Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung auf:
Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zur schriftlichen Kritik des Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern vom 9. Februar 1988 an Vorhaben der Bundesregierung
Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gemäß Nr. 1 c der Anlage 5 unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde beantragt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß die Opposition die Regierung kritisiert, ist nichts Ungewöhnliches. Sie bietet dazu weiß Gott hinreichend und immer häufiger Anlaß.
({0})
Aber daß sich die Opposition dabei durch den Vorsitzenden einer Partei unterstützt sieht, die selbst fünf Mitglieder dieser Regierung stellt
({1})
- die prügeln sich gerade wieder; deswegen sind sie nicht hier ({2})
und für die Politik dieser Regierung die volle Mitverantwortung trägt, ist durchaus ungewöhnlich, ja nahezu einmalig. Und eben das tut Herr Strauß seit seinem Brief vom 9. Februar 1988, in dem er dem Bundeskanzler in origineller Weise bald per Du, bald per Sie die Leviten liest, nahezu täglich.
So hat er den heutigen Zeitungen zufolge erst gestern seinen bisherigen originellen Vorwürfen in Richtung des Bundeskanzlers und seiner nächsten Umgebung die Vorwürfe des Dünkels, des Hochmuts und der unverschämten Flegelei hinzugefügt.
({3})
Das ist die Sprache der geistig-moralischen Erneuerung, die hier deutlich wird.
({4})
Ich will gar nicht auf die Einzelheiten der Straußschen Kritik eingehen. Er wiederholt in mehreren Punkten nur unsere Argumente, etwa unsere Argumente gegen die Abschaffung der Gewerbesteuer oder, wie er sich ausdrückt, gegen die Monstrositäten der Quellensteuer.
Im Vordergrund steht etwas ganz anderes, nämlich die Tatsache, daß Herr Strauß, den der Bundeskanzler so lange als seinen Männerfreund bezeichnet und noch vor kurzem als seinen persönlichen Beauftragten auf Reisen geschickt hat, um ihn wenigstens für ein paar Tage los zu sein,
({5})
Herrn Stoltenberg und Herrn Kohl in rüder Weise und in einer Sprache, die ihresgleichen sucht, in aller Öffentlichkeit demontiert, ja persönlich herabsetzt.
In dieser Koalition, in dieser Regierung wisse die rechte Hand nicht, was die linke tue; der Bundeskanzler lasse einen erschreckenden Mangel an politischer Linie und politischer Führung erkennen, sagt Herr Strauß. Ich widerspreche ihm ja gar nicht; wo er recht hat, hat er recht. Wir sagen das ja auch.
Aber, meine Damen und Herren, wie weit muß es eigentlich mit einer Regierung und einer Koalition gekommen sein, in der sich die angeblichen Partner derartiges ins Stammbuch schreiben?
({6})
Herr Stoltenberg - sagen Sie ihm schöne Grüße von uns -, sagt Herr Strauß weiter, arbeite schlampig. Er lege - in diesem Fall bei der Quellensteuer - Vorschläge vor, die im Gegensatz zu seinen bisherigen Erklärungen stünden; oder, im Originalton Strauß, er habe selbst nicht gewußt - Sie wissen es ja auch nicht, Herr Voss -, welche Konsequenzen seine Vorschläge hätten. Das heißt doch, in die deutsche Sprache übersetzt, daß Herr Strauß Herrn Stoltenberg für arglistig oder für beschränkt hält oder für beides.
({7})
Läßt sich sowas eigentlich in Ton und Inhalt noch
überbieten? Warum nimmt sich eigentlich Herr Strauß
gerade in diesem Zeitpunkt Herrn Stoltenberg vor?
Will er vielleicht einen schon Fallenden auch noch stoßen? Ist das die Motivation des Herrn Strauß?
Die Sache hat noch eine andere Seite, nämlich die Tatsache, daß Herr Strauß und die Herren der CSU draußen lärmen, aber nicht den Mut aufbringen, das, was sie draußen verbreiten, hier in diesem Saal dem Bundeskanzler oder Herrn Stoltenberg ins Gesicht zu sagen. Warum wiederholen Sie, Sie Helden von der CSU, nicht hier in diesem Saal, was Ihr Meister in Passau und Schwabing und allerorten sagt?
({8})
Dann könnten sich die Betroffenen wenigstens hier zur Wehr setzen gegen Ihre „geistreichen", Ihre „wohlartikulierten" Vorwürfe! Spüren Sie eigentlich gar nicht, meine Herren, daß Sie den Parlamentarismus in den Augen unseres Volkes zur Farce werden lassen mit diesem Doppelspiel?
({9})
Ich frage mich, wie der Herr Bundeskanzler eigentlich mit einer solchen Mannschaft noch glaubwürdig die Regierungsverantwortung wahrnehmen will. Mit seiner Neigung zu etwas ausgefallenen Vergleichen, deren Auswirkungen er allerdings manchmal nicht ganz übersieht, hat er gesagt, die Karawane, also die Kamele hier, zögen weiter, wenn auch, so muß man wohl ergänzen, die Hunde, also Sie, am Rande bellen.
Aber das kann doch wohl nicht die ganze Antwort eines Regierungschefs sein. Die Kamele ziehen ja auch gar nicht weiter, die Kamele kommen überhaupt nicht vom Fleck, weil sich die Kameltreiber unentwegt prügeln.
Nein, so sind die Probleme, vor denen unser Volk steht, nicht zu bewältigen. Deshalb fordern wir den Bundeskanzler auf - Herr Schäuble, sagen Sie ihm einen schönen Gruß, wenn er gerade die Flegeleien bekämpft - : Bringen Sie Ihren Laden endlich in Ordnung. Sorgen Sie für ein Mindestmaß an Führung. Trennen Sie sich in Gottes Namen auch einmal von Leuten, die ständig querschießen.
Die Probleme, vor denen unser Volk steht, erlauben das Durcheinander nicht, das bei Ihnen herrscht. Unser Volk hat etwas Besseres verdient.
({10})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramts.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Vogel, das Thema, zu dem Ihre Fraktion den Antrag auf diese Aktuelle Stunde gestellt hat, lautet: Haltung der Bundesregierung zur schriftlichen Kritik des Ministerpräsidenten des Freistaates Bayern vom 9. Februar 1988 an Vorhaben der Bundesregierung. Ich habe den Brief des bayerischen Ministerpräsidenten vom 9. Februar an den Bundeskanzler auch ohne Ihren Antrag aufmerksam gelesen. Briefe von Franz Josef Strauß werden vom Bundeskanzler und vom Kanzleramt immer mit aufgeschlossenem Interesse zur Kenntnis genommen.
({0})
Das entspricht schon der Bedeutung von Franz Josef Strauß als Ministerpräsident eines Bundeslandes und als Vorsitzender der Christlich-Sozialen Union. Das ist ebenso begründet durch den sachlichen Gehalt seiner Aussagen
({1})
wie durch die ja wohl unbestrittene Sachkompetenz von Franz Josef Strauß.
Im übrigen, Herr Kollege Vogel, unterscheiden wir uns möglicherweise dadurch von Ihnen, daß wir kritische Anmerkungen und kritische Anregungen immer ernst nehmen und von dem Verdacht besserwisserischer Überheblichkeit befreit sind.
({2})
Ich kann mich - auch nach Ihrer Rede, Herr Kollege Vogel - allerdings nicht des Eindrucks erwehren, daß Sie den Brief von Franz Josef Strauß offensichtlich überhaupt nicht gelesen haben. Andernfalls ist die Formulierung Ihres Antrags nicht verständlich.
Franz Josef Strauß kritisiert in seinem Brief zwar Äußerungen einzelner Mitglieder der Koalitionsparteien, und er macht auch kritische Anmerkungen zu Teilen des Referentenentwurfs zur Steuerreform, aber er kritisiert eben gerade nicht die Bundesregierung und nicht die von allen Parteien der Koalition der Mitte gemeinsam getragene Politik.
({3})
An und für sich, Herr Kollege Vogel, zögere ich etwas, hier auf Einzelheiten des Schreibens von Franz Josef Strauß einzugehen, und zwar deshalb, weil er in seiner gestrigen Pressekonferenz in Bonn die Veröffentlichung seines Briefes ausdrücklich bedauert und gerügt hat.
({4})
Der Bundeskanzler teilt die Kritik an dieser Indiskretion.
({5})
Indem wir in dieser Aktuellen Stunde über einen Brief zwischen den Vorsitzenden der beiden Unionsparteien diskutieren, dessen Veröffentlichung sowohl durch den Absender wie durch den Adressaten bedauert wird, prämiieren wir letztlich
({6})
- Herr Kollege Vogel, Sie sind doch sonst so für die Kleiderordnung - diese Art von Indiskretionen, die Franz Josef Strauß gestern
({7})
- ausdrücklich als ausgemachte Flegelei bezeichnet hat.
Ich will dennoch, Herr Präsident, aus Respekt vor dem Hohen Hause einige wenige Anmerkungen machen. Was die Diskussion über eine Abschaffung der Gewerbesteuer betrifft, so ist zunächst einmal völlig klar, daß die Bundesregierung und alle Teile der sie tragenden Koalition sich dafür entschieden haben, in dieser Legislaturperiode das Schwergewicht der Steuerpolitik auf die Reform unserer Lohn- und Einkommensteuer zu legen, die für die Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft wie für die leistungsgerechte Besteuerung der Einkommen aller Bürger, insbesondere der Arbeitnehmer, unverzichtbar ist. Ebenso unbestritten ist - die Bundesregierung hat dies gerade erst im Jahreswirtschaftsbericht 1988, den wir in der nächsten Woche debattieren werden, wieder festgestellt -, daß die Unternehmensbesteuerung langfristig reformiert werden muß.
Im Zuge der Vollendung des Binnenmarktes in der Europäischen Gemeinschaft werden wir die Steuersysteme unausweichlich harmonisieren müssen. Dabei gilt, wie der Bundeskanzler wiederholt erklärt hat, daß die Reform der Gewerbesteuer eine angemessene Lösung voraussetzt, die von allen Beteiligten mitgetragen werden kann und die den Gemeinden einen entsprechenden finanziellen Ausgleich bei Wahrung ihrer finanziellen Selbstverantwortung sichert.
({8})
Auch insoweit besteht mit Franz Josef Strauß vollständige Übereinstimmung.
Zur Energiepolitik will ich mich auf den Hinweis beschränken, daß der Sprecher der Bundesregierung, Staatssekretär Friedhelm Ost, zuletzt am 10. Februar nach einer Sitzung der Bundesregierung erneut mitgeteilt hat, daß die Bundesregierung an ihrer Energiepolitik festhält, die neben der Steinkohle und Braunkohle als den heimischen Energieträgern die friedliche Nutzung der Kernenergie als eine wesentliche Grundlage der Energieversorgung in der Bundesrepublik Deutschland ansieht. Auch insoweit besteht eine vollständige Übereinstimmung mit dem bayerischen Ministerpräsidenten.
({9})
Zu den kritischen Äußerungen von Franz Josef Strauß zu Einzelheiten des Referentenentwurfs zur Steuerreform verweise ich auf die §§ 24 ff. der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien.
({10})
- Herr Kollege Vogel, man muß sie Ihnen vorlesen.
Danach können bei der Vorbereitung von Gesetzen die Vertretungen der beteiligten Fachkreise oder Verbände bzw. müssen die Vertretungen der Länder beim Bund unterrichtet und muß ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben werden. Auch Mitgliedern des Bundestages, der Presse oder anderer nicht amtlich beteiligter Stellen oder Personen können Entwürfe aus den Ministerien zugänglich gemacht werden, bevor die Bundesregierung sie verabschiedet hat.
({11})
Bei der Unterrichtung ist ausdrücklich darauf hinzuweisen, daß es sich um einen vom federführenden Minister und von der Bundesregierung noch nicht gebilligten unverbindlichen Referentenentwurf handelt.
({12})
- Sie waren doch mal Mitglied der Bundesregierung, Sie müssen doch die Geschäftsordnung kennen.
({13})
Ziel dieser Bestimmungen ist, schon vor der politischen Entscheidung der Bundesregierung Beteiligte oder Betroffene zu hören und ihre Argumente bei der Entscheidung mitzuberücksichtigen. Dadurch sollen Entscheidungen am grünen Tisch vermieden werden, und ich plädiere sehr dafür, den Sinn dieser Bestimmungen nicht in Frage zu stellen. Aber dieser von der Geschäftsordnung vorgesehene öffentliche Diskussionsprozeß vor der politischen Entscheidung der Bundesregierung, setzt eben die Bereitschaft zu kritischer Diskussion und gegebenenfalls zur Korrektur
- übrigens auch zum Zuhören, Herr Kollege - voraus.
({14})
Es setzt auch voraus, daß man bereit ist, die Ergebnisse einer solchen Diskussion am Ende bei der Entscheidung mitzuberücksichtigen. Wer dies zum Gegenstand politischer Angriffe macht, verbessert die Qualität politischer Entscheidungsprozesse nicht.
({15})
Ich weiß, daß auch der vom federführenden Minister noch nicht politisch gebilligte Entwurf politische Bedeutung haben kann. Dem entspricht ja auch die Vorschrift des § 24 Abs. 2 der Geschäftsordnung, daß bei „Gesetzentwürfen von besonderer politischer Bedeutung" vor dieser Fühlungnahme die „Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen" ist. Dementsprechend war es auch notwendig und richtig, die Grundlinien eines so bedeutsamen Gesetzes wie der Steuerreform in der Koalition ausführlich zu erörtern. Dies aber ist gerade kein Widerspruch zur Bereitschaft zur Diskussion und gegebenenfalls auch zur Bereitschaft zur Korrektur einzelner Punkte vor der politischen Entscheidung der Bundesregierung.
({16})
Im übrigen will ich Ihnen auch sagen, meine Damen und Herren von der Opposition, die Sie offensichtlich überhaupt nicht zuhören wollen: Es führt kein Weg daran vorbei, daß jede strukturelle Änderung in unserem demokratischen Staat und in unserer pluralistischen Gesellschaft zwangsläufig vielfältige Diskussionen in Gang setzen muß. Die Pluralität von Interessen und Argumenten spiegelt sich notwendigerweise auch im Willensbildungsprozeß von Koalition und großen Volksparteien wider. Andernfalls würde
jede Sensibilität für die Empfindungen der Bürger verlorengehen.
({17})
Wer solche Diskussionsprozesse fürchtet, wird am Ende wie Sie in 13 Jahren in jedem Einzelfalle auf notwendige strukturelle Anpassungen verzichten. Die Folgen einer solchen Politik, die die notwendigen Strukturentscheidungen wegen der Gefahr kritischer Auseinandersetzungen unterlassen hat, haben wir alle bis zum Herbst 1982 verspürt.
({18})
Die von Helmut Kohl geführte Bundesregierung arbeitet noch immer daran, die aufgestauten Ergebnisse dieser Versäumnisse Schritt um Schritt abzuarbeiten.
({19})
Wir sind dabei gut vorangekommen, und wir haben notwendige Auseinandersetzungen und Diskussionen nie gescheut. Aber die Ergebnisse dieser Politik lohnen die Anstrengungen. Ohne die Auseinandersetzungen etwa um den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses hätten wir heute nicht die erreichten Abrüstungsfortschritte erzielen können.
({20})
Ohne das Ringen um die Einführung schadstoffarmer Autos in der Europäischen Gemeinschaft
({21})
hätten wir keine Fortschritte in der Verringerung der Luftverschmutzung und bei der Bekämpfung des Waldsterbens erzielen können.
({22})
Ohne die Auseinandersetzungen um die Einführung von Erziehungszeiten und Erziehungsurlaub hätten wir die Fortschritte in der Familienpolitik nicht erreichen können.
Meine Damen und Herren, wir haben diese und viele andere Reformen Schritt um Schritt durchgesetzt, ohne die zwangsläufigen Diskussionen in voller Würdigung der Argumente pro und contra zu fürchten. Der Erfolg gibt uns in jedem Einzelfall recht, und er dient den Bürgern unseres Landes.
So werden wir auch die notwendigen Strukturentscheidungen zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft und damit der Voraussetzung für Wachstum und Beschäftigung und letztlich für die Gestaltung unserer Zukunft Schritt um Schritt durchsetzen, entschlossen, das Notwendige zu tun, aber auch offen für alle kritischen Einwände und Argumente. Wer glaubt, eine große Steuerreform oder eine Reform unseres Gesundheitswesens ohne öffentliche Auseinandersetzungen meistern zu können, hat von der politischen Wirklichkeit unseres Landes keine Ahnung.
({23})
Die Bundesregierung und alle Teile der sie tragenden Koalition bleiben entschlossen, das für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes Notwendige zu tun, auch wenn wir um die Schwierigkeiten dieses Weges wissen. Die Bürger unseres Landes haben einen Anspruch auf politische Führung,
({24})
die sich nicht vor kritischen Entscheidungen und Diskussionen scheut. Sie werden die Ergebnisse dieser Politik nicht an den zeitweiligen Irritationen durch solche Diskussionen messen, sondern an den sachlichen Erfolgen dieser Politik.
Herzlichen Dank.
({25})
Das Wort hat der Abgeordnete Schily.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Es besteht nach unserer Ansicht keinerlei Anlaß zu irgendwelchen Exaltationen, weil Herr Strauß seinem „Männerfreund" wieder einmal einen Brief geschrieben hat. Immerhin sind wir beruhigt, durch diese Korrespondenz zu erfahren, daß Herr Strauß Herrn Kohl immer noch korrekt als Bundeskanzler anzureden weiß
({0})
und sich nicht dazu hinreißen läßt, ihn so zu nennen, wie er sonst seine Kritiker und Kontrahenten zu nennen pflegt. Das ist immerhin schon einigermaßen beruhigend für die politische Kultur dieses Landes.
({1})
Im übrigen - darauf hat Herr Kollege Dr. Vogel schon hingewiesen - scheint doch einiges bei Herrn Strauß ins Schwanken geraten zu sein, nachdem er sich nicht mehr zu entscheiden vermag, ob er nun den Herrn Bundeskanzler duzen oder siezen soll. Man kann natürlich schreiben: Herr Bundeskanzler, Du hast es wieder einmal falsch gemacht.
({2})
Aber das sind stilistische Fragen, die der Erörterung hier eigentlich nicht bedürfen.
Ebensowenig bedarf es aber, meine Damen und Herren Kollegen, aufgeregter Wehklagen, die Bundesregierung sei nicht handlungsfähig. Wir GRÜNEN sind eher erleichtert,
({3})
daß die Bundesregierung im Bonner Gestrüpp stekkengeblieben ist, weil auf diese Weise manche Walze im Schuppen bleibt,
({4})
weil viele Vorhaben mit vorhersehbaren verheerenden Wirkungen wenigstens einstweilen blockiert bleiben. Wie wir es sehen, wird die Einführung einer schadstofffreien Regierung in Bonn einstweilen noch etwas auf sich warten lassen.
So unschön, wie Bonner Politik eben ist,
({5})
so ist auch die Regierung, Herr Seiters.
({6})
- Nein, Herr Langner, ich glaube, wir alle hier müssen einmal versuchen, darauf einzugehen. Ich denke, der geistige Leerlauf,
({7})
die Staffage, das Herumhampeln, die meist lächerliche Geschäftigkeit, die Verödung des Denkens, das ist es, worüber wir in Bonn einmal reden müßten.
({8})
- Ich fange damit gerade an. Weil die Regierung, weil die Politik in Bonn allgemein
({9})
keinen Sinn für die Wirklichkeit, für das Wirkliche hat, ist sie selber gewissermaßen unwirklich.
({10})
Wer sich dafür noch ein Gespür bewahrt hat, sollte die Möglichkeit des Erschreckens nicht an sich vorübergehen lassen.
({11})
Denn während wir in dieser Unwirklichkeit umherirren, kommen aus der Geschichte und der Gesellschaft Entwicklungen auf uns zu, deren Züge heute bereits in Umrissen erkennbar sind. Computerisierung von Entscheidungen, Chemisierung der Natur, Enthumanisierung der Kommunikation, Brutalisierung der Beziehungen, Entseelung des Bewußtseins, das Erwürgen der Individualität, das sind die realen Gefahren der unmittelbaren Zukunft.
({12})
Die ungeheure Kraft der Phantasie, die unendliche Schönheit des Menschen, sie offenbaren sich nach meiner Überzeugung immer aufs neue in jedem Kind. Die Gesellschaft nimmt nur dann ihre wirklichkeitsgemäße Gestalt an, wenn sie diese Kraft der Kinder in sich aufzunehmen weiß und sich aus der eigenschöpferischen Tätigkeit des einzelnen aufbauen kann.
Ich bin in großer Sorge - auch bei einer solchen Debatte, wie sie sich heute vollzieht - , daß wir mit der Scheinherrschaft, in der wir herumtapsen,
({13})
unseren Kindern, wie die Bibel es beschreibt, nur Steine, oder sagen wir besser: Styropor statt Brot hinterlassen.
({14})
Die Frage ist aktueller denn je. Aber wie gewohnt werden Sie einer solchen Frage nur mit Hohn und Spott begegnen.
Die Lehre, die daraus für mich zu ziehen ist, lautet, daß die Erneuerung der Gesellschaft nicht hier aus Bonn kommen wird,
({15})
sondern aus der Gesellschaft selber. Damit werden Sie sich auseinandersetzen müssen, wenn nicht auch in ihren Köpfen nur Styropor ist.
Ich danke Ihnen.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schily, wenn zwischen der Schönheit der Worte, die Sie für Ihre Theorie finden, und der Realität des politischen Handelns Ihrer Parteifreunde nicht so eine schreckliche Diskrepanz klaffen würde,
({0}) sähe das alles viel besser aus.
({1})
So schlecht, wie immer behauptet wird, kann die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung und der Bundesunternehmen, mindestens der Post, nicht sein. Der Slogan „Schreib mal wieder! " scheint doch recht wirksam zu sein.
({2})
Aber Scherz beiseite. Wenn in Volksparteien und zwischen Koalitionsparteien in für unser Volk wichtigen Fragen um die richtigen Antworten
({3})
gerungen wird, selbst wenn man miteinander in einer Regierung sitzt,
({4})
dann ist das gut.
({5})
Das ist nicht nur normal, das entspricht auch demokratischen und innerparteilichen Spielregeln, selbst wenn dabei Geräusche entstehen.
({6})
Aber nicht in Ordnung ist es, wenn solche Vorgänge durch die Opposition unproportional aufgebauscht werden,
({7})
krisenhaft aufgebauscht werden, weil der einzige Zweck solchen Handelns eindeutig darin besteht, unsere Bevölkerung zu verunsichern,
({8})
Inkompetenz, Entscheidungsunfähigkeit
({9})
und mangelnde Führungskraft zu suggerieren, meine Damen und Herren.
({10})
Ich behaupte doch auch nicht, daß die SPD auseinanderbricht oder daß ihr traditionell gutes Verhältnis zu den Gewerkschaften zutiefst gestört sei.
({11})
Ich behaupte doch auch nicht, Herr Vogel, daß Sie ohne Führungskraft seien,
({12})
nur weil Oskar Lafontaine - übrigens zu Recht -meint, Verkürzung der Arbeitszeit zur Schaffung von mehr Arbeitsplätzen gehe nur bei entsprechender Übertragung von Lohnanteilen, und Sie das genaue Gegenteil behaupten.
({13})
Meine Damen und Herren, warum sollte das alles nicht auch für den großen alten Mann in München gelten, warum nicht? Das einzige, was er sich bei seiner legitimen Kritik fragen lassen muß, ist,
({14})
ob das Ganze angesichts des Aufbauschens durch die Opposition auf der Grundlage von Indiskretionen,
({15})
die man in Bonn immer voraussehen kann, auch weise ist; das ist das einzige.
({16})
Meine Damen und Herren, ich jedenfalls will der deutschen Öffentlichkeit für meine Partei und meine Parteifreunde sagen: Der Wille der drei Koalitionsparteien, für das deutsche Volk gute Politik zu machen, ist ungebrochen.
({17})
Und ich will hinzufügen, daß das Maß an Gemeinsamkeit noch für viele Jahre ausreicht.
({18})
Aber nun zur Sache.
({19})
Erstens. Es gibt in der Frage der friedlichen Nutzung der Kernenergie als Übergangsenergie keinen Dissens. Wie man sich am besten auf die Zeit danach vorbereitet, wie man am besten Einfluß auf den Beginnzeitpunkt der Zeit danach nimmt, das ist des Wettstreits wert und würdig. Bloße spektakuläre Symbolentscheidungen, die kurz- und mittelfristig schädlich sein können, die dem Volk Sand in die Augen streuen sollen, bringen nichts, und sie sollte man unterlassen.
Zweitens. Was die kleine Kapitalertragsteuer betrifft, so ist klar und so war klar, daß sie nicht gerade
Begeisterungsstürme auslösen würde. Ein erster Referentenentwurf pflegt in der Regel nicht das letzte Wort zu sein. Ein großes Hearing hat stattgefunden, die Bundesregierung hat nicht entschieden, die parlamentarischen Beratungen beginnen überhaupt erst danach. Unsere Eckwertbeschlüsse werden sachgerecht umgesetzt werden.
({20})
Europa ist den Liberalen ein Herzensanliegen. Der für unsere wirtschaftliche Entwicklung so wichtige Binnenmarkt erfordert vielfache Harmonisierungen von Steuern und Abgaben. Die antiquierte und in ihren Wirkungen für Wirtschaft und Gemeinden unstreitig schlechte Gewerbesteuer ist dabei ein Sonderbelastungsfaktor der deutschen Wirtschaft, der weg muß.
({21})
Andererseits ist völlig klar, daß dieses Werk nur mit den Gemeinden und nicht gegen die Gemeinden umgesetzt werden kann. Es ist völlig klar, daß ein attraktives alternatives Gemeindefinanzierungsmodell im Zweifel nicht ohne Änderung der Finanzverfassung möglich ist, also nicht ohne die Gemeinden und ohne die Opposition - wegen der entsprechenden Mehrheitsverhältnisse.
({22})
Unter dieser Prämisse stellt man fest, daß es zwischen den Aussagen von Bundeswirtschaftsminister Bangemann, Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Strauß überhaupt keine unüberwindbaren Gegensätze gibt.
({23})
Kurz: Wieder einmal, meine Damen und Herren, eine Aktuelle Stunde ohne ein aktuelles Thema, Wind - für Sturm reichte es nicht - im Wasserglas.
({24})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Apel.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Gattermann, es ist nicht überproportional aufgeblasen, wenn wir heute feststellen, daß die große Mehrheit unserer Städte und Gemeinden durch Ihre Finanz- und Steuerpolitik in eine für sie aussichtslose Lage getrieben wird,
({0})
daß die Sozialhilfeleistungen explodieren, daß Sie ihnen durch Ihre Steuerpolitik weitere Einnahmen wegnehmen und daß die Städte und Gemeinden im Jahre 1990 7,5 Milliarden DM weitere Steuerausfälle hinnehmen müssen.
Sie kommen dann in der Tat in eine Situation, die unerträglich ist. Meine Damen und Herren, die Konsequenzen liegen ja auf der Hand: LeistungskürzunDr. Apel
gen, Rücknahme freiwilliger Leistungen, Gebührenanhebungen, Steueranhebungen und insbesondere Rücknahme der öffentlichen Investitionen. Das muß dann die Massenarbeitslosigkeit weiter erhöhen.
In diese sehr schwierige Debatte, die die Gemeindeväter mit ihrer aussichtslosen Perspektive unter sich durchführen, kommt dann Ihr Minister, der Minister Bangemann, und sagt, die Bundesregierung würde zur Mitte dieses Jahres bei der Verabschiedung des Bundeshaushaltes die Gewerbesteuer streichen, und zwar ab 1990, in der nächsten Legislaturperiode. Da kann ich nur sagen: Wie sollen Gemeindeväter dann eigentlich noch investieren, wenn die Einnahmen fehlen, wenn die Gewerbesteuer wegfällt? Deswegen ist der Wirtschaftsminister für die Gemeinden ein beträchtliches, ein schlimmes Investitionsrisiko.
({1})
Aber, meine Damen und Herren, der Bundeskanzler hat ja in einer Stellungnahme zum Brief von Franz Josef Strauß deutlich gemacht, daß auch er die Gewerbesteuer abschaffen will. Er ist sich nur nicht darüber einig, wann man die Wahrheit sagt. Insofern sind Wirtschaftsminister und Kanzler einer Meinung: Die Gewerbesteuer soll weg. Der Finanzminister, Herr Kollege Voss, ist wieder einmal weggetaucht. Von dem hören wir zu dieser Frage nichts, außer gelegentlicher Schönfärberei von Ihnen über die tatsächliche Lage der Gemeindefinanzen.
({2})
Was hat denn nun Franz Josef Strauß in seinem Brief geschrieben, der ja so eine freundliche Meinungsäußerung ist? Ich zitiere:
Auch du hast,
- so spricht Franz Josef Strauß zu seinem Männerfreund in diesem Brief als du von der Abschaffung der Gewerbesteuer gesprochen hast, keine Lösungsmöglichkeit angedeutet.
Da sagen wir Sozialdemokraten: So erreicht nun das steuerpolitische Durcheinander, das Chaos, das dumme Gerede in der Tat einen neuen Höhepunkt mit schlimmen Konsequenzen für die Gemeindefinanzen.
({3})
Nur, den Bundeskanzler stört das nicht. Er sagt - wir haben ja schon darauf hingewiesen - : Die Karawane zieht weiter, und zwar in der bisherigen Formation. Ich füge hinzu: Die Bonner Kamele haben augenscheinlich auf ihrem Weg in die steuerpolitische Wüste vor allem Wasser, aber keinen steuerpolitischen Verstand getankt.
Da sind wir dann allerdings, Herr Bötsch, mit Franz Josef Strauß einig. Er hat doch in seinem Brief geschrieben:
Unsere Gemeinden brauchen eigene Steuern mit einem eigenen Hebesatzrecht,
({4})
die das Band zwischen den Unternehmen und der Gemeinde stärken.
Franz Josef Strauß hat hinzugefügt - auch da stimmen wir zu - , daß es ja wohl nicht angehen kann, daß die Arbeitnehmer höhere Lohnsteuern zahlen müssen, damit den Unternehmen die Gewerbesteuer gesenkt werden kann.
({5})
Damit ein Letztes klar ist: Wenn Sie daran denken, die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte zu Lasten der Konsumenten massiv zu erhöhen - ({6})
- Nein, 3! Sie können ja nicht rechnen, Herr Seiters. 32,2 Milliarden DM bringt die Gewerbesteuer. Wenn Sie sie abschaffen wollen, brauchen Sie 3 Prozentpunkte. Nehmen Sie das einmal zur Kenntnis.
({7})
Da sagen wir Ihnen: Das verlangt eine Grundgesetzänderung. Die ist mit uns nicht zu haben.
Aber, meine Damen und Herren, damit auch das klar ist: Wir appellieren an Sie von der Koalition. Folgen Sie z. B. der Alternative und der Möglichkeit, die Ihnen Herr Albrecht bietet. Nehmen Sie den Städten und Gemeinden 50 % der Sozialhilfe ab! Das ist ein Beitrag.
({8})
Verändern Sie Ihr Programm zur Förderung der Investitionen durch Investitionszuschüsse und durch stärkere Zinssubventionen so, daß auch die finanzschwachen Gemeinden investieren können!
Beginnen Sie endlich die konzeptionelle Arbeit für eine große gemeine Finanzreform. Wir bieten Ihnen unsere Mitarbeit an. Wir sind der Meinung, daß politisch gehandelt werden muß. Gerede und Gefährdung der Perspektiven der Gemeinden durch Äußerungen des Bundeswirtschaftsministers sind der Lage überhaupt nicht angemessen. Bitte, handeln Sie!
Schönen Dank.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Langner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch in einer überflüssigen Debatte wie der heutigen
({0})
wird gelegentlich ein bedenkenswerter Satz gesagt. Herr Schily, wenn Sie es auch mit taktischem Hintersinn getan haben, ich will darauf eingehen. Wenn sich die Schönheit des Menschen und der Welt in der Geburt jedes Kindes zeigt, warum betreiben die GRÜNEN dann eigentlich eine Politik, bei der Hunderttausende von Kindern gar nicht erst geboren werden?
({1})
Nutzlose Aktuelle Stunden wie die heutige reihen sich aneinander, und man wird den Eindruck nicht los, daß SPD und GRÜNE hier einen geradezu pennälerhaften Wettstreit um den törichsten Debattentitel austragen.
({2})
Die Eulenspiegeleien der GRÜNEN kann ma ja gerade noch pubertätsangemessen ertragen,
({3})
aber daß die SPD dem grünen Klamauk unterdessen nacheifert, das ist für die größere Oppositionspartei schon ein Armutszeugnis. Das ist eine Art PapiertigerOpposition.
({4})
- Da werden drei Klarsichthüllen angelegt, Herr Oppositionsführer, mit den Überschriften „Gewerbesteuer", „Kernenergie", „Quellensteuer" versehen; dann werden diese drei Klarsichthüllen mit einem roten Gummibändchen versehen, und darauf wird dann geschrieben: „Haltung der Bundesregierung". Wer meint, so Opposition treiben zu können, gibt das Parlament letztlich der Lächerlichkeit preis.
({5})
Es fehlt Ihnen offensichtlich eine konstruktive Sachalternative.
Sicherlich würde sich das Thema „Gewerbesteuerbelastung der deutschen Wirtschaft als Wettbewerbsverzerrung im internationalen Rahmen" für eine vernünftige Diskussion lohnen. Das gilt auch für die Frage, daß niemand einen Vorschlag für einen Ausgleich beim kommunalen Einnahmeausfall hat. Ich wäre auch nicht dagegen, mit der SPD über die Energiepolitik etwa auf dem Niveau zu diskutieren, das Altkanzler Schmidt vor einer Woche in der „Zeit" gewählt hat.
({6})
Aber dieses Konzept einer gemischten Energiepolitik von Kohle und Kernenergie sollte sich mancher Ausstiegswillige in Ihren Reihen einmal näher anschauen.
({7})
Schließlich wären wir ja auch bereit, in einer Sachdebatte über die Frage der Quellensteuer, über die Verbreiterung der Bemessungsgrundlage, mehr Steuergerechtigkeit und -ehrlichkeit zu diskutieren,
({8})
aber das alles doch nicht in Fünf-Minuten-Beiträgen als „Leipziger Allerlei" .
({9})
Die heutige Aktuelle Stunde hat etwa das Niveau eines Antrags mit dem Titel: „Haltung des Oppositionsführers zu dem Vorschlag des saarländischen Ministerpräsidenten auf Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich"
({10})
oder Haltung des Oppositionsführers zu dem jüngsten Vorschlag des Abgeordneten Scheer in seinem Strategiepapier - ich zitiere - , „daß die SPD den Eindruck nicht ausreichender Regierungskompetenz erweckt". Wenn der Kollege Scheer dann fortfährt, daß die SPD mit hängender Zunge den Regierungsfakten hinterherzulaufen und Profil zu verlieren statt zu gewinnen droht, dann ist das wohl wahr.
({11})
Die ernsten Sachthemen, die auch in dem Brief des bayerischen Ministerpräsidenten angesprochen sind, können hier eben nicht im Schnelldurchlauf und durch Verhaltensforschung geklärt werden.
({12})
Zu den Aufregungen über den Brief des Ministerpräsidenten noch eines: Unser ehemalige Kollege und heutige Bundesverfassungsrichter Dr. Klein hat vor kurzem geschrieben, die Politik einer Regierung sei naturgemäß von öffentlichen Diskussionen begleitet. Die Presse werte dies oft als ein Zeichen innerer Zerrüttung der Mehrheit, statt es als das zu nehmen, was es ist:
({13})
das für die Demokratie lebensnotwendige öffentliche Ringen um die richtige Entscheidung.
({14})
Keine Besserwisserei und keine persönliche Attacke,
({15})
aber öffentliches Ringen um die bessere Entscheidung.
({16})
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie werden durch Mätzchen-Anträge wie den heutigen uns weder von einer lebendigen Diskussion noch die Regierung von den notwendigen Entscheidungen abbringen. Die Entschiedenheit des Kanzlers in der Abrüstung, für Europa, für Freundschaft mit Amerika ist gut für unser Land. Auch die notwendigen inneren Reformen, die von Ihnen ja jahrelang verschlafen und verschleppt worden sind, werden entschieden zu Ende geführt.
({17})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Simonis.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Kollegen! Auf der rechten Seite von mir aus gesehen gibt es offensichtlich einen Sinn für hintergründigen Humor. Vom bayerischen Ministerpräsidenten wird der Finanzminister als ein Schlamper, sein Männerfreund als ein Schlaffi, der Außenminister als ein Miesling und der Rest als Nullen und Flaschen bezeichnet. Und das nennen Sie dann „das Ringen um die richtigen Antworten zum Wohle der Koalition und des deutschen Volkes".
({0})
- Das hat der bayerische Ministerpräsident gesagt und geschrieben.
Wenn ich nicht genau wüßte, daß sich Herr Stoltenberg das dringlich verbitten würde, würde er mir schon fast leid tun; denn er hat eine Goldmedaille im Schaffen von negativen Schlagzeilen verdient. Er ist vom Glück nicht gerade verfolgt. Was immer er anpackt, es mißlingt ihm, es geht schief, angefangen vom letzten Haushalt über den Versuch, die Verschuldung niederzudrücken, bis zu dem Versuch, neue, Ersatzquellen für seinen leeren, ausgelaufenen Haushalt zu finden.
Dabei ist er dann auf diese steuerpolitische Mißgeburt der Quellensteuer verfallen. Man müßte mal nachlesen - das macht einem direkt Spaß - , was er damals alles gesagt hat, als wir gemeint haben, man müsse geltendes Gesetz zur Versteuerung von Kapitalerträgen anwenden.
({1})
Gott, was hat er sich damals aufgeregt! Ich dachte, er kriegt einen Herzinfarkt.
Und nun? Nun kommt er mit einer Sache, die sowohl ungerecht als auch wirtschaftspolitisch dämlich als auch steuerpolitisch eine Mißgeburt ist.
({2})
- Der hat nie eine Quellensteuer verlangt. Sie haben ja keine Ahnung von Steuerpolitik; sonst wüßten Sie, daß das keine Quellensteuer ist. Das haben Sie nur so genannt, damit Sie uns einen reinwürgen konnten.
({3})
Steuerpflichtige mit hohem Einkommen werden gebeten, doch so freundlich zu sein, mit 10 % eine kleine Versteuerung ihrer hohen Kapitaleinkommen vorzunehmen, und ansonsten werden sie geradezu aufgefordert, Steuerhinterziehung zu betreiben; denn sie werden freundlich gebeten, mitzuteilen, ob das denn ungefähr ihrer Steuerpflicht entspricht oder nicht. Wer das macht, der muß doch mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er weiß, den Rest braucht er nicht zu versteuern.
({4})
Sie versuchen die Gemeinden auszubeuten und finanziell auszubluten, weil Sie genau wissen, daß bei der Quellensteuer die Gemeinden nicht beteiligt sind, während sie bei der Kapitalertragsteuer mit 15 % dabei sind. Das bedeutet: Diesen hervorragenden Coup des Finanzministers müssen die Gemeinden mit jährlich 70 Millionen DM bezahlen, weil sich um diesen Betrag ihre Einnahmen verringern und sie auch selber Quellensteuer bezahlen müssen. Sie ist wirtschaftspolitisch absurd, weil vor allem auch solche öffentlichen Unternehmen, die Regionalpolitik betreiben, wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau, die Deutsche Ausgleichsbank, die Landwirtschaftliche Rentenbank, Teile ihrer Erträge an den Fiskus abführen müssen. Und die werden höchstwahrscheinlich sogar noch einkommensgerecht abführen, d. h. mehr als jeder private Kapitaleigner. Das bedeutet eine Kürzung der Fördermöglichkeiten bei der Regionalpolitik, aber auch bei der Wissenschaft, bei Kultur, bei Sport, und in allen anderen Bereichen, in denen wissenschaftliche und sonstige Stiftungen tätig sind.
({5})
Es ist aber geradezu skandalös, was die sozialpolitischen Wirkungen anbetrifft. Noch weiß ja kein Mensch, ob das Wort des Männerfreundes Kohl gilt oder ob das gilt, was geplant worden ist, nämlich daß Gewerkschaften, karitative Organisationen, Einrichtungen der Altersfürsorge, Fördereinrichtungen von Kunst und Erziehung, die Kirchen, der Sport der Quellensteuer unterworfen werden. Werden sie es nicht, wird alles dies nachgebessert, wie hier gerade versprochen wird, wird es im Leben keine 4,6 Milliarden DM geben; wird es aber nicht nachgebessert, weil Sie die 4,6 Milliarden DM haben wollen - wer weiß, ob Sie sie je kriegen - , dann bedeutet das, daß gerade die Ärmsten und die Hilflosesten in unserer Gesellschaft durch die Quellensteuer noch mal getroffen werden, obgleich sie vorher schon in überproportionalem Maße Ihre unsoziale Steuerpolitik haben finanzieren müssen.
({6})
Ihre Vorschläge sind sozialpolitisch skandalös und nicht ausgewogen. Sie sind wirtschaftspolitisch nicht vertretbar. Und sie sind steuerpolitisch eine Mißgeburt. Wir lehnen sie daher ab und fordern Sie auf, sich doch irgendwann vielleicht mal fünf Minuten Zeit zu nehmen, um unsere Vorschläge anzusehen,
({7})
bei denen nicht der Normalverdiener zur Zinsversteuerung herangezogen wird, sondern die, die nach Recht und Gesetz schon heute längst hätten zahlen müssen.
Ich danke Ihnen.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Faltlhauser.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Herr Apel hier oben stand, bin ich auf den Gedanken gekommen, wie gut
es gewesen wäre, wenn dem Finanzminister Apel früher intelligente Briefe von intelligenten Ministerpräsidenten geschickt worden wären. Aber wie er dann weitergeredet hat, habe ich mir gedacht: Zwecklos, der Mann ist nicht lernfähig. Das war er damals nicht, das ist er heute nicht, - Es wäre gut für Ihre Politik gewesen, wenn Sie damals entsprechende Beiträge bekommen hätten.
Sie sind nicht lernfähig, Herr Apel, weil Sie z. B. immer wiederholen, daß die Mehrwertsteuer erhöht werde.
({0}) Genau das ist ja nicht der Fall.
({1})
Diese Regierung hat durch ihre Politik erreicht, daß es nicht notwendig ist, in dieser Legislaturperiode die Mehrwertsteuer zu erhöhen.
({2})
Was ist die Realität der Politik am heutigen Tag?
Gestern wurde in der Debatte in diesem Hause wieder deutlich gemacht, daß diese Bundesregierung in der Außen- und Sicherheitspolitik besonders erfolgreich ist.
Vorgestern gab es eine erfolgreiche Ruhr-Konferenz.
Und: Diese Regierung ist bei großen Reformen an der Arbeit. Das sind keine Reförmchen mit Kommaänderungen wie damals in den 70er Jahren, die dann hinterher von Herrn Bölling mit viel Fahnengeschwenke und Glockengeläute den Leuten als Reformen verkauft wurden. Das sind wirkliche Reformen, die ins nächste Jahrhundert reichen.
({3})
Bei diesen Reformen, meine Herren von der Opposition, lohnt die Auseinandersetzung im Detail weiß Gott. Ich würde sogar sagen: Es ist ein Element der Demokratie, daß man hier ringt in den Parteien, in der Koalition.
({4})
Wenn das nicht der Fall wäre, wenn Friedhofsruhe bei der Debatte um Steuerreform, Rentenreform, Krankenversicherungsstrukturreform herrschen würde, dann hätten Sie recht, eine Aktuelle Stunde zu beantragen. Denn dann wäre das ein Mangel an Argumentenaustausch, ein Mangel an demokratischer Praxis.
Meine Damen und Herren von der Opposition, es ist doch ganz selbstverständlich, daß sich der Vorsitzende der zweitgrößten Koalitionspartei
({5})
aktiv und anhaltend an der Diskussion über die Ausgestaltung dieser Reformen beteiligt.
({6})
Der Franz Josef Strauß läßt sich doch von der Opposition nicht vorschreiben, ob er nach Moskau oder Namibia reist oder was er von der Quellensteuer im Detail hält oder wie er die ausgestaltet haben will.
Sie haben lächerlicherweise einen Brief zur Grundlage dieser Debatte gemacht. Ich muß Sie unterrichten: Franz Josef Strauß hat schon sehr viele Briefe
({7})
sowohl an den Bundeskanzler als auch an andere Ressortkollegen geschrieben. Er hat sich schriftlich und mündlich fachkundig zu der Arbeit der Regierung geäußert. Das ist Sinn des Arbeitens innerhalb einer Koalition mehrerer Parteien, das ist nützlich in der Sache und ist der Ausdruck der Kompetenz und der Vitalität des bayerischen Ministerpräsidenten.
({8})
Natürlich sind Sie, Herr Vogel, es nicht gewöhnt, solche Briefe von SPD-Ministerpräsidenten zu bekommen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß z. B. der Herr Wedemeier irgendwelche Ahnung vom § 44 c des Einkommensteuergesetzes hat. Er ist in besonderer Weise mit eigenen Problemen befaßt. Aber Sie bekommen dafür mehr Kündigungsbriefe, Herr Vogel. Vielleicht sind Sie dann wieder zufriedengestellt.
({9})
Wenn sich Franz Josef Strauß in seinem Brief z. B. zur Gewerbesteuer äußert, so meine ich, es ist besser, eine Auseinandersetzung über Art und Zeitpunkt der Senkung der Gewerbesteuer zu führen, als ein Programm zur Gewerbesteuererhöhung zu haben wie Sie.
({10})
Sie wollen einfach nicht wahrhaben - und das ist der Grund dieser Debatte -, daß wir die Steuersenkungskoalition sind und Sie die Steuererhöhungspartei.
({11})
Wir entlasten um 45 Milliarden DM, und Sie haben auf Parteitagen bereits 44 Steuererhöhungsbeschlüsse gefaßt, z. B. „weg mit unseren Steuererleichterungen" : - hier müßten Sie bereits 25 Milliarden DM wegstreichen, die schon zurückgegeben wurden - , Ehegattensplitting weg, Kinderfreibeträge weg, Grundwasserabgabe, Abwasserabgabe, Schwefelabgabe, Stickstoffabgabe als zusätzliche Steuern. Herr Präsident, ich bräuchte sehr viel Zeit, um alles das vorzulesen, was die SPD an mehr Steuern den Bürgern auferlegen will.
({12})
Die CSU und ihr Parteivorsitzender tragen diese Koalition mit Überzeugung. Franz Josef Strauß hat diese Steuerreform in den Koalitionsverhandlungen konstruktiv und fachkundig mitgestaltet. Er wird bei der Ausformung dieser Reform weiterhin mitgestalten: fachkundig, temperamentvoll und politisch weitDr. Faltlhauser
sichtig. Sie werden mit derartig lächerlichen Diskussionen, die Sie hier anzetteln wollen, dieses sachkundige Wirken mit Sicherheit nicht blockieren können.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Stiegler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Faltlhauser, wenn Hans Apel eingefallen wäre, was Ihnen eingefallen ist, wäre die Fraktion der Sozialdemokraten aufgestanden und hätte ihn korrigiert. Es wäre nicht passiert wie bei Ihnen: daß Sie hier allem zustimmen, und dann kommt der Obermeister und muß Sie wieder zurückpfeifen. Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und den Sozialdemokraten. Stoltenberg hat Apel für Schulden kritisiert, die Stoltenberg heute selber gemacht hat. Stellen Sie sich vor, wir hätten damals solche Schulden gemacht! Apel hat dafür Arbeitsplätze geschaffen.
({0})
Wir hatten die Arbeitslosigkeit unter einer Million, und Sie haben die Arbeitslosigkeit auf 2,5 Millionen gesteigert.
Meine Damen und Herren, im Gegensatz zur CSU kann die sozialdemokratische Fraktion stehen und braucht nicht immer wieder einen. Sie gehen hier in Bonn die Verpflichtungen ein, und die Haftungsbegrenzung wird dann aus München nachgesteuert. Das ist die Situation der Union.
Aber lassen Sie mich zum Sie-Teil des Briefes kommen. Im Sie-Teil sagt Herr Ministerpräsident Strauß:
Wenn die Bundesregierung will, daß die Bayerische Staatsregierung das WAA-Projekt aufgibt und den polizeilichen Schutz einstellt, bitte ich um klare und schleunigste Mitteilung.
Herr Bundesminister, sagen Sie dem Bundeskanzler, er soll ihm endlich diese klare und schleunigste Mitteilung nach Wackersdorf und nach München schikken. Strauß bittet in seinem Brief sozusagen um Befreiung von seinem Atomgelübde. Befreien Sie ihn endlich von diesem Atomgelübde!
({1})
Er leidet unter dem Leonidas-Komplex, er meint, er ist der einzige, der noch die Schlacht an den atomaren Thermopylen führt, und alles andere ist schon verloren.
({2})
Befreien Sie ihn! Halten Sie ihm zugute, daß er sich wirklich angestrengt hat! Schauen Sie: Er schreibt, er habe sich für die Atompolitik des Bundes geopfert. Jawohl, seine Opferbereitschaft war so groß, daß er sich mit Albrecht geklopft hat, um opfern zu dürfen. So groß war seine Opferbereitschaft.
({3})
Er hat wirklich alles getan, um sein Gelübde zu erfüllen. Er hat die Landräte entmündigt, die Kommunalverfassung beeinträchtigt. Er hat Demonstranten gebührend behandelt; er hat sie sogar mit CS-Gas versehen lassen. Er hat in Kauf genommen, daß er von bayerischen Gerichten verurteilt wird. Ja, er hat bei der Aufstellung der Bebauungspläne dafür gesorgt, daß bei der Abwägung der Interessen, die einander gegenüberstehen, das Atom Gewicht bekommen hat und die Bürger zum Federgewicht reduziert worden sind. Meine Damen und Herren, er hat keine Kosten gescheut. Er hat die Investitionszulage nach Wackersdorf gelenkt, die Mittel aus der Gemeinschaftsaufgabe. Hier haben Sie Möglichkeit, in Ihrem Bereich zu sparen, wenn Sie Deckungsvorschläge suchen. Ersparen Sie sich die Verschwendung in Wackersdorf!
Nein, meine Damen und Herren, Herr Strauß hat sich nicht um ungelöste Grundwasserprobleme und um Abluftprobleme gekümmert. Proliferationsprobleme haben ihn nie wirklich interessiert. Jetzt allmählich merkt er, daß er auf dem Holzweg ist. Helfen Sie ihm dabei, daß er herunterkommt, geben Sie ihm die Chance!
({4})
Herr Schäuble, denken Sie daran, daß er jetzt noch den konditionierten Ausstieg hat. Er sagt ja, er kann das nur durchhalten - der arme Kerl - , wenn die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsparteien dazu stehen. Und die Liberalen, wie immer vor Wahlen, sind nachdenklich und senden Signale. Denken Sie daran: Die Liberalen werden wieder eine Denkpause einlegen, wenn die Wahlen vorbei sind. Nutzen Sie, wie der Herr Ministerpräsident sagen würde, den Kairos, die günstige Gelegenheit, für die Beendigung dieser Vergewaltigung der Oberpfalz!
Stehen Sie auch Ihrem Umweltminister bei, wenn er die Akzeptanz einbringt, die Akzeptanz als die Voraussetzung für die Technologiepolitik in der heutigen Zeit. Helfen Sie dem Umweltminister dabei, daß er auch dem bayerischen Ministerpräsidenten nicht nur beibringt, daß man Akzeptanz nicht erprügeln kann, daß man Akzeptanz nicht durch Aushungern der Arbeitsplätze erreichen kann, sondern daß man der Bevölkerung folgen muß, wenn sie sich die WAA nicht wie einen Pfahl ins Fleisch der Oberpfalz treiben lassen will!
({5})
Meine Damen und Herren, wir haben eine Sternstunde:
({6})
ein ernüchterter Ministerpräsident, eine nachdenkliche FDP, ein grüblerischer Töpfer. Lassen Sie uns diese Chance nutzen, und geben Sie. der Karawane die Möglichkeit, in die Solar-Wasserstoff-Technologie zu marschieren und aus der Kernenergie auszusteigen!
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Nach diesem von Sach4274
lichkeit recht wenig geprägten Ausflug des Kollegen Stiegler in die Energiepolitik nutze ich gerne die Gelegenheit, um eben zu diesem Thema auf die Sachebene zurückzukommen und Ihnen einmal die Position der Freien Demokraten in diesem Hause darzustellen.
({0})
Wir haben, Herr Kollege, z. B. in der Frage der Kernenergie keinen Nachholbedarf.
({1})
- Hören Sie sich das doch erst einmal an.
Die FDP hat bereits 1977 auf ihrem Kieler Parteitag beschlossen, die Kernenergie nur unter harten Sicherheits- und Entsorgungsauflagen zu dulden. Vorrang der Sicherheit vor der Wirtschaftlichkeit war von Anfang an unsere Position.
({2})
Selbstverständlich haben wir uns nach dem Reaktorvorfall von Tschernobyl erneut über unsere energiepolitische Position Gedanken gemacht. Wir haben nach langen und sehr sorgfältigen Überlegungen entschieden, an der friedlichen Nutzung der Kernenergie
({3})
so lange festzuhalten, wie nicht der Eigenbedarf durch andere umweltfreundlichere Energiegewinnungsformen gedeckt werden kann.
({4})
- Hören Sie einmal zu!
Wir haben aber auch darauf hingewiesen, daß die Entwicklung anderer Energiegewinnungsformen und der Energieeinsparung gleichzeitig vorangetrieben werden müssen, um eines Tages auf die Kernenergie völlig verzichten zu können.
Unverzichtbar sind für uns ebenfalls konkrete Fortschritte bei der sicheren Entsorgung und Endlagerung der radioaktiven Abfälle. Für die FDP ist nach wie vor das Entsorgungskonzept von Bund und Ländern aus dem Jahre 1979 gültig,
({5})
von dem sich ja die SPD-Landesregierungen langsam durch die Hintertür zu verabschieden suchen.
({6})
Für uns gilt, daß radioaktive Abfälle entsorgt und sicher endgelagert werden müssen. Die bisher entwickelte Entsorgungskette von Kompaktlagern in den Kernkraftwerken, externen Zwischenlagern, der Wiederaufbereitung und der Endlagerung ist nach wie vor der einzige belastbare Entsorgungsweg.
Die FDP hält daher, Herr Kollege Stiegler, an der Anlage in Wackersdorf, der Erkundung der Endlagerstätten Konrad für schwach- und mittelaktive Abfälle sowie des Salzstockes Gorleben für hochaktive Abfälle fest. Wir legen großen Wert darauf, daß der parallele Entsorgungsweg, also auch die Möglichkeit der direkten Endlagerung radioaktiver Abfälle, als entsorgungstechnische Option weiterentwickelt wird.
({7})
Entsprechende Techniken werden von den zuständigen Unternehmen untersucht und entwickelt. Es gibt gegenwärtig aber keinen Grund,
({8})
von der schon von der Enquete-Kommission des Bundestages geforderten Demonstrationsanlage zur Wiederaufbereitung von 350 Tonnen Jahreskapazität, die in Wackersdorf in Angriff genommen worden ist, abzurücken.
({9})
Eine Abkehr von Wackersdorf würde gleichzeitig eine Aufgabe des bisherigen Entsorgungsnachweises der deutschen Kernkraftwerke bedeuten.
({10})
Bei einem Verzicht auf die deutsche Wiederaufbereitungsanlage stellt sich unmittelbar die Frage, ob eine Entsorgung über das Ausland für uns der sicherste und akzeptablere Weg wäre. Ich meine: Nein. Gerade die Erfahrungen mit Transnuklear und die Vorfälle in Lübeck haben gezeigt, daß eine Odyssee nuklearer Abfälle die Sicherheit nicht erhöht, sondern verringert.
({11})
Wir werden daher daran festhalten, die Wiederaufbereitungstechnik zu demonstrieren, um alle energietechnischen Optionen für die Zukunft zu erhalten. Dazu gehört auch die weitere Erforschung der Schnellen-Brüter-Reaktortechnologie als mögliche technische Option in einem langfristigen energiepolitischen Szenario. Eine kommerzielle Nutzung der SchnellenBrüter-Technologie scheidet für uns in dem jetzt absehbaren Zeitraum allerdings aus.
Meine Damen und Herren, sowohl in der CDU wie auch in der FDP hat es Stimmen gegeben, die den Zeitraum, in dem ein Verzicht auf die Kernenergie möglich würde, in der Größenordnung zwischen 20 und 70 Jahren ansiedeln.
({12})
Wir wollen als eine Partei, die sich um marktwirtschaftliche Energiepolitik bemüht, keine Prognosen und Rahmendaten festhalten. Wir halten die ZehnJahres-Ausstiegsfrist der SPD für einen entscheidenden Fehler, der die SPD in den Augen der Bürger zu einer populistischen Forderungspartei gemacht hat.
Meine Damen und Herren, wir bleiben bei unserer realistischen Energiepolitik der Vernunft und des Augenmaßes und werden uns von Ihnen nicht davon abbringen lassen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Lenzer.
({0})
- Herr Kollege Schily, ich verstehe die Irritation nicht. Es stehen noch drei CDU-Redner auf der Liste, und ich teile es so auf, daß vor und nach jedem CDU-Redner jemand von einer anderen Partei spricht. So praktizieren wir das hier.
Bitte sehr, Herr Kollege Lenzer, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dankbar, daß es sich in der Aufteilung der Reden so gefügt hat, Herr Präsident, daß ich jetzt nach dem Kollegen Klaus Beckmann sprechen kann; denn ich wollte für unsere Fraktion, die CDU/CSU, auf genau den Punkt kommen, den er angesprochen hat.
({0})
- Nein, überhaupt nicht, und nie gewesen!
({1})
- Das ist auch keine Schande, verehrte Kollegin.
Ich meine den Punkt, der sowohl in diesem Brief als auch in der öffentlichen Diskussion und in der Diskussion in diesem Hause schon sehr oft eine bedeutende Rolle gespielt hat. Verehrter Herr Dr. Vogel, Ihnen müssen wirklich die Themen ausgehen, wenn Sie eine Selbstverständlichkeit, nämlich den Brief des Vorsitzenden einer Koaltionspartei an den Herrn Bundeskanzler, zum Anlaß einer Aktuellen Stunde nehmen. Dazu kann ich wirklich nur bemerken: Ihre Sorgen möchte ich haben.
Nun aber zum Thema. Ich bin seit 1969 Mitglied dieses Hauses und habe in dieser Zeit eine ganze Fülle von SPD-Forschungsministern bzw. ganz am Anfang auch einen Minister für Bildung und Wissenschaft erlebt. Das sage ich deswegen, weil diese Minister auf eine besondere Weise für die friedliche Nutzung der Kernenergie verantwortlich waren. Ich habe in der Vergangenheit, etwa vor Nürnberg, nie eine Äußerung gehört, die darauf hätte schließen lassen, daß plötzlich all diese Geschichten kommen wie „Der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft muß verhindert werden", „Übergangsenergie mit zehn Jahren Ausstiegsszenario" bis hin zum Schnellen Brüter, zur Frage der Entsorgung usw. usf. Ein anderes Beispiel ist das, was sich der Kollege Hauff geleistet hat; darüber wird noch zu sprechen sein.
Erster Punkt: Wenn jemand das Wort „Übergangsenergie" in den Mund nimmt und dann ein Szenario nachweisen will, das von 30 oder 40 oder 50 oder vielleicht sogar von 100 Jahren ausgeht, muß man an der
Ernsthaftigkeit eines solchen Beitrages zweifeln. Dies ist einfach nicht realistisch.
({2}) Ich würde sagen, das heißt die Leute veräppeln.
({3})
Zweitens zum „Einstieg in die Plutoniumwirtschaft". Ich frage Sie, meine Damen und Herren von der SPD, allen Ernstes: Wissen Sie denn nicht, daß mit der Inbetriebnahme des ersten Leichtwasserreaktors der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft bereits erfolgt ist?
({4})
Denn in jedem Leichtwasserreaktor entsteht pro Jahr eine Menge von etwa 250 kg Plutonium,
({5})
wenn man von einer Größenordnung von 1 300 MW elektrischer Leistung ausgeht.
Um auf den SNR 300 zu kommen: Ist Ihnen die nun wirklich fast exotisch anmutende Äußerung Ihres Kollegen, des Wirtschaftsministers von Nordrhein-Westfalen,
({6})
Professor Jochimsen, daraus eine Plutoniumvernichtungsmaschine zu machen, in Erinnerung? Dieser Vorschlag ist schon einmal in irgendeiner Form vorgekommen; diejenigen, die schon länger in dieser Branche tätig sind, werden sich daran erinnern.
({7})
Das geht bis hin zu Herrn Farthmann. Es ist doch ein Witz, daß sich ausgerechnet der Mann, der hierfür in seiner Verantwortung als Genehmigungsminister 12 Teilerrichtungsgenehmigungen gegeben hat,
({8})
heute hinstellt und vom „Höllenfeuer" spricht und sagt, er habe der Regierung Schmidt damals nur einen Gefallen tun wollen. Wird bei Ihnen nach Recht und Gesetz gehandelt oder nach Opportunität,
({9}) um den Leuten einen Gefallen zu tun?
({10})
Ein besonders übles Beispiel leistet sich Herr Hauff. Mit der Äußerung dieses Verdachts in Sachen Verletzung des Nichtverbreitungsvertrages hat er das Ansehen unseres Landes geschädigt,
({11})
und er hat die gesamte politische Community blamiert. - Ich sehe, er ist nicht hier.
({12})
Hoffentlich äußert er nicht im Moment gerade wieder einen neuen Verdacht.
Meine Damen und Herren von der SPD, ich fordere Sie dringend auf: Kehren Sie zum energiepolitischen Konsens, den wir jahrelang gemeinsam vertreten haben, zurück.
({13}) Fakten zählen. Lesen Sie nach!
({14})
Lesen Sie die Haltung der Bundesregierung im Entsorgungsbericht nach, lesen Sie sie im Jahreswirtschaftsbericht nach. Dies gilt für alle Mitglieder dieser Bundesregierung und für die sie tragenden Koalitionsparteien.
({15})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schily.
({0})
Herr Kollege Langner, daß Sie in Ihrer Fraktion schon seit einer Weile die Rolle des giftigen Zombie übernommen haben, habe ich durchaus bemerkt, aber daß Sie auf ein so schmutziges Niveau, wie Sie es heute unter Beweis gestellt haben, geraten würden, das hätte ich Ihnen eigentlich nicht zugetraut.
({0})
Erkundigen Sie sich mal bei Frau Minister Professor Süssmuth! Sie hat hier in einer Debatte den richtigen Satz gesagt, daß man das Problem des Schwangerschaftsabbruches nicht mit strafrechtlichen Mitteln lösen kann.
({1})
Vielleicht kann in Ihren Reihen auch nur eine Frau einen solchen Satz aussprechen, und Sie als Mann sind einer solchen Erkenntnis bedauerlicherweise nicht zugänglich.
({2})
Aber wissen Sie, Herr Langner: Wenn wir schon über das Thema Kinder reden, dann, Herr Langner, setzen Sie sich mit der Frage auseinander, wie vielen Kindern auf der Welt Sie welches Schicksal mit Ihrer Form der Ausbeutungspolitik gegenüber der Dritten Welt bescheren, mit Ihrer Form der Rüstungsexportpolitik, mit Ihrer Form der Verkehrspolitik. Man sollte auch mal darüber reden, daß viele Kinder wegen zu hoher Geschwindigkeit sterben.
({3})
Darüber sollten Sie mal reden, und Sie sollten hier nicht nur diese hochtrabenden Sätze bringen! Damit sollten Sie sich einmal auseinandersetzen
({4})
Ich bin gern bereit, mit Ihnen über das Schicksal von Kindern auf diesem Planeten zu sprechen, aber dann sollten wir tatsächlich die richtigen Prioritäten setzen. Überlegen Sie sich doch, ob wir nicht unsere Kräfte darin verbünden sollten, daß wir uns auf der Welt als erstes Ziel nicht setzen, ob irgendwelche Satelliten um den Planeten herumfliegen oder ob man die Waffentechnik immer weiter ausformt; wir sollten unsere Kräfte dahin gehend zusammenfassen, daß jedes Kind auf dieser Welt satt zu essen hat.
({5})
Dann hätten wir in Bonn einen Fortschritt erzielt, nicht mit solchen üblen Verdächtigungen, wie Sie sie hier ausgesprochen haben, die wirklich aus dem Instrumentarium einer schlechten und schlimmen Vergangenheit stammen.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels.
({0})
- Meine Damen und Herren, ich bitte, die Dialoge einzustellen und dem Redner zuzuhören.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit rührender Fürsorge beschäftigt sich der SPD - leider beschäftigt sie damit auch den Deutschen Bundestag - mit angeblichen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Koalition.
({0})
- Ich werde darauf noch zurückkommen, Herr Vogel. Sie hätten viel mehr Anlaß, sich mit sich selbst zu beschäftigen.
({1})
Sie sollten sich über sich Sorgen machen statt über den Zustand der Koalition.
Vergleich Sie doch einmal die Ergebnisse Ihrer Regierungstätigkeit mit den Leistungen dieser Bundesregierung! Das sollte Sie außerordentlich nachdenklich machen.
({2})
- Ich komme gleich darauf zurück.
1970, Herr Vogel, betrug das Lohnsteueraufkommen 35 Milliarden DM. 1986, bevor die Steuerreform der jetzigen Bundesregierung begann, waren es 152 Milliarden DM. Lohnsteueraufkommen, nicht Einkommen- und Körperschaftsteuer. Ihr früherer Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte also schon recht, als er gesagt hat: Es sind die Arbeitnehmer
Dr. Daniels ({3})
gewesen, bei denen wir uns immer unser Geld geholt haben.
({4})
1969 betrug der Schuldenstand des Bundes 45 Milliarden DM,
({5})
1982 waren es 309 Milliarden DM. Das ist Ihre Bilanz. Eben wurde gesagt, daß Herr Apel damit Arbeitsplätze geschaffen hat. Erinnern Sie sich nicht daran, daß die Zahl der Arbeitslosen allein in den beiden letzten Jahren Ihrer Regierung jeweils um mehr als 40 % zugenommen hat?
({6})
Wir - das ist das Kontrastprogramm - entlasten die Steuerzahler um netto rund 50 Milliarden DM.
({7})
Wir schaffen die Möglichkeit zu einer zusätzlichen Tarifkorrektur um weitere rund 20 Milliarden DM durch Abbau von Steuersubventionen. Dadurch unterscheiden wir uns allerdings von Ihnen. Wir glauben, daß das Geld in den Taschen der Bürger zunächst besser aufgehoben ist als in den Taschen des Staates.
({8})
Natürlich bedeutet das, daß der Staat - und auch die Städte und Gemeinden - geringere Einnahmezuwächse haben als in der Vergangenheit. Aber wenn Sie das kritisieren, dann denken Sie einmal an die nordrhein-westfälische Landesregierung, bekanntlich ausschließlich von der SPD gestellt.
({9})
Alleine das, was den Städten und Gemeinden in den letzten Jahren durch die Manipulationen im Finanzausgleich des Landes Nordrhein-Westfalen entzogen worden ist, ist entschieden mehr als die Verringerung der Einnahmezuwächse durch die gesamte Steuerreform.
({10})
Es gibt einen wichtigen Unterschied: Das durch die Einnahmeverminderungen bei den Städten und Gemeinden, die durch die Steuerreform hervorgerufen werden, zur Verfügung stehende Geld bleibt in den Taschen der Bürger. Das Geld, das den Städten und Gemeinden durch den Finanzausgleich des Landes Nordrhein-Westfalen verlorengeht, landet nicht in den Taschen der Bürger, sondern in den Taschen des Landes, das trotzdem pleite ist, obowhl es doch die Gemeinden in den letzten Jahren um Milliarden zu seinen Gunsten zusätzlich belastet hat.
({11})
Daß es bei einem solchen Reformwerk auch Meinungsverschiedenheiten gibt, wissen wir alle. Darüber ist heute schon häufig gesprochen worden. Auch in der Frage der Gewerbesteuer überwiegt allerdings innerhalb der Koalition bei weitem das Gemeinsame. Es ist ja nicht nur der Bundeskanzler, sondern es ist die gesamte Bundesregierung, die in einer Antwort auf eine Große Anfrage der Koalitionsfraktionen gesagt hat: Eingriffe in die Gewerbesteuer kommen nur in Betracht, wenn ein Konzept für die Neuordnung der Finanzen gefunden wird, dem die Betroffenen zustimmen können. Ein solches Konzept - ich wiederhole das; Sie haben es eben gesagt - setzt nicht nur eine aufgabengerechte Finanzausstattung der Städte und Gemeinden voraus, sondern es setzt auch ein eigenes Hebesatzrecht voraus.
({12})
Auch darüber ist sich die Koalition einig. Über alles Weitere wird in der kommenden Legislaturperiode zu reden sein. Bisher jedenfalls ist niemandem ein konkreter Vorschlag für die Neuordnung des Gemeindefinanzsystems eingefallen,
({13})
der diese Voraussetzungen erfüllt. Es behauptet auch niemand in der Koalition, daß er diesen Patentvorschlag schon hätte.
({14})
Wir nehmen übrigens auch gerne Ihre Vorschläge dazu entgegen. Solange wir aber von Ihnen nichts als Mäkelei hören, werden wir unsere erfolgreiche Politik fortsetzen. Dem Urteil der Wähler sehen wir dabei mit Gelassenheit und Zuversicht entgegen.
({15})
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen der Jugendhilfe und ihre Perspektiven - Siebter Jugendbericht Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Jugendbericht
- Drucksachen 10/6730, 11/1541 Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Pack Dr. Böhme ({1})
Präsident Dr. Jenninger
Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD und ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf den Drucksachen 11/1871 und 11/1891 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Pack.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Fraktion der CDU/CSU dankt der Kommission für die Vorlage dieses Siebten Jugendberichts. Der Auftrag an diese Kommission, nämlich die Entwicklung familienunterstützender Leistungen der Jugendhilfe und ihrer Perspektiven zu untersuchen, entspricht unserem grundsätzlichen Verständnis einer engen Verzahnung von Jugend- und Familienhilfe. Der Bericht stellt einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis der Jugendhilfe als Partner von Kindern, Jugendlichen und Eltern dar.
Besonders festzuhalten ist, daß die Kommission zwei zentrale Aussagen in den Mittelpunkt rückt.
Erstens. Das Kinder- und Jugendwohl ist in erster Linie in enger Verknüpfung mit dem Elternwohl zu sehen. Somit finden jugendpolitische Maßnahmen zuvörderst in der Stärkung des Krisenbewältigungspotentials der Familie ihre Aufgabe. Auch dem § 1 des Jugendwohlfahrtsgesetzes, wonach sich das Jugendhilfehandeln am Wohl des jungen Menschen zu orientieren hat, wird man doch unbestritten am ehesten dadurch gerecht, daß die Erziehungsbedingungen und die elterliche Erziehungsverantwortung gestärkt werden. Dabei ist entscheidend, daß Leistungen der Jugendhilfe Familien erreichen, bevor es zu Krisen oder gar Entwicklungsstörungen kommt.
Zweitens. Es kann nicht Aufgabe unserer Politik sein, einem vorgefaßten Familienbild oder einem bestimmten Rollenverständnis das Wort zu reden. So ist auch hier der Sachverständigenkommission zuzustimmen, daß der Wirklichkeit wie der Unterschiedlichkeit der Formen des Zusammenlebens auch in der Jugendhilfe Rechnung zu tragen ist.
Jugendhilfe hat die vordringliche Aufgabe, die Handlungsmöglichkeiten der Familien zu erweitern. Die Kommission stellt zu Recht fest - ich zitiere - :
Moderne Jugendhilfe muß sich als Partner der Kinder und Jugendlichen und Eltern verstehen und ihre Hilfe als Angebot zu gleichberechtigter Zusammenarbeit gestalten.
Eine enge Verbindung von Jugend- und Familienförderung ist trotz der durchaus eigenständigen Bedeutung der Jugendhilfe notwendig. Vordringlich mit weitem Abstand sind Hilfen im Rahmen der Jugend- und Familienpolitik notwendig, die die familiären Erziehungskompetenzen stärken. Dazu zählt eine optimale Familienbildung und -beratung, um Entwicklungsstörungen innerhalb der Familien aufzufangen.
Darüber besteht aber zwischen der Koalition und der Opposition leider keine Einigkeit;
({0})
denn die Auffassung von SPD und GRÜNEN vom Jugendwohl ist dem gegenüber grundsätzlich unterschiedlich. Bei der Durchsicht Ihrer Anträge und nach der Diskussion im Ausschuß muß man den Eindruck haben, daß SPD und GRÜNE gar der Auffassung sind, als sei die Familie ohnehin nicht in der Lage, ihren Erziehungsaufgaben gerecht zu werden. Da redet die SPD über zerrüttete Familien und in Heimen lebende Jugendliche, als sei dies die Regel und der Maßstab. Da formuliert die SPD den Ruf nach sogenannten „schichtenübergreifenden Sozialisationseinrichtungen" außerhalb der Familie, die - im Verständnis der SPD - besser geeignet seien, Erziehungsaufgaben wahrzunehmen.
Diesen Gedankengang fortsetzend, muß es denn auch logisch für Sie sein, die trügerische Formel zu fixieren, Jugendpolitik dürfe nicht auf Familienpolitik, wie Sie sagen „reduziert" werden.
({1})
Dieser Begriff „darf nicht reduziert werden" verdeutlicht das grundsätzliche Mißverständnis der SPD in bezug auf die Richtigkeit eines engen Zusammenwirkens von Jugend- und Familienhilfe.
Wie sieht das grüne Jugend- und Familienbild aus? Es ist in der Ablehnung der Familie und ihrer zentralen gesellschaftlichen Bedeutung noch weit radikaler. Da stellen die GRÜNEN in ihrer jüngsten Jugendbroschüre überall anzutreffende Unterdrückungsformen fest, gegen die sich Jugendliche zur Wehr zu setzen hätten. An zentraler Stelle ihres Papiers verlangen sie, die einseitige elterliche Bestimmung aufzubrechen. Eltern gängelten Kinder und Jugendliche, bevormundeten sie und bestimmten über sie. Ausbilder und Professoren übten sich ausschließlich darin, was Schüler zu lernen hätten oder auch nicht. Dieses Verständnis von Jugend und Familie ist wohl Produkt der eigenen gelebten Möchtegern-Revolution gegen alle Erziehungseinrichtungen im Gefolge von 1968. Es ist an Armseligkeit, bezogen auf die Realitäten des Jahres 1988, kaum zu überbieten.
({2})
Die SPD zeichnet ebenso ein Zerrbild, wenn auch bei ihr nicht die Familie zum zentralen Kritikpunkt erhoben wird, sondern der vorgeblich versagende Staat, repräsentiert durch die Bundesregierung. Die SPD bringt dies auf folgenden Nenner: Die Bundesregierung ist schuld an der Jugendarbeitslosigkeit;
({3})
kein Wort von den Tarifparteien. Jugendarbeitslosigkeit
({4})
entspricht keiner Zukunftsperspektive, keine Zukunftsperspektive bedeutet Flucht in radikale Gruppierungen.
({5})
Letztgenannte bedeuten Skinheads; diese wiederum
werden gleichgesetzt mit Ausländerfeindlichkeit.
Ergo ist die Bundesregierung verantwortlich zu maFrau Pack
chen für die um sich greifende Ausländerfeindlichkeit.
({6})
Dies ist ein typisches Beispiel der SPD-Argumentationsmuster. Ich könnte noch einige nennen.
({7})
Das ist billige Polemik und geht an der Wirklichkeit vorbei. Das Bild der SPD von der bundesdeutschen Jugend setzt sich zusammen aus der Addition von Mißständen und gipfelt in der unglaublichen Unterstellung, daß sich die Situation der Jugendlichen deutlich verschlechtert habe.
Die SPD wagt den untauglichen Versuch, ihre Verelendungsthese durch Zahlen zu untermauern. So wird behauptet, zwischen 80 000 und 100 000 Jugendliche hätten seit 1982 jährlich keinen Ausbildungsplatz gefunden.
({8})
Das ist schlicht und ergreifend die Unwahrheit. Richtig ist, daß pro Jahr zwischen 46 000 und 76 000 Ausbildungsverträge mehr als 1982 abgeschlossen worden sind.
({9})
Das ist alles nachzulesen, meine Damen und Herren
- regen Sie sich nicht so auf - , im Berufsbildungsbericht 1987; da können Sie alles nachlesen. Die positive Entwicklung im Ausbildungsbereich drückt sich auch dadurch aus, daß 57 von 142 Arbeitsamtsbezirken einen Angebotsüberhang an Ausbildungsplätzen aufweisen. Zudem - darauf lege ich besonderen Wert
- beträgt die Anzahl weiblicher Auszubildender inzwischen 41 % aller Auszubildenden, so viel wie noch nie! Das ist die Realität, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, weil sie natürlich nicht in Ihr Argumentationsschema paßt.
Wenn Ihre Verelendungsthese nicht mehr durch abgesicherte Daten zu stützen ist, retten Sie sich in das Reich der spekulativen Prognosen. Angeblich sieht es für Jugendliche düster aus, weil bei 8,5 Millionen Jugendlichen mit einem Lehrabschluß im Jahre 2000 zwei Millionen Arbeitsplätze geschaffen werden müßten. Wenn Sie damit auf ein Anwachsen der Jugendarbeitslosigkeit spekulieren, so belegen auch hier die Zahlen das Gegenteil. Allein 1985 ist z. B. die Arbeitslosigkeit von Frauen unter 25 Jahren um 9,3 % zurückgegangen, die der unter 20jährigen sogar um 14,1 %. Der Frauenanteil steigt sowohl in traditionell von Männern besetzten Berufen wie bei beruflichen Weiterbildungsmaßnahmen. Die Quote der Jugendarbeitslosigkeit der unter 20jährigen betrug im Januar 1988 6,8 % gegenüber einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 9,9 %. Das sind Dinge, die Sie auch einmal zur Kenntnis nehmen sollten. Statt dessen werden von Ihnen gewalttätige Auseinandersetzungen in Berlin-Kreuzberg zum Maßstab bundesdeutscher Jugendlicher 1988 erhoben.
({10})
Im Orignalton der SPD - lesen Sie es im Ausschußprotokoll nach - : „Die drohende Verelendung zahlreicher Kinder und Jugendlicher wird damit belegt. " Diese Ihre Argumentation ist heuchlerisch, ist unwahr, und sie ist anscheinend geprägt durch die Hoffnung auf Ihr selbstentworfenes Krisenszenario.
({11})
Ich möchte einige Dinge ansprechen, die mir für die Zukunft wichtig erscheinen:
Erstens. Bei der Novellierung des Jugendwohlfahrtgesetzes, die Sie lange Jahre angekündigt und nie zu Wege gebracht haben, verheißen die Gespräche mit den Ländern Zuversicht, so daß wir davon ausgehen können, dieses Jahr einen Referentenentwurf vorgelegt zu bekommen. Dabei geht es vor allem um die enge Verzahnung von Jugend- und Familienpolitik sowie darum, die von der Kommission gemachten Vorschläge zur gesetzlichen Neuregelung entsprechend der geänderten Jugendhilfepraxis aufzunehmen.
Zweitens. Den veränderten gesellschaftlichen Entwicklungen muß Rechnung getragen werden, z. B. in der Form von gesetzlichen Hilfen für die wachsende Anzahl von Alleinerziehenden, die zu Recht nach familienentlastenden und familienunterstützenden Leistungsangeboten verlangen.
({12})
Hierzu zählt auch der überwältigende Wunsch von Frauen nach verbesserter Vereinbarkeit von Familie und Erwerbstätigkeit.
({13})
- Man muß auch etwas Gemeinsames finden können.
Drittens. Jugendhilfe kann einen wichtigen Beitrag zur Stärkung der elterlichen Erziehungsverantwortung leisten. Die Forderung der Kommission, Leistungen der Jugendhilfe auch stärker präventiv auszugestalten, ist zu unterstützen, weil sich dadurch auch der Kostensteigerung begegnen läßt.
Viertens. Über die im Zuge der Steuerreform greifenden Maßnahmen hinaus ist es notwendig, daß Familien mit Kindern und Alleinerziehende stärker entlastet bzw. unterstützt werden. Die Koalition hat zu Beginn dieser Legislaturperiode beschlossen, nach der zweiten Stufe der Steuerreform die Familienleistungen noch zu verbessern. Daran darf nicht gerüttelt werden!
({14})
Dazu zählt vordringlich, daß durch eine Verbesserung der verschiedensten kindbezogenen Transferleistungen, wie eine Erhöhung des Kindergeldes und eine Verlängerung des Erziehungsgeldes, die Familien gestärkt werden. Eine zusätzliche Verbesserung der privaten und öffentlichen Transferleistungen ist auch deshalb geboten, weil den unteren Einkommensschichten zuzurechnenden Familien sowie alleinerziehenden Eltern damit am besten geholfen werden kann.
Mit der Realisierung dieses Junktims zwischen der Steuerreform und der weiteren Stärkung der Familienleistungen steht und fällt ein Stück weit die Glaubwürdigkeit dieser Koalition, den gesellschaftlichen Stellenwert von Familie und damit auch der Jugendhilfe wieder hinreichend zu würdigen.
Unser wichtigstes Kapital für die Zukunft sind gute Entwicklungschancen für die nachwachsende Generation. Daran muß uns allen gelegen sein. Hier helfen mitnichten Verelendungsthesen noch ideologisch verbrämte Familienbilder der GRÜNEN.
Danke schön.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Böhme.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Otto Schily hat uns in der vorherigen Aktuellen Stunde eigentlich auf unser Thema eingestimmt: Jedes Kind, so hat er gesagt, soll satt zu essen haben. Wir Sozialdemokraten fügen hinzu: Jedes Kind, jeder junge Mensch muß eine Zukunftschance haben!
Die Vorgeschichte der heutigen Beratung des Siebten Jugendberichtes wirft ein bezeichnendes Licht auf den miserablen Stellenwert, den die Jugendpolitik in den Regierungsparteien und in der Bundesregierung hat.
Die Sachverständigenkommission hat in nur eineinviertel Jahren diesen in seinen meisten Aussagen sehr wichtigen und zukunftsweisenden Bericht, dessen Beratung eigentlich nach der Sommerpause 1986 hier im Deutschen Bundestag hätte stattfinden sollen, erstellt. Die Bundesregierung brauchte alleine zehn Monate, Frau Ministerin, um eine Stellungnahme zu diesem Siebten Bundesjugendbericht zu erstellen. Erst heute, am 26. Februar 1988, also zwei Jahre nach Fertigstellung des Berichts, haben wir die Möglichkeit, über dieses Thema zu sprechen, das uns alle angeht, besonders unsere Jugend, der wir früher oder später die Verantwortung für die Zukunft übertragen.
({0})
Nach meiner Einschätzung ist diese unverantwortliche Verzögerungstaktik das Ergebnis von Hilflosigkeit - das ist nicht unblieb gemeint - und Ratlosigkeit im zuständigen Ministerium einerseits und andererseits das Ergebnis einer selbstgewollten und damit selbstverschuldeten Handlungsunfähigkeit der Regierung und des Staates. Die Steuerreform läßt hier grüßen. Die Steuerreform lähmt den Staat und damit auch die Jugendpolitik.
({1})
Die Verfasser des Siebten Jugendberichts möchten wir von dieser Kritik ausdrücklich ausnehmen und ihnen für den vorliegenden Bericht danken. Sie haben mit diesem Bericht einen wichtigen Diskussionsbeitrag zur Problematik der Jugend- und Familienpolitik geleistet.
Hervorheben möchte die SPD-Bundestagsfraktion insbesondere die durchgängig sachliche Analyse, die weder von einem ideologisch gefärbten Leitbild noch von einem idealisierten Wunschbild der Familie ausgeht. Die Sachverständigen versuchten vielmehr, ein realistisches Bild der Familie in der Vergangenheit und in der Gegenwart sowie deren Bezüge zur Jugendpolitik von heute darzustellen. Anerkennenswert ist auch, daß der veränderten Rollenverteilung innerhalb der Familie in diesem Bericht voll Rechnung getragen wurde.
Wir begrüßen die Forderungen nach einer offensiven und präventiven Jugendpolitik, nach Mitbestimmungs- und Partizipationsmöglichkeiten junger Menschen und einer durchaus eigenständigen Jugendarbeit innerhalb der Jugendhilfe. Das steht so in diesem Bericht, und wir begrüßen das.
Wir geben der Kommission auch darin recht, daß wesentliche Probleme junger Menschen, etwa Jugendarbeitslosigkeit oder Wohnungsnot junger Menschen, weder familien- noch jugendpolitisch beseitigt werden können. Vielmehr sind hier alle politisch Verantwortlichen gefordert, jugendfreundliche Beschlüsse in der Wirtschaftspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik, in der Sozialpolitik und in der Bildungspolitik zu fassen und durchzusetzen.
Nicht einverstanden sind wir allerdings mit dem Schwerpunkt des Berichts, der freilich von der Bundesregierung durch die Themenvorgabe gesetzt wurde. „Jugendhilfe und Familie - die Entwicklung familienunterstützender Leistungen der Jugendhilfe und ihre Perspektiven", so hieß dieses eingeschränkte Thema. Unter diesem sehr eingeengten Blickwinkel wollte die Bundesregierung die Situation der Jugend untersucht wissen. Auftragsgemäß hat die Sachverständigenkommission dies getan.
Die Bundesregierung will, wie aus dem von ihr vorgelegten Bericht hervorgeht, Jugendpolitik deshalb - das alles ist langfristig so geplant, verehrte Frau Ministerin - primär als Familienpolitik verstanden wissen. Das können wir so nicht mittragen. Der Familiengedanke wird damit sehr stark in den Vordergrund gerückt. Jugendpolitik wird damit zum Bestandteil, zum bloßen Anhängsel der Familienpolitik.
So gesehen, wurde kein Jugendbericht, sondern ein Familienbericht erstellt. Das bedauern wir. Wir Sozialdemokraten sind der Meinung, daß Jugendpolitik mehr als nur familienergänzend sein muß.
({2})
Aber nehmen wir diesen familiären Denkanstoß ernst, und messen wir die Regierung auch an diesem Anspruch. Auch da wird sie unglaubwürdig. Es tut mir leid, daß ich das sagen muß.
Wir wollen dies prüfen. Wir können das heute in dieser Debatte. Ein Blick in den Bundeshaushalt zeigt, als wie wichtig die Familie von dieser Regierung eingeschätzt wird. Will man Minister Blüm Glauben schenken, so hat noch nie eine Bundesregierung so viele finanzielle Mittel für die Familienpolitik bereitgestellt.
({3})
Dr. Böhme ({4})
Demgegenüber sage ich:
({5})
1984 und in den folgenden Jahren wurden mehr als 3 Milliarden DM zu Lasten der Familien eingespart,
({6})
sei es durch die weitgehende Streichung des BAföG,
({7})
des Schüler-BAföG, sei es durch die Kürzung des Mutterschaftsurlaubsgeldes und die Halbierung des Ausbildungsfreibetrages. Das ging zu Lasten der Familien und damit auch zu Lasten der Jugendlichen.
({8})
Ein weiterer Prüfstein, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist die Steuerreform die alles andere als familiengerecht ist.
({9})
Die Mehrzahl der Alleinstehenden wird mehr als doppelt so stark entlastet wie ein Ehepaar mit zwei Kindern. Und hier geht es doch um Jugendliche und Kinder - oder nicht?
({10})
Für Familien - lassen Sie mich das, liebe Frau Pack, hinzufügen -, deren Einkommen unterhalb der Steuerpflicht liegt, bringt die Steuerreform durch die Erhöhung des Kindergeldzuschlages unter Umständen einen monatlichen Einkommenszuwachs von sage und schreibe 2 DM.
({11})
Sozialhilfeempfängern bringt sie gar nichts, weil der Kindergeldzuschlag auf die Sozialhilfe angerechnet wird, wie Sie wissen sollten. Familienpolitik, wie die Bundesregierung sie betreibt, ist also
({12})
nicht nur insgesamt kläglich, sondern vor allem auch ungerecht.
({13})
Einkommensstarke Familien werden besser versorgt als einkommensschwache Familien.
Um auf unser Thema „Jugendpolitik" zurückzukommen: Kinder und Jugendliche werden im Zuge dieser Ihrer Familienpolitik,
({14})
die über vollmundige Ankündigungen nicht hinauskommt,
({15})
schon vom Ansatz her ungerecht behandelt.
({16}) Die Jugend hat also von einer solchen Familienpolitik nichts zu erwarten. Bevorzugt, verehrte Frau Ministerin, werden vor allem diejenigen Jugendlichen, deren Eltern es sich leisten können, ihre Kinder zu fördern,
({17})
wie hoch die Kosten und wie hoch der Zeitaufwand hierfür auch sein mögen. Demgegenüber gibt es in unserer Gesellschaft, vor allem bedingt durch die Massenarbeitslosigkeit, Eltern, die ihren Kindern viele Angebote vorenthalten müssen, weil das eben Geld kostet, welches nicht vorhanden ist.
Das Wort von der neuen Armut ist kein leeres Wort, und wir haben es auch nicht boshafterweise erfunden; das wissen Sie. Von 1,4 Millionen alleinerziehenden Müttern und Vätern - davon mehr als 90 Frauen - leben 75 % an der Armutsgrenze. Das ist Ihre Sozialpolitik, Ihre Familienpolitik und eben auch, Frau Ministerin, Ihre Jugendpolitik. Wir kommen nicht an der Tatsache vorbei, daß die Startchancen der Kinder und Jugendlichen unterschiedlich gut
({18})
und für den Werdegang eines Jugendlichen bedeutsam sind.
Verehrte Damen und Herren der Regierungsparteien, wir richten unser Augenmerk besonders auf die benachteiligten Bevölkerungsgruppen, auf Sozialhilfeempfänger, Arbeitslose, Kinder von Arbeitslosen, auf die Alleinerziehenden, auch auf die Kinder von Ausländern, und fordern eine Jugendhilfe, die alle Kinder und Jugendlichen einbezieht.
({19})
Alle haben ein Anrecht auf die Entfaltung ihrer Individualität sowohl innerhalb als auch außerhalb der Familie.
Deshalb ist, Frau Ministerin, Jugendpolitik, als reine Familienpolitik verstanden, in zweierlei Hinsicht bedenklich:
Erstens. Eine solche Jugendpolitik überfordert die Familien in vielen Fällen.
Zweitens. Eine solche Jugendpolitik grenzt von vornherein Jugendliche aus, die keine Familie haben - auch solche gibt es, das wissen Sie - , die eine unvollständige Familie haben - auch das wissen Sie - oder die eine zerrüttete Familie haben - auch das wissen Sie.
Optimismus und Gesundbeterei, wie sie hier betrieben werden, sind hier nicht angebracht und helfen nicht weiter; denn mindestens 1,4 Millionen Kinder und Jugendliche sind unmittelbar von der Arbeitslosigkeit ihrer Eltern betroffen.
({20})
Die materiellen und psychischen Folgen dieser Arbeitslosigkeit verhindern Entwicklungs- und Zukunftschancen dieser Kinder in allen Lebensberei4282
Dr. Böhme ({21})
chen. Ich brauche hier nicht davon zu reden - das wissen Sie auch, aber gesagt werden muß es ja doch vielleicht einmal - , daß psychosomatische Erkrankungen und Depressionen bei diesen Kindern keine Seltenheit sind.
Die Stellungnahme der Bundesregierung zum Siebten Jugendbericht berücksichtigt nicht, daß die primär finanziellen Belastungen vieler Familien einen großen Einfluß auf die Situation der Kinder und Jugendlichen in den Familien haben. Optimismus und Gesundbeterei - ich wiederhole es - helfen nicht; denn die Ausbildungsplatznot, Herr Kollege, ist noch längst nicht behoben. Die Stichtagsbilanz vom 30. September 1987 hat gezeigt, daß noch immer über 60 000 Schulabgänger dieses Jahres
({22})
ohne Ausbildungsplatz geblieben sind. 34 200 davon sind nicht einmal in einer vorübergehende Ersatzmaßnahme untergekommen. Wie jedes Jahr sind davon immer wieder zwei Drittel Mädchen.
({23})
Seit 1982 fanden jährlich zwischen 80 000 und 100 000 Jugendliche keinen Ausbildungsplatz. Optimismus und Gesundbeterei helfen da nicht; denn in ihrem Bericht „Künftige Perspektiven von Absolventen der beruflichen Bildung im Beschäftigungssystem" vom Oktober vergangenen Jahres hat die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung - sie ist ja nun wohl unverdächtig - erklärt, daß bis zum Jahre 2000 über eine Million Jugendliche als Ungelernte ins Erwerbsleben treten werden. Damit müssen Sie fertig werden. Wir wollen Ihnen dabei helfen. Das aber ist ein Problem, das Sie auch mit herbeigeführt haben. Für rund 8,5 Millionen Jugendliche, liebe gnädige Frau - nehmen Sie das doch einmal zur Kenntnis und ernst -, die bis zum Jahr 2000 eine Lehre erfolgreich beenden - nur von denen rede ich jetzt - , müßten 2 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das, Frau Ministerin, liegt als Aufgabe vor Ihnen. Tun Sie etwas!
({24})
Angesichts solcher alarmierenden Zahlen, Daten und Fakten ist es nicht verwunderlich, daß Jugendliche häufig keine Zukunftsperspektive mehr sehen und auf unterschiedliche Art und Weise in eine Traumwelt oder in die Radikalität flüchten.
({25})
Fast jedes fünfte Kind in der Bundesrepublik ist psychisch krank oder verhaltensauffällig, und die Tendenz ist steigend. Ich brauche hier jetzt nicht über Alkoholismus und Drogensucht zu reden. Wir alle kennen die Fakten. Wir alle haben als Deutscher Bundestag, als Jugendpolitiker dafür zu sorgen, daß dies geändert wird.
Als eine der Hauptursachen für diese Störungen bei Kindern nannte neulich eine anerkannte Wissenschaftlerin auch zerrüttete Familienverhältnisse und soziale Isolierung von jungen Leuten. Aber auch Jugendliche aus Ein-Kind-Familien sind wegen der oftmals fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen überdurchschnittlich häufig psychisch krank oder verhaltensauffällig.
Ich muß hier jetzt nicht ausführen, wie schädlich
- das ist wissenschaftlich erwiesen - übermäßiger Fernseh- oder Videokonsum, aber auch Computerspiele und ähnliches sind. Dies ist ebenso ein Beleg dafür, daß man die Belange Jugendlicher ernst nehmen sollte. Es geht also darum, daß man endlich auch die Ergebnisse unabhängiger, nicht parteigebundener Forschungseinrichtungen zur Kenntnis nimmt, und das müßte zunächst einmal die Regierung tun.
({26})
- Wir tun das; das haben wir ja hiermit bewiesen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Jugendliche ohne Zukunftsperspektive sind anfällig, sind versucht, in Hexen- und Geisterzirkeln oder radikalen Gruppierungen - ({27})
- Das wissen Sie nicht? Das ist interessant. Sie kennen die Jugendkultur, die ausufert, offensichtlich nicht. Dann muß ich Ihnen einmal Nachhilfe geben. Das wundert mich bei Ihnen als Bildungsfachfrau.
({28})
- Was viel schlimmer ist, Herr Kollege: Sie gehen in radikale Gruppierungen, beispielsweise zu den Skinheads, von denen wir wissen, daß sie noch nicht einmal vor Mord zurückschrecken und daß sie häufig ausländerfeindliche Ziele verfolgen. Jugendliche flüchten sich dorthin.
Herr Abgeordneter, ich muß Sie darauf hinweisen, daß die für Sie angemeldete Redezeit abgelaufen ist. Bitte kommen Sie zum Schluß.
Herr Präsident! Gestatten Sie mir, daß ich unsere Vorschläge zum Siebten Jugendbericht ganz kurz vorstelle.
Herr Abgeordneter, es tut mir leid, Ihre Redezeit ist um eineinhalb Minuten überschritten. Ich muß Sie wirklich bitten, zum Schluß zu kommen. Es wäre sonst zum Nachteil der anderen Kolleginnen und Kollegen, da wir für diese Debatte eine Stunde vereinbart haben.
Darf ich trotzdem sagen, daß die Massenarbeitslosigkeit, die neue Armut das Hauptproblem für die schlechte Situation unserer Jugend ist, und darf ich sagen, daß ich Sie alle bitte, unseren Änderungsantrag zur Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit anzunehmen. Ich bitte Sie im Interesse unserer jungen Menschen, diesem Antrag zuzustimmen.
Danke.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Siebte Jugendbericht sollte, wie jeder andere Jugendbericht vorher auch, eine Fundgrube für Informationen für unsere politische Arbeit sein. Diese Funktion kann er sicher auch erfüllen - er wird es auch tun -, aber leider nicht hier im Plenum; hier wird die Diskussion um ihn in erster Linie dazu verwendet, unterschiedliche politische Standorte darzustellen. Ich meine, das entwertet ihn etwas.
Die Koalitionsparteien hatten ihre Stellungnahme dazu eigentlich als ein Angebot zur Zusammenarbeit an alle Fraktionen gedacht und auch so konzipiert. Provozierende Dinge sind in unserem Antrag und in unserer Stellungnahme nicht enthalten. Diese Zusammenarbeit hat die Opposition leider ausgeschlagen.
Wie sieht nun das Minderheitenvotum der SPD aus?
Punkt 1 dieser Stellungnahme enthält eine Wertung, der ich nicht widersprechen kann. Da sehe ich keinen Gegensatz zur Opposition. Nicht alle Probleme lassen sich über Jugendhilfe lösen, z. B. die Probleme der Arbeitslosigkeit. Da gibt es überhaupt keinen Dissens zwischen Koalitionsparteien und Oppositionsparteien.
Punkt 2 enthält eine Aufzählung, die in ihrer Schwarzmalerei nicht stimmt. Es ist leider die alte Leier jeder Opposition, die Fehlentwicklungen der Regierung zuzuschieben und die Ursachen, die teilweise lange, lange Zeit zurückliegen, zum Teil aus einer Zeit stammen, wo wir gemeinsam in der sozialliberalen Koalition Verantwortung getragen haben, zu unterdrücken.
({0})
Ich glaube - und das ist dankenswerterweise von Ihrem Kollegen Kolb gestern in einer anderen Debatte gesagt worden - , daß die Opposition immer in der Gefahr ist, etwas zu übertreiben. Wir Koalitionsparteien aber glauben, daß Pessimismus nicht geeignet ist, die Probleme der Zukunft zu lösen. Wenn wir den Jugendlichen einreden, sie müßten ergeben das Eintreffen von düsteren Prognosen erwarten, können wir sie nicht motivieren, die Probleme zu lösen.
({1})
Wir dürfen nicht vergessen, meine Kollegen, daß die Jugendlichen, die hier beschrieben werden, in der nächsten Legislaturperiode bereits Erwachsene sind, die in dieser Gesellschaft an der Lösung unser aller Probleme mitarbeiten werden, auch im politischen Bereich.
Dabei will ich überhaupt nicht beschönigen oder bestreiten, daß es Probleme gibt. Aber wir haben eben unterschiedliche Vorstellungen, diese Probleme zu lösen. Wir gehen von einem optimistischen Bild aus an diese Probleme heran.
({2})
Ich will nur ein Beispiel nennen: Sie haben, Herr Kollege, über die Jugendarbeitslosigkeit gesprochen.
Die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Sie geht zurück.
({3})
Ich kann mich erinnern, daß im „Bayerischen Rundfunk", in „Bayern 3", regelmäßig Werbung von einigen Handwerksinnungen kommt, die Lehrlinge suchen, weil die Lehrstellen heute nicht mehr besetzt werden können.
({4})
- Auch Sie haben doch darauf hingewiesen, daß soundso viele Jugendliche keine Lehrstellen hätten.
({5})
- Sie haben über beides gesprochen. Es gibt eben unterschiedliche Vorstellungen. Die einen sagen: „Die Flasche ist halb leer", und die anderen sagen „Die Flasche ist halb voll".
({6})
- Wichtig ist, Herr Kollege, daß man sieht, wo Mangel ist, aber daß man auch sieht, wo Entwicklungen sind. Die Entwicklung ist positiv. Sie kann man nicht mittels einzelner Beispiele so negativ darstellen, wie Sie dies gemacht haben.
({7})
In den Punkten 3 und 4 der Stellungnahme der SPD geht es darum, daß Jugendpolitik nicht auf Familienpolitik reduziert werden dürfe, und um die Eigenständigkeit der Jugendpolitik. Ich meine, das ist eine Selbstverständlichkeit. Auch Frau Pack hat dies gesagt. Aber die Worte „keine Reduzierung auf Familienpolitik" und „Eigenständigkeit der Jugendpolitik" können in der politischen Auseinandersetzung auch zu Leerformeln werden, zur Produktion von Gegensätzen benutzt werden, wo eigentlich keine sind.
Ich will ein Beispiel bringen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja, bitte.
Herr Kollege, ist Ihnen wirklich nicht bekannt, daß die Arbeitslosigkeit von Jugendlichen bis zu 25 Jahren steigt?
({0})
Sie verwechseln ständig die Zahlen über Ausbildungsplätze und die Zahlen über arbeitslose Jugendliche. Es müßte Ihnen bekannt sein, daß die Zahl der -
Ich bitte eine Frage zu stellen, Frau Kollegin.
Frau Kollegin, jeder kann meine Worte nachlesen, kann die Reden der SPD nachlesen. Hier wurde von beidem gesprochen. Ich
Eimer ({0})
habe zunächst von Ausbildungsplätzen gesprochen. Beide Aussagen von Ihnen stimmen nicht.
Meine Damen, ich will ein Beispiel bringen, das ich, soviel ich weiß, schon einmal gebracht habe. Ein Jugendlicher ist jemand, der gerade aus dem Kinderzimmer ins Wohnzimmer geht. Die Aufgabe der Jugendpolitik ist es, den jungen Menschen über die Türschwelle zu helfen. Hier sind nicht nur die Familienmitglieder, die Eltern angesprochen, sondern auch die Freunde, die Jugendverbände usw. Natürlich kann diese Hilfe in einer pluralen Gesellschaft nicht die Familie allein geben. Es müssen welche da sein, die beiden helfen: denen, die über die Schwelle kommen, und denen, die über die Schwelle helfen sollen. Deswegen ist es völlig müßig, darüber zu streiten, ob Jugendhilfe eigenständig sein soll oder nicht. Das ist kein Streitpunkt. Ich glaube, diese Frage wird künstlich hochgezogen.
Daß sich die Jugendlichen dabei in Jugendverbänden zusammenfinden und sich gegenseitig über diese Schwelle helfen, daß so etwas vom liberalen Ansatz her selbstverständlich und förderungswürdig ist und unterstützt werden muß, sollte klar und kein Streitpunkt sein. Auch die Union ist dieser Meinung. Insofern gibt es hier überhaupt keinen Gegensatz, den man künstlich hochpushen könnte.
({1})
Ich glaube auf der anderen Seite, daß in der Darstellung der Familienpolitik und der Jugendförderung Fehler gemacht werden. Wir haben ein Programm zur umfangreichen Förderung der Familie aufgestellt. Die erste Stufe der Steuerreform, die wir vorgezogen haben, beinhaltete den Familienlastenausgleich. Es ist nicht ganz redlich, wenn man sich aus diesen Dingen immer nur das heraussucht, was einem gerade ins Konzept paßt, und nicht das gesamte Konzept betrachtet. Das ist nicht redlich.
Ich glaube aber - und das ist wohl der gravierende Gegensatz zwischen Koalition und Opposition - , daß sich der Staat und auch die Verbände bei der Setzung von Erziehungszielen zurückhalten müssen. Das ist einzig und allein das Recht der Eltern. Ich wiederhole: Jugendliche werden sehr schnell Erwachsene. Sie werden dann Verantwortung tragen und an der Gestaltung dieser Gesellschaft, dieses Staates mitarbeiten wie jeder andere Erwachsene auch. Deshalb muß man ihnen schnell über diese Schwelle helfen. Man darf nicht versucht sein, sie lange als Klientel der Betreuung zu behalten. Dieser Versuchung dürfen weder Eltern noch Jugendverbände erliegen. Das alte Jugendwohlfahrtsgesetz war ein Eingriffs- und Kontrollgesetz. Um im Bild zu bleiben, das ich gebraucht habe: Es sollte helfen, wenn das Kind gestolpert war, und erreichen, damit es möglichst nicht stolpert.
Daß das nicht befriedigend ist, ist verständlich. So hat sich auch die Praxis immer mehr davon gelöst und in Richtung einer offensiven und präventiven Jugendhilfe orientiert. Das alte Gesetz trägt dem nicht Rechnung. Ein Gesetz zur Neuordnung des Jugendwohlfahrtsgesetzes befindet sich in Vorbereitung. Wir hätten das Ganze gerne etwas beschleunigt. So wie Jugendverbände ungeduldig sind, sind auch wir ungeduldig. Eine Fülle von Anregungen müssen im Gesetzentwurf berücksichtigt werden. - Die Zeit drängt; daher will ich sie nur ganz kurz aufzählen: strukturelle Veränderungen der Familie, hohe Scheidungsraten, Alleinerziehende, Bewußtseinsänderung der Frauen. Frau Kollegin, Sie haben das alles sehr ausführlich aufgezählt.
Meßbar werden diese Ergebnisse des Jugendberichts aber erst dann, wenn die Novellierung des Jugendhilferechts vorliegt. Ich wiederhole: Es sollte schneller gehen. Das gilt vor allem für die Absprache mit den Ländern.
Ich will zu dem Bild zurückkommen: Wir dürfen den Jugendlichen, die wir aus dem Kinderzimmer ins Eßzimmer führen, nicht nur sagen: Bedient euch mal schön!, sondern wir müssen ihnen auch sagen: Das ist erarbeitet worden, und jetzt müßt auch ihr dazu beitragen, auch ihr seid verantwortlich dafür. - Wenn wir das nicht tun, erwecken wir Hoffnungen, die sich dann im Leben als Erwachsener nicht realisieren lassen. Auch das ist eine Aufgabe der Jugendpolitik, für die wir Verantwortung tragen. Wenn wir diese Verantwortung gemeinsam tragen, dann können wir die Probleme besser lösen, als wenn wir versuchen, hier im Plenum Gegensätze aufzubauen. Ich habe mich bemüht, das nicht zu tun. Ich weiß, daß auch in der Opposition, vor allem in der SPD, Bestrebungen da sind, so zu verfahren. Das Angebot gilt. Ich hoffe, daß wir in Zukunft in dieser Weise besser zusammenarbeiten können, daß es in Zukunft vielleicht zu gemeinsamen Entschließungen kommt.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Jugendbericht, von dem hier heute die Rede ist, ist in Wirklichkeit überhaupt kein richtiger Jugendbericht, denn er handelt eigentlich vielmehr von der Familie und davon, wie sie gestärkt werden kann. Das ist sicher kein Zufall, denn die Regierung hat sich genau einen solchen Bericht auch bestellt.
In einer Zeit, wo es vorrangig wäre, das Jugendhilferecht grundlegend neuzugestalten und die Finanzierung von Jugendhilfe und Jugendarbeit auf bessere Füße zu stellen, kommt es natürlich einfach billiger, die Wichtigkeit der Familie für Kinder und Jugendliche zu betonen und obendrein - dreist genug ist es - an die Träger der Jugendhilfe zu appellieren, hier zusätzliche Aufgaben zu übernehmen. Bei dieser Reduzierung des Blickwinkels auf die Familie geraten zwangsläufig die realen Probleme zahlreicher Jugendlicher aus dem Blickfeld, und das ist wohl auch beabsichtigt.
({0})
Wenn es nämlich um die tatsächlichen Probleme von Jugendlichen, wie Zukunftsangst, Arbeitslosigkeit und finanzielle Abhängigkeit von den Eltern, ginge, dann müßte die Bundesregierung auch einmal
dazu Stellung nehmen, welche Maßnahmen sie gegen diese gesellschaftlichen Probleme ergriffen hat. Von der politischen Verantwortlichkeit der Regierung soll hier abgelenkt werden. Deswegen ist dieser ganze Bericht samt Stellungnahme ein einzigartiges politisches Ablenkungsmanöver.
Weder im Jugendbericht noch in der Stellungnahme der Bundesregierung wird z. B. erwähnt, daß rechtsradikale und neofaschistische Gruppen immer mehr Zulauf von Jugendlichen bekommen, immer stärker und vor allen Dingen auch immer militanter werden. Vor wenigen Tagen erst haben rechtsradikale Skinheads ein autonomes Jugendzentrum in Mannheim überfallen und mit Tränengas gesprüht. Da war es gerade eine Woche her, daß in Hannover ebenfalls rechte Skins ein Jugendzentrum überfallen und einen jungen Mann fast totgeschlagen haben.
So ist im Moment die Realität. Es ist auch kein Wunder, daß es so ist, denn der Lebensalltag wird für immer mehr Jugendliche immer aussichtsloser und immer härter. Welche Heimat, welche Perspektive sollen sie auch finden, als eben u. a. in solchen Gruppierungen, zu denen es in vielen Orten zudem kaum mehr attraktive Alternativen gibt. Außerdem ist das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik der allerbeste Nährboden für solche Entwicklungen. Oder wie anders soll man es nennen, wenn in einem sogenannten Historikerstreit deutsche Professoren die Einmaligkeit des nationalsozialistischen Horrors öffentlich in Frage stellen können? Wie soll man es nennen, wenn in dieser Gesellschaft Entnazifizierung reibungslos funktioniert wie Wäschewaschen, wenn sogenannte hochgestellte Persönlichkeiten - in diesem unserem Lande - vom Ex-Ministerpräsidenten bis zum Ex-Bundespräsidenten - ihre schmutzigen Westen unter persilweißen Amtsgewändern verstecken können, wenn im Nachbarland ein Waldheim von seiner Pflicht herumschwadroniert, die er getan hätte, keiner Schuld bewußt, und wie sollen Jugendliche gegenüber Ausländerfeindlichkeit eigentlich sensibel werden, wenn ihnen die Bundesregierung diese Ausländerfeindlichkeit täglich aufs neue vorexerziert?
({1})
Wer das Neonaziproblem in Angriff nehmen will, muß an die Ursachen heran. An allererster Stelle stehen bei den Ursachen u. a. nach wie vor die Ausbildungslosigkeit und Arbeitslosigkeit von Jugendlichen.
({2})
Solange diese Probleme nicht gelöst sind, so lange wird Neofaschismus eine Gefahr für diese Gesellschaft sein.
({3})
Aber die Bundesregierung hat bis heute praktisch nichts gegen die Jugendarbeitslosigkeit unternommen, außer Sprechblasen zu produzieren und unseriöse Zahlenspielchen zu betreiben. Die Realität sieht jedenfalls so aus, daß nach wie vor etwa 460 000 Jugendliche unter 25 Jahren ohne Arbeit und mehr als die Hälfte von ihnen ohne Ausbildung sind.
Am schlimmsten dran sind dabei die Mädchen und jungen Frauen. Ich frage mich: Warum ist von diesen Mädchen weder im Jugendbericht noch in der Stellungnahme der Regierung überhaupt groß die Rede? Man könnte meinen, es hätte nie einen Sechsten Jugendbericht gegeben, der schließlich so überdeutlich aufgezeigt hat, wie drastisch Mädchen in allen Bereichen der Gesellschaft benachteiligt sind. Offenbar gehen sie davon aus, daß mit diesem einen Bericht damals - der ohnehin folgenlos blieb - das Pflichtpensum in Sachen Mädchenprobleme für die nächsten Jahrzehnte abgehakt worden ist. Dieser Jugendbericht ist in Wirklichkeit jedenfalls ein Jungenbericht.
Ein anderes gravierendes Mädchenproblem wird ebenfalls unter den Teppich gekehrt. Ich spreche von der sexuellen Gewalt gegen Mädchen; ein Thema, das immer noch ein gesellschaftliches Tabu ist. Der Jugendbericht hat ja qua Aufgabenstellung vor allem das Hohelied der heilen Familienidylle zu singen. Eine realistische Darstellung des Ausmaßes sexueller Gewalt gegen Mädchen in der Familie würde dieses heile Bild allerdings unweigerlich zerstören. 150 000 bis 300 000 Mädchen werden nach Schätzungen jährlich sexuell mißbraucht. Ein Viertel der Täter sind Väter und Stiefväter, weitere 11 % sind enge Freunde der Familie und Verwandte, wie Schwager, Großvater und Onkel.
({4})
Das bedeutet im Klartext: Mädchen müssen vor dem treusorgenden Familienvater und vor dem netten Nachbarn von nebenan im Grunde mindestens genausoviel Angst haben wie vor dem schwarzen Mann.
Mich wundert es nicht, daß man hier nicht so gern darüber spricht, denn über sexuelle Gewalt gegen Mädchen zu sprechen, bedeutet, auch auszusprechen, daß die Familie keineswegs immer nur der Hort der Liebe und Geborgenheit ist,
({5})
sondern für viele Mädchen schlicht der Ort täglicher Gewalt und fast völligen Ausgeliefertseins.
({6})
Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der GRÜNEN zum sexuellen Mißbrauch von Mädchen in der letzten Leigislaturperiode hat mit brutaler Offenheit deutlich gemacht, wie die Regierung ihre Präferenzen setzt - ich zitiere
({7})
- hören Sie mal lieber zu; ich muß mir Ihre reaktionären Reden ja auch anhören -:
({8})
Eine einseitige Parteinahme zugunsten der Kinder gegen gewalttätige Familienangehörige über die akute Krisensituation hinaus widerspräche dem Konzept einer längerfristigen therapeutischen Unterstützung des gesamten Familiensystems.
Mit anderen Worten: Der Regierung ist es wichtiger, das - wie sie es nennt - „Familiensystem" zu retten, als für die betroffenen Mädchen Partei zu nehmen.
Das ist Ihre Politik - der Vorrang der Familie um jeden Preis. Es ist kein Wunder, wenn dieser Familienvorrangpolitik die Mädchen und letztlich alle Jugendlichen zum Opfer fallen.
({9})
Das Wort hat die Frau Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Siebte Jugendbericht, der hier heute diskutiert wird, ist zumindest insofern frei von der Polemik geblieben, als ihm Sachkompetenz und sachgerechte Analyse zugeschrieben wird. Ich darf mich vielleicht als Mitglied der Bundesregierung hier einreihen, denn den größten Teil dieses Berichtes habe ich als Vorsitzende noch selbst zu verantworten. Ich denke nicht, daß derselbe Personenkreis einmal unfähig und einmal fähig ist. Insoweit Dank für diese Anerkennung.
Was den Aufbau des Berichts angeht, muß ich Ihnen sagen, es wäre zweckdienlich, ihn genau zu lesen, ebenso wie die Stellungnahme der Bundesregierung. Dann werden Sie feststellen, daß zum einen in der Tat die Untersuchung von Jugendhilfe und Familie ein präziser Auftrag ist - dies ist ein legitimer und wichtiger Auftrag - und daß zum anderen in vielen Passagen dieses Berichtes all das zur Sprache gekommen ist, was hier heute morgen als nicht behandelt aufgezählt worden ist:
({0})
von den Mädchen über die Ausländer, von der Jugendarbeit bis hin zu den Medien und ihren Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.
({1})
Von daher würde ich uns anraten, statt uns nur noch mit Polemik profilieren zu wollen, das Denken und Argumentieren über Tatbestände in diesem Parlament nicht aufzugeben.
Dann haben Sie ferner gesagt, der Bericht habe bei uns so lange gelegen. Der vorige Bericht ist deswegen gescholten worden, weil man gesagt hat, das sei ein von der Opposition in Auftrag gegebener Bericht und habe deshalb so lange gedauert. Jetzt hat dieser zu lange gedauert. Wenn es ein ausschließlich auf den Familienbereich konzentrierter Bericht gewesen wäre, hätten wir viele Ressorts, vom Wirtschafts- über das Innen- bis zum Justizressort, nicht einzuschalten brauchen. Dadurch verlängern sich Prozesse.
Ich muß allerdings auch sagen: Wir haben diesen Bericht nach sieben Monaten im Dezember 1986 dem Kabinett zugeleitet und diskutieren ihn hier heute. Von daher möchte ich den Vorwurf zurückweisen.
Sie wenden sich aber nicht nur gegen die Engführung des Berichts, sondern argumentieren in einer für mich wenig glaubwürdigen Weise. Als in diesen Wochen die berechtigte Forderung öffentlich eingebracht wurde, daß ebenso notwendig wie eine solide Haushaltspolitik die Verbesserung der Situation der Familien sei, da habe ich von der Opposition nur Schelte gehört, wie man denn so unverantwortlich handeln und noch Mittel für die Familien einfordern könne.
Heute höre ich hier, daß wir nicht genug für Familie und Jugend täten.
({2})
Also entweder sage ich A oder ich sage B. Offenbar wissen Sie selbst nicht, was Sie denn nun tatsächlich wollen - Förderung oder Nicht-Förderung.
({3})
Das zweite, was ich auch im Interesse der Kinder und Jugendlichen hier klarstellen muß, und ich sage: vor allen Dingen der Jugendlichen. Wir gehen dann, wenn es uns paßt, mit Jugend und Gewalttätigkeit jeweils so um wie wir es brauchen können. Deswegen frage ich: Was war eigentlich mit den Gewalttätigen Ende der 60er und in den 70er Jahren? Heute habe ich niemanden gehört, der die damalige Gewalttätigkeit auf Verelendung und Armut zurückgeführt hat.
({4})
Das hat uns aber beträchtliche Probleme gemacht. Und wenn ich dann hier etwas über die - sicherlich ernst zu nehmenden - Rechtsradikalen höre, würde ich raten, einmal genauer hinzuschauen. Darunter finden Sie nämlich kaum Arbeitslose; diese Gruppe setzt sich ganz anders zusammen.
({5})
Jedenfalls sage ich hier auch im Blick auf die jetzt zum Thema „Gewalt" arbeitende Kommission mit großem Nachdruck, daß die überwiegende Mehrheit unserer Jugendlichen Gewalt ablehnt und gewaltlos ihr Leben führt.
({6})
Ich glaube, es ist notwendig, das heute festzustellen.
Frau Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin? - Bitte sehr.
Frau Minister, ich bin Ihnen für diese Feststellung sehr dankbar, aber wären Sie bereit, sie in einem Punkt zu ergänzen? Ich denke, Sie haben ja selber das Gutachten von Professor Eggers aus Trier angefordert oder es zumindest bekommen, das Gutachten, aus dem sich ergibt, daß Gewalt selbstverständlich auch auf soziale Konflikte und auch auf Armut zurückgeführt werden kann, so daß wir diesen Punkt bitte nicht ganz aus der Diskussion lassen sollten.
Frau Dr. DäublerGmelin, ich wäre weit davon entfernt, solche Zusammenhänge mit Nichtangenommensein in der Familie, schulischen Mißerfolg gehabt zu haben, keine Lehrstelle zu finden oder trotz Studium keine Perspektive zu haben außen vor zu lassen.
({0})
Nur, mich irritiert ganz gewaltig die Engführung der Argumentation bezüglich Verelendung und Gewalt.
({1})
Ich denke, daß die Mehrheit auch derjenigen, die geringere Einkünfte haben, darauf nicht mit Gewalttätigkeit antwortet.
({2})
Anderes zu behaupten wäre, so meine ich, eine einseitige Diffamierung derjenigen, die in schlechteren Lebensverhältnissen leben und sich redlich mühen, mit diesen Lebensverhältnissen zurechtzukommen.
({3})
- Ja, ich akzeptiere durchaus diese Differenzierung. Etwas anderes habe ich nicht behauptet.
Lassen Sie mich ein paar Fakten klarstellen, die hier auch ständig außen vor bleiben. Alles, was in der Jugendhilfe nicht zum besten gestellt ist, wird hier der Bundesregierung angelastet. Ich würde sehr gern die heutige Gelegenheit nutzen, jene SPD-Länder, die für mehr Jugendhilfe eintreten, zu bitten, einmal vor ihrer eigenen Tür zu kehren. Ich wüßte nicht, wo denn beispielsweise in Hamburg oder in Nordrhein-Westfalen die familienerweiternden Hilfen für Alleinerziehende gewährt werden, wo denn eine Alternative existiert, wenn es um die Unterbringung der 70 % Heimkinder bei den Kindern von Getrenntlebenden, Geschiedenen und Stieffamilien geht. Insofern weise ich es entschieden zurück, daß ein Problem ausschließlich bei der Bundesregierung abgeladen wird und daß ihr die Aufgabe zugewiesen wird, es nicht erst morgen zu lösen, sondern gewissermaßen schon vorgestern gelöst zu haben.
({4})
Es trifft auch nicht zu, daß sich diese Bundesregierung nicht Tatbeständen wie Gewalt in der Familie, Vergewaltigung oder sexuelle Mißhandlung annimmt. Wir können doch nachweisen, daß wir das z. B. in Hearings tun. Auch bereits für die vorige Bundesregierung hat die Frage „Frauen und Gewalt" in Verbindung mit dem Thema „Frauenhaus" eine zentrale Rolle gespielt. Ich denke, daß der rechtliche Schutz gegen Vergewaltigung und sexuellen Mißbrauch von Kindern bisher unzureichend ist, aber die Rechtsfrage ist nur eine von vielen Fragen.
Nun komme ich zum Hauptkapitel. Es geht um die These, Unterstützung der Familie durch die Jugendhilfe sei eine unzulängliche Engführung oder gar ein Abweg. Das führt zu der Frage, ob wir im Bereich der Familie dasselbe tun wollen, was wir in so vielen Bereichen tun, nämlich den eigentlichen Ort, an dem Menschen sich entwickeln und zur Person werden, zu vernachlässigen und zu sagen: Dies alles machen wir außerhalb der Familie. Angesichts der Kinder, die heute unter Trennung und Scheidung leiden, wünsche ich mir jedenfalls, daß nicht unzählige weitere Kinder folgen,
({5})
sondern daß wir gemeinsam die Ursachen von Trennung und Ehescheidung bekämpfen, denn daß diese Kinder - ebenso wie ihre Eltern - leiden, ist unbestritten.
Es ist nicht von ungefähr, daß wir angesichts von Scheidung nun fragen: Wie sieht es mit der Bedeutung der Väter in unseren Familien aus? Kinder brauchen beides, Mütter und Väter.
({6})
Wir werden gleich über die künstliche Befruchtung sprechen. Ursachenbekämpfung hat immer dort anzusetzen, wo die Anfänge gelegt sind. Deswegen wäre es nicht nur töricht, sondern unverantwortlich, dabei die Familie zu überspringen.
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Deswegen denke ich, daß neben einer unmittelbaren Unterstützung der Familie durch eine Politik, die sie im Recht, in der Sozialpolitik, im Familienlastenausgleich anerkennt, auch das Familienumfeld dafür Sorge tragen muß, daß Familien nicht allein gelassen werden. Ich denke, dies gilt für den Bereich, den Frau Pack eben schon angesprochen hat, der Familienbildung, der Beratung, insbesondere dort, wo kritische Phasen zwischen Eltern und Kindern oder Partnern anliegen. Das gilt aber auch für jenen Bereich der Schulpolitik, in dem ich immer wieder feststelle, daß Fragen des Zusammenlebens in der Familie offenbar das Unwichtigste und Unnötigste sind, was diese Gesellschaft in der Schule überhaupt überbringen würde.
({8})
Ich muß Ihnen sagen: Die hier eben genannten benachteiligten Jugendlichen, die heute keinen Ausbildungsplatz finden, sind dies zu einem ganz beträchtlichen Anteil nicht, weil sie dumm sind,
({9})
sondern weil wir sie mit der betriebenen Schulpolitik einseitig vom Kopf her beansprucht und ihnen Praxis verwehrt haben.
({10})
Ich möchte hier noch einmal deutlich sagen, daß uns eine Verbesserung der Startchancen in den 70er Jahren über eine verwissenschaftlichte Schule heute zeigt, daß wir dort bei allem Guten auch eine Menge von Fehlern gemacht haben. Ich wünschte mir gerade für diese Jugendlichen, von denen heute morgen die Rede war, daß wir sie nicht von einer Bildungsmaßnahme in die nächste schicken, sondern daß wir ihnen Praxiserfahrung, Arbeit in den Betrieben, in der Arbeitswelt ermöglichen.
Ich muß noch einmal sagen, wenn Sie sagen, Jugendpolitik fällt aus: Was haben wir an Leistungen gerade für diese benachteiligten Jugendlichen in den letzten Jahren ergriffen? Es ist nicht zutreffend, daß die Jugendarbeitslosigkeit nicht bekämpft worden ist. Wenn wir bei den Älteren genauso weit wären wie bei den Jugendlichen, könnten wir im europäischen Vergleich gut dastehen.
({11})
Mit der Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit stehen wir in der Bundesrepublik an der Spitze aller EG-Länder. Dies schließt ein - hier werden Regierung und Koalition weiterarbeiten - , daß benachteiligte Jugendliche auch in den nächsten Jahren aus den Programmen nicht herausfallen. Etwas anderes wäre eine Versündigung an der nachwachsenden Generation.
Ich muß auf Grund meiner Zeit hier abbrechen und sage: Wir werden auch unter erschwerten Bedingungen - trotz Steuerreform - die längst überfällige Jugendhilfereform dennoch auf den Weg bringen, und ich bin gespannt, wie viele Mitstreiter wir finden.
Ich danke.
({12})
Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den auf Drucksache 11/1871 vorliegenden Änderungsantrag der SPD-Fraktion. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist dieser Änderungsantrag abgelehnt worden.
Wer stimmt dem Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1891 zu? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Antrag mit übergroßer Mehrheit abgelehnt worden.
Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ab, die Ihnen auf Drucksache 11/1541 vorliegt. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Auch diese Beschlußempfehlung ist angenommen.
Bevor wir zum nächsten Tagesordnungspunkt kommen, muß ich einen Ordnungsruf erteilen.
({0})
Frau Unruh hat in der Aktuellen Stunde den Abgeordneten Dr. Langner als unverschämten Lümmel bezeichnet.
({1})
- Ersparen Sie mir, diesen Beifall jetzt auch noch zum Anlaß zu nehmen, erneut einen Ordnungsruf zu erteilen. Jetzt müßte ich fast sagen: in pauschaler Form den Resten der anwesenden grünen Fraktion. Bei allem Verständnis für die Hitze der Auseinandersetzungen: Das ist wirklich ein unparlamentarisches Verhalten. Ich halte diesen Zwischenruf für unerträglich und erteile der Frau Abgeordneten Unruh allen Ernstes einen Ordnungsruf.
Ich rufe nunmehr Punkt 19 und Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Däubler-Gmelin, Dreßler, Frau Schmidt ({2}), Dr. Emmerlich, Catenhusen, Frau Blunck, Stiegler, Dr. de With, Frau Adler, Amling, Bachmaier, Frau Becker-Inglau, Dr. Böhme ({3}), Frau Bulmahn, Frau Conrad, Frau Dr. Dobberthien, Egert, Frau Faße, Frau Fuchs ({4}), Frau Ganseforth, Gilges, Frau Dr. Götte, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Jaunich, Klein ({5}), Kuhlwein, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny, Müller ({6}), Frau Dr. Niehuis, Frau Odendahl, Peter ({7}), Dr. Pick, Reimann, Rixe, Schmidt ({8}), Schmidt ({9}), Schütz, Frau Seuster, Frau Simonis, Singer, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Weiler, Frau Weyel, Frau Wieczorek-Zeul, Wiefelspütz, Wittich, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Chancen und Risiken der Anwendung neuer Methoden der künstlichen Befruchtung und bei Eingriffen in menschliche Keimzellen
- Drucksache 11/1662 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({10})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Kabinettbericht zur künstlichen Befruchtung beim Menschen
- Drucksache 11/1856 Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuß ({11})
Innenausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung und Technologie
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat haben wir für die Beratung dieser Tagesordnungspunkte zwei
Vizepräsident Cronenberg
Stunden vorgesehen. - Diese Vereinbarung findet offensichtlich keinen Widerspruch, so daß ich davon ausgehen kann, daß das beschlossen ist.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat das Wort die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten haben die heutige Debatte beantragt. Wir begrüßen, daß sie endlich zustande gekommen ist. Wir halten es für nötig - um das von vornherein zu sagen - , daß sich der Bundestag so schnell wie möglich auf gemeinsame Weichenstellungen für die Reproduktionsmedizin, also für die Anwendung der Methoden der künstlichen Befruchtung auf den Menschen verständigt.
Die Zeit für Weichenstellungen dieser Art ist überfällig. Wir wissen, daß Louise Brown, das erste Kind, das nach Verschmelzung von Samen und Eizellen im Reagenzglas geboren wurde, in diesem Jahr seinen zehnten Geburtstag begehen wird. Wir wissen, daß Tausende von Kindern überall auf der Welt durch diese Form der Laborzeugung entstehen.
Wir lesen immer Umstritteneres darüber, daß Frauen gesucht - und leider auch gefunden - werden, die ihre Eizellen, die ihre Gebärmutter zum Zwecke der künstlichen Befruchtung und zur Austragung von Fremdschwangerschaften zur Verfügung stellen. Der gängige Jargon nennt sie „Leihmütter"; obwohl Mutterschaft gerade nicht gefragt ist. Es geht lediglich und ausschließlich um das Zur-VerfügungStellen von Eizellen oder um die vorübergehende Gebrauchsüberlassung der Gebärmutter, also von Organen der weiblichen Fortpflanzung oder Teilen davon aus kommerziellen oder anderen Gründen.
Wir lesen auch, daß es unsere Gerichte gerade noch schaffen, die Tätigkeit einer Leihmutteragentur zu untersagen. Frankfurt war der neueste Anwendungsfall. Und wir lesen Berichte über den Streit vor US-Gerichten, wer nun eigentlich ein leihweise ausgetragenes Kind letztendlich bekommen soll. Das beschäftigt die Bürger nicht nur in den USA, sondern auch bei uns, vor allen Dingen deshalb, weil wir wissen - bei allem Widerwillen, mit dem wir diesen Streit und auch das Hin und Her beobachten mögen - , daß dieser Streit nur eine günstigere von mehreren Möglichkeiten betrifft.
In jenem Streit vor US-Gerichten beanspruchen schließlich mehrere Erwachsene dasselbe Kind. Beide betroffenen Paare wollen es, wenigstens jetzt. Denkbar ist aber auch - das ist gar nicht außerhalb unseres Vorstellungsvermögens - , daß eben niemand ein solches Kind will, weil es den Erwartungen nicht entspricht oder mit Fehlern behaftet sein soll. Was aber ist dann mit diesem Kind?
Auch von Samenbanken und Samenspendern ist immer häufiger zu hören. Da werden Samenspender gesucht, bisweilen auch durch Aushang in Universitäten; eine besonders „geschmackvolle" und unzulässige Art, vorzugehen. Wenn wir von Samenspendern reden, macht aber wenigstens der Begriff deutlich, worauf die Nachfrage abzielt: Eben nicht der Vater ist gefragt, sondern nur dieser eine Teil der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit.
Meine Damen und Herren, der Gesetzgeber, gerade auch der Deutsche Bundestag, ist gefragt, ob er diese Aufspaltung, diese technisch zerteilte und warenmäßig verwendete menschliche Fortpflanzungsfähigkeit durch die Methoden der künstlichen Befruchtung rechtlich zulassen will.
Auch um viele andere Folgen wissenschaftlicher Erkenntnisse und ärztlicher Kunst geht es, die allesamt Grundfragen betreffen: um die Möglichkeit, einen unfruchtbaren Elternteil bei der Fortpflanzung einfach auszutauschen und zu ersetzen, um die Auswahl des Geschlechts oder anderer Eigenschaften eines Kindes vor seiner Zeugung. Es geht um Samenbanken hier oder in anderen Bereichen der Welt. Es geht auch um mit erhofften Erkenntnisfortschritten begründete Eingriffe in menschliches Leben auf dieser Vorstufe vor der Geburt, das nach der Verschmelzung von Ei und Samenzellen in den Labors entsteht und gängigerweise von uns als menschliche Embryonen bezeichnet wird.
Was noch alles möglich sein könnte infolge dieser Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Entwicklungs- und Molekularbiologie, was alles auch auf Menschen zukommen könnte, wenn wir die Weichen nicht schnell, gemeinsam und wirksam in eine ganz andere Richtung stellen, das zeigt ein Blick über den Zaun auf heute längst gängige Methoden der Tierzucht. Da werden Rinderembryonen geradezu am Fließband erzeugt, eingefroren, über Kontinente hinweg versandt, in andere Tiere eingepflanzt oder zu identischen Rinderembryonen vervielfältigt, also geklont und zur Erforschung der heutigen Überwindung der Artgrenzen verbraucht.
Was in der Tierzucht aus verschiedenen und zum Teil auch ganz anderen Gründen als immer bedenklicher angesehen wird und deshalb zurückgedrängt werden muß, darf beim Menschen - das ist unsere hoffentlich gemeinsame Überzeugung - nicht einmal in Ansätzen verwirklicht werden.
({0})
Nun wissen wir, daß Kinderlosigkeit zur schweren Belastung werden kann. Auch das kann, ja muß uns bei unserer Überlegung leiten. Für die schon heute deutlich werdenden Gefahren, für die schwerwiegenden Mißbrauchsmöglichkeiten, vor allem aber für die Notwendigkeit, sie zu verhindern, gilt das mindestens jedoch in gleicher Weise.
Professor Jonas, der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1988, hat unser Spannungsverhältnis vor jenem sozialdemokratischen Kongreß, der sich mit Grundfragen menschengerechter Technik und deshalb auch mit der Anwendung der Methoden der künstlichen Befruchtung zu befassen hatte, richtigerweise folgendermaßen beschrieben. Er sagte, der Gesetzgeber sehe sich hier ganz neuartigen Aufgaben gegenüber. Er dürfe die Verheißungen oder drohenden Entwicklungen nicht einfach dem Laisser-faire des Individualismus und des freien Marktes überlassen, er dürfe nicht blind, müsse vielmehr sehend für die drohenden Gefahren in die weit offene
Zukunft dieser neuen Möglichkeiten gehen und, soweit er Techniken dieser Art überhaupt erlauben wolle, nicht nur Barmherzigkeit für einzelne Härtefälle, sondern auch das Gebot verantwortlicher Vermeidung unerwünschter Entwicklungen im Blick haben.
Hans Jonas hat recht. Kirchliche Stellungnahmen, Empfehlungen von Kommissionen wie jene, die 1985 unter Leitung von Professor Benda, also schon vor zwei Jahren, erarbeitet wurden, oder Vorschläge wie die der Sozialdemokratischen Partei, die auch schon 1985 erarbeitet wurden, oder auch von Gremien, die - wie die Bundesärztekammer oder auch Landesärztekammern - Richtlinien erstellt haben - sie alle mahnen die Entscheidung des Gesetzgebers an, und sie haben dafür gute Gründe.
Der Gesetzgeber - der Bundestag und die Landesgesetzgeber, je nach Zuständigkeit - ist gefordert. Grundrechte und Grundentscheidungen unserer Verfassung müssen gegenüber neuen Anwendungsmöglichkeiten als Folge wissenschaftlicher Forschung durchgesetzt und sichergestellt werden. Nur das, was nach diesem Wertungsprozeß übrigbleibt, ist Fortschritt, den wir wollen und wollen können. Solchen Grundsatzentscheidungen der Auswahl unter vielen technisch machbaren Möglichkeiten müssen wir uns stellen.
Wir kennen diese Verantwortung aus anderen Bereichen, etwa aus dem Streit um die Verwendung der Atomenergie, die wir nicht für verantwortbar halten, aus dem Streit um Einzelfragen oder den Einsatz von Teilen der Informations- und Kommunikationstechnologie, aber auch aus dem Streit um die Genomanalyse, der ja noch auf uns zukommt. Überall wird der Ruf nach rechtzeitigen gestaltenden Eingriffen durch den Gesetzgeber zu Recht lauter, gerade weil eben heute immer deutlicher auffällt, daß solche Entscheidungen nicht oder nicht rechtzeitig oder ganz woanders fallen, z. B. auf dem Markt oder im Bereich staatlicher Bürokratien, und wir als beauftragte Vertreter der Bevölkerung laufen bestenfalls mit hängender Zunge den tatsächlichen Ereignissen hinterher.
Diese Gefahr droht auch auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin. Dabei fordern uns doch die Folgen noch zusätzliche Verantwortung ab. Neue Menschen entstehen, und diese Kinder besitzen nicht nur per definitionem in jedem Fall eine eigene Würde und eigene Grundrechte, ganz egal, auf welchem Weg oder unter welchen Umständen sie erzeugt wurden. Sie müssen auch Lebenschancen bekommen, sie müssen die Möglichkeit erhalten, durch Eltern angenommen zu werden, die sie lieben. Das ist schon ohne Anwendung der Methoden der künstlichen Befruchtung häufig schwer genug, manchmal nicht zu erreichen; das wissen wir doch alle. Wir wissen auch, daß noch so gute staatliche Einrichtungen eben doch nur zweitbeste Lösungen sein können, die Schäden längst nicht in allen Fällen zu kompensieren vermögen.
Bei der Bewertung und bei der Zulassung von Methoden der künstlichen Befruchtung müssen wir diese Folgen sehen und deutlich sagen, daß es keinesfalls verantwortet werden kann, solche Schwierigkeiten und Schädigungen für Kinder bewußt oder nur leichtfertig in Kauf zu nehmen.
Meine Damen und Herren, der Ruf nach gesetzgeberischen Entscheidungen hat zusätzlich ganz handfeste Gründe. Gerichte entscheiden Einzelaspekte und Einzelfälle nach Teilgesichtspunkten, weil die grundsätzlichen Weichenstellungen fehlen. Das ist unbefriedigend, auch wenn die bisher bekanntgewordenen Urteile unsere restriktive Tendenz durchaus stützen.
Es kommt hinzu, daß sinnvolle Richtlinien von Ärztekammern zunehmend angefochten werden, eben unter Hinweis auf fehlende gesetzliche Grundlagen. Auch deshalb darf der Gesetzgeber nicht länger zögern.
In dem Antrag, den wir Ihnen vorgelegt haben, machen wie in knapper Form deutlich, wie diese Entscheidungen aussehen müssen. Wir haben neun Festlegungen aufgeführt. Sie alle beruhen auf unseren Empfehlungen aus dem Jahre 1985. Lassen Sie mich in dieser ersten Debattenrunde nur drei Schwerpunkte herausgreifen:
Erstens. Methoden der künstlichen Befruchtung sollen nur durch dafür besonders zugelassene Ärzte im Klinikdienst und nur zur Überwindung von auf anderer Weise nicht überwindbarer eigener Kinderlosigkeit angewendet werden dürfen,
({1})
die Methode der Reagenzglasbefruchtung höchstens unter zusätzlichen Beschränkungen dort, wo diese Beschränkungen auch auf ihre Einhaltung kontrolliert werden können. Die nachgewiesene Möglichkeit, stabiler Eltern-Kind-Beziehungen muß in jedem Fall zu den notwendigen Voraussetzungen gehören.
({2})
Sie werden immer eine stabile Partnerschaft erfordern, die in den allermeisten Fällen, aber nicht ausschließlich in einer Ehe verwirklicht sein wird.
Zweitens. Die sogenannte Leihmutterschaft, aber auch die sogenannte Sammenspende von Dritten, also die Zurverfügungstellung, die Aufbewahrung, die Verwendung, die Vermittlung von Teilen der männlichen und weiblichen Fortpflanzungsfähigkeit zum Zwecke der künstlichen Befruchtung, - das alles wollen wir nicht. Dem erteilen wir eine Absage,
({3})
auch wenn wir wissen, daß damit manchen Fällen von Kinderlosigkeit mit Methoden der künstlichen Befruchtung nicht abgeholfen werden kann.
Drittens. Wir sagen „Nein" zu dem Wunsch, Embryonen zu Forschungszwecken zu erzeugen oder auch nur zu verwenden, aus welchen Gründen oder Motiven sie auch an uns herangetragen werden.
({4})
Wir sagen das ganz klar. Wir sagen auch „Nein" zu Eingriffen in Keimbahnzellen und zu den Methoden, die zu geklonten Menschen, zur Züchtung von Chimären, zur Herstellung von Hybriden führen sollen oder können.
Meine Damen und Herren, diese Grundkonzeption will die Anwendung der Methoden auf wenige kontrollierte Ausnahmefälle begrenzen. Ich denke, das wird deutlich. Das bedeutet aber nicht, wie einige meinen befürchten zu müssen, daß wir dazu raten, uns mit einer Auffassung zu identifizieren, die gesellschaftlich anerkanntes menschliches Sexualverhalten ausschließlich auf Fortpflanzung beziehen und nur in der Ehe rechtfertigen will. Dazu haben wir weder Veranlassung noch das Recht.
({5})
Es geht uns aber auch nicht um die Behinderung oder auch nur um die forschungsfeindliche Verhinderung von wissenschaftlichem Fortschritt. Forscherdrang und Wissenschaftsfreiheit gehören zu den wichtigsten Faktoren unserer Gesellschaft. Das wissen wir, daß wollen wir, und das fördern wir auch. Wo aber der Mensch und seine Erbanlagen zum Gegenstand verändernder Forschung und von Eingriffen gemacht wird oder werden kann, da ist Vorsicht geboten. Zu Forschungseingriffen in Embryonen sagen wir deshalb grundsätzlich und vollständig nein. Wir werden in dieser Haltung durch verantwortliche Aussagen von Wissenschaftsorganisationen bestärkt, die erklären, konkrete höherrangige Schutzzwecke durch Forschungen an menschlichen Embryonen gebe es über einen ganz langen vor uns liegenden Zeitraum nicht.
Wir sagen nein, weil uns allgemeiner, durchaus verständlicher Forscherdrang nach Erkenntnis und Fortschritt an dieser Stelle nicht genügt. Ich meine jetzt genau jenen Forscherdrang, von dem Robert Oppenheimer sprach, als er gefragt wurde, warum er und seine Kollegen - alles verantwortliche Forscherpersönlichkeiten - damals an jenem Manhattan-Projekt zum Bau der Atombomben, die dann auf Hiroshima und Nagasaki fielen, in Kenntnis der damit verbundenen Gefahren auch dann noch weitergearbeitet hätten, als der Sieg über Hitler und seine Verbündeten schon absehbar war.
Oppenheimer sprach damals von „sweet science" als Begründung, also von jener verführerischen Verlockung der Wissenschaft - Weizenbaum berichtet uns über dieses Gespräch. Dieser allgemeine Forscherdrang nach Erkenntnis und Fortschritt reicht zur Rechtfertigung von Eingriffen verändernder oder verbrauchender Forschung in diese Stufe menschlichen Lebens eben genau nicht aus.
Meine Damen und Herren, nun werden unserem kategorischen Nein an dieser Stelle häufig Einwände entgegengehalten, warum wir dann nicht zugleich die Verschärfung des Strafrechts bei Schwangerschaftsabbrüchen forderten. Dazu will ich einige Worte sagen, denn es gilt hier, Unvergleichbares auseinanderzuhalten und bewußte Irreleitungen oder auch Irrtümer zu vermeiden.
In beiden Fällen geht es unbestritten nach der Verschmelzung von Samenzelle und Ei um menschliches Leben auf der Vorstufe vor der Geburt, das auch strafrechtlichem Schutz unterliegt. Aber, meine Damen und Herren, Konflikte von Schwangeren vor Strafgerichten bekämpfen zu wollen, halten wir für falsch.
Strafrecht kann hier nicht helfen, Leben zu schützen.
({6})
Wir haben immer für Hilfen zur Vermeidung solcher Konflikte und für Hilfe für Frauen in solchen Konflikten geworben. Das tun wir auch weiter. Deshalb fordern und, wo wir es können, fördern wir auch Maßnahmen der Aufklärung über langfristige und mehr Rechte für Frauen und auch Chancengleichheit.
Bei Forschungen an Embryonen gibt es vergleichbare Konfliktlagen und Schutzlagen nicht. Hier geht es um ganz andere Absichten: Hier geht es um die Erkenntnisse und um die Entwicklung von Methoden, und genau diese Methoden wollen wir wegen ihrer hohen Gefährlichkeit und der Mißbrauchsmöglichkeit nicht.
Meine Damen und Herren, wir wollen, wie gesagt, die baldige und, wenn es geht, die übereinstimmende Weichenstellung des Bundestages in den wichtigsten Fragen der künstlichen Befruchtung. Wir fordern in unserem Antrag die Bundesregierung auf, uns so bald wie möglich die dafür notwendige Hilfestellung zur Verfügung zu stellen. Ich sehe gute Chancen für eine Verständigung. In vielen Fragen sind wir uns schon heute einig, auch wenn das nach außen relativ wenig hervorgetreten ist. Wir alle lehnen, wenn ich das richtig sehe, Methoden ab, die zu geklonten, gezüchteten Menschen oder zur Herstellung von Chimären und Hybriden führen können oder sollen. Ich denke auch, wir sind uns grundsätzlich einig, daß die Methoden der künstlichen Befruchtung auf wenige Fälle und nur unter strenger Kontrolle zulässig sein sollen.
Nicht so ganz klar ist bisher, ob die Mehrheit des Deutschen Bundestages zur Ablehnung der Zulässigkeit von Eingriffen in Keimbahnzellen entschlossen ist und ob Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, der Verwendung von Samenzellen Dritter oder auch von Samenbanken und auch der Ablehnung von Forschungseingriffen in menschliche Embryonen, die wir vorschlagen, folgen.
Wir hoffen, daß die Diskussion heute, die wir fortsetzen müssen, dazu mehr Entscheidungshilfen und mehr Klarheit bringt. Wir wissen im übrigen auch, daß Gesetzesvorhaben dieser Art und die Hilfestellung, die wir von Ihnen wollen, Probleme aufwerfen. Wir wissen auch, daß der Bund nicht für alle Detailfragen die Kompetenz besitzt und daß auch die gegenwärtige Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Regierung der Erarbeitung schneller Gesetzesvorlagen zumindest bisher eher hinderlich war.
All das mag auch für Ungereimtheiten in Stellungnahmen verantwortlich sein, die wir in den letzten Tagen erhalten haben. Sie ziehen sich auch durch den jüngsten Kabinettsbericht, der ja dadurch gekennzeichnet ist, daß der erste Teil von den Folgerungen hinterher nicht immer vollständig getragen, manchmal sogar konterkariert ist.
Lassen Sie mich unterstreichen: Für die Bürgerinnen und Bürger, für die Betroffenen, aber auch für die Bedeutung der Grundsatzfragen sind diese Zuständigkeitsprobleme zweitrangig. Der Bundestag muß aufpassen - dafür werbe ich - , daß nicht der Lang4292
samste hier wieder das Tempo bestimmt. Wir halten im übrigen ein Gesamtkonzept für richtig, also die Zusammenfassung der Zuständigkeiten des Bundes auf den verschiedenen Rechtsgebieten in einem einzigen Gesetzentwurf in einem Artikelgesetz.
({7})
Der gesamte Deutsche Bundestag sollte die Bundesregierung auffordern, schnell und klar Äußerungen abzugeben und Gesetzentwürfe vorzulegen,
({8})
und zwar aus einem letzten Grund, den ich noch anfügen will: Wir müssen ja nicht nur unsere eigene Rechtsordnung ergänzen, sondern darüber hinaus zumindest im Rechtsraum Europa für neue Gesetze und neue Festlegungen sorgen - eben deshalb, weil die Herausforderungen durch diese neue Technik, wie auch auf anderen Gebieten zu sehen ist, eben nur dann wirksam beantwortet werden können, wenn wenigstens in Grundsatzfragen eine einheitliche Meinung besteht.
Das Parlament von St. Gallen hat es uns dieser Tage vorgemacht. Nun ist St. Gallen klein; wahrscheinlich meinen wir, wir seien bedeutender. Ich finde, wir sollten diesem Vorbild folgen. Dafür werbe ich.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Neue Technologien bestimmen immer stärker unser Leben: menschliches Leben und die Welt um uns. Neue Techniken ermöglichen die Herstellung von Leben, aber auch seine beliebige Beendigung.
Ich habe vor einiger Zeit einen großen Heiterkeitserfolg erzielt, als ich vor einem sonst durchaus ernst gesonnenen Publikum die Frage stellte: Wie macht man einen Menschen?
Diese Frage stellen müssen weist schon auf eine neue und notwendige Auseinandersetzung um den Menschen und seine Würde hin. Der Lebensbeginn ist nicht mehr allein Sache von Mann und Frau. Er ist in manchen Fällen Sache der Ärzte geworden.
Die sogenannte Fortpflanzungs- oder Reproduktionsmedizin bietet neue Wege. Es geht um die künstliche Befruchtung. Dabei ist schon der Begriff nicht ganz glücklich; denn nicht die Befruchtung ist künstlich - da verschmelzen nach wie vor die Kerne von Eizelle und Samenzelle - , sondern die Verfahren sind zum Teil weit von der Natur entfernt. Die Menschwerdung droht zu einer Sache der Techniker zu werden. Ich frage mich, wie weit wir das noch mittragen oder ertragen können.
Manches Verfahren der künstlichen Befruchtung gibt es schon seit vielen Jahrzehnten. Schon 1897 hat die katholische Kirche ein Verdikt über jede Art künstlicher Befruchtung ausgesprochen. Das Verbot wurde 1987, also 90 Jahre später, erneuert. Es gibt gute Gründe dafür.
Aber in unserer pluralistischen Gesellschaft gibt es zu diesem Problem auch andere Auffassungen, die man durchaus als ebenfalls berechtigt ansehen kann. Es ist tatsächlich eine Frage des Gewissens des einzelnen Menschens, wie er sich in diesen Fragen entscheiden kann. Es ist aber auch eine Aufgabe des Staates, menschliches Leben und Menschenwürde zu schützen.
Neue Methoden der Fortpflanzungsmedizin sind nur dann zu verantworten, wenn die Unantastbarkeit der Menschenwürde, der Schutz des Lebens, der Schutz von Ehe und Familie und das Wohl des Kindes gewährleistet sind. Es ist eigentlich erschreckend, daß wir auf medizinisch-technische Verfahren angewiesen sind, um neues menschliches Leben zu erzeugen und zu gewinnen.
Die Zahl der Ehepaare, die ungewollt kinderlos sind, ist groß - zu groß, als daß man darüber einfach zur Tagesordnung übergehen könnte. Man geht von etwa 1,5 Millionen betroffener Ehepaare aus.
Natürlich darf man in dieser Diskussion auch die Frage stellen, ob man Kinderlosigkeit nicht als persönliches Schicksal annehmen muß. Viele werden das tun. Aber viele andere werden nach einem Weg suchen, um zu einem eigenen Kind zu kommen.
Deswegen müssen wir uns die Frage stellen, ob wir schon genug geforscht und versucht haben, die Sterilität eines Mannes, einer Frau oder gar eines Paares zu beheben, ohne daß man etwa zum Mittel der In-vitroFertilisation mit Embryotransfer greifen muß.
Ich erläutere das Verfahren etwas; denn ich kann nicht erwarten, daß sich schon jeder in die Fachsprache eingedacht hat.
Ich sagte, daß sich viele Paare ein Leben ohne ein eigenes Kind nicht vorstellen können. Aber sie bleiben wegen der Sterilität eines Partners ohne Kinder. Wenn diese Sterilität auf eine gestörte Funktionsfähigkeit der Eileiter beruht, kann man, wenn alle anderen bekannten medizinischen Methoden nicht mehr greifen, folgendes Verfahren anwenden.
Nach einer Behandlung mit Hormonen entnimmt man den Eierstöcken der Frau reife Eizellen. Das macht man durch eine Bauchspiegelung unter Vollnarkose oder - heute vorwiegend - mit einer Punktionsnadel, die durch die Scheide eingeführt wird. Die Eizellen bringt man in einer Nährlösung aus Blutserum und Spurenelementen mit dem männlichen Samen zusammen, der in aller Regel durch Masturbation des Ehemannes oder eines Samenspenders gewonnen wurde. Dabei muß ich die Worte „oder eines Samenspenders" eigentlich in Klammern setzen. Denn ich möchte den Samenspender und damit die sogenannte heterologe Insemination ausgeschlossen wissen.
({0})
Die Verschmelzung in der Retorte, im Reagenzglas nennt man In-vitro-Befruchtung, also Befruchtung im Glas. Die befruchteten Eizellen werden 48 bis 60 Stunden im Brutschrank aufbewahrt. In dieser Zeit findet eine zweifache Zellteilung statt. Aus Eizelle und Samenzelle wird der Embryo.
Inzwischen ist die Gebärmutter der Frau nun auch mit Hormonen angereichert worden. Nun wird der Embryo in die so vorbereitete Gebärmutter eingepflanzt. In 15 bis 25 % aller Fälle kommt es zur Nidation, zur Einnistung des Embryos, und damit zu einer Schwangerschaft.
Ich bitte sehr um Verständnis, daß ich das hier so breit dargestellt habe. Aber es lassen sich alle Grundfragen an diesem Beispiel diskutieren.
Da ist zunächst die Frage, ab wann denn nun menschliches Leben zu schützen ist. Solange sich die Entstehung menschlichen Lebens im Verborgenen abspielte - man kann auch sagen: an einem gesicherten Platz - , spielte diese Frage nicht die große Rolle. Wenn ich aber das ganze Verfahren der Zeugung - oder besser: Erzeugung - menschlichen Lebens in einen Bereich verlege, der einsehbar ist und in dem man manipulieren kann, so muß der Schutz des Lebens von Anfang an gewährleistet sein.
Mit dem Augenblick der Verschmelzung der Kerne von Eizelle und Samenzelle ist neues menschliches Leben gegeben. Das Geschlecht des Menschen ist festgelegt und damit wesentlicher Teil seiner Person, und die ist schätzenswert.
Deswegen können wir auch nicht zulassen, daß Embryonen zu Forschungszwecken hergestellt werden, wie das in anderen Ländern als durchaus vertretbar angesehen wird. Hier stellt sich wirklich die Frage nach dem Vorrang der Menschenwürde vor der Forschungsfreiheit.
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Auch das in der Tierzucht, besonders in der Rinderzucht, angewandte Verfahren der Mikromanipulation - Frau Däubler-Gmelin sprach vorhin davon - könnte man auf den Menschen übertragen: Man teilt einen Embryo noch im Zellstadium von acht totipotenten Zellen, läßt diese beiden Teile von zwei Muttertieren austragen und erhält völlig identische Zwillinge. Man kann auf diese Weise auch Achtlinge völlig identisch herstellen.
Unser Menschenbild verlangt, daß wir solche Entwicklungen bei Menschen von Anfang an unterbinden und alle strafrechtlichen Möglichkeiten einsetzen.
({2})
Zum Menschsein, meine Damen und Herren, gehören Werden und Sterben, Schönheit und Häßlichkeit, Klugheit und Dummheit, Gesundheit und Krankheit. Es gibt den Menschen nach meiner Auffassung nicht mehr, wenn wir das mit Hilfe neuer Technologien, z. B. der Gentechnologie, alles änderten. Die Würde des Menschen verlangt, daß wir bereit sind, jeden als Person anzunehmen. Wenn wir auch jede vernünftige Technologie einsetzen wollen, um Krankheiten zu heilen, so dürfen diese Techniken aber nicht genutzt werden, um den Menschen als Einzelwesen in Richtung auf die Schaffung eines neuen Menschen verändern zu wollen. Deswegen möchten wir gentechnische Eingriffe in menschliche Keimbahnzellen strafrechtlich verboten wissen.
({3})
In vielen Fällen sind bei der In-vitro-Fertilisation weltweit mehr Embryonen erzeugt worden, als in die Gebärmutter einer Frau eingesetzt wurden oder eingesetzt werden konnten. Auch da hat die technische Entwicklung - wenigstens dem Anschein nach - geholfen. Samenzellen, Embryonen und wohl auch Eizellen können bei minus 196 Grad Celsius eingefroren und wahrscheinlich unbegrenzt gelagert werden. In Tiefkühltruhen in aller Welt lagern solche Embryonen tiefgefroren, also Menschen, die nach meiner Auffassung, wenn sie in Deutschland lagern, dem Schutz des Grundgesetzes unterliegen. Man kann sie vielleicht noch lange liegenlassen.
Ist dann die Frage eigentlich so unberechtigt, die ich schon einmal gestellt habe: Ist die Urenkelin einer Eizellenspenderin vielleicht eines Tages bereit, den eingelagerten Embryo auszutragen und so ihre eigene Großtante zur Welt zu bringen? Mir macht allein die Aufhebung der Generationen schon große Sorge, von anderen Problemen ganz zu schweigen.
({4})
Am sichersten ist es, die Konservierung von Embryonen grundsätzlich zu verbieten.
({5})
Jede Form der künstlichen Befruchtung darf nur als letzte medizinische Maßnahme zur Behandlung einer Sterilität zugelassen werden. Deswegen muß dafür gesorgt werden, daß diese Tätigkeit einem Arzt vorbehalten wird. Eine In-vitro-Befruchtung darf nur in dafür besonders zugelassenen Einrichtungen vorgenommen werden.
Es gibt in der CDU und CSU Vorbehalte gegen die In-vitro-Fertilisation. Sie wird aber von den meisten noch eher für vertretbar angesehen als die heterologe Insemination, d. h. die Herbeiziehung eines Samenspenders. Wir wissen um die Schwierigkeit eines Verbotes der heterologen Insemination, weil in fast allen Nachbarstaaten diese Frage anders gesehen wird. Viele zivilrechtlich zu klärenden Probleme können bei einem Verbot bei uns leichter geklärt und gelöst werden.
Ich stelle fest, meine Damen und Herren, daß ich nur in der Lage war, einige Einzelfälle aufzuzeigen und zu versuchen, sie in einen Zusammenhang zu bringen. Frau Professor Männle, Herr Dr. Voigt und Herr Geis werden andere Aspekte ansprechen oder auf Einzelheiten vertieft eingehen.
Die neuen technischen Möglichkeiten stellen neue Fragen an unser ethisches Handeln. Wir müssen uns auf das besinnen, was den Menschen ausmacht. Das ist sicher mehr als die Summe von Eizelle und Samenzelle oder die Summe der Genbausteine.
({6})
Die neuen medizinischen Möglichkeiten können eine Hilfe für viele Menschen werden. Sie können aber auch der Manipulation am Menschen Tür und Tor öffnen.
Ich trete dennoch für eine teilweise Nutzung der neuen Verfahren ein; denn ich gehe davon aus, daß ein Unterlassen ethisch nicht immer wertvoller als ein Tun ist. Ich hoffe aber, daß ich die Grenzen für dieses Handeln deutlich genug aufzeigen konnte.
({7})
Die Grenzen sind der Schutz der Menschenwürde. Ich glaube, daß es möglich ist, nur das für den Menschen Gute zu tun.
({8})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.
Lange Zeit wurde versucht, uns vorzugaukeln, das treibende und einzige Motiv für künstliche Befruchtung sei der von Mitleid bestimmte Wunsch zur Hilfe bei Unfruchtbarkeit.
Bei Lektüre der Debattenvorlagen für heute habe ich den Eindruck, daß wir uns in einer neuen Diskussionsphase befinden; denn von dem verlogenen Schmus um das Glück der Mutter- und Elternschaft,
({0})
das die neuen Reproduktionstechniken den armen, sonst kinderlos gebliebenen Menschen bringen, ist in diesen beiden Vorlagen und auch in den bisherigen Debattenbeiträgen nicht viel zu finden.
({1})
- Ja, schon in der Debatte; Herr Seesing hat es doch probiert.
Nun ist es sicher positiv, wenn nicht mehr so viel gelogen wird.
({2})
Diese neue Sachlichkeit dokumentiert aber auch das erschreckende Ausmaß der Akzeptanz und Selbstverständlichkeit, mit der die neuen Reproduktionstechnologien ihren gesellschaftlichen Durchbruch bereits erreicht haben. Die Befürworterinnen haben das Lügengesülze nicht mehr nötig.
({3})
Sie haben ihr erstes Etappenziel - Akzeptanz - erreicht und können offen zum nächsten Schritt übergehen: Freie Bahn für die Neoeugenik!
Es ist kein Zufall und Indiz dafür, daß der Streit über die sogenannte Forschungsfreiheit derzeit so massiv läuft, auch wenn hier offensichtlich Konsens besteht
- bei den großen Parteien bzw. SPD und Regierung - über ein Verbot der Forschung an Embryonen. Bitte, Frau Däubler-Gmelin, erklären Sie, wie Sie Forschung verhindern wollen - einmal ganz abgesehen von dem Problem der Kontrolle - , wenn Sie künstliche Befruchtung in bestimmten Ausnahmen zulassen wollen. Es geht nicht! Das müssen Sie selber sehen und dann auch sagen. Damit ist die Bahn
für Forschung an Embryonen frei; denn sonst kann man es auch für die Ausnahmen nicht nutzen.
Beide Vorlagen unterscheiden sich in ihrem inhaltlichen Gehalt nicht. Sie sind Dokumente der wiederum nur technischen - hier: juristischen - Verwaltung der neuen Fortpflanzungstechniken. Frau Däubler-Gemlin hat es anfangs ja auch selber benannt. In dem SPD-Antrag wird die Bundesregierung aufgefordert, einen Gesetzesentwurf vorzulegen, der unter Einbeziehung des bürgerlichen Rechts, des Personenstandrechts, des Strafrechts, des Gewerberechts, des ärztlichen Berufsrechts, des Gesundheitsrechts, des Sozialversicherungsrechts, des Datenschutzrechts insbesondere mindestens folgende Festlegung enthalten soll. Hoffentlich haben Sie nicht noch irgendeinen Rechtsbereich vergessen.
({4})
- Genau. Dazu kommen wir dann ja noch.
Von den Ursachen der Unfruchtbarkeit ist - logisch - in dem SPD-Antrag überhaupt nicht die Rede. In dem Kabinettsbericht gibt es bei insgesamt 36 Seiten anderthalb Seiten Text zu den Ursachen der ungewollten Unfruchtbarkeit, die hier sogar als Massenphänomen bezeichnet wird. Anderthalb Seiten für ein Massenphänomen!
Wo werden die Ursachen vor allen Dingen gesehen? Ich zitiere:
Das fein abgewogene hormonelle Wechselspiel ist störanfällig. Lebensweise, Ernährungsfaktoren, Über- und Untergewicht,
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aber auch Arbeitssituationen können unmittelbar oder mittelbar die biologische Reservekapazität der Fortpflanzungsorgane überfordern.
Ein weiteres Zitat:
Körperliche wie seelische Krankheiten, Medikamenteneinnahme, Alkohol und Nikotin wie auch
- ziemlich zu vernachlässigen Dauerbelastung und Überforderung können die Fortpflanzungsfähigkeit von Mann und Frau vorübergehend oder auch dauernd schädigen.
({6})
Von Chemie, von atomarer Verseuchung ist überhaupt nicht die Rede. Von Arbeitsplätzen, von Arbeitsschutz - einem Stiefkind, wie wir auch vor zwei Tagen in der Anhörung hören konnten - ist überhaupt nicht die Rede.
({7})
Dann ist es auch nur konsequent - Frau Süssmuth ist anwesend - , wenn Sie in der Kurzfassung in Ihrem Pressedienst, wenn Sie darauf eingehen, was im Sinne von Prävention und Ursachenforschung zu tun ist, von der Stärkung der Eigenverantwortung sprechen. Wer unfruchtbar ist, ist selber schuld und hat gefälligst erst
einmal selbst zu gucken, er oder sie. Das macht mich deshalb so böse, weil Sie, Frau Süssmuth, ja nun an frauenpolitischen Debatten beteiligt sind
({8})
- ja, da bin ich auch verbissen, zu Recht, wie ich meine - und wissen müßten - ich denke, Sie wissen es auch - , daß von Eigenverantwortung, von einer eigenen Entscheidung in diesem Zusammenhang gar nicht mehr die Rede sein kann.
Die Zuständigkeiten der Medizin haben sich derart erweitert, daß die künstliche Befruchtung jetzt am Beginn des Lebens steht oder demnächst stehen wird. Vorgeburtliche Diagnostik, Operationen am Fötus sowie eine ärztlich verwaltete Geburt haben wir bereits. Am Ende des Lebens wartet die Intensivstation. So sind normale Lebensereignisse unter die Kontrolle der Medizin geraten. Nur, niemand kontrolliert die Medizin.
Das heißt: Eigenverantwortung, Eigenentscheidung ist für uns alle in diesen Bereichen schon gar nicht mehr möglich. Regierungsparteien und SPD wollen diese Fremdbestimmung darüber hinaus noch weiter an Ärzte delegieren. Diese sollen jetzt nach beiden Vorlagen über das Wohl des Kindes entscheiden, das noch zu erzeugen oder im Reagenzglas herzustellen ist. Sie wollen das Wohl des Kindes in die Hände von Ärzten legen. Von Psychologen, Sozialpädagogen reden Sie gar nicht, aber da will ich es auch nicht hingeben. Dabei wissen Sie, wie schwierig es ist, das Wohl des Kindes - eines Kindes, das wir kennen, das wir in seiner Lebenswelt, in seiner Familie, in seiner Umgebung erleben - zu beurteilen. Auch dies wollen Sie wieder an nur technische Experten delegieren. Nur so macht die Forderung, die in beiden Vorlagen enthalten ist, einen Sinn.
({9})
Die Enteignung der Körper von Frauen und Männern im Zusammenhang mit künstlicher Befruchtung, mit den neuen Fortpflanzungstechniken schreitet voran. Die eigentliche Zielsetzung wird, wie ich am Anfang sagte, auch immer unverhohlener zugegeben, obwohl sie uns seit Jahren bekannt ist. Ich zitiere nach Gena Corea, zwei amerikanischen Wissenschaftlern - das sind Äußerungen, die schon aus dem Jahre 1976 stammen - , von Karp und Donahue:
Deshalb könnten sich die In-vitro-Befruchtung und die Züchtung von Embryonen zur bevorzugten Reproduktionsmethode entwickeln, wobei nur genetisch gesunde Embryonen in den Uterus eingepflanzt werden. So könnte hinsichtlich der Verhinderung eines Großteils der allzu häufig auftretenden schweren Geburtsfehler erhebliche Fortschritte erzielt werden.
Zweites Zitat:
Unbegrenzter Zugang zu einer staatlich regulierten Abtreibung in Verbindung mit den gegenwärtig perfektionierten Techniken zur Entdekkung von Chromosomenanomalien wird uns von
einigen Prozent aller Geburten befreien, die
heute unkontrollierbare Defekte darstellen.
({10})
Kein Elternpaar wird in dieser Zukunft das Recht haben, die Gesellschaft mit einem mißgestalteten oder geistig unfähigen Kind zu belasten.
Das Zitat stammt von dem US-amerikanischen Genetiker Bentley Claas, auch bereits von 1971. Das hat er bei seiner Abschiedsrede geäußert, als er den Vorsitz der amerikanischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft abgab.
Wenn dann eine Journalistin zu dem Ergebnis kommt, daß aus der Fortpflanzungstechnologie die Fortpflanzungsdiktatur werden kann, hat sie recht, schlicht und ergreifend recht, so dramatisch ist das Ganze bereits.
Lassen Sie mich deshalb klar sagen: Wir werden ja beide Vorlagen weiter beraten. Wir haben, nicht zufällig, eine Große Anfrage zu Ursachen, Prävention und Behandlung der Unfruchtbarkeit eingereicht, für deren Beantwortung die zuständigen Ministerien, bisher jedenfalls, mindestens neun Monate brauchen.
({11})
- Ja.
Diese Anfrage haben wir gestellt, um vor allen Dingen zu thematisieren, uns allen bewußt zu machen, daß es nötig ist, Prävention in der Weise anzugehen, daß nach den Ursachen von Unfruchtbarkeit gesucht, geforscht wird.
({12})
Das ist ein Dunkelfeld. Da passiert so gut wie gar nichts. Das darf aber nicht in dem individuellen Sinne geschehen, wie ich vorhin Frau Süssmuth zitiert habe, nämlich: Ich bin krank, meine Fortpflanzungsorgane sind krank - in Zukunft werden es sowieso die Gene sein, weil ja auch Krebs dann als genetisch bedingt und nicht mehr mit den Umweltfaktoren zusammenhängend angesehen wird. Diese Forschung ist erforderlich, um überhaupt erst mal klären, abschätzen zu können, welchen Sinn solche Fortpflanzungstechniken für die haben, für die sie angeblich gedacht sind.
({13})
Meine Position ist ganz klar: Verbote werden da nicht viel helfen. Da kommen wir mit dem Strafrecht nicht so schrecklich viel weiter, denn da gibt es Widersprüche, die auch Sie in Ihren eigenen Vorlagen haben. Es muß eine öffentliche Debatte, es muß Aufklärung stattfinden, es müssen Alternativen erforscht, entwickelt werden, um diese Entscheidungsfreiheit für uns alle überhaupt erst herzustellen. Die ist zur Zeit ja überhaupt nicht gegeben, weil, nicht zufällig, sondern bewußt, politisch gewollt, genau diese Alternativen vernachlässigt werden, keinen Stellenwert haben.
({14})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Chancen und Risiken neuer Methoden der künstlichen Befruchtung und bei Eingriffen in menschliche Keimzellen werden uns als Gesetzgeber in den nächsten Jahren intensiv zu beschäftigen haben. Es wird eines, wie ich meine, der wichtigsten Gesetzesvorhaben dieser Legislaturperiode sein und wird im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion stehen. Kaum ein Gesetz dieser Legislaturperiode wird sich so mit ethischen, moralischen, religiösen Fragen zu beschäftigen haben wie die gesetzliche Regelung zur künstlichen Befruchtung beim Menschen.
Schon in den letzten Jahren haben sich die Kirchen, Juristenvereinigungen, Verbände und auch die Parteien geäußert und auf Ängste, aber auch auf Hoffnungen hinsichtlich der Fortpflanzungsmedizin hingewiesen.
Zur Klärung der mit den neuen Methoden verbundenen ethischen und rechtlichen Fragen hat die Bundesregierung frühzeitig die sogenannte Benda-Kommission eingesetzt und vor zwei Jahren einen Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutz vom Embryonen vorgelegt. Die vom Bundesjustizminister eingesetzte Bund-Länder-Gruppe hat im November 1987 einen Zwischenbericht über die nach ihrer Ansicht erforderlichen materiellen Regelungen vorgelegt.
Meine Fraktion begrüßt, daß wir heute im Bundestag die Chancen und Risiken der Anwendung neuer Methoden der künstlichen Befruchtung diskutieren und anschließend die Anträge vertieft in den Ausschüssen beraten werden. Diese vertiefende Beratung ist angesichts der zahlreichen Möglichkeiten und auch ethischen und moralischen Fragen notwendig. Das Recht hat sich nicht danach zu richten, was technisch machbar ist, sondern muß sich an Grundsätzen und Wertentscheidungen des Grundgesetzes zum Schutze der Würde des Menschen, des Lebens sowie von Ehe und Familie orientieren. Der Gesetzgeber hat dabei auch die sich wandelnden Wertvorstellungen der Bevölkerung zu berücksichtigen.
({0})
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage?
Bitte sehr.
Herr Kollege, sind Sie nicht auch der Meinung, daß ein Embryonenschutzgesetz den Eindruck erweckt, man könnte eine Sicherheit erreichen, einen Mißbrauch ausschließen? Denken Sie beispielsweise daran, daß man versucht, den Atommüll durch Gesetze, durch Vorschriften abzusichern, zu regeln, und es nicht einmal da gelingt, Kontrollen durchzuführen. Wieviel weniger ist es möglich, das in einem Labor zu machen? Glauben Sie wirklich, daß ein Gesetz diese - angebliche - Sicherheit bringt?
Eine hundertprozentige Sicherheit, Frau Kollegin, daß jemand nicht gegen Strafvorschriften verstößt, haben wir leider nicht. Sonst brauchten wir die Strafgesetze vielleicht nicht. Aber wir müssen für die Forscher, für die Mediziner gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen, damit entsprechende Regelungen möglich sind.
({0})
Frau Kollegin! - Herr Abgeordneter, fahren Sie fort.
Die FDP teilt die Auffassung, daß noch in dieser Legislaturperiode die gesetzlichen Grundlagen zur künstlichen Befruchtung beim Menschen geschaffen werden müssen. So ist das Embryonenschutzgesetz möglichst zügig noch in diesem Jahr vorzulegen, nachdem es auf Grund der Empfehlungen der Bund-Länder-Gruppe überarbeitet worden ist. Dabei hat sich das Gesetz daran zu orientieren, daß bereits mit Abschluß der Befruchtung, d. h. mit der Kernverschmelzung innerhalb der befruchteten Eizelle menschliches Leben besteht, das gesetzlich besonders geschützt werden muß. Das Embryonenschutzgesetz wird dabei zwischen der Forschungsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 des Grundgesetzes und den allgemeinen Wertentscheidungen des Grundgesetzes abzuwägen haben. So wäre es mit Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren, wenn zu Forschungszwecken gezielt Embryonen erzeugt oder sonstwie fremdnützig verwendet würden. Strafrechtlich wäre zu prüfen, ob nach dem Entwurf des Embryonenschutzgesetzes Eingriffe an extrakorporal befruchteten menschlichen Eizellen verboten werden sollen, soweit dadurch der spätere Embryotransfer zwar nicht ausgeschlossen, wohl aber die weitere Entwicklung des Embryos gefährdet werden könnte.
Ich weiß, daß diese Frage in der Wissenschaft, in der Forschung umstritten sein könnte, weil durch ein Verbot auch die Ausschaltung schwerster Erbleiden verhindert werden könnte. Auf der anderen Seite sind die Gefahren des Mißbrauchs zur Menschenzüchtung nicht zu übersehen. Diese möglichen entgegenstehenden Interessen müssen vom Gesetzgeber noch sorgfältig abgewogen werden, auch unter Berücksichtigung der internationalen Forschung und der medizinischen Entwicklung.
Die bereits heute schon möglichen Manipulationen in der Bestimmung der Nachkommenschaft durch Spermienselektion, also die vorzeitige Bestimmung des Geschlechts des künftigen Kindes, sollte ebenfalls verboten werden, soweit die Spermienselektion nicht dazu dient, eine schwerwiegende Erbkrankheit zu vermeiden.
Einig sind sich alle Parteien des Bundestages sicherlich auch darin, daß eine gezielte Zeugung genetisch identischer Menschen, also Klonen, sowie die Zeugung von Chimären und Hybridwesen verboten werden sollten. Darauf ist bereits hingewiesen worden.
Ein weiteres Thema wird uns als Gesetzgeber zu beschäftigen haben, nämlich das Verbot der Ersatzmuttervermittlung und Ersatzmutterschaft, ein Thema, das in der Öffentlichkeit breit diskutiert worden ist.
Wir Liberalen treten dafür ein, daß beim Adoptionsvermittlungsgesetz ein strafbewehrtes Verbot der
kommerziellen Vermittlung von Ersatzmüttern vorgesehen wird. Wir lehnen es jedoch ab, das Verhalten der Ersatzmutter und der sogenannten Wunscheltern unter Strafe zu stellen.
({0})
Wir sind insoweit in Übereinstimmung mit den Forderungen des 56. Deutschen Juristentages und der 57. Justizministerkonferenz, die auch ein Verbot der Vermittlung von Ersatzmüttern gefordert hat.
Gegen die Pönalisierung der unmittelbar Beteiligten sprechen folgende Argumente. Erstens. Ersatzmutterschaftsvereinbarungen entfalten keine zivilrechtlichen Wirkungen. Das angestrebte Ziel, die Herstellung einer Eltern/Kind-Beziehung zwischen Wunscheltern und Kind, ist nur im Wege der Adoption oder Legitimation zu erreichen. Die Rechtsprechung hält im übrigen die Vereinbarung über Ersatzmutterschaften für sittenwidrig und damit für nichtig. Zweitens. Dem Kindeswohl wird durch eine Strafbarkeit der unmittelbar Beteiligten eher geschadet als gedient.
Umstritten ist die Frage, ob die heterologe Insemination mit einem generellen strafrechtlichen Verbot versehen werden soll. Der Kollege Seesing hat hier schon sehr ausführlich berichtet. Eine solche künstliche Befruchtung ist unseres Erachtens zulässig, wenn die medizinische Unfruchtbarkeit eines oder beider Partner auf anderem Wege nicht überwunden werden kann und nur auf diesem Weg der Wunsch des Paares nach einem Kind erfüllt werden kann. Dabei muß das Kindeswohl selbstverständlich besonders berücksichtigt werden. Ich habe Zweifel, ob eine Pönalisierung der heterologen Insemination zweckmäßig ist; auch wenn man bedenkt, daß eine betroffene Partnerschaft dem deutschen Strafgesetz durch ein Ausweichen ins Ausland ohne weiteres entgehen kann. Maßstab bei der Abwägung des Verbots der heterologen Insemination ist das Wohl des Kindes, die Würde und die Persönlichkeit der Beteiligten und der Schutz von Ehe und Familie.
Neben der strafrechtlichen Regelung bei der künstlichen Befruchtung beim Menschen müssen auch die zivilrechtlichen Folgerungen bedacht werden. Bei der homologen künstlichen Befruchtung ergeben sich keine gesetzlichen Schlußfolgerungen, da sie genetischen Eltern auch die nach dem Gesetz verantwortlichen Eltern sind. Anders verhält es sich bei der künstlichen Befruchtung im heterologen System, also unter der Verwendung der Keimzellen Dritter. Eine Klarstellung sollte im Gesetz erfolgen, daß die gebärende Mutter auch die gesetzliche Mutter ist. Dies gilt auch für den Fall, daß ein Kind durch die Eispende einer Dritten gezeugt wurde.
Im Hinblick darauf, daß eine heterologe Insemination nur dann zulässig sein sollte, wenn der Ehemann und gegebenenfalls der Partner der künstlichen Befruchtung durch notarielle Einwilligungserklärung zustimmt, sollte die Rechtsfolge sein, daß der Ehemann bzw. Partner der gesetzliche Vater sein soll und nicht der genetische Vater. Mit dieser notariellen Einwilligungserklärung erklärt der Ehepartner ja gleichzeitig, daß er auf das Anfechtungsrecht verzichtet und er die Verantwortung wie ein leiblicher Vater übernehmen will. Damit sind meines Erachtens auch die Schlußfolgerungen nach dem Familien- und dem Erbrecht gegeben.
Dies soll jedoch nicht zur Anonymität der genetischen Herkunft des Kindes führen. Das Kind sollte Anspruch haben, zu wissen, wer sein genetischer Vater ist. Diese genetische Herkunft muß dokumentiert und gesichert werden. Es muß sichergestellt werden, daß das Kind diesen Anspruch geltend machen kann, aber nicht muß.
Ich bin mir bewußt, daß die künstliche Befruchtung beim Menschen uns alle vor schwierige gesetzliche, moralische, ethische und gesellschaftliche Probleme stellt. Dies sind gar nicht so sehr parteipolitische oder ideologische Fragestellungen, sondern grundsätzliche, nämlich moralische und ethische, Fragen, die die Grundlagen unseres Rechts und unserer Gesellschaft berühren.
Ich bin sicher, daß jeder von uns mit großer Verantwortung an diese Fragen herangehen will. Diese Probleme sollten sich dem Parteienstreit entziehen, und sie werden uns deutlich machen, daß nicht alles, was technisch möglich ist, auch erlaubt sein kann.
Ich bitte die Bundesregierung, möglichst bald einen entsprechenden Gesetzentwurf vorzulegen, damit wir hinreichend Zeit haben, in dieser Legislaturperiode diese Fragen miteinander zu beraten und in den Ausschüssen intensiv zu erörtern. Ich meine, daß diese Vorlagen sowohl die strafrechtlichen als auch die zivilrechtlichen Aspekte berühren sollten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Hans Engelhard.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der generellen Aufforderung an die Bundesregierung, wie es zuweilen in der Vergangenheit geschehen ist, die schwierigen Fragen der Fortpflanzungsmedizin endlich anzupakken, bedarf es nicht. Denn wir können für uns in Anspruch nehmen, überhaupt als erste Bundesregierung diesen Fragen die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben.
Schon im Mai 1984 hatten Herr Kollege Riesenhuber und ich die sogenannte Benda-Kommission nach den dazu erforderlichen, nicht einfachen Vorarbeiten eingesetzt. Die Benda-Kommission erstattete ihren umfassenden Bericht im November 1985.
Darauf aufbauend habe ich dann bereits im April 1986 den ersten Diskussionsentwurf eines Gesetzes zum Schutze von Embryonen vorgelegt.
({0})
Schon in diesem Diskussionsentwurf habe ich eine Reihe von strafrechtlichen Verboten für Manipulationen vorgeschlagen, die der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion lediglich mit dem die rechtliche Konse4298
quenz letztlich offenlassenden Begriff „unzulässig" versehen hat.
({1})
- Ich lege, Frau Kollegin, Wert darauf, wenn Vorwürfe erhoben werden, hier werde etwas versäumt
- das ist heute in dieser Debatte erfreulicherweise nicht geschehen - , darzustellen, was in der Vergangenheit und wie stark konkretisiert geschehen ist.
({2})
Ab Herbst 1986 tagte dann die aus Juristen und Medizinern zusammengesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe, die den gesamten staatlichen Handlungsbedarf auf dem Gebiet der Fortpflanzungsmedizin erarbeiten und Regelungsvorschläge für den Bund wie die Länder vorlegen sollte.
Der Zwischenbericht vom November vergangenen Jahres enthält in allen Einzelfragen, die jetzt auch Gegenstand Ihres Entschließungsantrages sind, konkrete Empfehlungen. Die Beratungen dieser Arbeitsgruppe sind derzeit noch nicht abgeschlossen. Doch hielt es die Bundesregierung angesichts der Bedeutung des Themas bereits jetzt für geboten, die Richtung festzulegen, in der die wesentlichen Fragen der Fortpflanzungsmedizin aus ihrer Sicht gelöst werden sollten.
Am 10. Februar hat deshalb das Kabinett einen von mir gemeinsam mit Frau Kollegin Süssmuth und Herrn Kollegen Riesenhuber erstellten Bericht beraten und verabschiedet. Die Bundesregierung hat darin vor allem die Grenzen aufgezeigt, die der rasanten technischen Entwicklung im Bereich der Fortpflanzungsmedizin gesetzt werden müssen. In-vitroFertilisation, Samen-, Ei-, Embryonenspende und Gentransfer sind ja nur einige wenige Stichworte für die Probleme, die hier behandelt sind.
Es bleibt als Fazit dieses Berichtes festzuhalten: Wir lassen die in den neuen Technologien liegende Chance, krankheitsbedingte Kinderlosigkeit zu überwinden, nicht außer acht, aber bei allen Regelungen müssen eindeutig die Würde des Menschen und der Schutz des Lebens im Vordergrund stehen.
({3})
Es wird im Rahmen dieser Debatte von verschiedener Seite noch einmal mit der gebotenen Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, daß sich ein unlösbarer Konflikt mit der in Art. 5 unserer Verfassung garantierten Forschungsfreiheit nicht ergibt, mit einer Forschungsfreiheit, die nicht unter Gesetzesvorbehalt steht, die aber ihre Grenze dort findet, wo höherrangige Güter und Garantien unserer Verfassung mit ihr in Konflikt geraten.
Meine Damen und Herren, wir müssen der Vorstellung entgegenwirken, daß die Entwicklungen in der Fortpflanzungsmedizin und beim Eingriff in menschliche Keimbahnzellen gleichsam Wundermittel zur Lösung von Problemen in unserer Gesellschaft darstellen. Die künstliche Fortpflanzung ist kein Instrument der Familienplanung. Sie darf nicht unkritisch angewandt werden, da sie kaum übersehbare Risiken für das Kind wie für die Mutter mit sich bringt. Daß der Mensch eines fernen Tages durch den Eingriff in Keimbahnzellen vielleicht Erbkrankheiten besiegen kann, ist heute Zukunftsmusik; aber es steht die Vision drohend vor uns, daß solche Manipulationen zum Mittel der Menschenzüchtung werden könnten.
({4})
Wir insbesondere schlagen vor, strafbewehrt zu verbieten: den Gentransfer in menschliche Keimbahnzellen, die gezielte Erzeugung von Embryonen zu Forschungszwecken sowie jede Forschung an menschlichen Embryonen, die zu deren Vernichtung oder Schädigung führen kann; ferner gezielte Maßnahmen zur Geschlechtswahl bei künstlicher Befruchtung, die gezielte Erzeugung genetisch identischer Menschen sowie die Erzeugung von Chimären und Hybridwesen aus Mensch und Tier.
Es ist die Frage aufgetaucht, wann seitens der Bundesregierung der allgemein vorhandene Wunsch, zu gesetzlichen Regelungen zu kommen, erfüllt wird. Wie ich bereits sagte, sind die Arbeiten der BundLänder-Arbeitsgruppen noch nicht abgeschlossen, aber der Zeitpunkt ist nahe herangekommen. Ich kann ankündigen: Zu einem sehr bald möglichen Zeitpunkt wird ein Entwurf vorgelegt werden, der dann als Regierungsentwurf Gegenstand der Beratungen sein wird.
Dasselbe gilt im übrigen in einer anderen Frage - aber Frau Kollegin Professor Süssmuth wird ja noch Gelegenheit haben, hier selber dazu Stellung zu nehmen - , in der Frage der Ersatzmutterschaft. Auch hier soll in Kürze ein Gesetzentwurf vorgelegt werden. Jede Form der Ersatzmutterschaft ist, so sage ich, abzulehnen. Die Methoden der künstlichen Befruchtung dürfen Frauen nicht zu angemieteten Gebärmaschinen degradieren. Daher muß die kommerzielle, aber auch, so betone ich, die nichtkommerzielle Vermittlung von Ersatzmüttern strafrechtlich verboten werden. Dasselbe gilt für Anzeigen, in denen Ersatzmütter gesucht oder die Dienste einer Ersatzmutter angeboten werden.
Es ist, wie Sie wissen, die Frage noch nicht vollständig ausdiskutiert, ob die heterologe Insemination, also die Samenspende eines Dritten, bei Ehepaaren verboten werden sollte. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat sich mehrheitlich gegen ein generelles Verbot ausgesprochen, hat jedoch enge Voraussetzungen für die Zulässigkeit vorgeschlagen. Hier muß nun, so meine ich, zwischen dem starken Wunsch von Ehepaaren nach einem wenigstens einseitig genetisch verwandten Kind und den Gefahren für das Kindeswohl wie auch - das sollte man nicht vergessen - für den Bestand der Ehe weiter abgewogen werden.
Ebenfalls noch nicht zu Ende gedacht ist die Frage der künstlichen Befruchtung bei nicht verheirateten Paaren. Die Bund-Länder-Arbeitsgruppe ist der Auffassung, daß eine künstliche Befruchtung mit dem Samen des Partners nicht verboten werden sollte, wenn die Stabilität einer solchen Verbindung und
eine gedeihliche Entwicklung des gewünschten Kindes gewährleistet erscheinen. Bei den weiteren Überlegungen wird man der Frage des Kindeswohls besondere Aufmerksamkeit zuwenden müssen.
Ich sage, weil wir uns in der Diskussion häufig auch mit den Entwicklungen im Ausland zu beschäftigen haben: Ich bin der Auffassung, daß es nicht unsere Aufgabe sein kann, dies aufmerksam zu verfolgen, um es anschließend abzuschreiben, abzukupfern oder wie immer Sie wollen. Wir müssen den uns richtig erscheinenden Weg gehen. Nur müssen wir wissen - jeder weiß es - , daß dieses Land keine abgeschiedene, nicht erreichbare Insel ist, und deswegen ist es schon unter diesem Gesichtspunkt von großer Bedeutung, was im Ausland an gesetzlichen Regelungen getroffen ist. Ich sage für meine Person sehr deutlich: Wären wir jene Insel, wären Rücksichten solcher Art nicht zu nehmen. Ich wäre in jedem Falle für die restriktivsten Lösungen, die überhaupt in Erwägung gezogen werden können.
Meine Damen und Herren, was auch immer künftig erlaubt und verboten sein wird, schon wegen - ich wiederhole es - der möglicherweise davon abweichenden Rechtssituation im Ausland muß der Gesetzgeber in jedem Falle - das ist dann ein dritter Punkt der Gesetzgebung - eine eindeutige Antwort auf eine Frage geben, die sich durch die Jahrtausende nicht gestellt hat oder jedenfalls eine sehr einfache und klare Antwort gefunden hat, nämlich die Frage: Wer ist die Mutter? Ist es die genetische oder die biologische Mutter? Wir haben uns mit guten Gründen für die Frau entschieden, die das Kind zur Welt bringt, also die biologische Mutter. Eine gespaltene Mutterschaft darf es nicht geben, und mit dieser Klarstellung wird im übrigen auch dem Phänomen der Ersatzmutterschaft wiederum eine ganz deutliche Absage erteilt.
Meine Damen und Herren, wir stehen bei der Fortpflanzungsmedizin vor Entscheidungen, die weit in die Zukunft reichen. Tagespolitischer Streit, aber auch kurzatmige Gesetzgebungshektik sind hier so unangebracht wie kaum bei einem anderen Thema. Die viel beschworene Verantwortung für zukünftige Generationen hat hier ein ganz besonderes Gewicht. Ich meine, lassen Sie uns diese Verantwortung gemeinsam wahrnehmen!
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Conrad.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß die Politik der Technologieentwicklung hinterherhinkt, ist nichts Neues, und daraus würden wir der Bundesregierung eigentlich auch überhaupt keinen Vorwurf machen. Aber daß sich neun Jahre nach dem ersten Retortenkind die gesamte Reproduktionsmedizin, die Forschung in diesem Bereich, das Problem der Leihmutterschaft in einem rechtsfreien Raum entwickeln konnten, kann nicht mehr allein nur mit der Schwierigkeit der Materie entschuldigt werden.
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Ich kann auch nicht sagen, daß mir die bisherige Debatte, soweit ich sie verfolgen konnte, mehr Klarheit über das hinaus gegeben hat, was uns in dem Kabinettsbericht vorgelegt worden ist. Ich weiß nicht, was Sie nun wirklich tun wollen, um etwas zu verhindern, was Sie - wie Sie formuliert haben - verhindern wollen.
In meinem Beitrag will ich im wesentlichen auf die sogenannte Reagenzglasbefruchtung eingehen. Mit dieser Methode kann einerseits einigen wenigen Paaren im Falle von Sterilität geholfen werden. Wir tun alle gut daran, diesen Wunsch nach Hilfe ernst zu nehmen. Aber ich sage von dieser Stelle aus an die Paare gerichtet, die sich sehnlich ein Kind wünschen: Es kann auch ihnen nicht gleichgültig sein, welche Mißbrauchs- und Manipulationsmöglichkeiten diese Methode bietet, ob das so gezeugte Kind Schaden nehmen kann, was mit den Paaren passiert, denen nicht geholfen werden kann.
In der Kabinettsvorlage heißt es zu Recht, daß diese Methoden der Fortpflanzungsmedizin in ihren Erfolgsaussichten vielfach überbewertet werden. Im Klartext: Zwischen 75 und 90 %, d. h. in der Regel ist die In-vitro-Fertilisation erfolglos. Würde sie nach strengen Regeln eingesetzt, nämlich bei eileiterbedingter Sterilität - für die sie ja einmal angeboten worden ist - , die nicht anders zu beheben ist - , darauf kommt es eben an; ich vermisse gerade diesen wichtigen Nebensatz im Kabinettspapier gegenüber den Empfehlungen der Bund-Länder-Kommission -, dann käme sie bei 10 bis 15 % aller Paare in Betracht, also ebenfalls in der Regel nicht. Aber sie wird weit über diese Sterilitätsfälle hinaus - einschließlich der Fruchtbarkeitsstörungen des Mannes - an der Frau probiert. Kein Wunder, daß Edwards, der medizinische Vater des ersten Retortenbabys glaubt, daß diese Methode für 50 % aller Fälle geeignet ist.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nur dann, wenn sie meiner Redezeit nicht angerechnet wird.
Das werde ich nicht tun.
Frau Kollegin, Sie haben wiederholt die Formulierung „Paare" gebraucht. Würden Sie uns bitte sagen, was Sie darunter verstehen? Verstehen Sie darunter eheliches Paar, außereheliches Paar, eheliche Partnerschaft, eheähnliche Partnerschaft, oder was verstehen Sie darunter? Bitte, geben Sie uns Auskunft.
Gern, Herr Kollege Geis. In Verbindung mit künstlichen Befruchtungsmethoden sollten wir, denke ich, zuerst darauf achten, was mit dem Kind passiert. Wir sollten das Wohl des Kindes in den Mittelpunkt stellen. Deswegen werde ich Paare nicht so definieren, wie Sie das vielleicht gerne hätten, nämlich beschränken auf die Ehe, sondern Paare so definieren, daß man - wenn überhaupt - diese Methode denen ermöglichen sollte, bei denen gewährleistet ist, daß das Kind bei den Eltern aufwächst.
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Der Abgeordnete Catenhusen wünscht auch, eine Zwischenfrage zu stellen.
Gern.
Frau Kollegin Conrad, können Sie als Ärztin bestätigen, daß Paare, die zu einer solchen Behandlung kommen wollen, in der Regel viele Jahre lang mit verschiedenen medizinischen Methoden versucht haben, sich den Kinderwunsch zu erfüllen, so daß die Vorstellung abwegig ist, daß sich sozusagen zufällige Bekanntschaften auf den Weg zu einer Retortenbefruchtung machen könnten?
Herr Kollege Catenhusen, Sie haben natürlich vollkommen recht. Gerade die Invitro-Befruchtung ist natürlich in sich eine langfristige Methode, die es einfach erforderlich macht, daß sich Paare vollkommen aufeinander abstimmen.
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- Frau Schmidt-Bott, genau auf diesese Problem - wenn Sie mir weiter zuhören wollen - werde ich noch zu sprechen kommen.
Bereits 1987 erklärte Professor Jacques Testart, Biologe, dessen Labor in Frankreich zu den ersten Adressen der In-vitro-Befruchtung gehörte, daß das Vorliegen von Störungen der Eileiter nur noch zu 60 % den Grund für eine sogenannte Retortenbefruchtung darstellt. Ich bin nicht sicher, ob einige Praxen und Kliniken in der Bundesrepublik noch auf diese Zahl kommen.
Die Erfahrung lehrt, daß Machbares auch gemacht wird, auch zu Lasten von sauberer Diagnostik und gebotener Zurückhaltung. Die Bundesregierung weiß nicht, wie viele Paare in der Bundesrepublik auf natürlichem Wege schwanger geworden sind, während sie schon auf den Wartelisten für die In-vitro-Befruchtung standen. In Frankreich waren es an einer einzigen Klinik bereits 50 Paare bis 1987. Warum sollte das in der Bundesrepublik anders sein?
Wir haben deswegen in unserem Antrag eine Eingrenzung für die Anwendung formuliert: wenn überhaupt, dann nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen, beispielsweise eileiterbedingter Sterilität.
({1})
Es wäre eben wichtig, wenn die Bundesregierung sagen würde, in welchen Fällen sie die In-vitro-Befruchtung zulassen will: zur Schadensbegrenzung und zum Schutz der Frauen.
({2})
Es handelt sich ja nicht - dieser Meinung sind Sie auch - um eine x-beliebige Methode. Sie stößt auf ethische und moralische Bedenken, und nicht nur die Kirchen haben sich kritisch hierzu geäußert. Es ist eine Methode, die nicht unbedingt die Würde der Frau, aber auch nicht die des beteiligten Partners achtet.
({3})
Von den Prozeduren, die vor allem Frauen durchmachen müssen, ist selten die Rede: den Schmerzen, den Ängsten, der totalen Unterwerfung unter die medizinische Planung, der Beobachtung, dem Erfolgszwang, den Hoffnungen und deren Zerstörung, die Gena Corea als Teufelskreis beschrieben hat - ich zitiere - :
Hoffnung ({4}) und Enttäuschung ({5}); Hoffnung ({6}) und Enttäuschung ({7}); Hoffnung ({8}) und Enttäuschung ({9}); Hoffnung ({10}) und Enttäuschung ({11}).
Die Wirklichkeit ist eben weniger sympathisch, als die Medien dies darstellen: mit den Bildern des Medizinerteams bei der Geburt „ihres" Babys, vielleicht noch mit dem Vater, derweil die Mutter noch in der Narkose des Kaiserschnitts liegt - eine häufige Geburtsmethode für In-vitro-Kinder. Aber die überwältigende Mehrheit der Frauen gelangt gar nicht bis an dieses Ziel, trotz durchschnittlich fünf bis sechs Versuchen. Sie werden nicht selten brutal als „Totalversagerinnen" bezeichnet. Das Schlimme ist: Sie empfinden sich in ihrem zerstörten Selbstwertgefühl auch so. Diesen Frauen, diesen Paaren müßte eigentlich geholfen werden.
({12})
Ungewollte Kinderlosigkeit wird vielfach als Makel angesehen. Dahinter steht auch ein gesellschaftlicher Druck, dem besonders Frauen ausgesetzt sind. Deswegen führt Sterilität vielfach zu neurotischer Verarbeitung des Kinderwunsches und erklärt, wieso Frauen nach einem Kind fast um jeden Preis verlangen. Der Kinderwunsch ist immer abhängig von dem politischen und gesellschaftlichen Klima, in dem er entsteht. Das Leitbild für ein erfülltes Leben darf aber nicht vom eigenen Kind abhängig sein. Und dazu hat die Politik ihren Beitrag zu leisten.
({13})
Die Möglichkeiten der neuen Fortpflanzungstechniken werden den gesellschaftlichen Zwang gegenüber Frauen erhöhen, ihre Gebärfunktion ausüben zu sollen. Wenn gegenüber dieser Tendenz die Freiheit, auch keine Kinder bekommen zu dürfen, nicht gewahrt werden kann, dann ist dies ein hoher, fast zu hoher Preis dafür, einigen ungewollt Kinderlosen helfen zu können.
Zur Zeit findet ein vorrangiger Ausbau der Gynäkologie im Bereich der In-vitro-Befruchtung statt. Dies wird aber den Problemen der Sterilitätsdiagnostik und -therapie nicht gerecht. Sie vernachlässigt nicht nur das Ausschalten möglicher Ursachen eileiterbedingter Sterilität, z. B. auch die Spirale. Sie wird vor allem der überwiegenden Zahl der Paare nicht gerecht, die aus anderen Gründen unfruchtbar sind, die beispielsweise an psychogener Sterilität leiden, die bei ca. 30 bis 50 % vorliegt.
Die Politik und die Medizin haben auch eine Verantwortung für die Paare, denen mit dieser Methode
nicht geholfen werden kann, die aus anderen Gründen steril sind und es vielleicht auch bleiben wollen.
Ich weiß, Frau Süssmuth, Sie haben oft und eben in der letzten Debattenrunde wieder von notwendiger Ursachenforschung im Zusammenhang mit der Sterilität gesprochen. Um so mehr wundert es mich, daß die Bundesregierung nur e i n Projekt zur Erforschung von Sterilität fördert. Wie so oft haben auch hier die Taten wenig mit den Worten zu tun.
Ich habe heute die Frauen und ihre Rolle bei der künstlichen Befruchtung in den Mittelpunkt gestellt, auch weil Sie sie weitgehend in Ihrem Kabinettsbericht vergessen haben.
Ich vergesse aber zum Schluß nicht die Probleme der Embryobewertung, der Auslese, der Manipulation und der Forschung an überzähligen Embryonen. Die In-vitro-Befruchtung ist das Trojanische Pferd für Manipulation am menschlichen Leben! Sie wurde von der Veterinärmedizin übernommen, wo sie zur Optimierung von Zuchtverfahren entwickelt wurde. Embryobewertung und Auslese sind dort alltäglich. Es gibt heute perfekte Verfahren, die, ohne den Embryo zu zerstören, eine Geschlechtsauswahl zulassen. Auch diese sind bereits den In-vitro-Technikern beim Menschen angeboten worden. Jacques Testart, der Franzose, ist aus dieser Entwicklung ausgestiegen und hat ein Moratorium gefordert.
({14})
Er begründete es so: Es ist fünf vor zwölf, wir sind kurz davor, zu klonen und andere Manipulationen anzuwenden. Es ist auch für die Bundesregierung fünf vor zwölf!
Fast 700 Retortenkinder gibt es in der Bundesrepublik. Statistisch konnte man bisher davon ausgehen, daß 20mal soviele Embryonen erzeugt wurden, von denen ca. die Hälfte eingepflanzt wurde, d. h. von vielleicht 25 000 bis 30 000 Embryonen, 15 000 davon implantiert. Von den nicht Implantierten wurden sicher die meisten als unbrauchbar verworfen. Und der Rest?
({15})
Ich habe die Bundesregierung in einer Anfrage im Sommer letzten Jahres gefragt, wieviele Embryonen in Kühlschränken deutscher Kliniken liegen. Sie weiß es nicht, sie weiß auch nicht genau, wieviele Kliniken und Praxen insgesamt an der In-vitro-Befruchtung beteiligt sind. Nehmen Sie es mir nicht übel, daß ich angesichts so großer Unwissenheit der Naivität nicht folgen kann, daß schon alles so in Ordnung sein wird, wie man es gerne hätte. Auf alle Fälle strapazieren Sie mit Ihrer Unentschlossenheit die Selbstbeschränkung der daran eigentlich gar nicht gewöhnten Wissenschaft enorm.
Die Forderungen in unserem Antrag sind auch eine Forderung vieler Ärztinnen und Ärzte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich der Bedeutung dieser Methode und deren Folgen bewußt sind.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat Frau Professor Männle.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Biete kleines Gartenhaus in ruhiger Wohngegend gegen gesundes, gut aussehendes und intelligentes Baby." Eine solche Anzeige wäre vor Jahren noch als Horrormeldung aus schlechter Science-Fiction-Literatur gehandelt worden, heute klingt mehr als ein Hauch von Wahrscheinlichkeit an. Gehandelt im wahrsten Sinne des Wortes wird vielerorts mit Frauen und Babys. Die Baby-M-Stories aus den USA und der Streit um die Leihmutteragentur in Frankfurt provozieren erneut die Frage: Dürfen wir alles, wozu wir auf Grund unseres wissenschaftlich-technischen Instrumentariums in der Lage sind? Bedeutet unregulierter Technikfortschritt sozialen Fortschritt? Steht Ethik an zweiter Stelle hinter dem Götzen Machbarkeit?
({0})
Die Parlamentarier sind gefordert, klarere und wirksamere Verbotsnormen zu formulieren, wollen sie nicht in Verruf geraten, eine ethisch verwerfliche, aber um so lukrativere Dienstleistungsbranche durch Inaktivität indirekt stützen zu wollen. Wir alle kennen die verschiedenen Arten, wie Leihmutterschaft zustandekommen kann. Gott sei Dank sehen nur wenige in einem generellen Verbot von Leihmutterschaft einen Angriff auf die Selbstbestimmung von Frauen, auf berechtigte Anliegen von Partnern, ihren Wunsch nach einem „eigenen" Kind realisieren zu können. Das Reizwort „Mein Bauch gehört mir" stimmt weder in den Diskussionen über den § 218 noch in den Debatten um freiwilligen oder vielfach finanziell begründeten Verkauf des eigenen Körpers. Das Recht auf Selbstbestimmung wird pervertiert, wenn staatlich gebilligtes Recht Selbsterniedrigung, Selbstveräußerung, aber auch Vermarktung einer der Mitsprache noch unfähigen zweiten Person einschließen soll. Im Bereich der Gentechnologie, der Fortpflanzungstechnologie sowie der Leihmutterschaft könnten sich allzuleicht die verhängnisvollen Folgen einer Laisserfaire-Mentalität zeigen, die gerne von Wissenschaftsfetischisten und freizügigen Rechtspolitikern mit dem attraktiven Stempel „aufgeklärte Liberalität" versehen wird. Untätigsein von heute könnte sich bald, bedingt durch den rasanten Ausbau der wissenschaftlich-technischen Möglichkeiten, als Steuerungsunfähigkeit von morgen erweisen.
({1})
Dürfen wir uns einer Unterlassungssünde ersten Ranges schuldig machen?
Die Gefahren dieser falsch verstandenen Liberalität sollten uns schrecken: Störungen der pränatalen Mutter-Kind-Beziehungen, Beeinträchtigungen der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes, Identitätsprobleme oder Bilder von gut sortierten Listen gebärwilliger Frauen, die auf dem freien Markt feilgeboten werden, Konflikte bei Nichteinhaltung von Vertragsbedingungen. Ich könnte noch zahlreiche andere Dinge aufzählen. Ich darf es einmal etwas überpointiert sagen: Der innerstaatliche Prostitutionstourismus mit diffizilen Auslesekriterien für Mutter und Kind, läßt der bald grüßen?
Die Unionsparteien lassen sich bei der zur Zeit in Arbeit befindlichen Ergänzung des Adoptionsvermittlungsgesetzes von folgenden Grundsätzen leiten: daß über die Elternstellung nicht beliebig verfügt werden darf, daß das Wohl des Kindes Vorrang vor dem legitimen Kinderwunsch genießt und daß staatlicher Schutz der Menschenwürde auch Schutz der Frau vor freiwilliger oder indirekt erzwungener Degradierung zur Handelsware einschließt.
Meine Damen und Herren, ich setze mich für ein generelles Verbot der Leihmutterschaft ein, für die Bestrafung jeder Form der Leihmuttervermittlung, insbesondere wenn sie gegen Entgelt oder erwerbsmäßig betrieben wird. Auch wenn eine Stufenregelung für Strafandrohungen vorgenommen werden muß, wenn im konkreten Fall zwischen Rechtsdurchsetzung und Kindesinteresse abgewogen werden, muß, so darf die generelle Intention, ein generelles Verbot der Leihmutterschaft, nicht unterlaufen werden. Leihmutterschaft ist, auch wenn sie durch Verweis auf altruistische Beweggründe gesellschaftsfähig werden sollte, meines Erachtens dennoch ethisch nicht vertretbar.
Technikfolgenabschätzung darf nicht zu einer nachträglichen, dann hilflos wirkenden Kurskorrektur verkommen. Solange es noch Zeit ist, sollten wir handeln. Solange unser ethisches Frühwarnsystem noch funktioniert, sollten wir klare Weichenstellungen formulieren.
({2})
Lassen wir nicht die politische Schreckensvision, wonach die Forscher in einer Art Intercity-Experimental sitzen, während die Parlamentarier sich in zögerlich abwartender oder skeptisch beobachtender Haltung im letzten Wagen eines Bummelzuges einrichten, Wirklichkeit werden.
({3})
Das eindeutige Bekenntnis des Grundgesetzes zum Schutz der Menschenwürde heißt heute ein eindeutiges Nein zur Kommerzialisierung der biologischen Fähigkeit der Frau.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Süssmuth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kabinettsbericht zur künstlichen Befruchtung ist noch nicht die Endentscheidung, aber ein ganz wichtiger Zwischenschritt. Weil Frau Däubler-Gmelin heute morgen auf Sankt Gallen verwiesen hat, möchte ich sagen: Wir sind dicht auf den Spuren und im Vergleich unter den europäischen Ländern sogar sehr viel früher als alle anderen.
Es ist nicht so, daß in der Wissenschaft, unter Ärzten Einigkeit herrscht, wie hier zu verfahren ist. Die Richtlinien der Bundesärztekammer lassen hier mehr offen, als ich mit meinen Positionen vertreten könnte.
Es ist unter den Wissenschaftlern immer wieder nicht nur die Frage nach der Einhaltung des Art. 5 gestellt worden, sondern auch die Frage, was das denn nun wieder die Politik anginge, ob wir uns nicht aus diesem Bereich zurückzuhalten hätten,
({0})
weil die Wissenschaft hier keinen Verbotskatalog brauche, keinen Reglementierungsbedarf habe.
Mein Kollege Engelhard hat zu Recht darauf verwiesen, daß auch der Art. 5 des Grundgesetzes dem übergeordneten Art. 1 unterstellt ist. Da hier heute vormittag gefragt wurde, warum ich es so mit der Eigenverantwortung hielte, muß ich Ihnen sagen: Kein System der Welt wird mit seinen Kontrollen die menschliche Eigenverantwortung überbieten können; sie ist unverzichtbar.
({1})
Ich frage mich auch, welchen Freiheitsbegriff und welches Freiheitsverständnis wir zugrunde legen, wenn nicht am Anfang all unseres Bemühens die Verantwortung des Individuums steht. Diese Verantwortung ist durch nichts anderes zu ersetzen, wohl zu flankieren.
Ich gehöre zu einer Generation, die noch jene Wissenschaftler gelesen hat, die aus dem Krieg zurückgekommen sind, für die es damals Selbstverpflichtung war, in ihren Niederschriften festzuhalten: Hoffentlich kommen wir nie wieder dahin, daß wir Wissenschaft und Bildung, Wissenschaft und Ethos auseinanderreißen.
Ethikkommissionen, wie wir sie seit 1973 in den Universitäten eingerichtet haben, sind bei allem Zugeständnis ihrer Notwendigkeit für mich dennoch Krücken, Hilfsmittel, weil nicht mehr in Personen verankert ist, was in Personen verankert sein müßte.
({2})
- Ich arbeite eines nach dem anderen ab.
Deswegen ist das eine die Einordnung der Freiheit in die Verantwortung, das andere das, was wir regeln, auch unter Strafbewehrung regeln, weil es hier in erster Linie der Bildung klarer Normen dient; das ist ja die Aufgabe des Strafrechts, klar zu sagen als Orientierung für den Menschen, was sein darf und was nicht sein darf,
({3})
und erst in zweiter Linie dort einzugreifen, wo gegen diese Normen verstoßen wird.
Insofern möchte ich hier noch mal korrigiert wissen: Für mich gehört das Verbot, an Embryonen zu forschen, weil sie menschliches Leben sind, auf dieselbe ethische, logische und dann strafrechtliche Ebene wie der Schutz des ungeborenen Lebens. Das ist nicht
zweierlei, sondern das ist ein und dasselbe zu schützende menschliche Leben.
({4})
Es ist ein Unterschied, ob ich meine, mit Verschärfung des Strafrechts Probleme lösen zu können, oder ob ich klare Strafrechtsbestimmungen in einer gesellschaftlichen Ordnung für die Menschen vorgebe.
({5})
Deswegen können wir mit keinem Mittel des Staates eine Garantie dafür geben, daß nicht doch Verstöße gegen diese Normen vorkommen,
({6})
sei es auf der Ebene der künstlichen Befruchtung, sei es im Umgang mit Embryonen.
Gerade weil es so ist, ist es entscheidend, daß die Menschen selber auch in der zu führenden öffentlichen Diskussion ein so geschärftes Gewissen haben, daß sie mehr als nur Hemmungen entwickeln, in einer unerlaubten und menschenverletztenden Weise tätig zu werden.
({7})
Ich glaube, genau hier setzt die Frage nach Eigenverantwortung und Reglementierung sowie Kontrolle an. Überschätzen wir nicht die Möglichkeiten der Kontrolle, in keinem Bereich!
Für uns im Kabinett und für die, die den Bericht erstellt haben, war wichtig, daß wir immer tiefer in diese komplizierte Materie eindringen und nicht mit vorschnellen Urteilen uns selber dazu bringen, Gesichtspunkte, die wichtig sind, zu vergessen.
Ich möchte an dieser Stelle in unserer Fraktion stellvertretend für mehrere besonders Herrn Seesing für sein Engagement danken, für seine vertiefte Auseinandersetzung und für das, was er in Behutsamkeit und Klarheit dort zur Sprache bringt.
({8})
Ich habe eigentlich große Hoffnung, daß wir trotz der noch nicht abgeklärten Positionen uns an diesem Punkt wieder parteiübergreifend finden können und daß das Auswirkungen auch auf den Gesamtschutz des menschlichen Lebens vom Anfang bis zur Sterbestunde hat.
({9})
Ich glaube, das ist eine grundlegende Frage, die Demokraten einen müßte.
Ich möchte in der kurzen Zeit, die mir bleibt, noch ein paar Punkte nennen, die unverzichtbar sind und bei denen ich noch immer den Eindruck habe, daß sie oft sehr unterschiedlich angegangen werden je nachdem, ob es mit der Erfahrung von Frauen oder mit der Erfahrung von Männern geschieht. Lassen Sie mich dafür zwei Bereiche anführen.
Für mich hat die Anstrengung in dem Bereich „Wie gehen wir mit Störungen der Fruchtbarkeit um?" absoluten Vorrang vor jeglicher anderer Maßnahme. So steht es auch im Kabinettsbericht.
({10})
Das geht weit über medizinische Ursachen hinaus.
Nun haben Sie, Frau Conrad, vorhin gefragt: Wie sieht es mit der Forschung aus? Inzwischen ist es soweit, daß ein neuer Forschungsschwerpunkt in dem Bereich „Forschung im Dienst der Gesundheit" aufgenommen wird und daß wir Forschungsprojekte zur medizinischen und nichtmedizinischen Erforschung der Unfruchtbarkeit auf den Weg gebracht haben. 1987 sind zwei unmittelbar auf den Weg gebracht worden. Weitere will der BMFT auf den Weg bringen. Es gibt sechs oder sieben Forschungsbereiche in der DFG, die in diesem Kontext stehen.
({11})
Ich bin sehr dafür, daß wir es ausweiten, damit nicht allzu schnell das Urteil der Mediziner Platz greift, hier könne der Mensch eingetretene Störungen nicht beseitigen. Jedenfalls hat dies absoluten Vorrang vor jedem technischen Mittel, das wir oft vorschnell einsetzen.
({12})
Wir handeln danach. Und wenn heute morgen gesagt worden ist, in all den Jahren sei nichts passiert, dann möchte ich dazu sagen: Wir haben in den letzten Jahren an dieser Thematik sehr intensiv gearbeitet.
Ein Zweites: Kindeswohl ist ein so wichtiger Gesichtspunkt, daß wir bei der heterologen Insemination und der nichtehelichen Konstellation mit Befruchtung immer fragen müssen: Was bedeutet das für das Kindeswohl?
({13})
Wissen wir nicht aus der Adoption, in welch traumatischer Weise Adoptionskinder, bei denen sich Adoptionseltern große Mühe geben, oft auf der Suche nach ihren Herkunftseltern sind? Wir Menschen sind - für Gegenwart und Zukunft - auf unsere Vergangenheit angewiesen. Ohne sie entwickeln wir keine menschliche Identität.
({14})
Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir zukünftig über heterologe Insemination entscheiden, weil wir hier Menschenunverträgliches für das Kind, aber in gleicher Weise, so fürchte ich, auch für die Mutter, die Paarbeziehung und den nichtleiblichen Vater auf den Weg bringen.
Ich möchte hier dafür werben, daß wir in Zukunft mit Engagement nicht nur davon sprechen, daß wir keine gespaltene Mutterschaft wollen. Im Dienste der Väter muß die Rede genauso heißen: Wir wollen keine gespaltene Vaterschaft.
({15})
Ich denke, dies muß auch in den juristischen Regelungen seinen Niederschlag finden.
({16})
- Elternschaft heißt immer, daß sie ungeteilt ist.
({17})
Ich denke, das sollte auch unser Maßstab sein, wenn wir über diese Fragen entscheiden müssen.
Ich möchte dieses Feld nicht verlassen, ohne zu sagen: Ziehen wir daraus allerdings auch Konsequenzen für den Schutz des ungeborenen Lebens! Hier ist keine Zweiteilung der Argumente möglich.
({18})
Am Bereich der künstlichen Befruchtung lernen wir, wo die Grenzen unseres Tuns sein müssen. Ich möchte mit Paul Tillich enden: „Gerade die Grenze muß der Ort menschlicher Erkenntnis sein. " Damit sagt er umgekehrt das, was Jonas sagt: „Öffnet nicht die Büchse der Pandora, ohne zu wissen, welchen Gefährdungen ihr die Menschen aussetzt. "
Ich danke Ihnen.
({19})
Das Wort hat der Abgeordnete Catenhusen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte Ihnen, Frau Ministerin Süssmuth, in zwei Dingen durchaus sehr zustimmen: Das eine betrifft Ihren Hinweis, daß alle gesetzlichen Regelungen, die wir in diesem Bereich treffen wollen und treffen müssen, nicht bis ins letzte hinein zu kontrollieren sind und daß wir deshalb darauf angewiesen sind, daß auch die Bevölkerung, die Eltern, aber auch die Wissenschaftler eigenverantwortlich, aus eigener Erkenntnis bereit sein müssen, einen Wertekonsens, den wir hier in der Gesellschaft erarbeiten, mit zu akzeptieren und auch aktiv für die Einhaltung der Regeln, die wir setzen, in ihren Bereichen einzutreten.
Das andere, meine Damen und Herren, betrifft Ihren Hinweis darauf, Frau Süssmuth, daß es in einigen Fragen offensichtlich noch Dissens in der Koalition gibt. Es ist gut, daß er hier heute einmal klar auf den Tisch gelegt worden ist. Ich glaube, es gibt eine breite Bereitschaft im Hohen Haus. Sie dazu zu drängen, Ihren Dissens möglichst schnell zu lösen. Denn die Entwicklung geht sehr schnell voran, und es ist so, daß wir hier in einigen Fragen wirklich einen sehr raschen, akuten Handlungsbedarf haben, der mit der bedächtigen Gangart unseres Justizministers vielleicht nicht angemessen zu beantworten ist.
({0})
Meine Damen und Herren, Reproduktionsbiologie und Gentechnologie können natürlich nicht nur Familienstrukturen zerstören, sie können die Zeugung und Aufzucht von Menschen auch zu einem anonymen, kommerziell betriebenen Geschäft machen. Ich denke, meine Damen und Herren, die Reichweite dieser Techniken, über die wir heute reden, stellt auch unsere Vorstellungen von den Grenzen wissenschaftlicher, medizinischer Eingriffe am Menschen in grundsätzlicher Weise in Frage. Ja, wir sehen sogar eine Entwicklung vor uns, mit der die Türen in eine Zukunft geöffnet werden können, bei der wir alle versucht sein könnten, den Menschen nach unseren Vorstellungen verbessern zu wollen.
Bei der Retortenbefruchtung sind - zunächst in gutgemeinter Absicht: um betroffenen Frauen eine zu häufige hormonelle Stimulation zur Entnahme von Eizellen zu ersparen - Eizellen in größerer Zahl entnommen und auf Vorrat befruchtet worden. Allein aber die Existenz einiger überzähliger befruchteter menschlicher Eizellen hat weltweit, auch bei uns, rasch in großer Zahl Stimmen in der Wissenschaft laut werden lassen, diese Embryonen durch Einsatz in der medizinischen Forschung - so könnte man sagen - einer gesellschaftlich sinnvollen Verwendung zukommen zu lassen.
Embryonenforschung sagt sich international an und wird auch in Ländern wie Australien oder Großbritannien bereits betrieben. Das juristische Schlupfloch für Embryonenforschung ist der rechtsfreie Raum, der für befruchtete Eizellen in den ersten 14 Tagen pragmatisch gelassen wurde, um bestimmte Methoden der Empfängnisverhütung nicht zu kriminalisieren. Ich denke, daß dieser rechtsfreie Raum gegenüber der Wissenschaft geschlossen werden muß.
Deutsche Mediziner haben im Dritten Reich Menschen durch wissenschaftliche Experimente „verbraucht" . Es war eine sehr befreiende Tat, daß international Ärzte aus Anlaß der Nürnberger Prozesse im Jahre 1947 einen Kodex formuliert haben, der den klinisch-experimentellen Umgang mit den Menschen regelte und der zuletzt 1975 in Tokio weiterentwickelt wurde.
In diesem Standesrecht, das weltweit von Ärzten gesetzt wurde, werden zwei Kategorien von Experimenten an Menschen unterschieden. Es wird zwischen Experimenten unterschieden, die einen unmittelbaren therapeutischen Zweck für das Individuum verfolgen, und solchen, die dem biomedizinischen Fortschritt dienen könnten. Letztere sind aber nach Auffassung der Ärzte nur bei Erwachsenen zulässig, die über Zweck und mögliche Folgen eines solchen Eingriffs informiert sein müssen.
Meine Damen und Herren, es gibt für mich keinen Anlaß, angesichts der Entwicklung in der Embryologie von diesen Prinzipien gegenüber dem menschlichen Leben abzugehen. Ich denke, diese Prinzipien müssen auch gegenüber medizinischer Forschung und gegenüber medizinischem Eingriff am ungeborenen Leben gelten.
({1})
Befruchtete menschliche Eizellen sind auf individuelles Leben angelegt. Sie haben einen moralischen Status und verdienen deshalb auch den Schutz unserer Gesellschaft. Mich hat erschreckt, mit welcher Unbefangenheit demgegenüber die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft die Möglichkeit einer Erzeugung von EmbryoCatenhusen
nen ausschließlich zu Forschungszwecken eröffnen wollen.
({2})
Ich kann mir das nur damit erklären, daß hier die Betreiber selber den Griffel zu den Stellungnahmen der wissenschaftlichen Organisationen geführt haben. Kein wissenschaftliches Erkenntnisinteresse allgemein kann für mich die Erzeugung von menschlichen Embryonen nur zu diesem Zweck rechtfertigen.
({3})
Ich denke, daß wir hier als Gesetzgeber ein Schlupfloch schließen müssen, daß das Standesrecht solchen Forschungen nach wie vor lassen möchte, wenn dort hochrangige wissenschaftliche Interessen von seiten der Wissenschaft geltend gemacht werden könnten.
({4})
Denn diese Forderungen, meine Damen und Herren, heißt in der Praxis letztendlich, daß die Wissenschaft doch selber bestimmen möchte und bestimmen soll, wenn im Einzelfall Embryonen zu Forschungszwekken erzeugt oder verbraucht werden sollen.
Von seiten der Wissenschaftler wird uns nun entgegengehalten, Embryonenforschung könnte notwendig sein, um über Erkenntnisgewinn möglicherweise Menschen künftig helfen zu können, etwa bei der Krebstherapie oder sogar, wie in Amerika erörtert wird, indem Föten Gewebe zu Zwecken der Organtransplantation entnommen wird, Gewebe, das aus menschlichen Embryonen gewonnen werden soll.
Britische Ärzte fordern ja sogar schon, daß bei einer In-vitro-Fertilisation gewonnenen befruchteten menschlichen Eizelle in den ersten Stadien der Zellteilung Zellen abgespaltet und tiefgefroren werden sollen. Man könnte dann im Bedarfsfall daraus einmal später für im Erwachsenenleben des Menschen auftauchende Krankheiten und Verschleißerscheinungen Ersatzgewebe und -organe regenerieren.
Wir sollten uns klar gegen eine Entwicklung der Medizin aussprechen, bei der Experimente mit menschlichem Leben in den Anfangsstadien, die bestimmten medizinischen Fortschritten dienen sollen, als so wichtig angesehen werden könnten, daß das Forschungsziel höher bewertet wird als der Respekt vor diesem Leben.
Meine Damen und Herren, Eingriffe in menschliche Erbanlagen stehen uns technisch sicherlich nicht schon in den nächsten Monaten oder in den nächsten Jahren ins Haus. Aber ich denke, die ethischen Probleme liegen schon heute auf der Hand. Eine Taktik, heute eine solche technische Möglichkeit zu verbieten, weil sie technisch sowieso noch nicht machbar ist, der Wissenschaft aber augenzwinkernd zu versichern, daß die mit lautem Theaterknall heute verschlossene Tür beim ersten realen Antrag aus der Wissenschaft natürlich jederzeit wieder geöffnet werden könnte, wird uns als Politiker in unserer Glaubwürdigkeit auf Dauer eher Schaden als nutzen.
({5})
Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren - das ist
meine schärfste Kritik an dem Bericht der Bundesregierung - , daß eine solche taktische Position auch in dem Bericht der Bundesregierung eingenommen wird, wenn ich sehe, daß Minister dieser Regierung jederzeit versichern, sie könnten sich durchaus vorstellen, daß es hochrangige medizinische Interessen gibt, die doch wieder zu einer Keimbahntherapie führen könnten.
Meine Damen und Herren, wir setzen uns für ein strafrechtliches Verbot gentechnischer Eingriffe in die Keimbahn des Menschen ein. Wir lehnen diese Möglichkeit ab, weil diese Therapieform heute mit unabsehbaren Gefahren einer Schädigung der befruchteten menschlichen Eizelle verbunden ist.
Wir lehnen diese Eingriffe aber auch für den Fall ab, daß eine solche Therapie ohne gesundheitliche Risiken für Betroffene vorgenommen werden könnte, denn welches Recht haben wir als jetzt Lebende eigentlich, die Erbanlagen künftiger Generationen bestimmen zu wollen? Es gibt keine Kriterien dafür, eine solche Therapieform künftig auf die Behandlung schwerster nicht behandelbarer Erbkrankheiten begrenzen zu können. Auch wenn ein solches Experiment erfolgreich durchgeführt werden könnte: Wer gibt uns das Recht, den Menschen nach Maß konstruieren zu wollen? Denn jede Therapie, die in die Erbanlagen des Menschen eingreift, ist zugleich ein Eingriff in das genetische Programm künftiger Generationen. Der Versuch, das genetische Programm des Menschen nach unseren Vorstellungen zu optimieren, ist nach meiner Vorstellung von menschlicher Würde und auch vom Bild des Menschen als Geschöpf Gottes - ich denke, daß deckt sich mit der Vorstellung vieler Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause - nicht vereinbar.
Meine Damen und Herren, wir sind nicht aufgerufen, die Moral an die neuen technischen Möglichkeiten anzupassen - so hätten es viele Wissenschaftler gerne - , sondern wir sind aufgerufen, die Vorstellung der Verfassung von menschlicher Würde gegen neue Möglichkeiten der Medizin und Biologie zu verteidigen. Wir müssen selbst die Grenzen medizinischer Forschung und bei Eingriffen am Menschen ziehen. Es stimmt mich optimistisch, daß der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Professor Markl, dazu festgestellt hat - ich zitiere -:
Es kann keine Frage sein, daß sich der Wissenschaftler der normativen, der rechtlichen und ethischen Grenzsetzung für die Methoden seines Forschens zu unterwerfen hat, nicht widerspruchslos zwar in einer freien Gesellschaft, aber er darf solche Grenzziehung nicht mit dem Anspruch auf Forschungsfreiheit leugnen oder gar mißachten.
Meine Damen und Herren, wir sollten bei diesen Fragen die Wissenschaftler selbst sehr stark in unsere Diskussion einbeziehen, ohne polemische Vorverurteilung, ohne Diskussionsverweigerung. Im Gegenteil, ich möchte die Wissenschaftler auffordern, ihre Argumente endlich öffentlich, offen zugänglich in der Bundesrepublik darzulegen.
({6})
Wir wollen die Argumente der Wissenschaftler in unserem Beratungsprozeß unpassend abwägen. Aber, meine Damen und Herren, auch die Wissenschaft ist in dieser Diskussion selbst Partei, und sie muß es akzeptieren, daß wir uns ihren Ergebnissen in unserer ethischen Bewertung nicht automatisch anschließen.
({7})
Aber, meine Damen und Herren, nur durch Einbeziehung der Wissenschaftler in die Diskussion können wir erreichen, daß gesetzliche Regelungen, die wir treffen, zumindest von Teilen der Wissenschaftler akzeptiert werden. Das ist für uns auch eine wichtige Chance, darauf zu hoffen, daß unsere mangelhaften Kontrollmöglichkeiten in diesem Bereich durch aktives Mittun von Wissenschaftlern selbst verstärkt werden.
Schönen Dank.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Voigt.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, in der Frage, ob Experimente an Embryonen oder gar in Keimbahnzellen durchgeführt werden sollen, sind wir uns hier im Parlament einig. Ich schließe mich denjenigen an, die aufgeführt haben, welche negativen Folgen aus diesen Experimenten abgeleitet werden können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie mir ab, daß es jemandem, der selbst 15 Jahre im Bereich der molekularen Genetik experimentell gearbeitet hat, nicht leichtfällt, diese Äußerung hier vor dem Deutschen Bundestag zu machen. Ich bin aber der Meinung, daß wir möglichst früh - zum gegenwärtigen Zeitpunkt und von jetzt an sehr schnell - durch eine Umsetzung zu rechtlichen Normen, zu einer Festlegung des ethisch Machbaren kommen müssen, um auch demjenigen, der weiter forscht - ich werde gleich noch darauf eingehen -, die Grenzen aufzuzeigen, innerhalb derer er das tun darf, was sicherlich sinnvoll ist. Ich meine da vor allem - ich werde das am Ende meines kleinen Beitrags noch ausführlich erwähnen - , das, was gentechnisch in anderen Bereichen denkbar ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir in Abwägung des Prozesses hochrangige Forschung und Menschenwürde zu der definitiven Entscheidung kommen, daß Experimente in der Keimbahn, daß Experimente an Embryonen verboten werden sollen, so ist das nicht Ausdruck einer Angst vor diesen gesamten Möglichkeiten, sondern es ist Ausdruck der Tatsache, daß wir der Menschenwürde ein sehr hohes Gewicht zumessen.
Aus der Sicht der Naturwissenschaft beginnt artspezifisches menschliches Leben mit der Befruchtung, d. h. also in dem Augenblick, wo Samen und Ei im Kern verschmelzen. Ein Mensch wird also nicht Mensch, sondern ist es durch sein genetisches Programm von Anfang an - wenn Sie das auch anders interpretieren wollen, ist Individualität nicht auf eine
kleinere Einheit zurückführbar, ohne ihre Qualität zu verlieren - und hat damit Lebensrecht und den Schutz aller zu genießen.
Durch Experimente am Embryo und durch Eingriffe in die Keimbahn ist die Menschwerdung selbst Gegenstand des Versuches geworden, d. h. der Mensch selbst wird zum Objekt.
Der Präsident der Bundesärtzekammer vertritt die Auffassung - Herr Catenhusen hat ja schon die Auffassung der DFG und der Max-Planck-Gesellschaft hier deutlich gemacht; ich teile seine Bewertung, daß wir dort dringend eine Diskussion brauchen, die auch die Stellungnahmen dieser Organisationen für uns durchsichtig macht - , daß die Kontrollkommission der Bundesärztekammer ausreiche, um ein Ausufern, einen Mißbrauch der Möglichkeiten zu verhindern. Ich persönlich bin nicht der Auffassung, daß das, was wir jetzt vorhaben, von vornherein der Wissenschaft, vor allem der ärtzlichen Wissenschaft, unethisches Handeln unterstellt. Wir sind aber der Meinung, daß im Interesse der Forschenden, im Interesse der medizinischen Wissenschaft Regeln notwendig sind, die zu ihrer eigenen Sicherheit ihr zukünftiges Handeln bestimmen und einen Entwurf für die Zukunft für sie darstellen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist nicht unsere Absicht, mit einer Einschränkung in irgendeiner Form die Neugierde, die fruchtbringende Neugierde der Wissenschaft zu beschränken oder zu unterbinden. Sie ist die Triebfeder für viele wichtige Entscheidungen und Forschungsergebnisse gewesen. Sie hat uns immer an die Grenzen dessen geführt, was vorher denkbar gewesen ist, sie hat vertraute Vorstellungen in Frage gestellt und gesellschaftliche Tabus ad absurdum geführt. Sie hat aber auch - und das ist der wesentlichste Punkt unserer heutigen Diskussion - zu einer erneuten Sensibilisierung für das Leben beigetragen. Der Schutz des werdenden Lebens kann nicht nur der Schutz menschlichen Lebens im Frühstadium sein, sondern muß es in der Gesamtheit seiner Entwicklung sein.
Auch wenn wir uns darüber im klaren sind, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß nicht jeder Versuch an Embryonen oder mit Embryonen unbedingt in den Versuch einfließen muß, das genetische Material zu verändern, gentechnische Experimente zu machen, so ist doch der Weg dorthin - Herr Catenhusen hat das hier deutlich aufgezeigt, und auch Frau Conrad hat darauf hingewiesen - sehr, sehr schnell machbar. Das heißt, das Tor ist geöffnet. Von daher ist ein Verbot der Forschung in diesen zwei Bereichen in meinen Augen dringend notwendig.
({0})
Das darf aber nicht dazu führen, daß die Beschäftigung mit der Gentechnik allgemein damit in Mißkredit gerät. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, daß wir, wenn wir diesen Teil aus der gesamten Forschung herausziehen, eher eine Akzeptanz für diese Technik finden werden. Ich halte das für einen ganz wesentlichen Punkt, den zweifelsohne diejenigen, die die Gentechnik in ihren Chancen gegenüber den Risiken
Dr. Voigt ({1})
zum positiven Ergebnis hin bewertet haben, unterstreichen werden.
({2})
Wenn wir uns also entscheiden, meine sehr verehrten Damen und Herren, Grenzen der Anwendbarkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen aufzuzeigen, so geschieht das aus der Ehrfurcht vor dem Leben. Diese Ehrfurcht vor dem Leben ist keine Ehrfurcht aus Angst. Angst ist eine irrationale Größe, deren Stärke eher im Sichzurückziehen liegt als in der Lebensbejahung. Wenn wir versuchen wollen, eine positive Einstellung zum Leben und seiner Würde zu finden, so gibt es neben der Verneinung aus Angst und dem unkritischen Fortschrittsglauben auf der Basis des Dennoch und Trotzdem den Weg, den uns die jüdischchristliche Tradition aufzeigt. Das bedeutet: Hier wird die Natur nicht als natürlicher Automatismus verstanden und das Leben nicht als eine Form der Selbstorganisation.
Es wäre allerdings eine völlig kurzschlüssige Reaktion, wollten wir die jüdisch-christliche Tradition unserer wissenschaftlich-technischen Welt im Sinne eines Entweder-Oder gegenüberstellen. Das letztere ist ohne die erstere nicht denkbar. Die Gen- und Fortpflanzungstechnologie erzeugt nicht Leben, sondern handhabt vorhandenes Leben. Leben ist aber nicht dazu da, um unnötig gequält und als leicht zu entledigendes Objekt benutzt zu werden. Leben ist auch nicht dazu da, um durch seine Manipulation unsere Neugierde zu befriedigen, obwohl uns das wissenschaftlich neugierige Eindringen in die Geheimnisse des Lebens den Lebenskontext besser zu verstehen lehrt und uns unsere verantwortliche Mitarbeit am Leben ermöglicht.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir uns bei der Forschung an Embryonen und beim Eingriff in die menschliche Keimbahn zu einem Verbot und zu einer Beschränkung der Freiheit der Wissenschaft entscheiden, so geschieht das nicht aus der irrationalen Angst, sondern im Bewußtsein, daß vor dem grundsätzlich zu bejahenden Fortschrittsgedanken die Verantwortung für die Würde des Menschen zu stehen hat. Nicht die Methode der Gentechnik ist unmoralisch, sondern in diesem Fall die Anwendung am Menschen mit dem Ziel, Embryonen zu schädigen, das Erbgut, irreparabel zu verändern.
({3})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott.
Herr Voigt, Sie haben zum Schluß mit Ihrem Satz, nicht die Methode - Gentechnologie - ist zu verurteilen, sondern die Anwendung - also die Ziele - , genau wieder das gemacht, was man dabei generell nicht machen darf - bei der Gentechnologie wird es noch deutlicher - , nämlich Methode und Ziele zu trennen. Es gibt keine neutrale Technologie oder eine, die in gut und böse, sinnvoll und nicht sinnvoll zu trennen ist. Das gehört zusammen. Eine gute gentechnologische Methode werden Sie nicht hinkriegen.
Damit bin ich im Grunde genommen beim Kern dessen, was die Debatte hier für mich zunehmend gespenstisch gemacht hat. Hier sind sich Regierung und SPD-Opposition einig.
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- Ich weiß, daß Sie das ärgert, Frau Däubler-Gmelin.
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Das macht ja auch die Schwäche Ihrer Argumentation aus.
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Es geht Ihnen darum, den rechtsfreien Raum zu beenden und Rechtsnormen zu schaffen. Die Gefahren sollen durch rechtliche Rahmenbedingungen weg sein.
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- Frau Conrad, Ihr Beitrag hat mich durchaus beeindruckt. Sie haben das sehr stark aus der Frauensicht vorgetragen, wie ich finde: richtig. Das macht den Widerspruch um so deutlicher, daß Sie Ausnahmen zulassen wollen. Ich habe es vorhin schon gesagt: Wenn Sie Ausnahmen vom Verbot der künstlichen Befruchtung zulassen wollen, müssen Sie Forschung zulassen, mit allen Konsequenzen. Die Kontrolle ist nicht mehr möglich. Herr Catenhusen, das wissen Sie. Auf die Selbstkontrolle der betroffenen Forscher setze ich nicht.
Frau Süssmuth, Sie haben kritisch angemerkt, daß auch Ihnen die Richtlinien der Bundesärztekammer nicht reichen. - Sie ist jetzt nicht mehr da.
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- Ich nehme es auch nicht übel. - Denn Frau Mettler aus Kiel ist z. B. Mitglied der Ethikkommission der Bundesärztekammer. Diese Wissenschaftler bestimmen selber die ethischen Normen.
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Von daher muß die Stoßrichtung sein - hier helfen Verbote nicht; da sind wir uns wirklich einig -, die Entwicklung und Anwendung zu verhindern, in der Art und Weise, daß wir z. B. ganz konkret Boykotte organisieren, daß Frauen sich weigern, so etwas in Anspruch zu nehmen, daß wir alternative Gesundheitszentren, alternative medizinische Versorgung schaffen.
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Das ist dasjenige, was helfen wird, und nicht eine Rechtsnormenklarheit.
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Als letzten Redner haben wir den Abgeordneten Geis. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe in dieser Diskussion die Notwendigkeit eventueller strafrechtlicher Gebote und Verbote zu beleuchten.
Am Anfang kann ich feststellen, daß wir in den meisten Punkten eine große Übereinstimmung über alle Parteigrenzen hinweg haben. Wir sind uns völlig einig darin, daß der Mensch von Anfang an Mensch ist. Wir sind uns darin einig, daß dem Menschen von Anfang an Würde zukommt, auch wenn sich der Träger dieser Würde dessen nicht bewußt ist und wenn er nicht danach handelt. Wir sind uns zum dritten darin einig, daß die Würde des Menschen im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben das höchste Rechtsgut ist, das dem Menschen überhaupt zukommen kann und daß sich nach unserer Wertvorstellung und nach unserer Verfassung alle anderen Rechte nach diesem Rechtsgut zu richten haben und diesem höchsten Rechtsgut nachgeordnet sind. Auch darüber besteht kein Zweifel, wie ich meine. Wir sind uns zum vierten darin einig, daß Art. 1 des Grundgesetzes nicht ein programmatischer Satz ist, der den Staat zu nichts verpflichtet, sondern daß der Staat sehr wohl verpflichtet ist, zum Schutz der Würde des Menschen und zum Schutz des Rechts auf Leben einzuschreiten, wo dieses elementare Recht in Gefahr ist.
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Wir müssen uns deshalb sehr wohl die Frage stellen, ob die künstliche Befruchtung gerade im Blick auf die Technizität dieses Vorgangs schon an sich erlaubt sein kann, ob nicht schon durch diesen Vorgang die Würde des Menschen verletzt ist und wir diesen Vorgang selbst schon verbieten müßten. Diese Frage, Frau Schmidt-Bott, stellt sich in der Tat. Der Versuch einer Antwort ist schwierig, das gebe ich Ihnen zu. Wir befinden uns zweifellos auf einer Gratwanderung, wenn wir eine Antwort suchen. Aber lassen Sie uns jetzt einmal in diesen Überlegungen fortfahren.
Die Prüfung muß also schon bei der Frage ansetzen, ob im Akt der Befruchtung, der technisch vorgenommen wird, eine Verletzung der Menschenrechte zu sehen ist,
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ob nicht dadurch eine Entpersonalisierung des Zeugungsvorganges erfolgt, ob nicht dadurch, daß es technisch ist, die Menschenwürde angetastet wird, nicht nur die Menschenwürde des Embryos, sondern auch der Eltern.
Mag sein, wie viele meinen - man kann sich, glaube ich, auch dieser Meinung anschließen -, daß, isoliert gesehen, dieser Vorgang der künstlichen Befruchtung noch nicht gegen die Würde des Menschen verstößt. Mag auch sein, daß die Ethik da ganz andere Anforderungen stellt und auch stellen muß. Aber der Begriff der Menschenwürde deckt nicht alle Anforderungen der Ethik ab, Frau Schmidt-Bott, sondern er ist die unterste Verteidigungslinie gegen Angriffe auf die elementarsten, existentiellsten und vitalsten Rechte des Menschen. Mag also sein, daß die Technizität des
Vorgangs für sich allein betrachtet selbst noch nicht eine Verletzung des Art. 1 des Grundgesetzes beinhaltet. Wir müssen uns dennoch die Frage stellen, ob wir nicht rechtliche Voraussetzungen schaffen müssen, damit, weil die Möglichkeit der Manipulation gegeben ist, solche Möglichkeiten ausgeschlossen werden.
Wenn wir den Vorgang der künstlichen Befruchtung, in dem wir ja das Geheimnis des Menschen selbst anrühren und in dem wir uns für kurze Zeit, wenigstens zum Teil, zum Schöpfer aufschwingen, überhaupt zulassen, kann dies nur in einem rechtlich genau definierten, durchschaubaren und kontrollierbaren Rahmen geschehen. Dies kann nach Abwägung aller Möglichkeiten, wie ich meine, nur die homologe Befruchtung in vivo oder in vitro und nur in der Form des „1 : 1"-Modells bei der In-vitro-Befruchtung sein, und dies kann letztendlich auch nur in der rechtlich genau definierten und eingegrenzten durchschaubaren ehelichen Gemeinschaft zwischen Mann und Frau sein und nur als Ultima ratio.
Verlassen wir diesen Rahmen, dann öffnen wir bewußt eine Grauzone für alle möglichen Manipulationen. In diesem Fall würde der Staat letztendlich seine Pflicht, Schaden nicht erst zuzulassen, sondern von der Würde des Menschen abzuwenden, verletzen. Deshalb ist jede andere künstliche Befruchtung, auch die bei einer außerehelichen Partnerschaft zwischen Mann und Frau, zu verbieten und letztendlich, weil es ja um das hohe Rechtsgut der Würde des Menschen und des Rechts auf Leben geht, mit Strafe zu bedrohen.
Die Ungeheuerlichkeit der Manipulation, die abgrundtiefe Gefahr - ich gebe Ihnen hier recht, Frau Schmidt-Bott - , die den Menschen bedroht, zwingt uns zu solch strengen, restriktiven Maßnahmen. Dabei kann für unsere Entscheidung der Umstand keine Rolle spielen, daß ein Kind, einmal gezeugt, in einer außerehelichen Partnerschaft eine bessere Zukunft haben mag als in einer ehelichen Partnerschaft. Dies kann für uns in diesem Fall nicht die Frage sein. Für unsere Entscheidung ist allein ausschlaggebend, daß wegen der möglichen Manipulationen die künstliche Befruchtung in einer ganz anderen Dimension rechtlich zu würdigen ist als die natürliche Zeugung. Wir brauchen deshalb einen gesicherten rechtlichen Rahmen. Dies kann nur, ich wiederhole es, die rechtlich klar definierte und eingegrenzte eheliche Gemeinschaft zwischen Mann und Frau sein und eben nicht die außereheliche Partnerschaft, die eine so enge, klare rechtliche Bindung eo ipso ja gerade ablehnt.
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- Das ist eine andere Frage. Dann geht es ja nicht mehr um künstliche Befruchtung. Bei einer Scheidung sind die Eheleute ja nicht mehr verheiratet. Das ist nicht logisch, was Sie jetzt sagen, und das trifft nicht zu. Diese klare rechtliche Eingrenzung in der Ehe bietet am allerehesten die Rechtssicherheit, die die unabdingbare Voraussetzung für die künstliche Befruchtung ist.
Herr Präsident, meine Zeit ist abgelaufen. Gestatten Sie mir eine Schlußbemerkung: Ich bin wie Frau SüssGeis
muth der Meinung, daß wir diese Debatte nicht führen können, ohne einen Blick auf die katastrophalen Verhältnisse im Bereich der Abtreibungen zu werfen. Es kann nicht sein, daß der Embryo einen besseren Rechtsschutz hat als das Kind im Mutterleib. Wir kommen nicht daran vorbei, zu erkennen, daß im Bereich des Rechtsschutzes des § 218 schwer gesündigt wird. Wir müssen uns auch im Zusammenhang mit dieser Diskussion die Frage stellen, ob wir wirklich der Würde des Menschen und dem Recht auf Leben beim ungeborenen Kind den höheren, den höchsten Rang vor allen anderen möglichen Rechten einräumen, die von Dritten her geltend gemacht werden.
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Die Würde und die Rechte der noch nicht geborenen Kinder, und die Würde des Menschen und sein Recht auf Leben sind das höchste Rechtsgut. Wann immer eine Kollision mit diesen Rechten zustande kommt, dann haben diese Rechte nach unserer klaren Definition in der Verfassung den Vorzug zu haben. Wenn wir dies verletzen, dann verletzen wir die Verfassung.
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Deswegen ist es notwendig, daß wir die Würde des Menschen und das Recht auf Leben der noch nicht geborenen Kinder von unserem Gewissen her genauso bedenken wie die Schutzbedürftigkeit des Embryos.
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Ich bedanke mich bei Ihnen.
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Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende dieser jedenfalls für mich informativen Debatte. Mir bleibt nichts anderes übrig, als zunächst einmal Ihre Zustimmung zu dem interfraktionellen Vorschlag zu erbitten, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. - Dann ist dies beschlossen.
Nun sind wir am Schluß der Sitzung. Ich wünsche Ihnen, soweit Sie nicht Wahlkampf machen müssen, ein angenehmes Wochenende.
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- Aber ich bitte Sie.
Die nächste Sitzung muß ich für den 2. März 1988 um 13 Uhr einberufen.
Die Sitzung ist geschlossen.