wünsche ich Ihnen einen angenehmen und friedlichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.