Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet. Wir setzen die Beratungen mit der Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Dregger.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am Schlußtag unserer Debatte möchte ich mich zu drei Themen äußern, erstens zur Wirtschaft, genauer: der Einstellung der politischen Parteien zur modernen Technik und zur ökonomischen Politik, zweitens zur Landwirtschaft, genauer: der Zukunft der Landwirtschaft im Industriestaat in einer Zeit des Wandels von der Mangel- zur Überflußsituation, schließlich drittens zur Zukunft der deutschen Nation in einem Europa des Friedens und der Freiheit, für das wir arbeiten müssen.
Die wirtschaftliche, finanzielle und soziale Eröffnungsbilanz am Beginn dieser Legislaturperiode ist gestern und vorgestern ausgiebig debattiert worden. Die Opposition hat pflichtgemäß ihre Kritik vorgetragen. Aber sie konnte nicht aus der Welt schaffen, daß diese Eröffnungsbilanz ungleich besser ist als die Bilanz vor vier Jahren.
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Die SPD jedenfalls hat noch nie eine Bilanz vorlegen können, die ähnlich gute Daten enthalten hätte wie die, die wir vorgelegt haben.
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Jetzt gilt es international wettbewerbsfähig zu bleiben. Exporterschwerungen im Dollar-Raum, von denen in der Debatte die Rede war - mit Recht -, können nur gemeistert werden, wenn sich keiner der Verantwortlichen der Verantwortung entzieht.
Verantwortung trägt in einer freien Gesellschaft jeder, der Macht hat. Macht hat nicht nur der Staat, Macht haben auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände. Sie sind verantwortlich dafür, Lohn und Arbeitsbedingungen festzusetzen, die einen hohen Beschäftigungsstand ermöglichen. Fehler in der Tarifpolitik können dem gemeinsamen Ziel der Vollbeschäftigung nicht weniger abträglich sein wie Fehler in der Steuer- und Abgabenpolitik.
Für unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit entscheidend bleibt aber das, was uns Deutsche bisher auszeichnet: Problemlösungsfähigkeit, ausgezeichneter Service und technische Spitzenleistungen. Wir müssen machen, was die anderen noch nicht machen. Schiffe bauen, Kohle fördern, Massenstähle produzieren können in weiten Bereichen auch andere, zum Teil ebensogut wie wir, aber billiger. Unsere Zukunft liegt daher vor allem in den Bereichen, die von den GRÜNEN und einem Teil der SPD abgelehnt werden, in den Zukunftstechnologien nämlich.
({2})
In welchen Bereichen immer wir produzieren, wir müssen unseren Wettbewerbern voraus sein: in der Entwicklung, in der Fertigung, im Marketing.
({3})
Nur durch Vorsprünge vor den anderen können wir die hohen Produktkosten im Wettbewerb ausgleichen, die die notwendige Folge unseres hohen Lebensstandards sind.
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Die GRÜNEN, diese Kinder - ich meine jetzt niemanden persönlich - , aber vielfach Wollüstlinge des Wohlstands,
({5})
die diesen Wohlstand nicht erarbeitet haben, haben diese wirtschaftlichen Zusammenhänge gewiß noch nicht begriffen.
({6})
Die SPD, Herr Kollege Vogel, schwankt zwischen traditionellem Fortschritts- und Machbarkeitsglauben und Kulturpessimismus. Helmut Schmidt, der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler, hat die Lage in seiner Partei in einem Brief an Johannes Rau - das war vor der Bundestagswahl - wie folgt beschrieben. Ich zitiere Helmut Schmidt:
({7})
Es fehlen
- der SPD tragfähige Konzepte zur ökonomischen Politik...
({8})
Er sagt seinem Freund Johannes Rau, es wäre
... eine ungeheure Kraftanstrengung nötig, um das Geschwätz vom Wachstumsverzicht, vom Ausprobieren der Belastbarkeit der Wirtschaft, vom Rückgratzeigen gegenüber dem Kapital, von der Verharmlosung der sowjetischen Expansionsstrategie, von der Verteufelung der USA, von einer atomwaffenfreien bundesdeutschen Sonderrolle usw. in Schranken zu halten.
({9})
Das ist die Aussage des letzten sozialdemokratischen Bundeskanzlers über seine eigene Partei, meine Damen und Herren,
({10})
und sie trifft zu. Die SPD in ihrer heutigen Verfassung ist nicht regierungsfähig, weder im Bund noch in den Ländern.
({11})
Die aktuelle Lage: Johannes Rau verlor als Kanzlerkandidat der SPD die Unterstützung seiner Partei, weil er das Bündnis mit den GRÜNEN abgelehnt hat. Das ist doch der Fall. Kein Kanzlerkandidat von Ihnen ist jemals so im Stich gelassen worden wie Johannes Rau.
({12})
Die Hamburger SPD kann weder mit der CDU noch mit den GRÜNEN eine Regierung bilden, weil sich die beiden Flügel der Hamburger SPD gegenseitig blokkieren. Die hessische SPD will das Bündnis mit den GRÜNEN erneuern, obwohl es gerade gescheitert ist. In beiden Ländern finden vorgezogene Neuwahlen statt. Es sind die ungelösten inneren Probleme der SPD, die überall dort ein vernünftiges Regieren unmöglich machen, wo die Wähler die SPD noch nicht dorthin geschickt haben, wo sie jetzt hingehört: in die Opposition nämlich.
({13})
Die Orientierungslosigkeit der SPD wird auch in diesem Hause sichtbar. Die SPD hat, was mich schon nach der ersten Sitzung der letzten Legislaturperiode überrascht hat, Ihren Ehrenplatz - so möchte ich sagen - in der linken Mitte dieses Hauses geräumt, und das auch noch zugunsten der GRÜNEN.
({14})
Ich frage die SPD: Gehört sie nach ihrem Selbstverständnis nicht mehr in die linke Mitte? Gehört sie an den linken Rand?
({15})
Ist Ihr richtiger Platz links von einer Gruppierung, deren Sprecher sich selbst als Kommunist bezeichnet? Das hat es ja nicht einmal im Reichstag der Weimarer Republik gegeben.
({16})
Die SPD sollte um ihres Selbstverständnisses willen ihren Standpunkt in dieser Frage noch einmal überdenken.
({17})
Wir jedenfalls empfinden es als eine nicht leicht zu ertragende Zumutung, in der Mitte des Hauses eine Gruppierung erleben zu müssen, die sich von der Gewaltanwendung nicht distanziert,
({18})
die vom Ort der Gesetzgebung aus als Teil der Gesetzgebung die Bürger zum Gesetzesboykott auffordert, wie das auch in der letzten Debatte geschehen ist,
({19})
und die hier vor dem Rednerpult sitzend nicht selten die Verhandlungen des Hauses durch unartikulierte Laute stört.
({20})
Meine Damen und Herren, es gibt angesehene Sozialdemokraten, die aus dieser Fehlentwicklung ihrer Partei persönliche Konsequenzen gezogen haben. Heribert Reitz aus meiner hessischen Landschaft, langjähriger hessischer Finanzminister, legte aus Protest gegen das Bündnis seiner Partei mit den GRÜNEN sein Amt nieder, was ja auch nicht allzu häufig vorkommt, und zwar mit folgender Begründung. Er sagte seinem Landesparteitag - ich zitiere ihn wörtlich Ich habe die Sorge, daß das wirtschaftsstarke Hessenland eines Tages wirtschaftlich nur noch zweitrangig sein wird, wenn wir der Verweigerungshaltung der GRÜNEN gegenüber dem modernen Industriestaat, der uns alle ernähren muß, weiter nachgeben.
Recht hat er, meine ich, der Heribert Reitz.
Die Bundesrepublik Deutschland kann sich im internationalen Wettbewerb nur behaupten, wenn neue Techniken und Verfahren nicht blockiert, sondern nach Prüfung ihrer Sicherheit akzeptiert und gefördert werden. Darauf sind wir angewiesen.
({21})
Auch der Umweltschutz hängt davon ab. Es sind die
marktwirtschaftlich orientierten und die technisch
fortgeschrittenen Industrienationen des Westens, die der Zerstörung der Umwelt Einhalt gebieten,
({22})
nicht die Entwicklungsländer und nicht die sozialistischen Länder. Die katastrophale Verwüstung der Natur kann nirgendwo besser studiert werden als bei unseren östlichen Nachbarn, was nicht nur sie, sondern auch uns trifft. Daß Ihre alternativen Spielereien, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, die Zukunft nicht retten können, ergibt sich schon aus der Tatsache, daß Sie nur mit Staatsknete aus dem hessischen Haushalt künstlich am Leben erhalten werden können.
({23})
Unsere drei Steuersenkungen 1986, 1988 und 1990 sind ein großes, kühnes und sozial ausgewogenes Werk.
({24})
Wir belassen 44 Milliarden DM ohne jeden Ausgleich in der Hand der Steuerzahler.
({25})
Entlastet werden vor allem die unteren und die mittleren Einkommen.
({26})
Wir senken den Eingangssteuersatz um 3 % , den Sie in sozial unverantwortlicher Weise von 19 % auf 22 % erhöht hatten. Das war Ihr Werk zu Lasten des kleinen Mannes!
({27})
Wir erhöhen den Kinderfreibetrag und den Grundfreibetrag auf eine Marke, die Sie nicht einmal gefordert hatten.
({28})
- Die Mehrwertsteuer haben Sie mehrfach erhöht. Das hat Ihnen der Finanzminister gestern vorgetragen. Wir haben sie noch nicht erhöht.
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Wir beseitigen den sogenannten Mittelstandsbauch und schaffen einen gradlinigen Tarifverlauf und entlasten damit die mittleren Einkommen, deren Belastung überproportional hoch und daher ungerecht ist. Im Vergleich dazu ist die Absenkung des Spitzensteuersatzes, die dem Volumen nach 1 Milliarde DM ausmacht - das ist 1/45 der Nettoentlastung - ein Randpunkt.
({30})
Meine Damen und Herren, wenn wir die Unternehmenssteuern senken wollten, wenn wir die Körperschaftsteuer auf 50 % absenken wollten, dann konnte die Spreizung gegenüber dem Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer nicht größer als 3 Prozentpunkte sein. Wer es ablehnt, die Unternehmenssteuern zu senken, der betreibt Wirtschaftsförderung für unsere Konkurrenten auf dem Weltmarkt.
Wir möchten - um, das Beispiel des Finanzministers nehme ich auf, nur von den deutschsprachigen Ländern zu sprechen - , daß nicht nur in Österreich, wo der Spitzensteuersatz auf 50 % gesenkt wird, oder in der Schweiz, wo er 33 % ausmacht, noch Arbeitsplätze geschaffen werden, sondern auch hier. Diese Senkung von 56 auf 53 % ist nun wirklich kein Anlaß, den eigentlichen Kern unserer Steuerreform, der in dem geradlinigen Tarif, in der Steigerung des Kinderfreibetrags und in der Anhebung des Grundfreibetrags liegt, nun völlig falsch zu zeichnen.
Wir sind jedenfalls die Steuersenkungspartei,
({31})
und Sie sind die Steuererhöhungspartei.
({32})
Keine von den Gewerkschaften erkämpfte Nominallohnerhöhung kann den Arbeitnehmern das bringen, was wir ihnen durch stabiles Geld und eine Senkung der steuerlichen Abzüge bringen. Das ist doch die Wahrheit.
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Diese drei Steuerentlastungen sind Teile unserer Strategie für mehr Leistung und Beschäftigung.
In der Weltwirtschaft spielt sich der Wettbewerb nicht mehr allein zwischen Unternehmen ab. Er ist auf wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Ebene zu einem Wettbewerb der Nationen geworden. Die Bedeutung eines Staates wird immer weniger an seiner militärischen Stärke und immer mehr an seiner wissenschaftlichen, technischen und ökonomischen Leistung gemessen.
({34})
Das hat Gorbatschow erkannt. Deshalb will er sein erstarrtes kommunistisches System zwar nicht in eine Demokratie umwandeln. Das kann der Generalsekretär einer kommunistischen Partei nicht.
({35})
Aber er will dieses erstarrte System auflockern, um es leistungsfähiger zu machen.
({36})
Was Gorbatschow erkannt hat, sollten DIE GRÜNEN und ihr linker Anhang in der SPD nicht verkennen.
({37})
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind der bedeutendste Wirtschaftspartner der Sowjetunion.
Unsere Hilfe wird bei der Steigerung der Produktivität in der sowjetischen Wirtschaft und Landwirtschaft erwartet. So wurde es mir in der Sowjetunion erklärt.
({38})
Packen wir es an!
({39})
- Sie können so was gar nicht. Ich will es nicht qualifizieren. Sie können das gar nicht.
({40})
Ich finde, die Mitwirkung der Bundesrepublik Deutschland mit ihren besonderen ökonomischen und technischen Fähigkeiten bei der Entwicklung der sowjetischen Wirtschaft ist ein guter Einstieg nicht nur für Ökonomie, sondern auch für Politik.
({41})
Ich gebe dazu eine konkrete Anregung. Machen wir der Sowjetunion ein günstiges Angebot, das darauf zielt, die sowjetischen Kernkraftwerke auf deutsche Sicherheitsstandards umzurüsten!
({42})
Das ist gut für die Sowjetunion, das ist gut für ihre Nachbarn, und das ist gut für die Bundesrepublik Deutschland.
Nun zum Thema Landwirtschaft und ihrer Zukunft in einer Zeit des Wandels von der Mangel- zur Überflußsituation: Es sind noch 5% unserer Mitbürger, die in der Landwirtschaft beschäftigt sind.
({43})
Ihre Leistungen sind enorm. Sie haben einen schnelleren und durchgreifenderen Strukturwandel meistern müssen als jeder andere Wirtschaftszweig.
({44})
Diese bäuerlichen Familien sind, wenn auch nicht mehr zahlreich, nach wie vor der Kern unserer ländlichen Räume. Wir wollen auf sie nicht verzichten. Wir lassen sie nicht im Stich.
({45})
Das, meine Damen und Herren, was jetzt zu leisten ist, ist mehr als ein Strukturwandel. Notwendig ist die Umstellung unseres ganzen Agrarsystems.
({46})
Umstellen müssen wir uns von einer Situation des Mangels,
({47})
wie sie seit Jahrhunderten bestimmend war, auf eine Situation des Überschusses, die nicht nur vorübergehend dasein wird. Und das gilt nicht nur für den nationalen und europäischen, sondern auch für den globalen Rahmen. Diese Umstellung kann von den landwirtschaftlichen Betrieben allein nicht gemeistert werden.
({48})
Sie muß als große politische Aufgabe begriffen werden, die wir in der Europäischen Gemeinschaft, im Bund und in den Bundesländern zu leisten haben.
Ich möchte dazu heute nur zwei Anmerkungen machen: Erstens. Anders als in der gewerblichen Wirtschaft spielen in der Landwirtschaft regionale Produktionsfaktoren wie Klima und Bodenwerte eine entscheidende Rolle.
({49})
Klima, Bodenwerte und auch die Verkehrslage der Niederlande sind aber nun einmal grundlegend anders als in den französischen oder deutschen Mittelgebirgen.
({50})
Deshalb fordern wir nicht eine Nationalisierung, aber eine sachgerechte Regionalisierung der europäischen Agrarpolitik nach föderalen Prinzipien.
({51})
Herr Abgeordneter Dregger, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schilling?
Ich bin heute der erste Redner. Alle Fraktionen haben Gelegenheit, nach mir zu sprechen. Ich bin nicht sicher, daß es dem Thema sehr förderlich ist, wenn ich Ihnen jetzt das Wort gebe. Ich lasse keine Wortmeldungen zu.
({0})
Es ist wichtig, daß Sie so etwas einmal hören und darüber nachdenken.
({1})
Die zweite Bemerkung: Die Europäische Gemeinschaft ist eine Agrarunion, aber noch keine Währungsunion. Eine Veränderung der Währungsparitäten darf nicht dazu führen, daß sich die Einkommen der Bauern in den Aufwertungsländern - und dazu gehören immer wir, jetzt allerdings auch die Niederlande - automatisch verringern und in den Abwertungsländern ebenso automatisch erhöhen. Darauf gerichtete Vorschläge der EG-Kommission sind absolut unakzeptabel, meine Damen und Herren.
({2})
Und deswegen waren das harte Wort des Landwirtschaftsministers Ignaz Kiechle und der Brief des Bundeskanzlers an den Präsidenten der Kommission in vollem Umfang gerechtfertigt.
({3})
Von diesem Punkt abgesehen: In den kommenden
Jahren der Umstellung unseres ganzen Agrarsystems,
das immer auf Produktionssteigerung ausgerichtet war und jetzt auf das Gegenteil ausgerichtet werden muß, braucht die deutsche Landwirtschaft die volle Unterstützung von Bundestag und Bundesregierung. Ich sage für meine Fraktion diese Unterstützung zu.
({4})
Drittes Thema: Frieden, Sicherheit, Nation. Das ist ein ernstes Thema
({5})
und ein Zukunftsthema. Wir sollten es mit dem Ernst behandeln, den es verdient, und mit einer Perspektive, die über den Tag hinausführt. Wenn überhaupt, dann scheint mir der Beginn einer Legislaturperiode
- und das nach Reykjavik - dafür der denkbar günstigste Zeitpunkt zu sein.
Meine Damen und Herren, wir wollen Frieden, weil ein Krieg Europa zerstören würde,
({6})
gleichgültig, ob es ein atomarer oder ein nichtatomarer Krieg wäre. Denn ein nichtatomarer Krieg fände nicht in der Sowjetunion oder in den USA, er fände hier bei uns, in der Mitte Deutschlands und Europas, statt.
({7})
Frau Abgeordnete Schilling, ich muß diesen Vorwurf, der Redner würde einen Krieg vorbereiten, zurückweisen. Ich rufe Sie zur Ordnung.
({0})
- Ich bitte Sie, mit Ihren Zurufen etwas zurückhaltender zu sein.
({1})
- Frau Abgeordnete, ich bitte Sie, mit Ihren Zurufen zurückhaltender zu sein. Ich ermahne Sie!
({2})
Meine Damen und Herren, wir wollen eine Friedensordnung, die die erstarrte Kriegsordnung und mit ihr die Teilung Deutschlands und Europas überwindet, eine Friedensordnung, die die Nationen Europas zusammenführt, sie nicht unter der Führung von Weltmächten gegeneinanderstellt, die sie ungeteilt und in Frieden miteinander leben läßt, ohne Furcht. Auf diese Zukunft, die die Würde Deutschlands und Europas wiederherstellt, müssen wir hinarbeiten.
({0})
- Nun hören Sie doch einmal zu. Sie haben von diesen Dingen ja nie etwas gehört, weder in der Schule
noch auf der Universität, wenn Sie da gewesen sein sollten. Sie müssen wirklich lernen.
({1})
Wir wissen, meine Damen und Herren: Solange gegenseitiges Mißtrauen zwischen Nachbarn besteht, muß jede Seite auf Abwehrfähigkeit achten. Sicherheit setzt in der Lage, wie sie jetzt gegeben ist, ein Gleichgewicht der Kräfte voraus. Wir wollen Gleichgewicht auf einem möglichst niedrigen Rüstungsniveau. Wir wollen Frieden schaffen mit weniger Waffen.
({2}) Dazu ist Abrüstung erforderlich.
Vertrauensbildend kann Abrüstung nur sein, wenn und solange sie drei wesentliche Bedingungen erfüllt, die der französische Staatspräsident Mitterrand vor wenigen Tagen bei einem Besuch des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Späth in Paris wie folgt formuliert hat: Ausgewogenheit, Gleichzeitigkeit und Kontrollierbarkeit.
Der Nachrüstungsbeschluß, den CDU/CSU und FDP am 22. November 1983 im Deutschen Bundestag gefaßt haben, ist jetzt zum Beleg für die Richtigkeit dieser These geworden. Er hat die Sowjetunion an den Verhandlungstisch geführt und damit Abrüstungsschritte im Bereich der Mittelstreckenraketen eingeleitet. Wir begrüßen das.
Aber das ist nicht genug, denn die Bedrohung bleibt auch danach auf vier Ebenen bestehen: bei den strategischen Systemen, ein Risiko, das wir mit den Weltmächten teilen. Wir begrüßen es, daß die Weltmächte ihre übergroßen Arsenale auf die Hälfte vermindern wollen. Hinzu kommen drei Bedrohungsfelder, zu denen wir nicht schweigen können, da sie vor allem uns, uns Deutsche und Europäer, bedrohen. Das sind Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite, die das Territorium der Weltmächte nicht erreichen, dafür aber unser Land. Das sind konventionelle Waffen, bei deren Einsatz der Kriegsschauplatz ebenfalls nicht die USA oder die Sowjetunion sein würden, sondern das geteilte Deutschland und das geteilte Europa.
({3})
- Ja, es ist doch so, ich sage es doch. Ich weiß nicht, ob Sie das schon einmal so klar formuliert haben.
({4})
Das sind weiter chemische Waffen, für die das gleiche gilt.
Meine Damen und Herren, daß wir Deutschen und Europäer insbesondere diese Risiken vermindert sehen wollen, die vor allem uns bedrohen, das sollte doch nicht als Draufsatteln denunziert werden, wie es in den hinter uns liegenden Monaten geschehen ist.
({5})
Die These des Draufsattelns hat sich beim NATODoppelbeschluß als falsch erwiesen. Auf ihrem Nürnberger Parteitag wollte die SPD der Sowjetunion noch ein Monopol an Mittelstreckenraketen in Europa zugestehen. Das ist vom Tisch, nicht auf Grund der
Einsicht der SPD, sondern auf Grund der Festigkeit des Westens und der Einsicht der Sowjetunion.
({6})
Ich habe manchmal den Eindruck, daß Herr Gorbatschow für die deutschen Sicherheitsbelange viel sensibler ist als die SPD, meine Damen und Herren.
Die Theorie des Draufsattelns war auch falsch gegenüber meiner schon vor Reykjavik erhobenen Forderung, Vereinbarungen über Mittelstreckenraketen mit solchen für Raketen kürzerer Reichweite zu verbinden.
({7})
Ich verweise auf mein FAZ-Interview vom September 1986. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben meine Intervention damals kritisiert. Inzwischen ist sie allgemeine Bündnismeinung. Selbst Herr Gorbatschow hat dieser Forderung zumindest für Raketen mit Reichweiten zwischen 500 und 1 000 km prinzipiell zugestimmt. Auch bei den Raketen mit Reichweiten zwischen 150 und 500 km, die weniger die anderen Westeuropäer, aber dafür um so mehr uns Deutsche bedrohen, wird sich die Sowjetunion noch zu bewegen haben. Das Bündnis unterstützt diese Forderung.
Das, was wir anstreben, braucht die Verwirklichung der Null-Lösung im Mittelstreckenbereich größerer Weiten nicht zu verzögern. Bis zur Unterzeichnung eines Abkommens - die Verhandlungen der Weltmächte haben gerade begonnen - , vielleicht im Herbst, und bis zu ihrer Ratifizierung, vielleicht im Herbst nächsten Jahres, besteht ausreichend Zeit, konkrete Absprachen zu treffen, auch bei den Mittelstreckenraketen kürzerer Reichweite. Vorausgesetzt ist allerdings, daß der Westen weiß, was er will, welches sein Konzept ist
({8})
und daß er dieses Konzept der anderen Seite dann umgehend vorlegt.
Der Atomkrieg ist eine tödliche Gefahr. Für uns Europäer gibt es eine zweite tödliche Gefahr, nämlich den Krieg, der verharmlosend als konventioneller Krieg bezeichnet wird.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scheer.
Nein.
Dresden - ich erinnere an den Zweiten Weltkrieg - war hinsichtlich der Verluste nicht weniger schlimm als Hiroschima. Inzwischen haben die sogenannten konventionellen Waffen beträchtlich an Zerstörungskraft zugenommen. Daß der Westen sich mit atomarer Teilabrüstung einverstanden erklärt hat, bevor im konventionellen Bereich Fortschritte erzielt oder auch nur in Aussicht sind, ist ein Risiko, das er mit der isolierten Null-Lösung eingeht. Die NATO-Militärs, insbesondere General Rogers, aber auch amerikanische Politiker, die mit der Sicherheitslage Europas vertraut sind - es gibt ja solche; ich nenne Henry
Kissinger und Sam Nunn - , haben darauf hingewiesen. Wie auch immer man dieses Risiko bewertet und gegenüber der Chance abwägt, die der Abrüstungsprozeß von Reykjavik hoffentlich eröffnet - es ist ja immer in der Politik eine Frage des Abwägens -, steht jedenfalls fest, daß die atomare Komponente der europäischen Verteidigung nicht verzichtbar ist, solange die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in Europa anhält. Das ist allgemeine Bündnismeinung, die von keinem unserer Partner in Zweifel gestellt ist.
Ein Zweites kommt hinzu: Je mehr amerikanische Systeme von Europa abgezogen werden, um so wichtiger werden die französischen und britischen Systeme auch für die nicht atomar bewaffneten europäischen NATO-Partner. Wie die Abschreckungswirkung dieser französischen und britischen Systeme auch für die Partner wirksam gemacht werden kann, die nicht über Atomwaffen verfügen, ist eine Frage, die erörtert werden muß. Grundsätzlich meine ich: Unsere Aufgabe als Europäer kann es nicht sein, eine Entwicklung zu bremsen, die die Weltmächte mit der Reduzierung ihrer Waffensysteme in Europa eingeleitet haben.
({0})
Wir Europäer müssen diese Entwicklung mit dem Ziel der Risikobegrenzung begleiten, d. h. sie im Interesse Europas beeinflussen. Das geht nur, wenn wir Europäer ein gemeinsames Konzept haben und es gemeinsam vertreten.
Ich wiederhole meine Forderung aus der ersten Bundestagsdebatte nach Reykjavik: Bonn, Paris und London sollten für die Abrüstungsgespräche der Weltmächte eine gemeinsame europäische Position erarbeiten, selbstverständlich in Abstimmung mit unseren anderen NATO-Partnern.
Vorgestern habe ich in der „Welt" gelesen, der Präsident der EG-Kommission, Delors, habe im ständigen NATO-Rat in Brüssel durch seinen Vorschlag Kopfschütteln erregt, ein Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs mit dem Ziel einzuberufen, eine gemeinsame europäische Antwort auf die Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion zu formulieren. Wenn dieser Bericht zutreffen sollte, kann ich nur sagen: Meine Sympathie für Delors und nicht für die Bedenkenträger!
({1})
Im Kreml sitzt kein alter Mann mehr, sondern ein Generalsekretär voller Vitalität und Beweglichkeit. Jetzt müssen auch die Europäer beweglicher und entschlußfreudiger auf der Grundlage gemeinsamer Positionen werden, die laufend miteinander abgestimmt und fortentwickelt werden. Es genügt nicht mehr, daß die Europäer nur reagieren und die Weltmächte untertänigst bitten, man möge sie doch konsultieren.
({2})
Wir müssen selbst aktiv sein, vorausschauend und
konstruktiv. Dafür gibt es Hindernisse. - Herr
Ehmke, Sie sollten wirklich keine unqualifizierten Zwischenrufe machen; das möchte ich Ihnen mal sagen.
({3})
Ich weiß - auch das sollten Sie wissen -, Frankreich hat bisher mehr Wert darauf gelegt, in seiner nationalen Entschlußfreiheit nicht beeinträchtigt, als an den Gesprächen der Weltmächte beteiligt zu werden. Dafür gab es sogar einleuchtende Gründe. Aber in der vor uns liegenden Phase möglicherweise schneller Positionsveränderungen der Weltmächte verlieren diese Gründe meines Erachtens an Gewicht. In dieser Phase müssen wir Europäer darauf drängen, daß nicht mehr nur über Europa, sondern auch mit Europa verhandelt wird.
Der französische Premierminister Chirac hat am 2. Dezember vor der Westeuropäischen Union die Erarbeitung einer europäischen Sicherheitscharta gefordert und dazu bemerkenswerte Ausführungen gemacht. Wir sollten diese Gedanken aufnehmen - ich weiß, daß das der Fall ist - , aber wir sollten sie auch fortentwickeln. Warum sollte eine von den Europäern gemeinsam formulierte europäische Sicherheitspolitik nicht von einem der europäischen Staats- und Regierungschefs am Verhandlungstisch der Weltmächte vertreten werden?
Skepsis und Hoffnung, meine Damen und Herren, Herr Außenminister, müssen sich in dieser Zeit des Wandels die Waage halten. Um ein Element der Hoffnung hinzuzufügen, möchte ich sagen: Wenn Gorbatschow keine offensiven Ziele verfolgt, was auf absehbare Zeit wahrscheinlich ist, wenn er den Entwicklungsrückstand seines Landes im zivilen Bereich aufholen will, was er wohl muß, wenn er die Weltmachtrolle seines Landes auf Dauer bewahren will, was auch von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seines Landes abhängt, dann muß auch die Sowjetunion, wenn sie sich rational verhält, an einer Verminderung der Rüstungslasten interessiert sein, auch im konventionellen Bereich. Meine Damen und Herren, ich gebe zu, das sind vier „Wenns" ; aber sie nicht zu nennen würde bedeuten, eine unrealistische Aussage zu machen. Aber trotzdem ist diese Aussage nicht ohne Hoffnung.
Die langfristige Perspektive, auf die ich mich jetzt konzentrieren möchte, die über den Tag hinausweist, für die Zukunft Europas muß über die Sicherheitspolitik hinwegführen. Sicherheitspolitik kann Sicherheit schaffen, was sicherlich viel ist, aber sie kann die schlimme Lage Europas nicht verbessern. Die Alternative zum geteilten Europa von heute ist ein wiedervereinigtes Europa, das zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten wird. Deutschland, auch ein wiedervereinigtes Deutschland, allein wäre zu schwach, eine solche Aufgabe zu erfüllen. Aus dem europäischen Mächtesystem ist inzwischen ein Weltmächtesystem geworden, in dem außereuropäische Mächte die Hauptrolle spielen. In diesem Weltmächtesystem kann nicht ein einzelnes europäisches Land, sondern nur Europa als Ganzes Mitte sein.
Was bedeutet diese Zukunftsperspektive für die Sowjetunion, auf die es vor allem ankommt? Ein in Nationalstaaten gegliedertes vereinigtes Europa, das ja nur auf föderaler Grundlage, nicht als Einheitsstaat entstehen kann, könnte der Sowjetunion technisch und ökonomisch ein wertvoller Partner sein. Dieses Europa wäre zwar defensivfähig, aber es wäre nicht offensivfähig; denn als föderales Gebilde wäre ja das Ganze auf die Zustimmung der Teile angewiesen. Es wäre kein zentralistischer Militärblock, der für die Sowjetunion zur Gefahr werden könnte. Ein solches Europa könnte es der Sowjetunion erleichtern, ihre innere Entwicklung voranzutreiben und eine defensive Weltmachtrolle wahrzunehmen.
Diese Überlegungen führen zu drei Schlußfolgerungen für die deutsche und europäische Politik:
Erstens. Es dient nicht dem Frieden, die Einheit Deutschlands und Europas, die auch ihren Niederschlag in unserer Verfassung gefunden hat, aufzugeben.
({4})
Fortsetzung der Teilung bedeutet Fortsetzung der militärischen Konfrontation der Weltmächte mitten in Europa.
({5})
Abrüstung würde diese Konfrontation mildern, aber nicht beenden.
Fortsetzung der Teilung bedeutet zudem die Verletzung der elementaren Interessen der Völker Mitteleuropas, insbesondere Ostmitteleuropas, die von der Teilung mehr betroffen werden als die Völker Ostoder Westeuropas.
({6})
Zweitens. Die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas rückt die Weltmächte auseinander, nicht nur militärisch, sondern auch politisch. Ein wiedervereinigtes Europa, das ein wiedervereinigtes Deutschland einschließt, wäre für alle europäischen Staaten akzeptabel. Die Einheit Deutschlands und die Einheit Europas schließen sich nicht aus, sie bedingen einander. Das hatte Adenauer schon erkannt; das ist die große Idee, die er damals hatte.
({7})
Dritte Schlußfolgerung: Die Europäische Gemeinschaft muß mehr zustande bringen als den Binnenmarkt und die Währungsunion, so wichtig diese sind. Die Europäische Gemeinschaft muß auch sicherheitspolitisch zur Einheit und auf diese Weise zur politischen Union werden, um dann die Einheit ganz Europas als Mitte zwischen den Weltmächten anstreben zu können.
Meine Damen und Herren, das ist eine Perspektive, nicht mehr und nicht weniger. Sind Perspektiven in der Deutschland-, Außen- und Sicherheitspolitik entbehrlich?
({8})
Ich glaube nicht. In der Politik ist es gefährlich, ohne Perspektive zu sein und auf die Initiative der anderen immer nur reagieren zu können. Ohne Zukunftsper260
spektive werden wir unsere Jugend für ein Europa verlieren, von dem diese keine Vorstellung mehr besitzt, für ein Europa, das sich öffnet, das die Teilungsgrenze überwindet, das die Einheit in Vielfalt und in Freiheit verwirklicht. Die Zeit für die Verwirklichung dieser Perspektive mag noch nicht reif sein, obwohl sie vielleicht näher ist, als mancher denkt. Aber diese Perspektive wird an Kraft gewinnen, je mehr sich die Völker Europas ihrer historischen und kulturellen Gemeinsamkeit über die Teilungsgrenze hinweg bewußt werden.
({9})
Diese Teilungsgrenze, die eine erstarrte Kriegsordnung darstellt, ist keine historische und keine kulturelle Grenze. Auch Polen - das ist auch die Meinung der Kommunisten - gehört zu Mitteleuropa und zum abendländischen Europa. In meinem Gespräch mit dem Vizemarschall des polnischen Sejm, Rakowski, hat er dies mit Nachdruck unterstrichen.
Meine Damen und Herren, diese Perspektive wird daher an Kraft gewinnen, je mehr sich die Völker Europas ihrer historischen und kulturellen Gemeinsamkeit bewußt werden und den jetzigen Zustand der Teilung als unwürdig empfinden; und das ist er doch.
({10})
Die deutsche Frage hatte immer und hat auch heute eine europäische Dimension.
({11})
Darin stimme ich mit dem Kollegen Glotz überein. Aber anders als der Bundesgeschäftsführer der SPD sagen wir nicht: Europa statt Deutschland; wir sagen: Europa und Deutschland,
({12})
Deutschland in Europa, mit Europa und für Europa. Die Interessen Deutschlands und Europas stimmen heute wieder überein, wie in langen Perioden unserer gemeinsamen Geschichte. Es hieße die schlimmen Folgen der zwölf braunen Jahre nicht zu überwinden, sondern sie zu verewigen, wenn wir Deutschen jetzt für uns und damit unvermeidlich auch für Europa aufgeben wollten, was zu den unveräußerlichen Rechten der Menschen und der Völker gehört, nämlich Freiheit und Selbstbestimmung.
({13})
Daran halten wir für das deutsche Volk und für alle Völker Europas und der Welt fest.
({14})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Dr. Dregger, Sie sind sich auch heute wieder treu geblieben.
({0})
Sie sind sich heute treu geblieben;
({1})
Sie wurden auch heute nicht müde, immer wieder und in schwärzesten Farben auszumalen, wie verdammenswert jede politische Gruppierung ist, die es wagt, sich außerhalb der CDU/CSU zu betätigen. Das tun Sie immer, in jeder Ihrer Reden hier im Bundestag, Herr Kollege Dregger, und das wird durch ständige Wiederholungen weder richtiger noch glaubhafter; es zeigt höchstens Ihre Realitätsferne, die auch von Rede zu Rede zunimmt.
({2})
Aber ich verstehe, warum Sie, Herr Kollege Dregger, das heute tun: Es paßt Ihnen zur Zeit besonders gut ins Konzept; denn es lenkt davon ab, daß Sie mit Ihren Koalitionsvereinbarungen, mit Ihrer Regierungserklärung und mit Ihrer Ministerliste ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind, und darüber, meine Damen und Herren, wollen wir jetzt wieder reden.
„Mausgrau" - so wurden Ihre Koalitionsvereinbarungen bewertet. Keineswegs nur die Presse hat kritisiert, sondern es waren auch Kollegen aus Ihren eigenen Reihen. Was sagte der Kollege Grünbeck? „Wachsweich", so hat er Ihre Koalitionsvereinbarungen genannt. Er hat hinzugefügt, diese böten „in weitesten Teilen keinerlei Perspektive für eine Regierungsarbeit in den nächsten vier Jahren".
({3}) Recht hat der Mann, Herr Dr. Dregger!
({4})
Die Regierungserklärung von Kanzler Kohl charakterisieren die Zeitungen als „vertane Chance", obwohl sie ironisierend bestätigen, daß er eigentlich alles erwähnt hat, was für irgendwen von irgendeinem Belang sein könnte.
Und Ihre Minister? Dazu heißt es: mehr Minister, viel mehr Staatssekretäre, mehr Mittelmaß. Das ist das Urteil.
({5})
Ihre Rede, Herr Kollege Dr. Dregger, war nicht nur in einigen Teilen komisch. Sie zeigt zugleich - und das ist das Erschreckende - , wie hilflos Konservative den wichtigen Fragen unserer Zeit gegenüberstehen.
({6})
Vor einigen Tagen haben mir Schüler, die hier im Bundestag zu Gast waren, gesagt, was ihrer Meinung nach von einem guten Regierungsprogramm erwartet werden soll. Sie haben gesagt, das müsse so etwas sein wie ein Fahrplan für die Regierungspolitik, nicht ganz so dick und detailliert wie der von der Deutschen Bundesbahn, aber doch wenigstens so deutlich, daß man daraus erkennen könne, in welche Richtung die wichtigen Züge fahren.
Ich finde, das ist eine gute Erklärung. Nur, Ihr Regierungsprogramm erfüllt diese Erwartungen keineswegs. Sie geben unklare Richtungssignale. Und schon heute gibt es - sozusagen als Bestätigung dieser Feststellung - die ersten Stimmen aus Ihren Reihen mit ihren anderen Auffassungen und unterschiedlichen Interpretationen, die das eine oder andere zurechtrücken wollen. „Hirsch warnt die CSU vor neuen Forderungen" heißt es da, und natürlich geben die CSU- oder CDU-Mitglieder das in gleicher Weise zurück.
Die Regierungserklärung und Ihr Programm setzen auch die Prioritäten, also - um in meinem Bild zu bleiben - die Vorfahrtsignale, falsch.
Nehmen wir den Bereich der Rechts- und Innenpolitik. Ihre konkreten Vereinbarungen sind doch nichts anderes als eine ziemlich willkürliche Ansammlung von Regelungen. Sie sind lediglich geeignet, Ihre ideologisierte rechte Randgruppenklientel zu befriedigen. Meine Damen und Herren, Sie glauben doch wohl nicht im Ernst, daß Sie mit der Erhöhung von irgendwelchen Strafrahmen, die sowieso schon hoch genug sind, die Sorgen und die Probleme der Bürger auf diesem Gebiet auch nur entfernt ansprechen!
({7})
Die fragen doch nach etwas ganz anderem. Die fragen danach, warum unsere Gesetze immer komplizierter und undurchschaubarer werden und was Sie dagegen tun. Fehlanzeige. Sie ärgern sich, daß es immer länger dauert und immer teurer wird, bis sie zu ihrem Recht kommen. Auch dazu sagen Sie nichts. Und sie fordern immer lauter, daß endlich Schluß sein muß mit der Ungerechtigkeit, die wir beispielsweise bei Wirtschafts- und Umweltstraftaten erleben, daß nämlich der kleine Sünder sofort belangt wird, während Großverschmutzer des Rheins, wenn überhaupt, nur mit Hängen und Würgen vor den Kadi geschleppt, geschweige denn schnell verurteilt werden können.
({8})
Wie gesagt: Absichtserklärungen in Hülle und Fülle, aber wo bleiben dazu eigentlich Ihre konkreten Verabredungen? Wir haben unsere Vorstellungen auf den Tisch gelegt, und wir werden sie in den nächsten vier Jahren anmahnen.
Wir werden Sie auch beim Datenschutz nicht in Ruhe lassen, meine Damen und Herren. Ich bedaure es Herr Dr. Dregger, gerade wegen der Probleme mit der Volkszählung und mit dem Mißtrauen in der Bevölkerung, das die GRÜNEN ausnutzen, daß nicht wenigstens Sie heute die Gelegenheit ergriffen haben, in deutlichen Worten das gestörte Verhältnis Ihrer Regierung zum Datenschutz endlich in Ordnung zu bringen.
({9})
Die falschen und rechtsstaatlich bedenklichen Boykottaufrufe abzulehnen reicht nicht aus. Bußgelder und Repressalien anderer Art anzukündigen reicht auch nicht. Erfolg kann die Volkszählung vom 25. Mai nur haben, wenn die Probleme, die in einigen Bundesländern noch bestehen, in Ordnung gebracht werden und wenn auch Ihrer Bundesregierung endlich klar wird, daß der Datenschutz den überragenden Rang einnehmen muß, den er im Zeitalter der Computer und des gläsernen Menschen braucht. Sie haben diese Chance verstreichen lassen.
Noch eines: Gerade Sie, Herr Dr. Dregger, sprechen von Menschenrechten. Wer zwar mit dem Zeigefinger auf Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern hinweist - und das vielfach zu Recht -, aber 2,5 Millionen Arbeitslose in unserem eigenen Land in diesem Zusammenhang nicht einmal der Erwähnung für wert hält, der hat nichts begriffen
({10})
und, meine Damen und Herren, der ist auch nicht glaubwürdig. Wer den Spitzensteuersatz für Superverdiener senkt, aber so halbherzig und wenig entschlossen wie Sie gegen Arbeitslosigkeit vorgeht, wer Hilfen für Kohle und Stahl nicht oder kaum vorsieht und den vielen tausend Menschen - jetzt haben wir gerade von der Maxhütte in Sulzbach-Rosenberg gehört - , die dort von Arbeitslosigkeit bedroht sind, damit jede konkrete Zukunft verweigert, der, Herr Dr. Dregger, läßt Regierungsmacht zum Mittel der Befriedigung von Interessentenwünschen und zum Instrument der Machterhaltung verkommen. Das werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
({11})
Sie reden viel von Zukunft. Das war schon im Wahlkampf eines der am meisten mißbrauchten Worte Ihrer Kampagne. Ihr Regierungsprogramm setzt diese schlechte Tradition fort. Sie müssen aber doch auch bemerken, daß die Menschen heute wacher sind als früher. Sie wissen mehr. Sie lassen sich nicht mehr so leicht ein X für ein U vormachen. Sie wollen heute mitbestimmen. Auch Sie müssen doch erkennen, daß das Demokratieverständnis endgültig passé ist, das Max Weber in seinem Bericht über sein berühmtes Gespräch mit General Ludendorff am Ende des Ersten Weltkrieges zitiert. Ludendorff soll, so Weber, damals gesagt haben:
In der Demokratie wählt das Volk seinen Führer, dem es vertraut. Und der sagt dann: Haltet den Mund und pariert!
Das funktioniert heute nicht mehr, auch dann nicht, wenn einige Konservative das immer noch nicht bemerkt haben. Unsere Nachbarn, denen geht es so wie uns. Sie lassen sich durch Fachleute, etwa durch Ingenieure, gerne erklären, wie eine Maschine funktioniert. Sie können und wollen sich aber dann selber ein Urteil darüber bilden, ob sie diese Maschine wollen und ob sie sie brauchen.
Meine Damen und Herren, die Politik kommt bei den Bürgern erst dann wieder aus ihrer Glaubwürdigkeitslücke heraus, wenn die Fragen, die sie bewegen und berühren, auch in die Regierungsarbeit einfließen. Das aber fehlt bei Ihnen.
Lassen Sie mich dazu einige Worte sagen:
Maschinen ersetzen mehr und mehr menschliche Arbeitskraft. Aber wo sind Ihre konkreten Pläne für
mehr Mitbestimmung und Arbeitsplatzsicherung? Wir mahnen sie an.
({12})
Vom Umweltschutz reden auch Sie immer häufiger. Aber wie wollen Sie denn Umweltschutz gegen mächtige Interessenlobbies durchsetzen?
({13})
Ihr Regierungsprogramm enthält doch bestenfalls Absichtserklärungen, sonst nichts.
Wie soll Ihre Politik konkret mithelfen, den immer schärfer werdenden Konflikt zwischen den „schrecklich Hungrigen und den Übersatten" in unserer Welt
- um ein Wort von Willy Brandt aufzugreifen - zugunsten der Hungrigen aufzulösen oder wenigstens abzumildern? Hier haben Sie doch nichts konkret vereinbart, da ist bei Ihnen doch Fehlanzeige, Herr Dr. Dregger. Dabei wissen wir doch alle, daß Wege gefunden werden müssen, die hier weiterhelfen. Auch Bundespräsident von Weizsäcker hat bei der Übergabe der Ernennungsurkunden an die Mitglieder des Kabinetts ausdrücklich darauf hingewiesen.
Meine Damen und Herren, Schritte in diese Richtung wären ein Beitrag zu einer Politik der Zukunftssicherung.
({14})
Das wäre eine Politik für das Leben, wie Albert Schweitzer sie schon vor Jahrzehnten eingefordert hat. Wir mahnen sie heute an.
Bürokratisierungsmaßnahmen, wie Sie sie erst mit Ihrem Beratungsgesetz zu § 218 vorhaben, mit dem Sie doch bloß, wie die „Frankfurter Rundschau" zu Recht feststellt, Frauen in Schwangerschaftskonflikten unter zusätzlichen psychischen Druck setzen wollen, erfüllen diese Anforderungen nicht, sie verfälschen auch Albert Schweitzers Forderung.
({15})
Unsere Utopie, unsere Vorstellung von einer sozialen Ordnung ohne Ausbeutung, ohne Erniedrigung, ohne Not für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, in der die freie Entwicklung eines und einer jeden die Bedingung ist für die freie Entwicklung aller
- so Willy Brandt vor drei Tagen - und von einem Deutschland, Herr Kollege Dregger, mit einem politisch neuen und sozialen Inhalt, in dem die Menschen auch wirklich auf allen Gebieten über ihr eigenes Schicksal mitbestimmen können, so sagte das Kurt Schumacher vor 25 Jahren
({16})
- das tun wir, keine Sorge - , unsere Vorstellung von der Welt, in der wir leben wollen, fordert uns immer wieder heraus, unsere Vorstellungen und unsere Antworten auf neue Herausforderungen zu präzisieren. Deswegen tun wir das auch. Und auch dann, wenn es nicht immer leicht ist und Auseinandersetzungen hervorruft, die Sie, Herr Dregger, dann zu hämischen Bewertungen veranlassen. Aber, Herr Dr. Dregger, nicht nur wir sind gefordert, sondern wir mahnen derartige Antworten, d. h. eine Politik der Zukunftssicherung auch bei Ihnen an, und das erfordert klare Aussagen, auch zur Technik.
Demokratie, Wissenschaft und Technik passen doch nur so weit zusammen, wie Wissenschaft und Technik auch in politische Verantwortung eingebunden sind.
({17})
Herr Dr. Dregger, der Verweis auf Fachleute, der Verweis auf Spezialkommissionen, wie Ihre Regierungserklärung sie etwa zum Problem der Gentechnik enthält, die reichen heute nicht mehr aus. Sie müssen sich entschließen, z. B. „nein" zu sagen zur künstlichen Befruchtung im Reagenzglas,
({18})
„nein" zu sagen zur Leihmutterschaft, egal, in welcher Ausprägung. Sie müssen „nein" sagen, und zwar endgültig und eindeutig, zu Experimenten mit Embryonen, auch wenn das mächtige Interessengruppierungen unter den verschiedensten Motivationen nicht wollen.
({19})
Wenn Sie das tun, dann können wir hier im Parlament gemeinsam den besten Weg und auch den am schnellsten durchzusetzenden Weg in diese Richtung suchen. Wir sind dazu bereit.
Herr Dr. Dregger, Zukunftssicherung verlangt heute auch ein klares „Nein" zur Plutoniumwirtschaft und ein ebenso klares „Ja" zur schnellstmöglichen Ablösung der Atomenergie, weil diese einfach nicht beherrschbar ist. Das sehen wir doch auch in diesen Tagen wieder, man muß es nur zur Kenntnis nehmen wollen: Die Entscheidung für die Plutoniumtechnik, also die Entscheidung für Alkem, Kalkar und Wakkersdorf würde die Gefahren und Unsicherheiten dieser Technik doch den kommenden 5 000 Generationen - ich wiederhole: mindestens 5 000 Generationen - auflasten. Diese Entscheidung würde gleichzeitig, wenn Sie sie heute träfen, schon heute allen diesen zukünftigen Generationen endgültig die Möglichkeit nehmen, Entscheidungen über ihre Energieversorgung und viele andere Fragen selber zu treffen. Ist das eigentlich Ihr Verständnis von Demokratie, Herr Kollege Dregger, meine Damen und Herren? Unseres ist es nicht.
Gerade in diesen Tagen hat die zuständige US-Kontrollbehörde Alarm geschlagen, daß dort Plutoniumfabriken Grundwasser und Boden so verseucht haben, daß - wie sie sagen - das vielleicht nie wieder zu korrigieren sein wird und möglicherweise Hunderte von Jahren behördlicher Kontrolle und Überwachung erfordert. Wollen Sie hier eigentlich so etwas auch verantworten? Das können Sie doch gar nicht. Sie können das doch weder planen noch kontrollieren noch sicherstellen, obwohl die Zeit von 150 Jahren, so lange sie ist, in den Zusammenhängen, in denen wir reden, nur eine sehr, sehr kurz bemessene Frist darstellt. Sie können das nicht verantworten.
({20})
Zukunftssicherung, demokratische Verantwortung: Wenn Sie wirklich wollten, was Sie sagen, dann hätte Ihre Regierungserklärung Angebote enthalten müssen; Angebote an Wissenschaft und Technik, an Bürger und Parteien. Und sie hätte die Bereitschaft enthalten müssen, im Bundestag gemeinsam mit uns nach Wegen aus dieser gefährlichen Technik zu suchen und diese Wege zu beschließen.
({21})
Wir bedauern, daß das nicht der Fall ist.
Lassen Sie mich noch einen Punkt anschneiden. Sie, Herr Kollege Dr. Dregger, zählen sich zu dem konservativen Flügel der Regierungsmehrheit. Wie sehr Auffassungen in Ihrem Lager auseinandergehen, haben die Verhandlungen gezeigt. Sie, Herr Dr. Dregger, gehören sicher nicht - nicht, daß Sie mich da mißverstehen - zu den Opportunisten, die lediglich nach den Stimmen aus dem rechtsradikalen Lager schielen.
({22})
Von denen gibt es sehr viele, Herr Seiters. Und wenn Sie sich schon zu Wort melden, dann spreche ich Sie ganz besonders an. Sie treiben als schreckliche Vereinfacher mit Hilfe des Themas AIDS und dem skandalösen Umgang mit Minderheiten, Ausländern und Asylproblemen, den Rechtsradikalen die Stimmen geradezu zu. Auch Sie sollten erkennen, daß das eine Gefahr ist.
Aber daneben steht auch fest: Die Erklärungen, die Forderungen, die Feststellungen der Konservativen reichen heute einfach nicht mehr aus, Herr Dr. Dregger. Das zeigt sich überall, in der Wirtschaftspolitik besonders deutlich. Die Rezepte der Konservativen sind überall und sichtbar gescheitert: in den USA, in Frankreich und in England. Wollen Sie es mit Ihrer geradezu besessenen Marktideologie eigentlich wirklich darauf ankommen lassen
({23})
- hören Sie zu, Herr Dr. Dregger - , daß auch bei uns in der Bundesrepublik durch „Industrieruinen ganze Landstriche veröden, sozusagen als Museumsstücke einer besseren Vergangenheit", wie Dieter Wild in seinem gerade für Konservative lesenswerten Essay letzte Woche im „Spiegel" mit Blick auf England bissig festgestellt hat? Wir wollen das nicht. Deswegen bestehen wir weiterhin auf der Änderung der von Ihnen vorgesehenen Wirtschaftspolitik.
({24})
Sie argumentieren unermüdlich, immer wieder mit der Autorität des Staates, die gestärkt werden muß. Kollege Eyrich aus Baden-Württemberg weist mit Recht darauf hin, daß eine Gesellschaft gemeinsame Werte braucht und daß jeder wissen muß, was Recht und Unrecht ist; das liegt im Sinne des Grundgesetzes. Dem stimmen wir ausdrücklich zu.
Aber merken Sie eigentlich nicht, wie hohl das klingt, wenn Ihre Klagen und Beanstandungen zwar in Richtung auf Blockierer, etwa in Mutlangen, ausgesprochen werden, keineswegs aber in Richtung auf den bayerischen Ministerpräsidenten, der ja bekanntlich den Brenner-Blockierern ermutigend auf die Schulter klopfte? Merken Sie eigentlich nicht, wie hohl diese konservative Klage über die Verluderung des Rechtsbewußtseins wirken muß, wenn zwar der Volkszählungsboykott - und das zu Recht - angeprangert wird, Sie aber keineswegs davor zurückschrecken - ich habe Ihre Rede von diesem Pult noch im Ohr, Herr Dr. Dregger - , gegen jeden demokratischen Stil und auch gegen verfassungsrechtliche Gepflogenheiten eine Amnestie für Steuerhinterzieher zu fordern, als es um Parteispenden ging, nachdem die Gerichtsverfahren gerade erst in Gang gekommen waren?
({25})
Sind Sie sich eigentlich darüber im klaren, welche Auswirkungen es auf das Rechtsbewußtsein der Bevölkerung haben muß, wenn sofort nach der Verurteilung eines geschätzten Kollegen zu einer Geldstrafe wegen Steuerhinterziehung - und, Herr Kollege Engelhard, in diesem Fall unwidersprochen durch den Justizminister - darüber diskutiert wird, wer ihm diese Strafe zahlt?
({26})
Dem neuen Vorsitzenden des Richterbundes, Herrn Pelz, ist das sehr wohl aufgefallen. Er betonte zu Recht:
„Ich finde es wirklich nicht gut, wenn Vertreter einer demokratischen Partei in aller Öffentlichkeit ein Verhalten ankündigen, das auf eine strafbare Handlung hinauslaufen könnte."
Und recht hat er.
Wie gesagt: Rechtsbewußtsein hochhalten, das heißt, daß dies gegenüber Boykottaufrufen der GRÜNEN genauso gelten muß wie gegenüber Verhalten anderer Parteien, auch gegenüber Ankündigungen der FDP. Alles andere ist ein taktischer Umgang mit dem Recht, den wir ablehnen.
({27})
Ein weiterer Punkt: Es führt nicht nur zu einer unerträglichen Verfälschung unserer Geschichte, sondern auch zu einer Verluderung des Rechtsbewußtseins sondergleichen, wenn die deutsche historische Verantwortung für den Mord an Millionen Menschen jüdischer Herkunft ihrer Unvergleichlichkeit beraubt, wenn sie herabgestuft oder verwischt werden soll, wenn - und Willy Brandt führte das vor einigen Tagen aus - Gewaltmaßnahmen gegen diese Opfer mit dem Schein der Legalität umkleidet werden sollen. Wissen Sie, Herr Dr. Dregger, ich denke, in diesem Punkt sollten alle Parteien einig sein. Deutsche Politik der Gegenwart darf nicht den Eindruck erwekken, als akzeptiere sie solche Thesen oder Entwicklungen. Und sie werden in dem derzeit laufenden Historikerstreit geäußert.
({28})
Ich hätte klarstellende Worte dazu gerne in der Regierungserklärung des Kanzlers gehört. Herr Dr. Dregger, ich hätte es auch begrüßt und von Ihnen eigentlich auch erwartet - vielleicht bin ich naiv -,
wenn Sie das hier deutlich gemacht hätten. Beides vermissen wir.
({29})
Daß das so ist, Herr Dregger, das hat - auf Ihre Zwischenrufe muß ich das leider feststellen - wohl seinen Grund. Bedauerlich. Damit wäre auch erklärt, warum ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang fehlt. Das ist vor diesem Hintergrund besonders peinlich. Wiedergutmachungsleistungen hatte die Bundesregierung den letzten noch lebenden Opfern der Nazis versprochen, den Sinti, den Roma und den anderen Gruppen, den Zwangssterilisierten, die so schwer gelitten haben. Wo bleibt denn eigentlich die Einlösung dieser Versprechen, Herr Dregger?
({30})
Ist es Zufall, daß Verschleppungsmanöver bekanntwerden, daß Sie sich dazu aber nicht äußern? Herr Dr. Dregger, hier gibt es unerträgliche Verzögerungen. Ich denke, das können auch Sie sich nicht leisten. Das geht nicht. Die Opfer können auch nicht mehr warten. Ich meine, jemand aus den Reihen der Bundesregierung oder den Reihen der CDU/CSU/FDPMehrheitskoalition sollte heute die Gelegenheit ergreifen, dazu noch klärende Worte zu sagen.
Lassen Sie mich ein Wort vom Anfang aufgreifen: Ihre Rede, Herr Kollege Dregger, hat in eindrucksvoller Weise unterstrichen, wie hilflos Sie den Anforderungen und Aufgaben unserer Zeit gegenüberstehen. „Weiter so" reicht einfach nicht mehr aus. Wenn Sie so weitermachen, werden Sie scheitern. Wir werden Sie in den nächsten Jahren immer wieder auf Ihre Verantwortung hinweisen.
({31})
Das Wort hat der Abgeordnete Mischnick.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Frau Däubler-Gmelin, Sie haben Kritik an der Regierungserklärung dahin gehend geübt, daß es sehr viel gewesen sei; andere haben Kritik daran geübt, z. B. der Kollege Hauff, daß nicht genügend aufgeführt worden sei. Es ist bei allen Regierungserklärungen so gewesen, daß die einen der Meinung waren, es sei zuviel drin, die anderen der Meinung waren, es sei zuwenig drin. Damit wird ja nicht aus der Welt geschafft, daß die Grundlinien für die Politik der nächsten vier Jahre in dieser Regierungserklärung festgelegt worden sind, ja in manchen Punkten viel detaillierter, als das früher der Fall gewesen ist, und damit deutlich wird, was wir im Laufe dieser Legislaturperiode durchzuführen beabsichtigen. Gesetzentwürfe sind noch nie mit Regierungserklärungen eingebracht worden. Dies wäre auch völlig unmöglich.
Wenn Sie nun davon gesprochen haben, es müsse ein Fahrplan für die Regierungspolitik sein: völlig richtig. Nehmen Sie die Regierungserklärung, nehmen Sie die Koalitionsvereinbarungen: Das ist insgesamt der Fahrplan für diese Legislaturperiode. Aber man weiß doch: Für vier Jahre kann man nicht sämtliche Züge, die fahren sollen, schon genau in den Fahrplan hineinnehmen. Im Laufe der Entwicklung wird es eine Menge Sonderzüge geben, die man einlegen müßte. Man weiß ja nicht alles, was in diesen vier Jahren auf uns zukommt.
Richtig ist, daß es natürlich auch bei einer Regierungserklärung, bei einer Koalitionsvereinbarung Kollegen aus den eigenen Reihen gibt, die zu einzelnen Punkten eine andere Meinung haben.
({0})
- Auch das soll schon vorgekommen sein. Ich kann mich nicht entsinnen, daß je ein Kanzler alle Stimmen seiner jeweiligen Koalition bekommen hätte, noch nicht einmal, wenn seine Fraktion die absolute Mehrheit gehabt hat.
({1})
Das hat es noch nie gegeben. So etwas wird immer wieder passieren. Daß sich die jeweilige Opposition darüber freut, die Koalition sich nicht darüber freut, ist auch eine Erfahrungstatsache, worüber länger zu reden nicht lohnt.
({2})
Nachdem Sie es hier aber aufgebracht haben, will ich das nur so feststellen.
Daß unterschiedliche Meinungen bestehen, daß aber die Unterschiede in der praktischen Arbeit ausgeräumt werden können, haben wir auch immer wieder erlebt.
({3})
Deshalb ist das Ganze die übliche, verständliche Kritik. Aber sie ändert nichts an der Tatsache, daß das Gesamtbild, das diese Regierung, diese Koalition von der Arbeit für die nächsten vier Jahre hat, ein überzeugendes Bild ist und deutlich macht, daß wir das Begonnene nicht nur fortsetzen, sondern weiterentwickeln werden, um sicherzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland
({4})
ihren wirtschaftlichen Stand nicht nur hält, sondern auch weiterentwickeln kann, daß sie in der politischen Gesamtsituation ihr Gewicht in Europa, in den Bündnissystemen behält und daß es uns gelingt, die Schwächen und Mängel, die bei uns genauso vorhanden sind wie bei Regierungen in früheren Zeiten, Schritt für Schritt abgebaut werden.
({5})
Frau Kollegin Däubler-Gmelin hat viele Punkte angesprochen. Ich will mich mit einigen auseinandersetzen. Sie hat davon gesprochen, daß schnellere Entscheidungen der Gerichte notwendig wären. Sie haben bestimmte Dinge aufgezählt. Ich teile Ihre Meinung. Ich hätte es allerdings begrüßt, wenn Sie hinzugefügt hätten: Es wäre auch notwendig, daß z. B. gefaßte vermummte Gewalttäter schneller vor Gericht gestellt und verurteilt würden, damit die Polizei nicht erleben muß, daß sie sie acht oder vierzehn Tage
danach schon wieder bei Demonstrationen festnehmen muß, weil sie sich gesetzeswidrig verhalten.
({6})
Wenn gemeinsam Lösungen gefunden werden können, daß das schneller geschieht: Wir sind herzlich gern dazu bereit.
Sie sagten, es sei kein Wort über die zweieinhalb Millionen Arbeitslosen gesprochen worden. Aber Frau Kollegin, daß in den letzten Tagen über die Arbeitslosigkeit immer wieder gesprochen worden ist, ist doch unbestreitbar. Niemand leugnet, daß wir zur Zeit zweieinhalb Millionen Arbeitslose haben. Aber es ist genauso ein Tatbestand, daß über sechshunderttausend Arbeitsplätze mehr geschaffen worden sind. Es ist genauso ein Tatbestand, daß die Tatsache, daß wir heute eine Preissteigerungsrate teilweise unter 0 % oder knapp über 0 % haben, die größte soziale Tat ist - auch für die Arbeitslosen -, die je in den letzten zehn, zwanzig Jahren von einer Koalition vollbracht worden ist.
({7})
Denn das ist praktische Sozialpolitik.
Wenn Sie beklagen, daß über die Arbeitslosigkeit von Herrn Kollegen Dregger im Augenblick nichts gesagt worden ist,
({8})
dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie vielleicht Ihre hessischen Kollegen daran erinnern würden, daß im hessischen Haushalt Hunderte von Millionen, knapp eine Milliarde D-Mark an Investitionsmitteln nicht ausgegeben werden konnten, weil man sich über Straßenbaumaßnahmen - der Kollege Kleinert hat noch gerühmt, daß man das verhindert hat - , über Umweltschutzmaßnahmen nicht einigen konnte. Das ist eine Politik, die Arbeitslosigkeit schafft, aber nicht vermeidet. Darum sollten Sie sich einmal kümmern.
({9})
- Wenn Ihre Kollegen in Hessen dafür gesorgt haben, daß Ortskerne nicht durch Umgehungsstraßen entlastet wurden, haben sie zur Umweltverschmutzung beigetragen, sie aber nicht abgebaut. Das ist die Wahrheit, nichts anderes.
({10})
Frau Kollegin Däubler-Gmelin, Sie haben von mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz gesprochen. Wir sind mit Ihnen einer Meinung. Wir waren immer für den Ausbau der individuellen Mitbestimmung.
({11})
Ich füge hinzu: Ich freue mich darauf, daß, wenn es darum geht, zumindest bei den vier Betrieben, die in der Montan-Mitbestimmung bleiben,
({12})
das Wahlverfahren zu demokratisieren,
({13})
Sie unsere Überlegungen unterstützen werden, damit die Angehörigen der Betriebe nicht nur die eigenen Vertreter, sondern auch die von den Gewerkschaften benannten selbst wählen können. Wenn Sie das auf die ganze Montan-Mitbestimmung ausdehnen wollen, um mehr Selbstbestimmung der Arbeitnehmer zu erreichen, stehen wir dazu jederzeit zur Verfügung. Früher haben Sie das leider abgelehnt. Individuelle Mitbestimmung also bitte nicht nur in dem einen Bereich, sondern generell für alle Arbeitnehmer. Das ist unsere Meinung, dazu stehen wir.
({14})
Frau Kollegin, Sie haben zu § 218 und insbesondere zu dem Meldegesetz Stellung genommen.
({15})
- Zu dem Beratungsgesetz; ich bitte um Entschuldigung. - Natürlich wird man darüber zu diskutieren haben. Ich wollte nur sagen: Ein Punkt, der eine Rolle spielt, ist die Meldepflicht bei vorgenommenen Abtreibungen, die Pflicht zur Meldung an das Statistische Bundesamt, die wir gemeinsam beschlossen haben. Sie ist bisher in einer Weise mißachtet worden, daß man das doch beseitigen muß. Wenn im Jahr rund 90 000 Eingriffe gemeldet werden, aber 200 000 abgerechnet werden, dann ist das eine Diskrepanz, die man ausräumen muß,
({16})
weil das Gesetz dies vorsieht. Das Gesetz wird hier nicht beachtet. Das ist doch ein Punkt, über den wir uns eigentlich einig sein sollten, nachdem wir das damals gemeinsam beschlossen haben.
({17})
Ich gehe soweit zu sagen: Wer die Pflicht des Gesetzes nicht befolgt, der sollte auch nicht bei der Abrechnung berücksichtigt werden, damit hier endlich einmal vernünftige Verhaltensweisen Platz greifen.
({18})
Ich füge allerdings auch hinzu: Das Gesetz selbst wird nicht geändert werden.
Sie haben davon gesprochen, daß in konservativen Ländern Wirtschaftsprogramme, Kampf gegen die Arbeitslosigkeit, Strukturveränderung nicht erfolgreich gewesen seien. Können Sie mir ein sozialisti266
sches Land nennen, wo deren Vorstellungen erfolgreich waren? Das gibt es nicht.
({19})
Richtig ist, daß wir, die Bundesrepublik Deutschland, eines der wenigen Länder sind, die in den letzten vier, fünf Jahren erreicht haben, daß wirtschaftliche Entwicklung möglich wurde, daß Arbeitslosigkeitsanstieg abgebremst wurde, daß mehr Beschäftigung erreicht wird und damit die besten Voraussetzungen geschaffen worden sind, noch im Laufe der nächsten fünf, sechs Jahre wirklich zu einem entscheidenden Abbau der Arbeitslosigkeit zu kommen. Das werden wir fortsetzen.
({20})
Sie haben davon gesprochen, daß wir in ein paar Bereichen
({21})
noch Folgen der Zeit des Nationalsozialismus haben, daß noch nicht alle Mängel beseitigt worden sind, daß es manche Gruppen gibt, deren verständliche Wünsche nach Entschädigung noch nicht berücksichtigt worden sind. Hier werden wir zu Lösungen kommen müssen.
({22})
Wir sind immer der Meinung gewesen, daß hier zwar insgesamt ein Abschluß erreicht werden muß, daß aber Mängel, wo sie bestehen, ausgemerzt werden müssen.
({23})
- Aber selbstverständlich: solange sie noch leben!
Meine Damen und Herren, es ist gestern - für mich ist die Schlußdebatte immer Gelegenheit, alle Punkte aufzugreifen, die nicht erwähnt worden sind, zu denen es aber notwendig ist, Stellung zu nehmen - von dem Kollegen Kleinert - ({24}), wohlgemerkt - davon gesprochen worden, daß im Umweltschutz Luftblasen produziert worden seien.
({25})
Sehr verehrter Kollege Kleinert, es wäre gut, wenn Sie in dieser Legislaturperiode dafür sorgen könnten, daß Ihre eigenen Kollegen, wenn es um Anträge Ihrer eigenen Fraktion zum Umweltschutz geht, auch in die Ausschüsse kämen, um dort in der Sache zu beraten, statt hier große Reden zu halten. Wenn es z. B. im Sportausschuß um Sport und Umwelt ging, haben Sie nicht einmal den eigenen Antrag durch Anwesenheit eines Ihrer Fraktionsmitglieder vertreten. Das ist nämlich der Unterschied zwischen Sprüchemachen und dem Produzieren von Luftblasen, wie Sie es tun, einerseits und praktischer Politik, wie wir sie machen, andererseits.
({26})
Natürlich, man kann einmal in einer Ausschußsitzung fehlen; das passiert auch mir. Aber wenn es um die eigenen Anträge geht, muß man doch wenigstens dasein und sie vertreten. Sie können es hier nicht so darstellen, als seien Sie die einzigen, die mit der Umweltpolitik etwas am Hut hätten.
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Kollege Mischnick, gehe ich recht in der Auffassung, daß Sie sehr gut darüber im Bild sind, daß die Fraktion DIE GRÜNEN diejenige Fraktion war, die die mit Abstand meisten konkreten umweltpolitischen Initiativen in der letzten Legislaturperiode ergriffen hat, und gehe ich recht in der Annahme, daß Sie sehr gut darüber informiert sind, daß diese Mehrheit alles, aber auch alles an umweltpolitischen Initiativen unserer Fraktion mit einer beispiellosen Arroganz niedergestimmt hat?
({0})
Natürlich weiß ich, daß Sie viele Anträge hier eingebracht haben. Genauso weiß ich aus den Erklärungen vieler Kollegen, daß Sie, wenn es darum ging, dann in den Ausschüssen die praktische Arbeit zu leisten, statt hier die praktische Arbeit zu leisten, draußen demonstriert haben. Als Parlamentarier sind Sie für die Arbeit hier da, aber nicht, um draußen herumzurennen.
({0})
Bei dieser Gelegenheit kann ich gleich eine kurze Bemerkung zu einem Bereich machen, dem erfreulicherweise in der Regierungserklärung, aber auch in der Stellungnahme des Bundesinnenministers und in einigen Debattenbeiträgen eine - worüber ich mich freue - große Bedeutung beigemessen wurde, nämlich dem Sport.
Ich hoffe, daß es uns gelingt, bei der Prüfung der Gemeinnützigkeitsbestimmungen Lösungen zu finden, die den Sport finanziell entlasten und damit das hunderttausendfache ehrenamtliche Engagement in den Sportvereinen anerkennen.
({1})
- Lieber Herr Kollege, es ist in der Regierungserklärung deutlich gemacht worden, daß im Zusammenhang mit der Gemeinnützigkeitsverordnung diese Dinge behandelt werden.
Ich hoffe auch - das ist der nächste Punkt - , daß die Baunutzungsverordnung novelliert wird - sie muß nach meiner Überzeugung novelliert werden Mischnick
und daß dabei die gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe des Sports berücksichtigt wird.
Ich sage ganz deutlich: Geschärftes Umweltbewußtsein darf nicht zur Intoleranz gegen den Sport führen, wie wir es in einigen Teilen der Bundesrepublik leider schon erlebt haben.
({2})
Das gilt besonders im Hinblick auf die TA Lärm. Denn hier werden Industrielärm und Sportlärm gleichgesetzt. Das halte ich für falsch.
Ich stelle hier auch fest, daß wir dem Leistungssport weiterhin die Unterstützung gewähren, die schon bisher vorbildlich war. Ich stelle ausdrücklich fest, daß die klassischen Fraktionen dieses Hauses sich hier meist zu einer gemeinsamen Haltung zusammengefunden haben. Ich hoffe, daß das so weitergeht.
({3})
- Ach Gott, wenn Sie nicht wissen, was „die klassischen Fraktionen" sind, dann denken Sie mal darüber nach! Vielleicht fällt' s Ihnen ein.
({4})
Mit Recht hat der Kollege Dregger in seiner Rede hier einige Bemerkungen zur Landwirtschaft gemacht. Natürlich hatte der Kollege Roth recht, als er
- ich glaube, es war vorgestern - sagte, die Landwirtschaft sei in einer schlechten Situation. Niemand wird ihm widersprechen, wenn er das feststellt.
({5})
Wer aber meint, man müsse eine neue Agrarpolitik aufbauen, die auf Preispolitik im wesentlichen verzichtet
({6})
und in der Hauptsache auf Einkommensübertragung abstellt, muß auch die Antwort darauf geben, wieviel er dafür auszugeben bereit ist.
({7})
Denn das ist natürlich eine wichtige finanzielle Frage, die dann behandelt werden muß.
({8})
Die Frage: „Was dürfen Sicherung der Ernährung und Erhaltung der Kulturlandschaft kosten?" muß in dieser Gesamtdiskussion, die wir zu führen haben, beantwortet werden.
Wir Freien Demokraten haben vor eineinhalb Jahren mit unserem Gallus-Papier einige Perspektiven zur Agrarpolitik dargelegt. Das war eine Antwort auf das Grünbuch der Europäischen Gemeinschaft. Wir müssen den geordneten Rückzug aus der Nahrungsmittelüberproduktion in Europa - nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, in Europa - antreten. Dazu gehört selbstverständlich auch, daß die Lagerbestände zügig abgebaut werden. Wir begrüßen es, daß in der Koalitionsvereinbarung ausdrücklich festgelegt worden ist, daß wir agrarpolitisch wieder mehr Handlungsspielraum zurückgewinnen müssen. Dabei müssen der ruinöse Wettbewerb auf den Weltmärkten wie auch die Futtermittelimporte selbstverständlich zum Gegenstand der GATT-Verhandlungen gemacht werden.
Was in der EG bisher als Begrenzung der Produktion erreicht worden ist, begrüßen wir. Aber das ist nur ein kleiner Schritt vorwärts. Der wirkliche Durchbruch ist bisher leider nicht gelungen. Wenn es nicht zu einem mörderischen Verdrängungswettbewerb kommen soll, müssen Betriebe und Flächen aus der Produktion herausgenommen werden. Vor allen Dingen muß endlich dafür gesorgt werden, daß kapazitätserweiternde Investitionen in der gesamten Europäischen Gemeinschaft aufhören.
({9})
Denn man kann nicht auf der einen Seite dauernd sagen, wir wollen die Milchquote herabsetzen, und auf der anderen Seite neue Ställe subventionieren, um damit weiterhin Überschuß zu produzieren.
({10})
Wir erwarten, daß über die Regionalisierung der EG-Agrarpolitik, soweit das nach den Verträgen möglich ist, von den Bundesländern weniger geredet, nicht erst abgewartet wird, sondern hinsichtlich dessen, was sie heute selber schon tun können, mehr gehandelt wird. Insbesondere gilt das natürlich für den Bereich ökologischer Leistungen der Landwirtschaft.
({11})
Wir müssen auch dafür sorgen, daß unseren Landwirten weiterhin - so etwa im Sozialbereich, beim Übergang zum Nebenerwerb, bei auslaufenden Betrieben - flankierend unter die Arme gegriffen wird, um hier mitzuwirken, daß der Strukturwandel, der schon lange Zeit in Gang gesetzt worden ist, auch in den nächsten Jahren, wie es auf neudeutsch so schön heißt, abgefedert wird, damit der ländliche Raum dabei nicht Schaden leidet. Es geht ja nicht nur um die Familien der Bauern, Landwirte, sondern es geht um den ländlichen Raum insgesamt, den wir nicht entvölkern wollen.
({12})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich, bevor ich ein paar kurze Sätze zur Außenpolitik bzw. zur Deutschlandpolitik sage, etwas aufgreifen, was hier gestern war. Ich tue das deshalb, weil ich dies heute etwas ruhiger sehe als gestern. Der Herr Staatsminister Krollmann hat hier Goethe zitiert und gesagt: „Ein Tauber ist ein Blöder."
({13})
Selbst wenn man sich auf Goethe beruft, ist mit dieser
Bemerkung gegenüber den tauben Menschen in
unserer Bundesrepublik Deutschland, einer Minderheit, eine, wie ich nur feststellen kann, sehr bedauerliche Entgleisung erfolgt.
({14})
- Wenn Sie jetzt sagen, Herr Kollege Ehmke „Wie peinlich! " , dann muß ich Ihnen leider sagen, was ich unterdrücken wollte;
({15}) ich dachte, man nimmt es in Ruhe hin:
({16})
Mein Vater war taub. Er hat sein Leben lang seinen Beruf ausgeübt. Und wenn ich hier dann hören muß, daß man „taub" und „blöd" gleichstellt, dann berührt mich das. Und dagegen wehre ich mich.
({17})
Herr Abgeordneter Mischnick, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?
Bitte.
Herr Kollege Mischnick, wir sind uns doch sicher einig, daß wir die Dinge nicht verdrehen wollen. Ich darf Sie einmal fragen: Geht es Ihnen nicht wie mir, haben nicht auch Sie schon einmal das Wort „entblödet" oder „Entblöde dich nicht" benutzt, ohne damit die Tauben beleidigen zu wollen?
({0})
Lieber Herr Kollege Ehmke, ich kann mich nicht entsinnen, das getan zu haben. Ich verstehe jeden, dem mal etwas herausrutscht oder der manchmal eine Bemerkung macht, die er hinterher bedauert. Ich hatte aber gehofft, daß dies bis heute wenigstens klargestellt wird und daß es nicht erst eines Briefes des Gehörlosenverbandes an Herrn Minister Krollmann bedarf, damit er endlich klarstellt.
({0})
Ich hoffe, daß er es selber aus der Welt räumt.
({1})
- Wenn Sie mir sagen: Wenn alle so empfindlich wären wie ich, haben Sie eine Ahnung wie viel man sich schon hier in diesem Hause hat anhören müssen?
({2})
Ich bitte, keine Dialoge zu führen.
Nur, Frau Däubler-Gmelin, wenn es mir wirklich um Wahlkampf ginge, dann hätte ich das gestern gesagt. Ich hatte bis heute gehofft, daß es aus der Welt geräumt wird.
({0})
Aber nachdem ich diesen Brief des Gehörlosenverbandes bekommen habe, wird mir deutlich, wie die Menschen draußen darauf reagiert haben, sich dagegen wehren, daß hier eine Minderheit diskriminiert wird. Das ist der Punkt, weshalb ich es wieder aufgegriffen habe.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich noch eine kurze außenpolitische Bemerkung machen. Es wird ja noch sehr viel über die Politik des Friedens gesprochen werden.
({2})
- Ach Gott, wissen Sie, jetzt bin ich schon wieder ganz ruhig, keine Sorge.
Frau Abgeordnete Unruh, bitte halten Sie sich in Ihren Zwischenrufen etwas zurück.
Meine Damen und Herren, unsere Politik ist eine Politik des Friedens, die auf die Lösung strittiger Fragen durch einen Interessenausgleich ausgeht. Unsere Politik ist eine Politik der Freiheit, die die Menschenrechte im weitesten Sinne wahren und sichern hilft, ohne anderen unsere Lebensformen aufzuzwingen. Unsere Politik ist eine Politik des Realismus, die das Erreichbare nicht durch den Blick auf das Unerreichbare gefährden will, denn Entspannung und Zusammenarbeit in Ost und West erfordern auf beiden Seiten Sicherheit.
Wenn wir unsere Verpflichtung in der Welt erkennen und übernehmen wollen, dann muß der Boden, auf dem wir stehen, fest wie bisher sein. Das heißt für uns: Die NATO bleibt nach dem heutigen Stand für uns unersetzlich. Daß wir jetzt 42 Jahre ohne Krieg in Europa gelebt haben, das ist nicht zuletzt das Verdienst des Nordatlantischen Bündnisses, dieser Verteidigungsgemeinschaft. Ihr Dasein hat bewirkt, daß wir mit unserer Vertrags- und Entspannungspolitik die Früchte des Friedens ernten konnten. Daß dies so bleibt, wird jede einzelne aktive Operation unserer Außenpolitik sichtbar machen, damit die Sicherung und die Stärkung des Friedens vorangetrieben werden.
Ich begrüße, daß in der Deutschlandpolitik die Weichen zu weiteren Fortschritten und Verbesserungen gestellt worden sind. Wir Freien Demokraten waren hier immer, ohne uns eine falsche Feder an den Hut zu stecken, Vorreiter und haben nie unter Berührungsängsten gelitten. In diesen Tagen war es 40 Jahre her, daß die liberalen Parteien sich über die vier Besatzungszonen hinweg zu einer Partei zusammenschlossen unter den damaligen Vorsitzenden Heuss und Külz. Daß dieser Versuch schon nach einem knappen
Jahr wegen der Entwicklung in der sowjetischen Besatzungszone aufgegeben werden mußte, war eine Tragik der damaligen Zeit und eine Konsequenz aus der damaligen Situation. Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Liberalen sich bis heute allen widrigen Umständen zum Trotz auch immer wieder bemüht haben, Kontakte zu halten, neu aufzubauen, zu vertiefen und damit dafür Sorge zu tragen, das Ziel, daß die Menschen in den beiden deutschen Staaten miteinander verbunden bleiben, auch in Zukunft aufrechtzuerhalten.
Ich hoffe, daß bei den Konzeptionen für das „Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland" und für das „Historische Museum" gerade diese Beiträge der Liberalen den Platz finden werden, der ihnen gebührt. Ich habe in manchen Darstellungen der letzten zehn, zwanzig Jahre erleben müssen, daß übersehen wurde, wie stark gerade die Liberalen den Gedanken der nationalen Einheit in einer Zeit hochgehalten haben, wo viele in den Besatzungszonen nur an das Nächstliegendste dachten.
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Ich wäre sehr froh darüber, wenn dies bei den Konzeptionen nicht unterginge.
Die Fraktion der Freien Demokraten wird die Regierungserklärung, die Koalitionsvereinbarungen, die Politik, die damit verfolgt wird, unterstützen. Sie wird gemeinsam mit dem Koalitionspartner auch in dieser Legislaturperiode die Pflicht tun, die uns der Wähler durch seine Wahl auferlegt hat.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst ein paar Vorbemerkungen zu Herrn Dr. Dregger. Erstens. Herr Dregger, es sollte zur Viertelsbildung des Fraktionsvorsitzenden einer Partei gehören, die sich christlich nennt, daß er weiß, daß sich z. B. die Mitglieder der urchristlichen Gemeinde untereinander Kommunisten nannten. Sie sollten sich vielleicht einmal mit Herrn Ebermann über die Spannweite dieses Begriffes unterhalten.
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Zweitens. Es liegt eine unerträgliche Kontinuität der Arroganz in Ihrer Haltung zu Tschernobyl. Nach der Katastrophe erwogen Sie in Regierungs- und Parteikreisen die Geschmacklosigkeit, der Sowjetunion eine Schadensrechnung zu schicken. Jetzt soll am deutschen Atomwesen die Welt genesen. Sie spielen sich als die Leute mit der unfehlbaren Technologie auf, die die sowjetischen AKWs nachrüsten wollen.
Die Verantwortung für Tschernobyl tragen nicht nur die dortigen Politiker, sondern alle Atomfans in diesem unserem Lande, alle, die diese Entwicklung einer falschen Technologie mittragen, denn außer Tschernobyl gibt es Harrisburg; auch in Deutschland
gibt es viele Schrottreaktoren, wo ähnliches passieren kann.
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Nehmen Sie z. B. den hochversprödeten Reaktor Stade unter die Lupe: ohne Schieber für die Frischdampfleitung, so daß bei Rohrbruch, auch wenn das Wallmann-Ventil eingebaut ist, immer noch eine radioaktive Wolke Hamburg vernichten kann. Nehmen Sie das erst einmal unter die Lupe, bevor Sie solche Sprüche klopfen.
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- Das ist keine Verteufelung. Ich habe vier Jahre im niedersächsischen Landtag zu diesem Problem gearbeitet. Ich denke, ich weiß, wovon ich rede.
Drittens. Herr Dr. Dregger, Sie haben ein schönes Bild unbelehrbaren Denkens gegeben, als Sie entwikkelten: Wiedervereinigung; aber auch das wiedervereinigte Deutschland ist zu schwach; deshalb europäische Föderation als Machtblock zwischen den beiden Supermächten. In solchem Machtdenken liegt nicht die geringste Perspektive.
Über Perspektiven zu einem anderen Europa möchte ich aber jetzt sprechen. Auf dem jetzt zu Ende gegangenen Kongreß des sowjetischen Journalistenverbandes hat der Iswestija-Redakteur Bowin gefordert, verstärkt westliche Politiker und Kommentatoren zur Diskussion ins russische Fernsehen zu bitten. Ich habe mich beim Anhören der Regierungserklärung gefragt: Was, Herr Bundeskanzler, wollten Sie wohl, gesetzt, Sie würden dort einmal eingeladen, auf der Grundlage dieser Regierungserklärung sagen, ohne sich bei den Künstlern, den Schriftstellern, den Wissenschaftlern, den Tausenden, die zu neuen Ufern aufgebrochen sind, der Lächerlichkeit preiszugeben, oder, schlimmer noch, ein Gefühl der Resignation und der Hoffnungslosigkeit bei Ihnen hervorzurufen?
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Das Deprimierende an Ihrer Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, ist, daß sich in ihr auch nicht der geringste Ansatzpunkt findet, der Anlaß zu der Vermutung geben könnte, daß Sie die geistige Herausforderung - denn es ist eine geistige Herausforderung, Herr Dregger, und nicht nur eine möglicherweise militärische, also abrüstungspolitische - überhaupt begriffen hätten, geschweige denn, ihr gerecht werden könnten.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Wir GRÜNEN wissen, wie begrenzt die Reformvorschläge Gorbatschows sind, wie sehr sie einem Denken in Kategorien technokratischer Effizienz verhaftet sind, das wir GRÜNEN in seiner Ausschließlichkeit als überholt ablehnen. Aber trotzdem: Nach einer langen Zeit der scheinbaren Erstarrung allen gesellschaftlichen Lebens unter der Herrschaft einer verknöcherten Bürokratie beginnt in der Sowjetunion ein Prozeß des Umdenkens, von dem wir hoffen, daß er weit über die bisherigen Vorschläge Gorbatschows hinweggeht. Deshalb spreche ich hier die Frage an, wieweit in der Regierungserklärung Perspektiven für die För270
Dr. Lippelt ({4})
derung eines solchen Prozesses liegen können oder wieweit dort nur Hindernisse aufgebaut sind.
Der Zentralbegriff, auf den sich die Koalition bei ihren Gesprächen zum Thema Außenpolitik geeinigt hat - so war der Presse zu entnehmen - , ist der einer realistischen Entspannungspolitik. Nun ja, man sagt sich: Entspannungspolitik für Herrn Genscher, der die Blackouts des Regierungschefs ausbügeln mußte, Realismus für Strauß als Hinweis, daß es so schlimm nicht werden kann. Trotzdem blieb die Frage: Was soll nun realistisch sein? Die Regierungserklärung, die wir am Mittwoch hier hörten, hat uns belehrt - ich habe mitgeschrieben - : „Realistisch" , Herr Bundeskanzler, so sagten Sie, „weil wir nie den grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verwischen dürfen."
Ach, Herr Kohl! Wir GRÜNEN kennen den Unterschied zwischen beiden Systemen gut und wissen genau, warum wir Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Sozialstaat für wichtige und verteidigenswerte Errungenschaften halten. Aber die politischen Systeme hier wie dort sind komplexe Gebilde: Bei uns gibt es nicht nur Freiheit, sondern auch Unterdrückung und soziale Not,
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und in der Sowjetunion gibt es nicht nur Unterdrükkung, sondern auch viele schöpferische Menschen und eine Tradition des Sich-Beziehens auf europäische Werte, die wir als Dialogpartner ernst nehmen müssen.
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Aber Sie, Herr Bundeskanzler, grenzen lieber aus und fühlen sich, wie Sie in der Regierungserklärung auch gesagt und herausgestrichen haben, in der „westlichen Wertegemeinschaft" wohl. Ist Ihnen überhaupt bekannt und bewußt, wie stark der Einfluß Dostojewskis und Tolstois auf das europäische Geistesleben war?
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- Darüber werden Werte vermittelt, falls Sie das noch nicht wissen sollten.
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Seien Sie nicht so arrogant!)
- Ich habe Arroganz von Ihnen gelernt.
Ist Ihnen bewußt, daß die russische Literatur der Gegenwart eine der ganz wenigen Literaturen von Weltrang ist? Was wäre die Berlinale ohne die Filme aus der Sowjetunion gewesen, und was sind zehn Regierungserklärungen Ihrer Art auch nur gegen einen Film von Tarkowski, gerade unter dem Gesichtspunkt von Werten und von menschlichem Maß?
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Zu Ihren deutschlandpolitischen Vorstellungen und damit auch zu Herrn Dregger. Die Freiheit - so haben Sie uns vorgelesen ({1})
ist der Kern der deutschen Frage. Nun sind wir GRÜNEN ja gewiß freiheitsliebende Menschen, aber der
Kern der deutschen Frage ist, so behaupte ich, ein anderer. Es sind jene 13 Jahre, die Sie so gern übergehen, übrigens auch mit solch blumigen Wendungen wie der von der „Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen". Der Kern der deutschen Frage ist jene von uns verursachte Katastrophe Ostmitteleuropas, jenes Raumes gemischtsprachlichen und kulturellen Zusammenlebens, der vom Faschismus zerstört wurde. In dieser Katastrophe ist Europa erstarrt, aus ihrem Schatten ist es noch nicht wieder herausgetreten.
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Die Frage, die wir stellen müssen, ist: Wenn jetzt am Horizont die Möglichkeit dazu erscheint - deshalb meine Rede von der Auffassung der Initiativen - ({3})
- Ich werde schon noch anders werden, mal langsam! Dies ist meine erste Rede hier! Sie werden mich auch noch anders kennenlernen.
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Wenn jetzt am Horizont die Möglichkeit dazu erscheint, sollten wir alles tun, einen solchen Prozeß zu fördern, um mitzugestalten. Nichts kann ihn aber stärker behindern, ja gefährden als die Aussicht, daß er zu einem neuen Machtzentrum in Europa führt durch Wiedervereinigung der stärksten Macht der EG mit der zweitstärksten des COMECON. Darum treten wir GRÜNEN für die Aufgabe der Wiedervereinigungspolitik ein.
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Ich möchte das mit zwei Überlegungen untermauern. Warum, Herr Bundeskanzler, beziehen Sie sich eigentlich immer nur auf die 80 Jahre deutscher Geschichte als Einheitsstaat? Sie sind nicht so glücklich verlaufen. Warum beziehen Sie sich nicht auf die fast 1 000 Jahre deutscher Geschichte als Kulturnation? Wenn Sie hier, in diesem Fall Arm in Arm mit der gesetzestreuen SPD, das Wiedervereinigungsgebot der Grundgesetzpräambel beschwören, so werden Sie doch gewiß auch den Unterschied zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit kennen. Dazu bemühe ich nochmals die ganze deutsche Geschichte. Fast 1 000 Jahre, bis zu seiner Zerstörung durch Napoleon, existierte das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Das war damals Verfassungsnorm. Die Verfassungswirklichkeit aber hieß längst Bayern, Österreich, Preußen.
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Eine letzte in der Regierungserklärung vorgetragene befremdliche Vorstellung muß noch aufgegriffen werden. Sie haben, Herr Bundeskanzler, auch noch eine „besondere Verpflichtung den Deutschen gegenüber betont, die heute noch in den Ländern Mittelost- und Südosteuropas leben". Ich habe vorhin auf das Zusammenleben jener Minderheiten im heute untergegangenen Ostmitteleuropa hingewiesen. Hier hatte sich teils schon vor, vor allem aber nach dem Ersten Weltkrieg eine wichtige Entwicklung vollzogen, die Ausbildung kodifizierter MinderheitenDr. Lippelt ({7})
rechte. Aber diese begrüßenswerte Entwicklung war jäh unterbrochen worden durch die Instrumentalisierung der deutschen Minderheiten zu einer dritten Kolonne durch den Faschismus, die die Länder zerstörte, in denen sie lebten. Deshalb verbietet es sich einfach, nochmals an die Minderheitenschutzpolitik der Weimarer Republik anknüpfen zu wollen.
Allerdings auch und gerade wir GRÜNEN treten für das Recht auf eigene Sprache und Kultur von Minderheiten ein, aber eben nicht im Rahmen nationaler Minderheitenschutzpolitik, sondern im Rahmen einer Menschenrechtspolitik, die neben den individuellen sehr wohl auch die sozialen Menschenrechte kennt und sich für sie einsetzt,
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einerlei ob es sich um die deutsche oder ungarische Minderheit im diktatorischen Rumänien handelt oder gerade auch um die afrikanische Mehrheit in Südafrika.
Ich fasse zusammen: Wir stehen vor der Herausforderung eines neuen Denkens im Machtzentrum Osteuropas. Daraus kann, muß nicht eine Entwicklung sich ergeben, die dazu führen könnte, daß die europäischen Völker ihr Zusammenleben auf eine neue Grundlage stellen würden. Diese Entwicklung zu fördern, statt sie zu behindern, bedeutet allerdings, das Prinzip neuen Denkens, wie es dort genannt wird, auch auf unseren eigenen politisch-historischen Seelenhaushalt anzuwenden. Ich glaube nicht, daß diese Bundesregierung dazu in der Lage ist. Aber es ist auch eine Forderung, die uns allen gilt, und je eher wir alle sie erfüllen, um so eher machen wir diese Bundesregierung überflüssig.
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Das Wort hat der Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eine der wesentlichsten Zukunftsfragen ist die Rolle Europas in der Weltpolitik. HansPeter Schwarz schreibt in seiner Adenauer-Biographie über das Europa der fünfziger Jahre:
Europa ist die große Hoffnung der fünfziger Jahre, und es gibt keine kräftigere Schubkraft als die Hoffnung. Die Chiffre „Europa" steht damals
- so schreibt Schwarz für die angestrebte Partnerschaft mit den westeuropäischen Demokratien, für Gleichberechtigung, für neue Geborgenheit in der Staatengemeinschaft, für eine friedliche Zukunft und nicht zuletzt für außenpolitische Modernität.
Was ist Europa heute? Ist es tatsächlich nur der Streit um Milchseen, Butterberge, Schweinepreise, dieses traurige Bild, das wir fast jede Woche über die Fernsehschirme flimmern sehen? Oder steht Europa wirklich für die Verhinderung eines durchgreifenden Umweltschutzes, wie wir es von immer mehr Mitbürgern immer lauter hören? So wichtig und unverzichtbar die Regelung dieser Fragen auch ist: Das ist nicht
Europa, das darf nicht Europa sein. Dieses Bild von Europa dürfen wir nicht länger zulassen.
Deshalb müssen wir wieder ins Bewußtsein bringen, daß Westeuropa mit seinen für Reiseverkehr, Kulturaustausch, Handel und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit durchlässigen Grenzen und mit dem friedlichen Nebeneinander von Staaten, die für Jahrzehnte und Jahrhunderte verfeindet waren, ein Modell für andere Staaten innerhalb und außerhalb Europas sein kann, ja, sein sollte. Die Tatsache, daß wir Frieden, Freiheit und Menschenrechte als selbstverständliche Grundlagen unseres Lebens ansehen und genießen können, verpflichtet uns, wie ich finde, dazu, daß wir unseren eigenen europäischen Beitrag in der Weltpolitik in Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten und mit Japan für Frieden, Freiheit und Menschenrechte leisten.
Vor wenigen Monaten hat William Pfaff, Kommentator des „International Herald Tribune" , geschrieben:
Der Westen braucht dringend mehr als ein Land, das bereit ist, zu führen, zu denken und die Werte unserer Zivilisation sowie unserer militärischen Sicherheit zu verteidigen.
Wir stehen also vor der Alternative: Blick nach innen, Rückfall in einen europäischen Provinzialismus und damit auch weiterer Verlust an Bedeutung und Einfluß zur Vertretung unserer eigenen europäischen Interessen, damit aber auch der Interessen des Westens insgesamt, oder aber - ({0})
- Sie, die GRÜNEN in diesem Lande, sind der Ausdruck tiefen Provinzialismus!
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Die andere Alternative ist: Wir nehmen die Herausforderung an und richten unseren Blick nach außen, um unsere eigenen Interessen selbstbewußter zu vertreten und zugleich auch einen eigenen sichtbaren Beitrag Europas für Frieden, Freiheit und Menschenrechte in der Welt leisten zu können. Für uns, für die CDU/CSU, gibt es nur einen Weg: Wir wollen und wir werden diese Herausforderung in den nächsten Jahren annehmen.
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Was bedeutet das aber in der Praxis? Das politische Gewicht Europas in der Weltpolitik wird sich nur aus dem ergeben, was die Europäer tatsächlich zu leisten in der Lage sind.
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Wir werden in dem Beitrag des Kollegen Ehmke auch sehr viel über die Notwendigkeit, das Gewicht Europas zu stärken, hören. Nur, Herr Kollege Ehmke, Europa kann man nicht rhetorisch stärken. Woraus ergibt sich das Gewicht unseres Landes und damit Europas? Aus der politischen Stabilität, aus der Wirtschaftskraft und den damit verbundenen Chancen für soziale Gerechtigkeit sowie aus unserem militärischen Beitrag zur Verteidigung des Westens und
damit auch der Grundlage für Entspannung zwischen West und Ost.
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Die Sozialdemokraten haben sich aufgemacht, dieses Land und Europa rhetorisch zu stärken, aber was die politische Stabilität anlangt, so bedeutet Ihre Politik und Ihre Zusammenarbeit mit den GRÜNEN eine Schwächung Deutschlands und Europas.
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Ihre Wirtschaftspolitik würde eine Schwächung Deutschlands und Europas bedeuten, und Ihr Nein zur Aufrechterhaltung unseres militärischen Beitrages, der Rolle der Bundeswehr in ihrem bisherigen Umfang, bedeutet eine Schwächung Deutschlands und Europas in der Weltpolitik.
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Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie auf damit, Europa nur rhetorisch stärken zu wollen. Das einzige, was in der Weltpolitik zählt, ist das, was man tatsächlich auf die Waagschale bringt, und das müssen wir machen.
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Wir müssen eine europäische Außenpolitik nicht nur im Grundsatz erarbeiten, sondern auch mit konkreten Maßnahmen verwirklichen, Maßnahmen, die sich aber nicht nur - das muß ich selbstkritisch sagen - am kleinsten gemeinsamen Nenner innerhalb der Gemeinschaft orientieren dürfen.
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Die internationale Bedeutung von Ländern wie Frankreich, Großbritannien und Italien, aber auch unseres Landes, der Bundesrepublik Deutschland, ist zu groß, als daß statt einer wirkungsvollen Außenpolitik nur Maßnahmen des kleinsten gemeinsamen Nenners zur Beruhigung des eigenen Gewissens ergriffen werden könnten. Gerade auch für die Verwirklichung des Gedankens von der europäischen Einheit dürfte nichts störender sein, als wenn sich der Eindruck einer Ohnmacht Europas in wichtigen weltpolitischen Fragen festsetzen würde.
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Der moderne und zukunftsweisende Charakter Europas und unsere Bereitschaft, diese Herausforderung zu bewältigen, müssen sich für unsere Bürger auch an symbolträchtigen Beispielen festmachen lassen. Ein solches Beispiel ist für mich ein europäisches Programm zur friedlichen Nutzung des Weltraums. Im Weltraum liegt eben nicht nur wissenschaftlich-technologisches und wirtschaftliches Zukunftspotential, hier geht es auch um die Frage, ob wir unsere nationalen Fähigkeiten in Europa gemeinsam dafür nutzen können, daß sich Europa in diesem Bereich zu einem selbstbewußten und wettbewerbsfähigen Partner der USA entwickelt, oder ob es, weiterhin in nationale Eigeninteressen zersplittert, ein Juniorpartner der Amerikaner bleibt. Es geht hier also auch um die Antwort darauf, ob wir in der Lage sind, aus unseren jeweiligen nationalen Fähigkeiten heraus gemeinsam eine europäische Identität zu schaffen. Auch deshalb unterstützen wir die Teilnahme am Columbus-Projekt, auch deshalb sprechen wir uns energisch für eine deutsche Beteiligung an „Hermes" und für eine Intensivierung insbesondere der deutsch-französischen Zusammenarbeit in diesem ganz wichtigen Bereich aus.
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Nur wenn Europa eine selbstbewußte und reife Partnerschaft - ich weiß mich dabei einig auch mit dem amerikanischen Botschafter, der häufig darüber gesprochen hat - mit den Vereinigten Staaten entwikkelt, werden wir auf die Dauer die Gefahren, die ich für die seelische Gesundheit unseres Bündnisses sehe, abwenden können
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- und Sie sind ein Ausdruck dieser Gefahren, die sich für die seelische Gesundheit des Bündnisses abzeichnen -,
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Gefahren, die sich aus der für uns unverzichtbaren Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten ergeben, daß nämlich die militärische Präsenz der Vereinigten Staaten von Amerika und ihr Nuklearschutz für Westeuropa unverzichtbar sind und auch nicht durch ein eigenständiges, europäisches Vorhaben zu ersetzen wären; denn auf dem europäischen Kontinent kann die eine Großmacht Sowjetunion nur durch die andere Großmacht USA und ihren Verteidigungsbeitrag auf absehbare Zeit ausbalanciert werden.
Diese für unsere Sicherheit notwendige Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten wird für Westeuropa psychologisch um so leichter zu ertragen sein, je mehr wir in der Lage sind, durch eigene Anstrengungen überflüssige Abhängigkeiten abzubauen. Je mehr wir Europäer aus eigener Kraft tun, wozu wir selbst dank unseres wirtschaftlichen und politischen Potentials in der Lage sind, und je mehr politische Verantwortung Europa für die Wahrung der Interessen des Westens und damit auch seiner eigenen Interessen übernimmt, desto mehr werden auch die USA zu ihrer Verantwortung für Westeuropa stehen. Nur dann werden wir in den USA die falsche Vorstellung ausräumen können, die Westeuropäer konzentrierten sich zu sehr auf ihre eigenen Probleme sowie auf den wirtschaftlichen Nutzen einer europäischen Entspannungspolitik, während die Vereinigten Staaten die Kosten der Verteidigung westlicher Interessen zu tragen hätten.
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- Sie tragen gar nichts, jedenfalls nicht die Verantwortung.
Zu der Frage, was Europa eigentlich ist, gehört auch der vom sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow benutzte Begriff des „gemeinsamen Hauses Europa". Doch sollte hier klar sein, was wir darunter verstehen:
Erstens. Bewohner dieses Hauses sind und bleiben auch die USA und natürlich auch Kanada - übrigens, die Zusammensetzung der KSZE verdeutlicht dies -, dies nicht nur weil die Amerikaner als Siegermacht des Zweiten Weltkriegs Verantwortung in Europa haben und nicht nur weil sie der Garant für die Sicherheit Westeuropas sind, vielmehr haben die USA mit Ost- wie Westeuropäern eben auch gemeinsame historische und kulturelle Wurzeln, was sie zu natürlichen Bewohnern dieses gemeinsamen Hauses macht.
Zweitens. Ein gemeinsames Haus darf keine vermauerten und verschlossenen Türen haben.
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Ich weiß nicht, wer von Ihnen in einem solchen Haus leben oder solch ein Haus bauen möchte. Ein gemeinsames Haus darf keine vermauerten und geschlossenen Türen haben. Die Türen dieses Hauses müssen von all seinen Bewohnern in jede Richtung geöffnet werden können, damit sie sich in jedem beliebigen Raum dieses Hauses treffen und gemeinsam frei ihre Meinungen austauschen können. Es sind jedoch - um im Bild zu bleiben - noch erhebliche Umbauten in diesem Haus vorzunehmen, damit es dann auch einmal als ein gemeinsames bezeichnet werden kann.
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Drittens. Das langfristige politische Ziel muß es sein, in Europa eine dauerhafte und gerechte Friedensordnung mit geeigneten Sicherheitsgarantien zu schaffen, in der auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann in diesem gemeinsamen Haus aller Europäer.
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Daraus ergibt sich eine der wichtigsten Aufgaben der Ost-West-Zusammenarbeit der nächsten Jahre. Diese Zusammenarbeit muß zu dem führen, was ich die erlebbare Entspannung nennen möchte, Entspannung, die für den einzelnen Menschen in seinem täglichen Leben spürbar sein muß. Individuell erlebbare Entspannung: Das muß die Zielsetzung unserer Politik im Ost-West-Zusammenhang in den nächsten Jahren sein.
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Wir wollen deshalb möglichst gute Beziehungen zu allen Staaten Osteuropas, Beziehungen, die dem gegenseitigen Nutzen und Vorteil eben auch für die einzelnen Menschen dienen. Die Einhaltung der Menschenrechte und menschliche Erleichterungen sind deshalb unerläßlich für die Sicherung des Friedens und für mehr Stabilität in Europa.
Deshalb ist es für uns auch ein besonderes Anliegen, die Lage der Deutschen in der Sowjetunion, in Polen, aber ebenso auch in anderen osteuropäischen Staaten deutlich zu verbessern. Unser Bemühen gilt dabei nicht nur der Erleichterung von Ausreisemöglichkeiten und der Familienzusammenführung, wo es einige Verbesserungen gibt. Vielmehr muß es darum gehen, daß diesen Menschen vor allem die volle Ausübung ihrer individuellen Menschenrechte
gewährt wird, d. h. daß ihnen die Möglichkeit eingeräumt wird, frei von Diskriminierung zu leben, ihre kulturelle Tradition, ihre Religion zu pflegen und sich ihrer Sprache zu bedienen, daß sie nicht verfolgt werden, weil sie sich um die Erhaltung ihrer sprachlichen und kulturellen Eigenständigkeit bemühen.
Wer, wie die Sowjetunion und die Staaten des Warschauer Pakts, den Frieden in den Vordergrund der außenpolitischen Bemühungen stellen will, muß auch in diesen Fragen deutlich machen, daß Frieden mehr ist als nur Kriegsverhütung durch Rüstungsbegrenzung und Abrüstung.
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Eine Verbesserung der Menschenrechtssituation in Europa ist unlöslich mit dieser Politik verbunden.
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Auch ein regelmäßiger Schüler- und Studentenaustausch in beide Richtungen, nach Westen wie nach Osten, wäre ein Beitrag, zugleich aber auch ein Test auf die Bereitschaft zu erlebbarer Entspannung zwischen Ost und West. Warum ist es eigentlich so, daß mehr als 20 000 chinesische Studenten Universitäten außerhalb ihres eigenen Landes besuchen, aber bis zum heutigen Tage nicht einmal 1 000 sowjetische Studenten diese Gelegenheit haben? Warum ist es so wie auch in meinem Wahlkreis, daß dankenswerterweise viele Schulen hier bei uns sowjetische Schulklassen in der Sowjetunion besuchen, daß aber die Gegenbesuche ausbleiben? Es wäre doch ein Beitrag zur Vertrauensbildung zwischen unseren Ländern, zur gegenseitigen Förderung der Zusammenarbeit, wenn ein regelmäßiger deutschsowjetischer Schüler- und Studentenaustausch in beide Richtungen gleichgewichtig zustande kommen würde. Das wäre ein Beitrag zur Vertrauensbildung, für Glasnost, für Perestroika, für Öffnung. Eine Sowjetunion, die wieder mehr Selbstbewußtsein findet, sollte hier nicht hinter dieser enormen Öffnung zurückbleiben, die wir mit China in den letzten Jahren erlebt haben.
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Reise- und Kontaktmöglichkeiten der Deutschen in Ost und West gehören ebenfalls zu den Beispielen einer erlebbaren Entspannung. Wir wollen, daß sich unsere Landsleute aus der DDR ein eigenes Bild vom Leben in der Bundesrepublik machen können. Wir begrüßen, daß es hier zu den bekannten Verbesserungen gekommen ist. Wir wünschen, daß die positive Entwicklung im Reiseverkehr und auch im Jugendaustausch weiter ausgebaut wird. Wir wollen aber auch, daß in der DDR, und zwar dort, der direkte Dialog und möglichst viele Kontakte zwischen Bundesbürgern und Bürgern aus der DDR ohne Einschränkung möglich sind.
Insbesondere innerdeutsche Städtepartnerschaften können und sollten die individuellen wie die gemeinschaftlichen Begegnungen der Bürger fördern, insbesondere auch derjenigen Menschen, die keine familiären Bindungen zum anderen Teil Deutschlands mehr haben. Städtepartnerschaften sollten zu echten Partnerschaften zwischen den einzelnen Bürgern im Sinne der erlebbaren Entspannung werden, und das
sollte auch gerade für diejenigen Menschen möglich sein, die keine politischen Funktionen haben.
Die Vorgänge in der Sowjetunion, liebe Kolleginnen und Kollegen, berühren unmittelbar auch unsere Ost- und Deutschlandpolitik. Wir dürfen gegenüber diesen Vorgängen weder blind noch schwerhörig sein, wir dürfen ihnen gegenüber auch nicht leichtgläubig sein. Wenn sich aus diesen Entwicklungen in der Sowjetunion Chancen für unsere Ost- und Deutschlandpolitik ergäben, würden wir versagen, wenn wir diese nicht ergriffen. Doch werden wir diese Chancen nur dann nutzen können, wenn wir in unseren Grundpositionen klar und glaubwürdig sind.
Grundlage unserer Ost- und Deutschlandpolitik ist und bleibt eine glaubwürdige und berechenbare Westpolitik. Wir werden die deutsche Frage nicht voranbringen, wenn wir dem Trugbild eines neutralen Deutschlands zwischen Ost und West anhängen. Deshalb erteilen wir allen neutralistischen Tendenzen - ob nun von rechts oder von links - eine entschiedene und klare Absage.
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Wir werden die deutsche Frage nicht lösen können, solange der Ost-West-Konflikt nicht gelöst ist; denn die deutsche Frage, die Spaltung unseres Landes ist eben nicht die Ursache - wie das manche glauben -, sondern die Folge des Ost-West-Konflikts.
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Deshalb werden wir für den Dialog mit dem Osten auch keine Positionen des Bündnisses aufgeben; denn jeder außen- und sicherheitspolitische Sonderweg neben der Bündnispolitik oder gar gegen die Bündnispolitik würde unser Land sehr schnell in die internationale Isolierung führen und damit das Gewicht und den Handlungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland drastisch reduzieren. Wir wollen und wir können kein Vermittler zwischen Ost und West sein.
Die Zusammenarbeit mit unseren östlichen Nachbarn werden wir auch in Zukunft auf der Grundlage der Schlußakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gestalten. Wir werden dabei immer auch die politische, moralische und historische Dimension der deutschen Frage im Auge behalten. Wir wollen nach vorn blicken und gemeinsam mit allen unseren Nachbarn in West und Ost eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung in Europa schaffen, in der dann auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann.
Was die Entwicklung in der Sowjetunion angeht, werden für uns weniger das neue Denken als vielmehr die neuen Taten der sowjetischen Führung Maßstab der Beurteilung sein.
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Wie übersehen nicht, daß es inzwischen einige Anzeichen gibt, die zwar nicht als eine Wende, aber als ein Ausdruck für ein gewisses Umdenken in der sowjetischen Führung gewertet werden können. Was und wieviel sich an der sowjetischen Politik ändern kann und wird, müssen wir sorgfältig und ohne Euphorie
testen. Es wird vor allem von der Sowjetunion und ihrer inneren Entwicklung selbst abhängen, ob und inwieweit sich die von ihr angestrebten und auch notwendigen Veränderungen realisieren lassen.
Der Westen kann dafür keine Vorleistungen machen. Er hat bereits wesentliche, grundsätzliche Vorleistungen erbracht. Ein Beispiel dafür ist unser offenes Gesellschaftssystem. Herr Falin hat davon gestern in schöner Weise Gebrauch gemacht. Ich habe zwar in der letzten Zeit in jeder Woche einen unzensierten und unkommentierten Artikel in vielen sowjetischen Zeitschriften veröffentlichen können - das ist eine Veränderung der Situation - , aber ich wünsche mir auch, daß ich am Tage nach einer GorbatschowRede diese unzensiert im sowjetischen Fernsehen kommentieren kann.
Wir haben also Vorleistungen erbracht, auf die wir auch stolz sein sollten. Wir sollten sie ins Bewußtsein rücken. Eine andere Vorleistung ist eben auch, daß wir uns von unserer Doktrin, Struktur und den Potentialen unserer Verteidigung her die Nichtangriffsfähigkeit selbst auferlegt haben. Deshalb wird die weitere Entwicklung in der Sowjetunion auch daran zu messen sein, wieweit Moskau bereit ist, im Westen Vertrauenskapital anzusammeln.
Wir sind bereit, im Rahmen unserer Möglichkeiten einen Beitrag zur Entwicklung in der Sowjetunion zu leisten. Diese könnten sein - damit komme ich auch schon zum Ende - : Erstens. Es sollte vermieden werden, daß diejenigen Kräfte gestärkt werden, die den Prozeß der Öffnung in der Sowjetunion verhindern wollen. In unserem eigenen Interesse sollte uns an der Veränderung der sowjetischen Gesellschaftsstruktur und Wirtschaft hin zu mehr Offenheit, Effizienz und auch zu mehr Wettbewerbsfähigkeit gelegen sein; denn die Alternative dazu wäre ein erstarrendes, unflexibles, dabei zugleich aber auch militärisch übermächtiges, uns bedrohendes System.
Zweitens. Vor allem aber liegt ein grundsätzlicher Beitrag des Westens in einer im Bündnis abgestimmten, glaubwürdigen und für den Osten berechenbaren Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend den Harmel-Prinzipien. Auf der Grundlage ausreichender Verteidigungsfähigkeit sollen konstruktive Ost-WestBeziehungen geschaffen werden.
Unsere Bereitschaft, zu neuen Wegen der Zusammenarbeit zu kommen, kann aber nur an das anknüpfen, was es in der Sowjetunion an Entwicklungen gibt. Doch sollte dabei unbestritten sein: Wir wünschen eine vertiefte Zusammenarbeit in der ganzen Breite der gemeinsamen Beziehungen, so, wie es der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung hier ausgeführt hat, und so, wie es von uns allen in der Fraktion der CDU/CSU unterstützt wird. Wir alle werden uns gemeinsam in den nächsten Jahren an diese wichtige Aufgabe machen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Professor Ehmke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung, die wir hier heute am dritten Tag debattieren, hatte die offensichtliche Aufgabe, die Rahmsoße der guten und edlen Absichten über die eher kärglichen Ergebnisse ihrer Koalitionsvereinbarung zu gießen.
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Sie haben sich in den Koalitionsvereinbarungen so präsentiert, wie Sie es im Wahlkampf mit Ihrem öden „Weiter so" angedroht hatten.
Auch heute müssen wir feststellen: Die Hauptprobleme unseres Landes werden nicht angefaßt oder geleugnet, allen voran die Massenarbeitslosigkeit. „Kein Handlungsbedarf" ist der bürokratische schwarze Faden, der sich durch die Regierungserklärung zieht. Wesentliche innenpolitische Themen bleiben offen oder kontrovers, Herr Bundeskanzler, von dem in Grundfragen notwendigen Konsens mit der Opposition zu schweigen.
Sie werden jedenfalls Ihr soziales Gewissen noch erheblich anstrengen müssen, wenn wir in den Fragen der Rentenreform und der Alterssicherung zu dem Konsens des Deutschen Bundestages kommen wollen, den wir alle anstreben.
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Zukunft hat der Bundeskanzler den Wählerinnen und Wählern im Wahlkampf versprochen. Aber, Herr Bundeskanzler, wer kann in diesem Regierungsprogramm der Beharrung auf dem Status quo und der Pfründensicherung Zukunft und Perspektive entdekken? An Stelle einer Zukunft für alle werden kleinliches Vorteilsdenken und Gewinnmitnahme derjenigen gesetzt, die in dieser Gesellschaft schon immer die besseren Chancen hatten.
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Das ist übrigens auch die eigentliche Räson Ihrer sogenannten Steuerreform.
Welche Zukunft dürfen denn die Arbeitslosen erhoffen, wenn sie von Ihnen noch einmal hören, der Markt regle das im wesentlichen von selbst? Welche Zukunft geben Sie Stahl und Kohle? Welche Zukunft haben die sozial Bedrängten in unseren Städten angesichts des absehbaren Konjunkturabschwungs und der immer stärker strapazierten kommunalen Haushalte?
Welche Zukunft haben Natur und Umwelt von einem Umweltminister Wallmann zu erwarten, der seine Politik als Kulissenschieberei mit ökologischen Requisiten betreibt, bis hin zu der Molkeschieberei quer durch die ganze Republik?
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Wann werden Sie in der Agrarpolitik endlich etwas tun, was nicht nur den Großen nützt? Was dürfen wir für die Entwicklung von innerer Liberalität und mehr Datenschutz erhoffen angesichts der heillosen Zerstrittenheit in der Koalition?
Dieses Regierungsprogramm ist sachlich so dünn wie das Wahlergebnis des Bundeskanzlers und die
Zusammensetzung seines Kabinetts. Freude kann es nur bei denjenigen auslösen, denen der Spitzensteuersatz gesenkt wird. Aber die Frage, wer diese Rechnung zahlt, werden Sie ja nicht mehr lange überdekken können. Herr Stoltenberg hat doch gestern schon angefangen, ein Stück von der schwarzen Katze aus dem Sack zu lassen, als er die erste Verbrauchsteuer nannte, mit deren Erhöhung dann dem Wenigerverdienenden wieder das genommen wird, was er in der Steuerreform kriegen soll. Die Mehrwertsteuer kommt mit Sicherheit auch noch dazu.
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Herr Bundeskanzler, in unserem Urteil ist dies ein Regierungsprogramm der Satten; es ist ein Ausdruck stupenden Status-quo-Denkens.
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Sie wollen offenbar die Probleme des Landes weiter aussitzen, statt Zukunft zu gestalten. So droht Zukunft zu einem Wahlkampfslogan herabgewürdigt zu werden.
Wenn Sie diesen Kurs nicht ändern, können wir Ihnen und können wir unserem Land innenpolitisch leider wenig Gutes voraussagen. Darum werden wir für eine Kurskorrektur kämpfen.
Was die Außenpolitik betrifft, so hat der Grundton der Regierungserklärung recht vernünftig geklungen. Aber konkret geworden, Herr Bundeskanzler, sind Sie eigentlich auch auf diesem Gebiet nicht; und so recht entschieden auch nicht. Valentin Falin, den der Kollege Rühe schon zitiert hat, hat ein schönes literarisches Bild zu Ihrer Regierungserklärung gebraucht. Er hat gemeint, Sie hätten eine Brücke entlang des Stromes gebaut.
(Beifall bei der SPD - Rühe [CDU/CSU]: Wollen Sie sich das etwa zu eigen machen? Das übernehmen Sie so kritiklos? -
Natürlich übernimmt er das Bild von Falin! Er hat ja kein eigenes! - Reddemann [CDU/CSU]: Die Moskau-Fraktion meldet sich!)
- Wir sind noch nicht so weit, daß die CDU hier jemanden zitieren kann und wir nicht. Wenn Sie bitte noch so viel an Liberalität hier aufbringen würden, daß ich zitieren kann, wen ich will.
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- Ich komme noch dazu. Ich habe noch viel Zeit. Hören Sie einmal zu.
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Was mir auch auffällt, Herr Bundesaußenminister, ist, daß einige Ihrer Schlüsselbegriffe in dieser Regierungserklärung nicht vorkommen. So steht kein Wort von außenpolitischer Kontinuität drin. Es fehlt zu unserer Sorge auch der Begriff der kooperativen Sicherheit. So könnte man weitergehen und zeigen,
Dr. Ehmke ({2})
wo das Kanzleramt am Entwurf des Auswärtigen Amtes gestrichen hat.
({3})
Die Streitigkeiten, die im Wahlkampf so heftig ausgetragen worden sind, sind keineswegs ausgeräumt worden. Die Widersprüche sind nicht gelöst. Sie sind nur ausgeklammert. Sie werden weiter vor sich hergeschoben. Der Auszug der CDU aus dem Außenministerium bei gleichzeitiger Betrauung unseres verehrten Kollegen Johnny Klein mit dem Entwicklungsministerium läßt befürchten, daß ein CSU-Gegenaußenministerium entwickelt werden soll. So fürchten wir, daß der den deutschen Interessen schadende außenpolitische Streit in der Koalition weitergehen wird.
({4})
So ist es denn auch kein Wunder, daß wir in der Regierungserklärung nicht die Ankündigung eines Gesetzes über den Auswärtigen Dienst finden, Herr Außenminister, das es dem Auswärtigen Dienst ermöglichen soll, seine Aufgaben auch in Zukunft wahrzunehmen, obwohl wir uns über die Notwendigkeit eines solchen Gesetzes einig sind.
({5})
Herr Bundeskanzler, Sie haben in indirekter Form die Angriffe auf die auswärtige Kulturpolitik zurückgewiesen. Aber wir sind der Meinung, es wäre schön gewesen, wenn Sie sich mit einem klaren Wort vor die Goethe-Institute und vor dessen Präsidenten gestellt hätten.
({6})
Meinungsunterscheide bestehen weiter gegenüber Südafrika und Mittelamerika. Bei den Waffenexporten hört man Unterschiedliches. Auch da ist interessant, was in der Regierungserklärung nicht steht. Offenbar ist daran gedacht, vor allem im Nahen und Mittleren Osten, die Staatsinteressen in noch stärkerem Maße partikulären Geschäftsinteressen unterzuordnen, was der deutschen Außenpolitik, Herr Außenminister, nicht gut tun könnte.
Wir werden auf alle diese Dinge zu gegebener Zeit zurückkommen. Ich möchte heute meine Redezeit vor allen Dingen dazu benutzen, Ihnen einen Vorschlag für eine gemeinsame Initiative zu machen. Herr Rühe, ich freue mich, daß schon die bloße Ankündigung offenbar zu mehr Gemeinsamkeit geführt hat.
Die Weltpolitik ist erheblich in Bewegung geraten. In der Sowjetunion bahnt sich eine möglicherweise weitreichende politische Umwälzung an. Die Bereitschaft der sowjetischen Führung, ein Separatabkommen über den Abbau aller in Europa stationierten Mittelstreckenraketen zu schließen, ist ein Zeichen dafür, daß sich nicht nur bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, sondern auch in den Ost-West-Beziehungen insgesamt ein neues Kapitel eröffnen könnte.
Wir sollten - Herr Kollege Dregger, wir und Sie - uns selbst und anderen eingestehen, daß wir die Dramatik der Entwicklung in der Sowjetunion unter Gorbatschow nicht vorausgesehen haben. Sie ist im Kern auch nicht einfach eine Folge westlicher Politik, wie Sie das gerne darstellen. Das gilt für die Entspannungspolitik - so sehr sie das Ost-West-Verhältnis positiv beeinflußt hat - und erst recht für die Politik des Doppelbeschlusses. Die neue Entwicklung in der Sowjetunion - es ist wichtig, daß wir uns darüber einigen - ist primär ein Ausdruck der inneren Probleme des Landes und ihrer realistischen Einschätzung und Beurteilung durch den neuen Generalsekretär.
({7})
Ob dieser Versuch gelingen wird, wie weit er führen wird, weiß heute niemand, Gorbatschow eingeschlossen. Aber uns im Westen, vor allem uns in Westeuropa - und darin besteht offenbar Gemeinsamkeit - kann nicht egal sein, ob der Versuch scheitert oder zum Erfolg führt.
({8})
Wir müssen unser Verhalten gegenüber diesem Versuch klären. Ich bin der Meinung - ich habe auch Sie so verstanden, Herr Dregger, und Sie, Herr Rühe -, wir sollten positiv reagieren.
Gorbatschow versucht, den russisch-sowjetischen Koloß zu bewegen, der lange in Immobilismus erstarrt war. Dieses Schauspiel findet auch der amerikanische Außenminister Shultz faszinierend. Selbst die der Sympathie für die Sowjetunion gänzlich unverdächtige Frau Kirkpatrick erklärte nach einer Begegnung mit Gorbatschow, daß sich echter Wandel abzeichne. Henry Kissinger urteilt, in der Sowjetunion liege Reform in der Luft, und andere sprechen - mit einer gewissen Parallele zu Peter dem Großen - von einer „Revolution von oben " .
Die Annahme, wir hätten es dabei mit einem Wandel der Sowjetunion zu einer Demokratie westlichen Zuschnitts zu tun, wäre allerdings verfehlt. Die heutige sowjetische Führung versucht eine energische Modernisierung, weil sie sich bewußt ist, daß sie ohne innere Umgestaltung des eigenen Systems den Wettbewerb mit unserem Gesellschaftssystem nicht durchhalten und schon gar nicht gewinnen kann. In einem zuvor nicht für möglich gehaltenen Ausmaß öffnet sich das System im Innern, erweitert es individuelle Verantwortung in wichtigen Bereichen von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.
Daß dies die Außenpolitik nicht unberührt lassen kann, daß es neue außenpolitische Rahmenbedingungen erfordert, liegt auf der Hand. Aber es kommt hinzu, daß die sowjetische Führung - Sie können das interessanterweise übrigens auch am neuen Parteiprogramm studieren - neue außen- und sicherheitspolitische Folgerungen aus den Gefahren des Atomzeitalters gezogen hat. Wird die Sowjetunion aufgeschlossener für Zusammenarbeit, berechenbarer als Partner? Wir haben allen Grund, ja wir haben die Pflicht - ich glaube, auch das ist gemeinsame Überzeugung - , dies aufmerksam zu prüfen und sorgfältig zu bewerten.
Dr. Ehmke ({9})
Auch die USA, über die Sie nicht gesprochen haben, sind in Bewegung. Der nächste Präsidentschaftswahlkampf zeichnet sich ab. Von der ersten Vorwahl im Februar 1988 bis zur Amtseinführung des neuen Präsidenten im Januar 1989 werden die Vereinigten Staaten ganz im Banne dieses Ereignisses stehen. Nicht ganz ohne Sorge beobachten wir einen Prozeß, der zu einer politischen Schwächung des Präsidenten zwei Jahre vor dem Ende seiner Amtszeit geführt hat. Der Tower-Bericht über die Hintergründe der Iran-Affäre hat dies auf bestürzende Weise verdeutlicht. Die Affäre ist noch nicht zu Ende, die Wirkung auf die amerikanische Handlungsfähigkeit gegenüber der Sowjetunion daher heute noch nicht voll abzusehen. Zugleich wächst die Autorität des jetzt von den Demokraten beherrschten Kongresses. Mit einem möglichen Sieg der Demokraten in den nächsten Wahlen würden die politischen Akzente auf Kooperation und Rüstungskontrolle weiter verstärkt.
Was folgt daraus für uns in Europa und insbesondere für uns in der Bundesrepublik? Herr Kollege Dregger, Herr Kollege Rühe, Sie geben die gleiche Antwort, die wir geben. Sie heißt: größere Aktivität Europas. Nun hat Herr Rühe von den europäischen Potentialen gesprochen und hat gemeint, daß wir diese Potentiale gar nicht voll auf die Waagschale bringen. Aber, Herr Kollege Rühe, das liegt natürlich nicht an den fehlenden Potentialen, ich teile da Ihre Meinung. Wir haben mehr Menschen als die Vereinigten Staaten und mehr Menschen als die Sowjetunion. Wir haben 320 Millionen Menschen in Westeuropa. - Übrigens sehen die Soldatenzahlen auch sehr viel besser aus, wenn Sie die Spanier und alle anderen mitrechnen; drüben rechnen sie ja auch alles mit. - Wir haben also große Potentiale, unser Problem ist: Es fehlt Politik.
({10})
Wenn Sie sagen, Herr Rühe, wir machten nur in Rhetorik, so sage ich Ihnen folgendes. Was wir mit unseren Freunden in Europa besprechen, ist nicht Rhetorik, sondern Politik. Was wir in Osteuropa machen - das wissen Sie so gut wie der Außenminister und der Kanzler - , was wir z. B. in Polen gemacht haben, das ist keine Rhetorik, sondern sehr wichtige Politik. Was wir mit der DDR vereinbart haben, was wir mit unseren polnischen Gesprächspartnern vereinbart haben, das ist keine Rhetorik. Machen Sie es sich doch nicht so einfach! Und vor allem: wenn ich Sie reden höre, habe ich das Gefühl, wir regierten und nicht Sie.
({11})
- Aber, Herr Rühe. Sie kommen aus dieser Fragestellung so schnell doch nicht heraus.
({12})
Was sind denn nun Ihre Taten, Herr Dregger? Ich habe - Sie haben mir dankenswerterweise Ihr Manuskript gegeben - gelesen, was Sie über die Rolle Europas in dem Zusammenhang gesagt haben. Ich stimme dem weitgehend zu. Nur, wir haben es doch erlebt: Beschwörungen allein nützen nichts. Es ist schon gut, daß wir diese Grundauffassung haben. Aber wir haben die Pflicht, in dieser Situation mit eigenen Konzepten, mit eigenen Initiativen zu antworten, und die fehlen, jedenfalls zum großen Teil.
({13})
Ich bin der Meinung: Bei der Situation der Großmächte, wie ich sie beschrieben habe, ist jetzt die Stunde, in der wir mit unseren westeuropäischen Partnern die Kraft zum Handeln entwickeln müssen. Das gilt ganz besonders für das nun greifbar nahegerückte Abkommen über die Befreiung Europas von Mittelstreckenraketen. Es ist eine jener Gelegenheiten, von denen Adenauer einmal gesagt hat, es sei gefährlich, sie zu versäumen, weil sie selten wiederkehrten. Europa, das Europa der Gemeinschaft, muß gerade jetzt eine aktive, vorantreibende Rolle übernehmen. Oft genug haben wir uns darüber beklagt - gerade auch wir Sozialdemokraten -, daß Europa nur Objekt von Entscheidungen sei, die von den Großen bestimmt würden.
Wir brauchen eine europäische Initiative. Und wir brauchen sie - ich sage das hier nach Diskussion in der Parteiführung und in der Fraktion - mit einem überparteilichen Ansatz. Denn erfolgreiche Politik für Europa muß nicht nur über Länder-, sie muß auch über Parteigrenzen hinausgreifen. Wir können nicht warten, bis Europa unicolor schwarz, rot, grün oder gelb ist. Wir werden es immer mit parteimäßig unterschiedlich zusammengesetzten Regierungen in Europa zu tun haben. Darum muß der Versuch gemacht werden, Europa auf möglichst breiter Basis voranzubringen.
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Über die tagespolitischen Fronten hinweg muß allen kooperationswilligen Kräften in ihren jeweiligen Ländern, ob in der Regierung oder in der Opposition, diese Möglichkeit zur Mitarbeit offenstehen. Ich denke an ein Spektrum - erschrecken Sie bitte nicht gleich wieder - , das sich von den britischen Konservativen bis zu den Eurokommunisten Italiens erstreckt. Herr Rühe, bevor Sie den Kopf schütteln, reden Sie vielleicht einmal ein Wort mit Herrn Andreotti.
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Bloße Absichtserklärungen reichen auch hier nicht aus. Ein Anstoß muß gerade aus unserem Lande kommen. Ohne eine aktive Rolle der Bundesrepublik kann eine solche Initiative nicht an Boden gewinnen.
Die notwendige breite politische Basis hierfür bei uns zusammenzubringen mag auf den ersten Blick schwierig, ja fast unmöglich erscheinen. Denn die Heftigkeit vergangener Kontroversen - an denen ich fleißig beteiligt war - hat vielleicht etwas verdeckt, daß es in diesem Hause sehr wohl noch eine breite Gemeinsamkeit in Fragen der Friedenspolitik, der Entspannung und der Abrüstung gibt - mit zwei Ausnahmen. Die eine Ausnahme ist der Stahlhelmflügel der Union, und die andere Ausnahme sind die
Dr. Ehmke ({16})
Fundamentalisten bei den GRÜNEN. Der Eindruck der Zerrissenheit, Herr Bundeskanzler - (
Sie wollen Gemeinsamkeiten setzen, und schon beginnt die Diffamierung! Das ist „gemeinsam"!)
- Herr Bundeskanzler, der Eindruck der Zerrissenheit - Sie werden mir doch sicher in dem zustimmen, was ich jetzt sage ({0})
ist doch gerade dadurch entstanden, daß innerhalb der Koalition und innerhalb der Union immer wieder außenpolitischer Streit herrscht. Und, Herr Bundeskanzler, wo Sie schon zwischenrufen:
({1})
Sie sind aus sehr durchsichtigen wahltaktischen Gründen nie - weder in der Grenzfrage noch in allen anderen Fragen - diesem Flügel entgegengetreten,
({2})
wenn er die offizielle Außenpolitik konterkariert hat.
({3})
- Herr Dregger, es gehört zur Glaubwürdigkeit, zu sagen: Wir sind sehr glücklich darüber, daß dieses taktische Kalkül von Ihnen, sich im Wahlkampf ein bißchen nach rechts rauszulehnen, vom Wähler abgelehnt worden ist.
({4})
Darum sind wir der Meinung:
Es könnte mit der falschen Rücksichtnahme auf lautstarke Gruppen auf der Rechten jetzt Schluß sein. Es gibt einen Weg zu einer sehr breiten Mehrheit in diesem Hause, der - das ist auch Ihre Mitverantwortung, Herr Bundeskanzler - der Stimme der Bundesrepublik in Europa und in der Welt zusätzlich Gewicht gäbe.
({5})
Welche Aussichten eröffnen sich unter unseren europäischen Partnern? Die Europäische Gemeinschaft - die noch in diesem Monat 30 Jahre alt wird - hat durch ihre Erweiterung um Portugal und Spanien und durch die Annahme der Einheitlichen Akte im vergangenen Jahr gezeigt, daß wir zwar mit der Einigung Europas vorankommen, daß es aber sehr langsam geht. Der politischen Union Europas sind wir damit nicht sehr viel näher gekommen, obgleich sie zur Lösung der wirtschaftlichen, der sozialen und der Sicherheitsprobleme, die - da stimme ich völlig mit Ihnen überein - nicht mehr allein national gelöst werden können, immer dringender wird.
Sehen Sie, verbal besteht zwischen uns Konsens: Die Agrarpolitik muß geändert werden; die Wirtschaftspolitiken müssen aufeinander abgestimmt
werden; wir brauchen eine gemeinsame Technologiepolitik - Eureka und Weltraum sind genannt worden -; wir brauchen Zusammenarbeit beim Umweltschutz; wir brauchen eine gemeinsame Initiative zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das ist ohne breiten politischen Konsens, national wie auf europäischer Ebene, nicht durchzusetzen. Das Problem, über das wir streiten, ist nicht, ob dies notwendig ist, sondern daß wir - auch in der Regierungserklärung - Initiativen der Bundesrepublik, die eine besondere Rolle spielen muß, vermissen; und das formuliere ich noch höflich. Der von Ihnen sonst so gern zitierte Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt hat vor zwei Tagen gesagt, wir, die Bundesrepublik, seien in Europa in Fragen Agrarpolitik und europäische Währung leider zu Bremsern geworden. Wenn es in Europa weitergehen soll, darf die Bundesrepublik nicht Bremser sein. Sie muß vielmehr eines derjenigen Länder sein, die die Dinge nach vorne bewegen.
({6})
- In die richtige Richtung. - ({7})
- Herr Waigel, Sie kennen mich gut genug, daß Sie mir abnehmen, wenn ich Ihnen sage, daß Schwarz und Weiß, Licht und Schatten natürlich bei allen Parteien verteilt sind. Ich habe z. B. nie viel davon gehalten, Äußerungen über Europa darauf zu beschränken, daß wir der „Zahlmeister" Europas seien. Ich rechne hier nicht auf; es gibt auch für die Sozialdemokratie Grund genug, in Sachen Europa viel Selbstkritisches an die eigene Adresse zu sagen.
({8})
Das ist gar nicht bestritten, das bestreiten wir gar nicht.
Ich glaube, wir sind uns weiter darin einig, daß wir mehr denn je ein enges deutsch-französisches Zusammenwirken brauchen. In dieser Auffassung sind wir uns mit allen demokratischen Parteien Frankreichs einig. Ich glaube, wenn alle Parteien hier im Hause - wir wissen ja, wie schwierig das gerade in Frankreich ist - gegenüber den Parteien, gegenüber unseren Partnern in Frankreich einmal zusammen eine Meinung vertreten würden, dann würde manches einfacher werden als es heute ist. Die europäische Initiative, die wir anstreben, verlangt die Mitwirkung Frankreichs. Dafür ist eine deutsch-französische Zusammenarbeit besonders wertvoll.
In der Sicherheitspolitik ist - dank der noch unter Bundeskanzler Schmidt unternommenen Bemühungen, fortgesetzt von dieser Regierung - manches erreicht worden, was noch vor 20 Jahren undenkbar gewesen wäre. Aber: Vorstellungen über die erweiterte Zusammenarbeit bei unseren konventionellen Streitkräften müssen in die Tat umgesetzt werden. Frankreich ist sich heute dessen bewußt, daß seine Grenzen nicht erst am Rhein, sondern bereits weit vorher, auf unserem Territorium, verteidigt werden müssen. Daraus sind aber praktische Folgerungen für eine
Dr. Ehmke ({9})
Beteiligung der französischen Armee, einschließlich
der Reserven, zu ziehen: für gemeinsame Logistik
- denn auch da geht es nicht mit Absichtserklärungen - und für die gemeinsame Ausbildung unserer Truppen.
({10})
- Das haben wir ja leider nicht. Noch nicht einmal für die Force Action Rapide liegen logistische Überlegungen vor.
(
Das ist doch einfach falsch, was Sie da sagen!)
- Herr Bundeskanzler, wenn Sie uns hier darlegen würden - wir reden mit unseren französischen Freunden sehr viel darüber - , welche logistischen Vorkehrungen getroffen worden sind, dann würde ich etwas Neues lernen. Ich lasse mich immer gerne belehren. - Bei Respektierung der weiterhin unabhängigen französischen Atomstreitmacht sollte das auch für die Abstimmung der Einsatzplanung französischer Atomraketen gelten.
({0})
- Gerade drum. Solange es sie gibt und sie auf deutschem Boden eingesetzt werden können, Herr Kollege, müssen wir daran interessiert sein, zu wissen, woran eigentlich gedacht ist, um uns ein Bild zu machen und dort mitwirken zu können. Heute wissen wir davon nichts, sind wir daran nicht beteiligt. Das heißt aber nicht, daß es diese Dinge, diese französischen Pläne nicht gibt. Für die Zusammenarbeit mit Frankreich stellen sich auch im Weltraum neue Aufgaben. Nach den Schwierigkeiten, Herr Kollege Rühe, die sich bei der Realisierung des Columbus-Projekts mit den Vereinigten Staaten ergeben haben, werden Entscheidungen immer dringender. Auf der Tagesordnung muß auch der gemeinsame westeuropäische Aufklärungssatellit bleiben. Ohne verläßliche eigene Kapazitäten auf dem Gebiet der weltraumgestützten Nachrichtenbeschaffung wäre Europa in einem sicherheitspolitischen Kernbereich weiterhin gänzlich von den Vereinigten Staaten abhängig. Ich hoffe, wir sind uns darin einig, daß das dem Gedanken der Gleichberechtigung im Bündnis widerspricht. Dann muß man weiter darüber reden, welche Art von Satelliten man haben will. Das ist aber eine andere Frage.
So notwendig eine deutsch-französische Zusammenarbeit und Schrittmacherrolle in Europa ist, so sehr bedürfen wir auch der engen Abstimmung mit Großbritannien, das - das möchte ich hier doch auch einmal, weil wir es selten tun, ausdrücklich sagen - mit der Rheinarmee einen unentbehrlichen Beitrag für die Vorneverteidigung im NATO-Abschnitt Mitte leistet.
({1})
Ebenso brauchen wir das Zusammenspiel mit den Benelux-Ländern, und wir brauchen den Beitrag der Mittelmeerländer voran den Italiens und Spaniens, wie die aktive Beteiligung unserer skandinavischen Freunde im Norden.
Für eine europäische Abstimmung in sicherheitspolitischen Fragen muß die EPZ sachlich erweitert und die WEU mit neuem Leben erfüllt werden. Das fordern wir zwar alle seit langem, aber es passiert bisher nicht. Ich kann Herrn Kollegen Dregger nur zustimmen: Herr Delors hat auch unsere volle Sympathie für das, was er über diese notwendige europäische sicherheitspolitische Abstimmung vor einigen Tagen gesagt hat. Er hat dafür nicht Kritik, sondern Lob verdient.
({2})
Aber, ich sage es noch einmal: Auch in diesem Bereich müssen wir viel mehr drängen. Wir dürfen nicht hängenbleiben zwischen der Frage: Machen wir es nun mit der WEU oder machen wir es mit der EPZ, sondern wir müssen uns einmal entscheiden. Auf unsere Mithilfe jedenfalls, soweit wir mithelfen können, können Sie auch in dieser Frage rechnen.
Eine europäische Initiative beginnt im Westen, aber sie muß sich natürlich auch auf Osteuropa richten. Eine Initiative zu europäischer Friedenspolitik muß auf ein Mehr an Sicherheit auf unserem Kontinent, auf ein Mehr an Zusammenarbeit über Blockgrenzen hinweg gerichtet sein. In der KSZE-Schlußakte von Helsinki ist dieser Weg vorgezeichnet.
Wir schlagen vor, auf der angelaufenen Folgekonferenz ein wirksames System blockübergreifenden politischen Krisenmanagements - ich liebe das Wort nicht so sehr, aber es ist eingebürgert - zu vereinbaren. Die SPD hat zusammen mit unseren polnischen Gesprächspartnern dafür die Schaffung eines Europäischen Rates für Vertrauensbildung vorgeschlagen. Wir bitten Sie, diesen Vorschlag in Helsinki zu unterstützen.
Ebenso brauchen wir Fortschritte bei den Menschenrechten, beim Kulturaustausch und bei der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. - Um wieder ganz konkret zu werden: In Bern sind zu Menschenrechten, Grundfreiheiten und humanitären Fragen Ergebnisse erarbeitet worden, die wir gerne nun von allen KSZE-Staaten, d. h. auch von unseren Freunden in den Vereinigten Staaten, ratifiziert sehen würden. Wir verstehen die Sorgen unserer amerikanischen Freunde in bezug auf die Lage der Juden in der Sowjetunion. Sie entsinnen sich, daß wir hier dazu Ende der letzten Legislaturperiode einen Antrag eingebracht haben, der die Zustimmung des ganzen Hauses gefunden hat. Da gibt es keinen Streit mit den Vereinigten Staaten; aber man kann nicht alles auf einmal erreichen, und wir finden es nicht gut, daß die Fortschritte, die die anderen 34 Staaten erreicht haben, nun liegenbleiben sollen, bis auch das Problem gelöst ist.
Wir sind, Herr Dregger, für die Einrichtung unabhängiger Gremien, die als Berufungsinstanzen in Fragen von Religions- und Meinungsfreiheit, von Minderheits- und von Gewerkschaftsrechten in Anspruch genommen werden können.
Zweiter Punkt: Tag für Tag erleben wir, daß die kulturelle Identität Europas stärker ist als die System- und die Paktgrenzen. Es gilt, gegen die von vielen Seiten aufgerichteten Barrieren Verbesserungen zu schaffen. Das Budapester Kulturforum, auf dem wir sehr gut vertreten waren, hat dazu sinnvolle Vorschläge gemacht, die nun in einer gemeinsamen Anstrengung
Dr. Ehmke ({3})
auch verwirklicht werden sollten. Wir müssen nachsetzen, damit es vorangeht.
Kaum zu überschätzen ist schließlich die Rolle der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Ich darf an dieser Stelle sagen: Wir freuen uns, daß dies in zunehmendem Maße auch wieder öffentlich aus Kreisen der deutschen Wirtschaft unterstrichen wird. Die Möglichkeiten der Arbeitsteilung sind gerade im OstWest-Verhältnis noch längst nicht ausgeschöpft. Eine wirtschaftliche Spaltung Europas liegt ebensowenig in unserem Interesse wie im Interesse der Länder Osteuropas. Herr Bundeskanzler, aus diesem Grunde unterstützen wir Ihren Vorschlag, den sich die Westeuropäer inzwischen zu eigen gemacht haben, für eine KSZE-Wirtschaftskonferenz von Ost und West in unserem Lande.
Vergessen wir doch nicht, daß Freiräume für politische und gesellschaftliche Reformen nur bei auskömmlicher Wirtschaftsentwicklung entstehen können. Dazu brauchen wir zeitgemäße Formen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Eine gesamteuropäische Gemeinschaftsaufgabe von gar nicht absehbaren Dimensionen erwächst uns auf dem Gebiet der grenzüberschreitenden Umweltzerstörung. Die Anwendung neuer Technologien - ein kritischer Punkt - kann dabei Wertvolles leisten. Überhaupt liegt die Teilhabe aller Europäer, auch der Osteuropäer und der Sowjetunion, an moderner Technologie - statt wachsender Beschränkung des Technologietransfers und Immer-breiter-Werden des technologischen Grabens in Europa - nicht nur im Interesse des Ostens, es liegt im Interesse des ganzen Kontinents, um z. B. überholte, umweltfeindliche, riskante Produktionsmethoden abzubauen. Nach Tschernobyl ist darüber doch überhaupt kein Streit mehr möglich.
({4})
Wenn ich hier eine Fußnote machen kann: Ich sehe mit großem Interesse Herr Bundesaußenminister, daß in den Vereinigten Staaten eine Diskussion darüber einsetzt, ob die Beschränkung des Technologietransfers, die der Kollege Perle, von dem wir uns heute auch verabschieden müssen, nachdem er aus dem Pentagon ausgeschieden ist, so energisch vorangetrieben hat, der Weisheit letzter Schluß ist. Es beginnt in Amerika darüber eine Diskussion unter anderem mit einem sehr interessanten Bericht der American Academy of Science. Ich schlage den Europäern vor, sich massiv in diese Diskussion einzuschalten, um die europäischen Interessen an dieser Frage zur Geltung zu bringen.
({5})
Der inneren wirtschaftlichen Verflechtung Europas und damit auch der politischen Stabilisierung unseres Kontinents könnte der Abschluß eines Abkommens dienen, mit dem sich EG und RGW gegenseitig völkerrechtlich anerkennen. Wir sollten darauf hinwirken, daß die Gespräche zwischen beiden Organisationen bald mit einem Ergebnis abgeschlossen werden können. Herr Außenminister, unsere Anregung ist: Das Abkommen sollte auch eine politische Würdigung des Handels als Motor für gute Ost-West-Beziehungen enthalten, verbunden mit der Verpflichtung,
die gegenseitigen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen gezielt weiter zu fördern.
Solche Zusammenhänge haben wir Sozialdemokraten im Auge, wenn wir von einer zweiten Phase der Entspannungspolitik sprechen, natürlich, Herr Bundeskanzler, von einer realistischen Entspannungspolitik, denn wer macht schon gerne unrealistische Politik?
({6})
- Herr Waigel, zu Ihnen komme ich noch.
({7})
Eine gesamteuropäische Initiative könnte uns einen entscheidenden Schritt voranbringen. Bei diesem Prozeß kommt den beiden deutschen Staaten eine besondere Verantwortung zu. Der Bundeskanzler hat das gesagt. Ich lese in der Zeitung, daß es nicht von der polnischen Regierung, aber in den polnischen Zeitungen offenbar kritische Äußerungen zu diesem deutsch-deutschen Verhältnis gegeben hat. Ich bin der Meinung, wir alle sollten unseren polnischen Freunden sagen: So wie wir enge Zusammenarbeit mit ihnen wünschen, die ganz Europa dient, können sie auch sicher sein, daß Gespräche mit Ost-Berlin und unseren Landsleuten in der DDR ganz Europa zugute kommen sollen und gegen niemanden gerichtet sind.
({8})
Die beiden deutschen Staaten können nämlich ein praktisches Beispiel für umfassende Zusammenarbeit und eine konsequente Friedenspolitik geben, ohne uns - da stimme ich Ihnen zu - dem Verdacht eines Sonderweges auszusetzen. Die sicherheitspolitische Komponente der deutsch-deutschen Beziehungen muß dabei den in Art. 5 des Grundlagenvertrages vorgesehenen Platz einnehmen. Das erste Gebot der Stunde ist, daß beide deutsche Staaten im engen Kontakt miteinander innerhalb ihrer Bündnisse für ein Abkommen über die vollkommene Beseitigung der Mittelstreckenraketen in Europa eintreten. Solche Möglichkeiten für einen spezifisch deutsch-deutschen Beitrag nicht wahrzunehmen, wäre unverantwortlich. Vielleicht fällt es dann auch leichter, Versäumtes, wie z. B. die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen Bundestag und Volkskammer, nachzuholen.
({9})
Herr Regierender Bürgermeister, davon würde auch Berlin profitieren, das mit dem in diesem Jahr begangenen 750-Jahr-Jubiläum weltweit im Blickpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit steht. Niemand will den Rückfall in die Zeit sinnloser Konfrontation, die ja keiner Seite genutzt hat.
Als Folge des Viermächte-Abkommens und der Entspannungspolitik hat sich die Lage Berlins zum Guten gewandelt, haben sich die Bindungen zur Bundesrepublik, an denen uns allen gelegen ist, gefestigt. Die Probleme Berlins können uns natürlich auch in Zukunft - das sehen wir - Schwierigkeiten bereiten, solange die Blöcke nicht überwunden sind. Aber der Status Berlins bietet gerade auch bei dynamischer Fortentwicklung der Ost-West-Beziehungen Chancen
Dr. Ehmke ({10})
und Vorteile, die genutzt werden müssen. Eine europäische Initiative zur Friedenspolitik muß auch diesen Berlin-Aspekt im Auge haben: Berlin als Drehpunkt in einem wachsenden Geflecht von Ost-West-Beziehungen, als Begegnungsstätte, als Sitz von Ost-WestInstitutionen, z. B. - warum nicht? - solche von RGW und EG. Das könnte Berlin neue Funktionen geben, die allen zugute kämen. Ich glaube, auch die DDR wird sich dieser Überlegung nicht verschließen wollen.
({11})
Entscheidendes werden wir in Europa ohne substantielle Fortschritte bei Rüstungskontrolle und Abrüstung kaum bewegen können. Die nun auf den Genfer Verhandlungstisch gelegten Null-Lösungsvorschläge könnten einen Durchbruch bringen. Gerade jenen europäischen Staaten, die Stationierungsländer für die Mittelstreckenraketen sind, muß elementar an einer Null-Lösung gelegen sein. Wir sind Hauptbetroffene. Es ist unsere Sache, die hier betrieben wird. Europäische Passivität wäre um so unverständlicher, als wir uns eben erst darüber beklagt haben, die Großen seien in Reykjavik dabeigewesen, ohne unsere Beteiligung über unsere sicherheitspolitischen Belange zu verfügen. Für kein Land kann das mehr gelten als für die Bundesrepublik.
Bereits die Regierung Schmidt hat eine NullLösung als westlichen Verhandlungsvorschlag unterstützt. Herr Rühe, ich hatte neulich den Eindruck, Ihnen ist das entschwunden.
({12})
- Herr Rühe, lassen Sie das doch mal! Sie wissen selbst, daß das nicht richtig ist.
Die Regierung Schmidt hat das getan, um die Vereinigten Staaten für die Verhandlungen zu gewinnen, obwohl sie selbst - das ist richtig - eine Zwischenlösung im Sinne einer Reduzierung der beiderseitigen Raketen auf eine gemeinsame Höchstgrenze zunächst für aussichtsreicher hielt. Es ist richtig, die Tatsache, daß die Bundesregierung damals die Null-Lösung als westlichen Vorschlag mitgetragen hat, ist seinerzeit, Herr Kollege Rühe, nicht nur aus den Reihen der Union kritisiert worden. Aber was Sie uns neulich hier in der Aktuellen Stunde erzählen wollten, Sie seien für und wir seien gegen die Null-Lösung gewesen, gehört in den Bereich der Märchen.
({13})
Der Kollege Strauß, Herr Kollege Waigel, der heute seine Bedenken gegen eine Null-Lösung mit den möglichen militärischen Konsequenzen begründet
- ich erinnere an seine Rede, die er vor wenigen Wochen auf der Wehrkundetagung gehalten hat -, ist damals nicht müde geworden zu sagen, daß er zwar eine Null-Lösung für „wunderbar" halten würde, daß
sie aber nicht erreichbar sei. Wie immer hat er natürlich mit der Formulierung den Vogel abgeschossen.
({14})
- Das müssen Bayern unter sich ausmachen. Ich hoffe, daß der Strauß jetzt bei der Formulierung bleibt, die ich vorlese.
({15})
Am 25. Februar 1983 hat der verehrte Kollege Strauß laut dpa auf einer Wahlveranstaltung in Hof gesagt, er werde mit einer Kerze in der Hand zu Fuß von München nach Altötting wallfahrten, wenn die Sowjets ihre SS 20 abbauen.
({16})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Rühe?
Im Augenblick nicht.
Nun will ich folgendes sagen: Da Sie ja sicher alle mit mir in dem Wunsch einig sind, daß der Kollege Strauß bald Gelegenheit kriegt, dieses Gelübde zu erfüllen, Herr Kollege Waigel, gestatten wir Sozialdemokraten uns, dafür die Kerze zu stiften.
({0})
Ich wollte Sie eigentlich mitbringen und Ihnen heute übergeben, aber da das so ein Lorbaß ist, wußte ich nicht, ob der Präsident mir erlauben würde, mit dem Ding hier überhaupt in den Saal zu kommen. Wir werden sie also Herrn Strauß über die Landesvertretung zustellen
({1})
- ich nehme das gern in Anspruch - , und wir werden ihm dabei sagen,
({2})
daß ich selbst und sicher auch noch der eine oder andere von meinen Kollegen bereit sind, mitzugehen.
({3})
- Angenommen.
({4})
- Herr Rühe, Sie kommen noch dran, Sie sind ja noch jung, nur Geduld!
Denn die Redlichkeit gebietet festzustellen, daß die neue Entwicklung in der Sowjetunion nicht nur die widerlegt hat, die eine Null-Lösung für ausgeschlossen
Dr. Ehmke ({5})
hielten, sondern daß diese Entwicklung auch unsere Befürchtungen widerlegt hat, daß mit einer Stationierung der Raketen statt eines letzten Auslotens einer Zwischenlösung die Chance für eine Lösung überhaupt verspielt werden könnte. Wir haben noch keine Null-Lösung - da kommen noch viele Schwierigkeiten - , aber wir haben die Chance dazu. Weil wir dies ebenso freimütig wie erfreut zugeben, werden Sie dazu kommen, mich in Altötting in der Post einzuladen, Herr Waigel.
({6})
Herr Rühe, ich bitte Sie wegen des langen Wartens um Entschuldigung, aber die CSU hat - wie Sie wissen - Vorrang.
Herr Abgeordneter Ehmke, Sie sollten bei Ihrem Angebot mit der Kerze natürlich auch sagen, wieviel Pfund die Kerze haben soll.
Ich werde mir noch Ihren bayerischen Rat dazu holen.
Herr Kollege Ehmke, ist es nicht zutreffend, daß bei den dreitägigen Beratungen 1983 über die Nachrüstung die SPD Deutschlands im Widerspruch zur Politik Helmut Schmidts für Null im Westen und für Beibehaltung der sowjetischen Systeme gestimmt hat, ist es nicht richtig, daß die SPD noch im August letzten Jahres auf dem Nürnberger Parteitag wörtlich gefordert hat: von den USA einen Aufstellungsstopp und die Rücknahme der Stationierung von Pershing II und Cruise-Missiles, von der UdSSR eine drastische Verminderung der SS 20 auf einen Stand von 1979, d. h. 140 SS 20?
({0})
Ist es also falsch, wenn ich sage, Sie waren für die einseitige Null-Lösung, Null bei uns, aber wir für die beiderseitige Null-Lösung, Null hier und Null dort?
({1})
Verehrter Herr Kollege Rühe, für ein so junges Schlachtroß - im guten Sinne
- wie Sie ist das nicht gut.
({0})
- Was Sie dauernd und immer wieder erzählen. Denn es stimmt ja nicht.
({1})
- Herr Dregger, wenn es stimmen würde,
({2})
würde ich Ihnen ja die Freude gönnen. Aber ich muß ja hier bei der Wahrheit bleiben.
({3})
Die lautet nämlich so:
({4})
Wir haben gesagt: Wir halten als eine Zwischenlösung für möglich, daß die Sowjets auf den Stand vor 1979 zurückgehen.
({5})
Das ergibt sich nämlich aus dem Schmidt-BreschnewGespräch in Brühl im Jahre 1978. Da kam dieser Satz her. Hätte Breschnew damals auf Schmidt gehört, wäre es auch nicht zum Doppelbeschluß gekommen, wenn er da Schluß gemacht hätte. Auf der Westseite, sagten wir, stehen die französischen und die englischen Raketen.
({6})
Diese Lösung ist - als Zwischenlösung - auch von vielen anderen vorgetragen worden.
({7})
- Doch, ich sage die reine Wahrheit, und Sie wissen es auch. Das, was neu dazugekommen ist, ist, daß die Sowjets jetzt bereit sind, das Problem der englischen und französischen Raketen nicht in dieser, sondern erst in der nächsten Runde anzugehen.
({8})
Das ist ein Fortschritt. Wir sagen ja auch: Wir freuen
uns, daß die Geschichte mehr Phantasie gehabt hat als
Strauß und wir zusammen; das ist ja schon mal was.
({9})
Wie schlagen jedenfalls vor, die sich durch die neue Entwicklung in der Sowjetunion ergebenden neuen Chancen gemeinsam und beherzt zu nutzen. Ein positives Verhandlungsergebnis über die Mittelstreckenraketen könnte ein wichtiger politischer Impuls für die positive Gestaltung des ganzen Ost-West-Verhältnisses werden. Der Bundeskanzler hat da unsere Zustimmung, wenn er erklärt, daß eine Null-Lösung bei Mittelstreckenraketen ein großer Fortschritt wäre.
Das heißt für uns, Herr Dregger: kontrollierter Abbau aller Mittelstreckenraketen der Supermächte in Europa, Beschränkung im außereuropäischen Bereich, so, wie es jetzt steht, auf 100 - Null wäre mir noch lieber;
({10})
das würde auch die Verifikationsfrage viel einfacher machen -, Rückzug der von der Sowjetunion seinerzeit in Antwort auf die Stationierung vorgezogenen Kurzstreckenraketen längerer Reichweiten vom Boden der DDR und der CSSR. Dann, Herr Dregger - darüber sollten wir Klarheit kriegen; ich habe auch aus Ihrem Manuskript keine Klarheit erhalten -, ist die Position des Bundeskanzlers in der Regierungserklärung und des Außenministers übereinstimmend mit unserer: zwar sofort über Kurzstreckenraketen verhandeln, vielleicht sogar parallel verhandeln - die Sowjetunion scheint ja dazu bereit zu sein; das ist nicht der Punkt - , aber den Abschluß der NullLösung über Mittelstreckenwaffen nicht abhängig
machen von dem Erreichen eines Ergebnisses auch schon bei den Kurzstreckenwaffen.
({11})
- Herr Dregger, Sie sagen, es sei nicht nötig, und haben Ihre Passage mit dem Schluß beendet, was voraussetze, daß der Westen sich einig ist, was er will. Ich will das jetzt nicht kommentieren - wir würden bei dem, was da zu kommentieren wäre, sehr übereinstimmen - , sondern ich sage noch einmal: erst die Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen, dann das andere. Militärisch darf ich folgendes sagen: Die Sowjets würden 1 000 Sprengköpfe mehr abziehen müssen als wir. Woher soll denn da die militärische Gefährdung kommen?
Gerade nachdem wir alle zusammen die Sowjetunion dazu bewegt haben, ihr Junktim von Mittelstreckenraketen zum strategischen Bereich und zu SDI - den ich aus Zeitgründen jetzt nicht behandeln kann - aufzugeben, dürfen wir nicht ein neues Junktim schaffen, das die Null-Lösung wieder in Frage stellen würde.
({12})
Wir müssen vielmehr den Impetus einer erfolgreichen Verhandlung über Mittelstreckenraketen für die nächste Runde über Kurzstreckenraketen nutzen.
({13})
Wissen Sie, das eigentliche Problem, die eigentliche Verbindung, über die Sie reden, kommt an anderer Stelle. Sie kommt an der Stelle zwischen taktischen Atomwaffen - darüber müssen wir noch reden, wie man sie nach oben abgrenzt - und den konventionellen Waffen.
Die konventionelle Rüstungskontrolle liegt besonders in unserem Interesse, im Interesse der Deutschen und der Europäer. Der erfolgreiche Abschluß der Stockholmer KVAE-Konferenz hat ein Klima geschaffen, das dafür genutzt werden kann. Wir wollen aber als Ergebnis nicht nur weitere Maßnahmen zur Vertrauensbildung, sondern auch echte Abrüstungsmaßnahmen im konventionellen Bereich. In Europa sollten blockübergreifende Sicherheitsstrukturen geschaffen werden, die nur noch die Fähigkeit zur Verteidigung zulassen, nicht aber zum Überraschungsangriff und zu raumgreifender Offensive. Bewaffnung, Ausrüstung, Struktur und geographische Verteilung der Streitkräfte müssen dieser Forderung Rechnung tragen. Die neuen in Wien eröffneten Gespräche sollten zügig vorangebracht werden.
Hier muß ich eine kritische Bemerkung machen, die der Außenminister schon kennt: Das, was das westliche Bündnis bisher zur Frage der konventionellen Abrüstung in Europa vorgelegt hat, ist nicht viel mehr als eine Zusammenstellung von Kriterien. Sogenannte Vorschläge, von denen man gleich selber sagt, sie seien kaum verhandlungsfähig, sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen.
({14})
Wer die von uns mit der DDR-Seite vereinbarten Grundsätze für einen atomwaffenfreien Korridor in Europa ignoriert oder kritisiert, ist verpflichtet, bessere Vorschläge zu machen.
({15})
Es hat sich in diesen Gesprächen herausgestellt, daß die Fragen der taktischen Atomwaffen unlösbar mit der Frage der konventionellen Streitkräfte verbunden sind. Die Grundsätze bleiben auf dem Tisch. Im konventionellen Bereich sind die deutschen Staaten, besonders die Bundesrepublik, gefordert, Herr Bundesaußenminister. Diese Fragen betreffen nicht nur zentral die europäische Sicherheit; sie betreffen - anders als die Genfer Verhandlungen - auch nicht nur die Waffen der Großmächte, sondern unsere eigenen Waffen und Streitkräfte, und das wirft nicht nur Fragen unserer Mitwirkung auf, sondern auch Fragen der eigenen Konzepte und der eigenen Initiativen. Da sieht es noch sehr dünn aus, nicht verfahrensmäßig, aber substantiell.
Unbestritten erfordert ein solcher Prozeß auch eine Veränderung im strategischen Denken. Die Sowjetunion muß von der offensiven Auslegung ihrer konventionellen Streitkräfte und von ihrer offensiven militärischen Doktrin abgehen. In beiden Bündnissen muß die Ausrichtung auf reine Verteidigung dominierend werden. Der politische Manövrierraum Westeuropas innerhalb des westlichen Bündnisses würde dadurch ebenso wachsen wie der Spielraum der osteuropäischen Staaten im Ostblock, und entlastet würden - Herr Rühe, das ist ein wesentlicher Faktor für unsere Gespräche in Washington - die Vereinigten Staaten.
Die europäische Initiative, die wir Ihnen vorschlagen, soll also ein breit angelegter Vorstoß zu einer zweiten Phase realistischer Entspannungspolitik sein, die folgende Ziele im Auge hat: Anerkennung und Respektierung legitimer westeuropäischer Sicherheitsinteressen durch die Sowjetunion; auf dieser Grundlage breit fundierte und zukunftsgerichtete Zusammenarbeit zwischen Ost und West, die einen friedlichen, gewaltfreien Wettbewerb der bestehenden Gesellschaftssysteme ermöglicht, damit Förderung von Reformen in beiden Bündnissen mit dem Ziel, zu einem neuen Sicherheitsverständnis zu gelangen - ich habe diesen Teil unseres Vorschlages hier aus Zeitgründen nicht vorgetragen, das ist aber in dem Papier nachzulesen, das wir veröffentlichen werden - , Stärkung der politischen Rolle Westeuropas und seiner Selbstbehauptung im Bündnis.
Herr Bundeskanzler, ich sage es noch einmal: Voraussetzung für die Erreichung dieser Ziele - und zwar nicht an einem Sankt-Nimmerleins-Tag, sondern in absehbarer Zeit, da die Chancen dazu bestehen - ist gemeinsames außenpolitisches Handeln auf möglichst breiter Grundlage. Meine Fraktion ist dazu bereit. Wir stehen Ihnen, dem Außenminister und den anderen Fraktionen des Hauses für Gespräche zur Verfügung.
({16})
Ich erteile dem Herrn Regierenden Bürgermeister von Berlin das Wort.
Regierender Bürgermeister Diepgen ({0}) : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung der Berlin- und Deutschlandpolitik zu Recht eine prinzipielle Bedeutung zugemessen. Deutschlandpolitik entspricht dem Verfassungsauftrag, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" und, wie es im Grundgesetz auch heißt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Gleichzeitig müssen wir aber zur Kenntnis nehmen, daß die Teilung Berlins, die Teilung Deutschlands, die Teilung Europas in verschiedene Machtblöcke, verschiedene gesellschaftspolitische Systeme nicht durch die aktuelle Deutschlandpolitik von einer oder zwei Legislaturperioden zu überwinden ist.
Aus diesem Spannungsverhältnis zwischen dem langfristigen Ziel und dem heute Möglichen resultieren die meisten Mißverständnisse in den Diskussionen um Deutschland- und Berlinpolitik. Manche resignieren. Sie resignieren offensichtlich auch wegen der Größe der Aufgabe. Das führt hin zu unsinnigen Vorschlägen, etwa zu so unsinnigen Vorschlägen wie dem, die Präambel des Grundgesetzes zu ändern oder abzuschaffen. Dies wäre nicht nur politisch falsch, sondern dies entspräche auch einem ganz und gar unhistorischen Denken. Andere haben zu große und zu unrealistische Erwartungen und wollen mit der Bewegung z. B. in den Abrüstungsfragen die deutsche Frage gleich mit lösen.
Wir müssen mit dem gegenwärtigen Dilemma der deutschen Frage leben lernen, aber wir brauchen deswegen die Deutschland- und Berlinpolitik nicht auf das Aushandeln von Verträgen zu reduzieren und sozusagen alles Weitere der Geschichte zu überlassen. Aus einer Politik zur Linderung der Teilungsfolgen können wir vielmehr eine Politik entwickeln, die die Einheit der Nation, also die Zusammengehörigkeit der Menschen stärkt. Die Chinesen sagen: Auch die größte Reise beginnt mit einem ersten Schritt. - Eine Auflockerung der jeweiligen Bündnisverpflichtungen wäre dabei lebensfremd und vor allen Dingen für uns lebensgefährlich.
({1})
Aber unterhalb dieser Grenze ist auch in der praktischen Politik Bewegung hin zu mehr Freiheiten, hin zu mehr nationalen Gemeinsamkeiten möglich und - ich ergänze - notwendig. Trotz der Teilung ist eine Politik für die Einheit der Nation kein Ziel für übermorgen, sie kann und muß vielmehr eine tägliche Aufgabe sein. Das ist es, was die Deutschen in der DDR von uns erwarten, und das ist nach meinem Verständnis auch die Umsetzung des Auftrages des Grundgesetzes für unsere Generation.
Deshalb, meine Damen und Herren, ist Deutschland- und Berlinpolitik vor allem auch eine geistige Aufgabe nach innen, in die Bundesrepublik Deutschland hinein. Wir dürfen der Mauer aus Stein nicht von uns aus eine Mauer der Unkenntnis, der Gedankenlosigkeit oder des Schweigens entgegensetzen. Deshalb ist Vorsicht geboten, daß wir nicht bedenkenlos die Bundesrepublik Deutschland für ganz Deutschland
halten, daß wir nicht so sprechen, als sei die Elbe die Trennlinie nach Osteuropa.
({2})
Langfristig jedenfalls tun wir uns keinen Gefallen, wenn wir einen Patriotismus fördern, der sich allein auf die Bundesrepublik Deutschland bezieht.
({3})
Meine Damen und Herren, eine Deutschland- und Berlin-Politik, die sich der Vision der Einheit in Freiheit verpflichtet weiß, besteht in ihrem Vorgehen, in ihrer Methodik - und Ziel und Methode darf man nicht miteinander verwechseln; das ist auch einer der häufigen Fehler in der deutschlandpolitischen Diskussion und in einer Fülle von Kommentaren, die man lesen kann - aus drei gleichgewichtigen Elementen.
Erstens. Deutschland- und Berlinpolitik, ja unsere gesamte West-Ost-Politik hat erstens eine Aufgabe in Richtung Westen. Sie muß im Westen verstanden und vom Westen unterstützt werden. Der Bundeskanzler hat zu Recht - und auch hier in der Debatte ist es wiederholt worden - darauf hingewiesen, es gebe keinen deutsch-deutschen Sonderweg. Ohne die enge Bindung der Bundesrepublik Deutschland an die westlichen Demokratien wäre in der Vergangenheit die Stabilität der deutschen Demokratie nicht möglich gewesen, und sie wird es auch in Zukunft nicht sein.
Nur mit dieser hier vorgetragenen Grundauffassung können wir unsere westlichen Verbündeten auch an ihre Verpflichtungen aus dem Deutschlandvertrag und aus dem Harmel-Bericht erinnern, denn mit dem Deutschlandvertrag haben sich die Alliierten verpflichtet, wurden sie verpflichtet, die deutsche Sache auch zu ihrer Sache zu machen. Übertragen auf heute bedeutet es die Verpflichtung auch der Schutzmächte, mit uns gemeinsam eine Politik der Verständigung und des Dialogs mit dem Osten zu führen. Das ist die praktische Anwendung des Deutschlandvertrages heute. Das Gewicht unserer Politik nach Osten beruht also auf dem Vertrauen zum Westen und dem Vertrauen im Westen.
Zweitens. Deutschland- und Berlin-Politik hat nach Osten die Aufgabe, einen Prozeß besserer Nachbarschaft im Interesse des Friedens und der Menschen zu fördern. Nichts anderes hat auch der KSZE-Prozeß zum Gegenstand - der Bundeskanzler hat es hier genannt - , nämlich die Grenzen offener werden zu lassen. Das bedeutet konkret, Chancen für eine WestOst-Zusammenarbeit zu nutzen, und zwar überall dort, wo sie bestehen, und ohne die Bündnisloyalitäten in Frage zu stellen, ohne sie gegenseitig in Frage zu stellen. So wie wir erwarten, daß man unsere Bündnisloyalitäten im Ost-West-Dialog nicht in Frage stellt, so dürfen wir das übrigens im Interesse konkreter Fortschritte heute auch im Blick auf die andere Seite nicht in Frage stellen. Das gilt für die deutsch-sowjetischen Beziehungen ebenso wie auch für das Verhältnis zur DDR.
Bessere und geregelte Nachbarschaft betrifft natürlich zuallererst den gesamten humanitären Bereich, vor allem die Reise- und Begegnungsmöglichkeiten.
Regierender Bürgermeister Diepgen ({4})
Hier dürfen wir nicht nachlassen, auch im Interesse der Menschen in der DDR, die DDR-Führung immer wieder an ihrem - so formuliert sie es ja - Anspruch einer offenen, selbstbewußteren Politik zu messen. Wenn sie das so formuliert, müssen wir sie daran messen. Es gilt auch positiv zu würdigen, daß es beachtliche Fortschritte für DDR-Bürger gegeben hat, beispielsweise die Bundesrepublik Deutschland einschließlich des Westteils Berlins zu besuchen.
Aber Mauer- und Schießbefehl - das sage ich mit aller Deutlichkeit - vertragen sich mit diesen Ansprüchen nicht, und wir dienen der Wahrheit und damit der Glaubwürdigkeit unserer Politik auch nach dem Osten nicht, wenn wir dies und die grundlegenden Unterschiede zwischen unseren Gesellschaftsordnungen verschweigen.
({5})
Aber dennoch oder gerade deswegen ist es unsere Pflicht, unterhalb der uns trennenden Auffassungen ein Höchstmaß an Zusammenarbeit anzustreben. Die Gespräche, die in der letzten Woche von Vertretern der Bundesregierung, von Vertretern einzelner Bundesländer in Leipzig geführt worden sind, zeigen, daß hierfür Chancen bestehen.
Ich will nur folgende Beispiele nennen: Wenn es beim Umweltschutz zu konkreten Vereinbarungen zur Luftreinhaltung kommen kann, dann dient das sicherlich auch den Menschen in Berlin, aber genauso denen in Magdeburg wie denen in Braunschweig und in Nürnberg, und der Zusammenhang im Sinne einer gemeinsamen Verantwortung muß immer wieder auch politisch formuliert werden.
Wenn, um ein anderes Beispiel zu nennen, bei der Energieversorgung über einen Verbund unter Einbeziehung Berlins einschließlich von Direktleitungen zwischen Berlin und dem übrigen Bundesgebiet konkret gesprochen wird, dann eröffnen sich hier vielversprechende Perspektiven.
Ich will ein anderes Beispiel aufnehmen, das der Bundeskanzler kurz angedeutet hat: Wenn es gelingt, eine Schnellbahnverbindung von Paris über Köln, Hannover, Berlin bis nach Warschau zustande zu bringen, wenn es gelingt, diese Schnellbahnverbindung zu bauen, dann ist das das richtige Verständnis von Europa und eine Politik zur Überwindung von Grenzen in Europa.
({6})
Drittens. Meine Damen und Herren, neben der Westverankerung und der Dialogbereitschaft nach Osten hat die Deutschland- und Berlin-Politik die Aufgabe, die Einheit der Nation zu wahren und zu stärken. Grundlage unserer nationalen Identität ist heute wegen der machtpolitischen Realitäten dabei leider nicht das Zusammenleben in einem Staat, sondern die Zugehörigkeit zu einer Kulturnation. Vorhin ist davon gesprochen worden, Entspannungspolitik müsse für Menschen erlebbar sein. Ich will das in diesem Zusammenhang gern übernehmen. Auch die deutsche Nation, die Zusammengehörigkeit der Menschen in einer Nation vor dem Hintergrund einer Geschichte, einer Sprache müssen für die Menschen
trotz der Teilung erlebbar sein und noch erlebbarer werden.
Wenn beispielweise Katja Ebstein, Udo Jürgens oder auch Peter Maffay in Ost-Berlin die Freiheit besingen und dafür spontan Beifall erhalten, dann sehe ich darin auch ein Stück Einheit der Nation und gemeinsame Zielvorstellungen, gemeinsame Hoffnungen und Wünsche von Menschen. Und wenn jetzt „Die Blechtrommel" von Günter Grass erstmals seit ihrem Erscheinen vor fast 30 Jahren und auch ein Roman von Ingeborg Drewitz - ebenfalls erstmals -in der DDR verlegt werden, dann stärkt das auch das Bewußtsein von der Einheit der deutschen Nation, weil eben deutlich wird: Es gibt nur eine deutsche Literatur, egal wo sie geschrieben wird.
({7})
Wichtig ist auch, daß unsere Schüler eben nicht immer zuerst nur nach Rom und Athen, sondern vielleicht auch nach Weimar und Dresden fahren.
({8})
Das alles sind Beiträge, die in einem Klima der Offenheit und des selbstbewußten - darauf kommt es an - freiheitlichen Aufeinander-Zugehens - von unserer Seite aus vor dem Hintergrund unserer gesellschaftspolitischen Auffassung selbstbewußt - besser gedeihen können als in einem Klima der Abgrenzung.
Alle drei Elemente der Deutschland- und BerlinPolitik, d. h. also Westverankerung, Dialogbereitschaft und Stärkung der Einheit, finden im Jahr 1987, im Jahr der 750-Jahr-Feier Berlins, ihren besonderen Ausdruck. Herr Ehmke, Sie haben von einem bestimmten Aspekt der Berlin-Politik gesprochen, nämlich wie man die Rolle dieser Stadt als Ort des Dialoges darstellen kann, Berlin als den Ort, wo Problemlösungen erstens in der Notwendigkeit sichtbar werden und zweitens in der Zusammenarbeit auch herausgestellt werden können.
Herr Regierender Bürgermeister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Briefs?
Regierender Bürgermeister Diepgen ({0}) : Wenn ich den Gedanken zu Ende geführt habe.
Das sind keine neuen Ideen, keine neuen Überlegungen von Berlin als Drehscheibe in der gesellschaftspolitischen, in der geistigen Auseinandersetzung. Das ist auch unsere Position. Aber ich will sagen: Das muß im Hinblick auf die Verwirklichung alles mit großem Realismus gesehen werden. Aber Sie haben ja auch gefragt: Wer betreibt schon eine Politik, die er selbst als unrealistisch einschätzen würde? Hier müssen wir berücksichtigen: Das ist ein richtiges Ziel. Die Ideen sind mehrmals entwickelt worden. Wir sollten damit nur nicht zu viele Hoffnungen wecken und damit neue Funktionsbeschreibungen für die Stadt Berlin verbinden.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Briefs.
Herr Diepgen, was hielten Sie davon, wenn die drakonischen Strafgesetze der Sowjetunion in Korruptionsfällen auf West-Berlin übertragen würden?
({0})
Regierender Bürgermeister Diepgen ({1}): Ich hielte das für ausgesprochen gut, weil sie eine Abschreckungswirkung haben.
({2})
- Die Todesstrafe nicht; sie lehne ich aus grundsätzlichen Erwägungen ab.
({3})
Ich möchte zur 750-Jahr-Feier Berlins zurückkommen. Wir werden gemeinsam mit unseren Schutzmächten der Welt zeigen, wie die Freiheit zu feiern versteht. Wir dokumentieren unsere Dialogbereitschaft gerade im Jubiläumsjahr, wenn - wie der Bundeskanzler es sagt - die Beziehungen zur DDR nicht um Berlin herum entwickelt werden. Ich stimme dem Bundeskanzler insbesondere zu, wenn er sagt: Bei den Geburtstagsfeiern muß die Einheit der Stadt zum Ausdruck kommen; sie dürfen die Teilung nicht vertiefen.
Der Status der Stadt ist dabei nicht nur für die Alliierten, sondern auch für uns, für die Berliner, für deutsche Politik die unantastbare Grundlage, auch wenn wir ihn von uns aus gar nicht verändern können. Aber er betrifft ganz Berlin. Wenn Kooperation und Dialog in Berlin zur Stärkung der Einheit der Stadt und der Nation beitragen, dann schwächt das nicht den Status der Stadt. Im Gegenteil: Es stärkt ihn, und es stärkt die Funktionsbeschreibung der Stadt im Sinne der Einheit der Stadt und der Einheit der deutschen Nation.
({4})
Gegenseitige Teilnahmen von Verantwortlichen an der 750-Jahr-Feier muß man in diesem Gesamtzusammenhang sehen. Sie können statusgerecht stattfinden, und sie können einen Beitrag zu einem besseren, geregelten Nebeneinander der beiden Teile Berlins leisten.
({5})
Herr Regierender Bürgermeister, ich kann keine Zwischenfragen mehr zulassen, denn Sie haben bereits die von Ihnen selbst angegebene Redezeit überschritten.
Regierender Bürgermeister Diepgen ({0}): Dann werde ich ganz schnell zum Abschluß kommen.
Aber der Kollege Sellin wird mir verzeihen, wenn ich aus der Vorfrage, die aus seiner Fraktion gestellt worden ist, den Eindruck habe, daß die Intelligenz der Frage nicht so war, daß ich eine Beantwortung hier für unbedingt nötig halte.
({1})
Der Bundeskanzler hat hier von Treue zu Berlin gesprochen, für die seine Bundesregierung stehe. Wir Berliner wissen das dankbar zu schätzen. Gleichzeitig wollen wir auch für ein Höchstmaß an Gemeinsamkeiten zwischen allen demokratischen Parteien in den Grundfragen unserer nationalen und freiheitlichen Zukunft werben.
Dabei, Herr Ehmke, darf man allerdings nicht in erster Linie miteinander und gegeneinander polemisieren, etwa durch die Benutzung von bestimmten Begriffen wie beispielsweise Stahlhelm.
({2})
Wir müssen uns bemühen, die Gemeinsamkeiten soweit wie möglich herauszuarbeiten. Sie dürfen nicht leichtfertig verspielt werden. Das jedenfalls sind wir den Menschen schuldig, und zwar den Menschen in beiden Teilen Deutschlands.
({3})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Bundeskanzler am vergangenen Mittwoch hier sagte:
Unsere Mitbürger wollen ..., daß wir die uns anvertraute Schöpfung bewahren und ... die Zukunft gewinnen.
und als er versprach:
Mit Tatkraft, mit Mut und mit Zuversicht wollen wir Deutschland, unserem Vaterland, dienen.
geschah etwas Unvorstellbares; denn zur selben Zeit hat der Übungskanzler Schreckenberger seine Zustimmung zum Nuklearwaffeneinsatz gegeben,
({0})
und zwar hat er bei der NATO-Übung WINTEX zugestimmt, daß ein nukleares Inferno ausgelöst wird.
({1})
Jenes Volk, dem zu dienen diese Regierung hier öffentlich unter Anrufung Gottes gelobte, wurde von eben dieser Regierung in einer geheimen Übung nuklear ausradiert. Ich frage mich: Ist eine Regierung, die sich an solchen Völkermordübungen beteiligt, friedens- und abrüstungsfähig?
({2}) Ich kann das nicht glauben.
Diese Regierungserklärung ist eine Erklärung des alten Denkens. Da werden wie im Kalten Krieg die westliche Gemeinschaft beschworen, die enge Anbindung an die USA und die sowjetische Bedrohung. Das sind aber genau die Ursachen, die zur Militarisierung und Nuklearisierung Europas und insbesondere Mitteleuropas geführt haben und die dazu führen, daß das Wettrüsten in Ihrer Politik zu einem Instrument vermeintlicher Friedenspolitik geworden ist.
Wer Sicherheitspolitik auf der Grundlage dieser menschenfeindlichen nuklearen Abschreckung beDr. Mechtersheimer
treibt, kann gar nicht abrüsten. Er muß sein Abschrekkungspotential fortwährend modernisieren, so wie das mit den 572 amerikanischen Mittelstreckenraketen geschehen sollte. Heute bestreitet das zum Glück auch niemand mehr. Es ist Allgemeingut geworden, „daß" - ich zitiere - „der Westen auch ohne die SS 20 hätte nachrüsten müssen".
({3})
Dieses Zitat stammt von Franz Josef Strauß, „Süddeutsche Zeitung" vom 16. Januar dieses Jahres. Alle müssen heute akzeptieren, was die Friedensbewegung so lange unter diffamierenden Vorwürfen gesagt hat: Das Wort Nachrüstung war, ist und bleibt eine Begriffslüge.
({4})
Es ist schon bemerkenswert, was der Verteidigungsminister am vergangenen Donnerstag hier bei der Aktuellen Stunde gesagt hat:
Eine An- oder Abkoppelung der USA von Europa ist niemals nur die Funktion eines einzigen Waffensystems, . . .
Er fährt fort:
Außerdem sind Pershing II und Cruise Missiles nicht die einzigen Waffen der Amerikaner in Europa, die sowjetisches Territorium erreichen können: Es gibt amerikanische Flugzeuge und UBoot-stationierte Waffen.
Das ist genau die Begründung, die die Friedensforschung und Friedensbewegung acht Jahre lang angeführt hat, um die Entbehrlichkeit dieser gefährlichen Waffen zu begründen. Jetzt wird sie vom Verteidigungsminister selbst angeführt. Das ist irgendwie ja sehr erfreulich. Aber da ist ja etwas passiert. Da ist ein Fehler gewesen. Man hat einen Abrüstungsvorschlag gemacht, den - wider Erwarten - die Sowjetunion angenommen hat. Das ist die Ursache für diese Schwenks, für diese Widersprüche in der Diskussion dieser Frage. Wir freuen uns natürlich über diese Selbstverleugnung. Aber wie ist sie zu erklären?
Offenkundig fürchtet die Bundesregierung eine Zustimmung der US-Administration zu einem Mittelstreckenabkommen. Ich wiederhole: Die Bundesregierung fürchtet eine Zustimmung zu einem solchen Abkommen. Da zeigt sich, daß die Unterwürfigkeit dieser Regierung gegenüber Washington noch größer ist als ihre Atomwaffenbesessenheit.
({5})
Da verzichten Sie lieber auf eine Waffenkategorie, als daß Sie in dieser wichtigen Frage in Widerspruch zur US-Regierung geraten. Offenkundig können Sie auf alles verzichten, nur nicht auf die Gunst der USA. Sie sollten hier nicht schwören, sondern bei der amerikanischen Botschaft Ihr Beglaubigungsschreiben abholen.
({6})
Wer sich so sehr in die Gunst der USA und der NATO begibt, sich diesen Einrichtungen und Staaten ausliefert, kann wirkliche Abrüstung gar nicht betreiben. Denn Militärbündnisse - das sage ich auch der SPD - sind Kriegsbündnisse. Es ist ein Stück Ideologie, wie man aus Militärbündnissen in den Köpfen der Menschen Instrumente des Friedens machen konnte.
({7})
Das sind Kriegsbündnisse. Deswegen geht es nicht, Bündnisloyalität zu versprechen und gleichzeitig Friedenspolitik zu machen. NATO und Frieden sind grundsätzlich unvereinbare Größen.
({8})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?
Ja.
Herr Kollege Mechtersheimer, wie bringen Sie diese Aussage in Übereinstimmung mit der Tatsache, daß ohne das westliche Bündnis und den Harmel-Bericht die Ostpolitik, die im letzten Jahrzehnt das eigentliche Stück praktischer Friedenspolitik gewesen ist, gar nicht möglich gewesen wäre?
Blockmanagement ist immer möglich. Das haben Sie heute ja auch ausgeführt. Nur rührt das nicht an den Ursachen des Wettrüstens. Sie haben nämlich gerade in der Phase der Entspannung, so positiv sie atmosphärisch war, die Fortsetzung des Wettrüstens gehabt, die sogar zur Pershing II geführt hat.
({0})
Eine Zusatzfrage.
Herr Kollege Mechtersheimer, aber Sie haben sicher auch gemerkt, daß gerade dieses von uns als der Fehler der ersten Phase der Entspannungpolitik erkannt worden ist und wir darum sagen: Wir kommen in der zweiten Phase nicht weiter, wenn wir nicht den Gedanken der Entspannung nun endlich auch im militärischen Bereich in Form von Rüstungskontrolle und Abrüstung zum Tragen bringen.
Vielleicht war es ein unvermeidlicher Fehler, Herr Ehmke, daß nämlich mit dieser Blockstruktur das, was Sie wollen, gar nicht erreichbar ist. Es ist ja auch denkbar, daß es strukturell gar nicht geht.
({0})
Wenn man die Grundüberzeugung hat, daß beides zusammen nicht geht - die ganze Entwicklung seit 1945 oder 1948 bestätigt das ja auch - , dann ist auch eine Politik, wie sie der Außenminister Genscher mit erheblicher Zustimmung im In- und Ausland betreibt, in der Sache letzten Endes nur Camouflage. Denn wer sich so, wie das immer wieder geschieht, dem Bündnis ausliefert, hat keine Chance, wirklich eine anders ausgerichtete Politik zu machen.
Wer Abrüstung gar nicht wirklich will - ich wiederhole: wer Abrüstung gar nicht wirklich will, nicht wollen darf, weil er ja abschrecken will - , wer des288
wegen mögliche Abkommen nur als Störgröße herkömmlicher Sicherheitspolitik versteht,
({1})
der wird möglicherweise notgedrungen einem Abkommen zustimmen, aber er wird keinen Abrüstungswillen entwickeln, und er wird versuchen, den Waffenverlust infolge eines Abkommens durch andere Maßnahmen zu kompensieren.
({2})
Wir müssen sehr, sehr achtgeben, daß hier nicht unter der Überschrift „Abrüstung" nur Umrüstung erfolgt.
({3})
Ich verweise auf einige offene Flanken, die sich hier auftun. Die britischen und französischen Nuklearpotentiale werden in den nächsten Jahren so entwickelt, daß eine sogenannte Reservekopfzahl entsteht. Mehr, als nach den atomaren Einsatzkonzepten Großbritanniens und Frankreichs an Nuklearwaffen nötig ist, ist damit verfügbar. Man könnte - ich zitiere „Spektrum der Wissenschaft" vom August 1986 - solche Waffen, wie z. B. die britischen seegestützten Trident-Raketen „auf dem europäischen Kriegsschauplatz gegen ähnliche Ziele richten, wie sie beispielsweise für die amerikanische Pershing II vorgesehen sind." Eine interessante Beobachtung: daß sich hier möglicherweise der eine oder andere in der Koalition über den Verlust der Pershing II damit hinwegtröstet, daß er auf eine europäische nukleare Option spekuliert.
Ich kann Herrn Ehmke nur sagen: Vorsicht. Wenn man so viel von deutsch-französischer militärischer Partnerschaft spricht, legt man damit auch, ob man es will oder nicht, die Grundlage für eine nukleare Zusammenarbeit.
({4})
Helmut Schmidt hat das nicht getan. Vieles, was Sie heute sagten, liegt in der Tradition von Helmut Schmidt. Da kann es sehr schnell passieren, daß Sie aus einem amerikanischen nuklearen Regen in eine westeuropäische nukleare Traufe geraten. Das wollen Sie nicht, aber diese Gefahr müssen Sie sehen. Deswegen ist Zurückhaltung geboten, wenn Sie wirklich auch im Sinne der Nürnberger Beschlüsse neue Ufer betreten wollen. Manches, was Sie heute gesagt haben, hört sich wie ein Rückfall hinter Nürnberg an. Aber das müßten wir noch diskutieren.
({5})
Eine zweite Gefahr: Die Pershing II kann man ohne große Probleme in eine Pershing I umrüsten, denn sie ist aus der Pershing I entstanden. Die Firma, die sie herstellt - Martin Marietta - , stellt in ihren Broschüren die hohe design flexibility dar. Das ist gerade ein Argument für die Waffe, daß man mit geringem Aufwand aus einer Pershing II eine Pershing I machen kann. Die Forderungen, die wir in den USA - im Pentagon - und auch im NATO-Bereich der Bundesrepublik hören, begünstigen solche Überlegungen. Deswegen ist die Forderung einer Null-Lösung bei den Mittelstreckenraketen unvorstellbar ohne die Forderung, auch die entsprechenden Militäreinheiten, die Raketenverbände in Ost und West aufzulösen.
({6})
Das ist eine unabdingbare Voraussetzung, damit hier nicht eine versteckte Nachrüstung eingeleitet wird. Ich verweise auf die „International Herald Tribune" vom Montag dieser Woche. Dort wird mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die mögliche Null-Lösung im Bereich der Mittelstreckenraketen berichtet, daß man ein Waffensystem, das man ursprünglich nur konventionell gedacht hat - übrigens nur in einer Stückzahl von rund tausend - nuklear machen möchte. Dies geschieht ganz offenkundig als weiterer Versuch - das ist auch in der Regierungserklärung leicht angedroht - , mit neuen Nachrüstungen Potentiale zu retten, die man für die Abschreckung braucht.
Aus der Regierungserklärung spricht nicht die Spur eines neuen Denkens. Sie haben mehr Angst vor der Abrüstung als vor den Atomwaffen.
({7})
Sie haben auch mehr Angst vor einer neuen Sowjetunion. Schade, daß der Kanzler das nicht hört.
Herr Abgeordneter, der Kanzler sitzt im Plenum.
Dann nehme ich diesen Satz gerne zurück. Hören Sie bitte genau zu!
({0})
Herr Bundeskanzler, Sie haben mehr Angst vor einer neuen Sowjetunion - da möchte ich Sie gar nicht angreifen, sondern eigentlich mehr zum Denken anregen - als vor einer Sowjetunion, die Ihrem herkömmlichen Feindbild entspricht.
({1})
Ich habe Ihre politischen Fähigkeiten nie geringgeschätzt. Ausdruck dieser politischen Fähigkeiten ist sicher auch Ihr Diffamierungsversuch gegenüber dem neuen KP-Chef und auch der DDR; denn da fühlen Sie offenkundig, daß Besitzstände bedroht sind, wenn die herkömmliche sowjetische Politik durch eine andere abgelöst werden würde.
({2})
Wie wollen Sie der Bevölkerung den nuklearen Selbstmord erklären, wenn sie sich gegen ein System verteidigen muß, das durchaus interessante demokratische Entwicklungen möglich macht. Da funktioniert etwas nicht mehr. Das ist die Infragestellung der gesamten europäischen Weltanschauung. Das haben Sie richtig erkannt.
({3})
Daß ein kommunistischer Führer zum Hoffnungsträger für eine unter der Rüstung leidende Menschheit
werden konnte, ist eine moralische Bankrotterklärung der westlichen Welt.
({4})
Herr Abgeordneter Dr. Mechtersheimer, ich kann keine Zwischenfrage mehr zulassen. Die Redezeit ist abgelaufen. Ich muß abbrechen.
Ich hätte es begrüßt, Herr Bundeskanzler, wenn Sie den Mut gehabt hätten, drei Zeilen aus Ihrer Regierungserklärung auch wirklich vorzulesen, in der der Anteil der DDR an der Verbesserung der beiderseitigen Beziehungen ausdrücklich erwähnt wurde. Warum haben Sie nicht den Mut, so etwas zu machen, wenn Sie schon nicht auf das Angebot von Honecker eingehen, einen deutschdeutschen Beitrag zur Abrüstungsdiskussion zu leisten? Sie haben auch die Signale zu einer Neudefinition des deutsch-sowjetischen Verhältnisses überhört, die permanent kommen und auch Teil des NullLösungs-Angebots sind. Hier sind Sie natürlich durch Ihre Westintegration gefesselt. Doch ich glaube, es ist wichtig, das hier aufzugreifen.
Aber was appelliere ich? Wir werden unsere Politik mit Unterstützung der Friedensbewegung fortsetzen. Wir werden alles dafür tun, daß der nukleare Konsens weiter zerbricht, . . .
Herr Abgeordneter!
... daß man nicht nur eine nukleare Allergie hat, . . .
Ich muß Sie mahnen.
... sondern daß man insgesamt begreift, daß die NATO ein Hindernis ist zu einer Politik ({0})
Ich gehe genau nach dem vereinbarten - ({0})
- Bitte?
({1})
- Herr Abgeordneter, ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen hier zu diskutieren.
({2})
Wenn Sie nicht damit einverstanden sind, haben Sie die Möglichkeit, das im Ältestenrat vorzutragen. Sie sollten sich allmählich an die Geschäftsordnung gewöhnen. Das ist die Voraussetzung dafür, daß wir sinnvoll zusammenarbeiten können.
({3})
Das Wort erteile ich dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte am Beginn Ihnen, Herr Bundeskanzler, dafür danken, daß Sie in der Regierungserklärung die Leistungen, aber auch die Leiden des Auswärtigen Dienstes gewürdigt und an meinen Mitarbeiter von Braunmühl erinnert haben, der uns so unvergeßlich ist wie die anderen Opfer, die der Auswärtige Dienst für unser Land hat erbringen müssen.
Dieser Dienst wird schwerer. Das hat etwas mit veränderten Bedingungen in der Welt zu tun. Ich bin deshalb dem Deutschen Bundestag dankbar dafür, daß er in der vorigen Legislaturperiode mit allen Fraktionen mein Bemühen um ein Gesetz für den Auswärtigen Dienst, das seinen Besonderheiten Rechnung tragen soll, unterstützt hat. Herr Kollege Ehmke, ich habe dafür bei den Koalitionsverhandlungen sehr viel Verständnis gefunden. Wir werden uns jetzt ans Werk machen.
Diese außenpolitische Debatte heute bei der Behandlung einer Regierungserklärung, die nach vorn weist und sich den Herausforderungen unserer Zukunft stellt, bot für alle Fraktionen die Chance, nach dem zu suchen, was ein Parlament bei allen Gegensätzen einen kann.
Der Kollege Ehmke hat hier eine Reihe von Gedanken entwickelt, die uns einander näherbringen und auf die wir eingehen werden.
Sie, Herr Kollege Mechtersheimer, haben für Ihre Fraktion diese Chance versäumt.
({0})
Ich sage das nicht, weil sie eine andere Meinung vertreten haben als wir. Ich sage es, weil Sie uns, die Sie als Ihre politischen Gegner betrachten - und das ist umgekehrt genauso - , die Gesinnung des Friedens bestreiten. Das ist es, was uns trennt.
({1})
Eine Demokratie lebt von der Toleranz und der Achtung auch der Aufrichtigkeit der anderen Meinung. Nur wer tolerant ist, ist zum inneren Frieden fähig.
({2})
Und nur wer zum inneren Frieden fähig ist, kann glaubwürdig den Frieden auch nach außen bewahren.
({3})
Zwei Leitartikel vom gestrigen Tage haben die Frage nach Perspektiven und Problemen der deutschen Außenpolitik gestellt. Der eine sprach davon, daß die deutsche Außenpolitik unabmeßbaren Veränderungen der Weltgeschichte ausgesetzt sei. Es bestehe die Gefahr, daß äußere Sicherheit und Rüstungskontrolle in einen Gegensatz geraten, der besonders die Europäer berühre. Er fährt fort: Es ziehen Wolken auf. In dem anderen wird die Frage gestellt, ob nach dem Feindbild nun die Wunschbilder kommen, ob also nach der pessimistischen Betrachtung nun die Illusion Einzug hält. Dieser Artikel kommt zu dem Ergebnis: Aus Feindbildern dürfen nicht Wunschbilder werden. Aber die neuen Perspektiven sollten wir keinesfalls aus den Augen verlieren.
Beide Artikel sind in ihrer Analyse übereinstimmend. Beide stellen fest, daß wir uns in einer Phase tiefgreifender Veränderungen in der Weltpolitik befinden. Die Entwicklung geht weg von einer bipolaren Welt, die ausschließlich durch das Verhältnis der Vereinigten Staaten zur Sowjetunion bestimmt wird. Wir bewegen uns hin zu einer Welt, in der andere Kraftzentren gestalterisch werden; die Volksrepublik China ist das stärkste, das beachtlichste davon. Und alles das, was hier heute von der Notwendigkeit europäischer Selbstbesinnung, Einigung, europäischer Identität gesagt worden ist, ist von dem Willen getragen, daß unser demokratisches Europa, das Europa der Europäischen Gemeinschaft in dieser sich verändernden Welt seinen Platz einnimmt, damit die Politik und Entwicklung nicht über uns hinweggehen.
Neue technologische Entwicklungen verändern die Gesellschaften und das Zusammenleben der Menschen. Der Philosoph Jonas spricht mit Recht davon, daß wir eine neue Verantwortung zu erfüllen haben.
({4})
Andere Generationen hatten sie nur für sich selbst, wir haben sie bei der Sicherung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und bei der Bewahrung des Friedens für alle nachwachsenden Generationen, weil wir nämlich die Generation sind, die zum erstenmal auch mit der Gefahr der Selbstvernichtung konfrontiert ist.
Deshalb war es so notwendig, daß die Bundesregierung als die übergreifende Zielsetzung ihrer Politik gefordert hat: „Die Schöpfung bewahren und die Zukunft gestalten" . Das ist nicht nur eine innenpolitische, sondern eine Forderung, die für uns weltweite Bedeutung hat.
Viele Aufgaben der inneren Politik gewinnen zunehmend eine außenpolitische Dimension. Das gilt für die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichts. Weltweite Kommunikations- und Reisemöglichkeiten machen die Bekämpfung von Krankheiten und Seuchen zu einer internationalen Aufgabe. „Die Schöpfung bewahren" - dazu gehören die Meeresböden, die Antarktis, die Lufthülle der Erde und der Weltraum.
Vor allem aber steigt das Bewußtsein, daß wir mehr voneinander abhängig sind. Hier liegt die eigentliche Wirkung von Tschernobyl. Der Bundeskanzler hat mit Recht festgestellt: Das West-Ost-Verhältnis ist in Bewegung geraten. Der Wille der beiden Großmächte in Reykjavik, sich zu verständigen, bringt für die West-Ost-Beziehungen, für Abrüstung und Rüstungskontrolle uns neuen Perspektiven näher.
Ist es also wirklich so, meine Damen und Herren, daß Wolken aufziehen? Oder ist es nicht so, daß in dieser Phase des Umbruchs auch die Chance liegt, manches in der Welt zum Besseren zu wenden - Schritt für Schritt?
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Die Regierungserklärung entscheidet sich für diese Alternative: für eine dynamische, für eine realistische Politik der Zukunftsgestaltung und nicht der Beharrung. Und so schön ist die Lage ja auch nicht, daß wir sagen könnten, wir wollen beharren.
Meine Damen und Herren, die Weltschuldenkrise, Hunger und Not in vielen Ländern der Dritten Welt, Arbeitslosigkeit in der Europäischen Gemeinschaft, Rheinvergiftung, Hochrüstung - das ist die eine Seite. Die andere Seite ist - und das sind die Grundlagen, auf die wir uns zu besinnen haben - , daß wir für unsere Politik Fundamente geschaffen haben, die es uns ermöglichen, die Zukunft zu gestalten. Diese Fundamente zu entwickeln ist zugleich auch die Stärkung der Fähigkeit, mit dem Osten zusammenzuarbeiten.
Das Bündnis festigen - das bedeutet, daß wir als westliche Demokratien - zusammen mit Japan, das diesem Bündnis nicht angehöhrt - die große weltwirtschaftliche Verantwortung erkennen, die Europa, die Vereinigten Staaten und Japan bei der Bewältigung der Schuldenkrise, bei der Schaffung stabiler weltwirtschaftlicher Beziehungen tragen, die auch den Entwicklungsländern den gleichberechtigten Eintritt in die Weltwirtschaft durch Abbau von Protektionismus in den Industrieländern ermöglichen.
({6}) Das ist praktische Hilfe für die Dritte Welt.
Was die Hilfe in Zahlen angeht, meine Damen und Herren: Wir rechnen nicht einmal die privaten Investitionen in der Dritten Welt mit, aber allein die öffentliche Entwicklungshilfe der nun wahrlich nicht großen Bundesrepublik Deutschland ist mehr als doppelt so groß wie die des ganzen Warschauer Paktes. Hier zeigt sich, was freie Gesellschaften beitragen können
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in ihrer Verantwortung gegenüber der Dritten Welt, weil wir nämlich begriffen haben, daß die Lösung der Probleme der Dritten Welt für unser zu Ende gehendes Jahrhundert eine gleich große soziale Herausforderung ist wie die Lösung der sozialen Probleme in
den Industriegesellschaften am Ende des letzten Jahrhunderts,
({8}) und das ist ein Beitrag zur Friedenspolitik.
Meine Damen und Herren, in einer sich so verändernden Welt verlangt es eine realistische Sicht, daß wir uns der Fundamente unserer eigenen Politik versichern, also unserer Mitgliedschaft im westlichen Bündnis und in der Europäischen Gemeinschaft. Herr Kollege Mechtersheimer, wir liefern uns diesem Bündnis nicht aus, sondern wir sind Mitglied dieses Bündnisses, damit Europa nicht neuer Instabilität ausgeliefert wird. Das ist unsere Auffassung.
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Das ist nicht, wie Sie sagen, ein Militärbündnis - das ist ja gerade das Neue -; es ist nicht ein Militärbündnis alter Art, wo man sich für bestimmte Zeit zusammenschließt, um gegen einen anderen Front zu machen. Es ist ein Bündnis, das auf gleichen Wertvorstellungen von Freiheit und Demokratie beruht, von dem, meine Damen und Herren, was für eine freie Gesellschaft konstitutiv ist.
Nun müssen wir fragen: Was bedeutet das für dieses Bündnis, wenn die Europäische Gemeinschaft den Weg deutlicherer Selbstfindung in allen Bereichen geht? Im Grunde tun wir das, was uns alle amerikanischen Präsidenten seit Kennedy aufgetragen - hätte ich fast gesagt -,
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von uns gefordert haben: Schafft den europäischen Pfeiler des westlichen Bündnisses und nicht eine Addition von Pfeilerchen!
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Meine Damen und Herren, wir haben heute in der Europäischen Gemeinschaft 320 Millionen Menschen, weit mehr als in den Vereinigten Staaten. Wenn dieses Europa seine Marktkraft entfaltet - das ist der Sinn der Schaffung des Binnenmarktes -, wenn dieses Europa seine technologische Leistungsfähigkeit stärkt, dann erhöht es sein Gewicht in der internationalen Politik und im westlichen Bündnis; denn das ist es ja, was das neue Denken in dieser Gemeinschaft europäischer Demokratien ist, daß wir unser Gewicht nicht ableiten von dem Maß der militärischen Stärke. Diese orientieren wir an den Notwendigkeiten der Verteidigungsfähigkeit. Unser Gewicht beruht auf der Kraft unserer freiheitlichen Ordnung,
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auf unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, auf unserer Kooperationsfähigkeit, damit wir soziale Gerechtigkeit bei uns schaffen und damit wir soziale Gerechtigkeit in die Staaten der Dritten Welt hineintragen können.
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Das ist die Friedensaufgabe, die ein demokratisches Europa hat.
Nun gehört es dazu, daß zu dieser europäischen Selbstfindung unser Europa auch seine Sicherheitsinteressen definiert. Es ist eben nicht wahr, daß uns die Amerikaner Gleichgewichtigkeit im Bündnis oder Anerkennung unserer Sicherheitsinteressen verwehren. Europäische Uneinigkeit, die nicht vorhandene Fähigkeit, die eigenen europäischen Sicherheitsinteressen zu definieren, hat dazu geführt, daß wir oft spät, manchmal zu spät bestimmte Forderungen haben anmelden können in der Gesamtheit der europäischen Staaten. Deswegen haben wir die Westeuropäische Union zusammen mit Frankreich wiederbelebt. Frankreich und Deutschland sind nun einmal der Motor, das Herzstück der europäischen Einigung.
Die sicherheitspolitische Zusammenarbeit ist nicht nur ein Gewinn im Sinne einer Verstärkung der Effektivität unserer militärischen Anstrengungen. Diese sicherheitspolitische Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich ist ein großes Stück Vertrauensbildung in Europa, die wir brauchen, wenn wir unsere nationalen Interessen auch dem Osten gegenüber durchsetzen wollen.
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Wir werden darüber nicht vergessen, was die anderen Staaten tun. Es sind hier schon alle unsere Bündnispartner gewürdigt worden. Ich will noch ein Wort zu einem großen Land in der Europäischen Gemeinschaft sagen, das wie wir ein nichtnukleares Land ist: Italien, das auch einen erheblichen Beitrag zur gemeinsamen Sicherheit leistet, das wie wir zu den europäischen Gründerstaaten gehört und das viele Beiträge zur Entwicklung der West-Ost-Beziehungen geleistet hat.
So ist der Prozeß europäischer Selbstfindung auch zugleich ein Beitrag zur Stärkung des Gewichts der Europäer im westlichen Bündnis und damit auch zur Stärkung dieses Bündnisses, selbst zur Festigung dessen, was Europa mit den Vereinigten Staaten verbindet. Das ist notwendig und dringlich; denn wir kennen ja auch die Gegensätze, die in den Fragen der Handelspolitik deutlich geworden sind. Kann es eigentlich befriedigend sein, daß sich Europa und Amerika am Weltmarkt bei der Subventionierung von Agrarprodukten, die auf beiden Seiten unter Überschußproduktion hergestellt worden sind, einen ruinösen Wettbewerb liefern? Hier ist eine Harmonisierung notwendig. Wir werden sehr viel dafür tun müssen, daß aus Meinungsverschiedenheiten in diesem Bereich nicht Auswirkungen auf den politischen und den sicherheitspolitischen Bereich entstehen.
Festigung also und Entwicklung der Perspektiven unseres demokratischen Europas zur Stärkung auch des westlichen Bündnisses und zur Verbreiterung der Plattform, die wir brauchen, um mit unseren Nachbarn im Osten zusammenzuarbeiten. Da fragen viele: Warum sind es denn die Deutschen, die sich zuallererst mit diesen Fragen, mit der Entwicklung im Warschauer Pakt, mit der Entwicklung in der Sowjetunion befassen? Kann das eigentlich verwunderlich sein? Ist es nicht so, daß wir diejenigen sind, die im Guten wie im Schlechten am meisten davon betroffen sind, wie sich das West-Ost-Verhältnis gestaltet? Der Bundeskanzler hat in der Regierungserklärung auf die Einbettung des deutschen Schicksals in das Schicksal
Europas hingewiesen. Er hat aus diesem Grunde vor einem deutschen Sonderweg gewarnt.
Wir können doch feststellen - jeden Tag empfinden wir es - : Die Grenze, die Europa teilt, ist nicht die Grenze, die irgendein anderes Land sonst noch teilt; es ist die Grenze mitten durch Deutschland. Das, was Europa trennt, trennt die Deutschen. Das, was Europa zusammenführt, führt die Deutschen zusammen. Deshalb muß deutsche Außenpolitik europäische Friedenspolitik sein. Nichts anderes ist möglich.
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Wir haben zu dieser Politik keine Alternative, die wir vertreten könnten. Da es ganz unbestritten ist, worauf auch viele der Redner hingewiesen haben, daß die europäische Identität nicht nur in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft bewußt wird, sondern daß sie noch viel stärker in allen europäischen Staaten, bei unseren Nachbarn im Osten, bewußt wird, ist es so wichtig, daß wir erkennen, daß der Ausbau der Zusammenarbeit zwischen West und Ost zugleich auch das Bewußtsein dieser europäischen Identität verstärken wird. Das ist eine große Chance für Europa.
Zum erstenmal erleben wir seit langer Zeit wieder, daß die deutschen Interessen mit den Interessen aller unserer Nachbarn übereinstimmen. Die Europäer in West und Ost wollen näher zusammenrücken, so wie wir Deutschen zusammenkommen wollen, d. h. wir sind eingebettet in eine Grundströmung, die Europa immer stärker beeinflussen wird. Wer sich hier aus dieser europäischen Entwicklung auskoppelt, der nimmt uns die Chance, uns als Deutsche näherzukommen. Das ist der Grund, warum wir einen deutschen Sonderweg ablehnen.
Nun hat heute morgen der Herr Kollege Lippelt davon gesprochen, daß er und, wie ich verstehe, alle seine Kollegen in der Fraktion der GRÜNEN
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den Anspruch auf Wiedervereinigung aufgeben. Meine Damen und Herren, ich möchte alle, die das sagen, doch einmal bitten, darüber nachzudenken, was sie eigentlich legitimiert, einen Teil unserer Nation, die unbestreitbar fortbesteht, auszugrenzen. Was legitimiert sie?
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- Nein, ich möchte meine Ausführungen fortsetzen, Herr Kollege.
Wird hier nicht eine neue Form des Alleinvertretungsanspruchs sichtbar? Das Selbstbestimmungsrecht, das unserem Volk wie jedem anderen Volk zusteht, kann weder der Teil des Volkes, der hier lebt, für sich ausüben noch der für sich in der DDR, das können wir nur gemeinsam ausüben.
({18}) Gemeinsam können wir darüber entscheiden.
Deshalb möchte ich Sie bitten, einmal darüber nachzudenken, ob Sie wirklich die Legitimation haben, diejenigen Mitbürger, die in der DDR leben, aus der Einheit - ({19})
- Sie sagen, Sie wollen es. Sie wollen mehr als die Führung der DDR, die selbst von dem Fortbestehen der deutschen Nation spricht.
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- Die Führung der DDR spricht vom Fortbestehen der deutschen Nation. Sie hat andere Auffassungen als wir von der staatlichen Organisation. Aber, meine Damen und Herren, das Fortbestehen der deutschen Nation leugnet niemand, der Realpolitik betreibt.
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Deshalb ist es so wichtig, daß wir hier unsere Verantwortung erkennen, eine Verantwortung, die wir als Deutsche - wir, die Deutschen hier und unsere Mitbürger in der DDR - auch dadurch erfüllen, daß wir unsere Beiträge für den Frieden in Europa leisten. Deshalb hat die Bundesregierung zu keiner Zeit die DDR aus ihren Gesprächen über die Fragen der Abrüstungspolitik und der Rüstungskontrollpolitik ausgeklammert. Wir tun das mit allen Staaten des Warschauer Paktes, und natürlich - ich würde sagen: zuallererst - tun wir es mit der DDR. Das gehört dazu; hier haben wir eine gemeinsame Verantwortung zu erfüllen.
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- Ich sage es Ihnen ja gerade. Sie haben sich ja, als der Bundeskanzler gesprochen hat, darüber beklagt, daß die Regierungserklärung zu lang sei. Nun führe ich das aus, was in der Bundesregierung ganz unbestritten ist. Da beklagen Sie, daß das nicht in der Regierungserklärung gestanden habe.
Meine Damen und Herren, darüber gibt es doch überhaupt gar keinen Zweifel: Wir haben die Abrüstungskonsultationen gehabt, wir werden sie fortsetzen, wir werden sie auf einer anderen Ebene fortsetzen. Wir wollen mit jedem Staat des Warschauer Paktes - ich sage es noch einmal - und natürlich auch mit der DDR darüber sprechen, wie wir Europa sicherer machen können und was wir für Beiträge zur Sicherheit leisten können.
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Meine Damen und Herren, realistische Entspannungspolitik ist notwendig. Als ich 1975 vor dem Deutschen Bundestag eine Regierungserklärung zur Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa abzugeben hatte, habe ich gesagt: Unsere realistische Entspannungspolitik dient dem Frieden. Wer das bestreitet, muß die Alternative nennen. Realistische Entspannungspolitik ist eine Politik, die auch ihre Grenzen klar erkennt. Ich bin dann fortgefahren:
Wer sich für diese Politik aus dem Bündnis lösen will, würde eine illusionäre Politik beginnen.
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Ich denke, das ist etwas, wozu eigentlich alle jasagen können sollten.
Herr Kollege Ehmke, zu dem, was Sie zu manchen Fragen der europäischen Sicherheit gesagt haben: Wir werden es mit zu besprechen haben, wenn wir uns daranmachen, in der Westeuropäischen Union jene europäische Sicherheitscharta zu erarbeiten, die der französische Ministerpräsident vorgeschlagen hat, nämlich die Definition europäischer Interessen in der Sicherheitspolitik. Natürlich werden wir in der EG zu besprechen haben, inwieweit die EG hier ein geeignetes Gremium sein kann. Das Problem liegt darin, daß nicht alle Mitgliedstaaten der EG Mitgliedstaaten des westlichen Bündnisses sind; das haben wir dabei mit zu bedenken.
Meine Damen und Herren, nun haben wir uns einer Entwicklung zu stellen, die mit großer Dramatik in der Sowjetunion stattfindet, einer Entwicklung, die von dem Willen des neuen Generalsekretärs gekennzeichnet ist, das Land zu modernisieren und es nach innen und außen zu öffnen. Wir haben uns die Frage zu stellen, ob das, wenn eine solche Entwicklung, wenn eine solche Politik Erfolg hat, in unserem Interesse liegt oder nicht. Ich denke, es ist ganz unbestreitbar, daß eine Sowjetunion, die sich nach innen und außen öffnet, für uns ein besserer Partner ist als eine Sowjetunion, die sich abschließt, wie sie das in der Vergangenheit getan hat.
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Natürlich können wir die Mängel nicht lösen, die im sowjetischen System liegen. Das ist die Aufgabe der sowjetischen Führung und der sowjetischen Gesellschaft. Was wir aber tun können, ist, durch die Bereitschaft zur Zusammenarbeit eine solche Entwicklung zu erleichtern und auch zu ermutigen. Das bedeutet, daß wir alle die Möglichkeiten, die in dem langfristigen deutsch-sowjetischen Wirtschaftsabkommen liegen, nutzen. Das ist ein Wirtschaftsabkommen, das übrigens viele interessante Modelle der Zusammenarbeit ermöglicht, die bisher nicht genutzt wurden - nicht unseretwegen, sondern wegen der Inflexibilität des Systems in der Sowjetunion. Dazu gehört, daß wir den politischen Dialog fortsetzen und die Zusammenarbeit in allen Bereichen suchen.
Der Westen, meine Damen und Herren, muß eine solche Entwicklung nicht scheuen. Im Gegenteil: Der Westen - ich wiederhole es - hat Anlaß, eine solche Entwicklung zu ermutigen. Er kann das in der sicheren Gewißheit, daß er als eine handlungsfähige Gemeinschaft innerhalb des westlichen Bündnisses dabei seine Sicherheitsinteressen nicht verletzen wird.
Nun ist die Frage aufgeworfen worden, ob eine solche Modernisierung dem Westen denn wirklich nütze, weil sie doch unter Umständen die Wirtschaftskraft der Sowjetunion verstärke. Meine Damen und Herren, wer die gesellschaftlichen Entwicklungen erkennt, die sich aus den neuen Technologien für
unsere freien Gesellschaften hin zu mehr personaler Verantwortung und kleineren Einheiten ergeben, und wer erkennt, daß eine Öffnung der Sowjetunion ganz automatisch auch notwendig macht, sich in diese Richtung zu bewegen, der wird auch erkennen, daß eine Sowjetunion, die den Weg der Modernisierung wirklich geht, am Ende eine andere sein wird als die von heute, eine offenere, nicht eine Demokratie in unserem Verständnis, sondern eine offenere, verglichen mit der Sowjetunion von heute.
Da komme ich auf das zurück, was ich eingangs gesagt habe: Das liegt auch in unserem Interesse. In unserem Interesse liegt auch, daß sich durch wirtschaftliche Zusammenarbeit die Lebensverhältnisse in allen Staaten des Warschauer Paktes verbessern.
Wenn wir von unseren deutschen Mitbürgern in der DDR und von unseren europäischen Mitbürgern reden, wollen wir das ja nicht als eine Sonntagsrede verstanden wissen, sondern wollen, daß sich auch ihre materiellen Lebensbedingungen verbessern, so wie wir durch Bestehen auf den Verpflichtungen der Schlußakte von Helsinki wollen, daß sich die menschenrechtliche Lage verbessert. Beides gehört zusammen, und beides macht Europa stabiler!
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Deshalb wäre es eine gefährliche Politik, wenn wir in dem, was dort geschieht, ein Zeichen der Schwäche sehen würden, wo man noch nachhelfen muß, um die anderen noch schwächer zu machen. Das würde bei einem System sowjetischer Prägung eine ganz andere Reaktion auslösen. Nein, es ist wichtig, daß wir uns hier weiter an dem orientieren, was wir immer getan haben, an der Notwendigkeit der Verteidigungsfähigkeit, daß wir aber den Willen zur Kooperation zeigen, weil wir weder eine technologische noch eine wirtschaftliche noch eine kulturelle Spaltung Europas wollen.
Das ist das, was die Grundidee der Schlußakte von Helsinki ist, nämlich den Weg zu einer europäischen Friedensordnung zu öffnen, in der die Völker Europas auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen Ordnungen zwar im Wettbewerb, aber auf der Grundlage von mehr Vertrauen miteinander leben können.
Herr Kollege Ehmke, ein Rat für Vertrauensbildung wird Vertrauen nicht schaffen, aber vertrauensbildende Maßnahmen können dann auch eine Grundlage dafür bieten, ein besseres Krisenmanagement - wenn ich den Audruck einmal aufnehmen darf - in Europa zu schaffen. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen vorangehen. Mehr Sicherheit durch Vertrauensbildung, konventionelle Stabilität schaffen, was bei zurückgehender Bedeutung der atomaren Waffen immer bedeutender wird, das, meine Damen und Herren, ist ein großes Ziel zusätzlicher Stabilität zwischen West und Ost, und hier haben gerade die europäischen Partner Frankreich und Deutschland entscheidende Beiträge geleistet.
Die Bundesregierung wird, angetreten unter dem Ziel, die Schöpfung zu bewahren und die Zukunft zu gestalten, hier ihre Verantwortung erkennen, ihre Verantwortung auch für neue kooperative Lösungen im Sicherheitsbereich und in allen Bereichen der Zusammenarbeit. Herr Kollege Dregger und Herr Kol294
lege Rühe haben das hier erwähnt. Denn wir haben - ich wiederhole es - als Volk keine andere Chance, als den Weg der guten Nachbarschaft und der Einbettung unserer nationalen Interessen in die Interessen des geteilten Europa zu gehen. Deshalb möchte ich den GRÜNEN sagen: Wer die Einheit der deutschen Nation aufgibt, gibt auch die Einheit Europas auf.
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Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir sind am Ende der Aussprache über die Regierungserklärung und damit auch am Ende unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 1. April 1987, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.