Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 3/18/1987

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, heute feiert der Abgeordnete Bahr seinen 65. Geburtstag. Ich darf ihm die besten Wünsche des Hauses übermitteln. ({0}) Meine Damen und Herren, die heutige Tagesordnung wird gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung um den Zusatzpunkt Einspruch des Abgeordneten Stratmann gegen den Ausschluß am 12. März 1987 erweitert. Der Einspruch ist fristgerecht eingelegt worden. Über diesen Einspruch entscheidet der Bundestag gemäß § 39 unserer Geschäftsordnung ohne Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung. Wer dem Einspruch des Abgeordneten stattgeben möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Einspruch ist zurückgewiesen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung Nach Abgabe der Erklärung der Bundesregierung werde ich die Sitzung bis 14 Uhr unterbrechen. Zum weiteren zeitlichen Ablauf darf ich Sie darauf hinweisen, daß die heutige Sitzung nach einer interfraktionellen Vereinbarung bis 20 Uhr dauern soll. Ich erteile dem Herrn Bundeskanzler das Wort.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Koalition der Mitte hat von den Wählern erneut einen klaren Regierungsauftrag erhalten. ({0}) Unsere Mitbürger wollen, daß wir Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit sichern. Sie wollen, daß wir die uns anvertraute Schöpfung bewahren und gemeinsam die Zukunft gewinnen. Noch vor gut vier Jahren befand sich unser Land in einer schweren Krise. Wir haben diese gefährliche Schwächephase überwunden, und wir haben ein stabiles Fundament für die Gestaltung der Zukunft geschaffen. ({1}) Der tiefgreifende Wandel unserer Zeit bewegt die Bürger in ihrem Lebensalltag. Viele Menschen sehen sich im Zwiespalt widerstreitender Gefühle. Wir wissen alle um die faszinierenden Möglichkeiten der modernen Naturwissenschaften, aber wir wissen auch, daß nicht alles, was technisch möglich und ökonomisch vorteilhaft erscheint, unter humanen Gesichtspunkten wünschenswert ist. Wir erleben täglich, daß die Völker der Erde voneinander immer abhängiger werden. Gleichzeitig sehnen sich die Menschen nach Heimat und überschaubaren Lebensverhältnissen. Verständlich ist ein weit verbreitetes Sicherheitsbedürfnis, daß immer umfassender wird, obwohl doch jeder weiß, daß sich nicht alle Risiken des Lebens ausschalten lassen. ({2}) In unserer säkularisierten Welt ist die Suche nach Lebenssinn schwieriger geworden, und die Lebensängste werden größer. Und wie in allen Zeiten großen Umbruchs wird die Spannung zwischen Kontinuität und Fortschritt, Tradition und Moderne auch heute stark empfunden. Wir wollen für die geistigen Strömungen unserer Zeit sensibel sein, wohl wissend, daß Politik mit Widersprüchen und auch mit Gegensätzen leben muß. In der Demokratie kann und darf Politik die Aufgabe der Sinnfindung dem Bürger nicht abnehmen. Sie muß die Wirklichkeit nüchtern wahrnehmen, tatsächliche Zukunftschancen erkennen und sie, wenn möglich, nutzen. Wir haben erlebt: Schnelle Antworten führen oft zu falschen Lösungen. Wir müssen unsere Entscheidungen frei von Routine und eingefahrenen Betrachtungsweisen treffen können. Gefordert sind von uns allen Offenheit und Einfühlungsvermögen, Nachdenklichkeit und Ideenreichtum - aber auch Standfestigkeit, besonders dort, wo es um die Grundwerte der inneren und äußeren Politik des Landes geht. ({3}) Unser Leitbild ist eine Gesellschaft, in der sich der einzelne frei entfalten kann - auch und gerade in der Verantwortung für den Nächsten. Daraus ergeben sich zentrale Ziele unserer politischen Arbeit: Erstens. Wir wollen das Wertebewußtsein schärfen, insbesondere den Sinn für den Zusammenhang von Freiheit und Verantwortung. ({4}) Das für uns gültige Wertesystem, wesentlich durch Christentum und Aufklärung geprägt, gründet auf der Einzigartigkeit jedes Menschen, auf der Achtung vor dem Leben, der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit. Wie bedeutsam diese Werte bleiben, zeigt uns die aktuelle Diskussion über Ethik der Forschung und Schutz des menschlichen Lebens. Auch die Wahrung des inneren Friedens ist im Kern eine Frage der Freiheit und ihres verantwortungsvollen Gebrauchs. ({5}) Zweitens. Wir wollen in einer leistungsstarken Wirtschaft sozialen Halt geben und so die Freiheit materiell stützen. Nur wenn die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft angewendet werden, können auf die Dauer Wirtschaft gedeihen und soziale Sicherheit bestehen. Damit müssen sich Leistungswille und Kreativität verbinden. Dann können wir den Anschluß an die Weltspitze halten, neue Arbeitsplätze schaffen und den sozial Schwächeren zur Seite stehen. Am Herzen müssen uns insbesondere jene liegen, die keine machtvollen Verbände und Fürsprecher haben. Drittens. Wir wollen, daß die Bürger in einer menschengerechten Lebensumwelt Geborgenheit erfahren und mehr Freiheitschancen erhalten. Vor allem wollen wir menschliche Bindungen erhalten und stärken. Das betrifft die Familie ebenso wie das Verhältnis zwischen den Generationen und - in einem weiteren Sinn - die Verbundenheit mit der Heimat, wie etwa die Bodenständigkeit, gerade auch im ländlichen Raum. Familienförderung und so verstandene Agrarpolitik, aber auch der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen weisen weit über die materielle Dimension hinaus. ({6}) Viertens. Wir wollen, daß alle Deutschen eines Tages wieder durch gemeinsame Freiheit in einer europäischen Friedensordnung vereint sind. ({7}) Deutschlandpolitik heißt für uns außerdem Menschen zueinanderbringen, weil sie zusammengehören. Deshalb müssen wir das Bewußtsein für die Einheit unserer deutschen Nation stets wachhalten. Dazu gehört die Treue zu Berlin. ({8}) Unser Standort ist und bleibt die freie Welt; denn die Freiheit ist der Kern der deutschen Frage. ({9}) Fünftens. Damit der Friede dauerhaft gesichert wird, wollen wir als verläßlicher Partner in der westlichen Wertegemeinschaft auf weltweite Achtung der Menschenrechte und auf gerechten Ausgleich zwischen den Völkern hinwirken. Realistische Entspannungspolitik ist ein notwendiger Beitrag zur Friedenssicherung: realistisch, weil wir nie den grundlegenden Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur verwischen dürfen und entschlossen sind, unsere Freiheit und unsere Sicherheit zu bewahren; ({10}) Entspannungspolitik, weil so Menschen und Völker einander näherkommen können, Grenzen offener werden und die Aussicht auf weltweite Achtung der Menschenrechte verbessert wird. Diese fünf Ziele beschreiben nicht nur unser Arbeitsprogramm für die Legislaturperiode bis 1990. Sie verdeutlichen eine Politik, die Weichen stellt ins nächste Jahrhundert. Einen langfristigen Zukunftsentwurf benötigen wir in der Bundesrepublik um so mehr, als wir auch die Folgen der gewaltigen Umbrüche in der Bevölkerungsentwicklung bewältigen müssen, die jetzt schon spürbar und absehbar sind. Auf uns kommen schwerwiegende Belastungen zu. Vom Geburtenrückgang sind so unterschiedliche Bereiche wie Alterssicherung und Bildungswesen, wie Wohnungsmarkt und die Personalstärke unserer Bundeswehr betroffen. Auch die Umkehrung der Alterspyramide und die bevorstehende Überalterung stellen unsere Gesellschaft vor völlig neue Aufgaben. Die Schwierigkeit angemessener Lösungen wird darin bestehen, Prioritäten zu setzen, den richtigen Zeitpunkt zum Handeln zu bestimmen und einen fairen Interessensausgleich herbeizuführen. Das kann nur gelingen, wenn jeder seiner eigenen Verantwortung gerecht wird und den ihm möglichen Beitrag leistet. Die Bundesregierung ist zum offenen Gespräch bereit - zuerst und vor allem hier im frei gewählten deutschen Parlament. Auch die Opposition hat einen Auftrag der Wähler erhalten. Auch sie trägt eine wichtige Verantwortung im Dienst am Bürger. Bei allem, was uns trennt, wäre es gut für unser Land, wenn diese gemeinsame Verantwortung zum gemeinsamen Handeln dort führen könnte, wo es um Schicksalsfragen unserer Nation geht. ({11}) Einen intensiven Dialog wollen wir auch mit den wichtigen gesellschaftlichen Gruppen in unserem Land führen: mit den Tarifpartnern, denn ohne sie kann es uns nicht gelingen, unsere Volkswirtschaft zu modernisieren und Arbeitsplätze zu schaffen; ({12}) mit Wissenschaftlern und Künstlern, denn unsere offene und freie Gesellschaft ist angewiesen auf ihre Ideen und auf ihren Intellekt; mit den vielen in Vereinen, Verbänden und Gruppen, die sich im Dienst am Nächsten engagieren; mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften, denn sie können das Wertebewußtsein stärken. Für ihre vielfältigen Dienste sind wir dankbar. ({13}) Vor allem aber wird unsere Gesellschaft menschliche Wärme nur in dem Maße ausstrahlen, in dem jeder einzelne seiner Verantwortung gerecht wird - in der Familie, gegenüber Nachbarn, gegenüber Schwächeren und Benachteiligten, aber auch gegenüber der Natur. Die Bundesregierung kann durch ihre praktische Politik wichtige Zeichen für die Entwicklung in die Zukunft setzen. Sie kann, muß und wird sich dabei selbstverständlich der geistigen Auseinandersetzung stellen. Freiheit verantworten, Leben und Menschenwürde schützen sowie den inneren Frieden sichern - das vor allem meinen wir, wenn wir für ein klares Wertebewußtsein plädieren. In unserer Zeit wird die Notwendigkeit ethischer Maßstäbe, wie sie auch Grundlage unseres Grundgesetzes sind, immer stärker empfunden. Fortschritt - das wissen wir - hatte schon immer seinen Preis. Aber wir wollen seinen Nutzen für die Menschen nicht missen. Unser Lebensalltag ist von vielen Belastungen befreit, die frühere Generationen noch selbstverständlich ertragen mußten. Der medizinische Fortschritt hat die Lebenserwartung erheblich verlängert. Erfindungsgabe hat unseren Arbeitsalltag erleichtert und uns zu einem Wohlstandsniveau verholfen, das wir kaum noch zu schätzen wissen, weil es für viele so alltäglich geworden ist. ({14}) Der demokratische Rechtsstaat brachte uns Freiheit und Frieden im Innern. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft, die wir Deutsche nach Krieg und Diktatur verwirklicht haben, gewährleistet unsere soziale Sicherheit. Diese Errungenschaften gilt es zu bewahren. Die Chancen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts müssen wir auch in Zukunft nutzen. Aber es wird uns auch immer bewußter, daß wir in Bereiche vorstoßen, die die Grundfragen menschlicher Existenz berühren. Jeder spürt, daß es Grenzen gibt, die wir nicht überschreiten dürfen. Deshalb müssen zum Erkenntnisdrang ein Höchstmaß an Sachkenntnis und sittliche Verantwortung treten. Wissen und Gewissen lassen sich nicht voneinander trennen. ({15}) Das Leben zu schützen und die Achtung von Personalität und Würde des Menschen zu gewährleisten sind eine Staatsaufgabe ersten Ranges. Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission aus Moraltheologen, Natur- und Geisteswissenschaftlern sowie Rechtsexperten hat dazu - vor allem zur Gentechnologie - Empfehlungen vorgelegt. Wir werden daraus die notwendigen Konsequenzen ziehen. ({16}) Zusammen mit den Ergebnissen der Enquete-Kommission Gentechnologie des Deutschen Bundestages bilden diese Empfehlungen die Grundlage für unsere Beratungen über ein Embryonenschutzgesetz und für andere gesetzgeberische Maßnahmen. Dabei sind auch die komplizierten Fragen im Zusammenhang mit Leihmutterschaft und künstlicher Befruchtung weiter zu klären. Wir werden es nicht zulassen, daß der Mensch zum Gegenstand genetischer Manipulationen herabgewürdigt wird, und der Wunsch nach Kindern darf nicht zu unwürdigen Geschäften führen. ({17}) Zum Umgang mit dem Fortschritt in unserer Welt gehören Behutsamkeit, damit uns der Fortschritt nicht über den Kopf wächst, aber auch Mut zur Forschung, weil wir sonst gegen Elend, Not und Krankheit in der Welt nicht das Menschenmögliche täten. Daß die Erfüllung dieser Aufgabe für jeden einzelnen schicksalhaft sein kann, zeigt eine lebensgefährliche Bedrohung, die die Menschen auch in unserem Land aufrüttelt: AIDS. Diese Krankheit ist bisher unheilbar. Es gibt weder einen Impfstoff noch ein Heilmittel. Sie zu finden ist jeder Anstrengung wert. Kein sinnvolles Forschungsvorhaben darf und wird an fehlendem Geld scheitern. ({18}) Durch eine Pflicht für Labors zu anonymen Berichten sollen in einem zentralen AIDS -Infektions-Register verläßliche Daten über die Ausbreitung der Krankheit gesammelt werden. Der Kampf gegen AIDS fordert alle verantwortbaren Anstrengungen zum Schutz der Gesunden vor Ansteckung - dazu gehören die notwendigen Tests - und zur Hilfe für die Erkrankten und Infizierten. Wer AIDS ohne Rücksicht auf andere verbreitet, gegen den werden wir mit allen rechtlichen Mitteln vorgehen. Doch wichtiger ist, daß jeder weiß, was er tun kann, um Ansteckung zu vermeiden. Für eine Offensive gegen AIDS werden alle notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, auch für die besonders dringlichen und erforderlichen Aufklärungsmaßnahmen. Notwendig, meine Damen und Herren, ist sittlich zu verantwortendes Verhalten. Mancher denkt heute ganz neu über den Wert sittlicher Normen für die menschliche Existenz nach. Es wächst wieder der Sinn für verantwortete Freiheit, wo der einmalige Wert des menschlichen Lebens auf dem Spiel steht. Diese Stärkung des Wertebewußtseins ist auch die beste Voraussetzung für einen wirksamen Schutz des ungeborenen Lebens. ({19}) Wir alle sind verpflichtet, das in unserer Kraft Stehende zu tun, um die erschreckend hohe Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen aus sozialer Notlagenindikation soweit wie möglich zu senken. Wir werden ein Beratungsgesetz erlassen, das den Schutz des ungeborenen Lebens entsprechend der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1975 in den Mittelpunkt stellt. Die staatliche Förderung wird verbessert, und wir werden auch die notwendigen flankierenden Maßnahmen ausbauen. ({20}) Meine Damen und Herren, hier stoßen wir aber auch an die Grenzen der Möglichkeiten des Staates. Entscheidend ist letztlich die Einstellung der Gesell54 schaft, der Menschen in unserem Land, zum ungeborenen Leben und zur Familie. ({21}) Wer sich Rechte anderer eigenmächtig verfügbar macht - insbesondere das Lebensrecht - , der erschüttert das Fundament der Werteordnung, die unsere Gesellschaft zusammenhält. ({22}) Wir bekennen uns ausdrücklich zu einer Gesellschaftsordnung, die die Freiheit des einzelnen sichert; und in der Vielfalt unseres Gemeinwesens sehen wir ein Gütesiegel deutscher Demokratie. Aber gerade eine offene und pluralistische Gesellschaft braucht die Bereitschaft aller Bürger, Konflikte, die sich aus Unterschieden in den Interessen oder Meinungen ergeben können, friedlich und in gegenseitiger Achtung auszutragen. Sie braucht den Konsens über ihre Grundlagen. Dieser Konsens, der auch unsere Verfassung, das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, trägt, umfaßt unbedingt die Achtung der Menschenwürde, die Anerkennung des demokratischen Mehrheitsprinzips, das den Respekt vor Minderheiten einschließt, sowie den Verzicht auf jegliche Gewaltanwendung. ({23}) Wer das Mehrheitsprinzip leugnet und attackiert und die eigene politische Meinung absolut setzt, zerstört unsere Demokratie. ({24}) Wer offen zum Gesetzesbruch aufruft, will vom Rechtsstaat nichts wissen. ({25}) Wer zur Gewaltanwendung bereit ist, sagt der inneren Friedensordnung unserer Republik den Kampf an. ({26}) Wieviel, meine Damen und Herren, uns diese Friedensordnung wert sein muß, lehrt die leidvolle Erfahrung unseres Volkes in diesem Jahrhundert. ({27}) An Gewalttätigkeit - wie immer sie motiviert ist oder begründet wird - darf sich niemand in der Bundesrepublik Deutschland gewöhnen. ({28}) Der freiheitliche Rechtsstaat kann ohne das staatliche Gewaltmonopol nicht bestehen. Die brutalste Herausforderung ist der Terrorismus. ({29}) Wir werden bei den schwierigen Fahndungsaufgaben unseren Sicherheitsbehörden den notwendigen Rückhalt und die notwendige Unterstützung geben, nicht zuletzt auch auf der Ebene der internationalen Zusammenarbeit. Auch wer bestimmte Gewalttaten durch eine Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen rechtfertigen will, stellt sich außerhalb unserer Verfassung. ({30}) So sind Anschläge auf Bundesbahnstrecken und das Umsägen von Strommasten keine Kavaliersdelikte, sondern gemeingefährlich und verbrecherisch. ({31}) Auch für Gewalttaten bei Demonstrationen gibt es keinerlei Rechtfertigung oder Entschuldigung. Unser Grundgesetz verbürgt das klassische Freiheitsrecht, sich friedlich zu versammeln. Wir müssen alles tun, um es zu gewährleisten, weil es ein Freiheitsrecht ist. Wir müssen auch alles tun, um gewalttätige Demonstrationen zu verhindern. Hier besteht Handlungsbedarf ebenso wie bei der Bekämpfung des Terrorismus. ({32}) Bei dem Recht auf friedliche Demonstration geht es auch um die Freiheit der politischen Willensbildung. Diese Freiheit setzt die klare Absage an jegliche Gewaltanwendung voraus. Wer bei Demonstrationen Gewalt übt, beschädigt unsere Freiheitsordnung in ihrem Kern. Wenn unsere Polizeibeamten im Einklang mit dem Recht und in Ausübung ihrer Pflicht Gewalttäter isolieren und festnehmen, verdienen sie Unterstützung. Wir danken ihnen für diesen Dienst am inneren Frieden. ({33}) Auch jene, die Gewalttäter als Hilfstruppen in der politischen Auseinandersetzung akzeptieren, müssen auf unseren entschiedenen Widerstand stoßen. Wer durch die Art seines Protestes Gewalttaten fördert oder billigend in Kauf nimmt, trägt Mitverantwortung für die Konsequenzen. ({34}) Über alle politischen Differenzen hinweg muß doch Einigkeit darüber bestehen, daß gewalttätige Rechtsbrecher keine Nachsicht und schon gar nicht Unterstützung verdienen. Gerade wo der innere Frieden in unserem Gemeinwesen in Frage steht, darf der Konsens der Demokraten nicht zerbrechen. Nur wer sich für den inneren Frieden engagiert, ist auch glaubwürdig bei seinem Einsatz für den Frieden in der Welt. ({35}) Uns allen sollte daran liegen, diese Verständigung über unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung jungen Menschen zu vermitteln und dafür zu werben, daß sie ganz selbstverständlich allgemein geachtet und eingehalten wird. Wirtschaftskraft entfalten, sozialen Halt geben und menschengerecht modernisieren, darin vor allem bewährt sich die Soziale Marktwirtschaft. ({36}) Wir halten an der Sozialen Marktwirtschaft fest; denn in dieser Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung könBundeskanzler Dr. Kohl nen Freiheit und Selbstverantwortung in Solidarität mit dem Nächsten und in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gelebt werden. Wie keine andere Ordnung ist die Soziale Marktwirtschaft geeignet, Gleichheit der Chancen, Wohlstand, Schutz der Umwelt und sozialen Fortschritt zu verwirklichen und damit die Zukunft zu sichern. ({37}) Mehr Beschäftigung und nachhaltige Verringerung der Arbeitslosigkeit bleiben eine zentrale Aufgabe unserer Politik. Unverschuldet arbeitslos zu sein, damit darf sich unsere Gesellschaft niemals abfinden. ({38}) Die Arbeitslosigkeit abzubauen erfordert langen Atem und die Bereitschaft aller Beteiligten und Betroffenen zu eigenen Anstrengungen. Die Erfolge der letzten Jahre zeigen, daß wir auf dem richtigen Weg sind. ({39}) Die Zahl der Beschäftigten hat sich seit dem Tiefpunkt im Herbst 1983 um über 600 000 erhöht. ({40}) Die Zahl der Arbeitslosen lag zuletzt um 100 000 unter dem Stand des Vorjahres. ({41}) Wir werden den erfolgreichen Kurs der Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen fortsetzen. ({42}) Eine offensive Strategie zur Stärkung der Wachstumskräfte führt auch zu mehr Beschäftigung. Am Markt vorbei können dauerhafte Arbeitsplätze weder geschaffen noch gesichert werden. ({43}) Staatliche Planung - das haben wir ja erlebt - kann den Markt nicht ersetzen. Der Staat ist und bleibt aber gefordert, bei schwierigen strukturpolitischen Anpassungsprozessen Hilfe zu leisten. Die Bundesregierung hat dies in den zurückliegenden Jahren getan. Ich denke dabei an Kohle, Stahl und Werften. ({44}) Wir werden weiterhin unseren Einfluß in der Europäischen Gemeinschaft geltend machen, um faire Wettbewerbsbedingungen durchzusetzen, die nicht durch Subventionen verzerrt werden. ({45}) Unsere Stahlunternehmen und die deutschen Werften wird die Bundesregierung in dieser schwierigen Phase weiter unterstützen, auch um die sozialen Folgen des Strukturwandels, vor allem an der Ruhr und an der Saar, aufzufangen. Sie wird sich dementsprechend dafür einsetzen, daß das Programm zur Förderung von Ersatzarbeitsplätzen an Stahlstandorten verlängert wird. Auch die sozialen Hilfen für Stahlarbeiter im Rahmen des Montanunionvertrags werden verbessert. Kurzarbeitergeld für Stahlarbeiter kann künftig für 36 Monate gezahlt werden. In Brüssel wird die Bundesregierung dafür eintreten, daß ein verbindlicher Plan der europäischen Stahlindustrie zum Abbau von Überkapazitäten durch eine Quotenregelung begleitet wird. Meine Damen und Herren, ich sehe zugleich mit Sorge, daß die wirtschaftliche Entwicklung in einzelnen Bundesländern und Regionen sehr unterschiedlich verläuft. Deshalb hilft die Bundesregierung mit der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" beim Abbau regionaler Ungleichgewichte. Sie unterstützt auch z. B. die norddeutschen Küstenländer bei der Lösung ihrer schwerwiegenden Probleme im Gefolge der weltweiten Schiffbaukrise. Wenn andere Regionen ähnlich hart vom Strukturwandel einzelner Branchen betroffen sind, werden wir zusammen mit den einzelnen betroffenen Bundesländern im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe die dafür notwendigen Mittel zeitlich befristet bereitstellen. Es ist für uns selbstverständlich, daß die Zonenrandförderung fortgesetzt wird. ({46}) Der Schwerpunkt unserer offensiven Arbeitsmarktpolitik liegt bei beruflicher Qualifizierung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Aus- und Weiterbildung sind ein Schlüssel für mehr Beschäftigung. Die Lehrstellenaktionen, bei denen so viele mithelfen, geben jungen Menschen eine gute Chance beim Start ins Berufsleben. Eine gute Ausbildung in unserem bewährten dualen System ist die beste Vorkehrung gegen Arbeitslosigkeit. Wir werden unsere Qualifizierungsoffensive fortführen: Für benachteiligte Jugendliche, vor allem Mädchen, die es bei der Vermittlung in Ausbildungsplätze besonders schwer haben, wird die Förderung auf eine gesetzliche Grundlage gestellt. Für arbeitslose Jugendliche ohne abgeschlossene Ausbildung wird der Zugang zur Qualifizierungsförderung erleichtert. Auch älteren, vor allem langfristig Arbeitslosen werden wir durch die Verbesserung bestehender Instrumente verstärkt helfen, wieder zur Beschäftigung zu finden. Arbeitslose, die sich eine selbständige Existenz aufbauen wollen, werden von uns wirksamer unterstützt. Der wirkungsvollste Beitrag zur Qualifizierungsoffensive ist aber von den Betrieben selbst und von den Tarifparteien zu erbringen. Sie dürfen in ihren Anstrengungen nicht nachlassen. Die Schutzfunktion der Arbeitslosenversicherung werden wir insbesondere durch eine weitere Verlängerung des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose ausbauen. Zur besseren Bekämpfung der Schwarzarbeit werden wir unter anderem einen Sozialversicherungsausweis in den dafür geeigneten Branchen einführen. Meine Damen und Herren, wir sind für Tarif autonomie, und Tarifautonomie heißt auch: Die Tarifpartner entscheiden über so zentrale Eckdaten wie Löhne, Arbeitszeit und damit den größeren Teil der Lohnne56 benkosten. Sie tragen deshalb hohe Verantwortung für mehr Beschäftigung. ({47}) Wir brauchen mehr Flexibilität, gerade auch von den Tarifpartnern. Teilzeitarbeitsplätze sind gefragt, ({48}) sie müssen vermehrt angeboten werden. Der öffentliche Dienst - und dazu sind wir entschlossen - muß mit gutem Beispiel vorangehen. ({49}) Die Tarifpartner sollten stärker zu einer partnerschaftlichen Allianz für Investitionen, Arbeitsplätze und mehr Verteilungsgerechtigkeit zusammenfinden. In diesem Sinne müssen auch die Chancen unserer Vermögenspolitik neu gestaltet und besser genutzt werden. Wir wollen dabei die Beteiligung breiter Arbeitnehmerschichten am Produktivkapital stärker in den Mittelpunkt rücken und zugleich den Verwaltungsaufwand für die Betriebe drastisch verringern. Die Bundesregierung legt Wert auf das offene und intensive Gespräch mit den Tarifpartnern. Das gilt selbstverständlich auch für die Gewerkschaften, trotz mancher Konflikte in der vergangenen Zeit. Die deutschen Gewerkschaften haben Entscheidendes zu Aufbau und Stabilität unserer Bundesrepublik Deutschland geleistet. ({50}) Ich appelliere auch heute an ihr Verantwortungsbewußtsein; denn ohne einen Grundkonsens der gesellschaftlichen Gruppen sind die Herausforderungen der Zukunft letztlich nicht zu bestehen. Die Montanmitbestimmung werden wir erhalten und dabei das Wahlverfahren zugunsten der Betriebsangehörigen verbessern. ({51}) Zum sozialen Frieden gehört auch Partnerschaft in den Betrieben. Betriebsräte und Vertrauensleute verdienen Anerkennung für ihren Einsatz im Interesse der Arbeitskollegen. ({52}) Wir wollen das Betriebsverfassungsgesetz weiterentwickeln, um Minderheiten mehr gerecht zu werden, um Leitenden Angestellten Sprecherausschüsse ({53}) und Auszubildenden eine bessere Vertretung zu sichern ({54}) und um einen humanen Einsatz neuer Techniken zu fördern. ({55}) Wir schaffen neue Freiräume für persönliche Leistung und eigenverantwortliches Handeln. Das Beste, was wir für mehr Beschäftigung tun können, ist die Förderung von Eigeninitiative, Selbständigkeit und Unternehmungsgeist. Dabei bleiben wir auf einen starken Mittelstand angewiesen. Handwerk, kleine und mittlere Unternehmungen, Selbständige und freie Berufe tragen ganz entscheidend zur Bewältigung der Herausforderungen an die deutsche Wirtschaft bei. ({56}) Unsere aktive Mittelstandspolitik dient dem Ausgleich größenbedingter Nachteile. Meine Damen und Herren, zu den wichtigsten Erfolgen der letzten vier Jahre gehört die Überwindung der Inflation und der Inflationserwartungen. ({57}) Dazu hat eine solide Wirtschafts- und Finanzpolitik entscheidend beigetragen. ({58}) Wir haben weltweit mit die stabilsten Preise, was allen Bürgern, vor allem den sozial Schwachen, zugute kommt. ({59}) Geldwertstabilität auch in Zukunft zu sichern bleibt ein vorrangiges Ziel. Deshalb müssen die Finanzpolitik des Bundes und die Geld- und Kreditpolitik der Bundesbank einander weiterhin harmonisch ergänzen. Die privaten Investitionen haben kräftig zugenommen, begünstigt durch niedrige Zinsen. Auch die öffentlichen Investitionen steigen seit 1985 wieder kontinuierlich an. Wir nutzen die Konsolidierungsfortschritte bei Bund, Ländern und Gemeinden für eine Senkung der Steuerlast. ({60}) Erste Entscheidungen wurden schon in der vergangenen Wahlperiode wirksam, vor allem für die Berufstätigen mit Kindern und die Unternehmungen. Jetzt geht es um eine umfassende Steuerreform mit einer erheblichen Senkung der Tarife und um eine gerechtere Steuerstruktur ({61}) durch weniger Sonderregelungen und Steuersubventionen. ({62}) Im Mittelpunkt steht ein Einkommensteuertarif mit völlig neuem Profil. ({63}) Kernstück ist ein sanft ansteigender linearer Tarif. Er ist sozial ausgewogen, ({64}) mittelstandsfreundlich und leistungsgerecht. ({65}) Das Schwergewicht der Entlastung liegt bei den unteren und mittleren Einkommen sowie den Familien. ({66}) Allein durch die beträchtliche Anhebung des Grundfreibetrages erreichen wir, daß eine halbe Million Bürger zusätzlich keine Steuern mehr zahlen. ({67}) Gleichzeitig verbessern wir mit der Begradigung des Tarifverlaufs und der geringeren Belastung des einbehaltenen Gewinns die Ertragskraft, die Eigenkapitalbildung und die Investitionsfähigkeit der Unternehmen. ({68}) Dabei wird den besonderen Problemen des Mittelstandes durch zusätzliche Maßnahmen Rechnung getragen. Meine Damen und Herren, diese Entlastungen erweitern nicht nur den Spielraum für eigenverantwortliches Handeln. Mit der dringend gebotenen Verbesserung der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen stärken wir zugleich die Chancen für Wachstum und Arbeitsplätze. Die Steuerreform tritt 1990 in Kraft. Wir ziehen allerdings einen Teil in Höhe von 5 Milliarden DM auf Anfang 1988 vor, um die bereits beschlossene Steuersenkung zu verstärken. ({69}) Zum 1. Januar 1988 wird die Entlastung somit 14 Milliarden DM betragen. Meine Damen und Herren, für den Zeitraum von 1986 bis 1990 ergibt sich damit insgesamt eine echte Nettoentlastung der Steuerzahler von rund 45 Milliarden DM. ({70}) Eine vergleichbare Steuersenkung hat es bisher in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. ({71}) Damit haben wir steuerpolitische Weichen für den Übergang in die neunziger Jahre gestellt. Investoren und Verbraucher können sich bei ihren Planungen und Entscheidungen weiterhin auf verläßliche und berechenbare Rahmenbedingungen stützen. Für einen Teil der Bruttoentlastung sind Umschichtungen im Steuersystem erforderlich, ({72}) die wir vor allem mit einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage anstreben. Mit weniger Ausnahmen erreichen wir zugleich mehr Steuergerechtigkeit. ({73}) Meine Damen und Herren, eine vorübergehende Erhöhung der Neuverschuldung ({74}) ist in Verbindung mit einer so anspruchsvollen Reform vertretbar. ({75}) Wir werden jedoch nicht, Herr Abgeordneter Ehmke, in die Schuldenwirtschaft vergangener Jahre zurückfallen, ({76}) sondern wir werden strenge Ausgabendisziplin üben. Deshalb wird die Koalition der Mitte über weitere notwendige Leistungsgesetze erst Mitte dieser Legislaturperiode entscheiden. Weil wir die Steuern auf solider Basis dauerhaft senken, müssen wir den Zuwachs der öffentlichen Ausgaben begrenzen. Auf allen staatlichen Ebenen bleibt deswegen eine sparsame Haushaltsführung geboten. Wichtige Aufgaben stellen sich bei der Neuordnung des Finanzausgleichs und der Neufestsetzung der Umsatzsteueranteile von Bund und Ländern. Auch die Länder, meine Damen und Herren, müssen bei dieser schwierigen Entscheidung untereinander zu einem fairen Ausgleich fähig sein. ({77}) - Ich weiß nicht, warum Sie immer Ihren BayernKomplex hier abreagieren, Herr Abgeordneter Vogel. ({78}) Alle Beteiligten müssen den unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Regionen, aber auch in der Aufgabenverteilung von Bund und Ländern fair und angemessen Rechnung tragen. Wir müssen den Strukturwandel bewältigen, unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern und den Welthandel offenhalten. Wir stehen, meine Damen und Herren, vor der Aufgabe, unsere Wirtschaft an die sich verändernden Bedingungen des internationalen Wettbewerbs und an die neuen Möglichkeiten des technischen Fortschritts anzupassen. Wissenschaftlich-technische Innovationen sind der Lebensnerv einer modernen, weltoffenen Volkswirtschaft. Spitzenleistungen und Kooperationsfähigkeit in Forschung und Technologie haben unser Ansehen als wichtiger Partner in der Welt gestärkt. Mit der deutsch-französischen Initiative Eureka haben wir gerade in diesem Zusammenhang der europäischen Zusammenarbeit neue Impulse gegeben. Wir haben die Grundlagenforschung in unserem Land wieder gestärkt. So wird sie ein wichtiger Schwerpunkt auch in einem weiterführenden Konzept für Informationstechnik sein. Bei Weltraumforschung und -technologie stehen wir vor weitreichenden Entscheidungen über eine noch engere Zusammenarbeit mit unseren europäischen Partnern, um eine starke Kooperation mit unseren amerikanischen Freunden zu ermöglichen. An der Vorbereitungsphase der großen europäischen Projekte wie Ariane, Hermes und Columbus, dem europäischen Beitrag zu der von Präsident Reagan vorgeschlagenen internationalen Weltraumstation, sind wir beteiligt. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern die Planungen der europäischen Weltraumagentur sorgfältig prüfen und die dann die notwendigen Entscheidungen über die Prioritäten treffen. Ein herausragendes Beispiel für erfolgreiche Technologiekooperation ist das Airbus-Programm. Die Bundesregierung ist zur Fortführung und Erweiterung bereit. Allerdings muß auch die Luftfahrtindustrie einen höheren Eigenbeitrag erbringen. In der Forschungsförderung wird die Bundesregierung die notwendige Pluralität sichern und ausbauen. Auch die Wissenschaft braucht den Wettbewerb. Hochqualifizierte junge Wissenschaftler werden wir weiterhin fördern, denn wir sind auf diese Leistungseliten angewiesen. ({79}) Die Bundesregierung wird im Gespräch mit den Ländern darauf drängen, daß Nachwuchswissenschaftler in den Hochschulen zusätzliche Chancen erhalten. Auch der Privatwirtschaft, meine Damen und Herren, muß an mehr Unterstützung des wissenschaftlichen Nachwuchses gelegen sein. Wissenschaft und Wirtschaft müssen noch enger zusammenarbeiten. Die Anpassung der Unternehmungen an sich verändernde Marktbedingungen hängt nicht nur vom technologischen Standard ihrer Produkte ab, sondern auch von der Gestaltung unserer Wettbewerbsordnung. Unerläßlich bleibt die konsequente Anwendung - und, wo notwendig, Ergänzung - des geltenden gesetzlichen Instrumentariums, insbesondere auch im Blick auf die weitere Entwicklung im Lebensmitteleinzelhandel und die kartellrechtlichen Ausnahmebereiche. Für den Bereich des Fernmeldewesens wird die 1985 eingesetzte Regierungskommission in Kürze ihre Empfehlungen vorlegen. Danach wird die Bundesregierung das Post- und Fernmeldewesen neu strukturieren und Maßnahmen zu einer verbesserten Marktöffnung ergreifen. ({80}) Auch bei der Bundesbahn werden wir uns darauf konzentrieren, neben weiteren Schritten zur Konsolidierung der Wirtschaftslage die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Dies gilt vor allem, weil sich die Deutsche Bundesbahn in einem Verkehrsmarkt mit europäischen Dimensionen wird behaupten müssen. Wir wollen darauf hinwirken, daß neue Bahntechniken eingesetzt werden und daß der europäische Binnenmarkt auch für die deutschen Verkehrsträger faire Chancen bringt. ({81}) Dazu, meine Damen und Herren, muß mit der Liberalisierung des Binnenmarktes Zug um Zug auch die Harmonisierung der Wettbewerbsbedingungen einhergehen. Die Leistungsfähigkeit unserer Handelsflotte wollen wir gewährleisten. Der weitere umweltgerechte Ausbau von Verkehrswegen ist notwendig für Wachstum und Beschäftigung, aber auch für mehr Verkehrssicherheit. Mehr Chancen für Privatinitiative sind tragende Elemente der Sozialen Marktwirtschaft. Mit der weiteren Privatisierung öffentlicher Beteiligungen werden wir den Markt und den Wettbewerb stärken. ({82}) Mit unserer Politik für Wettbewerb und offene Märkte sind wir nicht nur zu einer der größten Exportnationen der Welt geworden, sondern auch zum zweitgrößten Abnehmer von Waren auf dem Weltmarkt. Freier Austausch und nicht Protektionismus sichert Beschäftigung und Wohlstand. Deshalb ist die neue GATT-Verhandlungsrunde von ganz entscheidender Bedeutung. Jetzt geht es auch schon um die Welthandelsordnung für das Jahr 2000. In diesem Zusammenhang stehen auch die Schuldenprobleme zahlreicher Länder, vor allem in der Dritten Welt. Sie behindern Wachstum und Handel und gefährden das internationale Wirtschafts- und Finanzsystem. Die Bundesrepublik Deutschland wird als wichtiger Partner und Gläubiger der verschuldeten Länder aktiv an der Lösung der Probleme mitarbeiten. ({83}) Wir treten deshalb für eine unverzügliche erhebliche Kapitalaufstockung bei der Weltbank ein. Darüber hinaus müssen die Industrieländer ihre Märkte stärker für die Erzeugnisse der Entwicklungsländer öffnen. Unsere Mitverantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung in der Dritten Welt haben wir selbstverständlich auch bei der Energiepolitik zu berücksichtigen. ({84}) Wir brauchen eine zuverlässige und kostengünstige Energieversorgung, die höchsten Anforderungen der Sicherheit und des Umweltschutzes standhält. Praktisch alle gangbaren Wege zur Energiegewinnung sind, wie wir wissen, mit Risiken verbunden. Wir stehen in der Verantwortung, diese Risiken so gering wie möglich zu halten. Das gilt insbesondere für die Kernenergie. ({85}) Für ihre friedliche Nutzung sprechen gute Gründe: Sie belastet unsere Umwelt weniger als Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen. ({86}) Sie schont natürliche Ressourcen wie Öl, Erdgas und Kohle, auf die die Länder der Dritten Welt besonders angewiesen sind. Sie bietet wirtschaftliche Vorteile, und sie gewährleistet eine sichere Versorgung. ({87}) Die Nutzung der Kernenergie ist verantwortbar, ({88}) weil unsere Sicherheitsvorkehrungen höchsten Ansprüchen genügen. Die Bundesregierung wird weiterhin streng darauf achten, daß alle Vorschriften genauestens eingehalten werden. Wir bleiben auf die Nutzung der Kernenergie angewiesen - ({89}) - Ich bin gern bereit, es zu wiederholen, weil es den Damen so gefällt. Wir bleiben auf die Nutzung der Kernenergie angewiesen, solange es keine mindestens ebenso sichere, umweltschonende und wirtschaftliche Alternative gibt. ({90}) Unser Wissen um eine sichere Nutzung der Kernenergie wollen wir weiterentwickeln, und wir streben nach möglichst breiter internationaler Übereinstimmung über ein Höchstmaß an Sicherheit. Dabei können wir an die Ergebnisse der von der Bundesregierung beantragten Sonderkonferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation anknüpfen. Im nationalen Rahmen bleibt die Nutzung der Kernenergie durch ihre günstigen Erzeugungskosten unentbehrliche Voraussetzung für die Verstromung heimischer Kohle. ({91}) Die Kernenergie erlaubt uns wirtschaftlich die Verwirklichung des Jahrhundertvertrags mit seiner Kohleabnahmegarantie. ({92}) Niemand kann erwarten, daß die revierfernen Bundesländer die Lasten der Verstromungsregelung weiter in vollem Umfang mittragen, wenn sie andererseits gehindert werden, die Kernenergie zur Senkung ihrer Stromkosten zu nutzen. ({93}) Für das eigene Bundesland aus vordergründig parteipolitischen Gründen Hilfen für den Bergbau zu fordern und sich gegen die Nutzung von Kernenergie in anderen Bundesländern zu wenden - das paßt nicht zusammen, das ist unehrlich. Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. ({94}) In diesem Zusammenhang steht auch die weitere Umsetzung des integrierten Entsorgungskonzepts, zu dem auch die Wiederaufarbeitungsanlage in Wakkersdorf gehört. ({95}) Wir wollen und werden auf die Kohle als einzige nennenswerte nationale Energiereserve nicht verzichten. ({96}) Sie wird und muß auch in Zukunft ihren wichtigen Beitrag zur Energieversorgung leisten. Nachdem der Hüttenvertrag bereits bis zum Jahr 2000 verlängert ist, wird die Bundesregierung zügig die Verhandlungen mit allen Beteiligten über die Anschlußregelung für den Jahrhundertvertrag aufnehmen, der in seinem Kern unverzichtbar ist. Der Bergbau muß seinerseits verstärkte Anstrengungen zur Kostensenkung unternehmen. ({97}) Gleichzeitig kann die Bundesregierung zurückgehende Nachfrage der Stahlindustrie und des Wärmemarktes nicht ersetzen. Aber auch in Zukunft wird sie Kapazitätsanpassungen im Kohlebergbau sozial flankieren. Unsere Anstrengungen für einen sparsamen Energieverbrauch dürfen nicht nachlassen. Dabei kommt es, wie jeder weiß, auch auf das Verhalten des einzelnen Verbrauchers an. Wir wollen die Entwicklung energiesparender Techniken weiter betreiben und fördern. Mit besonderem Nachdruck werden wir die Erforschung und Förderung von langfristigen Energiealternativen vorantreiben, vor allem bei erneuerbaren Energien und bei der Kernfusion. Von einer verläßlichen Energiepolitik hängt unsere Wettbewerbsfähigkeit und damit auch die Zukunft der Arbeitsplätze ab. ({98}) Eine leistungsfähige Wirtschaft ermöglicht sozialen Halt und praktische Solidarität mit den Schwächeren in unserer Gesellschaft. Für sozialen Ausgleich, meine Damen und Herren, steht nur bereit, was zuvor erarbeitet und erwirtschaftet worden ist. Das „ganzheitliche Denken" in wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftspolitischen Zusammenhängen gehört zu den Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft. ({99}) Zu den vordringlichen Aufgaben der Sozialpolitik zählt die Reform unseres Gesundheitssystems. Dabei stehen wir vor erheblichen strukturellen Problemen: Überversorgung in vielen Bereichen und zugleich Versorgungsdefizite. Es fehlen Anreize, sich wirtschaftlich und auch verantwortungsbewußt zu verhalten. Sparsamkeit wird oft nicht belohnt, Verschwendung wird zu häufig leicht gemacht. Wir wollen den hohen Leistungsstand der gesundheitlichen Versorgung unseres Landes bewahren. Wir brauchen aus all diesen Gründen eine Generalüberholung der sozialen Krankenversicherung mit dem Ziel erhöhter Wirtschaftlichkeit bei vertretbaren Beitragssätzen. Eine umfassende Strukturreform im Gesundheitswesen wird unverzüglich eingeleitet. Die Bundesregierung wird dazu noch in diesem Jahr einen Gesetzentwurf vorlegen. Eine besondere Aufgabe für die gesamte Gesellschaft ist die soziale Sicherung bei Pflegebedürftigkeit, die angesichts der vielfältigen Probleme und der großen finanziellen Dimensionen nur schrittweise gelöst werden kann. Wir wollen die häusliche Pflege so unterstützen, daß Pflegebedürftige so lange wie möglich in ihrer vertrauten Umgebung bleiben können. Die steuerlichen Hilfen für Schwerstpflege und für private Vorsorge werden verstärkt. Unsere Rentenversicherung, wie sie seit der Reform unter Konrad Adenauer besteht, bleibt das Kernstück unserer sozialen Sicherung. Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland können darauf vertrauen, daß sie im Alter als Gegenleistung für ihre während ihres Arbeitslebens gezahlten Beiträge eine angemessene Rente erhalten. Die Rente ist und bleibt sicher. ({100}) Die Erziehungszeiten im Rentenrecht werden schrittweise auch auf ältere Mütter ausgedehnt, so wie wir es vor der Wahl versprochen haben. ({101}) Bereits in diesem Jahr erhalten über eine Million der ältesten von ihnen diese zusätzliche Rentenleistung. ({102}) Die demographische Entwicklung macht eine Rentenstrukturreform unumgänglich. Renten und verfügbare Arbeitnehmereinkommen sollen sich nach unseren Vorstellungen gleichgewichtig entwickeln. Die beitragsfreien und beitragsgeminderten Versicherungszeiten werden neu geordnet. ({103}) Die demographisch bedingten Mehraufwendungen für alle Beteiligten müssen angemessen verteilt werden. Auch deshalb wird sich der Bund mit einem höheren Bundeszuschuß beteiligen als nach geltendem Recht. Langfristig, meine Damen und Herren, wollen wir den Übergang vom Arbeitsleben in die Rente flexibler gestalten und die Möglichkeiten für eine Verlängerung der tatsächlichen Lebensarbeitszeit verbessern. Die Bundesregierung wird bis Anfang 1988 einen Entwurf zur Strukturreform der Rentenversicherung vorlegen, für den wir eine breite Diskussion und Konsens anstreben. Die Bundesregierung bekräftigt hierzu ausdrücklich ihr Angebot an die Opposition, an die Sozialpartner, an die interessierten gesellschaftlichen Gruppen, an dieser wichtigen gemeinsamen Aufgabe der Zukunftsgestaltung mitzuwirken. ({104}) Die Kriegsopfer werden weiterhin wie die Rentner an der Entwicklung der verfügbaren Einkommen der Arbeitnehmer teilhaben. ({105}) Das Leistungssystem der Kriegsopferversorgung wird durch strukturelle Verbesserungen weiterentwickelt. Jene, die für unser Land vielfach schwere Opfer gebracht haben, können von uns allen Solidarität erwarten. Wir danken auch den Kriegsopferverbänden für ihre wichtige Arbeit. ({106}) Besonders unsere behinderten Mitbürger brauchen Hilfe und Unterstützung, damit sie von keinem Bereich des Lebens ausgeschlossen werden. Mit Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation werden wir weiterhin die Eingliederung in das Arbeitsleben fördern. Hier sind aber auch die Arbeitgeber gefordert. Behinderte Mitbürger brauchen unsere Aufgeschlossenheit und Hilfsbereitschaft überall im Lebensalltag. ({107}) Menschliche Geborgenheit wachsen lassen, die Umwelt schützen und die Chancen der Freiheit mehren - dadurch soll sich unsere humane Industriegesellschaft auszeichnen. Deutschland, unser Vaterland, ist ein schönes Land, und so wollen wir es uns erhalten. ({108}) Auch deshalb müssen wir unsere Verantwortung gegenüber Natur und Umwelt ernst nehmen. Wir sind ein wirtschaftlich erfolgreiches Land - das soll so bleiben - , aber wir stellen fest: Gerade wenn es den Menschen materiell gutgeht, verlangen sie aus gutem Grund nach Werten „jenseits von Angebot und Nachfrage" . Wir sind stolz auf unseren Sozialstaat - vorbildlich in der Welt - , und doch wissen wir, daß das soziale Wohlbefinden der Menschen aus Quellen fließt, die nicht der Staat und die Politik speisen: aus menschlicher Zuwendung, aus Geborgenheit und Verläßlichkeit in der Familie, im Kreis der Freunde, in der Nachbarschaft. Ich weiß sehr wohl: Politik oder Staat können letztlich menschliches Glück nicht bewirken. Doch politische Entscheidungen können Lasten aufbürden und sie abnehmen. Politik - das ist unsere Überzeugung - muß dem Menschen den nötigen Freiraum lassen, damit er selbst seinen persönlichen Weg zum Glück finden kann. Wir wollen menschlichen Bindungen stärken - durch Politik für die Familien, für Partnerschaft zwischen Mann und Frau und für das Miteinander der Generationen. Die Koalition der Mitte wird ihre familienfreundliche Politik weiterführen und ausbauen, denn die Familie bleibt das Fundament unseres Staates. ({109}) Sie ist der erste und wichtigste Ort individueller Geborgenheit und Sinnvermittlung. Partnerschaft zwischen Mann und Frau, Liebe zu Kindern, Solidarität zwischen den Generationen - das alles kann unsere Gesellschaft nur prägen, wenn es sich in der Familie bewährt. Deutschland soll ein kinderfreundliches Land sein, weil Kinder unser Leben bereichern und dem Land menschliche Wärme spenden. Das Ja zum Kind ist eine höchst persönliche Entscheidung, aber der Staat, die Gesellschaft, wir alle haben die Pflicht zur Solidarität: gegenüber Kindern, Müttern und Familien. ({110}) Noch immer werden die Leistungen der Familien in unserer Gesellschaft zu wenig anerkannt und unterstützt. Den Familienlastenausgleich werden wir deshalb noch gerechter gestalten - durch eine Erhöhung des Kindergeldes, der Kinderfreibeträge bzw. des Kindergeldzuschlags. Soziales Wohnen wird weiterhin durch das Wohngeld gesichert. Für junge Familien sind das neue Erziehungsgeld und der Erziehungsurlaub eine willkommene Hilfe. Wir werden sie erweitern und dabei auch den besonderen Belangen der Alleinerziehenden Rechnung tragen. ({111}) Alleinerziehende Mütter und Väter verdienen in ihrer oft schwierigen Lage die Hilfe des Staates. Wir werden deshalb auch den Haushaltsfreibetrag anheben und weitere Erleichterungen prüfen. Wir wollen die Neuordnung des Jugendwohlfahrtsgesetzes in Angriff nehmen, um neuen Entwicklungen in der Jugendhilfe zu entsprechen. Wir werden uns für Gleichberechtigung der Frauen auf allen Gebieten einsetzen. Mit im Vordergrund stehen gerechte Beschäftigungs- und Aufstiegschancen für Frauen. ({112}) Dafür müssen wir den vielfältigen Lebensentwürfen von Frauen und ihren besonderen Anliegen in verschiedenen Lebensphasen Rechnung tragen und ihnen günstigere Chancen geben, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Wir brauchen die berufstätige Frau, und wir brauchen genauso die Leistung jener Frauen, die sich ganz dem Haushalt, der Kindererziehung sowie der Pflege behinderter oder kranker Familienangehöriger widmen. Wer als Mutter aus dem Erwerbsleben ausscheidet, muß die Chance erhalten, wieder in den Beruf zurückzukehren. Dazu werden wir die notwendigen Förderungsprogramme vorlegen. ({113}) Mehr Aufgeschlossenheit erwarten auch unsere älteren Mitbürger, deren Anteil an der Bevölkerung ständig zunimmt. Sie wollen und sie dürfen nicht ins Abseits abgeschoben werden. ({114}) Ein Land verarmt, wenn es den Sinn für die Würde des Alters verliert. Weisheit und Lebenserfahrung der Älteren sind ein hohes Gut, das wir nutzen sollten. Ohne die Bereitschaft zum Ausgleich und Miteinander der Generationen werden wir alle in unserer Gesellschaft kein wirkliches Zuhause finden. ({115}) - Sie sollten das bitte wiederholen, weil es die ganze Erbärmlichkeit des Denkens deutlich macht. ({116}) Heimat soll erfahrbar sein, und gerade der ländliche Raum muß Zukunft haben. In modernen Massengesellschaften - das erleben wir auch in der Bundesrepublik Deutschland - ist die Gefahr groß, daß der einzelne vereinsamt. Im Wiederaufleben der Heimatkulturen äußern sich das Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Vertrautheit. Das Wort „Heimat" ist glücklicherweise für viele zum Synonym für dieses Bedürfnis geworden. Kulturpflege und Heimatliebe tragen ganz wesentlich dazu bei, daß unser Land bei allem technischen Fortschritt sein menschliches Gesicht bewahrt. ({117}) Ich danke allen, die ihre Freizeit der ehrenamtlichen Vereinsarbeit opfern: in vielen Heimatvereinen, in Musik- und Gesangvereinen. ({118}) Fast 20 Millionen Bürger sind Mitglieder in unseren Sportvereinen. Wir wollen mit den unabhängigen Sportverbänden partnerschaftlich zusammenarbeiten und gerade auch den Spitzensport mit seiner wichtigen Vorbildfunktion für die junge Generation fördern. ({119}) Wir wollen das ehrenamtliche Engagement stärken. Deshalb werden wir bestehende Diskriminierungen ehrenamtlich Tätiger auf der Grundlage der Ergebnisse der beim Bundesfinanzminister eingerichteten Sachverständigenkommission zum Gemeinnützigkeitsrecht beseitigen. ({120}) Die Menschen sollen sich in ihrer örtlichen Gemeinschaft wohlfühlen können. Deshalb bejahen wir die kommunale Selbstverwaltung, die auf Eigenverantwortung und Bürgersinn baut. ({121}) Sie ist eine entscheidende Grundlage staatlichen Lebens, und sie wird aus gutem Grund von unserem Grundgesetz garantiert. Wir danken allen, die sich in Städten und Gemeinden für das Gemeinwohl einsetzen, und wir suchen enge Verbindung und das Gespräch auch mit den Repräsentanten der kommunalen Spitzenverbände. Weil es hier um die unmittelbare Lebensumwelt der Menschen geht, wird die Bundesregierung weiterhin die Stadt- und Dorferneuerung sowie die allgemeine Raumordnung unterstützen. Geborgenheit wächst auch durch das reichhaltige und vielfältige kulturelle Leben in unseren Städten und Gemeinden. Dabei sollten wir auch die Nachbarschaft zu den ausländischen Mitbürgern als eine große Bereicherung verstehen. Wir wissen, daß dem weiteren Zuzug Grenzen gesetzt sind, aber wir wollen die Integration jener fördern, die seit langem bei uns leben. Mit einer Novellierung des Ausländergesetzes werden wir mehr Rechtssicherheit schaffen. Auch um die kulturelle Vielfalt unseres Landes zu erhalten, wollen wir die Wirtschaftskraft des ländlichen Raumes stärken, der über Jahrhunderte hinweg von bäuerlichen Traditionen geprägt wurde. Wir wollen dieses Erbe bewahren. Zur freiheitlichen Gesellschaft der Zukunft gehört selbstverständlich der bäuerliche Familienbetrieb. ({122}) Unsere Bäuerinnen und Bauern schauen mit Sorge in die Zukunft. ({123}) Die deutsche Landwirtschaft ist in einer schwierigen Lage - wegen einer EG-weiten, ja weltweiten Agrarkrise. Die bisherige europäische Agrarpolitik ist nicht mehr imstande, die Einkommen unserer Bauern zu sichern. Wir werden deshalb darauf bestehen, daß die europäische Agrarpolitik endlich wieder ihre Aufgaben zugunsten des gemeinsamen Leitbildes des bäuerlichen Familienbetriebs erfüllt. Wir bekennen uns ebenso selbstverständlich zu unserer nationalen Verpflichtung und Verantwortung für die deutsche Landwirtschaft. ({124}) Die Bundesregierung kämpft seit 1982 für eine gezielte Entlastung der EG-Agrarmärkte, damit wieder eine Preispolitik möglich wird, die zur Sicherung des Einkommens der Bauern maßgeblich beiträgt. ({125}) Wir haben erste Erfolge erzielt. ({126}) Eine EG-weite Mengenreduzierung auf den Agrarmärkten und die Erschließung neuer Absatzmöglichkeiten liegen im Interesse der Erzeuger und der Verbraucher. Das gleiche gilt auch für den Weinbau. ({127}) In Abstimmung mit den Erzeugern müssen wir auch hierzulande eine qualitätsorientierte Mengenbegrenzung erreichen. ({128}) Wie keine andere Betriebsform erfüllt der bäuerliche Familienbetrieb im Voll-, Zu- und Nebenerwerb die Anforderungen unserer Gesellschaft. Deswegen müssen naturgemäße Anbaumethoden und eine flächenbezogene Tierhaltung in der Landwirtschaft EGweit gefördert und geschützt werden. ({129}) Solange es keine gemeinsame Währungs- und Wirtschaftspolitik in der EG gibt, muß es einen Währungsausgleich für die Bauern geben. Er muß künftig eine Gleichbehandlung der deutschen Landwirtschaft mit der in anderen Mitgliedstaaten sicherstellen. Wir werden wie in den letzten Jahren unseren nationalen Spielraum zur gezielten Verbesserung der Einkommen unserer Bauern und zur finanziellen und sozialen Absicherung des Strukturwandels ausschöpfen. Bei der Neuorientierung der Agrarsozialpolitik werden wir noch stärker die unterschiedlichen Einkommensverhältnisse in den Betrieben berücksichtigen. Gemeinsam mit den Bundesländern werden wir die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" überprüfen, um künftig stärker Maßnahmen zu fördern, die einkommensverbessernd und produktionssenkend wirken. Die Landwirtschaft muß - bei allen technischen und chemischen Möglichkeiten - die Natur und Umwelt so weit wie möglich schonen. Die Bundesregierung drängt weiterhin mit Nachdruck auf EG-weite Bemühungen um eine Extensivierung der Landbewirtschaftung und Herausnahme von landwirtschaftlichen Flächen aus der Produktion. Wir wollen die Landwirtschaft in ihrer Vielfalt auch deshalb erhalten, weil sie ganz wesentlich und entscheidend dem Schutz der Natur dient. ({130}) Die Schöpfung bewahren heißt auch: die Umwelt schützen und für die Generation unserer Kinder und Enkel erhalten. Uns allen ist der Schatz der Natur nur auf Zeit anvertraut. Wir sind verpflichtet, sorgsam mit ihm umzugehen, ihn zu schonen und zu pflegen. Das ist auch eine Staatsaufgabe. Deshalb wollen wir den Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufnehmen. ({131}) Zu unbedenklich wurden Güter wie reine Luft und sauberes Wasser in Anspruch genommen. Diese Güter müssen einen Preis haben, der ihrem Wert entspricht. Eine zukunftsorientierte Wirtschaft benötigt die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen. Deshalb sind Gefahren für die Umwelt immer auch eine Herausforderung für unsere Wirtschaftsordnung. Die Bundesregierung prüft die Vielzahl von Anregungen, wie der Sozialen Marktwirtschaft ein ökologischer Ordnungsrahmen beigegeben werden kann. Durchgreifender Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen erfordert erstens aufmerksame und gewissenhafte Pflege, zweitens umfassende und weitBundeskanzler Dr. Kohl sichtige Vorsorge sowie drittens schnelle und wirksame Schadensbeseitigung und Wiedergutmachung. ({132}) In zunehmendem Maße beunruhigend sind globale Gefährdungen unserer Erdatmosphäre. So droht durch den sogenannten Treibhauseffekt eine gravierende Klimaveränderung. Hier gilt es die Forschung voranzutreiben, weltweit die Energieerzeugung durch fossile Brennstoffe zumindest nicht auszuweiten ({133}) sowie der extensiven Rodung tropischer Regenwälder entgegenzuwirken. ({134}) In bedenklicher Weise wird auch die Ozonschicht angegriffen, die uns vor ultravioletten Strahlen schützt. Deshalb wird die Bundesregierung international auf einem Verbot von gefährlichen Treibgasen in Spraydosen bestehen und, wenn nötig, nationale Maßnahmen ergreifen. ({135}) Um unsere Umwelt zu bewahren, setzt die Bundesregierung ihre Politik einer konsequenten Luftreinhaltung fort. Wir werden die Luftschadstoffe in Ballungsgebieten weiter reduzieren - beispielsweise den Schwefelgehalt in Brennstoffen - und dadurch auch zur Smogbekämpfung beitragen. Verbleites Normalbenzin wird bei uns auf der Grundlage einer EG-Richtlinie verboten. Die Schadstoffe von DieselPkw werden reduziert. ({136}) Wir werden das Programm zur Rettung unserer Wälder weiterentwickeln. Denn unser Wald - das wissen wir alle, meine Damen und Herren - hat eine unschätzbare Bedeutung für Wasserhaushalt, Klima, Gesundheit und Erholung und für die Unverwechselbarkeit der deutschen Kulturlandschaft. ({137}) Die Bundesregierung wird den Gewässerschutz weiter verbessern. Die tatsächlichen Einleitungen von Schadstoffen in Gewässer müssen durch eine Meldepflicht erfaßt werden. ({138}) Wir werden den Ländern eine entsprechende Vereinbarung vorschlagen. Außerdem müssen Pläne zur Reduzierung von Schadstoffeinleitungen ausgearbeitet werden. Für den Grundwasserschutz wie für den Schutz von Nord- und Ostsee wird die Bundesregierung ein umfassendes Konzept beschließen und vorlegen. Meine Damen und Herren, durch die Novellierung des Chemikaliengesetzes werden wir die rechtlichen Voraussetzungen schaffen, um gefährliche Stoffe leichter verbieten und Altstoffe besser erfassen zu können. Bei Abfällen wird neben der Vermeidung und Verringerung gefährlicher Stoffe ein weiterer Schwerpunkt die Altlastensanierung sein. Hier sind, wie Sie wissen, die Bundesländer zuständig, doch der Bund will bei Forschungsvorhaben helfen. Um umfassende und weitsichtige Vorsorge sicherzustellen, wird die Bundesregierung die Störfallverordnung novellieren und beim Umweltbundesamt eine zentrale Schadstoffdatei einrichten. Dem vorbeugenden Umweltschutz dienen wir auch mit der Weiterentwicklung umweltschonender Technologien. Im Mittelpunkt unserer Forschungsanstrengungen stehen - neben Klima und Boden - die Sicherheit technischer Systeme, die komplexen ökologischen Zusammenhänge sowie weiterhin die Waldschäden. Eine obligatorische Umwelthaftpflichtversicherung stärkt das Verursacherprinzip und soll das wirtschaftliche Eigeninteresse am Umweltschutz mobilisieren. Sie wird die verschuldensunabhängige Gefährdungshaftung ergänzen, die wir über den Bereich des Gewässerschutzes hinaus ausdehnen wollen. Die strengen Auflagen und gesetzlichen Regelungen, für die wir eintreten, müssen auch konsequent vollzogen und mit deutlich höheren Bußgeldern oder, wenn nötig, strafrechtlichen Mitteln durchgesetzt werden. Umweltschutz, meine Damen und Herren, erfordert das Zusammenwirken benachbarter Staaten und in zunehmendem Maße weltweite Kooperation. Dabei muß sich nach unserer Überzeugung vor allem die Europäische Gemeinschaft auch zu einer europäischen Umweltgemeinschaft entwickeln. ({139}) Die Bundesrepublik wird wie bisher ihre Pionierfunktion wahrnehmen. ({140}) Ich möchte aber auch an jeden einzelnen Bürger unseres Landes appellieren: Umweltschutz fängt zu Hause an, und verantwortete Freiheit beginnt auch immer bei den persönlichen Gewohnheiten. Wir setzen auf mehr Freiheit, damit die Chancen wachsen für sinnerfülltes Tun, auch in der Mitverantwortung für den Nächsten. Unser Staat soll auf die Solidarität der Bürger bauen, er soll ihrem Ideenreichtum und ihrer Entscheidungskraft vertrauen. Wir wollen eine Gesellschaft selbständiger Bürger. Daraus ergeben sich drei wichtige politische Folgerungen: Wir müssen das Prinzip der Subsidiarität stärker durchsetzen, denn zur Selbständigkeit gehören notwendig Entscheidungsfreiheit und Mitverantwortung. Wir müssen mehr Transparenz staatlicher Entscheidungen und Abläufe schaffen, denn der Bürger hat ein Recht auf Einblick und Überblick. ({141}) Wir müssen mehr Flexibilität in unsere Gesellschaft einbringen, denn ohne Wahlmöglichkeiten und Entfaltungsspielraum kann Selbständigkeit nicht gedeihen. Ein reißfestes soziales Netz des Staates bleibt unverzichtbar für die soziale Sicherheit; nicht weniger wichtig jedoch ist die mitmenschliche Solidarität. Deshalb sehen wir in der Hilfe zur Selbsthilfe die zentrale Aufgabe für den Staat. Millionen Mitbürger sind bei uns ehrenamtlich tätig. Ihnen allen gebührt unser Dank. Ohne ihren Einsatz wäre das Land ärmer und kälter. ({142}) Die Bundesregierung wird die ehrenamtlichen sozialen Dienste in verstärktem Maße anregen, unterstützen und fördern. Wir wollen in der Bundesrepublik Deutschland ein neues soziales Klima, eine Kultur der Nachbarschaft, einen neuen Geist freiheitlichen und sozialen Bürgersinns entfalten - gemeinsam mit allen in den Bundesländern, in den Städten, in den Kreisen und Gemeinden. Föderalismus - das ist unsere Erfahrung - sichert Bürgernähe, regionale Vielfalt und Kontrolle der Macht. Im Interesse des Gesamtstaates müssen Bund und Länder Rücksicht aufeinander nehmen. Die Bundesregierung wird auch in Zukunft die Eigenständigkeit der Länder sorgfältig beachten und dafür auch in der Europäischen Gemeinschaft Sorge tragen. Das gilt insbesondere auf dem Felde der Regionalpolitik. Auch die Länder bleiben auf das wohlverstandene Gesamtinteresse des Bundesstaates verpflichtet. Das gilt beispielsweise - ich sage dies aus aktuellem Anlaß - nicht zuletzt für die Schul- und Bildungspolitik. Nur im konstruktiven Zusammenwirken können Bund und Länder ihrer Verantwortung gerecht werden. ({143}) Selbständigkeit und Bürgerfreiheit erfordern auch, den Staat auf seine eigentlichen Aufgaben zurückzuführen, zugleich freilich dafür zu sorgen, daß er diese auch zuverlässig erfüllen kann. Voraussetzung dafür ist ein leistungsfähiger öffentlicher Dienst. Er muß wettbewerbsfähig sein, d. h. auch attraktiv für qualifizierten Nachwuchs. Wir bekennen uns nachdrücklich zum Berufsbeamtentum. Beamte und Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes werden auch in Zukunft bei der Einkommensentwicklung gleichbehandelt. Als Grundlage für seine politischen Entscheidungen braucht jeder Staat, auch der unsere, exakte Angaben. Deshalb werden wir am 25. Mai nach 17 Jahren wieder eine Volkszählung durchführen. Das Gesetz dazu ist von der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten des Deutschen Bundestages und in der zweiten Kammer von allen Bundesländern beschlossen worden. Im Einklang mit einer grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts beachtet es alle Grundsätze des Persönlichkeitsrechts und des Datenschutzes. Wer in dieser Situation zum Boykott auffordert, mißachtet nicht nur die Entscheidungen der Verfassungsorgane, sondern wirbt offen für Rechtsbruch. ({144}) Wer offen für Rechtsbruch wirbt, hat sich auf den Weg gemacht, den freiheitlichen Rechtsstaat zu zerstören. ({145}) Wir wollen einen starken Rechtsstaat, denn das Recht schützt den Schwachen. ({146}) Recht heißt nicht Verrechtlichung. ({147}) Die Bundesregierung wird ihre Anstrengungen zur Vereinfachung des Rechts sowie von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren konsequent fortsetzen. ({148}) Eine unabhängige Expertenkommission wird konkrete Möglichkeiten zur weiteren Deregulierung aufzeigen. Es gibt noch viel zu viele Vorschriften, die den Bürger unnötig einengen. Das gilt, wie jeder weiß, überall im Alltagsleben. Deshalb streben wir auch einen wöchentlichen Dienstleistungsabend an, an dem Geschäfte und Behörden den Bürgern über die üblichen Schlußzeiten hinaus offenstehen. ({149}) Wer gesellschaftlichen Fortschritt im Zeichen von mehr Freiraum will, muß auch neue Strukturen und Formen bei den Medien bejahen. Es beeinträchtigt die Leistung der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten überhaupt nicht, wenn sie nun Konkurrenz bekommen haben. Sie sollten das als Chance begreifen. Die Bundesregierung begrüßt, daß sich die Bundesländer jetzt auf einen Medienstaatsvertrag verständigt haben. Wir sagen ja zur Offenheit unserer Medienlandschaft für privatwirtschaftliche Unternehmen. Dazu gehört eine leistungsfähige deutsche Film- und Fernsehproduktion. Medienvielfalt fördert immer auch Meinungsfreiheit. Zu den entscheidenden Vorzügen unserer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung gehören der Reichtum und die Vielfalt unseres kulturellen Lebens. Für breite Schichten sind Kunst und Kultur heute wichtige Inhalte persönlicher Lebensgestaltung. Dieses Anliegen wird mit wachsender Freizeit immer stärker empfunden. Wir sind Industriegesellschaft und Kulturgesellschaft zugleich. In einer Zeit, die die Besinnung auf humanere Lebensbedingungen, eine neue Verantwortung und ein waches Wertbewußtsein fordert und einschließt, kommt der Kultur eine tragende Rolle zu. Die Bundesregierung wird deshalb verstärkt im Rahmen ihrer Möglichkeiten Akzente beim Ausbau unseres Kulturstaates setzen. Wir wollen die Verbreitung der deutschen Sprache, unserer Muttersprache, in der Welt auch künftig nachdrücklich fördern und den Austausch von Studenten und Wissenschaftlern weiter ausbauen. Unsere auswärtige Kulturpolitik soll ein umfassendes, die demokratische Meinungsvielfalt widerspiegelndes Bild der Bundesrepublik Deutschland vermitBundeskanzler Dr. Kohl teln. Sie soll der wirtschaftlichen, der sozialen und kulturellen Wirklichkeit entsprechen und die ganze deutsche Geschichte in allen ihren Höhen und Tiefen umfassen. In einem föderalen Staat kann Kulturpolitik nur in konstruktiver Zusammenarbeit gedeihen. Die Vorbereitung einer Kulturstiftung der Länder, zu der auch der Bund einen namhaften Beitrag leistet, ist auf einem guten Weg. Beim weiteren Ausbau unserer Bundeshauptstadt wird die Bundesregierung insbesondere die geistigkulturellen Einrichtungen fördern. Die bestehenden vertraglichen Grundlagen mit der Stadt Bonn sollen durch eine Anschlußvereinbarung fortgeführt werden. Es gilt, das Engagement der Bürger und der Wirtschaft für Wissenschaft, Kunst und Kultur zu ermutigen und auch die Arbeitsbedingungen für Künstler weiter zu verbessern. Die gesetzliche Voraussetzung für eine Stärkung der Substanzerhaltung der Stiftungen haben wir verabschiedet. Jetzt wollen wir größere Anreize für die Errichtung von Stiftungen schaffen. Wir müssen den Freiraum für gemeinnütziges Handeln erweitern, damit Bürger sich an der Lösung von Problemen der Gemeinschaft durch die Errichtung von Stiftungen beteiligen. Stifter sind Partner bei der Bewältigung von Zukunftsaufgaben des Landes. Dem müssen auch die steuerlichen Voraussetzungen Rechnung tragen. ({150}) Wachsende Bedeutung, meine Damen und Herren, gewinnen auch der Schutz und die Bewahrung unseres kulturellen Erbes. Es geht hier vor allem um die Verbesserung des Denkmalschutzes und um die Erhaltung des beweglichen Kulturgutes von nationalem Rang für die deutsche Öffentlichkeit. Auch die reichen und wertvollen Zeugnisse ostdeutscher Kultur dürfen nicht in Vergessenheit geraten. ({151}) Das gemeinsame Erbe unserer Nation pflegen, die Anziehungskraft Berlins stärken und nach Freiheit für alle Deutschen streben - das ist Politik für Deutschland. Uns leitet der Verfassungsauftrag, in einem vereinten Europa in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Wir halten fest an der Präambel unseres Grundgesetzes. ({152}) Die Einheit der Nation soll und muß sich zuerst in der Freiheit ihrer Menschen erfüllen. Diese Einheit gründet nicht zuletzt in der gemeinsamen Geschichte. Wir bekennen uns zur ganzen deutschen Geschichte mit ihren Höhen und ihren Tiefen. Für jedes Volk ist Geschichte Quelle der Selbstvergewisserung. Deshalb ist die Pflege von Kultur und Geschichte auch eine nationale Zukunftsaufgabe. Die Bundesregierung trägt dem mit zwei wichtigen Museumsbauten Rechnung. ({153}) In Bonn entsteht ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und in Berlin ein Deutsches Historisches Museum. Die deutsche Geschichte soll so dargestellt werden, daß sich die Bürger darin wiedererkennen: offen für kontroverse Deutungen und Diskussionen, offen für die Vielfalt geschichtlicher Betrachtungsmöglichkeiten. In einer freien Gesellschaft gibt es nach unserer Überzeugung kein geschlossenes und schon gar nicht ein amtlich verordnetes Geschichtsbild. Niemand - niemand! - hat das Recht, anderen seine Sicht und seine Deutung der Geschichte aufzudrängen. Herr Präsident, meine Damen und Herren, unsere alte Hauptstadt wird in diesem Jahr 750 Jahre alt. Bei den Geburtstagsfeiern soll und muß die Einheit der Stadt zum Ausdruck kommen. Diese Feiern sollten die Teilung nicht vertiefen. Dieser Geburtstag steht für die gemeinsame Geschichte und für die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft der ganzen Stadt. Zu unserer Freude werden auch Königin Elizabeth, Präsident Reagan und Präsident Mitterrand aus diesem Anlaß Berlin besuchen. Wir heißen Sie herzlich willkommen! ({154}) Die Sicherheit und Lebensfähigkeit des freien Berlin beruht auf der Präsenz der Drei Schutzmächte und den im Viermächte-Abkommen bekräftigten Bindungen an die Bundesrepublik Deutschland. Die enge Verflechtung mit den politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Strukturen der Bundesrepublik Deutschland ist wesentlich für die Entwicklung der Stadt. Die Rechte und die Verantwortlichkeiten der Drei Mächte müssen gewahrt, die Bindungen an den Bund müssen erhalten und intensiviert werden. ({155}) Dazu gehören die Förderung der wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Attraktivität der Stadt und eine gute verkehrstechnische Anbindung an den europäischen Raum. Berlin muß ein lebendiger Faktor in der Entwicklung unseres Landes bleiben. Berlin muß deshalb auch in unsere Zusammenarbeit mit anderen Staaten voll einbezogen werden. Insbesondere die Beziehungen zur DDR können nicht um Berlin herum entwickelt werden. ({156}) Meine Damen und Herren, wir halten fest an der Einheit unserer Nation. Auch vier Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist die deutsche Frage rechtlich, politisch und geschichtlich offen. Die deutsche Nation besteht fort, getragen durch das Bewußtsein der Deutschen in West und Ost. Sie schöpft ihre Kraft aus der gemeinsamen Geschichte, der gemeinsamen Kultur und aus der gemeinsamen Verantwortung der Deutschen für die Zukunft. ({157}) Wir werden alles tun, das Bewußtsein für die Einheit der Nation lebendig zu halten und das Gemeinsame zu bewahren, das die Menschen in beiden Teilen Deutschlands verbindet. Unser Ziel bleibt: Freiheit und Einheit für alle Deutschen. ({158}) Alle rechtlichen und politischen Grundlagen, die ich in meiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 und in den folgenden Berichten zur Lage der Nation im geteilten Deutschland genannt habe, sind auch in Zukunft selbstverständlich bindend. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die wir heute in Europa erleben, gehen nicht an Deutschland vorbei. Das Interesse an der Überwindung der Teilung unseres Kontinents wächst. Auf beiden Seiten wollen gerade junge Menschen frei miteinander umgehen können. Zugleich müssen wir uns aber bewußt bleiben, daß das deutsche Schicksal eingebunden ist in das gesamte Ost-West-Verhältnis. Der Wunsch, die Teilung Europas zu überwinden, entspricht dem Willen der Deutschen, Einheit in Freiheit zu vollenden. ({159}) Manche meinen, unser nationales Problem könne unabhängig vom West-Ost-Konflikt gelöst werden. Solchen Illusionen - ob von rechts oder links - müssen wir entschieden entgegentreten. Es gibt keinen deutschen Sonderweg! ({160}) Die Deutschen werden nur zusammenkommen können, wenn der Ost-West-Gegensatz in einer dauerhaften, übergreifenden europäischen Friedensordnung aufgehoben wird, in der die Menschenrechte tatsächlich verwirklicht sind, wie sie in der KSZE-Schlußakte vereinbart wurden. Bis die Teilung überwunden werden kann, meine Damen und Herren, ist es unsere Pflicht zu versuchen, Schritt für Schritt Erleichterungen für die Menschen zu erreichen. Zur Obhut sind wir auch gegenüber den Deutschen verpflichtet, die heute noch in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas leben. Wir setzen uns mit Nachdruck für ihre elementaren Anliegen und Rechte ein, einschließlich des Rechts, ihre kulturelle und sprachliche Identität zu wahren. ({161}) Unsere Bemühungen um ungehinderte Ausreise und unsere Hilfe für die Landsleute, die zu uns in die Bundesrepublik kommen wollen und können, werden wir fortsetzen. Meine Damen und Herren, in Solidarität stehen wir weiterhin zu jenen Deutschen, die ihre Heimat durch Vertreibung oder Flucht verloren. Ihre große, unvergängliche Leistung beim Aufbau unserer Republik war ein Werk des Friedens. Dies gilt insbesondere auch für ihren Verzicht auf Gewalt, zu dem sie sich bereits 1950 in der „Stuttgarter Charta" bekannten. ({162}) Die Achtung der Menschenrechte für alle Deutschen, der Verzicht auf Gewaltanwendung an den Grenzen und die Entwicklung der Kontakte zwischen den Menschen sind zentrale Anliegen unserer Politik. Entsprechend der gemeinsamen Erklärung vom 12. März 1985 zwischen Generalsekretär Honecker und mir und auf der Basis des Grundlagenvertrages wollen wir alle Anstrengungen unternehmen, die Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland in einem guten, offenen Klima weiterzuentwickeln. Dafür ist der politische Dialog auf allen Ebenen von großer Bedeutung. Meine Damen und Herren, die bestehenden Gegensätze in Grundfragen können, sollen und dürfen dabei nicht verschleiert werden. Wir werden uns niemals mit Mauer und Schießbefehl und Stacheldraht abfinden! ({163}) Wir werden uns nichts abhandeln lassen, was die Grundsätze unserer Verfassung berühren würde oder unser Ziel gefährdet, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. So werden wir unverändert am Fortbestand der einheitlichen deutschen Staatsangehörigkeit festhalten. ({164}) Uns geht es vor allem darum, die Kontakte zwischen den Menschen auf allen Ebenen und in allen Lebensbereichen zu verbessern. Von besonderer Bedeutung ist dabei die weitere Entwicklung des Reiseverkehrs in beiden Richtungen. Wir haben mit Befriedigung festgestellt, daß Reisen aus der DDR jetzt häufiger und großzügiger genehmigt werden und daß dadurch auch sehr viel mehr jüngere Landsleute aus der DDR in den Westen reisen konnten. Wir sehen darin einen wichtigen und bedeutsamen Fortschritt. Es gibt aber auch wie wir wissen, immer noch erhebliche Beschränkungen des Reiseverkehrs, die abgebaut werden müssen. Die bestehenden Vereinbarungen mit der DDR sollten genutzt und, wo immer möglich, mit Leben erfüllt werden. Das gilt besonders für das im letzten Jahr geschlossene Kulturabkommen. Wir sind bereit, die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik zu entwickeln. Aber auch neue Möglichkeiten der Begegnung wie Städtepartnerschaften und die Weiterentwicklung des Jugendaustauschs sind hier zu nennen. Bei Städtepartnerschaften und Jugendaustausch denken wir natürlich vor allem an die Begegnung nicht nur von Offiziellen, sondern auch der Menschen, die ganz unmittelbar betroffen sind. ({165}) Zunehmend wichtig wird die Zusammenarbeit auf dem Felde des Umweltschutzes. Maßnahmen gegen die Gewässer- und Luftverunreinigung sind Aufgaben, denen sich auch die DDR nicht entziehen darf. Hier müssen Fortschritte und in einzelnen Fragen konkrete Ergebnisse erreicht werden. Durch verstärkte Zusammenarbeit im Umwelt- und Energiebereich kann auch der innerdeutsche Handel zusätzliche Impulse erhalten. Der Handel bleibt ein wichtiges, stabilisierendes Element der Beziehungen. Hier wie auch auf anderen Gebieten liegen in Zukunft Chancen für beide Seiten, die wir nutzen wollen. Meine Damen und Herren, alle diese Schritte müssen dem Ziel dienen, daß sich möglichst bald und möglichst oft die Menschen überall in Deutschland frei bewegen können. ({166}) Unsere Außenpolitik dient dem Frieden. Aus unserer Geschichte haben wir gelernt: Deutsche Außenpolitik darf nicht wertfrei sein. Deshalb sind Achtung und Schutz der Menschenwürde, die Herrschaft des Rechts und der Menschenrechte unsere Richtschnur. Diese Wertorientierung bestimmt unsere Außenpolitik. Deutsche Außenpolitik muß guter Nachbarschaft dienen. Mit dieser Klarheit und Beständigkeit nach allen Seiten setzt die Bundesregierung in der Kontinuität seit Konrad Adenauer ihre erfolgreiche Politik der Friedenssicherung und des Ausgleichs fort. Unsere Außenpolitik wird auch in den kommenden Jahren aktiv und weltweit Friedenspolitik sein. ({167}) Wir brauchen bei unseren Bürgern ein stärkeres Bewußtsein für die gewachsene Rolle und Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland in der internationalen Politik. Wir müssen mit ihnen auch Ziel und Wege unserer Sicherheitspolitik noch stärker diskutieren und so ihr Verständnis für die Notwendigkeit der Verteidigung steigern. Das Gewicht unseres Landes ist viel zu gering, um die Welt allein verändern zu können. Es ist aber auch zu groß, als daß wir Wanderer zwischen den Welten sein könnten. ({168}) Die Atlantische Allianz ist der Garant unserer Freiheit und Sicherheit. Auch für die Zukunft werden deshalb die Stärkung des Bündnisses, seine Einheit und Geschlossenheit höchste Priorität genießen. Das Bündnis gewährleistet angesichts der fortbestehenden militärischen Bedrohung durch den Warschauer Pakt weiterhin die Sicherheit Westeuropas und die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland. Wir bekennen uns zum politischen Konzept des Bündnisses, wie es im Harmel-Bericht 1967 niedergelegt ist. Auf der Basis gesicherter Verteidigungsfähigkeit werden wir weiterhin Dialog und Zusammenarbeit mit den Staaten des Warschauer Pakts anstreben. Militärische Sicherheit und realistische Entspannungspolitik widersprechen sich nicht, sondern bedingen und ergänzen sich gegenseitig. In den vor uns liegenden Jahren, meine Damen und Herren, werden wir uns neuen Herausforderungen für unsere nationale Sicherheitspolitik wie für die Allianz stellen müssen. Das strategische Verhältnis der Großmächte zueinander kann sich durch tiefgreifende Abrüstungsschritte und durch verstärkte Hinwendung zu defensiven Systemen verändern. Das heißt, wir werden uns wichtigen Aufgaben auf diesem Felde auch in dieser Legislaturperiode zu stellen haben. Wir müssen die Verteidigungsfähigkeit im Bündnis sichern. Zur Bündnisstrategie der flexiblen Reaktion gibt es in absehbarer Zeit keine Alternative. Für ihre Wirksamkeit bedarf es weiterhin ausgewogener konventioneller und nuklearer Streitkräfte, und diese Strategie gewährleistet die Kopplung der Sicherheit Europas mit der der Vereinigten Staaten von Europa - Entschuldigung: von Amerika. ({169}) - Es ist, meine Damen und Herren, ja auch gar nicht falsch; es betrifft auch die Zukunft der Vereinigten Staaten von Europa. ({170}) Abschreckung und Verteidigung in Europa erfordern auch in Zukunft die Präsenz starker amerikanischer Truppen sowie der übrigen Stationierungsstreitkräfte in der Bundesrepublik Deutschland. Vorneverteidigung bleibt Kernelement unserer Bündnisverpflichtung. Wir müssen die Bündnisstrategie weiterentwikkeln, und dies gilt insbesondere bei drastischen Abrüstungsmaßnahmen, aber auch bei anderen Entwicklungen wie neuen Formen der Bedrohung, neuen Waffensystemen oder bei Änderungen im Verhältnis von offensiven und defensiven, von nuklearen und konventionellen Waffen. Wir müssen dementsprechend den hohen Einsatzwert der Bundeswehr sicherstellen. So wie die Bundesrepublik Deutschland das Bündnis für ihre Sicherheit braucht, so braucht auch das Bündnis die Bundeswehr als entscheidenden Faktor seiner konventionellen Verteidigungsfähigkeit. ({171}) Die Bundesregierung wird rechtzeitig sicherstellen, daß unsere Streitkräfte trotz sinkender Jahrgangsstärken den erforderlichen Friedensumfang und ihre Verteidigungsfähigkeit im Krisen- und Verteidigungsfall behalten. Der Ehrendienst des Soldaten muß - auch in der sozialen Ausgestaltung - attraktiv bleiben. ({172}) Wir werden dafür sorgen, daß unsere Streitkräfte auch in Zukunft ihrem Verteidigungsauftrag entsprechend ausgerüstet sind. Wir danken unseren Soldaten für ihren Friedensdienst in der Bundeswehr. ({173}) Auch den Zivildienstleistenden, die so vielen engagiert zur Seite stehen, haben wir zu danken. ({174}) Die Reform des Zivildienstes und des Rechtes auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen hat die Erwartungen voll erfüllt. ({175}) Meine Damen und Herren, wir müssen den europäischen Pfeiler im Atlantischen Bündnis stärken. Die NATO braucht ein starkes und einiges Europa, das gemeinsam seine Sicherheitsinteressen klarer und auch nach außen sichtbar definiert und vertritt. Dies liegt im Interesse der Vereinigten Staaten, und es liegt in unserem Interesse, denn die Verteidigung des freien Europa ist immer auch die Verteidigung der Vereinigten Staaten. Wir wollen die Westeuropäische Union als geeignetes Forum weiterentwickeln. Gemeinsam mit Frankreich, mit Großbritannien, Italien und den Benelux-Staaten werden wir alle unsere Anstrengungen energisch fortsetzen, die Westeuropäische Union wiederzubeleben. Freundschaft und enge Zusammenarbeit mit den Vereinigten Staaten von Amerika sind für die Bundesrepublik Deutschland von existentieller Bedeutung. ({176}) Sie sind unverzichtbar für die Einheit des Bündnisses. Sie ermöglichen uns Einfluß und Mitgestaltung. Sie erhöhen die Chance, daß unsere deutschen und die europäischen Interessen Eingang finden in alle Entscheidungen zu Politik und Strategie, zu Wirtschaft und Währung in der westlichen Gemeinschaft. Grundlage dieser Freundschaft bleiben die gemeinsame Wertordnung und das gegenseitige Vertrauen, wie es gerade seit dem Oktober 1982 sichtbar erneuert wurde. ({177}) In diesem Jahr werden wir den 40. Jahrestag des Marshall-Plans begehen. Wir werden dieses Jubiläum zum Anlaß nehmen, unseren Dank für das damals Geleistete zu erneuern und zugleich neue Wege zu beschreiten, die Verbundenheit der Länder und Völker gerade auch bei der nachwachsenden Generation zu verankern. Meine Damen und Herren, transatlantische Partnerschaft darf nicht nur von den Regierungen, sondern muß vor allem auch von den Völkern getragen werden. Es wird in den nächsten Jahren entscheidend darauf ankommen, unser Bild in den USA und über die USA bei uns zu verbessern und vor allem den Jugendaustausch zu verstärken. Meine Damen und Herren, Europa ist unsere politische Zukunft. In einer Woche werden wir den 30. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge feiern. Europa ist unsere wirtschaftliche, kulturelle und politische Zukunft. Nur durch immer engeren Zusammenschluß kann sich ein freies, demokratisches Europa für die Zukunft behaupten. Die Einheitliche Europäische Akte hat das für alle verbindliche Ziel, die Europäische Union, festgeschrieben. Sie bleibt ein vorrangiges Ziel deutscher Außenpolitik. Wir wollen ein vielgestaltiges Europa, in dem die gewachsenen, auch regionalen Strukturen ihren Platz haben. Zugleich muß dieses Europa durch immer engere Bande der Solidarität zusammengehalten werden. Die Menschen in den einzelnen Staaten der Gemeinschaft müssen ein gemeinsames politisches Bewußtsein entwickeln, nennen wir es ruhig europäischen Patriotismus. Wir sind entschlossen, die deutsche Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 zu einem Aktivposten für Europa zu machen. Die Europäische Politische Zusammenarbeit steht nunmehr auf fester vertraglicher Grundlage. In der ständigen Abstimmung zwischen den Mitgliedstaaten wächst europäische Außen- und Sicherheitspolitik heran. Die Bundesregierung bekennt sich zum „Europa der Bürger". Europa muß für den einzelnen konkret erfahrbar werden. Wir brauchen noch offenere Grenzen, mehr Schüler- und Wissenschaftleraustausch und vor allem auch die gegenseitige Anerkennung von Zeugnissen und Diplomen. Die EG steht vor wichtigen Entscheidungen. Ihre Finanzen müssen mittelfristig auf eine Grundlage gestellt werden, die eine gerechtere Aufbringung der Mittel und Verteilung der Lasten sicherstellt und die Prioritäten so setzt, daß für zukunftsorientierte Projekte mehr Raum geschaffen wird. Die Bundesrepublik Deutschland ist bereit, ihren fairen Anteil dazu beizutragen. Die Vollendung des Binnenmarktes gehört zu den wichtigen, festen Zielen der Gemeinschaft. Die Bundesregierung wird alles in dieser Legislaturperiode Mögliche tun, damit dieses Ziel 1992 erreicht wird. Der einheitliche Binnenmarkt mit über 320 Millionen Menschen stellt für die Wirtschaft der Gemeinschaft und damit auch für die Wirtschaft unseres Landes eine unverzichtbare Basis dar, um im weltweiten Wettbewerb bestehen zu können. Allerdings - und darüber muß sich jeder im klaren sein - verlangt der Binnenmarkt von den Volkswirtschaften und Unternehmungen aller Staaten, auch bei uns, erhebliche Anpassungen. Ähnlich wie die Gründung der EWG vor 30 Jahren wird aber die Vollendung des Binnenmarkts bis 1992 neue Wachstumsimpulse freisetzen; Wachstumsimpulse, die allen zugute kommen, nicht zuletzt dem Verbraucher. Wir wollen, daß Europa zu einer Technologiegemeinschaft zusammenwächst, um auch auf den Weltmärkten erfolgreich bestehen zu können. Auf dem Weg zur Europäischen Union wollen wir fortfahren, das Europäische Parlament als die gewählte demokratische Vertretung der Bürger in seinen Befugnissen weiter zu stärken. ({178}) Die deutsch-französische Freundschaft war und bleibt die treibende Kraft im europäischen Einigungsprozeß. Ihre Intensität ist heute einmalig. Diese Partnerschaft umfaßt eine sehr weitgehende, gemeinsame Konzeption von europäischer Sicherheit, eine gemeinsame Vision von der Zukunft Europas und die Gesamtheit unserer politischen, wirtschaftlichen, technologischen und kulturellen Aktivitäten. Wir wollen diese privilegierte Partnerschaft weiterentwikkeln. Zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland gibt es heute eine Identität der Auffassungen und Interessen, die es ermöglichen sollte, erste Schritte auch zu einer operativ gemeinsamen Außenpolitik zu tun. Das schließt auch die Möglichkeit eines engeren Zusammengehens in der Entwicklungspolitik ein. Wir werden die begonnene militärische Zusammenarbeit fortentwickeln. Frankreich und Deutschland müssen zur politischen Kerngemeinschaft einer sich entwickelnden Europäischen Union werden. Großbritannien ist zu einer wichtigen Kraft im europäischen Einigungsprozeß geworden. Es leistet unverzichtbare Beiträge zur Sicherheit des Westens und gerade auch unseres Landes. Wir schätzen diese Zusammenarbeit sehr hoch ein, und wir wollen sie, wo immer das möglich ist, weiter ausbauen. Wir wollen das Verhältnis zu Italien und Spanien intensivieren. Wir würdigen die aktive Rolle der Benelux-Staaten. Mit ihnen sowie mit den anderen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft verbindet uns bewährte Freundschaft. Meine Damen und Herren, wir wollen die Beziehungen zur Sowjetunion und den Staaten des Warschauer Paktes intensivieren. Das West-Ost-Verhältnis ist in Bewegung geraten. Reykjavik hat gezeigt, daß beide Weltmächte interessiert sind, stabile Beziehungen herzustellen und konkrete Vereinbarungen abzuschließen. Damit können sich neue Perspektiven für das West-Ost-Verhältnis und für die Abrüstung und Rüstungskontrolle eröffnen. Wir begrüßen das verabredete Treffen der Außenminister der USA und der Sowjetunion, und wir befürworten ein neues Gipfeltreffen zwischen dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika und dem Generalsekretär der KPdSU noch in diesem Jahr. Seit dem Amtsantritt Generalsekretär Gorbatschows vor zwei Jahren hat die Sowjetunion große Erwartungen in Richtung auf wichtige Veränderungen im Inneren geweckt. Generalsekretär Gorbatschow spricht von „neuem Denken" in den internationalen Beziehungen. Wir nehmen ihn beim Wort: Wenn sein Kurs Chancen birgt zu mehr Verständigung, zu mehr Zusammenarbeit und vor allem zu konkreten Ergebnissen bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, werden wir sie aufgreifen. ({179}) Wenn er den Weg für Kooperation zwischen allen west- und osteuropäischen Staaten weiter ebnet, dann sind wir entschlossen, dies umfassend zu nutzen - im Rahmen bilateraler Beziehungen wie im Rahmen des West-Ost-Dialogs insgesamt. Meine Damen und Herren, wir werden dabei weder die Realitäten aus den Augen verlieren noch Illusionen nachjagen, noch bestehende Gegensätze verwischen. Die Bundesregierung bekräftigt ihre langfristig angelegte Politik, die Beziehungen zu allen Staaten Mittel-, Ost- und Südost-Europas in allen Bereichen und auf allen Ebenen zu entwickeln. Sie will diesen Staaten ein zuverlässiger, ein berechenbarer und auch ein vertrauensvoller Partner für Dialog und Zusammenarbeit sein. Die Grundlage sind die geschlossenen und geltenden Verträge und die Schlußakte von Helsinki, nach deren Buchstaben und Geist wir unsere Politik gestalten wollen. Wir werden dabei auch eingedenk unserer leidvollen Geschichte den Weg der Verständigung mit dem polnischen Volk fortsetzen. Insbesondere wollen wir die junge Generation beider Länder enger zusammenführen und damit den neuen Generationen eine friedliche Zukunft sichern. Die Beziehungen zur Sowjetunion sind für uns von zentraler Bedeutung. Sie zu festigen und zu vertiefen entspricht den Interessen und Wünschen der Menschen in unseren beiden Staaten. Wir fördern damit die Verständigung zwischen West und Ost und stärken den Frieden in Europa. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen bieten auf allen Feldern noch erhebliche unausgeschöpfte Möglichkeiten: Wir wollen den politischen Dialog intensivieren; wir wollen Fortschritte auf humanitärem Gebiet; wir wollen die vorbereiteten Abkommen über wissenschaftlich-technologische Zusammenarbeit und Verkehr alsbald in Kraft setzen; wir wollen in Kürze ein Umweltabkommen erreichen; und wir wollen das deutsch-sowjetische Kulturabkommen durch Abschluß eines Zweijahresprogramms endlich mit Leben erfüllen. Wir sind bereit, einer breit angelegten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen West und Ost den Weg zu ebnen. ({180}) Langfristige, gegenseitig vorteilhafte und ausgewogene Wirtschaftsbeziehungen bleiben für uns ein wichtiges Element in unseren Beziehungen zur Sowjetunion und zu den übrigen Staaten des Warschauer Pakts. Wir bieten kontinuierliche, zukunftsorientierte Zusammenarbeit an, auch in neuen Formen der Kooperation. Sie sollen Thema einer WestOst-Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit sein, die ich im vergangenen Jahr vorgeschlagen habe und die inzwischen als gemeinsamer Vorschlag der Europäischen Gemeinschaft im Wiener KSZE-Folge-treffen eingeführt wurde. Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bleibt ein unerläßliches Instrument, den Frieden zu sichern, die Spaltung Europas zu überwinden, die Zusammenarbeit auf allen Gebieten zu fördern und die Menschen einander näherzubringen. Beim Wiener KSZE-Folgetreffen strebt die Bundesregierung deshalb in Übereinstimmung mit unseren Partnern und Freunden ein substantielles und ausgewogenes Schlußdokument an. Wir wollen konkrete Fortschritte im Bereich der Sicherheit, in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit, bei wissenschaftlichtechnologischem Austausch, für den Schutz unserer Umwelt, zur Lösung humanitärer Fragen und vor allem Achtung der Menschenrechte in allen Teilnehmerstaaten. ({181}) Unser Kriterium für echte Fortschritte in den WestOst-Beziehungen ist und bleibt die Lage der Menschen in unserem geteilten Volk und auf unserem Kontinent. Wir begrüßen erste Anzeichen einer Wende zum Besseren in der sowjetischen Menschenrechtspolitik, und wir hoffen, daß sich diese Anzeichen fortentwickeln. Wir bleiben bei unserer Forderung, daß alle politischen Gefangenen freigelassen werden, auch in allen Ländern des Warschauer Paktes. ({182}) Und wir erwarten, daß die neue Ausreisegesetzgebung der Sowjetunion endlich das Leid seit langem getrennter Familien lindert; dabei denken wir nicht zuletzt an unsere deutschen Landsleute, die betroffen sind. ({183}) Meine Damen und Herren, wir streben intensiv nach Abrüstung und Rüstungskontrolle. Gemeinsam mit unseren westlichen Verbündeten wollen wir den Prozeß der Abrüstung und Rüstungskontrolle in allen Verhandlungsforen dynamisch fortsetzen. Unser Ziel ist und bleibt, Sicherheit für alle Beteiligten auf einem möglichst niedrigen, ausgewogenen Streitkräfteniveau zu gewährleisten. Dies setzt aber voraus, daß die Sicherheit aller berücksichtigt wird. Unser nachdrückliches und konsequentes Eintreten für Abrüstung und Rüstungskontrolle bleibt ein unverzichtbarer Bestandteil der Sicherheitspolitik der Bundesregierung. Seit Reykjavik liegen auf den Verhandlungstischen die umfassendsten Vorschläge beider Seiten in der Geschichte der Rüstungskontrollverhandlungen. Wir hoffen, daß die USA und die Sowjetunion diese Chance nutzen und durch Kompromißbereitschaft zu Ergebnissen kommen. Das Interesse der Verbündeten und der Bundesregierung richtet sich in besonderem Maße darauf, möglichst bald ein Abkommen mit dem Ziel abzuschließen, die sowjetischen und amerikanischen nuklearen Mittelstreckenflugkörper größerer Reichweite zu beseitigen. Die Bundesregierung stimmt der in Reykjavik in Aussicht genommenen INF-Regelung zu: NullLösung in Europa bei gleichzeitiger weltweiter Verringerung dieser Systeme auf jeweils 100 Gefechtsköpfe. Ein solches Ergebnis entspräche der von den Bündnispartnern seit dem NATO-Doppelbeschluß 1979 nachdrücklich verfolgten Zielvorstellung. ({184}) Ein baldiger Abschluß eines INF-Abkommens wäre ein sichtbares Zeichen für den Ernst und die Glaubwürdigkeit der Rüstungskontrollbemühungen. Von ihm würde ein wichtiger Impuls auf die anderen Bereiche ausgehen. Als Sorge, meine Damen und Herren, bleibt die drückende sowjetische Überlegenheit bei den Mittelstreckenwaffen kürzerer Reichweite. Die Bundesregierung erwartet deshalb, daß sich die beiden Weltmächte konkret und verbindlich verpflichten, sofortige Folgeverhandlungen über die Mittelstreckensysteme kürzerer Reichweite aufzunehmen. ({185}) Ziel dieser Verhandlungen muß es sein, alle diese Systeme auf ein niedriges Niveau mit gleichen Obergrenzen zu reduzieren. Meine Damen und Herren, Reykjavik hat auch Aussichten auf drastische Reduzierungen im Bereich strategischer Offensivwaffen eröffnet. Beide Seiten bekennen sich zum Ziel einer 50%igen Reduzierung dieser Systeme innerhalb von fünf Jahren. Wir unterstützen dies nachdrücklich. In Genf müssen beide Verhandlungspartner Anstrengungen unternehmen, für das Verhältnis von Offensiv- und Defensivwaffen eine die Sicherheitsinteressen beider Seiten berücksichtigende, kooperative Lösung zu finden. Dies gilt auch für die Anwendung des ABM-Vertrages. Ich bin weiterhin der Auffassung, daß drastische Reduzierungen der Offensivwaffen Einfluß auf Notwendigkeit und Umfang von Defensivsystemen haben müssen. Meine Damen und Herren, ein verläßlich verifizierbarer nuklearer Teststopp ist für die Bundesregierung ein wichtiges Ziel, das nach unserer Auffassung schrittweise verwirklicht werden kann. Nukleare Abrüstung verschärft das Problem des konventionellen Ungleichgewichts in Europa. Wir müssen deshalb ohne Verzug und nachdrücklich verstärkte Anstrengungen unternehmen, um ein nachprüfbares, umfassendes und stabiles Gleichgewicht konventioneller Streitkräfte auf niedrigerem Niveau zu erreichen. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP Dr. Dregger ({186}) Die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Paktes muß abgebaut werden, insbesondere auch seine Fähigkeit zum Überraschungsangriff und zu raumgreifender Offensive. Damit würden vor allem auch Stabilität und Sicherheit für ganz Europa gestärkt werden. ({187}) Das Nordatlantische Bündnis hat daher auf deutschfranzösischen Vorschlag hin die Initiative ergriffen, um dieses Ziel schrittweise zu erreichen. Demzufolge wurden in Wien Gespräche mit den Staaten des Warschauer Paktes über ein Mandat für eine Konferenz über konventionelle Rüstungskontrolle in ganz Europa aufgenommen. Wir erhoffen zügige Fortschritte auch in den laufenden Verhandlungen über ein weltweites Verbot chemischer Waffen. Zusammen mit unseren Partnern streben wir an, daß die Konferenz über vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen in Europa, die im September 1986 wichtige vertrauensbildende Maßnahmen erreichen konnte, fortgesetzt wird. Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn in diesen Schlüsselfragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle ein breiter Konsens im Deutschen Bundestag erreichbar wäre. ({188}) Mit einem gerechten Interessenausgleich zwischen Nord und Süd wollen wir zum Frieden in der Völkergemeinschaft beitragen. Unsere Beziehungen zu den neuen politischen Schwerpunkten der Dritten Welt müssen über Handelsaustausch und Entwicklungshilfe hinausgehen. Wir wünschen mit diesen Ländern einen umfassenden und stetigen politischen Dialog zwischen gleichberechtigten Partnern als ein wichtiges Element unserer Zusammenarbeit. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Beitrag von Entwicklungsländern zur internationalen Diskussion über die Sicherung des Weltfriedens ausdrücklich würdigen. ({189}) Wir unterstützen das Bestreben der Entwicklungsländer nach Unabhängigkeit, ihren Wunsch nach Selbstbestimmung und nach eigenständiger Gestaltung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung entsprechend ihrer eigenen kulturellen Tradition. Echte Blockfreiheit und regionale Zusammenarbeit sind wichtige Elemente in den internationalen Beziehungen. Die Welt von morgen, meine Damen und Herren, wird nur dann in Frieden, Freiheit und Stabilität leben können, wenn es gelingt, Hunger und Not zu verringern, das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd abzubauen und - wo immer möglich - Menschenrechte durchzusetzen. ({190}) Wir gewähren weiterhin jenen Asyl, die aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt werden. ({191}) Wir können aber die wirtschaftlichen Probleme der Welt nicht durch Einwanderung in die Bundesrepublik Deutschland lösen. ({192}) Für die Menschen in der Welt, die hungern und wirtschaftliche Not leiden, ist und bleibt die beste Hilfe die Hilfe vor Ort. Nach der Neuorientierung der letzten Jahre haben wir unserer Hilfe jetzt folgende Schwerpunkte gegeben: Konzentration auf die Ärmsten, Sicherung der Ernährung aus eigener Kraft, mehr Spielraum für Selbsthilfe, stärkere Berücksichtigung der Rolle der Frau im Entwicklungsprozeß, Bildung und Ausbildung, losgelöst von unangebrachten westlichen Vorbildern, Schutz der Umwelt auch in der Dritten Welt und Hilfe für Maßnahmen zur Strukturanpassung. Wir wollen Rückflüsse aus der Kapitalhilfe schrittweise wieder zur Finanzierung neuer Maßnahmen einsetzen. ({193}) Ohne wirtschaftliche Dynamik und wachsende Produktivität werden jedoch Armut und wirtschaftliche Rückständigkeit in der Dritten Welt nicht zu überwinden sein. Wir vertrauen deshalb auch hier vor allem auf private Initiative und auf die Leistungsfähigkeit offener und freier Märkte. Unsere staatliche Entwicklungspolitik muß gezielt struktur- und leistungsschwache Regionen fördern. Nur so können sich mehr eigenständige Produktivität und mehr unternehmerisches Handeln im Handwerk, im Kleingewerbe und in den kleinen und mittleren ländlichen Betrieben entwickeln. Entwicklungshilfe ist nicht nur Aufgabe des Staates. Sie ist eine moralische Aufgabe und Pflicht der ganzen Gesellschaft. Ich danke allen für Spendenbereitschaft und persönliches Engagement bei der Bekämpfung von Hunger und Armut in der Dritten Welt. ({194}) Ich danke vor allem den Kirchen, die dazu beigetragen haben, eine hohe Sensibilität in unserem Lande für die Not in der Dritten Welt zu schaffen. Wir werden die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Organisationen fortsetzen und, wo immer möglich, verstärken. Der weitere Ausbau unserer freundschaftlichen Beziehungen zu den Staaten Asiens, Lateinamerikas, Afrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und des südpazifischen Raumes hat für die Bundesregierung große Bedeutung. Einige dieser Staaten sind kochentwickelte Industrieländer. Die meisten von ihnen aber sind Entwicklungsländer, die von uns beim Aufbau ihrer Wirtschaft besondere Solidarität und Kooperationsbereitschaft erwarten. Die stetig wachsende weltpolitische und weltwirtschaftliche Bedeutung Asiens ist uns sehr bewußt. Japan ist im westlichen System außerhalb der europäischen Gemeinschaft und der NATO schon heute unser wichtigster Partner. Dieser Entwicklung werden wir auch künftig Rechnung tragen. Die Volksrepublik China ist für uns ein besonders wichtiger und vertrauenswürdiger Partner geworden. Trotz unterschiedlicher Gesellschaftssysteme unserer beiden Länder haben sich ein breiter Konsens in der Bewertung politischer Fragen und zahlreiche gemeinsame Interessen und Zielsetzungen ergeben. Es ist das Ziel der Bundesregierung, das schon jetzt bestehende Netz politischer, wirtschaftlicher und kultureller Zusammenarbeit mit der Volksrepublik China noch dichter zu knüpfen. Mit den sechs ASEAN-Staaten hat sich auf deutsche Initiative hin eine enge Zusammenarbeit sowohl bilateral als auch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft entwickelt. Wir wollen diese Zusammenarbeit weiter pflegen. Mit Indien, der volksreichsten Demokratie der Erde, verbinden uns traditionell gute Beziehungen. Wir sind entschlossen, den wirtschaftlichen und kulturellen Austausch weiter auszubauen, den politischen Dialog zu vertiefen und vor allem die entwicklungspolitische Zusammenarbeit im Rahmen des Möglichen fortzuführen. Ein weiteres Schwerpunktland unserer Zusammenarbeit bleibt Pakistan. Ausgehend von unseren freundschaftlichen Beziehungen zu beiden Ländern sehen wir mit Genugtuung die erfolgreichen gemeinsamen Bemühungen, historische Belastungen abzubauen. Ich habe an dieser Stelle schon vor vier Jahren den Abzug der sowjetischen Truppen aus Afghanistan und der vietnamesischen Truppen aus Kambodscha gefordert. ({195}) Nach wie vor wird beiden Völkern das Selbstbestimmungsrecht verweigert. Wir appellieren an die Sowjetunion, ihren Ankündigungen für eine politische Lösung Taten folgen zu lassen. Die Leiden dieser Völker müssen endlich ein Ende haben. ({196}) Mit den Ländern Lateinamerikas verbinden uns traditionell gute und enge Beziehungen. Seit Übernahme der Regierungsverantwortung haben wir diesen Beziehungen neue Impulse gegeben und damit der wachsenden Bedeutung dieses Subkontinents für uns und für unsere europäischen Partner Rechnung getragen. Diesem Ziel dient auch die gegenwärtige Reise des Herrn Bundespräsidenten. Wir werden diese Beziehungen - insbesondere zu den Schlüsselländern der Region: Argentinien, Brasilien und Mexiko - auf allen Gebieten vertiefen. Wir werden alle geeigneten Initiativen für eine friedliche Lösung der Krise in Zentralamerika unterstützen. Gewalt und soziale Ungerechtigkeit müssen überwunden werden. ({197}) Meine Damen und Herren, Afrika bleibt ein wichtiges Feld unserer Außen- und Entwicklungspolitik. Die Staaten Afrikas brauchen Frieden. Sie bedürfen unserer Unterstützung, um ihre Aufgaben für die Zukunft aus eigener Verantwortung zu lösen. Gemeinsam mit unseren europäischen Partnern und unseren westlichen Verbündeten werden wir auch künftig dafür eintreten, daß in Südafrika Apartheid und Rassendiskriminierung mit friedlichen Mitteln überwunden und die Menschenrechte allen Bürgern dieses Landes in gleicher Weise gewährt werden. ({198}) Südafrika bedarf einer politischen und gesellschaftlichen Ordnung, die es auch der schwarzen und farbigen Bevölkerungsmehrheit ermöglicht, die politischen Geschicke des Landes mitzubestimmen. ({199}) Die Bundesregierung appelliert an alle Beteiligten, den friedlichen Weg des Dialogs zu gehen. Wir werden diesen Dialog nach Kräften fördern. Unsere Maßnahmen zugunsten der von der Apartheid betroffenen Bevölkerung werden wir verstärken und die Mittel dafür erhöhen. ({200}) Mit den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens verbindet uns vielfältige politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit. Um so größer ist die Sorge, daß Kriege und Konflikte, Terror und Gewalt in dieser Region nicht enden wollen. Grundlage unserer Politik ist die Achtung der berechtigten Interessen aller Völker und Staaten in dieser Region. Unverändert wird sich unsere Politik am Existenzrecht Israels in sicheren Grenzen, am Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes und am beiderseitigen Gewaltverzicht orientieren. Den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsinteressen Israels gelten weiter unser Interesse und unsere Sorge. Wir begrüßen herzlich den bevorstehenden Besuch des israelischen Staatspräsidenten in der Bundesrepublik Deutschland als ein bedeutsames historisches Ereignis. ({201}) Unsere traditionell freundschaftlichen Beziehungen mit den arabischen Ländern wollen wir weiterentwikkeln. ({202}) Bei der immer dringlicher werdenden Suche nach friedlichen Konfliktlösungen arbeiten wir mit unseren Partnern in Europa und den Vereinigten Staaten eng zusammen. Am 23. Februar dieses Jahres haben sich die EG-Außenminister mit ihrer gemeinsamen Erklärung für eine internationale Nahost-Friedenskonferenz ausgesprochen und sich bereit erklärt, dabei eine hilfreiche Rolle zu übernehmen. Meine Damen und Herren, angesichts zahlreicher Krisen und Konflikte in nahezu allen Regionen der Welt sind die Vereinten Nationen das unentbehrliche zentrale Forum weltweiter Verständigung und Zusammenarbeit. Wir werden unserer politischen Verantwortung im Sicherheitsrat gerecht werden. Wir würdigen auch die Arbeit der UN-Sonderorganisationen. Gemeinsam mit unseren Partnern wird die Bundesregierung weiterhin nach Kräften dazu beitragen, die UNESCO zu reformieren und ihre Universalität wiederherzustellen. ({203}) Die der deutschen Außenpolitik gestellten Aufgaben erhöhen die Anforderungen an unsere Mitarbeiter im auswärtigen Dienst. Die Bundesregierung würdigt, daß sie oft unter schwierigen äußeren Bedingungen und großen persönlichen Gefahren ihre Pflicht erfüllen. Der Mord an Gerold von Braunmühl hat dies uns allen erneut drastisch vor Augen geführt. Die Bundesregierung bekennt sich in ihrer Außenpolitik immer wieder - wie es im Art. 1 unseres Grundgesetzes heißt - „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt". Gerade für unsere jungen Mitbürger wollen wir ein Leben in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit. Wir wollen ihnen die Aussicht auf eine Welt eröffnen, in der es sich zu leben und zu wirken lohnt. ({204}) Unser Regierungsprogramm ist getragen von der Verantwortung für die Generationen, die nach uns kommen. Doch die junge Generation muß dabei mitmachen. ({205}) Sie muß ihre eigene Verantwortung erkennen. So wie wir die Weisheit und Erfahrung der Älteren brauchen, so brauchen wir den Idealismus, den Mut und die Tatkraft der jungen Generation. ({206}) Wir brauchen auch ihr Vertrauen - das Vertrauen in unsere Demokratie und in die Werte, die sie tragen. Demokratie ist eine anspruchsvolle Ordnung. Ihre Lebenskraft und ihre Zukunft hängen von Anerkennung und von Zustimmung der nachwachsenden Generation ab. Viele junge Menschen wollen wissen, in welche Zukunft der Weg führt und welchen persönlichen Beitrag sie leisten können. Wir können ihnen mit gutem Gewissen sagen: Ihr habt guten Grund zur Zuversicht. ({207}) Kaum eine Generation zuvor konnte so berechtigt die Hoffnung auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit haben. ({208}) Die bittere Erfahrung von Krieg und Gewaltherrschaft darf sich nicht wiederholen - das ist die Lehre der Geschichte unseres Jahrhunderts. Jungen Menschen bieten sich - bei allen Problemen und Fragen - vielfältige Lebenschancen. Mit Lernfreude, mit Fleiß, mit Phantasie und mit Mittun ({209}) können sie weit vorankommen, wenn sie neben den Rechten auch die Pflichten akzeptieren. ({210}) Wir leben in einem Land der freien Welt - mit sehr viel Freiraum für sinnerfülltes Handeln. Mit persönlichen und privaten Initiativen, mit Mitmenschlichkeit und Dienst am Nächsten läßt sich viel Gutes tun - hier, bei uns zu Hause in der Bundesrepublik Deutschland, und draußen in der Welt in der Hilfe für Unterdrückte und Notleidende. Mit der jungen Generation - und für sie - wollen wir die Zukunft gewinnen. Ich bitte alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger um ihre Mithilfe. Mit Tatkraft, mit Mut und mit Zuversicht wollen wir Deutschland, unserem Vaterland, dienen. ({211})

Dr. Philipp Jenninger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001025

Meine Damen und Herren, ich werde jetzt die Sitzung bis 14 Uhr unterbrechen. Wir werden dann mit der Beratung des Tagesordnungspunktes 2 - Beschlußfassung über das Verfahren für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - beginnen. Dann werden wir die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fortsetzen. Die Sitzung ist unterbrochen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf: Beschlußfassung über das Verfahren für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen - Drucksachen 11/53, 11/55 Meine Damen und Herren, zu diesem Tagesordnungspunkt liegen ein Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/53 sowie ein Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/55 vor. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen. ({0}) - Zur Geschäftsordnung? - Abgeordneter Kleinert, bitte sehr.

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich möchte unseren Antrag kurz begründen. Es geht nicht um eine nebensächliche Frage, wie man das auf den ersten Blick meinen könnte, sondern um ein demokratisches Grundprinzip: Es geht um die Frage der Beteiligung der Fraktionen an Ausschüssen und Gremien des Deutschen Bundestages. Wir teilen die Auffassung der anderen Fraktionen, daß die Zahl der Sitze nach dem Lague/Schepers-Verfahren berechnet werden sollte. Darüber hinaus sollte aber - da liegt der Unterschied zwischen den Anträgen - für jede Fraktion im Grundsatz ein Grundmandat festgelegt werden, denn nur auf diesem Wege läßt sich gewährleisten, daß alle Fraktionen bei der Gremienbesetzung auch wirklich zum Zuge kommen und damit alle Fraktionen auch vollständig an der Willensbildung in den Ausschüssen und Gremien des Parlaments beteiligt sind. Wir als GRÜNE haben in den vergangenen Jahren und auch schon in dieser Legislaturperiode verschiedenste Erfahrungen machen müssen. Wir haben die Erfahrung machen müssen, daß uns, wo immer es ging, die Mehrheit in diesem Haus den Zutritt zu bestimmten Gremien verwehrt hat. Das war in der letzten Periode bei der PKK so, das war bei der G10-Kommission so, das war bei der Haushaltskontrolle so. Das war wieder so, als es um die Besetzung des Bundestagspräsidiums ging. Ich sage Ihnen voraus, daß wir in zwei Wochen, wenn es erneut um die Parlamentarische Kontrollkommission gehen wird, wieder eine ähnliche Situation erleben werden. Wer diese Diskriminierungspraxis wirklich beenden will, sollte sich dazu aufraffen, jeder Fraktion ein solches Grundmandat zuzubilligen. Einzelfallregelungen blieben davon unbenommen. Wenn es die Zahl unbedingt erforderlich machen würde, ist jederzeit eine freie Vereinbarung über einen Verzicht auf die Inanspruchnahme eines einzelnen Mandates möglich. Lassen Sie uns das so regeln, dann haben wir ein vernünftiges demokratisches Verfahren, bei dem alle Seiten angemessen zum Zuge kommen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zur Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter Dr. Bötsch.

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantrage, den Antrag der GRÜNEN abzulehnen und dem gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD und FDP stattzugeben. Offensichtlich fällt der Fraktion DIE GRÜNEN zu diesem Thema nichts mehr ein, denn das gleiche haben wir schon zu Beginn der 10. Legislaturperiode im März 1983 gehört. Ich würde Ihnen raten, das vielleicht auf der Liste der Wiedervorlagen zu streichen und das Thema endgültig zu den Akten zu legen, dann brauchen Sie es nicht jedesmal wieder vorzutragen. ({0}) - Auch wenn Sie ziemlich neu sind, sage ich das trotzdem. Nach unserer Auffassung besteht nämlich keine Veranlassung, das Proportionalverfahren nach St. Lague/Schepers zu ändern oder in irgendeiner Form, so wie Sie es vorschlagen, zu ergänzen. In den ersten acht Wahlperioden galt ein anderes Berechnungsverfahren. Es hat sich als mit Mängeln behaftet erwiesen, und deshalb hat der Deutsche Bundestag ab der 9. Legislaturperiode beschlossen, das bis heute und auch jetzt vorgeschlagene Berechnungsverfahren einzuführen. Das Berechnungsverfahren vermeidet die Nachteile der früheren Verfahren und trägt außerdem dem Schutze der Minderheiten in einem Ausmaße Rechnung, wie dies früher nicht der Fall war, ({1}) und das sollten bitte auch Sie zur Kenntnis nehmen, meine Damen und Herren. Dieses Verfahren hat sich bewährt. Ihr Antrag bringt keine Verbesserungen, und deshalb lehnen wir ihn ab. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Keine weiteren Wortmeldungen zur Geschäftsordnung? - Dann kommen wir zur Abstimmung, zunächst über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/55. Wer stimmt dafür? Ich bitte um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei zwei Enthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt. Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/53 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Anzahl von Gegenstimmen mit großer Mehrheit angenommen. Wir setzen die Beratungen mit Tagesordnungspunkt 1 - Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung - fort und kommen zur Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute vormittag die Regierungserklärung eines Bundeskanzlers gehört, der noch nicht einmal das uneingeschränkte Vertrauen seiner eigenen Fraktion besitzt. ({0}) Unter denen, die Ihnen heute vormittag, Herr Bundeskanzler, Beifall gespendet haben, sind 15, die Ihnen vor einer Woche bei der Kanzlerwahl ihre Stimme verweigert haben. ({1}) Auch wenn Herr Kollege Dregger in einem Anflug von schwarzem Humor erklärt hat, die Kanzlerwahl sei keine Entscheidung von Belang, da sei die Geschlossenheit der Fraktion nicht notwendig, ({2}) dann ist doch die Wahrheit: Die Stimmenverweigerung ist ein Zeichen der Schwäche und zugleich ein Armutszeugnis für diejenigen in Ihrer Fraktion, die bei offenen Abstimmungen für und bei geheimer Wahl gegen Sie stimmen. ({3}) Die Stimmenverweigerung in Ihren eigenen Reihen ({4}) ist Ausdruck der Unzufriedenheit mit dem Ergebnis der Koalitionsverhandlungen und Ausdruck des Protestes gegen Ihre personellen Entscheidungen; und in der Tat: Man kann diesen Protest verstehen. Man kann verstehen, daß selbst konservative Leitartikler von Ihrem Kabinett sagen, es sei nicht ein Kabinett der Mitte, sondern ein Kabinett des Mittelmaßes ({5}) oder gar, wie eine besonders konservative Zeitung im Südwesten schrieb: Dieses Kabinett sei eine spezielle Form der Null-Lösung, ({6}) einer allerdings etwas opulent geratenen NullLösung, wenn man bedenkt, daß die Zahl der Regierungsmitglieder in Ihrer Amtszeit um zwei Minister, um sieben Parlamentarische Staatssekretäre und Staatsminister sowie nach dem Stande von heute vormittag - das kann sich aber am Nachmittag schon weiter ändern - um einen weiteren beamteten Staatssekretär zugenommen hat. Ich sage: Es ist ein Kabinett der Fragezeichen. Warum z. B., Herr Bundeskanzler, haben Sie Herrn Wallmann zum Bundesminister ernannt und ihn schwören lassen, daß er in Bonn seine Pflicht tun will, während er gleichzeitig im hessischen Wahlkampf erzählt, er wolle alle seine Kraft dem Lande Hessen widmen? Was gilt denn nun eigentlich? ({7}) Wenn man Ihre Neuzugänge auf der Regierungsbank betrachtet, dann fragt man sich, warum Sie, Herr Bundeskanzler, eigentlich den Kollegen Windelen und Dollinger den Laufpaß gegeben haben und das zudem in einer eher brüskierenden und kränkenden Weise, den diese Herren, die Ihnen loyal gedient haben, so nicht verdient haben? ({8}) Auch würden wir gerne von Ihnen hören, Herr Bundeskanzler - dazu war in den zweieinhalb Stunden offenbar keine Zeit - , was eigentlich die Frau Kollegin Wilms ausgerechnet für das innerdeutsche Ministerium qualifiziert. ({9}) Herr Bundeskanzler, warum haben Sie eigentlich das in die Form einer Drohung gekleidete Angebot des Herrn Strauß, er werde Herrn Zimmermann für das Innenministerium nicht mehr zur Verfügung stellen, nicht auf der Stelle angenommen? ({10}) Ein solches Angebot werden Sie so schnell nicht wieder bekommen. ({11}) Wie dem auch sei: Unser Volk hat am 25. Januar 1987 über die Verteilung der politischen Verantwortung auf der Bundesebene für die nächsten vier Jahre entschieden. ({12}) Uns ist durch diese Entscheidung für eine weitere Legislaturperiode die Aufgabe der Opposition übertragen worden. ({13}) Wir akzeptieren diese Entscheidung ohne Wenn und Aber. ({14}) Wir wissen um die Verantwortung, die wir als Opposition für das Ganze tragen, und wir werden auch in dieser Legislaturperiode dieser Verantwortung gerecht werden. ({15}) Das Wahlergebnis vom 25. Januar hat aber nicht nur über die Aufgabenverteilung in diesem Hause entschieden. Es hat darüber hinaus wichtige Erkenntnisse über den politischen Willen und die politischen Vorstellungen unseres Volkes vermittelt. Das Ergebnis vom 25. Januar bedeutet, daß wir trotz des hervorragenden Einsatzes von Johannes Rau und des großen Engagements vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, für das ich auch von dieser Stelle aus danke, ({16}) unser Wahlziel nicht erreicht haben. Über die Gründe werden wir mit uns selbst zu Rate gehen. Es bedeutet aber auch, daß Ihre Partei, Herr Bundeskanzler - darum wäre ich hier mit Schadenfreude ein bißchen vorsichtig - , das schlechteste Resultat seit der Bundestagswahl 1949 erzielt hat und daß Sie schlechter abgeschnitten haben als Herr Strauß im Jahre 1980. Drum ist der in den letzten Wochen und Monaten auch so vergnügt. ({17}) Gewinner dieser Wahl waren die kleineren Parteien, die FDP deshalb, weil sie im Wahlkampf in den Fragen der Entspannungspolitik und der inneren Liberalität realistische Positionen eingenommen hat - Positionen, die aus der Zeit der sozialliberalen Koalition stammen und die von Herrn Strauß und der Stahlhelmgruppe der Union mit großer Erbitterung bekämpft wurden und nach ganz kurzem Waffenstillstand wieder mit der gleichen Erbitterung bekämpft werden. Die GRÜNEN haben zugenommen, weil sie den Protest gegen das geist- und hilflose „Weiter so" der Konservativen mit der Radikalität und der Unbedingtheit derer formuliert haben, die genau wissen, daß sie diesen Protest nicht in praktische Politik umsetzen müssen, ({18}) ja, die zum Teil als Fundamentalisten die Übernahme politischer Verantwortung überhaupt ablehnen. ({19}) Daß sich dennoch über drei Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger - Herr Präsident, Ihre Bemühungen sind wirklich dankenswert, aber daß Sie mir jetzt schon das rote Licht geben, ist zuviel Liebenswürdigkeit. ({20})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Dr. Vogel, das Licht ist nicht rot.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich empfinde das, Herr Präsident, als Zeichen der Sympathie, daß Sie mir die rote Farbe zeigen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Dr. Vogel, das war nicht rot, das war gelb. ({0})

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, wenn Sie erlauben, ich könnte Ihnen hier einen sehr guten Augenarzt empfehlen, der für Farbenblindheit ausgezeichnete Rezepte verfügbar hat. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, daß sich dennoch über 3 Millionen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger für die GRÜNEN entschieden haben, ist aus meiner Sicht ein Zeichen dafür, wie viele Menschen in unserem Volk die einfache Fortschreibung aller bisherigen Entwicklungslinien für unerträglich, ja, für lebensgefährlich halten. ({1}) Wir alle - auch Sie, Herr Bundeskanzler - wären gut beraten, das nicht zu verteufeln oder mit Ausgrenzung zu beantworten, sondern die Mahnung dieser 3 Millionen Stimmen - so interpretiere ich das - zu verstehen. Darin liegt ja gerade die Überlegenheit unserer politischen Ordnung gegenüber anderen Ordnungen, daß sich solche Mahnungen in aller Öffentlichkeit und, wenn sie genügend Unterstützung finden, hier im Parlament artikulieren können. Das ist eine Überlegenheit unserer Gesellschaftsordnung gegenüber anderen Gesellschaftsordnungen! ({2}) Meine Damen und Herren von der FDP, Ihre künftige Haltung auf dem Gebiet der Entspannungspolitik und der inneren Liberalität werden wir mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Sie wissen genau, daß Sie für Ihre Wahlaussagen auf diesen Gebieten in diesem Hause jederzeit eine Mehrheit finden, sei es für die Bejahung der politischen Bindungswirkung der Ostverträge, sei es für die Ablehnung jeder Verschärfung des Demonstrationsstrafrechts, um nur zwei Beispiele zu nennen. Um so härter werden wir jede Konzession anprangern, die Sie den Scharfmachern in der Union zugestehen. Erste Anzeichen dafür, daß Sie einmal mehr von dem abgehen werden, was Sie vor der Wahl zugesagt haben, sind bereits erkennbar. Die GRÜNEN werden sich entscheiden müssen, ob sie eine Protestbewegung, eine Bewegung des fundamentalen Nein, bleiben oder durch Übernahme von politischer Verantwortung, durch die Bereitschaft, auch Kompromisse einzugehen, und durch berechenbares Verhalten zur Durchsetzung umfassender Reformkonzepte beitragen wollen. ({3}) Ein für uns entscheidender Prüfstein ist dabei Ihre Haltung gegenüber dem Gewaltmonopol des Staates und gegenüber verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzen. Um es klipp und klar zu sagen: Gewaltanwendung ist für uns Sozialdemokraten als Mittel der Politik genauso unannehmbar wie ein Aufruf von Abgeordneten, verfassungsgemäß zustande gekommene Gesetze zu boykottieren. ({4}) Wir sehen durchaus, daß über beide Fragen in Ihren eigenen Reihen eine Auseinandersetzung geführt wird. Im Interesse unseres Volkes, im Interesse aller, die davon überzeugt sind, daß wir vieles ändern müssen, um uns eine lebenswerte Zukunft zu bewahren, wünschen wir, daß diese Auseinandersetzungen zu einem positiven. Ergebnis führen; denn ein Sieg der sogenannten Fundamentalisten würde die notwendigen Änderungen der Strukturen, würde Reformen nicht erleichtern, sondern geradezu blockieren. Die Reaktionär-Konservativen könnten sich in diesen Jahren nichts Besseres erhoffen! ({5}) Übrigens, meine Damen und Herren und Herr Bundeskanzler, weil ich von Gewaltanwendung gesprochen habe: Wir halten es auch für unannehmbar, wenn auf Veranstaltungen des Bauernverbandes in Anwesenheit namhafter Unionspolitiker Nachbildungen von Menschen, etwa die der Herren Narjes, Heereman und Pfeiffer, verbrannt werden. Es fällt auf, daß Sie, Herr Bundeskanzler, bei Ihren Ausführungen über die Verwerflichkeit der Androhung und der Ausübung von Gewalt dazu heute morgen geschwiegen und dazu kein einziges Wort gefunden haben. ({6}) Sie haben vor der Wahl, Herr Bundeskanzler, große Probleme, die offen zutage lagen oder sich schon deutlich abzeichneten, verdrängt. Sie haben alle Fakten, die nicht in Ihr strahlendes Zukunftsbild paßten, tabuisiert und diese Manipulation dann Optimismus, ja sogar Zuversicht genannt. Mehr noch: Sie haben jeden, der diesen Manövern, der diesem stupiden „Weiter so" widersprach, als Miesmacher, als Katastrophenpropheten denunziert. Aber, Herr Bundeskanzler, Sie merken es doch in diesen Tagen und Wochen: Die Probleme lassen sich nicht verdrängen, sie brechen immer weiter auf, und diese Probleme verlangen Antwort. Vor der Wahl haben Sie unaufhörlich vom stabilen Aufschwung und der ungebrochenen Konjunktur gesprochen, die noch lange andauern werde. Jetzt räumen selbst Ihre engsten Parteigänger in den wissenschaftlichen Instituten, in den Banken, in den Verbänden ein, daß sich die Konjunktur abflacht und die Anzeichen für einen näherrückenden möglichen Abschwung nicht mehr zu übersehen sind. Der Verfall des Dollarkurses, der Rückgang der Exporte, die sinkenden Auftragseingänge, das sind nur einige der Alarmzeichen. Wollen Sie, Herr Bundeskanzler - und da würden Sie sich intellektuell unter Wert verkaufen -, ({7}) behaupten, das alles sei Ihnen erst nach dem 25. Januar sichtbar geworden und zur Kenntnis gelangt? Vor der Wahl haben Sie immer wieder erklärt, die Arbeitslosigkeit gehe zurück; der Trend sei ungebrochen. Zehn Tage nach der Wahl - ganze zehn Tage, eine Dekade -, mußte Herr Franke, der Präsident der Bundesanstalt in Nürnberg, einräumen, daß die Zahl der Arbeitsuchenden im Januar 1987, also während Ihrer Wahlkampagne um fast 280 000 Männer und Frauen gestiegen ist. Im Februar hat sich diese Situation so gut wie nicht verändert. Die Massenarbeitslosigkeit verharrt damit im fünften Jahr Ihrer Regierung mit fast 2,5 Millionen Arbeitslosen - es wäre gut, Sie hätten diese Zahl heute morgen wenigstens einmal genannt - unverändert auf Rekordniveau, ({8}) und das, meine Damen und Herren - und das sage ich mit Sorge - nach einer Zeit des Aufschwungs. Wollen Sie uns im Ernst erzählen, diese Entwicklung der Arbeitslosigkeit sei Ihnen neu? Hat es etwa erst der Mahnwache der Stahlarbeiter auf dem Bonner Münsterplatz bedurft, um Sie auf die Krise der Stahlindustrie aufmerksam zu machen, die inzwischen für die betroffenen Regionen geradezu dramatische Formen angenommen hat? Hat Sie die Werftenkrise oder die alarmierende Entwicklung bei der Kohle auch am Abend des 25. Januar oder kurz danach überrascht? Vor der Wahl, Herr Bundeskanzler, haben Sie die Bauern beschwichtigt. Herr Kiechle wagte sogar in einem gedruckten, dem Haus zugeleiteten Bericht die Behauptung, die Bauern hätten doch gut verdient. Jetzt wird deutlich, daß in den nächsten 20 Jahren die Hälfte der noch vorhandenen Familienbetriebe zugrunde gehen wird, wenn die Politik des „Weiter so" fortgesetzt wird. ({9}) Herr von Heeremann, Bauernverbandspräsident und CDU-Abgeordneter in einer Person, ({10}) erhebt nicht nur gegen Brüssel, sondern gegen Sie und gegen Herrn Kiechle in Person die bittersten Vorwürfe - allerdings bezeichnenderweise erst nach dem 25. Januar. Vorher hat auch Herr Heeremann über die wahre Lage der Bauern geschwiegen. ({11}) Ähnlich ist es doch mit der Umweltsituation. Vor der Wahl starteten die chemische Industrie wie auch andere Unternehmensverbände mit Blick auf den Wahltermin eine millionenschwere Anzeigenkampagne unter der Devise: „Lieber Fisch, lieber Fluß", die dartun sollte, wie herrlich weit es Ihre Politik und die Industrie bei der Reinhaltung der Luft, des Bodens und der Gewässer doch gebracht hätten. Diese Kampagne wurde allerdings schon vor dem 25. Januar an der Sandoz-Katastrophe und den folgenden Rheinvergiftungen zunichte. Die Irrfahrten der hochverstrahlten Molkeprodukte kontrastierten nach der Wahl ebenso kraß mit ihren eigenen Beschwichtigungsfeldzügen nach der Katastrophe von Tschernobyl und den Versprechungen des Herrn Wallmann. Nein, Herr Bundeskanzler, das Bild, das Sie vor den Wahlen entworfen haben, war nicht realistisch. Dieses Bild sollte beschwichtigen, ja, ich befürchte sogar, es sollte täuschen. Ferdinand Lassalle hat einmal gesagt: „Alle politische Aktion besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht aus Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist. " - Das Wort gilt noch immer. Ihre Wahlkampagne war ein Musterfall politischer Kleingeisterei, nicht politischer Aktion. ({12}) Wie dem auch sei, ob Sie es wahrhaben wollen oder nicht: Die Probleme liegen auf dem Tisch, und sie erheischen Antworten. Wo sind jetzt Ihre konkreten Antworten? Bleiben Sie beim „Weiter so", oder haben Sie wenigstens in den Wochen seit dem 25. Januar neue und bessere Antworten gefunden? Es sieht nicht danach aus. Die sogenannten Koalitionsverhandlungen sind selbst von Ihren publizistischen Gönnern und Helfern ein Trauerspiel genannt worden. Ihre Regierungserklärung hat diesen Eindruck nicht widerlegt, sie hat ihn eher noch verstärkt. Sie ist eine in ihrer Rekordlänge weitschweifige Sammlung von allgemeinen Sätzen und von zahllosen, mitunter sehr beliebig anmutenden Details. Ein Zukunftsentwurf, von dem Inspiration ausgeht, ist und war die Regierungserklärung des heutigen Vormittags nicht. ({13}) Gewiß, Herr Bundeskanzler, in einigen Punkten sind Sie konkrét geworden: etwa bei der Senkung des Spitzensteuersatzes. Das hat zwar in den quälenden Wochen der Koalitionsverhandlungen Tage um Tage und Stunden um Stunden gedauert; aber dann haben Sie es zustande gebracht, was Herr Blüm - dort sitzt er - zu Recht einen Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer genannt hat. ({14}) Herr Bundeskanzler, Sie können sagen, was Sie wollen, und noch so lange, auch zweieinhalb Stunden lang, um den Kern der Sache herumreden: 25 000 DM - 25 000 DM! - weniger Steuern pro Jahr für den, der als Verheirateter 300 000 DM pro Jahr verdient, und rund 1 000 DM weniger für den Normalverdiener. Das ist und bleibt empörendes Unrecht. ({15}) Und wenn man bedenkt, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen - hier sind die Rentner mit eingeschlossen - seit 1982 bereits von 66 % auf 58 % gesunken und der entsprechende Anteil des Einkommens aus Unternehmenstätigkeit und Vermögen am Volkseinkommen in der gleichen Zeit von fast 34 % auf 42 To gestiegen ist mit der Folge, daß der Anteil der Arbeitnehmer am Volkseinkommen den niedrigsten Stand seit vielen, vielen Jahren erreicht hat, der Anteil der Unternehmenseinkommen und Vermögenseinkommen aber den höchsten Stand, dann ist das, was Sie vorschlagen, nicht nur ein Unrecht, sondern dann ist das geradezu eine soziale Provokation. ({16}) Daß Sie, Herr Blüm, nach den starken Reden, die Sie vor den Sozialausschüssen gehalten haben, dem zustimmen, daß Sie in einer Regierung bleiben, die das vorschlägt, das - so sage ich Ihnen voraus - kostet Sie bei den Arbeitnehmern den letzten Rest von Reputation, den Sie noch gehabt haben. ({17}) Herr Kollege Blüm, wenn jemand - lassen Sie mich das sagen - vier Jahre lang Darstellungs- und Wirkungsmöglichkeiten gehabt hat wie Sie und dann in seinem Wahlkreis ganze 29 % erreicht, dann, Kollege Blüm, ist das ein Zeichen für den Reputationsverlust, den der „alte " Blüm, den wir noch kannten, erlitten hat. ({18}) Sehr konkret, Herr Bundeskanzler, sind Sie auch bei der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes. Hier wollen Sie - so habe ich das heute morgen aus Ihrem Munde gehört - die Arbeitnehmer und ihre Organisationen erneut schwächen, diesmal - darauf läuft doch die Sache hinaus - durch die Schaffung eines konkurrierenden Betriebsrats für die leitenden Angestellten und durch die Förderung von Splittergruppen, die Sie sonst nicht entschieden genug verdammen und kritisieren können. Ich sage: Ist die Spitzensteuersatzsenkung ein Schlag ins Gesicht der Arbeitnehmer - frei nach Blüm - , dann ist das, was Sie mit dem Betriebsverfassungsgesetz vorhaben, ein Tritt in die Kniekehlen der Arbeitnehmer und eine erneute Herausforderung der Gewerkschaften. ({19}) Konkret ist weiter, daß Sie alle Verbesserungen sozialer Leistungen - das scheint der Punkt zu sein, in dem sich dann auch Herr Stoltenberg einmal durchgesetzt hat - auf das Ende der Legislaturperiode, auf 1990 verschieben, also auch die Verbesserungen, die Sie hier angekündigt haben, z. B. die Verbesserungen des Erziehungsgeldes, des Kindergeldes und - man höre - auch die notwendigen strukturellen Verbesserungen der Kriegsopferversorgung, die Sie noch im Dezember 1986, also wenige Wochen vor der Wahl, dem Reichsbund und anderen Verbänden versprochen haben und die Sie jetzt - in etwas umständlichen Formulierungen - bis auf das Jahr 1990 vertagen. Das haben Sie in Ihrer Regierungserklärung wohlweislich nicht in klaren und verständlichen Wendungen mitgeteilt. ({20}) Konkret ist, daß Sie die Reform des § 218 nun doch wieder durch ein Beratungsgesetz in Frage stellen wollen, das im Ergebnis staatliche Einflußnahme dort zur Geltung bringen will, wo nur Vertrauen und eine Einstellung weiterhelfen können, die sich ohne Zwang und ohne Druck bildet. Nur so ist Schutz des werdenden Lebens möglich. ({21}) Anderes in Ihrer langen Erklärung von heute morgen ist nur scheinbar konkret. So erklärte Herr Blüm nach den Koalitionsverhandlungen, die Fortdauer der Montan-Mitbestimmung sei nunmehr gesichert. In seiner gepflegten Ausdrucksweise, die auch den Adel der Sprache erkennen läßt, hat Graf Lambsdorff das als eine freche Verfälschung bezeichnet. ({22}) Herr Bundeskanzler, Sie haben mit beiden Herren nähere Kontakte und näheren Umgang. Ich frage Sie: Wer von diesen beiden Herren - Herr Blüm oder der Graf - ist nun eigentlich der freche Fälscher? Der eine Satz, den Sie dazu in Ihrer Regierungserklärung gefunden haben, läßt das wohlweislich offen. Um es deutlicher zu machen: Wenn Sie mich fragen würden, wer von den beiden frech ist, könnte ich mir selber eine Antwort ausdenken. Aber wenn es darum geht, festzustellen, wer der Fälscher ist, dann sind Sie gefragt. ({23}) Das meiste in Ihrer Erklärung erschöpft sich aber in allgemeinen Redewendungen, in vielen Formelkompromissen oder auch in Vertagungen. Nehmen wir einmal als Beispiel die Außenpolitik. Im Wahlkampf gab es da eine lärmende Auseinandersetzung zwischen den Herren Strauß und Genscher. War das eigentlich alles nur Theater? ({24}) Jetzt tun die Schaukämpfer, bei denen man vorher meinte, sie wollten sich gegenseitig an die Ressorts oder an die Gurgel oder sonstwohin, mit freundlichem Lächeln so, als wenn überhaupt nichts gewesen wäre. Alle seien doch schon immer für eine realistische Entspannungspolitik, sagen die Herren, ({25}) und alle seien für eine aktive Friedenspolitik. Das läßt doch alles wieder offen. Herr Bundeskanzler, wofür sind Sie denn nun eigentlich? ({26}) Was gilt denn, Herr Bundeskanzler? Sind Sie nun für oder gegen die politische Bindungswirkung der Ostverträge? Hat Herr Rühe, wie Sie am 6. Februar 1985 gesagt haben, auch in Ihrem Namen gesprochen, oder hat Herr Dregger recht, der sagt, das sei nur die Privatmeinung des Herrn Rühe, darum brauche man sich gar nicht zu kümmern? Was gilt denn nun? Ist die Oder-Neiße-Grenze politisch endgültig oder nicht? Oder sagen Sie den Vertriebenen auf ihren Versammlungen das eine und den anderen bei anderer Gelegenheit das andere? Was gilt denn? ({27}) Herr Bundeskanzler, gibt es in der DDR nun Konzentrationslager, oder war das, um mit Herrn Geißler zu sprechen, nur ein Black-out? ({28}) Sind Sie, Herr Bundeskanzler, für oder gegen offizielle Kontakte mit der Volkskammer der DDR? ({29}) Noch eine Frage: Wollen Sie - wie Herr Strauß - Waffen auch in Spannungsgebiete exportieren, etwa in die Golfregion, oder wollen Sie die Rüstungsexporte einschränken, wie wir das zu unserer Freude gelegentlich aus den Reihen der FDP hören? Nach Ihren heutigen Erklärungen und Ausführungen bleibt auch die Frage offen: Sind Sie jetzt eigentlich für oder gegen schärfere Maßnahmen zur Überwindung der Apartheid? Sollen wir weiter als die letzten Bundesgenossen von Botha gelten, oder sollen wir als die gelten, die mit der breiten Mehrheit der Vereinten Nationen klar Farbe bekennen und Position beziehen? ({30}) Ich fürchte, es muß sich wohl wieder jeder selbst einen Vers darauf machen. Wie wir das gewohnt sind, werden wir zu jedem Thema zwei Verse hören, den einen von dem Außenminister hier, den anderen von dem Neben-Außenminister in München. Der hat übrigens - schade daß Herr Diepgen nicht mehr da ist Dr. Vogel in einem Anflug neuer Erkenntnis den Berlin-Status dieser Tage zu einer heiligen und entbehrlichen Kuh erklärt. Wenn Sie das alles im unklaren lassen, Herr Bundeskanzler, dann mag das spekulative Geister anregen. Den deutschen Interessen - das weiß Ihr Außenminister - tut eine solche Unklarheit, eine solche Unberechenbarkeit der deutschen Außenpolitik in wichtigen Fragen empfindlichen Abbruch. ({31}) - Sie sind ein ungewöhnlicher Schlaumeier! ({32}) Wenn ich bis heute, Herr Feilcke, an Ihrer Intelligenz gezweifelt hätte - mit dieser Äußerung haben Sie jeden Zweifel ausgeräumt. ({33}) Ebenso unklar ist, was Sie auf dem Gebiet der inneren Sicherheit vorhaben. Hier haben Sie doch in Ihren Verhandlungen eigentlich nur beschlossen und Sie haben - ich kann mir vorstellen, daß das nicht angenehm ist - vortragen müssen, das FDP und CSU unter duldender Zuschauerrolle der CDU ihren Dauerstreit fortsetzen, beide übrigens auch im wohlverstandenen eigenen Wählerinteresse. Das läßt aber befürchten, daß die bestehenden Möglichkeiten zur Bekämpfung von Gewalt und Kriminalität deshalb nicht ausgeschöpft werden, weil Herr Zimmermann und andere Protagonisten schärferer Gesetze gar nicht an dem Nachweis interessiert sind, daß die geltenden Gesetze bei richtiger Anwendung völlig ausreichen. Da geht es vielmehr, wie Herr Strauß in schöner Offenheit mitgeteilt hat, um vorweggenommene Schuldzuweisungen für neue Anschläge. ({34}) Ist die Regierungserklärung auf solchen Gebieten unklar, aber redselig, so ist sie auf anderen Gebieten auffallend schweigsam, so insbesondere dort, wo es um die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit geht. Das Wort Massenarbeitslosigkeit kommt in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht vor. Den Begriff der Arbeitslosigkeit verwenden Sie immerhin an drei Stellen. Eine staatliche Verantwortung lehnen Sie im Ergebnis selbst da ab, wo ganze Regionen in Arbeitslosigkeit zu versinken drohen. Das ist keine Panikpropaganda. Wir wissen aus dem Mund von Stahlarbeitern, daß etwa in Hattingen eine Arbeitslosenquote von 30 % und mehr droht. Die Menschen in Hattingen oder Oberhausen, die heute für ihre Arbeitsplätze demonstrieren, an der Küste und an der Saar, in Peine, in Salzgitter, in Sulzbach-Rosenberg, das der Erwähnung in Ihrer Rede infolge bestimmter Initiativen teilhaftig geworden ist, oder in Nordhorn, das nicht erwähnt wurde, werden das mit Erbitterung hören. Denen hilft auch die sogenannte Qualifikationsoffensive nicht, die übrigens nur mit einem neuen Etikett versieht, was wir Sozialdemokraten in vielen Anträgen schon lange konkret gefordert haben. ({35}) Und was soll man sich eigentlich, Herr Bundeskanzler, unter dem vorstellen, was Sie heute morgen zur Kohle gesagt haben? Von der Zusage, daß Sie den Kohlepfennig in diesem Frühjahr erhöhen werden, einer Zusage, die Sie noch am 26. November 1986 vor der Mitgliederversammlung der Wirtschaftsvereinigung Bergbau gegeben haben, war heute in Ihrer langen Erklärung nichts zu hören, kein Wort. Was Sie ausgeführt haben, heißt doch für jeden Kenner der Materie im Klartext, daß Sie die Kohleförderung abbauen, weitere Zechen schließen und, was ich besonders bedenklich finde, die Notlage der Kohle als Druckmittel für die Zustimmung zum weiteren Ausbau der Atomkraft benützen wollen, ({36}) für einen Ausbau - das wissen doch die Bergleute ganz genau - , der dann die Kohle noch weiter aus der Grundlast und in der Folge alsbald auch noch aus der Mittellast verdrängt, so daß eine Spirale nach unten immer weiter in Gang bleibt. ({37}) Ihre einzige politische Antwort von Belang ist der Hinweis auf die von Ihnen beabsichtigten Steuersenkungen. Daß es sich dabei um eine empörende Benachteiligung der Normalverdiener handelt, habe ich schon dargetan. Es bleibt aber auch völlig offen, wie Sie den Ausfall von rund 45 Milliarden DM jährlich eigentlich ausgleichen wollen. ({38}) - Graf Lambsdorff, reden Sie mal lieber mit dem Blüm! ({39}) Niemand, Herr Bundeskanzler, glaubt Ihnen, daß Sie die Kraft aufbringen, in nennenswertem Umfang Subventionen abzubauen. Das versprechen Sie schon seit Jahren, während gleichzeitig unter Ihrer Verantwortung allein die Steuersubventionen seit 1982 um 50 % gestiegen sind. Es bleibt doch zur Deckung nur die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die zusätzliche Besteuerung der Weihnachtsfreibeträge ({40}) oder der Nacht- und Feiertagszuschläge und der Personalrabatte. ({41}). Und das, Herr Bundeskanzler, meinten Sie wohl, als Sie heute morgen sibyllinisch von Umschichtungen oder von einer Verbreiterung der Bemessungsgrundlage sprachen. Diese sich schon anbahnenden Dekkungen machen die Sache noch ungerechter und nehmen ihr überdies die nachfragesteigernde Wirkung; denn auf diese Weise nehmen Sie nicht den Spitzenverdienern, wohl aber den Normalverdienern mit der einen Hand das wieder weg, was Sie ihnen mit der anderen kärglich genug in Aussicht gestellt haben. ({42}) Die naheliegende Frage, ob die Summen, die über die Korrektur der sogenannten heimlichen Steuererhöhungen hinausgehen, nicht besser und wirksamer von der Gemeinschaft selbst für Investitionen, etwa zum Schutz oder zur Wiederherstellung der Umwelt oder zur Verbesserung der Gemeindefinanzen oder zum Abbau sozialer Ungerechtigkeiten, eingesetzt würden, hat Sie offenbar überhaupt nicht beschäftigt. Auch von der durchgreifenden Steuervereinfachung, die Sie einmal angekündigt haben, ist nicht mehr die Rede; davon ist nichts übriggeblieben. Das alles ist nicht solide, das sind ungedeckte Wechsel, die Sie auch zu Lasten der Länder und Gemeinden auf die Zukunft ziehen. Nicht ohne Grund reden ausgerechnet Sie, Herr Bundeskanzler, auf einmal - man höre und staune - einer Erhöhung der Neuverschuldung das Wort. Ausgerechnet Sie, Herr Bundeskanzler! Das ist ein Offenbarungseid, insbesondere des Herrn Stoltenberg, ({43}) der nur deswegen noch im Amt ist, weil Herr Strauß trotz Ihres liebenswürdigen Angebotes das Amt nicht übernehmen wollte. ({44}) Herr Stoltenberg, bisher als Säule des Kabinetts gefeiert, jetzt durch den Mund seines Kanzlers nur mehr zweite Wahl! Das hätte sich Herr Stoltenberg noch vor zehn Tagen nicht träumen lassen! ({45}) Die Regierungserklärung war nicht nur ermüdend und blaß, sie läßt auch nicht erkennen, auf welchen Grundlagen, auf welchem Gesamtprogramm sie eigentlich beruht. Im Gegensatz dazu haben wir Sozialdemokraten für unsere Politik einen Gesamtentwurf erarbeitet. ({46}) Er findet sich in den Beschlüssen, die wir im August vergangenen Jahres in Nürnberg gefaßt haben und in dem im Anschluß daran in Offenburg verabschiedeten Programm für diese Legislaturperiode. ({47}) Aus ihnen - den Beschlüssen und dem Programm - ergeben sich unsere alternativen Konzepte für die fünf aktuellen Schwerpunkte der deutschen Politik, nämlich für die Überwindung der Arbeitslosigkeit, die Wiederherstellung und Bewahrung der sozialen Gerechtigkeit und des sozialen Friedens, die Erneuerung unseres Verhältnisses zur Umwelt und zur Natur, die Verteidigung und Bewahrung der inneren Liberalität und schließlich die Sicherung des Friedens. ({48}) Für jeden dieser Schwerpunkte haben wir bereits konkrete Vorlagen eingebracht. Meine Kolleginnen und Kollegen werden zu den einzelnen Sachgebieten im Laufe der Debatte noch ausführlich Stellung nehmen. ({49}) Ich konzentriere mich deshalb auf einige der wesentlichen Fragen. An erster Stelle steht für uns auch in dieser Legislaturperiode die Überwindung der Arbeitslosigkeit. Sie, Herr Bundeskanzler, haben vor vier Jahren versprochen, die Arbeitslosigkeit werde bis 1985 auf eine Million zurückgehen. Das war ein leeres Versprechen. Sie haben es in der Zeit des Aufschwungs, in der Zeit der drastisch fallenden Ölpreise nicht gehalten. Heute haben Sie wieder Hoffnungen erweckt. Die werden Sie in der Zeit abflachender Konjunktur erst recht nicht erfüllen und verwirklichen können. Ihre Rezepte gegen die Arbeitslosigkeit haben bisher versagt; ({50}) sie werden auch in Zukunft nichts bewirken. Sie setzen nach wie vor nahezu allein auf quantitatives Wachstum und meinen, die schon beschlossenen und die für 1988 und 1990 angekündigten weiteren Steuersenkungen würden das Wachstum selbst bei nachlassender Konjunktur in Gang halten. Ich habe schon dargelegt, warum diese Rechnung nicht aufgehen kann. Massenarbeitslosigkeit - und hier liegt ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen Ihnen und uns - ist für uns nicht nur ein privates Problem der Betroffenen oder ein Problem der Wirtschaft. Massenarbeitslosigkeit ist vielmehr auch eine politische und gesellschaftliche Herausforderung ersten Ranges, die unsere ganze Gemeinschaft auf längere Sicht geradezu vergiften kann. ({51}) Deshalb bedarf es zu ihrer Überwindung einer ähnlich großen Gemeinschaftsanstrengung, zu der wir als Volk nach dem Krieg in Zeiten nationaler Armut bei der Eingliederung der Flüchtlinge und der Behebung der Wohnungsnot fähig waren. Kernstück dieser Gemeinschaftsanstrengung ist die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft, ist unser Projekt Arbeit und Umwelt, das jährlich 20 Milliarden DM zur Wiederherstellung zerstörter und zum Schutz bedrohter Umwelt verfügbar macht ({52}) und schon im ersten Jahr mehrere 100 000 Arbeitsplätze schaffen könnte. Das ist für uns ebenso ein Akt der Solidarität mit den Arbeitslosen wie die weitere Arbeitszeitverkürzung und die Verstärkung der Investitionskraft der Gemeinden durch die Verbesserung ihrer Einnahmen. ({53}) Wir werden Sie Punkt für Punkt mit unseren konkreten Vorschlägen konfrontieren. Im einzelnen wird es dabei um die Stärkung der kommunalen Finanz- und Investitionskraft, um die Modernisierung und finanzielle Konsolidierung der Bundesbahn, nicht um die Privatisierung - das klang bei Ihnen heute morgen ziemlich deutlich heraus - der Bundespost, sondern um die Erweiterung des Angebots öffentlicher Dienstleistungen, um die steuerstundende Investitionsrücklage für das Handwerk, von der heute morgen auch nicht die Rede war, und darum gehen, die Benachteiligung der Frauen auf dem Arbeitsmarkt abzubauen. Außerdem werden wir zur Unterstützung des Kampfes der Gewerkschaften um die 35-StundenWoche erneut eine Initiative für ein modernes Arbeitszeitgesetz ergreifen. ({54}) Sie, meine Damen und Herren, werden uns dann erklären müssen, warum Sie eigentlich noch immer an einer gesetzlichen Regelarbeitszeit von 48 Wochenstunden und an einer exzessiven Überstundenregelung festhalten wollen. Wir halten dieses Festhalten an einem Gesetz aus dem Jahre 1938 für - um mit Ihren eigenen Worten zu sprechen - dumm, absurd und töricht. ({55}) Wir versichern den Gewerkschaften auch von dieser Stelle aus unsere Solidarität. Sagen Sie nicht, unsere Vorschläge verstießen gegen die Marktwirtschaft. Wir bejahen den Markt als Instrument der Informationsverarbeitung, des wirtschaftlichen Einsatzes der vorhandenen Mittel, des Wettbewerbs und der Steuerung von Angebot und Nachfrage. Aber wir erheben den Markt nicht zum Götzen, dem beliebige Opfer darzubringen sind. ({56}) Wir kennen die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Marktes. Wir wissen und haben es in der Erfahrung beobachten können: Der Markt ist blind für die sozialen und regionalen Folgen seiner Entscheidungen. Deshalb bedarf er fester Rahmenbedingungen und auch korrigierender Eingriffe, wann und wo Schäden nicht anders abzuwenden sind. Ganz abgesehen davon, daß die Marktgesetze beim Stahl in Europa zu unseren Lasten außer Kraft gesetzt sind, bekräftige ich deshalb für die Sozialdemokraten: Was immer die Logik des Marktes besagt - das Aus für die Kohle, den Stahl und den Schiffsbau wird es mit uns Sozialdemokraten nicht geben. ({57}) Und wo Anpassungen notwendig sind, müssen sie von der Gemeinschaft sozial und regional erträglich gestaltet werden. Wir überlassen die Betroffenen nicht einfach ihrem Schicksal. Und lassen Sie mich das hier mit Freimut sagen: Wir lassen die Stahlarbeiter auch nicht eine Woche lang unbeachtet auf dem Bonner Münsterplatz stehen. Wir sprechen mit ihnen über ihre Not: auf dem Münsterplatz und gestern auch hier in unserer Fraktionssitzung. Ich würde es sehr begrüßen, wenn auch Sie, Herr Bundeskanzler, falls Sie es nicht inzwischen getan haben, ein unmittelbares Gespräch mit diesen gutwilligen Menschen führen würden. ({58}) Wir fordern eine nationale Stahlrunde unter Ihrem Vorsitz - die Sache ist wichtig genug, daß Sie in Person den Vorsitz übernehmen - , ein Konzept, das die Stahlstandorte in ihrem Kern erhält, ein Programm für diese Standorte im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsstruktur", aus der Sie, meine Herren, übrigens Hattingen noch bis vor kurzem streichen wollten - erst eine energische Intervention von nordrhein-westfälischer Seite hat die Verdrängung von Hattingen aus der Regionalen Gemeinschaftsaufgabe wenigstens zeitlich hinausgeschoben - , eine energische Intervention gegen die exzessiven Subventionen in anderen europäischen Ländern und die volle Ausschöpfung der Mittel des EG-Sozialfonds, die bisher an bundesrepublikanischen Vorschriften und nicht an Brüssel gescheitert ist. Ebenso fordern wir die Fortsetzung der Kohlevorrangpolitik. Ohne die nachhaltige Senkung der Arbeitslosigkeit ist soziale Sicherheit nicht zu gewährleisten. Sie zu gewährleisten, ist für den Sozialstaat ein Verfassungsgebot. Sie, Herr Bundeskanzler und Ihre Koalition, haben sowohl die soziale Gerechtigkeit als auch den sozialen Frieden nachhaltig beschädigt. Über die Verfassungsmäßigkeit der von Ihnen durch die Änderung des § 116 AFG herbeigeführten Eingriffe in die Koalitionsfreiheit und in die Ansprüche der Arbeitnehmer gegen die durch ihre Beiträge und nicht aus der Steuerkasse finanzierte Bundesanstalt in Nürnberg - Ansprüche, von denen das Bundesverfassungsgericht sagt, daß sie Eigentumscharakter haben - wird auf unseren Antrag das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Schon jetzt hat diese von Ihnen durchgesetzte Maßnahme im übrigen zu einer deutlichen Verhärtung zwischen den Tarifparteien und auf seiten der Arbeitnehmer zu einer verständlichen Verbitterung geführt. Herr Breit und Herr Fehrenbach werden Ihnen das bei der letzten Begegnung überzeugend dargelegt haben. In anderen Fällen werden wir Sie hier im Parlament zwingen, das von Ihnen begangene Unrecht zu korrigieren oder noch einmal vor aller Öffentlichkeit zu verantworten: Das Unrecht an den Arbeitnehmerkindern, denen Sie das Schüler-BAföG gestrichen haben. Oder das bittere Unrecht gegenüber den älteren Müttern, denen Sie, was immer Sie hier auch sagen, zu einem großen Teil noch immer das Babyjahr vorenthalten und von denen viele es auch nicht mehr erleben werden. ({59}) Oder das Unrecht, das Sie mit dem sogenannten Beschäftigungsförderungsgesetz vor allem Hunderttausenden von Frauen angetan haben, die nur auf Zeit eingestellt werden und deshalb keinerlei Kündigungsschutz besitzen, noch nicht einmal im Falle der Schwangerschaft. Zu den großen Problemen der sozialen Sicherung liegen unsere Konzepte bereits auf dem Tisch. Zur Rentenreform haben wir einen ausformulierten Entwurf vorgelegt, der Beiträge, Bundeszuschüsse und Rentenleistungen in ein langfristiges Gleichgewicht bringt. Ebenso haben wir zur Reform des Gesundheitswesens und zur Einführung einer Grundsicherung konkrete Vorstellungen entwickelt. Auf allen drei Feldern wie auch hinsichtlich des Pflegekostenrisikos, das immer mehr alte Menschen bedrückt und ihnen den Lebensabend vergällt, sind nunmehr Sie am Zuge. Wir haben Ihre Erklärungen gehört. Wir harren der Konkretisierung. Für unsere Umweltpolitik bleibt die Einsicht maßgebend, die der Herr Bundespräsident vor kurzem so umschrieben hat: Nur wenn wir die Natur um ihrer selbst willen schützen, wird sie uns Menschen erlauben zu leben. - Unsere konkreten Initiativen zur Aufnahme des Staatsziels Umweltschutz in das Grundgesetz, denen Sie sich jetzt nach jahrelangem Sträuben endlich anschließen wollen, unsere Vorschläge zur Einführung der Verbandsklage und für eine umweltfreundliche Chemiepolitik entsprechen dieser Einsicht, ebenso das Programm „Arbeit und Umwelt". Dieses Programm macht im übrigen deutlich, daß die Schaffung und die Sicherung von Arbeitsplätzen und der Schutz der Umwelt einander nicht widersprechen oder gar ausschließen. Richtig ist das Gegenteil. Der Schutz und die Wiederherstellung der Umwelt schaffen Arbeit. Umgekehrt sind auf Dauer nur umweltfreundliche Arbeitsplätze sicher. Das wissen die betroffenen Arbeitnehmer - etwa in der Chemie - selbst am besten. Deshalb verfängt der Versuch, sie gegen umweltschützende Maßnahme zu mobilisieren, immer weniger. ({60}) Sie haben heute morgen bei der Nutzung der Atomkraft „weiter so" gesagt und werten die damit verbundene Gefahr als ein Restrisiko, das man vernachlässigen könne. Wir hingegen sind in einem langen und schwierigen Lernprozeß zu der Erkenntnis gelangt, daß die Atomkraft nur noch für eine bestimmte und begrenzte Übergangszeit als Energiequelle verantwortet werden kann. Denn spätestens seit Tschernobyl steht in unserem Bewußtsein, daß das sogenannte Restrisiko der Atomkraft durchaus real ist, daß es im Falle seines Eintritts - das ist das Neue - Schäden verursacht, die weder eine zeitliche noch eine räumliche Grenze kennen und deshalb alle bisherigen Katastrophenerfahrungen der Menschheit weit übersteigen und daß es deswegen von fehlbaren Menschen, die weder eigenes Versagen noch Materialfehler oder Irregularitäten des Verfahrens mit völliger Sicherheit ausschließen können, nicht verantwortet werden kann. ({61}) Wir haben konkrete Vorstellungen entwickelt, wie wir, entsprechende Mehrheitsverhältnisse vorausgesetzt, im Zeitraum eines Jahrzehnts zu einer sicheren Energieversorgung ohne Atomkraft gelangen können. ({62}) Diese Vorstellungen sind nicht wissenschafts- oder technologiefeindlich, wie Sie ständig behaupten. Im Gegenteil: Wir Sozialdemokraten haben Vertrauen zu unseren Naturwissenschaftlern, zu unseren Ingenieuren und zu unseren Facharbeitern. Wir trauen ihnen zu, daß sie die gewaltigen Reserven der Energieeinsparung nutzen und alternative Arten der Energieerzeugung entwickeln können, wenn wir nur unsere Kräfte auf dieses Ziel konzentrieren. ({63}) Meine Damen und Herren, das Folgende sage ich jetzt mit einer betonten Nachdenklichkeit: Wenn es um neue militärische Technologien, wenn es um immer tödlichere Waffen oder Systeme geht, dann ist alles möglich, dann ist kein Aufwand zu hoch, dann ist keine Frist zu kurz. Von der ersten gelungenen Atomspaltung von Hahn, Meitner und Straßmann im Jahre 1938 bis zum Abwurf der ersten Atombombe hat es ganze sieben Jahre gedauert. Wir weigern uns, zu akzeptieren, daß Wissenschaft und Technik zu solchen Anstrengungen nur auf militärischem, nicht aber auf zivilem Gebiet fähig sein sollten. ({64}) Alle Anstrengungen im eigenen Land sind vergeblich, wenn der Frieden nicht gewahrt bleibt. Die Bewahrung des Friedens und die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist nach unserem Grundgesetz oberste Richtschnur für unser gesamtes staatliches Handeln. Wir bejahen das Atlantische Bündnis, nicht um seiner selbst willen, sondern als ein Mittel zur Bewahrung des Friedens. Ebenso bejahen wir die Bundeswehr. Auch sie ist für uns ein Mittel der defensiven Kriegsverhütung und findet darin ihre Rechtfertigung, aber auch die Grenzen ihres Auftrags. Wir anerkennen das Engagement derer, die den Wehrdienst absolvieren oder den Dienst in der Bundeswehr als Beruf gewählt haben. Wir anerkennen ebenso mit Dank das Engagement derer, die auf Grund ihrer Gewissensentscheidung Zivildienst leisten. ({65}) Das Bündnis beruht auf einer Übereinstimmung der Verbündeten darüber, wie eine Gesellschaft verfaßt, wie die Machtausübung des Staates gegenüber seinen Bürgern begrenzt sein soll. Diese Übereinstimmung ist auch das Fundament unserer freundschaftlichen Beziehungen mit den Vereinigten Staaten. Das Bündnis hat für uns einen hohen Wert. Es bedeutet aber keine Preisgabe der Souveränität, keinen Verzicht auf die Geltendmachung unserer nationalen Interessen und keine Verpflichtung, allen Ansichten und Initiativen der jeweiligen US-Administration kritiklos und womöglich noch mit Beifall zu folgen. ({66}) Deshalb sage ich: Nicht wenige Entwicklungen der amerikanischen Politik erfüllen uns mit Sorge. Das gilt unverändert für das gigantische Leistungsbilanzdefizit. Das gilt für die Handhabung der Nah-Ost-Politik, bei der die Kriterien dafür, wann bei vergleichbaren Sachverhalten Luftangriffe befohlen und wann Raketen oder andere Waffen geliefert werden, nicht mehr deutlich zu erkennen sind. ({67}) Das gilt für die Interventionspolitik in Mittelamerika. Und das gilt auch für die Schwächeerscheinungen, die sich infolge der Iran-Affäre im Verlauf der zweiten Amtszeit des Präsidenten bemerkbar machen. Im Bündnis widersprechen wir der Fortsetzung des atomaren Rüstungswettlaufs und seiner Ausdehnung auf den Weltraum. Wir fordern einen unverzüglichen und umfassenden Atomteststopp und bedauern, daß das anderthalbjährige Moratorium der einen Seite nicht genutzt worden ist, um hier tatsächlich zu einem Durchbruch zu kommen. ({68}) Wir unterstützen die sofortige Verwirklichung der Null-Lösung. Ihre Behauptung heute morgen, Herr Bundeskanzler, Sie hätten wesentlich dazu beigetragen, daß die Null-Lösung jetzt eine Chance habe, ist schon deswegen wenig eindrucksvoll, weil die lautesten Gegner der Null-Lösung, weil diejenigen, die sie umfaßt, um jeden Preis verhindern wollen, doch in Ihren eigenen Reihen, insbesondere in den Reihen der CSU, sitzen. ({69}) Ein konstruktiver Beitrag zur Verminderung der Bedrohung durch taktische Atomwaffen ist der atomwaffenfreie Korridor. Wird er nämlich verwirklicht, erreicht die Masse der Kurzstreckenraketen nur noch das eigene Territorium, nicht mehr aber das eines anderen Staates. Es ist auch deshalb immer schwerer zu begreifen, warum Sie diesen Vorschlag nicht aufnehmen und zum Gegenstand ernsthafter Verhandlungen mit der DDR-Führung machen. ({70}) Seit dem Harmel-Bericht vom Dezember 1967 - und hier stimme ich Ihnen zu - hat sich das Bündnis dafür entschieden, die Politik der Kriegsverhütungsfähigkeit mit einer Politik der Entspannung zu verknüpfen. Die von uns, vor allem von Willy Brandt und - ihn darf ich an seinem heutigen Geburtstag ausdrücklich erwähnen - Egon Bahr eingeleitete erste Phase der Entspannungspolitik war überaus erfolgreich. ({71}) Sie hat die Lebensverhältnisse der Menschen in beiden Teilen Europas, insbesondere aber in den beiden deutschen Staaten, in einem Maß verbessert, das zu Beginn der 70er Jahre fast unvorstellbar gewesen wäre. ({72}) Selbst die Aktivitäten der Stahlhelm-Abteilung und Ihre eigenen Fehlleistungen wie etwa dieser schlimme Vergleich haben die von uns Sozialdemokraten gegen Ihren erbitterten Widerstand in Gang gesetzte Dynamik dieses Prozesses nicht nachhaltig beeinträchtigen können. Nunmehr ist die Zeit reif für eine zweite Phase der Entspannungspolitik. Veränderungen in der Sowjetunion bieten dafür eine zusätzliche Chance. Es bleibt abzuwarten, ob Ihre heutigen Ausführungen ausreichen, um die Hindernisse zu beseitigen, mit denen Sie selbst im Herbst letzten Jahres diese Chance zunächst einmal verbaut und verbarrikadiert haben. ({73}) Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, daß es so sein möge. Es liegt doch in unserem nationalen Interesse, diese Chance für eine breitere wirtschaftliche Zusammenarbeit, für einen stärkeren kulturellen Austausch, für eine intensivere Begegnung der Menschen und für eine immer größere Durchlässigkeit der Grenzen zu nutzen. Wir haben doch dabei nichts zu befürchten. Im Gegenteil: Der Abbau von Feindbildern und der friedliche Wettbewerb der Gesellschaftsordnungen werden sich zugunsten der Menschenrechte und zugunsten der Stabilisierung in Europa auswirken. ({74}) Das gilt vor allem auch für unser Verhältnis zu Polen, mit dem der von Willy Brandt eingeleitete Versöhnungsprozeß weiter voranschreiten muß. In einer neuen Phase der Entspannungspolitik müssen auch die Beziehungen der beiden deutschen Staaten weiter ausgebaut werden. Ansatzpunkte dafür gibt es genug. Sie haben die wichtigsten genannt. Ich nenne außerdem den Dialog über die Friedenssicherung in Mitteleuropa und über abgestimmte Initiativen zur Vertrauensbildung und zur Abrüstung unter Wahrung der beiderseitigen Bündnisloyalität. Entscheidend ist und bleibt dabei für uns die Lebenssituation der Menschen: daß sie öfters reisen können, daß die in Helsinki vereinbarte Freizügigkeit langsam genug, aber doch Fortschritte macht, daß - ich glaube, dies ist ein ganz wichtiger Punkt - mehr und mehr Bundesbürgerinnen und Bundesbürger die Städte und Landschaften der DDR aus eigener Anschauung kennen, ({75}) daß wir den Stolz der Menschen dort auf ihre Leistungen verstehen und respektieren, daß wir bei aller Ablehnung der dortigen Gesellschaftsordnung lernen, daß nicht alles in der DDR schlechter, manches nur anders, manches auch besser als bei uns ist; das ist wichtig. ({76}) Um einen weiteren Fortschritt zu erreichen, müssen wir aber auch auf die Wünsche der DDR eingehen, deren Erfüllung weder dem Grundgesetz noch unseren wohlverstandenen Interessen widersprechen. Daß es bei der Erfassungsstelle Salzgitter, und bei der Festlegung der Elbegrenze Spielräume gibt, hat vor kurzem - ich darf mich auf ihn berufen - der rhein84 land-pfälzische Ministerpräsident bestätigt. Wir sollten diese Spielräume in unserem Interesse nutzen. Damit könnte die Mauer, deren völlige Beseitigung unser Ziel bleibt, wieder ein Stück durchlässiger werden. Damit stärken wir zugleich die Gemeinschaft der Geschichte, der Kultur, der Sprache und der Gefühle, d. h. aber die nationale Gemeinschaft, die uns in beiden deutschen Staaten unverändert verbindet und die zu pflegen und zu bewahren uns die Präambel des Grundgesetzes aufgibt, eine Position, die niemand von uns in Frage stellt. ({77}) Übrigens beobachten wir mit Schmunzeln, wie sich hohe Repräsentanten Ihrer Partei voller Eifer und bis an die Grenze der Beflissenheit darum bemühen, ihren Gesprächsrückstand mit der DDR-Führung aufzuholen. Wie wir am vergangenen Wochenende beobachten konnten, kommt es bei diesen Versuchen mitunter zu regelrechten Stauungen. Aber wir sind überzeugt: Frau Wilms wird die Sache jetzt in Ordnung bringen und für eine bessere Koordinierung sorgen. ({78}) Ein Brennpunkt der deutsch-deutschen Beziehungen und der Ost-West-Beziehungen ist und bleibt Berlin. Namens meiner Fraktion erneuere ich unsere Bereitschaft zur Kooperation in Fragen, die Berlin betreffen. Zwei Probleme der Stadt stehen jetzt im Vordergrund: die Bewältigung der neuerdings auch in Berlin wieder steigenden Arbeitslosigkeit und die dauernde Sicherung der Altbaumieter, deren Schutz sonst vom Jahre 1988 an auslaufen würde. Wir werden Ihnen dazu alsbald einen konkreten Vorschlag unterbreiten. Eine weitere Entscheidung, so meinen wir Sozialdemokraten, ist überfällig, nämlich die über die Einladung des Regierenden Bürgermeisters zum Staatsakt der DDR aus Anlaß des 750jährigen Stadtjubiläums. Herr Diepgen sollte diese Einladung jetzt ohne Rücksicht auf den Widerstand, der sich in der CDU bis in den Berliner Senat hinein bemerkbar macht, unverzüglich in aller Form annehmen. ({79}) Das kann dann durchaus mit der Rechtsverwahrung hinsichtlich des Vier-Mächte-Status verbunden werden, die Richard von Weizsäcker anläßlich des Besuches artikulierte, den er als Regierender Bürgermeister dem Staatsratsvorsitzenden schon 1983 abgestattet hat. In der Forderung nach einem starken und handlungsfähigen Europa stimmen wir überein. Die Handlungsfähigkeit muß sich allerdings zunächst einmal bei der Lösung des Problems bewähren, das die Gemeinschaft seit Jahren vor sich herschiebt, ich meine: bei der Reform der europäischen Agrarpolitik. ({80}) In Wahrheit, meine Damen und Herren, handelt es sich dabei schon lange nicht mehr um Politik, sondern um einen handfesten Skandal, der zum Sprengsatz der Gemeinschaft werden kann, wenn wir ihn nicht überwinden. ({81}) Dieser Skandal verschlingt immer höhere Milliardenbeträge, zuletzt, 1986, 47 Milliarden, davon rund 15 Milliarden aus unserem EG-Beitrag, damit Produkte, für die keinerlei Bedarf besteht, zunächst erzeugt, dann mit hohen Kosten eingelagert und schließlich mit noch höheren Kosten auf dem Weltmarkt abgesetzt, verschenkt oder sogar vernichtet werden. Diese Politik beraubt Europa der Mittel, die es für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, für die Behebung der Stahlkrise und für die regionale Strukturförderung dringend benötigt, und sie ruiniert unsere bäuerlichen Familienbetriebe in immer rascherem Tempo. Die Kommission, zu der ja immerhin auch Ihr Parteifreund Narjes gehört, bemüht sich um eine Änderung dieser Politik. Dabei mögen der Kommission im einzelnen bei ihren Vorschlägen Fehler und Irrtümer unterlaufen; aber zur Grundrichtung ihrer Vorschläge - Verminderung der Produktion, Einfügung stärkerer Marktelemente, direkte Einkommensübertragungen - gibt es nach unserer Überzeugung keine vernünftige Alternative. ({82}) Es ist doch sinnlos, Herr Bundeskanzler, ja kontraproduktiv, wenn Sie Herrn Kiechle dagegen frontal anrennen und von Kriegserklärungen reden lassen oder Ihrem Parteifreund Narjes mit der Abberufung drohen. Das hilft den deutschen Bauern nicht und führt uns auch innerhalb der EG nur in die totale Isolierung, die dann auch Sie nicht mehr durchbrechen können. ({83}) Wir werden jedenfalls einer Fortsetzung eines solchen politischen Kurses und weiteren mengenorientierten Subventionen, in welcher Form auch immer, entschieden widersprechen, flächenbezogene Hilfen und direkte Einkommensübertragungen hingegen unterstützen. Unterstützen, weil unsere Gesellschaft und unsere Kulturlandschaft wohl auf Agrarfabriken, nicht aber auf die bäuerlichen Familienbetriebe und die bäuerliche Lebensform verzichten kann. Sie wäre ärmer, wenn es dies nicht mehr gäbe. ({84}) Auch von der Agrarpolitik abgesehen droht der Gemeinschaft nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte ein Zustand der Ermattung, indem die Enttäuschung oder die alltäglichen Streitigkeiten und Unzulänglichkeiten den Fortgang des Einigungsprozesses lähmen. Dem dürfen wir nicht nachgeben. Im Gegenteil: Wir brauchen gerade jetzt eine europäische Initiative, die das wirtschaftliche, das geistige und das historische Gewicht Europas gegenüber den beiden Weltmächten zum Tragen bringt, die ja zunehmend mit sich selber beschäftigt sind. Gerade jetzt in dieser Phase hätte Europa die Chance, nicht länger nur Objekt der InteressengegenDr. Vogel Sätze der Weltmächte zu sein. Es könnte endlich ein Mitspracherecht bei den Entscheidungen einfordern, die sein eigenes Schicksal betreffen. Es kann auf die Dauer nicht richtig sein, daß die beiden Weltmächte in Genf über unser Schicksal verhandeln, und Europa sitzt dort nicht mit am Tisch. ({85}) Dazu bedarf es des engsten Einvernehmens mit Frankreich, dazu bedarf es eines überparteilichen Ansatzes, der über die herkömmlichen Fronten hinweg allen kooperationswilligen Kräften die Beteiligung ermöglicht. Für meine Fraktion wird Kollege Ehmke am Freitag dem Deutschen Bundestag das Konzept einer solchen Initiative vortragen. Eine solche europäische Initiative ist nicht das einzige Thema, bei dem uns eine Zusammenarbeit über die Fraktions- und Parteigrenzen hinweg in diesem Hause mit dem Ziel geboten und möglich erscheint, daß wir über die Fraktionsgrenze hinweg zu einer gemeinsamen Antwort kommen. Diese Gemeinsamkeit haben wir beispielsweise bisher - und ich danke dafür - bei den Bemühungen um die Rettung unserer im Libanon entführten Landsleute praktiziert. Wir appellieren - und ich nehme an, Sie alle schließen sich dem an - auch bei dieser Gelegenheit an alle, die dazu etwas beitragen können, alles zu tun, damit diese und alle übrigen Geiseln aus dem Libanon zu ihren Familien zurückkehren können. ({86}) Dabei wissen wir aus den Erfahrungen der 70er Jahre, die wir ja auch gemeinsam bestanden haben, daß Anschlägen dieser Art nur durch eine Haltung begegnet werden kann, die Festigkeit, Geduld und Klugheit miteinander verbindet, die - wie Helmut Schmidt das seinerzeit formuliert hat - nichts versäumt und nichts verschuldet. Es entspricht seit 1949 einer guten Tradition, daß Opposition und Regierung die großen Entscheidungen zur Weiterentwicklung und Reform der sozialen Sicherungssysteme, insbesondere der Alterssicherung gemeinsam tragen. Wir sind dazu bereit, diese Tradition im Interesse der großen Teile unseres Volkes, um deren Wohlfahrt es dabei geht, fortzusetzen. Allerdings - ich habe das schon zum Ausdruck gebracht - würde diese Bereitschaft erheblich Schaden leiden, wenn Sie an der Absicht festhalten, uns nach Jahrzehnten den Vorsitz im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu nehmen. ({87}) Wir würden es begrüßen, wenn auch in der Ent-spannungs-, der Ost- und der Deutschlandpolitik die Elemente der Übereinstimmung wieder deutlicher hervortreten würden. Das hängt allerdings in erster Linie davon ab, ob sich in den Reihen der Union die Linie der Vernunft durchsetzt oder ob die sogenannte Stahlhelmgruppe die Oberhand behält. Mit deren Positionen - damit da kein Irrtum entsteht - ist für Sozialdemokraten keine Gemeinsamkeit möglich. ({88}) Zusammenarbeit erfordert schließlich die große Herausforderung, die wir in ihrer ganzen Tragweite erst in den letzten Wochen und Monaten erkennen. Ich meine die Herausforderung durch AIDS. Wenn wir dieser Herausforderung begegnen wollen, müssen wir zunächst einmal realisieren, daß die durch die neue Krankheit geschaffene Situation nicht nur eine medizinische, sondern auch eine eminent gesellschaftspolitische Dimension besitzt. Dies vor allem deshalb, weil gegenüber der Krankheit auf nicht absehbare Zeit in Ermangelung medizinischer Immunisierungs- und Heilungsmethoden nur nachhaltige Veränderungen menschlichen Verhaltens im Intimbereich, d. h. konkret der Sexualpraktiken, Schutz bieten. Und weil die aktuelle Gefahr besteht, daß die latent vorhandene Neigung zur Diskriminierung von Minderheiten, die von einzelnen konservativen Gruppen ohnehin bei jeder Gelegenheit gefördert wird, hier voll zum Tragen kommt und sich explosionsartig unseres Volkes bemächtigt. ({89}) Wer Konsens erreichen will, muß jede Hysterie, wie sie leider in den letzten Wochen durch einzelne Massenblätter gefördert worden ist, vermeiden. Er muß den Willen zur persönlichen Verantwortung stärken und vor allem ein gesellschaftliches Klima des Vertrauens darauf erhalten, daß es bei diesen Maßnahmen um Schutz und Hilfe, nicht aber um Verteufelung, Ausgrenzung oder gar um Brandmarkung geht. ({90}) Die in Bayern beabsichtigten Repressionsmaßnahmen, die weit ausgedehnten Meldepflichten, Zwangsuntersuchungen in einer Vielzahl von Fällen und Berufs- und Zugangsverbote nicht nur für Risikopersonen, sondern beispielsweise für den gesamten öffentlichen Dienst, werden von uns aus all diesen Gründen mit Entschiedenheit abgelehnt. Diese Repressionsmaßnahmen werden im Falle ihrer Verwirklichung einen Konsens von vornherein unmöglich machen. Hingegen erscheint ein solcher Konsens auf der Grundlage der von Frau Kollegin Süssmuth bisher beachteten Ansätze denkbar. Diese Ansätze dürfen jedoch nicht verschüttet werden. Sie bedürfen vielmehr der Weiterentwicklung und der Ergänzung. Wir werden dafür konkrete Vorschläge vorlegen und sind im übrigen jederzeit gesprächsbereit. Schon vorweg sollten wir uns jedoch hier in diesem Hause auf eine Enquete-Kommission verständigen, in der sich Politik und Wissenschaft gemeinsam um die Analyse der Gefahren und um die wirksamsten Wege zu ihrer Eindämmung bemühen. Dies wäre auch ein Signal an unser Volk, das dieses Haus über alle Gegensätze hinweg zu einer gemeinsamen Anstrengung in dieser Frage fähig ist. ({91}) Herr Bundeskanzler, wir vermissen in wichtigen Punkten Ihre Antworten auf die Probleme, die heute konkret auf der Tagesordnung stehen. Aber wir vermissen ebenso Ihren Beitrag zur Diskussion der gro86 Deutscher Bundestag - 1 i. Wahlperiode Dr. Vogel ßen Fragen, die über den Tag hinausreichen. Sie sprechen so häufig von der geistig-politischen Krise, in der sich unser Volk befinde, ({92}) und von der Notwendigkeit der geistig-moralischen Erneuerung. Aber da bleibt vieles verschwommen, da wird keine Orientierung sichtbar. Da wird nicht sichtbar und deutlich, welches Menschenbild und welches Staats- und Gesellschaftsverständnis eigentlich Ihrer Politik zugrunde liegt. Erst recht wird nicht deutlich, ob Ihre Politik das Ausmaß und die Intensität der Gefahren überhaupt erkannt hat, die es zu überwinden gilt und, so füge ich hinzu, zu deren Überwindung unser Volk auch fähig ist, wenn wir sie nur erkennen und aus dieser Erkenntnis die richtigen Schlüsse ziehen. ({93}) Das ist unser Optimismus, Herr Bundeskanzler, unsere Zuversicht, die in der kritischen Rationalität wurzelt und die auf die solidarischen Kräfte unseres Volkes vertraut. ({94}) Bei Ihnen schimmert auch in grundsätzlichen Fragen durch alle Ritzen das in seiner Banalität so bedrohliche „Weiter so", das Ihren Optimismus aufgesetzt und mitunter oberflächlich erscheinen läßt. So oberflächlich wie den Umgang mit der Zukunft, die Sie zwar in zierlichem Blau auf Ihre Plakate gemalt haben, weil Sie meinen, so den Begriff der Zukunft okkupieren zu können, vor dessen inhaltlichen Dimensionen Sie aber gerade in Ihrer Erklärung heute morgen zurückgeschreckt sind und kapituliert haben. ({95}) Wir Sozialdemokraten haben gelernt: Die Macht der Menschen, etwas zu tun und in Raum und Zeit in weite Zukünfte hinein zu bewirken, ist in gewaltiger, ja, in erschreckender Weise über ihre Fähigkeit und Bereitschaft hinausgewachsen, Entwicklungen vorherzusehen, die möglichen Folgen ihres Tuns im voraus zu bewerten und das, wozu sie fähig sind oder fähig werden könnten, auch aus Einsicht zu unterlassen und nicht zu tun. Wir wissen: Die ethisch-moralische Kraft des Menschen hat mit dem unglaublichen Anwachsen seiner Zerstörungs- und Vernichtungskraft bisher nicht Schritt gehalten. Seine Kraft, auch die schädlichen Folgen seines Tuns, die er nicht beabsichtigt, vorauszusehen, steht nicht mehr mit dem gigantischen Ausmaß dieser möglichen Schäden im Einklang. Darum sind wir nicht mehr bereit, die technische und die ökonomische Entwicklung unkontrolliert dem Selbstlauf und dem Prinzip des grenzenlosen Wachstums zu überlassen. Sie sagten heute morgen wieder: Fortschritt hatte schon immer seinen Preis. Herr Bundeskanzler, hier liegt ein essentieller Unterschied zwischen Ihnen und uns: Wir sind nicht mehr bereit, diese Gleichung nach dem Motto „Weiter so" einfach hinzunehmen und mit dieser Gleichung zu leben. ({96}) Darum sind für uns auch die bisherigen Strukturen nicht unantastbar, darum sagen wir dort „Nicht weiter so", wo das „Weiter so" in den Abgrund oder zu Ergebnissen führen würde, die mit unserem in Jahrtausenden gewachsenen Menschenbild unvereinbar sind. Zu diesem Menschenbild gehört - jedenfalls für mich - auch die Gottunmittelbarkeit jedes einzelnen Menschen, die es kategorisch verbietet, Menschen zum Objekt zu erniedrigen oder gar noch ungezeugte Generationen in die Jahrtausende hinein der Willkür von ihnen nicht mehr beherrschbarer Prozesse auszuliefern. ({97}) Dazu gehört - hier mag es dann Übereinstimmung geben - die Ehrfurcht vor allem Lebendigen, und dazu gehört ebenso, daß sich Menschen nicht für unfehlbar oder allmächtig erklären, auch nicht in der Großtechnologie, sondern daß sich die Menschen ihrer Unvollkommenheit bewußt bleiben. ({98}) Diese Einsichten führen uns beispielsweise zu der Forderung, die Atomenergie zu überwinden und auf jede Genmanipulation zu verzichten. Natürlich brauchen wir auch in Zukunft Kapital für Investitionen, und wir brauchen ebenso die Technik und ihre Weiterentwicklung, aber wir wollen - übrigens im Einklang mit der katholischen Soziallehre -, daß die Arbeit das Kapital in den Dienst nimmt, nicht umgekehrt. ({99}) Wir wollen, daß die Technik dem Menschen dient, nicht aber ihn zum Anhängsel macht. Und wir wollen - um es mit den Worten Adornos auszudrücken - eine Gesellschaft, die - jetzt zitiere ich wörtlich - aus Freiheit Möglichkeiten ungenutzt läßt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen. ({100}) Um das zu erreichen, brauchen wir mehr Nachdenklichkeit und eine Veränderung des Bewußtseins, zu der uns übrigens gerade beide Kirchen immer wieder auffordern. Wir brauchen mehr Demokratie, mehr Mitwirkung. Wir brauchen die Einbindung von Wissenschaft und Technik in die politische Verantwortung. Wir brauchen - ich drücke es mit meinen Worten aus - mehr weibliche Grunderfahrungen und Denkweisen in der Politik ({101}) und schon deshalb, nicht nur aus zahlenmäßigen Erwägungen, mehr Frauen in der Verantwortung. ({102}) Wir brauchen mehr Selbertun, wir brauchen mehr Selbstverantwortung des einzelnen, und wir brauchen die Wiederbelebung des ursprünglichen Genossenschaftsgedankens. Aber wir brauchen ebenso Solidarität, das Füreinander-Einstehen, auch in der Vielfalt der Vereine, Gruppen und Initiativen, auch der Initiativen, die uns hier lästig sind, weil noch nie ein Fortschritt erzielt worden ist, ohne daß es zunächst Gruppen gab, die den Mehrheiten lästig waren; ({103}) ein Füreinander-Einstehen, das die Sorge für andere eben nicht allein den anonymen Großorganisationen überläßt. Wir hätten gerne genauer gehört, wie Sie zu all diesen Fragen stehen. Einer aus Ihren Reihen, der darüber nachgedacht hat, der frühere Leiter der Planungsabteilung im Adenauer-Haus, hat die Ansicht geäußert, daß Sie mit Rezepten von gestern arbeiten, die heute nicht mehr taugen. Herr Biedenkopf artikuliert diese Zweifel ja noch nachdrücklicher. Ich fürchte, diese Herren - auch Herr Biedenkopf - haben recht. Vieles von dem, was Sie sagen und auch heute gesagt haben, läßt Sie als Epigonen der „Reaganomics", als Nachfahren einer konservativen Welle erscheinen, die sich in ihrem Ursprungsland inzwischen schon zu verlaufen beginnt, jedenfalls ihren Höhepunkt dort bereits überschritten hat, Als Epigone dieser Strömung erscheinen Sie übrigens auch mit Ihrer Geschichtspolitik, mit der Art und Weise, wie Sie trotz Ihrer gegenteiligen Beteuerungen die Geschichte zur Stabilisierung Ihres Einflusses zu instrumentalisieren und mit Beschlag zu belegen versuchen. Herr Bundeskanzler, es ist doch kein Zufall, daß der Historikerstreit über die Singularität oder die Vergleichbarkeit von NS-Verbrechen mit anderen Geschehnissen gerade in Ihrer Ägide und unter Assistenz des Ihnen doch nicht unbekannten Herrn Professor Stürmer in Gang gekommen ist. ({104}) Es ist doch kein Zufall, daß gerade jetzt gefordert wird - übrigens nicht von irgend jemandem, sondern von Herrn Strauß -, mit den „Demutsreden aus allerhöchstem Munde" - wen wird er da wohl gemeint haben? - müsse endlich Schluß sein. Warum eigentlich, Herr Bundeskanzler - und das frage ich in großem Ernst - , sind Sie in Ihrer Regierungserklärung, in der für alles und jedes Platz war, auf die Verfolgten der Gewaltherrschaft, die noch heute auf eine Wiedergutmachung warten, die zumindest auf eine Verbesserung der Härtefallregelung hoffen, mit keinem Wort eingegangen? ({105}) Sie sagen zu all dem „Weiter so"? Selbstzweifel sind Ihnen eben fremd. ({106}) Wir erleben zur Zeit, wie Generalsekretär Gorbatschow mit eindrucksvollem Engagement und bemerkenswerter Risikobereitschaft versucht, die erstarrten Strukturen seines Gesellschaftssystems zu lockern und die Rahmenbedingungen dieses Systems in wesentlichen Punkten zu verändern, wie er, der wohl nicht zufällig von dem „Haus Europa" spricht, versucht, sein Land europäischen Grundströmungen stärker zu öffnen. Sie haben das zunächst einmal als Propaganda abgetan. Heute haben Sie diese Beurteilung und Einschätzung erfreulicherweise etwas korrigiert. Und Sie haben angedeutet, daß sich die Sowjetunion anschicke, sich auch Erfahrungen anderer zu eigen zu machen und daraus zu lernen. Das ist sicher richtig. Aber, Herr Bundeskanzler, gibt es denn nicht auch bei uns die Gefahr der Erstarrung? Auch Sie erklären doch Ihnen vertraute Annahmen, etwa die Sachzwänge der Wachstumsphilosphie, die These von der Wertfreiheit des technischen Fortschritts und der Forschung, überhaupt die meisten überkommenen Strukturen für unantastbar. Und Sie leugnen doch mit dem, was Sie heute vorgetragen haben, daß wir uns in einem tiefen Umbruch befinden. ({107}) - Wir können ruhig eine kleine Pause machen. Ich sehe, daß meine Anregungen hier auf fruchtbaren Boden fallen. Das Kabinett berät bereits. ({108}) Dem entspricht Ihre Neigung, Tatsachen auszublenden, die nicht zu Ihren Annahmen passen, und einzelne, aber auch ganze Gruppen auszugrenzen, als nicht mehr zur Gemeinschaft gehörig erscheinen zu lassen, wenn sie Ihren Annahmen widersprechen. Gruppen, die nicht warten wollen, bis Strukturen zerbrechen, sondern die diese Strukturen vorher ändern wollen. Darum fördert die Politik, die Sie treiben, die Entsolidarisierung. Darum fördern Sie bewußt das sogenannte Lagerdenken. Darum stört es Sie, wenn von den Arbeitslosen, den Armen, den Notleidenden und anderen Minderheiten die Rede ist. Darum grenzen Sie die GRÜNEN sowieso, aber auch einen immer größeren Teil von Sozialdemokraten, Teile der christlichen Kirchen, denen ausgerechnet Sie und Ihre Freunde jetzt immer häufiger empfehlen, sich doch um das Jenseits zu kümmern und ihre Botschaft nicht in die Probleme dieser Zeit hineinzusprechen, und auch wachsende Teile der Gewerkschaften und damit, Herr Bundeskanzler, zugleich - ob Sie wollen oder nicht - große Teile der Jugend aus, um die Sie heute morgen so beredt geworben haben. Neuerdings betreiben Sie die Ausgrenzung sogar in den eigenen Reihen. Herr Biedenkopf, den ich als Kollege in unserer Mitte begrüße, kann ein Lied davon singen. ({109}) Bei ihm hat schon die unschuldige Bemerkung zur Ausgrenzung genügt, daß die GRÜNEN richtige Fragen gestellt hätten. Schon das hat zur Ausgrenzung genügt. ({110}) Mit solchen differenzierenden Gedanken, Kollege Biedenkopf, kommen Sie bei Ihren neuen Kollegen nicht weit. Wie man es machen muß, hat Ihnen der Herr Kollege Seiters gezeigt. ({111}) Er hat von dieser Stelle aus frei gewählten Abgeordneten zugerufen, was er wohl im stillen auch von Ihnen denkt: Sie gehören nicht hierher ins Parlament. ({112}) - Nein. ({113}) Herr Biedenkopf, ich verrate Ihnen, daß das nicht nur der Herr Seiters denkt, sondern daß dies auch der Bundeskanzler denkt. ({114})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Seiters, es ist in das Ermessen des Abgeordneten gestellt, ob er eine Frage zuläßt oder nicht. - Bitte. ({0})

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die Liebenswürdigkeit Ihrer Zurufe ist nicht zu überbieten. „Weiter so" ! ({0}) - Ich hoffe, daß das Fernsehen auch die Gesichter der Herrschaften zeigt. Das wäre doch eine Hilfe. ({1}) Wir widersprechen dem mit aller Entschiedenheit. Wir bestehen darauf, daß die Regeln eingehalten werden, die wir uns für unser Zusammenleben gegeben haben, aber wie schließen niemanden von unserem Dialog und niemanden von der nationalen Gemeinschaft aus. Es ist für uns im Gegenteil ein Gebot der politischen und geschichtlichen Vernunft, daß wir uns mit all unseren Konflikten und Interessengegensätzen wieder stärker als bisher als Glieder einer gewachsenen Gemeinschaft und nicht nur als eine zufällige Ansammlung beziehungslos nebeneinander lebender Individuen oder Interessengruppen begreifen. In diesem Rahmen hat dann auch der Patriotismus seinen Platz, von dem Sie auch heute wieder gesprochen haben, nicht als Rückfall in eine staatlich verordnete oder gar geforderte Hurra-Gesinnung, sondern als die im ganz persönlichen Bereich wurzelnde freiwillige Bereitschaft, der Gemeinschaft zu dienen und der Gemeinschaft auch Opfer zu bringen. Wenn wir diesen Begriff verwenden wollen, ist es wichtig, den Begriff des Patriotismus von seinem überkommenen Kriegs- und Militärbezug und von seinen obrigkeitsstaatlichen Verknüpfungen zu lösen und statt dessen aufs engste mit den friedlichen Aufgaben der Gemeinschaft zu verbinden. ({2}) Auch hier gilt das Wort Gustav Heinemanns: Nicht mehr der Krieg, der Frieden ist der Ernstfall. - Wir Sozialdemokraten sind für diesen Ernstfall gewappnet. Wir werden unseren Beitrag zu seiner Bewältigung leisten, und in diesem Sinne werden wir, ob Ihnen das paßt oder nicht, in den kommenden vier Jahren unsere Pflicht tun. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Waigel.

Dr. Theodor Waigel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002412, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Vogel, Sie haben gegen den Bundesminister für Umweltschutz, den Kollegen Wallmann, den Vorwurf erhoben, daß er beabsichtige, in Hessen zu kandidieren. Wer sich die letzten 15 Jahre als Wandervogel zwischen München und Bonn, Berlin und Bonn betätigt hat, hat eigentlich überhaupt kein Recht, jemand anderem vorzuwerfen, daß er sich für eine andere Aufgabe zur Verfügung stellt. ({0}) Sie selbst, Herr Kollege Vogel, haben 1974 als amtierender Bundesminister in Bayern für das Amt des Ministerpräsidenten kandidiert. Sie haben Ihr Ministeramt nicht niedergelegt. Vielmehr sind Sie, als Sie in Bayern keinen Erfolg hatten, wieder in Ihr Ministerium hier zurückgekehrt. ({1}) Damals allerdings - jetzt bitte ich, genau zuzuhören - hieß das Motto der SPD in Bayern „Bayern braucht Dr. Vogel" . Das hat zu 62,1 % der CSU geführt. ({2}) Es war also deutlich erkennbar: Bayern braucht Dr. Vogel nicht. ({3}) Die Bundesrepublik Deutschland brauchte Dr. Vogel auch nicht. Darüber hat sie 1983 entschieden. Und Berlin brauchte Dr. Vogel auch nicht. Darüber hat auch Berlin rechtzeitig und in freien Wahlen entschieden. ({4}) Die einzige Gruppierung, die Dr. Vogel noch braucht, ist die SPD; denn sie ist arm dran, wenn man sich deren Führungsriege ansieht. ({5}) Sie ist natürlich dankbar, wenn man die Auswahl hat zwischen Brandt, Lafontaine, Klose und ich weiß nicht wem. Da ist allerdings der Dr. Vogel noch eine imaginär starke Figur. ({6}) Sie haben, Herr Kollege Vogel, zu recht etwas aufgegriffen: daß das Verbrennen von Puppen, die lebende Menschen darstellen, ein unglaublicher Vorgang ist. Ich habe das gleiche wie Sie einen Tag nach diesem Vorgang erklärt. Da ist von der Union das Notwendige gesagt worden. Hier, glaube ich, denken wir gleich. ({7}) Nur, in einem zitieren oder kommentieren Sie nicht korrekt, wenn Sie nämlich Ignaz Kiechle vorwerfen, er habe den Bauern vor den Wahlen gesagt, sie verdienten gut. Das hat er nicht getan. Vielmehr hat er immer auf die unendlich schwierige Situation der Landwirt- schaft und auch ihre Einkommenssituation hingewiesen. Er hat allerdings auf die statistischen Zahlen hingewiesen, die sich hinsichtlich der Einkommensverbesserung ergeben haben, die aber nicht von den Preisen, sondern von den notwendigen und von uns beschlossenen Transferzahlungen herrühren und nur Durchschnittszahlen sein können. Diese Zahlen können natürlich für den einzelnen Hof nie eine Aussagekraft haben. Wir haben die Probleme vor den Wahlen nicht verharmlost. ({8}) Es ist vor den Wahlen zu einem Realignment gekommen. Es ist vor den Wahlen zu einer Währungsanpassung mit allen negativen Diskussionen in der Landwirtschaft gekommen. Zwar wußten die Bauern genau, daß wir nichts dafür können, aber trotzdem wurde uns die politische Verantwortung in dem einen oder anderen Punkt zugerechnet, d. h. wir bekamen die politische Quittung. Wenn man es als Kleingeisterei bezeichnet, etwas zu verschweigen, so frage ich Sie: Was war denn das 1976 mit den Renten? Was war denn das 1980 mit den Schulden? ({9}) Was war denn das 1983 mit den Mieten und den Raketen? - Frau Fuchs, auf Sie komme ich am Schluß der Rede noch sehr genau zu sprechen. ({10}) Sie wissen, daß ich Sie persönlich schätze. Nur, was Sie sich im Wahlkampf geleistet haben, daß Sie als leitende Mitarbeiterin von Helmut Schmidt nicht einmal mehr wissen, was er vor vier Jahren gesagt hat, es mir in den Mund legen und damit eine Verleumdungsaktion durchführen, ist ein starkes Stück, das zu Ihrem Charakter eigentlich nicht passen sollte. ({11}) Sie haben auch kein Recht, Herr Kollege Vogel, dem Kollegen Blüm vorzuwerfen, wieviel Prozent er bei den letzten Wahlen erreicht hat. Sie haben sich den Wahlen nicht gestellt oder nicht stellen müssen, und so haben Sie auch kein Recht, einem anderen Kollegen einen Prozentsatz in irgendeiner Form vorzuhalten. ({12}) - Da denken Sie lieber an die Prozentzahlen, die Sie in Bayern erreicht haben, als Sie als Spitzenkandidat angetreten sind. ({13}) Sie sollten auch über das Beratungsgesetz, das wir gemeinschaftlich zum Schutz des ungeborenen Lebens vereinbart haben, nicht so negativ reden. Wer sonst, wie Sie, bei vielen Fragen auf die Kirchen rekurriert und ihren Rat erbittet, der sollte auch bei einem Punkt, bei dem man ohne eine Gesetzesänderung der § 218 StGB und § 200 RVO auskommt, jedenfalls die Bereitschaft erkennen lassen, etwas mitzutragen, was alle Parteien der Koalition in einem schwierigen Meinungsbildungsprozeß erarbeitet haben. Sie sollten sich nicht in dieser billigen Form davon verabschieden, sondern mitmachen, wenn es um den Schutz ungeborenen Lebens geht. ({14}) Das sind wir der Verfassung, das sind wir den Kirchen und das sind wir den Christen und den Humanisten in unserer Republik schuldig. ({15}) - Genau den Frauen. Gerade aus dem Bereich der Frauen kommt die Forderung, möglichst viel zu tun, um den Schutz des ungeborenen Lebens zu sichern. ({16}) - Ich hoffe, daß die Qualität dessen, was Sie mir zurufen, besser ist als die Qualität dessen, was ich hören kann; sonst wäre es nämlich vernehmbar. Das ist es bei der Art und Weise, in der Sie sich hier artikuliert haben, leider nicht. ({17}) Sie haben sich, Herr Kollege Vogel, zur MontanMitbestimmung geäußert. Ich kann dazu nur folgendes sagen: Während es unter einer SPD-Regierung nur zu einem Auslaufgesetz hinsichtlich der MontanMitbestimmung gekommen ist, wird jetzt eine dauerhafte Sicherung der Montan-Mitbestimmung mit einem verbesserten Wahlrecht durchgeführt. Diese Koalition hat trotz aller Bedenken in dieser Angelegenheit - da kann man auch geteilter Meinung sein - mehr für die Sicherung der Montan-Mitbestimmung getan als die SPD-Regierungen zuvor. ({18}) Sie haben sich dann über die Kernenergie ausgelassen. Herr Kollege Vogel, sonst sind einstimmige UNO-Beschlüsse für Sie doch Dogmen und Dekrete. Die UNO hat sich zu dem Thema Kernenergie eine Meinung gebildet und hat sich einstimmig für die Fortführung der Nutzung der Kernenergie ausgesprochen. Da Sie sonst soviel von internationalen Empfehlungen halten, wären wir Ihnen dankbar, wenn Sie auch das, was die UNO - zudem einstimmig - zum Ausdruck gebracht hat, auch in unseren innerdeutschen Willensbildungsprozeß mit einbeziehen könnten. Dann glaubten Sie auch noch etwas zum Historikerstreit sagen zu müssen. Für mich ist es eigentlich neu, daß ein Streit der Wissenschaftler und hier der Historiker durch ein Dekret der Regierung oder der Opposition beendet werden könnte. Das wollen wir doch wirklich den Historikern und den Wissenschaftlern überlassen. Sie können dazu ihre Meinung sagen. Aber daß der Bundeskanzler hier ein Dekret aussprechen soll, ist mit unserer Vorstellung von Freiheit der Wissenschaft nicht vereinbar. ({19}) Einen schlechten Eindruck, Herr Kollege Vogel, haben Sie gemacht, als Sie den Kollegen Seiters hier nicht richtig zitiert und dargestellt haben. Es entspräche dem Gebot des Anstandes hier in einem Parlament, wenn man über einen Kollegen etwas sagt, und dies nicht stimmt, ihn dies durch eine Zwischenfrage richtigstellen zu lassen. Das haben Sie nicht getan. Sie haben hier die Dinge verfälscht, Sie haben die Dinge nicht korrekt dargestellt, Sie haben nicht zur Kenntnis gebracht, daß der Kollege Seiters ausdrücklich darauf eingegangen ist, daß die GRÜNEN geklatscht hatten, als ganz bewußt zu Gesetzesverstößen aufgerufen wurde. In dem Zusammenhang hat dann der Kollege Seiters gesagt: Wer so handelt, wer so denkt, wer sich so artikuliert, der gehört nicht ins Parlament. Ich teile seine Meinung uneingeschränkt. ({20}) Die Koalition der Mitte hat am 25. Januar 1987 einen eindeutigen Auftrag des Wählers zur Fortsetzung ihrer erfolgreichen Politik erhalten. Der Kollege Jahn von der SPD, gewöhnlich eher ein Realist, also ein Realo, fühlte sich vergangene Woche bemüßigt, von einem miserablen Wahlergebnis der Unionsparteien zu sprechen. ({21}) Herr Kollege Jahn, wir haben unser Wahlziel erreicht: Wir sind mit dem Ziel angetreten, auch nach dem 25. Januar 1987 in Bonn Regierungsverantwortung zu übernehmen. Die SPD ist mit dem Ziel angetreten, die absolute Mehrheit zu erlangen. ({22}) Herausgekommen sind 37 %. Ich möchte jetzt wissen: Wer ist dem Ziel näher gekommen, und wer hat wirklich miserabel abgeschnitten? Meine Damen und Herren, dann wäre es einmal interessant, überhaupt noch zu erfahren: Wo ist denn eigentlich Johannes Rau, gibt es den Mann überhaupt noch? ({23}) Es hieß: Den Besten für Deutschland, ({24}) und heute ist er nicht einmal der Beste für die SPD. Wie sehr wollte man eigentlich diese Republik täuschen, uns den „Besten für Deutschland" vorzugaukeln, wenn man ihn nicht einmal als Vorsitzenden der SPD haben möchte? Der Arme muß sich jetzt von Oskar aus dem Saarland ablösen lassen. Es ist wirklich nicht zu fassen, wohin die Führungslosigkeit der SPD bereits gedrungen ist. ({25}) Das Bild, das die Sozialdemokratie im Wahlkampf von der bundesdeutschen Wirklichkeit zu zeichnen versucht hat, zeugt von einem weitgehenden Realitätsverlust. Es erinnert mich an Arthur Millers „Handlungsreisenden", von dem es heißt: Er kann die Wirklichkeit nicht ertragen, und da er nicht viel tun kann, um sie zu ändern, ändert er statt dessen seine Vorstellung von ihr. - Das ist das Motto der SPD. Aber noch treffender hat es Professor Sontheimer am 28. November 1986 in der „Wirtschaftswoche" dargelegt. ({26}) - Sie beleidigen schon wieder jemanden, der Ihnen ansonsten relativ nahesteht. ({27}) Die Herrschaften schätzen es nicht so sehr, sie treiben sogar noch die Politologen, die ihnen früher nahestanden, in unsere Nähe. Jedenfalls hat Sontheimer folgendes gesagt: Das erste, was wir uns klarmachen sollten ist, daß es uns außerordentlich gutgeht, wie gut wir dastehen, wenn wir uns mit anderen Ländern und Völkern vergleichen. Kein Grund zum Jammern also. Das zweite, was es zu beherzigen gilt, ist die Tugend der Gelassenheit. Wir stehen nicht am Rande des Abgrundes, wir können die neuen Probleme in Ruhe angehen. - Das ist die Wirklichkeit in der Bundesrepublik Deutschland und nicht das Horrorgemälde, das Sie laufend zu zeichnen und zu malen versuchen. ({28}) Bundeskanzler Helmut Kohl ist in seiner Regierungserklärung eingehend ({29}) auf die großen Problembereiche bereits eingegangen, denen wir uns in den kommenden vier Jahren gegenübersehen: erstens auf die Schaffung eines echten Fortschritts bei den Abrüstungsgesprächen zwischen Ost und West bei gleichzeitiger Berücksichtigung der spezifischen Sicherheitsinteressen Westeuropas; zweitens die Fortsetzung einer pragmatischen Deutschlandpolitik auf der Grundlage der gegebenen Rechtslage; drittens das Festhalten an der Politk zur Stärkung des wirtschaftlichen Wachstums bei gleichDr. Waigel zeitiger Bewahrung der umweltpolitischen Belange; viertens eine Kurskorrektur in der EG-Agrarpolitik mit stärkerer Berücksichtigung regionaler Gegebenheiten mit dem Ziel der Erhaltung einer möglichst großen Anzahl von Familienbetrieben; fünftens Strukturreformen im Gesundheitsbereich und in der Rentenversicherung. Der Ende 1982 vollzogene Kurswechsel in der Wirtschafts- und Finanzpolitik hat sich als erfolgreich erwiesen. Die Zahl der Arbeitsplätze, das Sozialprodukt, die privaten Investitionen und das Realeinkommen sind gestiegen. Die Preissteigerungsrate, die Zinsen und die Defizite in den öffentlichen Haushalten sind gesunken. Wenn in der Auftragseingangsstatistik seit einigen Monaten Schwächetendenzen zu verzeichnen sind, so ist das kein Anlaß, in hektischen Aktionismus zu verfallen. Ein solcher Aktionismus, wie er früher üblich war, wäre Ausdruck des Mangels an einer mittelfristigen Strategie. Wie die Entwicklung zu Beginn der 80er Jahre gezeigt hat, führt ein solcher Aktionismus mit der Ankündigung von neuen Programmen oder Progrämmchen nur zu einer Verunsicherung und zu einem Attentismus bei den Investoren und müßte zwangsläufig in eine Krise münden. Unsere Wirtschaft befindet sich weiterhin auf einem stetigen, inflationsfreien, wenn auch nicht überschäumenden Wachstumspfad. Und bereits die FebruarZahlen signalisieren wieder eine Saisonwende am Arbeitsmarkt. ({30}) Die Zahl der Beschäftigten lag im Januar um knapp 250 000 über dem entsprechenden Vorjahreswert, gegenüber dem Tiefpunkt der Beschäftigung im Jahre 1983 dürfte der Zuwachs bei rund 600 000 liegen. Maßvolle Tarifabschlüsse vorausgesetzt, können wir das Stabilitätsziel auch im Jahre 1987 erreichen. Das Bruttosozialprodukt wird real weiter ansteigen,wenn auch die Projektion im Jahreswirtschaftsbericht, die im übrigen ein gewogenes Mittel der Prognosen der Forschungsinstitute, der OECD und des Sachverständigenrats darstellt, möglicherweise nicht ganz erreicht werden kann. Wer dies, wie die SPD, zum Anlaß nimmt, von „Konjunkturlüge" und vom Beginn eines Wirtschaftseinbruchs zu sprechen, betreibt Schwarzmalerei mit dem Ziel, eine Krise herbeizureden. Ihnen geht es doch in dem Zusammenhang nicht um die Lösung unserer Arbeitsmarktprobleme, sondern um das Schüren von Angst, um Emotionalisierung als Mittel der Gewinnung von Wählerstimmen, ({31}) was aber nicht zum Erfolg geführt hat. ({32}) Sollte die Wachstumsrate unter der Projektion von 2,5 % liegen, bedeutet dies zwangsläufig eine Reduzierung des Verteilungsspielraums. Wenn nun die SPD einerseits eine Korrektur der Wachstumsrate nach unten verlangt, andererseits aber gleichzeitig eine die Lohnkosten nach oben treibende Arbeitszeitverkürzung sowie eine stärkere Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen befürwortet, dann stellt sie damit nur ihre immer noch andauernde wirtschaftspolitische Inkompetenz unter Beweis. Denn: In Tarifverhandlungen kann nur verteilt werden, was zusätzlich erwirtschaftet wird. Wer diesen Grundsatz mißachtet, erhält als Quittung entweder eine höhere Inflation und damit Einbußen bei den Realeinkommen oder aber eine höhere Arbeitslosigkeit. Wir wollen weder das eine noch das andere. In Ihrem Antrag vom 19. Februar 1987 zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sieht die SPD das Patentrezept einer aktiven Konjunkturpolitik nach wie vor in der Schaffung eines Sondervermögens „Arbeit und Umwelt" . Wir halten nichts davon, wiederum etwas durch saftige Erhöhung von bestehenden oder Einführung neuer Verbrauchsteuern zu finanzieren, was mit mehr Steuern, mit mehr Abgaben zu Beschäftigung führen soll. Die Ergebnisse und die Erfahrungen der Vergangenheit haben uns genau das Gegenteil bewiesen. Und: Was die Bereitstellung zinsgünstiger Kredite anlangt, so wurde dem bereits mit den entsprechenden ERP- und KfW-Programmen Rechnung getragen, deren Mittel zügig abfließen. Im ERP-Haushalt wurden allein im Zeitraum 1983 bis 1986 knapp 3,8 Milliarden DM zugesagt; das entspricht rund 40 To der gesamten ERP-Umweltförderung seit 1960. Wir können noch prüfen, ob man diese Aktion, dieses Programm stärker auf kleine und mittlere Unternehmen zuschneiden könnte. Verlorene Zuschüsse für Umweltvorhaben lehnen wir ab, weil sie das Verursacherprinzip völlig aus den Angeln heben. ({33}) Die Koalition wird an ihrer mittelfristig ausgerichteten Strategie zur Stärkung der Wachstumskräfte festhalten und unter Beibehaltung einer soliden Haushaltspolitik die aktive Arbeitsmarktpolitik vor allem zugunsten der Langzeitarbeitslosen weiterentwikkeln, die Stärkung der Binnennachfrage im Rahmen der Städtebauförderung und der ERP-Programme fortsetzen und die Rahmenbedingungen durch eine konsequente Steuerentlastungspolitik verbessern. Angesichts der Risiken im Export wird das zum 1. Januar 1988 in Kraft tretende Steuerentlastungspaket durch das Vorziehen von gut 5 Milliarden DM aus der großen Steuerreform aufgestockt. Das ist genau die richtige Maßnahme zum richtigen Zeitpunkt entsprechend dem, was in Paris zugesagt wurde. Kernpunkt aller Bemühungen, die wirtschaftlichen Antriebs- und Auftriebskräfte nachhaltig und auf Dauer zu stärken, bilden die von der Koalition beschlossenen Eckpunkte einer großen Steuerreform mit einem Bruttovolumen von 44 Milliarden DM und einer Nettoentlastung von mindestens 25 Milliarden DM. Diese Steuerreform ist wachstumspolitisch geboten, weil sie die Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer und die Investitionsbereitschaft der Unternehmer erhöht. Sie ist sozial ausgewogen, weil ein Großteil der Entlastungen durch die Anhebung des Grundfreibetrags, die Rückgängigmachung der Erhöhung des Eingangssteuersatzes ({34}) sowie durch die weitere Anhebung des Kinderfreibetrages unteren Einkommensschichten zugute kommt. ({35}) Es gehört schon ein Stück Unverfrorenheit dazu, hierherzukommen und diese Reform als sozial unausgewogen zu bezeichnen, da wir doch den Eingangssteuersatz wieder auf die Linie zurückführen, die es früher gegeben hat, ({36}) während Sie, als Sie die Kassen geplündert hatten und nicht mehr wußten, wie Sie das Geld besorgen sollten, ihn von 19 % auf 22 % angehoben haben. Um den Griff in die Taschen der kleinen Leute zu vertuschen, haben Sie damals flugs auch den Spitzensteuersatz erhöht. In Wirklichkeit haben Sie die kleinen Leute damals belogen und um ihr Geld betrogen. ({37}) Die Anhebung des Grundfreibetrags und die Senkung des Eingangssteuersatzes machen je etwa 7 Milliarden DM aus. Das sind die sozialen Taten, die die Leute an uns haben und durch die wir das korrigieren, was Sie in den 70er Jahren kaputtgemacht haben. Sie sollten über soziale Ausgewogenheit kein Wort sagen. Die Sünden der Vergangenheit verfolgen Sie täglich. ({38}) Wir haben diese Reform auch mittelstandsfreundlich gestaltet, weil neben der allen Mittelständlern zugute kommenden Linearisierung des Tarifs zwei gezielte Mittelstandskomponenten in Form der Verdopplung der Sonderabschreibung und der Erhöhung der Vorsorgepauschale vorgesehen sind. Sie ist - ich wiederhole, was der Bundeskanzler bereits angedeutet hat - auch ein Schritt zur Steuervereinfachung, und zwar vor allem wegen der Erhöhung des Grundfreibetrags, wobei wir übrigens über den Forderungen des SPD-Parteitages liegen, ({39}) weil wir damit etwa 500 000 Menschen aus der Steuerpflicht herausbringen. Das ist ein wichtiger Beitrag für Steuervereinfachung, den Sie in Ihrer Zeit ebenfalls nicht geleistet haben. ({40}) Die Senkung des Körperschaftsteuersatzes und des Spitzensteuersatzes bei der Einkomensteuer ist ein Gebot der Stunde, wenn man sich die entsprechenden Entlastungen bei der Unternehmensbesteuerung in praktisch allen westlichen Industriestaaten ansieht. Angesichts der weltweiten ökonomischen Verflechtung findet heute nicht nur ein weltweiter Wettbewerb zwischen den Anbietern von Produkten und Leistungen statt, sondern darüber hinaus auch ein Wettbewerb zwischen den verschiedenen nationalen Steuersystemen. Wer eine stärkere Koordinierung der internationalen Wirtschafts- und Finanzpolitik befürwortet, darf nicht nur von den USA Maßnahmen zum Abbau der Haushaltsdefizite verlangen, sondern er muß auch der Tatsache Rechnung tragen, daß praktisch alle westlichen Regierungen bestrebt sind, die internationale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen durch eine maßvolle Steuerpolitik zu stärken. Was speziell den Spitzensatz bei der Einkommensteuer betrifft, so hat die Mehrzahl derjenigen deutschen Steuerzahler, die vom Spitzensatz potentiell betroffen sind, längst den steuerlichen Wohnsitz in steuergünstigeren Nachbarländern aufgeschlagen. ({41}) Mir persönlich wäre es lieber, wenn einige Spitzenstars der Sport- und Unterhaltungsbranche bei einem niedrigeren Spitzensatz ihren steuerlichen Beitrag bei Herrn Stoltenberg ablieferten, statt, abgeschreckt durch einen zu hohen Spitzensteuersatz in der Bundesrepublik, steuerliches Asyl in Monaco oder sonstwo zu suchen. ({42}) Sie fragen nach der Finanzierung dieser Steuerentlastung. Sie erfolgt in erster Linie und zum größten Umfang durch eine sparsame Haushaltspolitik in der Vergangenheit, in der Gegenwart und auch in den nächsten Jahren. Nur dadurch werden Spielräume für Politik eröffnet. Darüber hinaus werden wir an die steuerlichen Subventionen und Sonderregelungen herangehen müssen. Auch eine zeitlich begrenzte maßvolle Erhöhung der Neuverschuldung - das hat übrigens Bundesfinanzminister Stoltenberg schon im letzten Jahr hier zum Ausdruck gebracht - ist in diesem Zusammenhang vertretbar. Meine Damen und Herren, man muß wissen, zu welchem Zweck man sich möglicherweise neu verschuldet. ({43}) Wenn man damit unproduktive Konjunkturprogramme mit Strohfeuereffekten finanziert, dann ist dies sinnlos und nicht vertretbar. Wenn damit aber Leistungs- und Antriebskräfte der Wirtschaft geweckt oder verstärkt werden, dann ist auch die Selbstfinanzierungsquote einer solchen Steuerentlastung höher als bei jeder anderen konjunkturellen Maßnahme. Darum hat Stoltenberg recht, wenn er sagt: In einem begrenzten Umfang ist zur Finanzierung einer solchen großen Entlastung, um den binnenwirtschaftlichen und den außenwirtschaftlichen Risiken Rechnung zu tragen, ({44}) auch eine maßvolle Erhöhung der Nettoverschuldung hinzunehmen. ({45}) Meine Damen und Herren, die Diskussion der SPD über eine Verbrauchsteuererhöhung ist unsachlich und unglaubwürdig. ({46}) Dr. Walgel Wenn ich alle unter SPD-Finanzministern vorgenommenen Erhöhungen indirekter Steuern von 1969 bis 1982 aufzählen wollte, dann würde meine heutige Redezeit nicht ausreichen. ({47}) Wenn die Anhebung indirekter Steuern ein Maßstab für die soziale Qualität der Politik sein sollte, wäre die SPD die unsozialste Partei, die je Regierungsverantwortung in der Bundesrepublik Deutschland übernommen hat - was sie übrigens auch ist. ({48}) Meine Damen und Herren, wer Steuerpolitik nur unter verteilungspolitischen Gesichtspunkten gestaltet, gerät auf Dauer zwangsläufig in eine Sackgasse. Verteilt werden kann nur, was vorher erwirtschaftet worden ist. ({49}) Die Probleme auf dem Arbeitsmarkt können wir dauerhaft nur lösen, wenn die vorhandenen Leistungs-, Investitions- und Innovationspotentiale durch entsprechende steuerliche Anreize und Rahmenbedingungen freigesetzt werden. Die Forderungen sozialdemokratischer Politiker nach sozialer Ausgewogenheit und sozialer Gerechtigkeit klingen wenig glaubwürdig. In diesem Zusammenhang fällt mir nur der Satz ein: Alfons Lappas läßt grüßen. ({50}) - Wer bei der Neuen Heimat gelernt hat, sollte in diesem Zusammenhang nicht einmal einen Zwischenruf machen. ({51}) Die Koalition aus CDU/CSU und FDP hat sich in den vergangenen Wochen in den Sachfragen geeinigt. Die Regierungserklärung des Bundeskanzlers hat die grundsätzlichen Übereinstimmungen der Koalitionspartner in praktisch allen wichtigen Problembereichen, die vor uns stehen, verdeutlicht. Die EG-Agrarpolitik bedarf einer Neuausrichtung. Im Mittelpunkt unserer Bemühungen steht die Erhaltung unserer bäuerlichen Familienbetriebe. ({52}) Auch unsere Landwirte haben wie z. B. die Beamten, die Arbeitnehmer in der Stahlindustrie oder in der Werftindustrie ein Anrecht auf Teilhabe an der gesamtwirtschaftlichen Einkommensentwicklung. Wir brauchen einen Jahrhundertvertrag auch für die deutsche Landwirtschaft. ({53}) Ich habe diesen Vergleich bewußt gewählt, weil sich nicht nur der Stahlsektor und die Werften, sondern im gleichen Maße auch die Landwirtschaft in einem tiefgreifenden wirtschaftlichen Anpassungsprozeß befinden. Eine aktive Preispolitik ist jedoch nur möglich, wenn wir durch den Abbau der durch die Fehlentwicklungen in den 70er und Anfang der 80er Jahre entstandenen Produktionsüberschüsse die erforderlichen Handlungsspielräume zurückgewinnen. Besonders wichtig erscheinen mir in diesem Zusammenhang ein Programm zur Herausnahme von Flächen aus der Produktion bei gleichzeitiger Begrenzung der Futtermittelimporte, die Festlegung von Bestandsobergrenzen sowie die Konzentration der agrarpolitischen Fördermaßnahmen auf die bäuerlichen Familienbetriebe im Rahmen eines Strukturgesetzes. Eine Politik des Preisdrucks halten wir für den falschen Weg. Hier müßten zuerst die Kleinen dran glauben, und im Ergebnis würde die Einbindung der Landwirtschaft in marktwirtschaftliche Spielregeln die Tendenz zu großflächigen und vollrationalisierten Agrarfabriken fördern. Das halte ich gesellschaftspolitisch für nicht akzeptabel. In der Wirtschaftspolitik haben wir ebenfalls wichtige Eckpunkte festgelegt. Angesichts der zunehmenden Konzentration und des Überhandnehmens leistungswidriger Wettbewerbspraktiken und anderer Probleme muß das rechtliche Instrumentarium des Kartellgesetzes auf den Prüfstand. Wir haben in der letzten Legislaturperiode gesagt und uns bei der Verabschiedung der vierten Kartellgesetznovelle an die Zusage gehalten: Ruhe an der Kartellfront. - Zwischenzeitlich muß man sehen, daß die Situation vor allen Dingen im Einzelhandel ein Neuüberdenken erforderlich macht und wir zu neuen Regelungen im Kartellgesetz finden müssen. Ich denke dabei an die Fusionskontrolle, an die Mißbrauchsaufsicht, an das Diskriminierungsverbot und die marktmachtbedingte Benachteiligung kleinerer Unternehmen. Was die Einführung eines Dienstleistungsabends betrifft, so appelliere ich an die Tarifpartner, nicht nur die Belange der Angestellten im Einzelhandel, sondern auch die berechtigten Wünsche aller Verbraucher zu berücksichtigen. ({54}) Hier ist etwas mehr Flexibilität und weniger Besitzstandsdenken geboten. Dabei denken wir auch an längere Öffnungszeiten bei Behörden und Ämtern an einem Abend, um den Menschen wirklich umfassend die Möglichkeit zu geben, einzukaufen, sich beraten zu lassen und Dinge erledigen zu können. ({55}) Die Koalitionsvereinbarungen betreffend einer Novellierung des Dritten Verstromungsgesetzes haben bei der SPD einen unerklärlichen Aufschrei verursacht, unerklärlich deshalb, weil der saarländische Wirtschaftsminister eine Woche vor der Bundestagswahl der Öffentlichkeit einzureden versucht hat, Kohlestrom aus neuen Kohlekraftwerken sei selbst im Grundlastbereich billiger als Kernkraft. Wenn Koh-lestrom tatsächlich billiger wäre als Strom auf Kernenergiebasis, wäre es gleichsam ein Treppenwitz, wenn die Verbraucher von angeblich teurerem Kernkraftstrom den billigeren Kohlestrom noch subventionierten. Die CDU/CSU steht zum Jahrhundertvertrag und zu den Hilfen für die deutsche Steinkohle, solange der energiepolitische Grundkonsens, der in der Formel „Kohle und Kernenergie" ausgedrückt ist, eingehalten wird. ({56}) Niemand kann jedoch erwarten, daß wir über den Kohlepfennig die Antikernkraftpolitik an Saar und Ruhr mitfinanzieren. ({57}) Ich kann den SPD-Regierungen der Revierländer nur dringend raten, zum energiepolitischen Grundkonsens zurückzukehren; denn mit einer Abkehr von diesem Konsens werden der Solidarität der revierfernen Länder mit den Revierländern die Grundlagen entzogen. Der Wille der Koalitionspartner zur weiteren Zusammenarbeit hat sich am deutlichsten bei den Problemen in der Frage der Mitbestimmung gezeigt. Die Verstärkung der Minderheitenrechte und die Einführung von Sprecherausschüssen auf der Ebene der betrieblichen Mitbestimmung sowie die Sicherung der Montanmitbestimmung und deren Verbesserung durch ein demokratischeres Wahlverfahren stellen eine in sich ausgewogene Lösung dar. Wenn die SPD wie auch der DGB heute die Verstärkung der Minderheitenrechte bei den Wahlen zum Betriebsrat kritisieren, so scheinen sie offensichtlich das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vergessen zu haben, denn gerade diese Kritik an der Verstärkung der Minderheitenrechte ist ein interessantes Beispiel dafür, wie wandlungsfähig jene Partei ist, die einmal mit der Parole auszog „Mehr Demokratie wagen". Warum sollen eigentlich Minderheiten in Betrieben, die unzweifelhaft demokratisch legitimiert sind, die unzweifelhaft auf dem Boden unserer Verfassung und unseres Gesellschaftssystems stehen, weniger Minderheitenrechte als die GRÜNEN im Bundestag oder in Landtagen bekommen? ({58}) Bei den schwierigen und teilweise bis weit in die 90er Jahre hineinreichenden Problemen in der Renten- und Krankenversicherung haben wir uns auf Eckpunkte verständigt: Bis Herbst 1987 bzw. Frühjahr 1988 werden die Koalitionsparteien konkrete Gesetzentwürfe vorlegen. Ich würde es sehr begrüßen, wenn es hier zu einer einvernehmlichen Lösung zwischen den demokratischen Parteien und den Tarifpartnern käme. Die Koalition hat auch ihre erfolgreiche Umweltpolitik fortgesetzt und dafür die entsprechenden Grundlagen geschaffen. Mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung, mit den Beschlüssen zum abgasarmen Auto und zum bleifreien Benzin sowie mit den gesetzlichen Maßnahmen im Bereich des Gewässerschutzes hat sich die Bundesrepublik an die Spitze des Umweltschutzes in Europa gestellt. Die SPD glaubt, zusammen mit den GRÜNEN im Umweltschutz mehr erreichen zu können als die Koalition. Wie wenig dabei herausgekommen ist, hat die Hilflosigkeit, ja, das vollständige Versagen Ihres grünen Ministers Joschka Fischer gegenüber den Problemen der Müllbeseitigung in Hessen demonstriert: außer Spesen nichts gewesen. ({59}) Wer glaubt, die Umweltprobleme durch einen Ausstieg aus der Industriegesellschaft und gegen die Technik bewältigen zu können, befindet sich auf dem Holzweg. Mit Konfrontationen bewirken Sie hier auch nichts, allenfalls den Verlust von Arbeitsplätzen und die Verlagerung von Produktionsstätten ins Ausland. Gerade die Großfeuerungsanlagen-Verordnung für unsere Kohlekraftwerke hat verdeutlicht: Klare Vorgaben sind nötig; aber ebenso wichtig ist die konsequente Zusammenarbeit mit der Industrie. In Einzelpunkten allerdings werden wir innerhalb der EG den Versuch von Alleingängen wagen müssen. Allerdings: Ein deutscher Sonderweg in der Umweltpolitik insgesamt - etwa durch einen Austritt aus der Europäischen Gemeinschaft, wofür sich möglicherweise die GRÜNEN erwärmen könnten - wäre ein Holzweg und brächte uns nicht weiter. Da 50 % der bei uns niedergehenden Luftschadstoffe aus dem Ausland stammen, hängt der Erfolg jeder Umweltpolitik von einer Intensivierung der internationalen Zusammenarbeit ab. Es wird noch mancher Nachtsitzung in Brüssel bedürfen, um unsere europäischen Partner von der Notwendigkeit verstärkter Umweltschutzanforderungen zu überzeugen. Nach meinem jüngsten Besuch in Leipzig sehe ich durchaus positive Zeichen für eine umweltpolitische Zusammenarbeit mit der DDR. ({60}) - Ja, Sie habe ich nicht gesehen. ({61}) Nach Ihnen hat auch niemand gefragt. ({62}) Konkreter Umweltschutz ist nicht abhängig von einer Staatszielbestimmung im Grundgesetz, die wir vereinbart haben. Bezüglich eines solchen Staatszieles warne ich vor einem zu großen Erwartungshorizont. So wenig Art. 109 des Grundgesetzes unmittelbar die Herstellung eines gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts garantieren kann, genauso wenig kann ein Staatsziel Umweltschutz spezielle Umweltschutzgesetze, private und öffentliche Umweltschutzinvestitionen ersetzen. Darum hat diese Koalition gehandelt und sich auf ein Bündel ganz konkreter Maßnahmen geeinigt, die der Bundesumweltminister durchführen und anstreben kann. Auch wenn wir bis zur Mitte der Legislaturperiode infolge der Schaffung der finanziellen Voraussetzungen für die Steuerreform eine Atempause einlegen müssen, haben wir uns doch bereits heute auf den weiteren Vorrang familienpolitischer Maßnahmen geeinigt. Damit setzt die Koalition fort, was sie in der letzten Legislaturperiode begonnen hat, nämlich der Familienpolitik den absoluten Schwerpunkt, die absolute Präferenz in der Gesellschafts- und Sozialpolitik zuzubilligen. Das fand und findet seinen Niederschlag in der Festlegung der Erhöhung der Kinderfreibeträge und wird in der Mitte der Legislaturperiode durch Beschlüsse über entsprechende LeistungsverDr. Waigel besserungen beim Kindergeld sowie beim Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub ergänzt werden. Eng verzahnt mit den Fragen der Familienpolitik ist die Frage nach dem Schutz des ungeborenen Lebens. Eine Gesellschaft, die ja zum Umweltschutz, ja zum Tierschutz, ja zum Landschaftsschutz sagt und gleichzeitig die offenkundigen Mißbräuche im Rahmen der sozialen Indikation tatenlos hinnimmt, also dem ungeborenen Leben nicht den gebotenen und möglichen Schutz zukommen läßt, verdient in meinen Augen den Ausdruck einer humanen Gesellschaft nicht. ({63}) Das Ziel einer Beratung muß in erster Linie sein, dem ungeborenen, dem wehrlosen Leben Schutz zu geben, und darf nicht in der Überredung der schwangeren Frau zu einem Eingriff bestehen. Die Koalitionspartner haben auch im Bereich der inneren Sicherheit Einvernehmen erzielt, sowohl was die Fahndungskonzepte als auch was die Verbesserung des gesetzlichen Instrumentariums anbelangt. Ohne Zweifel besteht gerade im Bereich der Bekämpfung des Terrorismus und der Verhinderung gewalttätiger Demonstrationen Handlungsbedarf. Die Funktionsfähigkeit und der Bestand einer Demokratie hängen nicht zuletzt auch von der Fähigkeit und von der Bereitschaft ab, sich gegen die Feinde der Demokratie zur Wehr zu setzen. Die Entwicklung der Weimarer Demokratie müßte uns allen ein warnendes Beispiel sein. Wir wollen keinen Polizeistaat, aber wir wollen den rechtsstaatlichen Rahmen bei der Bekämpfung der kriminellen Feinde unseres Staatswesens so weit wie möglich ausschöpfen. Eine radikale Toleranz, die auch noch Intoleranz akzeptiert, untergräbt ihre eigenen Grundlagen. Eine Demokratie, die sich gegen die Feinde der Demokratie nicht zur Wehr setzt, vernichtet sich auf Dauer selbst. Der Denker Joseph Bernhart hat dies einmal wie folgt ausgedrückt: Im Lebenshaushalt einer Demokratie braucht es die erregenden Energien von Gegensätzen, soweit sie mit Wesen und Begriff von Demokratie vereinbar sind. Die Toleranz gegen die pathogenen Bakterien ihres Organismus ist lebensgefährlich, dumm und unverantwortlich. ({64}) Meine Damen und Herren, unsere Deutschlandpolitik wird auch in Zukunft auf festen Prinzipien stehen, wie sie in der Präambel des Grundgesetzes, im Deutschlandvertrag, im Brief zur Deutschen Einheit, in der gemeinsamen Entschließung des Deutschen Bundestages sowie im Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Grundlagenvertrag enthalten sind. Das Festhalten an Rechtsprinzipien ist wichtig, muß aber im Interesse der Menschen in Ost und West durch pragmatische Beziehungen mit Leben erfüllt werden. Entgegen der von der SPD beschworenen Eiszeit haben wir in den vergangenen vier Jahren beträchtliche Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen erzielt. Ich sehe gegenwärtig seitens der Führung der DDR durchaus die Bereitschaft, diese Beziehungen auszubauen. Ansatzpunkte bilden die Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet, die Energieversorgung, gemeinsame Umweltschutzvorhaben, der Austausch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet, Begegnungen auf der kulturellen Ebene sowie die humanitären Fragen im Zusammenhang mit den Besuchs- und Ausreisemöglichkeiten. Das Offenhalten der deutschen Frage, der Wille zur Wiedervereinigung ist für uns nicht nur ein Auftrag des Grundgesetzes, sondern ein Auftrag unserer gemeinsamen Geschichte. Auch die Hinweise auf die jahrhundertelange staatsrechtliche Zersplitterung Deutschlands und auf die Sonderlage Deutschlands im Herzen Europas sind kein Argument gegen das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung und damit auf Einheit. Auch die deutschen Schriftsteller wenden sich wieder verstärkt der deutschen Frage zu. Martin Walser äußerte sich jüngst wie folgt: Der wichtigste Tatbestand ist ja nicht die unselige Ratlosigkeit hinsichtlich einer Lösungsmöglichkeit der deutschen Frage. Der wichtigste Tatbestand ist ja die Teilung selber in ihrer Unerlaubtheit, in ihrer Unstatthaftigkeit, in ihrer Unmöglichkeit und, wenn man es ernst nimmt, in ihrer Unerträglichkeit. Was ein so unabhängiger Denker und Dichter fühlt, das müßte uns Politikern selbstverständlicher Auftrag sein. ({65}) Nicht nur Schriftsteller, sondern auch namhafte Historiker und Politologen beschäftigen sich zunehmend wieder mit der Frage nach der Identität der Deutschen, dem gemeinsamen National- und Geschichtsbewußtsein. Wir begrüßen diese Entwicklung. Auch die Deutschen bedürfen wie die anderen Völker Europas eines geläuterten Nationalbewußtseins und einer Identifikation mit ihrer Geschichte. ({66}) - Was für Sie unglaublich ist, ist für mich völlig uninteressant. Wenn man historisch so dumm ist wie Sie, ({67}) dann ist jeder Zwischenruf ebenfalls nur ein Ausdruck Ihres Unvermögens, überhaupt in geschichtlichen Kategorien zu denken. ({68}) Altbundespräsident Karl Carstens hat dies jüngst zutreffend begründet. Er sagt wörtlich: Anderenfalls würden wir eine innere Orientierung verlieren. Wir wären eine Anomalie unter den anderen Völkern Europas. Wir sollten aus unserem Geschichtsbewußtsein die dunklen Jahre von 1933 bis 1945 und die Schreckenstaten, die damals von Deutschen begangen worden sind, nicht verdrängen. Aber die deutsche Geschichte umfaßt mehr als diese Zeit. Sie umfaßt Epochen, auf die wir mit Stolz blicken können. Ich stimme dem, was der frühere Bundespräsident gesagt hat, ausdrücklich zu, und wir danken ihm für diese Worte. ({69}) Bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen zwischen den beiden Supermächten zeichnet sich ein Durchbruch bei der Frage einer Null-Lösung für die Mittelstreckenraketen größerer Reichweite ab. Die SPD unterstützt heute die Null-Lösung. Damit eröffnen sich in diesem Bereich wieder Gemeinsamkeiten zwischen Regierung und Opposition, was um so erfreulicher ist, als die SPD ja noch bis vor wenigen Wochen glaubte, der Sowjetunion ein Monopol bei den SS-20-Raketen auf der Basis der Stationierung von 1979 einräumen zu müssen. ({70}) Wenn es zu dieser Null-Lösung kommen sollte, ist dies ein Erfolg des klaren und unbeirrbaren Kurses der NATO. ({71}) Ohne den Vollzug des Nachrüstungsbeschlusses wäre ein solches Ergebnis niemals in den Bereich der Realität geraten. Die jetzigen Verhandlungen in Genf sind geradezu ein Musterbeispiel dafür, daß wir unsere Sicherheitsinteressen sowie entscheidende Schritte im Rüstungskontrollbereich nicht durch Verzichtspolitik und einseitige Vorleistungen, sondern nur aus einer klaren und starken Position heraus durchsetzen können. Den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik ist am besten gedient, wenn wir uns eindeutig und unmißverständlich an die Seite der Vereinigten Staaten und der anderen Verbündeten stellen. ({72}) Die sich abzeichnende Null-Lösung im Bereich der Mittelstreckenraketen größerer Reichweite birgt jedoch auch - und das wird niemand leugnen können - beträchtliche Risiken in sich, wenn es nicht gelingt, im direkten Anschluß an die Genfer Verhandlungen verbindliche Vereinbarungen im Bereich der Raketen kürzerer Reichweite mit dem Ziel gleicher Obergrenzen auf möglichst niedrigem Niveau zu treffen. Die Welt starrt gebannt auf die vom sowjetischen Parteichef Gorbatschow in die Wege geleiteten innen- und wirtschaftspolitischen Reformen. Doch bei aller Erwartung, an der globalen Machtpolitik, am eisernen Zugriff der Sowjets auf ihre Satellitenstaaten und am Wahrheitsmonopol der herrschenden Partei der Sowjetunion wird sich wohl auch unter Gorbatschow nicht so schnell etwas ändern. Der Historiker Golo Mann hat die Reformschritte von Gorbatschow jüngst in seinem Interview mit der „Welt" am 9. März 1987 wohl zutreffend beschrieben: Er will wirklich die Renovation. Er weiß, daß es ohne eine solche Erneuerung nicht geht; daß die Sowjetunion im 21. Jahrhundert sonst einen sicheren Verfall vor sich hat. Es müssen tiefgreifende Reformen stattfinden. Es müssen tiefgreifende Reformen stattfinden ... Ich glaube nicht, wie es der von mir hochgeschätzte Professor Kopelew gesagt hat, daß wir Gorbatschow dabei helfen können. Das kann Europa nicht, das können die USA nicht; es ist seine Sache und die Sache derer, die er dafür gewinnen kann. ({73}) - Wir haben unseren konkreten Beitrag dazu erbracht und werden ihn weiter dazu erbringen! Wenn die Sowjetunion an einer wirklichen Abrüstung interessiert ist, kann sie das haben. ({74}) Es hat noch nie in der Geschichte so weitgehende Vorschläge seitens der Vereinigten Staaten und des Bündnisses gegeben, ({75}) jedenfalls nie in der Zeit, als die SPD regiert hat. ({76}) Nur, an einem halten wir fest: Realistische Entspannungspolitik muß auch die Ursachen der Spannungen beachten. Sie muß der weltweiten Achtung des Selbstbestimmungsrechts und der Menschenrechte dienen und ist deshalb nicht nur eine machtpolitische, sondern darüber hinaus eine moralische Frage. Der Oppositionsführer Vogel wird nicht müde - ({77}) - Sie wissen ja noch gar nicht, wo ich die Müdigkeit bei ihm anbringen möchte! ({78}) Daß Sie, lieber Herr Roth, froh wären, wenn er hier und da etwas müder wäre und Sie in der Frühe länger schlafen könnten, dafür habe ich Verständnis, aber ich gönne Ihnen, daß er Sie rechtzeitig zum Report holt und Ihnen eine regelmäßige Arbeitzeit beigebracht hat. ({79}) Sie, Herr Kollege Vogel, werfen uns und dem Bundeskanzler Führungsschwäche vor. Dieser Vorwurf ist absurd und soll nur von dem ablenken, was an innerparteilichem Trümmerhaufen in der SPD im Augenblick zutage tritt. Wer übt denn überhaupt noch Führung in der SPD aus? Johannes Rau hat sich abgeseilt. ({80}) Peter Glotz befindet sich auf Kampagne in Deutschland. ({81}) Willy Brandt hat die Diskussion um seine Nachfolge selbst entfacht, und der einzige Beitrag, den Sie dazu leisten, ist, daß Sie den Zettel immer wieder aus Ihrem Revers hervorholen. ({82}) Da wird der Seeheimer Kreis gerade noch geduldet, und Sie selbst, Herr Kollege Vogel, geraten zum Wandler zwischen den Welten und offerieren sich dann mühselig als künftigen Parteivorsitzenden. ({83}) - Ja, Ihre möchte ich nicht haben! Das muß ich Ihnen ehrlich sagen. Ich glaube schon, daß Sie unsere Sorgen ganz gerne hätten. Dann könnten Sie dort oben sitzen, was Sie allerdings nicht verdienen. Ihre Sorgen möchte ich wirklich nicht haben! ({84}) Seitdem die starke Hand von Herbert Wehner fehlt, betreibt die Enkelgeneration mit Lafontaine an der Spitze einen Prozeß der Anbiederung an die GRÜNEN. Da werden die Illusionen gehegt, Entspannungspolitik sei außerhalb des Bündnisses möglich, Fortschritte im Umweltschutz seien gegen Wirtschaft und Technik durchsetzbar, und unser Wohlstandsniveau könne auch ohne marktwirtschaftliche Grundlage erhalten bleiben. In der SPD gibt es in der Tat keine Führungsschwäche. Nein, da gibt es seit dem Ausscheiden Wehners und Schmidts überhaupt keine Führung mehr. Wenn einer in der SPD führt, dann sind es die GRÜNEN. So weit sind Sie schon gekommen! ({85}) Wer allerdings glaubt, in den GRÜNEN immer noch eine Partei des Umweltschutzes sehen zu sollen, gibt sich einer großen Täuschung hin. Wir haben es hier mit einem Konglomerat von Altkommunisten, Neomarxisten, Ideologen und idealistischen Mitläufern zu tun. Die führenden Sprecher dieser Bewegung bekennen sich offen zum Marxismus, beanspruchen eine ideologische Position links von der SPD, verlangen den Ausstieg aus der NATO, der Marktwirtschaft und der Industriegesellschaft und stellen das System der parlamentarischen Demokratie und die Spielregeln des Rechtsstaats zur Disposition. Die Haltung der GRÜNEN zum Volkszählungsgesetz ist exemplarisch. Hier wird offen zum Rechtsbruch, zur Nichtbefolgung eines demokratisch einwandfrei zustande gekommenen Gesetzes aufgerufen. Die theoretische Begründung kennen wir vom Neomarxisten Marcuse: das Recht der angeblich unterdrückten Minderheit zum Widerstand. Nur: Das gleiche Recht beansprucht die RAF bei Anschlägen für sich. ({86}) Die Begründung ist stets die gleiche: Es wird behauptet, auch in der Demokratie müsse zwischen Legalität und Legitimität unterschieden werden. Das heißt, verfahrensrechtlich legal zustande gekommene Gesetze können ihrem Inhalt nach in bezug auf die gesamten Verfassungswerte illegitim sein. Nur, meine Damen und Herren: Dafür gibt es in der Bundesrepublik Deutschland den Weg zum Verfassungsgericht. Wer den Weg nicht wählt und wer einem legitim zustande gekommenen Gesetz nicht zustimmt und zum Boykott auffordert, der hat mit der demokratischen Grundordnung in der Bundesrepublik Deutschland nichts zu tun und stellt sich bewußt außerhalb dieser Grundordnung. ({87}) Wir werden es jedenfalls nicht hinnehmen, daß die Minderheit der Mehrheit diktiert, was das Recht in einem Staat darstellt. ({88}) Wenn ein parlamentarischer Rechtsstaat es zuläßt, daß Minderheiten legal zustande gekommene Gesetze mißachten oder zu deren Boykott aufrufen, ({89}) entzieht er sich seine eigenen Grundlagen. Würden sich alle diese Rechte anmaßen, dann hätten wir Chaos und Bürgerkrieg. Eine parlamentarische Demokratie kann es nicht zulassen, wenn sich eine Minderheit unter Mißachtung der Mehrheitsregeln auf eine Privatmoral, ein Sonderrecht oder einen privilegierten Zugang zur Wahrheit beruft. ({90}) Daran werden wir festhalten, und wenn Sie sich noch so in diesem Hause aufführen. ({91}) Es ist schon tragisch, daß die SPD das nicht mehr hinreichend erkennt und immer mehr auf diese Linie mutmaßlicher künftiger Bündnisgenossen einschwenkt und einlenkt. ({92}) - Da brauchen Sie bei mir keine Sorge zu haben. Ich werde weder rot wie Sie noch blaß, sondern ich habe eine ganz gesunde Farbe, ({93}) und um meinen Seelenzustand brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Meine Damen und Herren, da ist Peter Glotz, der bisherige Bundesgeschäftsführer der SPD, ein selbsternannter Vordenker und Fackelträger der politischen Kultur, und was tut er im Wahlkampf? Er legt zusammen mit der SPD mir ein Zitat von Helmut Schmidt in den Mund, verbreitet dies mit der Behauptung - ({94}) - Entschuldigung, das war in einer Zeitung fälschlich zitiert. Wir haben das, Herr Kollege Vogel, richtiggestellt. ({95}) Sie haben das rechtzeitig am Freitag einer Woche nach einer Pressekonferenz der Frau Fuchs erfahren. Trotzdem haben Sie, die SPD, am Samstagabend einen Wahlspot laufen lassen, wo Sie das nochmals wiederholt haben. ({96}) Das stand auch in einer Anzeige am Mittwoch nächster Woche, und bis zum letzten Samstag vor der Wahl haben Sie das noch verteilt. Sie sollten sich schämen, so mit der Wahrheit und so mit Ihrem früheren Bundeskanzler umzugehen, ({97}) wobei ich eines zum Ausdruck bringen möchte : Von dieser Kritik nehme ich Sie, Herr Kollege Vogel, ausdrücklich aus, weil Sie einen fairen Weg des Gespräches in dieser Frage gefunden haben. Sie persönlich nehme ich aus; Herrn Glotz, Frau Fuchs und Herrn Verheugen und andere jedenfalls nicht. Sie hätten weiß Gott die Zeit gehabt, dieses Ding rechtzeitig in Ordnung zu bringen. Dabei besteht der größte Skandal ja darin, daß man ein Zitat des früheren Bundeskanzlers, dem Sie zehn Jahre die Macht verdankt haben - denn ohne den wären Sie doch schon 1976 eingebrochen - , mißbraucht, als wäre es von uns gegen die Arbeitnehmer gesagt. Wie miserabel ist eigentlich Ihr Gedächtnis! Wie miserabel ist eigentlich Ihre Vorstellung über Ihren früheren Bundeskanzler! ({98}) Wie gehen Sie mit dem Mann um! Wie haben Sie ihn zehn Jahre mißbraucht, und wie stecken Sie ihn jetzt in eine Ecke, weil er nicht mehr in Ihre Konzeption paßt! ({99}) Ich höre, daß Herr Glotz ein Tagebuch führt, das er dann und wann veröffentlicht. Ich hoffe, er hat, nachdem er nicht den Mut hatte, sich zu entschuldigen, wenigstens den Anstand, daß er an dem Abend eingetragen hat: Ich schäme mich für das, was ich mit meinem eigenen Bundeskanzler getan habe. ({100}) Meine Damen und Herren, wir sehen uns in den kommenden vier Jahren großen Aufgaben gegenüber, die weit über das rein Ökonomische hinausreichen: die Intensivierung des europäischen Einigungsprozesses, die Verbesserung der Ost-West-Beziehungen, die Eindämmung von kriegerischen Konflikten in der Dritten Welt. Angesichts ihrer ökonomischen Stärke ist die Bundesrepublik zusammen mit ihren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft und in der NATO gefordert, ihren Beitrag auch zur Lösung weltpolitischer Probleme zu leisten. Dazu gibt die Bundesregierung, dazu gibt die Regierungserklärung politische Zukunftsperspektiven. ({101}) Unser früherer Kollege Professor Ulrich Lohmar sagt dazu wörtlich: Wir brauchen eine Demokratie zum Mutmachen, nicht zum Miesmachen. ({102}) Politik darf sich nicht in Jammern, Warnen und Verneinen erschöpfen. Sie muß eine realistische Zukunft erschließen, den Menschen Hoffnung geben, persönliche Freiheit konsequent verteidigen und Möglichkeiten und Grenzen der Politik ehrlich aufzeigen. Die Fraktion der CDU/CSU wird diese Regierung und Bundeskanzler Helmut Kohl mit aller Kraft unterstützen. Ich danke Ihnen. ({103})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Dr. Waigel, die Bezeichnung „historisch dumm", bezogen auf eine Abgeordnete des Hauses bedarf einer Rüge. ({0}) Nun hat Frau Abgeordnete Schoppe das Wort. - Die Uhr ist nicht in Ordnung. Sie müssen selbst ein wenig darauf achten. Es ist bedauerlich, die Technik streikt. Frau Abgeordnete, die Fraktion hat Ihnen 22 Minuten zugestanden. - Sie haben das Wort.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Trotz Ihrer Unkenrufe von vor vier Jahren, in denen Sie uns ja prophezeit haben, wir seien nur eine Modeerscheinung, die bald wieder verschwunden sein werde, haben wir uns hier doch stattlich vermehrt. Gucken Sie sich das an: von 28 auf 44. Die drei Millionen Wähler, die uns gewählt haben, sind nicht gerade diejenigen gewesen, die einer Jugendsünde huldigten oder die man zu den Verirrten zählen kann. Der Wahlerfolg meiner Partei ist das Resultat der Krise des Gesellschaftsmodells eines hemmungslosen Industrialismus, der, als freie Entfaltung der Persönlichkeit getarnt, einen Machbarkeitswahn von Technik und Ökonomie verfolgt, der in der Produktion von Reichtum den einzigen Garanten für eine mögliche Zukunft sieht und der, Herr Bundeskanzler, die Schöpfung gefährdet. ({0}) Ihr politisches Handeln, Herr Bundeskanzler, reduziert sich in diesem Machtzusammenhang darauf, die enormen Folgeprobleme, die aus dieser bloß industrialistisch verstandenen Moderne entstanden sind, zu finanzieren, zu verwalten und herunterzuspielen, wie wir heute morgen gehört haben. ({1}) Wer trotz Waldsterben, trotz chemischer Verseuchung und nach Tschernobyl nicht die Konsequenzen zieht, andere Maßstäbe in der Politik zu setzen, erweist sich als Handlanger von Industrie- und Kapitalinteressen. ({2}) Die sozialen Bewegungen, die in den letzten Jahren so stark geworden sind, stellen nun die Frage nach den Maßstäben Ihrer Politik, und das ist Ihnen unbequem. Deshalb versuchen Sie, die Menschen einzuschüchtern und die sozialen Bewegungen zu kriminalisieren. ({3}) Und hier im Parlament stellen wir GRÜNEN die unbequemen Fragen. Welche Maßstäbe, frage ich mich, haben Sie, wenn Sie Waffen in die Länder der Dritten Welt verkaufen und wenn Johnny Klein z. B., ein erklärter Freund des Apartheidregimes in Südafrika und ein Feind jeglicher Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt, zum Entwicklungshilfeminister ernannt wird? ({4}) Wir sind diejenigen im Parlament, die die unbequemen Fragen stellen. Wir fragen nach Ihren Maßstäben. Deshalb hat Herr Seiters gesagt: Sie gehören nicht hierher. Das nämlich ist der wahre Grund. ({5}) Das Projekt der Moderne steht weltweit auf dem Prüfstand; übrigens nicht nur in den kapitalistischen, sondern auch in den real-sozialistischen Ländern, wie man an den Bemühungen von Gorbatschow erkennen kann. Die Moderne, verstanden nur als verselbständigte Technik und verantwortungslose Ökonomie, verwandelt sich für uns alle mit Ihrer Politik in eine Fortschrittsfalle. Weil die Menschen unter den Segnungen des Fortschritts - wie Sie das nennen - leiden, suchen sie nach Auswegen, Umwegen und neuen gesellschaftlichen Visionen. ({6}) Die sozialen Bewegungen haben sich das Wissen über diese Ursachen der Krisen des Industrialismus selbst angeeignet. Mit diesem Wissen suchen sie die Antworten auf die drängenden Fragen nach einer anderen, menschenwürdigen Gesellschaft. In diesen Bewegungen, wo kein Zwang besteht, Politik als erfolgreich verkaufen zu müssen, werden die Bilder, Umrisse und Strukturen einer anderen politischen Kultur und Gesellschaft entwickelt. Wir GRÜNEN sind Teil dieser Bewegungen. Wir nehmen die Kritik, die Vorstellungen und die Resultate aus diesen Bewegungen, auch wenn sie oft widersprüchlich sind, ernst. Wir machen nicht den Versuch, diese Bewegungen zu integrieren, weil wir sonst unsere eigene Radikalität und unsere soziale Phantasie zerstören würden. Weil Sie, meine Damen und Herren von der SPD - Herr Vogel, Sie haben ja vorhin auch von den sozialen Gruppen gesprochen - , an Ihrer Vorstellung vom beherrschbaren, wohlgeordneten Industrialismus festhalten, machen Sie immer wieder den Versuch, ({7}) die Kraft der sozialen Bewegungen dadurch zu zerbrechen, daß Sie sie einfach in Ihren Laden hineinziehen. Und Sie, Herr Kohl, und Ihre Freundinnen und Freunde auf der Rechten versuchen, die sozialen Bewegungen durch Drohungen einzuschüchtern. Beide Konzepte möchte ich als eine Politik der Denkverbote bezeichnen. ({8}) Sie alle müssen zur Kenntnis nehmen, daß der Ort des Wissens heute viel eher bei den Menschen selbst und in ihren sozialen Zusammenhängen zu finden ist als beispielsweise hier im Parlament. ({9}) Herr Kohl, das muß ich Ihnen einmal sagen: Wenn Ihre Rede heute morgen auf mich den Eindruck von bleierner Mittelmäßigkeit gemacht hat, dann liegt das weniger an Ihrem Schreiber als daran, daß Sie sich mit Ihrer Politik und mit Ihrer Ideologie nicht mit den wirklich spannenden Diskursen in der Gesellschaft auseinandersetzen wollen. ({10}) Kommen wir einmal zu ein paar Tatsachen. Sie wissen doch ganz genau: Wenn in der Bundesrepublik noch kein Atomkraftwerk hochgegangen ist, dann liegt es nicht daran - wie Sie gesagt haben - , daß unsere Sicherheitsvorstellungen höchste Ansprüche erfüllen. Vielmehr ist es der pure Zufall, daß hier noch keins hochgegangen ist. ({11}) In Ihrer Regierungserklärung verlieren Sie kein einziges Wort über die verstrahlten Lebensmittel, über das Molkepulver. Sie sagen nichts über die Entsorgung des Atommülls. Die Kuppel des Reaktors in Stade bröckelt. Bei Nukem in Hanau haben neun Arbeiter Plutonium eingeatmet. Trotzdem behaupten Sie ernsthaft, die Nutzung der Atomenergie sei verantwortlich. Das ist ja wohl das letzte. ({12}) Wenn Sie, Herr Kohl, von Zukunft reden, dann frage ich mich unter diesen Umständen, angesichts der Probleme, vor denen wir stehen und die Sie nicht lösen: Was meint der Mann damit eigentlich? Sie sagen ja nichts Konkretes darüber, wie Sie mit den Folgen der Gentechnologie, mit dem Müll und mit der ganzen Umweltzerstörung fertig werden wollen. ({13}) Die Produktionsprozesse in unserem Land sind nach wie vor zerstörerisch. Das zeigt die Rheinverseuchung, das zeigt das Waldsterben, und das zeigt z. B. die schleichende Vergiftung des Trinkwassers. Das Risikopotential, das die Chemieindustrie in sich birgt, ist heute nicht kontrollierbar. Wenn Sie glauben, es reicht, mit Wasserrecht, Abfallgesetz und Immissionsschutzgesetz immer nur hinterher reparieren zu wollen, werden sich die Risiken weder für die Menschen noch für die Natur verringern. ({14}) Die Mehrheiten hier in Bonn befinden sich im Würgegriff der Chemieindustrie. Wie anders sonst ist es zu verstehen, daß von § 17 des Chemikaliengesetzes bisher noch nicht einmal Gebrauch gemacht wurde? ({15}) Der Zielkonflikt zwischen betriebswirtschaftlicher Optimierung und Umweltverträglichkeit wird in aller Regel gegen die Erfordernisse der Umweltverträglichkeit entschieden. ({16}) Vom Verursacherprinzip, von Produktionsauflagen und Produktionsverboten, von Entgiftung und einer prinzipiellen Auseinandersetzung darüber, welche Produkte die Menschen eigentlich brauchen, ohne daß dadurch die gesellschaftlich freie Entscheidung über den Konsum zerstört würde, von all solchen Ansätzen zu einer anderen Umweltpolitik haben Sie offensichtlich noch nie etwas gehört. Ihre Sprüche, Herr Kohl, über die bäuerlichen Traditionen gehen mir ja zu Herzen. Aber ich sage Ihnen eines: Das, was Sie hier erzählen, glaubt Ihnen in den Dörfern kein Mensch mehr. ({17}) Tatsache ist, daß immer mehr Bauern ihre Höfe aufgeben müssen. Sie verlieren damit nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern auch das Recht auf ein Stück selbstbestimmte Arbeit. Damit lassen Sie es zu, daß mit dem Beruf des Bauern für uns alle wieder ein Stück mehr an Möglichkeiten von selbstorganisierter Arbeit in einem überschaubaren Betrieb verlorengeht. Dann zu den Frauen. Ich erinnere mich noch gut an den Wahlkampf, in dem viel über die Frauen geredet wurde. Was ist als einziges Konkretes dabei herausgekommen? Ein Beratungsgesetz, das die Frauen bevormundet, das die Frauen diszipliniert und das dazu führen wird, daß sich der Zeitpunkt des Schwangerschaftsabbruchs verzögert. Damit nehmen Sie eine Gesundheitsgefährdung der Frauen in Kauf. Was unterstellen Sie eigentlich den Frauen? Wir brauchen nicht Ihre Sitten, wir brauchen nicht Ihre Moral. Frauen entscheiden immer verantwortungsbewußt darüber, ob sie das Kind behalten. Aber sie entscheiden genauso verantwortungsbewußt, wenn sie sich für einen Abbruch entscheiden. ({18}) Ich will nicht versäumen, auf die Volkszählung einzugehen. Dabei gibt es unterschiedliche Aspekte. Ich will einen vortragen, der mir wichtig ist. Volkszählung ja oder nein, dabei geht es um die grundsätzliche Frage, wie das Grundrechtsgefüge durch den unkontrollierten gesellschaftlichen und vor allem staatlichen Gebrauch neuer Datentechnologien verändert worden ist. Es geht mir nicht nur darum, die neuen Technologien als Überwachungstechnologien zu verteufeln. Ich versuche im Gegenteil, positiv zu bestimmen, welche neuen Rechte und Grundrechte das Recht auf informationelle Selbstbestimmung für jeden einzelnen Bürger begründen kann. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 ist der Begriff des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung unbestimmt geblieben. Seine Präzisierung darf auf keinen Fall den Juristen oder den Politikern allein überlassen werden, sondern muß in der direkten Auseinandersetzung zwischen den Souveränen, allen Bürgerinnen und Bürgern der Bundesrepublik, und der Bundesregierung genau ausgestaltet werden. Im Grunde handelt es sich bei der Auseinandersetzung um die Volkszählung um eine antiautoritäre, barrikadenkampfähnliche Situation von Grundrechtsschöpfung. ({19}) Staatlicher Datenherausgabezwang steht gegen die Freiwilligkeit auf seiten der Bürger, Selbstbestimmung der individuellen Identität gegen den obrigkeitsstaatlichen Kontrollanspruch der Behörden. Die von ihnen bekämpfte Boykottbewegung ist der massenhafte und mit soviel Vergnügen vorgetragene Anspruch der Menschen nach viel mehr Mitentscheidung in der Sphäre des Politischen. Menschen verlangen mit dem Boykott der Volkszählung nach mehr Demokratie für uns alle. ({20}) Ich sehe, ich habe nur noch eine Minute; o Gott, o Gott.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete, Sie haben noch etwa neun Minuten Redezeit.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Gut, dann kann ich die Steuerpolitik noch mit hineinnehmen. Zur Steuerpolitik haben Sie 1983 Ihre Absicht erklärt, Steuern als ein Lenkungsinstrument für eine ökologische Wirtschaft einzusetzen. Sie betonten, daß es sich für die Chemieindustrie nicht mehr lohnen sollte, umweltgefährdend zu produzieren. Betrachte ich mir unter diesem Gesichtspunkt die neue Regierungserklärung, kann ich nur sagen: Nichts, NullEmission. Sie verzichten ausdrücklich darauf, Steuern als ein klassisches Instrument staatlicher Politik zur strukturellen Steigerung der gesellschaftlichen Entwicklung einzusetzen. ({0}) Sie haben die Steuerpolitik auf eine Morgengabe für Ihre Wirtschaftsklientel reduziert. ({1}) Verteilungspolitisch kommt dabei heraus, daß Sie den Spitzenverdienern einen Mercedes vor die Tür stellen, während sich die Mehrheit der Steuerzahler lediglich ein paar Tüten Pommes frites mehr erlauben kann. ({2}) Wirtschaftspolitisch ist das Ganze nicht nur unfruchtbar, sondern fatal, weil auch völlig unklar bleibt, wie Sie diese Steuersenkung finanzieren wollen. ({3}) Beziehen Sie die neuesten Prognosen der Wirtschaftsinstitute ein, die klar und deutlich davon ausgehen, daß die Bundesrepublik in ein neues Konjunkturtief hineingeht, was die staatlichen Einnahmen in den nächsten Jahren noch zusätzlich verringern wird, dann wird der Sinn Ihrer Steuerpläne noch fragwürdiger. Weiter reden Sie von einem Kassensturz 1989, als dessen Folge Sie zusätzliche Leistungen für Familien, Alte und sozial Benachteiligte austeilen wollen. Beim Kassensturz - das sage ich Ihnen jetzt schon voraus - werden Ihnen die Millionen fehlen, statt Verbesserungen wird bei denen, die wirklich materielle Unterstützung brauchen, weiter gespart werden. Das kennen wir ja schon. Ich wollte noch kurz auf die Sicherheitspolitik eingehen. In der Außen- und Sicherheitspolitik - das hat die Debatte in der Aktuellen Stunde gezeigt - halten Sie an der Ideologie der Abschreckung durch Verteidigungsfähigkeit fest. Für mich ist die beste Sicherheitspolitik ein vertrauensvolles Miteinander aller Völker. Ihre Vergleiche, Herr Kohl, zwischen Gorbatschow und Goebbels, Ihre Diskussionen, die in dem Ausspruch „Schlesien ist unser" gipfelten, und der SDI-Vertrag haben das Verhältnis zur Sowjetunion so stark beeinträchtigt, daß wir froh sein können, daß es trotz Ihrer Politik heute zu Verhandlungen über den Abzug von Mittelstreckenraketen kommt. ({4}) Ich habe noch eine Frage an Herrn Wörner, der allerdings nicht da ist. Aber ich will Ihnen das auch sagen: Ich möchte mal wissen, was eigentlich an den Gerüchten dran ist: Wenn die landgestützten Mittelstreckenraketen hier abgezogen werden, dann wird eventuell im Bereich der -flugzeuggestützten Cruise Missiles nachgerüstet. Dies läuft als Gerücht herum, und diese Frage möchte ich gerne von Herrn Wörner beantwortet haben. Der soll mal hier auf den Tisch legen, woran bei ihm und in der NATO gebrütet wird. Wir haben ein Recht darauf, informiert zu werden, und zwar schnell. ({5}) Wer, meine Damen und Herren - das ist doch die Frage - , wird die Krisen der Zeit bewältigen? Die Sozialdemokratie ist immer noch die Partei des Fortschritts und der Staatsfixiertheit. Die SPD war - und wenn ich den Streit um Nukem und Alkem betrachte, ist sie es immer noch - eine Partei, die nur gezwungenermaßen zu den Folgeproblemen des Industrialismus Stellung bezieht. Meine Damen und Herren von der SPD, vor allem an Ihnen wird es liegen, ob es gelingt, eine Alternative zum Kohlschen Immobilismus in Regierungshandeln umzusetzen. ({6}) Sie müssen sich bereit finden, sich aus der starren Logik Ihrer Menschheitsbeglückungspolitik von oben zu lösen. Sie können so den Weg mit freimachen für massenhafte Kritik und eine nicht länger nur beunruhigende Idee des Fortschritts, in dessen Zentrum dann der sich selbst verwirklichende einzelne stehen kann. Auf einer solchen Grundlage wäre eine Zusammenarbeit möglich. Ich muß hier nicht betonen, daß aus dieser Position einer Bereitschaft zu Koalitionen auf keinen Fall folgt, daß die GRÜNEN als prinzipienlose Mehrheitsbeschaffer à la FDP zu mißbrauchen sind. ({7}) Ich glaube, dieses Gerücht hat Hessen widerlegt: Mit den GRÜNEN jedenfalls ist der Einstieg in die Plutoniumwirtschaft nicht zu machen. ({8}) Der Ausstieg aus der Kernenergie ebenso wie der Verzicht auf den Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf sind unverzichtbare Forderungen der Politik der GRÜNEN. ({9}) Erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung. Die Regierung, Herr Kohl, hat in den letzten vier Jahren verstärkt versucht, ihre konzeptionelle Ideenlosigkeit dadurch zu überdecken, daß Sie an die alten deutschen Tugenden, Disziplin, Pflichtbewußtsein, Opferbereitschaft und nationale Loyalität, appelliert haben. Heute morgen ging es übrigens viel um Sinn, es ging um Sinnhaftigkeit, Sinn des Lebens. Ich habe das Gefühl: Je schlimmer die Probleme in dieser Gesellschaft werden, um so mehr kommen Sie mit dieser Ideologie von Geborgenheit, von Wärme und von Sinnhaftigkeit und Sinn. Unter diesem Aspekt wäre dann die Rede heute morgen sinnvoll gewesen. Zugleich haben Sie versucht, wie Hans Mommsen das im „Merkur" im letzten Jahr so schön gekennzeichnet hat, die Rekonstituierung einer 1 000 Jahre alten deutschen Geschichte jenseits des Nationalsozialismus herbeizureden. Dieser Versuch, das Herunterspielen des deutschen Faschismus und zugleich das - auch von Ihnen nicht energisch widersprochene - Wiederaufleben antisemitischer Grundgedanken in der Öffentlichkeit haben das Ziel - ich zitiere meinen früheren Kollegen, den berühmten Hans-Christian Ströbele -, ({10}) „... das Erinnern und die Fähigkeit zu trauern, bei den Menschen in der Bundesrepublik als Bedingung für eine demokratische Entwicklung zu zerstören." Unser grünes Projekt ist eindeutig auf die Einsicht festgelegt, daß jeder nach-faschistische deutsche Staat ohne die radikale Kritik an den 12 Jahren verbrecherischer Geschichte keine Chance hat, eine fortschrittliche Zukunft zu begründen. ({11}) Meine Fraktion wird unsere Anträge zur Wiedergutmachung für die vergessenen Opfer des Nationalsozialismus und für die Zwangsarbeiter sowie zur Streichung der Gesundheitsgesetze wieder einbringen, und wir werden unsere Kritik an den Plänen der Regierung für historische Museen in Berlin und Bonn fortsetzen. ({12}) Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Daß das Entwickeln einer . demokratischen Alternative zum Scheitern des politischen Liberalismus - - Oh, Moment, ich fange noch einmal an. ({13}) - Seien Sie hier mal still, stellen Sie sich hier erst einmal hin und reden. ({14}) - Das macht der nie, da hat er Angst, bleibt sitzen und quaddelt aus dem Hintergrund. - Aber ich gehe noch einen Schritt weiter: Ich weiß, daß das Entwickeln einer demokratischen Alternative zum Scheitern des politischen Liberalismus im Faschismus ebenso wie eine demokratische Alternative zum Zerbrechen aller Hoffnungen auf Sozialismus im Stalinismus entscheidend davon abhängt, daß es uns gelingt, aus dem Erinnern eine lebenswerte Zukunft zu entwickeln. ({15}) - Sie können es ja nachlesen, Herr Kollege. Beim dritten Mal versteht es dann auch der letzte. ({16}) Adorno hat das in seinen „Minima Moralia " für mich sehr überzeugend beschrieben: Das Grauen des Faschismus ist das der offenkundigen und doch fortbestehenden Lüge. Während es keine Wahrheit zuläßt, an der es gemessen werden könnte, tritt im Unmaß seines Widersinns die Wahrheit negativ zum Greifen nahe. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({17})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Martin Bangemann.

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Vogel hat heute nachmittag in seiner Rede einen richtigen Satz vorgetragen, ({0}) als er darauf verwies, daß die Parteien, die die Regierungskoalition bilden, in einer demokratischen, freien Wahl eine Mehrheit zur Fortsetzung ihrer Politik bekommen haben, während die SPD und die GRÜNEN diese Mehrheit, die sie erstrebt haben, nicht bekommen haben. Nun genügt das natürlich nicht. Ich jedenfalls würde mich nicht damit zufriedengeben, festzustellen, ob ich eine Mehrheit habe oder nicht oder ob ich in der Minderheit geblieben bin. Vielmehr würde ich mir einmal die Frage vorlegen, warum ich in der Minderheit geblieben bin. Das habe ich an dem, was Sie vorgetragen haben, Herr Vogel, ein wenig vermißt. Sie haben sich mit angeblichen Schwächen derjenigen befaßt, die eine Mehrheit bekommen haben, und wollen dem Wähler doch wohl nicht unterstellen, daß diese Mehrheit wegen dieser „Schwächen" zustande gekommen ist. Es wäre besser gewesen, Sie hätten sich einmal mit der Frage beschäftigt, warum Sie in der Minderheit geblieben sind. ({1}) Ich will Ihnen nur ein Beispiel dafür nennen, wie sinnvoll und produktiv das sein kann. Sie haben z. B. dem Bundeskanzler vorgeworfen, er habe Führungsschwäche gezeigt. ({2}) - Ja, wunderbar, Sie bestätigen das noch einmal. Dann darf ich Ihnen jetzt eine dpa-Meldung von heute nachmittag vorlesen: Das Vorstandsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion Hans-Jürgen Wischnewski hat die Ernennung von Margarita Mathiopoulos zur neuen SPD-Sprecherin eine Fehlentscheidung genannt ({3}) und von einer Führungskrise seiner Partei gesprochen. ({4}) Dem „Kölner Express" - Donnerstagsausgabe - sagte Wischnewski, offensichtlich sei das gesamte Präsidium der SPD, Willy Brandt eingeschlossen, im Moment nicht in der Lage, den Führungsaufgaben im notwendigen Maße gerecht zu werden. ({5}) Jetzt kommt ein wörtliches Zitat - mit Anführungsstrichen unten und später dann oben - : „Es ist einfach unerträglich, - sagt Herr Wischnewski daß die SPD. vor wichtigen Landtagswahlen mit Personaldebatten beschäftigt ist. Das kann nicht bis 1988 so weitergehen." ({6}) Er sei sicher, daß sich in allerkürzester Zeit der SPD-Vorstand mit der Führungskrise der Partei beschäftigen werde. ({7}) Die Führungsfragen der SPD müssen jetzt geklärt werden. ({8}) Ich habe mit dieser Feststellung begonnen, weil ich den Versuch machen möchte, mich mit der Frage auseinanderzusetzen, warum wir für die Politik, die wir in den vergangenen vier Jahren gemacht haben und die wir fortsetzen wollen, eine Mehrheit erhalten haben. Ich meine, daß die Koalitionsparteien das für sich insgesamt in Anspruch nehmen können. Aber sie werden mir nachsehen, wenn ich darauf verweise, daß auch die klaren Positionen, die meine Partei im Wahlkampf vertreten hat, ihren Widerhall bei den Wählern gefunden haben. ({9}) Welche Positionen sind das gewesen, und wie sind sie in der Koalitionsvereinbarung und demgemäß in der Politik der nächsten vier Jahre wiederzufinden? Zunächst: Es ist wichtig, daß wir in den nächsten vier Jahren eine realistische Außen-, Sicherheits- und Friedenspolitik betreiben, ({10}) die sich von vier klaren Prinzipien leiten lassen muß: Erstens. Wir brauchen als Mitglied der Nordatlantischen Allianz eine Verankerung in diesem Bündnis, wenn wir nicht mit allem, was wir tun, mit jeder Initiative, die wir starten, ins Leere fallen wollen. Denn die Bundesrepublik - und das hat der Bundeskanzler sehr gut zum Ausdruck gebracht - kann sehr wohl einen Beitrag zum Frieden und zur Sicherheit in der Welt leisten. Sie kann es aber nur, wenn sie das im Verband mit befreundeten Partnern tut. Sie kann es nicht allein. Allein wäre sie eher ein destabilisierendes Element. Deswegen brauchen wir die Mitgliedschaft in der NATO, die Verankerung im Atlantischen Bündnis. ({11}) Aber wir brauchen - und da möchte für alle die sprechen, die in langen und intensiven Gesprächen die Grundlage dieser Koalition noch einmal diskutiert und zu Papier gebracht haben - auch den Versuch, mit unseren östlichen Nachbarn zu einem erträglichen Verhältnis des Miteinanders und des Zusammenlebens zu kommen. ({12}) Der Zustand der Sprachlosigkeit zwischen Ost und West wäre, wenn er einträte, angesichts der Rüstung auf beiden Seiten ein zusätzliches Moment der Unsicherheit. Deswegen ist die Fortsetzung einer realistischen, illusionsfreien Entspannungspolitik der wichtigste Beitrag, den die Bundesrepublik im Bündnis und darüber hinaus leisten kann. Und das werden wir tun. ({13}) Drittens und das gilt besonders für die Deutschlandpolitik: Es ist wahr, daß die beiden deutschen Staaten in ihren jeweiligen Bündnissen einen besonderen Beitrag dazu leisten können und müssen, weil die Trennungslinie zwischen Ost und West zwischen ihnen verläuft und weil sie -- auch das ist richtig - , wohl in zwei unterschiedlichen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsformen lebend, dennoch ein Stück Gemeinsamkeit haben, das andere Länder in den jeweiligen Bündnissen nicht besitzen. Es sind zwei Staaten, aber beide sind deutsch. Das sollte man nicht vergessen. ({14}) Meine Damen und Herren, hier sage ich für meine Fraktion sehr deutlich: Wer das Wiedervereinigungsgebot der Präambel des Grundgesetzes nicht mehr akzeptiert, der vergeht sich nicht nur an der Vergangenheit, der gibt nicht nur das auf, was auch ein Stück gemeinsamer Geschichte der Deutschen ist - was schon schlimm genug wäre -, wer auf dieses Wiedervereinigungsgebot freiwillig verzichtet, der verzichtet auf ein Stück gemeinsamer Zukunft der Deutschen. Das kann ein deutscher verantwortlicher Politiker niemals tun, ohne eine Verantwortung vor der Geschichte einzugehen, die er ablehnen sollte. Deswegen stehen wir zu diesem Wiedervereinigungsgebot. ({15}) Das vierte Prinzip ist, daß wir weiterhin für eine Abrüstung eintreten werden, die auf beiden Seiten zu einem Zustand der gleichgewichtigen Abrüstung führen muß. ({16}) - Das ist vielleicht nichts Neues, aber es ist immer wieder notwendig, das zu sagen, weil es nämlich naive, vielleicht auch gutgläubige, in jedem Fall aber gefährliche Illusionen gibt, die hier noch einmal zum Ausdruck gebracht worden sind. - Wer nur darauf vertraut, daß die Völker in ihrem Zusammenleben sozusagen ein Grundvertrauen menschlicher Art entwickeln, und wer dazu politisch nichts leisten will, wer die Situation der Nachrüstung damals nicht begriffen hatte, wer nicht begriffen hatte, daß die Abrüstung auf allen Seiten nur möglich ist, wenn sie mit der Bereitschaft zur Verteidigung auf unserer Seite verbunden wird, der hat den ganzen Abrüstungsprozeß nicht verstanden. ({17}) In der Tat sind wir jetzt schon sehr weit gekommen, und der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß wir die Vorschläge des Generalsekretärs Gorbatschow ernst nehmen. Wir sind deswegen so weit gekommen, weil wir damals in der Nachrüstungsdebatte denjenigen widerstanden haben, die uns, getragen von einer öffentlichen Meinung und Meinungsbildung, einreden wollten, daß diese harte Entscheidung nicht notwendig sei, um zur Abrüstung zu kommen. Die Betreffenden sollten heute wenigstens anerkennen, daß uns diese Politik zu diesem befriedigenderen Zustand gebracht hat. ({18}) Aber ich sage auch, meine Damen und Herren: Wer jetzt an dieser Null-Lösung herummäkelt, wer andere, neue Bedingungen aufstellt, der erregt den Verdacht, daß er damals seine Zustimmung zur Nulllösung nur gegeben hat in der Hoffnung, daß die Sowjetunion nein sagen würde. ({19}) Es wäre schon gut - vielleicht darf ich das Ihnen von der SPD sagen - , wenn Sie sich nicht immer nur den Schuh anziehen würden, der Ihnen gerade paßt. ({20}) Denn Ihr damaliger Bundeskanzler Schmidt, ein Miterfinder des NATO-Doppelbeschlusses, hat für seine Position auf dem Kölner Parteitag der SPD gerade noch zwölf Delegierte, glaube ich, hinter sich gebracht. Schon damals hat die SPD eine vernünftige Abrüstungs- und Sicherheitspolitik verlassen. Sie hat immer noch nicht zu ihr zurückgefunden. ({21}) Das, meine Damen und Herren, sind einige der Gründe, warum sich der Wähler sehr wohl zwischen diesen beiden klaren Alternativen hat entscheiden können. Wir sind stolz darauf, daß wir das im Wahlkampf so klar gesagt haben. Es gab ein Zweites. Wir haben darauf verwiesen, wie die Wirtschaftspolitik eines modernen Industrielandes aussehen muß, das mit hohen Kosten arbeitet und dadurch auch einen hohen Lebensstandard garantieren kann. ({22}) Denn das gehört zusammen: Kosten der Produktion sind gleichzeitig Einkommen für viele Menschen. Deswegen muß sich ein Land, das dieses Einkommen für viele Menschen garantieren will, ({23}) Gedanken machen, wie diese Kosten verdient werden können. Es hat keinen Sinn, die Vorstellung zu pflegen, daß, egal mit welcher Organisation der Wirtschaft, mit welcher Marktverfassung man auch immer arbeite, in jedem Fall Geld genug da sei, das man verteilen könne. Das ist eben nicht wahr. Vielmehr ist es die Überzeugung gewesen, die wir in dieser Auseinandersetzung für die Marktwirtschaft eingebracht haben - gerade auch für die Wandlungsfähigkeit dieses Systems -, die die Menschen beeindruckt hat. Ich glaube, daß wir deswegen diese Politik fortsetzen müssen. ({24}) Das geht nicht ohne Wandel. Das geht nicht ohne Reform. Wir brauchen eine Reform der europäischen Agrarpolitik. Die europäische Agrarpolitik kostet viel Geld, ohne daß das, was wir dafür ausgeben, ungeschmälert bei den Landwirten ankäme, wo es eigentlich hingehörte. Es ist wahr, daß von dem gesamten Haushalt der Europäischen Gemeinschaft zwei Drittel, nämlich 50 Milliarden DM, rund gerechnet, für die Agrarpolitik ausgegeben werden, aber daß eine Hälfte dieser zwei Drittel, 25 Milliarden DM, einfach durch die Überschußproduktion vergeudet wird, hängenbleibt bei der Lagerung, bei Lagerkosten oder bei den Kosten der Verschleuderung von Überschüssen. Deswegen wäre es schon gut, wenn der Herr Vogel mal das läse, was in der Regierungserklärung drinsteht; denn in seinem Debattenbeitrag - ich werde das nachher noch bei einigen anderen Punkten aufgreifen - hat er so getan, als ob etwas nicht gesagt worden wäre. Er hat einen Pappkameraden aufgebaut, den er dann trefflich beschießen konnte. In dieser Regierungserklärung und in den Koalitionsvereinbarungen steht ein uneingeschränktes Ja zur Reform der europäischen Agrarpolitik, weil wir wollen, daß die Überschußproduktion endlich beseitigt wird ({25}) und sich diese Agrarpolitik zugunsten der Landwirte, insbesondere der bäuerlichen Familienbetriebe, auswirkt. ({26}) Meine Damen und Herren, das gilt auch für die beiden anderen Reformen, für die Reform unseres Gesundheits- und Sozialversicherungssystems, aber insbesondere für die Steuerreform. Natürlich ist es verständlich, daß eine Opposition dann, wenn die Regierung etwas so Bemerkenswertes zustande bringt, verzweifelte Versuche unternimmt, um diese Leistung zu verkleinern. Deswegen möchte ich hier noch einmal darstellen, was die Zahlen bedeuten, gar nicht mal, was die Wirkung im einzelnen ist. Ich will nur mal vorführen, wie sich die für die Entlastung durch diese Steuerreform festgelegten Zahlen auf den kleinen, auf den mittleren und auf den großen Lohn- und Einkommensteuerzahler auswirken. ({27}) - Ja, ja.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Sellin?

Dr. Martin Bangemann (Minister:in)

Politiker ID: 11000089

Herr Präsident, wenn mir meine Vorredner da mit gutem Beispiel vorangegangen wären, würde auch ich das tun. ({0}) Ich bin Traditionalist. Wenn vorher einer eine Zwischenfrage zugelassen hätte, hätte auch ich das jetzt gemacht. ({1}) - Jetzt hören Sie mal auf, Zwischenrufe zu machen - sage ich höflich - , und hören Sie mir mal einen Moment zu. ({2}) Die Einführung des linear-progressiven Tarifs ({3}) erbringt 23,7 Milliarden DM Erleichterungen. ({4}) Die Senkung des Spitzensteuersatzes auf 53 % mit der Vorverlegung des Beginns der oberen Proportionalzone erbringt 1 Milliarde DM. Das sind 23,7 Milliarden DM für den kleinen, mittleren Lohn- und Einkommensteuerzahler, ({5}) und 1 Milliarde DM durch die Senkung des Spitzensteuersatzes. Dabei, meine Damen und Herren, habe ich noch außer acht gelassen, was leider auch bei unserem Koalitionspartner nicht immer so klar war, ({6}) daß der Spitzensteuersatz die Steigung des Einkommensteuertarifs bestimmt. Je niedriger der Spitzensteuersatz ist, um so flacher verläuft die Kurve und um so niedriger sind die Grenzsteuersätze. Daß das endlich mal begriffen wird, darauf hoffe ich sehr; denn das geht zugunsten der kleinen und mittleren Lohnsteuerzahler. ({7}) Wir haben aber nicht nur den Tarif gesenkt, sondern wir haben auch die Eingangstarife abgesenkt, ({8}) von 22 auf 19 %. Dafür kann man 6,7 Milliarden DM ansetzen, und zwar ausschließlich im unteren Bereich der Einkommen- und Lohnsteuerskala; denn dort wirkt sich nur der Eingangstarif aus. Wenn man das mit der Erhöhung des Grundfreibetrages, wenn man das mit den Kinderfreibeträgen, die ebenfalls erhöht worden sind - übrigens, meine Damen und Herren, haben wir die Grundfreibeträge stärker erhöht als die SPD in ihrem Vorschlag vorgesehen hat - , zusammennimmt, haben wir für den durchschnittlichen Steuerzahler in der Tat die steuerliche Belastung im Jahr um tausend DM gesenkt, und sehr viele, nämlich rund 500 000 Steuerzahler, werden aus der Besteuerung überhaupt herausfallen. Wie man das noch eine unsoziale Reform nennen kann, entgeht meinem Verständnis. ({9}) Die Gesamtentlastung wird etwa 45 Milliarden DM betragen. ({10}) Wir haben eine Nettoentlastung von 25 Milliarden DM vereinbart; d. h. in jedem Fall wird die Nettoentlastung 25 Milliarden DM betragen. Davon ziehen wir rund 5 Milliarden DM auf den 1. Januar des nächsten Jahres vor. Daß Ihnen das alles so schwer runtergeht, kann ich ja verstehen. Aber wenn Sie ehrlich wären, wenn Sie wirklich etwas für den kleinen Lohnsteuerzahler machen wollten, müßten Sie das begrüßen, auch wenn es die Regierung macht, die Sie nicht wollen. Aber Sie begrüßen es nicht, weil es Ihnen egal ist. Sie wollen Ihre eigene Parteipolitik machen, während Ihnen der kleine Mann völlig schnuppe ist. Das ist die Wahrheit. ({11}) - Man braucht ja nur einmal zu sehen, wo die SPD die meisten Wählerstimmen verloren hat. ({12}) - In den Arbeiterbezirken haben Sie sie verloren. ({13}) Lassen Sie mich einige Bemerkungen zur allgemeinen Wirtschaftspolitik, insbesondere zur konjunkturellen Situation, machen. Es gibt eine breite Übereinstimmung - jedenfalls unter den Prognosen, die in den letzten Wochen gemacht worden sind - , daß der Wachstumstrend als solcher ungebrochen ist. Allerdings gehen die Ansichten über Tempo und auch über das Profil der weiteren Aufwärtsentwicklung auseinander, und zwar stärker, als wir das in den vergangenen Monaten verzeichnen konnten. ({14}) Einige Prognostiker rechnen für den Verlauf des Jahres mit einer verhaltenen Expansion, andere, darunter auch der Sachverständigenrat, erwarten, daß sich der Wachstumsprozeß in der zweiten Jahreshälfte wieder beschleunigt. Mit einer Rezession rechnet niemand. Ich würde die verehrten Damen und Herren der Opposition sehr bitten, bevor sie neue Prognosen anstellen, erst einmal zu prüfen, wie weit Ihre Prognosen aus den vergangenen vier Jahren zutreffend waren. Wenn Sie das tun, werden Sie feststellen, daß die Chance, in einem großen Zahlenlotto einen Gewinn zu machen, erheblich höher ist, als eine richtige Konjunkturprognose von der SPD zu bekommen. ({15}) Jedenfalls sind die Äußerungen, der Aufschwung sei vorüber, unwahr; sie treffen nicht zu. Im übrigen sind sie natürlich auch nicht ungefährlich. Manchmal hat man das Gefühl: Deswegen werden sie ja gemacht. ({16}) Jedermann weiß, daß die wirtschaftliche Entwicklung natürlich auch durch Erwartungen, durch Befürchtungen, durch Stimmungen beeinflußt wird. Deswegen stimmt es mich auch traurig, daß die Opposition, zum Teil auch die Gewerkschaften, durch eine solche Stimmungsmache dazu beitragen können - ob sie wollen, will ich dahingestellt sein lassen - , daß die konjunkturelle Entwicklung nachläßt. Das sollten Sie auch einmal überlegen, bevor Sie in Kassandra-Rufe ausbrechen. ({17}) Im übrigen haben wir im Jahreswirtschaftsbericht - ich würde Sie bitten, ihn nachzulesen; das war vor der Bundestagswahl - auf die Gefahren und Risiken, in die wir in diesem Jahr insbesondere durch die Veränderung außenwirtschaftlicher Daten kommen werden, deutlich hingewiesen. Wir haben uns also - das möchte ich deutlich sagen, damit keine weitere Legende entsteht - vor der Bundestagswahl sehr nüchtern mit dieser Situation auseinandergesetzt. ({18}) In der Einschätzung dessen, was man tun muß, gehen unsere Meinungen auseinander. Die Opposition glaubt, es sei Anlaß genug gegeben, nun Konjunkturprogramme und ähnliche Dinge in Gang zu setzen. Wir sind nicht dieser Meinung, und zwar aus zwei Gründen: einmal deshalb, weil wir wissen, daß solche Programme, selbst wenn sie nötig wären, nichts bewirken, aber zum zweiten, weil wir wissen, daß sie auch nicht nötig sind. Wir haben nach wie vor sehr gute Rahmenbedingungen für die Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufschwungs. ({19}) Die Preise sind stabil, wir haben im Produktionsbereich keine Engpässe, die Zinsen tendieren von einem sehr niedrigen Niveau aus weiter nach unten. Wir haben also keinerlei monetäre Friktionen. ({20}) Ursache für die Verspannungen ist vielmehr, daß die binnenwirtschaftlichen Expansionskräfte, die vorhanden sind, durch außenwirtschaftliche Probleme überlagert werden, die mit der starken D-Mark und insbesondere dem schwachen Dollar zusammenhängen. Jedermann weiß, daß im Verhältnis zur amerikanischen Währung die D-Mark sich von März 1985 bis Anfang dieses Jahres um mehr als 80 To verteuert hat. Übrigens, nebenbei gesagt, Herr Roth und auch Herr Jens - wenn ich mich richtig erinnere, obwohl Herr Jens sachlichere Beiträge liefert; aber ich glaube, da war er auch mit dabei - : Sie haben sich einmal hier aufgeregt und aufgeplustert, daß der Augenwert der D-Mark gesunken sei, und haben das als ein Ausweis dafür genommen, daß die Wirtschaftspolitik der Bundesregierung schlecht sei. Jetzt, wo der Außenwert der D-Mark enorm gestiegen ist, so hoch, daß wir selber damit Schwierigkeiten haben, nehmen Sie das natürlich nicht als Ausweis einer hervorragenden Position der Bundesregierung, sondern ganz im Gegenteil: Sie nehmen das als Zeichen einer falschen Währungspolitik. Es wäre, wenn Herr Vogel einmal eine Ursachenerforschung über Ihren Wahlmißerfolg anstellen würde, anzumerken, daß Sie mit Ihren wirtschaftspolitischen Überlegungen keinen einzigen Menschen überzeugt haben; und deswegen sollten Sie sich auch das einmal überlegen. ({21}) Daß dadurch der deutsche Export belastet worden ist, das brauche ich hier nicht auszuführen, das kann sich jeder ausmalen, und daß dieser Anpassungsprozeß heute natürlich seine Auswirkungen auf Wachstumsraten hat, ist richtig und unbestreitbar. Dabei können wir nach wie vor die kräftige Expansion der Binnennachfrage in Rechnung stellen. Dadurch können wir den negativen Impuls von reichlich einem Prozentpunkt aus den außenwirtschaftlichen Beziehungen des vergangenen Jahres möglicherweise in diesem Jahr auf Null bringen. Wir haben dann aber kein Wachstum aus dem Export; das muß ausschließlich aus der Binnennachfrage kommen. Im übrigen ist das auch ein Beitrag zur Stabilisierung der Weltkonjunktur, zu dem wir immer wieder aufgefordert werden. Die Importe werden bei uns sehr viel stärker steigen als in den vergangenen Jahren. Wie rasch auch diese Situation sich wieder verändert, hängt natürlich sehr stark von den währungspolitischen Entwicklungen ab. Das Pariser Treffen, das schon mehrfach erwähnt worden ist, wird - so hoffen wir - zu einer Stabilisierung des Dollarkurses auf dem augenblicklichen Niveau beitragen. Aber ich füge hinzu: Das ist für mich nicht ausreichend. Denn der augenblickliche Wechselkurs beim Dollar entspricht nicht dem eigentlichen wirtschaftlichen Austauschverhältnis zwischen D-Mark und Dollar. Deswegen hoffen wir, daß sich auch dieses Verhältnis wieder zu unseren Gunsten verändert. Im Moment ist diese Situation auch ein Beitrag dazu, daß die ausufernde Protektionismusdebatte in den USA ein wenig gedämpft werden kann. Man darf nicht übersehen, daß die bessere Entwicklung amerikanischer Exportchancen natürlich einen vernünftigen Beitrag zu dieser Debatte darstellen kann. Wir begrüßen das, weil wir sonst wirklich in exportbehindernde Maßnahmen der Amerikaner hineingekommen wären, die ansteckend hätten wirken können. Ich möchte auch sagen: Wenn wir in diesem Jahr den Wachstumstrend fortsetzen können - dafür gibt es nach wie vor sehr gute Aussichten - , dann ist das wichtiger als ein halber Prozentpunkt mehr oder weniger. Wir sind im fünften Jahr des Aufschwungs, und wir werden auch weiter im Aufschwung sein. ({22}) Ich möchte hier auch einmal deutlich machen, wer Verantwortung für die Entwicklung am Arbeitsmarkt trägt: einmal die Bundesregierung mit ihrer Wirtschaftspolitik, daneben die deutsche Wirtschaft mit ihren Investitionsentscheidungen; schließlich tragen aber auch die Tarifparteien mit den Abschlüssen, in diesem Jahr eine erhebliche Verantwortung für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Ich möchte nicht erleben, daß man jetzt ohne Rücksicht auf diese besonderen Bedingungen, auf die geschrumpften Spielräume, die wir in diesem Jahr haben, Lohnabschlüsse tätigt, die die Beschäftigung gefährden, und daß dieselben, die das getan haben, nachher der Regierung vorwerfen, sie tue nichts zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Das kann auch nicht sein. ({23}) Wir haben uns in den Koalitionsvereinbarungen auch ausführlich mit der Energiepolitik beschäftigt. ({24}) Der rationelle und sparsame Einsatz von Energie ist ein ganz entscheidender Wettbewerbsvorteil der deutschen Wirtschaft. Wenn dieser Wettbewerbsvorteil erhalten bleibt, dann kann man mit einer gesunden Wirtschaft auch die Arbeitslosigkeit besser bekämpfen. ({25}) - Wenn Sie diesen einfachen Zusammenhang endlich einmal begreifen würden! Sie haben jahrelang die Belastbarkeit der Wirtschaft getestet ({26}) und haben sich dann gewundert, daß dadurch Arbeitslosigkeit entstanden ist. ({27}) Deswegen kümmern wir uns darum, daß die Versorgung mit Öl nicht nur sicher, sondern auch preiswert ist. ({28}) Wir sind froh, daß wir insgesamt die Energiebezüge besser verteilen konnten, so daß die Sicherheit größer geworden ist. ({29}) Wir sagen nach wie vor: Kohle und Kernenergie - und zwar zusammen - bleiben das Rückgrat unserer Energiepolitik. Ich sage jetzt schon im Vorgriff auf Gespräche, die wir mit Nordrhein-Westfalen und dem Saarland führen werden - ich habe das schon vor der Bundestagswahl bei der Diskussion des Jahreswirtschaftsberichts warnend gesagt, und ich sage es jetzt noch einmal beschwörend - : Wer diesen Zusammenhang zwischen Kernenergie und Kohle aufgibt, der gefährdet die Förderung und den Absatz der deutschen Steinkohle. Das muß sich jeder sagen lassen. ({30}) Wir wollen nach dem schrecklichen Unfall von Tschernobyl nicht über die Sicherheitsfragen hinweggehen. Das haben wir nie gemacht. Wir werden sie weiter prüfen, wir werden weiter dafür sorgen, daß die Sicherheit bei uns und bei anderen verbessert wird, wenn sie noch verbessert werden kann. Dabei muß man aber diesen Zusammenhang mit der Steinkohle berücksichtigen. Wir werden diese Kohlepolitik fortführen. Der deutsche Steinkohlenbergbau ist zum Teil wegen der geologischen Bedingungen, unter denen er arbeitet, zum Teil aber auch wegen unseres Lohnniveaus, international nicht wettbewerbsfähig. Dieser Nachteil der deutschen Steinkohle hat sich durch den Verfall der Energiepreise auf dem internationalen Markt noch verschärft, wobei zwei Faktoren kumulierend gewirkt haben: einmal der Verfall der Ölpreise durch das Überangebot und dann noch der Verfall des Dollars. Das zusammengenommen hat natürlich die Probleme der Steinkohle, die sowieso schon vorhanden waren, noch vergrößert. Meine Damen und Herren, wir haben schon in der früheren Regierung - wir werden das in dieser Regierung fortsetzen - immer wieder gesagt: Wir werden alles tun, um diese Wettbewerbsnachteile des Steinkohlenbergbaus auszugleichen, soweit man das haushaltsmäßig überhaupt verkraften kann. Eines muß aber auch richtig sein: Der Steinkohlenbergbau muß eigene Anstrengungen unternehmen, um die Kosten in seinen Revieren zu senken. ({31}) - Macht er auch. Die Bundesregierung, die diese Kohlepolitik fortsetzen will, kann die zurückgehende Nachfrage bei der Stahlindustrie und die zurückgehende Nachfrage im Wärmemarkt nicht völlig ausgleichen. Das ist nicht zu machen. Wer das macht, der tut dem Land Nordrhein-Westfalen und dem Saarland keinen Gefallen. Hier liegt nämlich die Ursache dafür, daß das Wirtschaftswachstum in diesen Ländern nicht so befriedigend ist wie in anderen Ländern. Wer einen Strukturwandel, der unvermeidlich ist, künstlich verzögert oder gar aufhalten will, behindert die Ansiedlung moderner zukunftsträchtiger Industrie und tut allen Arbeitern damit nichts zugute. ({32}) - Ich kann Ihnen das an einzelnen Maßnahmen des Landes Nordrhein-Westfalen nachweisen, und ich werde das auch noch tun. ({33}) Meine Damen und Herren, die Subventionierung von Kohleexporten ist kein Beitrag zur Sicherheit der deutschen Energieversorgung. Wir müssen, wenn wir eine sichere Energieversorgung durch deutsche Steinkohle haben wollen, Steinkohle nicht subventioniert exportieren. Das ist, glaube ich, für jeden verständlich. Die hier vorhandenen Haushaltsbelastungen müssen wir abbauen, auch deshalb, weil uns die Kokskohlenbeihilfe in den nächsten Jahren zusätzlich Milliarden kosten wird. Deswegen ist es unvermeidlich, daß die deutsche Kohle diese Anpassungen ihrer Kapazität vornimmt. Das sind strukturelle Veränderungen. Diese Anpassungen werden wir sozial flankieren. Auch das haben wir in der Koalitionsvereinbarung deutlich gesagt. Jedermann kann sich darauf verlassen, daß das für den einzelnen erträglich bleibt, sosehr es für ihn ein schwerer Verlust ist, daß er nicht mehr auf seinem angestammten Arbeitsplatz wird arbeiten können. ({34}) Meine Damen und Herren, ich komme nun auf den Kohlepfennig zu sprechen. Ich habe den Kohlepfennig bis an die Grenze dessen heraufgesetzt, was ich nach den Beschlüssen des Parlaments selber tun konnte. ({35}) - Ich brauche das Gesetz nicht zu ändern, Herr Vogel! ({36}) - Wenn Sie das deutsche Parlament dazu bringen, die Beschlüsse zu fassen, die nach der bisherigen Rechtsgrundlage Beschlüsse des Parlaments sein müssen, dann kann ich damit leben; das ist nicht mein Problem. ({37}) Nur, ich muß Ihnen mitteilen, daß es eben - das haben wir hier heute schon gehört - nicht nur Nordrhein-Westfalen und das Saarland gibt, sondern auch eine Menge anderer Länder, und zwar nicht nur reiche Länder, die uns schreiben, sie wollten einen Kohlepfennig, aber einen Kohlepfennig, der Rücksicht auf ihre eigenen Energiekosten und Rücksicht darauf nimmt, daß sie selber an der Nutzung der billigen Kernenergie durch die Regierungspartei der beiden Revierländer gehindert werden. Auch das müssen Sie einmal verstehen. Daran geht kein Weg vorbei. ({38}) Meine Damen und Herren, kehren Sie doch zu den gemeinsamen Grundsätzen der Kohlepolitik zurück, dann können wir der Kohle helfen. Tun Sie doch nicht so, als ob wir der Kohle den Garaus machen wollten! ({39}) - Nein, das regt mich auf, weil es eine tiefe politische Heuchelei ist! ({40}) - Ja, das ist es! ({41}) - Setzen Sie sich wieder hin! Ich habe schon gesagt: Ich beantworte keine Zwischenfragen. Meine Damen und Herren, Sie setzen sich ja so für die Montan-Mitbestimmung ein. Da kann ich überhaupt nicht verstehen, daß man an dem Wahlverfahren Kritik übt. Ich fand es schon ein starkes Stück, von „radikalen Minderheiten" zu sprechen. ({42}) - Sie haben davon gesprochen! ({43}) - Ich habe Ihnen sehr gut zugehört. ({44}) Bei der Verbesserung des Betriebsverfassungsgesetzes haben Sie unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wahlrechte von Minderheiten kritisiert und von radikalen Minderheiten gesprochen, die wir sonst ({45}) - Ja, gut, wenn Sie es jetzt bestätigen, schreien Sie doch nicht dazwischen, wenn ich etwas sage. Dann ist es ja so! ({46}) Jetzt frage ich mich, meine Damen und Herren: Was für ein Demokratieverständnis einer Partei, die mehr Demokratie wagen will, ist es, wenn man den Arbeitern und Angestellten eines Betriebes nicht einmal die Möglichkeit gibt, ihre Vertreter auszuwählen, sondern wenn die von außerhalb des Betriebes, von den Gewerkschaften, entsandt werden? ({47}) Was für ein Demokratieverständnis ist das! ({48}) Wir werden deswegen unsere Vorschläge unter Berücksichtigung dieser Notwendigkeiten vorlegen. ({49}) Wir werden den Verstromungsfonds konsolidieren und die Erfüllung des Jahrhundertvertrages sichern. Dazu werden wir mit allen Beteiligten verhandeln müssen. Ich hoffe, meine Damen und Herren, daß Sie dabei ein wenig konstruktiv sind; denn wenn diese schwierigen Verhandlungen scheitern, leidet darunter der deutsche Bergbau, niemand sonst. ({50}) Meine Damen und Herren, wir müssen dabei auch berücksichtigen, daß - darüber wird ja immer wieder gesprochen - der regionale Ausgleich gewährleistet werden muß. Ich will einmal das Beispiel der Küstenländer nehmen. Wir haben vor kurzem den Küstenländern über ein besonderes Programm Hilfen zum Ausgleich der Nachteile, die durch die schwierige Situation der Werftindustrie entstehen, geboten. Wenn wir den Kohlepfennig so erhöhen würden - und in der Struktur unverändert ließen - , wie es nach der jetzigen Finanzlage des Kohlefonds notwendig wäre, würden wir den doppelten Betrag dessen, was wir den Küstenländern auf diese Weise gegeben haben, von ihnen wieder zurückverlangen. Das sind die nackten Zahlen, und deswegen muß man sich schon ein paar Gedanken machen, wenn man damit umgehen will. ({51}) Das gilt auch für die Situation beim Stahl. Nach zwei Jahren einer zumindest für die deutschen Stahlunternehmen einigermaßen befriedigenden Situation hat sich die Lage wieder verändert. Die Situation ist schlechter. Mengen und Preise sind zurückgegangen. Die Europäische Kommission schätzt, daß in der gesamten Gemeinschaft Überkapazitäten zwischen 20 und 30 Millionen Jahrestonnen bestehen. Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß die Industrie selber in dieser Situation eine Initiative ergriffen hat, in Eurofer, wo nicht alle Unternehmen zusammengeschlossen sind, um den Versuch zu machen, auf freiwilliger Basis solche Überkapazitäten stillzulegen, ({52}) wobei die Erlöse für den Verkauf von Quoten dazu dienen sollen, diese Stillegungen zu finanzieren, im besonderen auch im sozialen Teil. Ich habe das begrüßt; denn, meine Damen und Herren, hier gilt wie auch in der Schiffbauindustrie: Ich kann nicht, kein Mensch kann über lange Jahre hinweg Überkapazitäten aufrechterhalten, die keinen Markt haben. ({53}) Ich kann das nicht, und niemand kann es. Übrigens kann es auch die Landesregierung von NordrheinWestfalen nicht; auch die Landesregierung des Saarlandes kann es nicht. Zum Beispiel schon bei der Finanzierung einer Stahlstiftung in Nordrhein-Westfalen erklärt die dortige Landesregierung: Ja, finanziell können wir dazu natürlich nicht beitragen. Was hätten Sie gesagt, wenn die Bundesregierung das gesagt hätte? Wir sind bereit, alles zu tun, um diese Stillegungen zu flankieren. Deswegen haben wir uns im Ministerrat damit durchgesetzt - obwohl wir ursprünglich eine andere Auffassung hatten - , daß die Quotenregelung verlängert wird. Denn natürlich kann dieser Plan nur funktionieren, wenn Quoten handelbar werden. Aber sie sind nicht handelbar, wenn sie sofort abgeschafft werden. Wir werden das auch weiter begleiten. Ich bin dafür und werde mich dafür einsetzen, daß diese Quotenregelung verlängert wird, die wahrhaftigen Gottes ja nun nicht gerade marktwirtschaftlich ist, ({54}) damit diese Möglichkeit entsteht. Wir werden uns auch flankierend für Sozialmaßnahmen aus dem Montanunionsvertrag einsetzen. Am 19. März, also morgen, werden wir uns darüber zu unterhalten haben. Wir haben jetzt schon national die Bezugsdauer für Kurzarbeitergeld auf 36 Monate verlängert. Wir werden auch weiter die Hilfen nach Art. 56 EGKSV bezahlen. Wir prüfen auch, ob wir diese Leistungen verbessern können; auch das können wir tun. Aber eines kann man beim besten Willen nicht, und das kann niemand, der ernsthaft diese Politik betreibt: Ich kann nicht jeden Stahlstandort, auch nicht im Kern, garantieren. Das ist es, was Sie mal überlegen müßten. Fühlen Sie denn nicht, daß Sie mit diesen Hoffnungen, die Sie da erwecken - wenn Sie ehrlich sind, müssen Sie sagen: niemand kann sie erfüllen - die Situation dieser Menschen noch trostloser machen, die glauben, daß ein solcher Stahlstandort, obwohl die Industrie überdimensioniert ist, erhalten werden kann, die sich auf Sie verlassen und nachher erkennen müssen, daß es so nicht gehen kann? Ich bin für eine Politik der Ehrlichkeit. Ich halte das für menschlicher, als unhaltbare Versprechungen zu machen. ({55}) - Ich habe das alles vor der Wahl gesagt; im Jahreswirtschaftsbericht steht das. Wir haben bei der Gemeinschaftsaufgabe eine Sitzung im Planungsausschuß gehabt. Dort haben wir eine Verlängerung des Stahlstandorteprogramms bereits angekündigt. Wir haben jetzt beschlossen: Das Stahlstandorteprogramm wird verlängert. Aber Sie nehmen ja nicht zur Kenntnis, was wir machen; ({56}) das ist doch das Problem. Es mag sein, daß unzureichend ist, was wir machen. Es mag auch sein, daß wir manches falsch machen; das will ich nicht ausschließen, das kann ich nicht ausschließen. Der Dialog zwischen Regierung und Opposition muß darin bestehen, daß die Opposition die Regierung auf Fehler aufmerksam macht. Ich bin frei davon, zu behaupten, daß wir keine Fehler machen können. ({57}) Nun, meine Damen und Herren: Dieser Dialog kann nur sinnvoll sein, wenn Sie die Kraft haben, das auch anzuerkennen und mitzutragen, was wir richtig machen. Denn auch das kommt vor, daß wir etwas richtig machen. ({58}) Meine Damen und Herren, zu diesem Bild gehört auch, was die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen falsch macht. Ich darf das mal sagen. Ja, wundert man sich denn, wenn sich neue, jüngere Industriebetriebe in Baden-Württemberg oder in Bayern ansiedeln, wenn sie in Nordrhein-Westfalen Bedingungen vorfinden, die sie nicht akzeptieren können? ({59}) Ich will Ihnen das sagen: Sie unterhalten sich in Nordrhein-Westfalen immer noch, ob der Abstandserlaß der Landesregierung nicht die verfügbaren Gewerbegrundstücke ungebührlich verringert und damit die Unternehmens- und Arbeitsplatzentwicklung behindert. Sie haben Ihre Schwierigkeiten mit dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur. Was soll man denn dazu sagen, daß einer der frequentiertesten Flugplätze der Bundesrepublik nicht durch eine Autobahn angebunden ist, nein, daß die Autobahn bis zum Rhein geht, und sich dann die Landesregierung weigert, eine Brücke über den Rhein zu bauen? Ist das Industrieansiedlungspolitik? Da faßt man sich an den Kopf. ({60}) Ihr Finanzminister in Nordrhein-Westfalen gibt ja zu, daß sein Land verschuldet ist, und er greift zu Maßstäben, die man in einem anderen Subkontinent suchen muß, den ich jetzt nicht benennen will, weil das im Augenblick zu ungebührlichen diplomatischen Schwierigkeiten führen könnte. ({61}) Sie sagen: Wir sind bis über den Hals verschuldet. Aber kein Mensch kommt auf die Idee, einmal darüber nachzudenken, warum das so ist und ob man das nicht ändern sollte, kein Mensch! ({62}) Ihre eigenen Universitäten und Forschungseinrichtungen rechnen Ihnen vor, daß sie gar keine Bücher mehr haben. ({63}) Und dann stellen Sie sich hierhin und wollen uns Ratschläge geben. Das ist schon toll; das muß ich schon sagen. Nicht mal Bücher können Sie bezahlen, meine Damen und Herren! ({64}) Meine Damen und Herren, es kommt hinzu, daß Sie über die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen immer noch Illusionen haben. Niemand - auch eine Stahlstiftung vermag das nicht - kann Ersatzarbeitsplätze schaffen, die auf Dauer rentabel sind. Das können nur Unternehmen, und Unternehmen können es nur, wenn sie vernünftige Rahmenbedingungen dafür vorfinden. Meine Damen und Herren, deswegen wollen wir uns z. B. bei Eureka, im Rahmen unserer Forschungspolitik sowie bei der Luft- und Raumfahrtpolitik engagieren; denn wir wissen, daß damit neue, zukunftsträchtige Arbeitsplätze entstehen. Das ist nicht - falls Sie das wieder annehmen - eine Frage von Nord und Süd; aber wenn es tatsächlich der Fall sein sollte, dann ist es höchstens eine Frage des Nordens, denn dort existieren sehr viel mehr Arbeitsplätze - die durch den Airbus entstanden sind - als im Süden. Dieses Engagement werden wir auch durch die Fortsetzung unserer Politik für den Freihandel ergänzen. Hier haben wir die neue GATT-Runde erreicht. Es kommt darauf an, sie zu einem Erfolg zu machen. Wenn wir all das tun, meine Damen und Herren, dann darf natürlich nicht vergessen werden, daß dabei auch die innere Verfassung unserer Gesellschaft und unserer Republik eine Rolle spielen wird; denn Menschen, die in einer Republik leben, in der sie Entfaltungsraum finden, sind natürlich eher bereit, an ihre Zukunft zu glauben. ({65}) Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen: Ein Staat, der darauf achtet, daß dieser Freiheitsraum erhalten bleibt, beteiligt sich nicht an der Diskussion über Sinnstiftung, sondern stellt Bedingungen her, unter denen die Menschen frei entscheiden können, worin sie Sinn sehen. ({66}) Zum Abschluß möchte ich mich ein wenig mit dem beschäftigen, was Frau Schoppe gesagt hat und was die GRÜNEN in den Diskussionen ja auch weiter vortragen. ({67}) Ich bin nicht Ihrer Meinung, aber ich finde es gut, daß Sie in der Bundesrepublik leben; denn damit leben Sie in einem der wenigen Staaten, in denen Sie Ihre Meinung nicht nur artikulieren, sondern auch im Parlament durchsetzen können. Sie sind hierher gewählt worden; das ist wahr. Ungefähr drei Millionen Menschen haben Sie gewählt. Aber, meine Damen und Herren, drei Millionen Menschen haben Sie in ein Parlament eines demokratischen Rechtsstaats gewählt. Diese Menschen erwarten von Ihnen nicht nur Einsatz in Sachfragen, sondern auch, daß Sie die Freiheit des demokratischen Rechtsstaates mit uns zusammen verteidigen. Dazu gehört zweierlei. ({68}) - Das ist Ihnen unangenehm; das weiß ich. Ich habe bei drei Debatten - zwei davon waren im Fernsehen zu sehen - versucht, mit führenden Mitgliedern - wenn der Ausdruck erlaubt ist; jedenfalls mit Mitgliedern, die Sie dort hingeschickt haben -, ({69}) die Frage zu klären ({70}) - ich will mich ja nicht in die Frage der Elitebildung einmischen - : Wie halten Sie es nun mit der Gewalt? Das ist in der Tat eine Kernfrage. Da lohnt sich auch ein Blick zurück in die Geschichte; denn jedenfalls eine deutsche Demokratie ist daran gescheitert, daß diejenigen, die in den Parlamenten saßen und die Demokratie verteidigen wollten, ohnmächtig waren, weil es sehr viele andere gab, die glaubten, sie könnten ihre politischen Ziele mit Gewalt durchsetzen. Wenn Sie deswegen im Interesse eines demokratischen Rechtsstaats hier sitzen wollen, dann bereinigen Sie das mit der Gewalt mal. ({71}) Meine Damen und Herren, das zweite ist dies: Wenn Sie so für Menschlichkeit eintreten, wie Sie das hier tun, und wenn Sie - wie das heute wieder zum Ausdruck kam - glauben, daß die neue Menschlichkeit bei Ihnen zu Hause ist, dann räumen Sie anderen, die anderer Meinung sind, doch wenigstens mal das Recht auf Irrtum ein. ({72}) Sie behandeln andere, wie Missionare früher einmal die Ungläubigen behandelt haben: von oben herab, überzeugt davon, daß nur das richtig ist, was Sie selber glauben. Aber das ist fast noch undemokratischer als die Bejahung der Gewalt; denn Demokratie lebt von der Toleranz. Und Toleranz heißt: Ich selber kann mich irren, und ich muß dem anderen zeigen, daß ich nicht an meinen dogmatischen Auffassungen festhalte, sondern ihn als Demokrat würdige. Das wünsche ich mir für diese Legislaturperiode. ({73})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe vom Herrn Bundeswirtschaftsminister viel gehört. Nur eines habe ich nicht gehört: wie die 2,5 Millionen registrierten Arbeitslosen und wie die weitere eine Million nicht registrierten Arbeitslosen in den nächsten vier Jahren von der Straße kommen sollen. ({0}) Sie haben 27 Minuten gebraucht, bis überhaupt die Arbeitslosigkeit zur Sprache kam. Sie hatten vorher Zeit, über alles mögliche zu reden, aber nicht über das Hauptexistenzproblem in der Bundesrepublik Deutschland. Sie wußten sogar etwas zur Sprecherentscheidung der SPD zu sagen. Als Vorsitzender einer Partei mokieren Sie sich über Vorgänge in der SPD, obgleich Ihr Landesverband Berlin derzeit im Chaos ist. Sorgen Sie also für Ihren Verein, bevor Sie der alten, bewährten SPD auf diesem Gebiet Vorhaltungen machen! ({1}) Mir kommt es sowieso komisch vor, daß sich ein Liberaler über die Tatsache mokiert, daß jemand Frau ist, daß jemand, obgleich Jahrzehnte hier gelebt hat, noch einen ausländischen Paß hat, daß jemand Sprecher der SPD wird, obgleich er nicht von Anfang an ihr Mitglied ist. Ihren Liberalismus können Sie bei der Geschichte in die Tasche stecken. Da haben wir inzwischen mehr politischen Liberalismus aufgenommen und praktiziert, als Sie ihn bewahrt haben. ({2}) Ich habe gesagt, wir haben keine Perspektiven gehört. Ich weiß nicht, wie jetzt die Antwort des Bundeswirtschaftsministers in bezug auf die Massenarbeitslosigkeit lautet. Wie geht es in der Landwirtschaft weiter? ({3}) Das wurde angesprochen, aber ich habe keine Antwort gehört. Wir wissen - das sage ich auch in Richtung auf die CDU/CSU -, daß sich die deutschen Landwirte in der schwersten Existenzkrise seit Gründung der Republik befinden. Wir Sozialdemokraten sind in unserer Geschichte keine Partei der Agrarier gewesen. Aber wir waren stets eine Partei der sozial Benachteiligten und Bedrängten. Deshalb ist das Landwirtschaftsproblem für uns auch gleichzeitig ein Problem, das in der Tradition der Sozialdemokratischen Partei gelöst werden muß. ({4}) Meine Damen und Herren, ich sage das jetzt nur in Richtung auf die CDU/CSU, weil ich insofern von der FDP und vom Wirtschaftsminister nichts mehr erwarte: Wir sollten jetzt über eine neue Agrarpolitik nachdenken und aufhören, diese Polemik gegeneinander auf dem Rücken der Landwirte zu führen. ({5}) Worum geht es? Jeder von uns, der wirtschaftspolitische Verantwortung trägt, weiß, daß den deutschen Landwirten mit aktiver Preispolitik nicht mehr zu helfen ist. Das scheitert in Europa. Jeder von uns weiß, daß der bäuerliche Familienbetrieb nur mit direkten, flächenbezogenen, ökologisch ausgerichteten Einkommensübertragungen zu sichern ist. Wir wollen den Bäuerinnen und Bauern, die sich in vielen Fällen zu Tode schuften, helfen. Meine Meinung ist - nehmen Sie unser Angebot an der Stelle auf - : Wir müssen wegkommen von Spiegelfechtereien gegen Brüssel und zu einem Agrarkonzept kommen, mit dem der bäuerliche Familienbetrieb gerettet werden kann. Ich sage bewußt: gerettet werden kann; es ist fünf Minuten nach zwölf. ({6}) Dann gehört es dazu, daß man Mut hat. Was ist das für eine CDU-Fraktion, die ihren früheren Wirtschaftssprecher Narjes so in den Senkel stellt, obgleich er nur die Wahrheit ausgesprochen hat, die Matthöfer ausgesprochen hat oder die Stoltenberg ausspricht, daß mit der Explosion der Agrarkosten in Europa, Europa nicht zu halten ist? Deshalb ist eine Änderung der Agrarpolitik notwendig. Wir sind dazu bereit. ({7}) Meine Damen und Herren, zum Stahlbereich. Herr Bangemann, Sie haben sich über die SPD mokiert und gesagt, sie werde vor allem im Arbeitnehmer-, im Arbeiterbereich nicht ausreichend gewählt. Ich will Ihnen nur einmal ein Wahlergebnis eines Kollegen vortragen, der hier im Raume sitzt. Das ist ein StahlWahlkreis: Duisburg. Helmut Wieczorek hat 60 % der Stimmen bekommen. Ihre Partei hat in diesem Arbeiterbezirk 2,8 % bekommen. ({8}) Die CDU, die Arbeiterpartei des Herrn Blüm, wie er sich neuerdings geriert, hat 27 % bekommen. Der Herr Blüm, der neue Arbeiterführer, .als der er sich vorgeführt hat, hat in Dortmund 29 % bekommen. Also lassen Sie das in Ruhe. Sie hätten auf dem Münsterplatz in Bonn letzte Woche Solidarität mit den Arbeitnehmern aus dem Stahlbereich demonstrieren können. ({9}) Da war kein Mitglied der CDU, da war kein Mitglied der CSU, da war keiner von der FDP. Sie haben die Stahlarbeitnehmer alleingelassen. Jedenfalls hat uns das gestern ein Betriebsrat der Thyssen AG so in unserer Fraktion gesagt.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Lammert?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001274, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrter Herr Kollege Roth, würden Sie freundlicherweise zur Ergänzung Ihres Informationsstandes zur Kenntnis nehmen, daß eine Delegation der Bundestagsfraktion der CDU/ CSU unter Einbeziehung des sozialpolitischen Sprechers, des wirtschaftspolitischen Sprechers, des Vorsitzenden der Arbeitnehmergruppe und aller einschlägigen Arbeitsgruppen der Fraktion selbstverständlich am Münsterplatz gewesen ist, ({0}) um mit den Kollegen, den Betroffenen gestern unmittelbar im Anschluß an unsere Fraktionssitzung, also der frühesten zeitlich sich bietenden Gelegenheit, genau diese Frage gemeinsam zu bereden?

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich merke bei Ihrer Frage eines, Herr Kollege: daß unsere Fraktionssitzungen zum Glück keine so geschlossenen Veranstaltungen sind, daß Sie nicht gehört haben, daß diese Kritik bei uns formuliert worden war. Ich bewundere Ihre schnelle Reaktion auf Grund dieser Kritik. ({0}) Aber es bleibt dabei: Sie sind nicht spontan dort gewesen, sondern erst, nachdem die Kolleginnen und Kollegen das kritisiert haben. Meine Damen und Herren, ich nehme ein Wort von Herrn Bangemann auf. Er hat gesagt, daß die Sache kompliziert ist und daß es Anpassungsprozesse gibt. Das ist völlig klar. Jeder hier im Raume wäre ein Pharisäer, wenn er so täte, als wären die Stahlprobleme einfach zu lösen. Aber, meine Damen und Herren, Herr Bangemann, es ist möglich, die Stahlstandorte im Kern zu erhalten. Alle Unternehmen, die dort tätig sind, sind Großkonzerne. ({1}) Alle, die dort tätig sind, haben erhebliche Hilfen im Subventionsbereich erhalten. Alle, die dort tätig sind, haben erhebliche Rückstellungen für eine ungewisse Zukunft vorgenommen. Das sind alles steuerliche und subventionsmäßige Hilfen. Dann aber erwarten wir von Thyssen, von Hoesch, von Krupp eine Standortplanung, die Standorte wie Hattingen und Oberhausen u. a. nicht ausradiert, sondern bewahrt, auch mit Ersatzarbeitsplätzen. Darum geht es. ({2}) Wenn nach der Rohstahlproduktion Stahlweiterverarbeitung anschließt, so ist das Strukturveränderung, die wir unterstützen werden und die wir akzeptieren. Meine Damen und Herren, die nächste Enttäuschung dieser Rede von Bangemann war die Äußerung zur Kohle. Mir ist jetzt klargeworden, daß die Berechnungsmethode beim Kohlepfennig aufgegeben ist. ({3}) Es war ein bißchen zweideutig: einerseits die Tendenz dazu in der Absprache der Koalitionsparteien und andererseits heute das schwülstige Bekenntnis des Bundeskanzlers zur Kohle. Jetzt haben wir als Resultat die klare Aussage vom Wirtschaftsminister, der das zu exekutieren hat: Wir werden den Kohlepfennig nicht mehr wie bisher in der automatischen Form berechnen. Das ist die Aufgabe der Kohlevorrangpolitik und nichts anderes. Diese Berechnungsmethode gerade auch bewußt - wir hatten sie mit erfunden - für schwierige Zeiten erarbeitet worden. Diese Berechnungsmethode jetzt aufzugeben bedeutet natürlich, daß die Kohle keine sichere Zukunft mehr hat, und das wird natürlich durch andere Entscheidungen flankiert. Sie haben nichts zu der Beseitung der Exporthilfe innerhalb der nächsten zwei Jahre gesagt. ({4}) - Das war nicht für 1988, sondern für 1991 verabredet. ({5}) Das bedeutet jetzt in dieser Phase der Rezession sofort eine Gefährdung von 30 000 Arbeitsplätzen innerhalb der zwei Jahre im Ruhrgebiet, ({6}) sofort im Bereich der Kohleproduktion selber und im Zuliefererbereich. Sie haben mit dieser Entscheidung, innerhalb von zwei Jahren die Subventionen für die Exporte zu streichen, 30 000 Arbeitsplätze innerhalb der nächsten zwei Jahre zu verantworten, wobei die Ersatzarbeitsplätze im Ruhrgebiet nicht darstellbar sind, was Sie ganz genau wissen. Das heißt, die zeitliche Anpassungsbewegung wird abrupt unterbrochen. Das ist Beendigung der Kohlevorrangpolitik. Herr BiedenRoth kopf - ich habe gehört, Sie haben anschließend Gelegenheit, dazu etwas zu sagen - , Sie sollten uns als Vorsitzender der CDU Westfalen - Sie haben auch sonst Mut - hier Ihre Opposition zu einer Mehrheitsentscheidung dieser Koalition ausdrücklich sagen. Sonst sind Sie für das Revier nicht glaubwürdig. ({7}) Meine Damen und Herren, jetzt beginnt für die Wirtschaftspolitik die Nagelprobe. In Schönwetterperioden zu regieren, ist nicht schwer. Wir wissen aus vielen Anzeigen - Auftragseingänge seit dem letzten Sommer, Produktion in der Industrie seit dem letzten November - , daß die Konjunktur gebrochen ist. Das sehen viele so, nicht nur die SPD, die meisten Institute, Teile der Wirtschaft, und die Presse sieht das so. Ich lese Ihnen nur einen kurzen Abschnitt aus einem Kommentar einer liberalen Zeitung, dem Berliner „Tagesspiegel" , vor: Mit der Sturheit von Durchhaltegenerälen der Wehrmacht verteidigt das Bundeswirtschaftsministerium seinen Jahreswirtschaftsbericht mit seinen längst überholten Vorstellungen. Wer noch einigermaßen daran geglaubt hat, daß solche Berichte einen Sinn haben, der kann sich da nur wundern. Dieses Wahlpamphlet kann doch im Ernst keine Grundlage für eine vorausschauende Wirtschaftspolitik sein. Was derzeit not tut, ist eine nüchterne Bestandsaufnahme der Situation, die sich aus dem drastisch veränderten Wechselkurs, der sich verschärfenden Schuldenkrise und den wiederaufflammenden Inflationsgefahren ergibt. Wäre der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Situation auch nur einigermaßen unbefangen, er würde von sich aus ein Sondergutachten vorlegen. So mancher Blütentraum wäre dann vorüber. Es geht nicht mehr darum, ob es 1,5 oder 2,5 % Wirtschaftswachstum in diesem Jahr geben wird, sondern mittlerweile ist die Gefahr einer Rezession nicht mehr auszuschließen. Das ist das Votum einer liberalen Zeitung. Meine Damen und Herren, Sie wußten das, und deshalb halten wir den Vorwurf aufrecht, daß Sie in der gesamten Wahlkampfzeit die Bürger der Bundesrepublik Deutschland über die Schwierigkeiten der aktuellen Konjuktursituation getäuscht haben. Deshalb ist der Begriff der Aufschwungslüge, den wir in diesen Wahlkampf eingeführt haben, nicht nur richtig, er bestätigt sich jeden Tag mehr. ({8}) Jetzt ginge es darum, eine hausgemachte Antwort auf die internationalen Probleme zu finden. Aber was ist die Antwort? Sie bezieht sich vor allem auf die Senkung des Spitzensteuersatzes, und das auch noch zu Zeitpunkten, die überhaupt nicht aktuell sind. Wie kann man eigentlich, Herr Bangemann, von Bekämpfung der Arbeitslosigkeit mit einer Steuerreform sprechen, die im Jahre 1990, von heute aus in drei Jahren, wirksam wird? Wie kann man von der Bekämpfung einer beginnenden Rezession reden, wenn man Steuerentscheidungen auf den 1. Januar 1988 vertagt hat? Das ist von der Reaktionszeit her überhaupt nicht wirksam. Meine Damen und Herren, ein paar Worte in Sachen Verteilung: In den letzten Jahren haben Sie, was Steuerpolitik, Finanzpolitik und Abgabenpolitik betrifft, nun weiß Gott eine Umverteilung von unten nach oben stets mit dem Argument vorgenommen, das werde die Investitionen pushen. Ich nenne nur eine Zahl: Die Einkommenszuwächse der Unternehmer und Vermögenseinkommensbezieher betrugen zwischen 1982 und 1986 155 Milliarden DM. Davon sind nur 10,2 Milliarden DM weggesteuert worden. Das heißt: Rund 145 Milliarden DM sind tatsächlich mehr in der Kasse zusätzlich verblieben. Und wo blieb der Investitionsboom? Er fand überhaupt nicht statt. Die systematische Vernachlässigung der Nachfrage in der Wirtschaft, die systematischen Vernachlässigung der Masseneinkommen hat dazu geführt, daß es trotz der optimalen Gewinnsituationen, trotz der Explosion der Gewinne nicht zu Investitionen gekommen ist, wie man sie früher erwartet hatte. Das ist die Antwort auf die falsche Einkommenspolitik der letzten Phasen. ({9}) Und nun wollen Sie beispielsweise, meine Damen und Herren, den kleinen und mittleren Selbständigen erzählen, die Senkung des Spitzensteuersatzes bringe jetzt die Investitionswelle. Herr Hauser, auch Sie, so höre ich, werden nachher noch etwas sagen. Kennen Sie in Ihrem Verband, in dem Sie aktiv sind, wirklich viele kleine und mittlere Selbständige, die den Spitzensteuersatz bezahlen, d. h. solche, die mehr als 260 000 DM zu versteuerndes Einkommen haben? Die können wir hier dann einmal versammeln, und mit denen können Sie dann Ihre Gruppenpolitik machen. Wir Sozialdemokraten engagieren uns für den kleinen Selbständigen, der bei seinen Investitionen wirklich Schwierigkeiten hat. ({10}) Meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben nach der Diskussion mit unseren gewerkschaftlich organisierten Kollegen in unserer Fraktion ja zur steuerfreien Investitionsrücklage gesagt, weil sie den Kleinen hilft. Ich will Sie nicht quälen, Herr Hauser. ({11}) Nur, bis in die letzten Tage hinein hat u. a. Herr Schnitker, ein CDU-Kollege von Ihnen, Verbandsvorsitzender des Handwerks, gesagt, die steuerfreie Investitionsrücklage sei richtig, so auch in München auf dem Handwerkertag. Er hat da nicht vom Spitzensteuersatz geredet, der Herr Schnitker; so aufrichtig ist er. Der weiß nämlich, daß der kleine Handwerker etwas von einer Investitionsrücklage hat. Wir fordern Sie weiter auf: Bleiben Sie - Sie als Mittelstandsvereinigung in der CDU, falls Sie sich weiter so nennen wollen - bei dieser richtigen Steuerpolitik und leh114 nen Sie die Senkung des Spitzensteuersatzes ab! Das ist die richtige Orientierung. ({12}) Meine Damen und Herren, ich frage nach den Perspektiven: Der Herr Bundeswirtschaftsminister hat wenig zur Industriepolitik gesagt. Das überrascht mich insbesondere deshalb, weil er ja so viel zu wegfallenden Arbeitsplätzen in der Stahlindustrie und im Kohlesektor gesagt hat. Meine Damen und Herren, wenn Sie recht haben, daß diese Anpassungsprozesse jetzt anfallen - und manches davon ist natürlich richtig - , dann müßten Sie nach meiner Überzeugung in besonderem Umfang eine aktive Industriepolitik zugunsten der benachteiligten Standorte, Regionen und Sektoren betreiben. Wir müßten Alternativen entwickeln und dürften nicht global, allgemein, ohne konkrete Orientierung über Marktwirtschaft und soziale Marktwirtschaft philosophieren. Hier in diesem Hause gibt es keinen Sozialdemokraten, der nicht völlig einverstanden ist mit der Aussage, daß der Markt ein unersetzliches Steuerungsprinzip unserer Volkswirtschaft ist. Und in diesem Raum sollte auch keiner sitzen, der so tut, als ob der Markt in benachteiligten Regionen in zerfallenden Branchen aus sich heraus Antworten auf die soziale Frage bringt. Das ist doch die Abgrenzung. ({13}) Wir sind der Meinung: Wir brauchen heute eine aktive Industriepolitik. Ich frage Sie: Wo sind Ihre Strategien zur Sicherung einer deutschen und europäischen Position auf den künftigen Weltmärkten für die Hochtechnologie? Immer wird gesagt, das löse der Markt automatisch. Herr Riesenhuber ist nicht da. Ich habe seine Rede auf der CeBIT in Hannover gehört. Es war eine Rede zum Rückzug des Staates aus der Forschungs- und Technologiepolitik. Meine Meinung ist: Der Weg muß ganz anders sein. Wir müssen neue Felder zusammen mit der Wirtschaft erschließen. Felder gibt es genug. Bedürfnisse gibt es genug: im Umweltsektor, im Bereich des Gesundheitsschutzes, des Arbeitsschutzes, in vielen Sektoren, die bisher vernachlässigt wurden, in der Infrastruktur. Überall dort wird der Markt erfolgreiche Antworten finden, wenn der Staat bereit ist, positive Startbedingungen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die das zur Entfaltung bringen. Genau hier - seien Sie doch ehrlich - kommen Sie in Konflikt mit Ihren Steuerversprechungen. Wer ungedeckt 45 Milliarden DM an Steuernachlässen verspricht, hat keine müde Mark für eine effiziente Industrie- und Forschungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland übrig. ({14}) Herr Riesenhuber ist mit der Abwicklung der unseligen Kosten der Kernenergie zugepackt, zugedeckt. 1,3 Milliarden DM im Etat sind allein für Kernforschung blockiert und in der Regel gar nicht mehr für aktive Forschung, sondern für Probleme der Sicherheitsforschung, der Forschung zur Beseitigung des atomaren Mülls und vieles andere mehr - das heißt: für nichts, was in die Zukunft weist. Sein Etat ist blokkiert. Wo hat er Mittel beispielsweise für umfassende Forschungen im Bereich der alternativen Technologien frei? ({15}) 230 Millionen DM zur Erforschung alternativer Energien stehen 1,3 Milliarden DM zur Kernforschung gegenüber. ({16}) Das heißt, die Alternativen sind versperrt. Das gilt in gleichem Umfang für die europäische Forschungs- und Technologiepolitik. Ist es nicht so, Herr Bangemann, daß die Bundesrepublik Deutschland technologisch, wirtschaftlich und demzufolge auch fiskalisch das führende Land in Europa ist? Aber warum schlägt dann Frankreich Eureka vor, und nicht diese Bundesregierung? Wir sollten doch europäische Forschungperspektiven entwickeln und Industrieperspektiven entfalten. Warum sind Sie die Zögernden auf diesem Gebiet? Helmut Schmidt war damals derjenige, der zusammen mit Giscard für Europa in der Währungsfrage und in der Forschungsfrage die Leitfunktion übernommen hat. ({17}) Und wie kommt es denn eigentlich, daß heute in der Rede des Bundeskanzlers und in der Rede des Herrn Bangemann, was eine europäische Kooperation betrifft, keinerlei Perspektive entstanden ist? Es gab nur Mäkelei gegenüber der Agrarpolitik. Darüber sind wir uns zum Teil einig. Aber zum Teil frage ich mich auch: Warum haben Sie dann nicht die Kraft, neue europäische Ansätze zu suchen, die dann die Herausforderung aus Amerika und Japan in der richtigen qualitativen Orientierung beantworten? Das gilt besonders für die Umweltzerstörung. Die Bundesrepublik Deutschland müßte, gerade was alternative Umwelttechnologien betrifft, der Vorreiter in Europa sein. Und was machen Sie? Schon Ansätze dazu, nämlich unser Programm „Arbeit und Umwelt" , begleiten Sie permanent mit negativen Urteilen und verurteilen es. ({18}) - Herr Baum, weil Sie dazwischenrufen, es sei eine Sackgasse: Worüber ich mich wundere, ist, daß der Herr Wicke vom Bundesumweltamt, ({19}) der dieses Programm ausdrücklich als das entscheidende Instrument zur Beseitigung der Altschäden aus der Umwelt gelobt hat, von der Theodor-Heuss-Stiftung den Preis bekommt, dieses Programm aber dann, wenn die SPD es vorschlägt, ein Irrweg ist. Herr Baum, packen Sie das doch mit an! Sie wissen wie ich, daß die Schäden der letzten 25 Jahre - in denen wir gemeinsam die Probleme nicht so erfaßt haben, wie es hätte sein müssen - beseitigt werden müssen. Wenn diese Beseitigungskosten nicht aufgebracht werden, werden wir in großen Regionen weiterhin Industriebrachen, vergiftete Böden, zerstörte LebensbedingunRoth gen und eine Beeinträchtigung der natürlichen Lebensgrundlagen haben. ({20})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter? - Keine Zwischenfragen.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich bin am Schluß meiner Ausführungen. ({0}) - Verehrter Herr Gerster, Sie sind jetzt, soweit ich weiß, in eine neue Funktion gekommen. Sie wissen in ein paar Monaten noch besser, daß man sich seinen Fraktionskollegen gegenüber fair verhält. Ich habe meine Redezeit verbraucht. Ich werde anschließend das Glück haben, daß der Herr Mitzscherling die außenwirtschaftlichen Aspekte ansprechen und ein paar Ergänzungen zu dem anbringen wird, was ich vorgetragen habe. Deshalb bitte ich den Herrn Baum um Verzeihung, daß ich seine Zwischenfrage nicht mehr zulassen konnte. Ich wollte Ihnen zum Schluß nur noch eines sagen: Diese zweieinhalb Stunden Vortrag des Herrn Bundeskanzlers waren für mich, aber nicht nur für mich - wir haben ja schon Reaktionen - , sondern auch für viele in der Bevölkerung, die das angeschaut haben, quälend. Sie haben sich erinnert, wie der Herr Geißler einen Wahlkampf mit dem Begriff Zukunft orientiert hat. Sie haben zweieinhalb Stunden zugehört und haben von der Zukunft und ihren Perspektiven in diesem Deutschen Bundestag ({1}) vom Bundeskanzler kein Wort gehört, insbesondere was die Arbeitslosigkeit betrifft. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hauser. ({0})

Hansheinz Hauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000833, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ich komme gleich darauf, Herr Kollege Roth. Meine Fraktion begrüßt das eindeutige Bekenntnis der Bundesregierung zum wirtschaftspolitischen Kurs der letzten Jahre, um ihn fortzusetzen. Wir begrüßen ihn deshalb, weil er erfolgreich gewesen ist und weil er unser Land aus der tiefsten Rezession, die seit Ende des Krieges in diesem Land stattgefunden hat, wirtschaftlich wieder nach vorn gebracht hat. ({1}) Das ist nicht zu bestreiten - bei aller Polemik, die Sie auch in diesem Zusammenhang ansonsten versprühen mögen. Mehr Marktwirtschaft, mehr Wettbewerb: ({2}) Dabei geht es uns nicht um die Welt der Unternehmer, sondern um die Welt, in der man etwas unternehmen kann, und zwar alle Bürger, Arbeitnehmer und Unternehmer. Es geht um eine Welt, in der die wirtschaftliche Freiheit die Voraussetzungen dafür schafft, daß die gesellschaftliche Freiheit erhalten bleibt. Im Interesse der Freiheit unseres Volkes und im Interesse seiner sozialen Sicherheit kann es für uns keinen Zweifel daran geben, daß unsere Ausrichtung auf eine marktwirtschaftliche Politik die Leitlinie für die Wirtschafts- und Steuerpolitik der nächsten Jahre und auch der 90er Jahre sein wird. Im öffentlichen Meinungskampf zwischen Ideologien und Interessen ist es natürlich nicht einfach, marktwirtschaftliche Grundsätze zu vertreten. Wie schwer das ist, haben schon die „fünf Weisen" in ihrem Bericht im Jahre 1983 festgestellt, als sie gesagt haben: Eine Politik, die mehr als bisher dem Markt vertrauen will, ist nicht einfacher, sondern schwerer durchzusetzen als eine Politik des Interventionismus. Sie hat weniger staatliche Vergünstigungen zu gewähren, viele sogar zurückzunehmen, muß in hohem Maße auf wohltätige Gesamtwirkungen für alle setzen und die Hoffnung, daß ihr diese in ausreichendem Maße auch zugerechnet werden. Herr Kollege Roth, Ihre Beiträge hier heute haben in der Tat gezeigt, daß die „fünf Weisen" mit dieser Warnung recht haben. Wenn Sie vorhin hier festgestellt haben, daß es eigentlich niemanden gebe, der diese marktwirtschaftlichen Grundpositionen in Frage stelle, will ich Ihnen aus dem sehr bemerkenswerten Grundsatzpapier Ihres Kollegen Farthmann etwas zitieren: Die marktgesetzliche Organisation hat nicht nur zur Lösung unserer Schwierigkeiten keinen entscheidenden Beitrag geleistet, sondern im Gegenteil neue Probleme geschaffen. Er knüpft an diese Bemerkung die Forderung, daß wir einen starken Staat brauchten, der reglementieren, der planen müsse, der alles in den Griff nehme, der mit Verboten und mit Geboten den Bürgern, den Unternehmern, den Arbeitnehmern, allen, die am wirtschaftlichen Geschehen beteiligt sind, sage, was sie zu tun oder auch zu lassen hätten. Genau diese Politik kann nicht unsere Politik sein, weil sie nicht zu Innovation anreizt, keine neuen Motive schafft, sondern weil sie im Grunde jede Initiative im Keim erstickt. Wir erleben heute, daß aus dem ursprünglichen Gedanken einer Einheit von Wirtschafts-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik eher ein Verhältnis von Gegensätzen geworden ist. Wenn es uns nicht gelingt, diese Entwicklung rückgängig zu machen, wenn es uns nicht gelingt, den engen Zusammenhang zwischen erfolgreicher Wirtschaftspolitik und leistungs116 Deutscher Bundestag - 1 1. Wahlperiode Hauser ({3}) fähiger Sozialpolitik einsichtig zu machen, wird allerdings nicht nur unser soziales Leistungssystem in Gefahr geraten. Meine Damen und Herren, darum begrüßen wir, daß die Bundesregierung in der Kontinuität ihrer Aussage bleibt, den Staat auf den Kern seiner Aufgabe zurückzuführen. An der Bedeutung dieser politischen Zielsetzung hat sich nichts geändert. Es ist allerdings zu befürchten, daß die Vorstellungskraft mancher sich bereits darin erschöpft, das eine oder andere in staatlicher Hand befindliche Großunternehmen ganz oder vielleicht auch teilweise in Privathand zu überführen. ({4}) So richtig dieser Ansatz ist, so sehr lenkt er zugleich den Blick von dem ab, was wir eigentlich unter Privatisierung verstehen. In seiner Rede vor dem 6. Deutschen Architektentag hat der Herr Bundeskanzler dies wie folgt deutlich gemacht: Ich unterstütze nachdrücklich alle Bemühungen um eine Verlagerung öffentlicher Dienstleistungen und Vergabe öffentlicher Aufträge an private Unternehmen und nicht zuletzt an die Angehörigen von freien Berufen. Dies scheint mir ein wichtiger Beitrag zur Förderung von Privatinitiative, zur Belebung der Wirtschaft und zur Stärkung der Innovationsfähigkeit zu sein. Hier, meine Damen und Herren, schimmert durch, was ich als wirtschaftspolitischen Hintergrund der Privatisierungsaufgabe bezeichnen möchte. Wir möchten durch die Verlagerung staatlicher Leistungen auf Selbständige und freiberuflich Tätige bei mehr Menschen als bisher Bereitschaft zum Risiko fördern, aber auch die Bereitschaft zur Leistung. Diese Eigenschaften sind ja auch bisher schon Kennzeichen unserer ausgeprägt mittelständischen Wirtschaftsstruktur. Weil wir diese Struktur erhalten wollen, müssen wir den Staat dazu führen, möglichst viele Aufgaben auf jene zu verlagern, die dafür ausgebildet und vorbereitet sind, wenn dies ohne Nachteile für die Allgemeinheit möglich ist. ({5}) Für uns geht es darum, meine Damen und Herren, daß sich der Staat ganz konkret aus den Bereichen zurückzieht, die der Privatwirtschaft zur Verfügung stehen können. Wir haben auch kein Verständnis dafür, wenn Bundesunternehmen, die zum Teil mit hohen Subventionen ihre Bilanzen ausgleichen, sich auf privaten Märkten tummeln und mit Dumpingpreisen privaten Unternehmern Konkurrenz machen. ({6}) Viele meinen, der Markt sei eine private Angelegenheit, die in privatem Interesse betrieben werde, hingegen sei der Staat eine öffentliche Einrichtung, die im öffentlichen Interesse handle. Wer so denkt, verkennt, daß unternehmerische Tätigkeit in höchstem öffentlichen Interesse liegt. Er verkennt auch den unauflöslichen Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Sicherung. Deshalb sollte auf allen Ebenen geprüft werden, ob bestehende oder neue Aufgaben von staatlichen Stellen durchgeführt werden müssen oder an Private übertragen werden können. Heute morgen hat der Herr Bundeskanzler in einem Satz auch die Arbeit der Regierungskommission erwähnt, die sich mit der Privatisierung bzw. mit der Neuordnung des Fernmeldewesens befaßt. Ich glaube, daß auch hier eine Reihe von Ansatzmöglichkeiten besteht, neue Strukturen zu schaffen und neue Entscheidungen vorzubereiten. Ich will mich nicht weiter im einzlnen auf die wechselseitigen Abhängigkeiten von Politik und Wirtschaft einlassen. Aber in den zurückliegenden Jahrzehnten ist deutlich geworden, daß eine der stärksten Einwirkungsmöglichkeiten des Staates auf die Wirtschaft in der Steuerpolitik besteht. Damit sind wir wieder bei unserer Zielsetzung der marktwirtschaftlichen Strukturpolitik. Sie erfordert nach unserer Auffassung die stufenweise Verminderung und den allmählichen Abbau von Subventionen und Steuervergünstigungen. Es wäre völlig falsch, wenn man in diesem Zusammenhang eine generelle Absage an Subventionen propagieren wollte. Es wird auch in Zukunft ohne sie nicht gehen, und sie können auch sehr sinnvoll sein. Unsere Diskussion dreht sich vor allem um das Subventionsunwesen im Wirtschaftsbereich. Wenn der Staat der Wirtschaft Subventionen gibt, so tut er im letzten nichts anderes, als erfolgreiche Privatunternehmen zu besteuern, um erfolglose Privatunternehmen zu unterstützen. Diese erheblichen Wettbewerbsverzerrungen können auf Dauer so nicht hingenommen werden. ({7}) Lassen Sie mich gleich auf einen Mangel unseres geltenden Steuerrechts zu sprechen kommen: Es ist ein schwerer Fehler in unserem Steuersystem, wenn die risikoreiche unternehmerische Tätigkeit durch das Zusammentreffen von Einkommen- oder Körperschaftsteuer, Gewerbesteuer und betrieblicher Vermögensteuer höher belastet wird als die Einkünfte ohne vergleichbares Risiko. ({8}) Hier liegt, Herr Kollege Schily, der außerordentlich starke Eigenkapitalschwund unserer vor allen Dingen mittelständischen Unternehmen begründet. ({9}) - Sie können es gar nicht abwarten? Beruhigen Sie sich nur. Für unsere Volkswirtschaft und den Wettbewerb ist es unsinnig, wenn Investitionen ausschließlich aus Steuerersparnisgründen vorgenommen werden oder um Subventionen zu erhalten, statt sich am Markt zu orientieren. Marktwirtschaft ist für uns entscheidend: den Gewinn vor Steuern zu verbessern, und nicht das Ergebnis nach Steuern mit Hilfe von Subventionen. Ich will jetzt gerne auf das eingehen, was Kollege Roth eben zu diesen Fragen gesagt hat. Wir wissen - das ist heute morgen auch noch einmal vom Herrn Wirtschaftsminister deutlich gemacht worden - , daß Hauser ({10}) die Diskussion um den Spitzensteuersatz leider manchmal emotionsbeladen und auch nicht immer mit Sachkenntnis geführt wird, denn beim Spitzensteuersatz in der Einkommensteuer geht es nicht nur um die Frage der Besteuerung der Höherverdienenden, sondern auch um die Frage des gesamten Progressionsverlaufs vom Ende der Proportionalzone bis hin zum Spitzensteuersatz. ({11}) Wenn schließlich in dem linear-progressiven Tarif in den mittleren Bereichen, die zwischen 40 000 und 80 000 DM bei Ledigen und dem Doppelten bei Verheirateten liegen, in Zukunft eine massive steuerliche Entlastung stattfindet, ist dies auch ein Beitrag zur Verbesserung der Eigenkapitalstruktur des Mittelstandes. ({12}) Deswegen sollten wir das dumme Gerede von der Umverteilung von unten nach oben, diese Neiddiskussion und alles, was hier stattfindet, einmal beenden. Statt dessen sollten wir uns auf die konkreten Positionen konzentrieren, die in diesem Zusammenhang einer Klärung bedürfen. Hier ist beispielsweise die Frage zu klären - der Herr Bundeskanzler hat dies heute morgen gesagt - , ob der nicht entnommene Gewinn, der im Unternehmen als Eigenkapital verbleibt, steuerlich nicht günstiger behandelt werden muß als das, was für die privaten Interessen dem Betrieb entnommen wird. Dazu gibt es in dem Koalitionspapier Vorschläge. Wir werden im einzelnen über diese Maßnahmen noch zu sprechen haben. ({13}) Meine Damen und Herren, der Mittelstand ist das tragende Element unserer Volkswirtschaft, und uns, verehrte Kollegen von der SPD, braucht in diesem Zusammenhang niemand zu überzeugen. Wir haben schon für den Mittelstand gekämpft, als Sie noch versuchten, mit Gelbe-Punkt-Aktionen und anderen Maßnahmen den Mittelstand zu diskriminieren und ihn verantwortlich zu machen für das Fehlverhalten Ihrer eigenen damals geführten Wirtschaftspolitik. ({14}) Meine Damen und Herren, wir sind nicht bereit, den Mittelstand hier als Popanz mißbrauchen zu lassen, damit Sie darauf Ihre billige Polemik abladen können. ({15}) Meine Damen und Herren, ich will in diesem Zusammenhang gern etwas sagen zu der von Ihnen hier wieder apostrophierten Steuerinvestitionsrücklage. Ich habe mir dazu ebenfalls den Herrn Farthmann einmal zu Hilfe genommen, und das ist ein Grund, warum wir in dieser Frage immer mehr Skepsis haben. Er hat nämlich gesagt, daß der Staat, wenn er Unternehmen solche Hilfen ermöglicht, diese dann mit Auflagen versehen muß. Er will - und er sagt das wörtlich - dem Staat im Umfang der Zuschüsse entsprechende Anteilsrechte im Unternehmen einräumen. Meine Damen und Herren, das ist für uns ein Horrorgemälde, für den Mittelstand und alle Unternehmen: daß der Staat glaubt, er könnte über Steuerpolitik Einfluß gewinnen auf die Entscheidungskriterien, die in den Unternehmen aus wirtschaftlichen Gründen notwendig sind. Diese Entwicklung wollen wir unter allen Umständen verhindern, und deswegen sind Ihre Vorschläge für uns ausgesprochen suspekt und nicht akzeptabel. ({16}) Meine Damen und Herren, wie die Strukturen unserer Wirtschaft am Ende der 90er Jahre im einzelnen aussehen werden, weiß heute niemand. Denn diese Strukturen müssen sich durch einen fortwährenden Prozeß der Auslese und der Erneuerung herausbilden, und zwar durch den Wettbewerb. Die Wettbewerbspolitik muß schädliche Konzentrationsprozesse in allen Wirtschaftsbereichen aufhalten, die in einigen Bereichen von niemandem ernsthaft zu bestreiten sind. Wir hätten deshalb - ich sage das hier in aller Offenheit - gewünscht, daß die Bundesregierung noch deutlicher ihre feste Absicht bekundet, daß in den Bereichen mit schädlichen Konzentrationen und leistungswidrigem Wettbewerb das Wettbewerbsrecht verbessert werden muß. ({17}) Um diese Bereiche zu benennen, bedarf es eigentlich keiner verzögernden Prüfungsaufträge. Sie liegen für jeden, der sich mit dieser Problematik in den letzten Jahren auseinandergesetzt hat, klar auf der Hand. Meine Damen und Herren, einer der wichtigsten Gründe für mich, diese Politik zu unterstützen und zu vertreten, liegt jenseits von Angebot und Nachfrage. Er liegt im Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher und politischer Freiheit. Dies ist die Chance für die Verwirklichung neuer Ideen, die Chance zur Expansion, die Chance für neue Märkte. Freiheit ist aber auch die Gefahr des Abstiegs, der rauhe Wind des Wettbewerbs. Für uns steht fest, meine Damen und Herren: Wirtschaftliche Freiheit und gesellschaftliche Freiheit bedingen einander. Die Stärkung eines freien, verantwortlichen Unternehmertums in der Sozialen Marktwirtschaft und damit die Stärkung unserer Gesellschaftsordnung, das ist der richtige Schritt in die Zukunft. Weil wir diese Zukunft für unser Volk, für den Mittelstand, für die Unternehmerschaft, für die Arbeiter, für alle Bürger dieses Staates sichern wollen, darum unterstützen wir mit allem Nachdruck die Politik dieser Bundesregierung. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Ebermann.

Thomas Ebermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000427, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ({0}) - Schon der erste Formfehler, Entschuldigung - Herr Dr. Vogel, Sie haben an die Regierungserklärung einen sehr strengen Maßstab angelegt: diese Maxime des Altgenossen Lassalle, daß der Anfang aller emanzipatorischen Politik Wahrheitsforschung sein muß. So streng wollen wir nicht sein. Aber wenn eine Kanzlerrede nicht einmal den Vergleich mit dem berühmten Heimatfilm „Sissi" aushält, was die präzise Darstellung politischer und sozialer Wirklichkeit, in diesem Film in der österreichischen Monarchie, in diesem Fall bezogen auf die Bundesrepublik, angeht, wenn diese Konkurrenz nicht bestanden werden kann, sondern das Auseinanderklaffen von Wahrheit und Dichtung in der Kanzlerrede größer wird, dann brauchen wir nicht den heiligen alten Lassalle, sondern dann brauchen wir nur Romy Schneider, um festzustellen: Das war gar nichts. ({1}) Der Kanzler hat eine Rede gehalten, die nur eine einzige Botschaft in vier Elementen variiert hat: 1. Hierzulande ist alles in Ordnung. 2. Optimismus ist die einzig rationale Grundhaltung des braven Deutschen. 3. Nur wer Zuversicht ausstrahlt, ist normal. 4. Zufriedenheit ist die einzig legitime Geisteshaltung hierzulande. Rückblickend, aber nur rückblickend, bleibt Unzufriedenheit erlaubt. Vor gut vier Jahren, sagte der Kanzler, befand sich unser Land in einer schweren Krise. Das war dann vorbei, ist vorbei. Ab jetzt hat die Regierung alles im Griff. Wir können vollkommen sicher sein: Die Atomkraftwerke sind sicher, denn sie sind deutsch. ({2}) Der Umweltschutz ist Staatsziel. Das macht uns zuversichtlich und läßt uns den toten Rhein, das vermehrte Waldsterben, die wachsende Zahl der an Pseudokrupp erkrankten Kinder, die eskalierende Krebsrate vergessen. Wir sind stolz auf unseren Sozialstaat, der in der Welt Vorbild ist. ({3}) Voller Zufriedenheit sollen also diejenigen, die unter den demütigenden Bedingungen des Warenkorbs und der hierzulande üblichen Sozialhilfesätze leben müssen, zur Kenntnis nehmen: Davon verhungert man nicht. Die Familie ist nur eines: Quell der Freude und der Wärme. Sie bildet das Fundament unseres Staates. Dabei fallen mir zwei Sachen ein. Die eine Sache: Kann denn hier in diesem Land niemand Fundament des Staates sein, bevor er oder sie eine Familie gegründet hat? Zweitens - was noch viel aufregender ist - : Wenn die Wärme und die Freude in der Familie Fundament des Staates sind, dann muß man sagen, daß die Scheidungsrate dokumentiert, in welchem Zersetzungszustand sich dieser Staat befindet. ({4}) Wenn das so ist, dann übersteigt das allerdings die kühnsten Träume des fundamentalistischen Flügels der GRÜNEN. ({5}) Ausländern, die im letzten Jahr Gegenstand der verbreitetsten Hetzkampagne in diesem Land waren, Emigranten, denen man ans Leder will, wird in der Regierungserklärung nur noch eines versprochen: Rechtssicherheit, genaueres Wissen, wann man abgeschoben wird, präzisere juristische Richtlinien, wie einem der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt wird, genaueste technokratische Vorschriften, was einem an gleichem Bezug von Sozialleistungen und an Ausbildungswegen verwehrt wird. Daß in einer Regierungserklärung nur unter der Maxime der geregelten juristischen Drangsalierung Millionen, die hier leben, aber von der Wahl ausgeschlossen wurden, vorkommen, ist ein inhumaner Akt erster Güte. Den Bauern wird versprochen: Wir ruinieren euch zwar, wir enteignen euch zwar, aber ihr erfreut euch unserer höchsten Wertschätzung.. ({6}) Spannend ist es eigentlich nicht und es ist auch keine große Kunst zu enthüllen, daß Herr Kohl die ökologische, soziale und politische Wirklichkeit in seiner Regierungserklärung nahezu vollständig ausblendet. Wichtiger ist es schon, nach dem Zweck dieser Übung zu fragen, warum eigentlich diese permanente Rhetorik, die offenkundig bemüht ist, schlichte Unzufriedenheit mit den hier herrschenden Zuständen in die Nähe des Landesverrates zu rücken, jedenfalls als absolut grundlos erscheinen zu lassen. Wer grundlos unzufrieden ist, muß entweder notorischer Querulant oder verrückt oder Staatsfeind sein, letzteres besonders dann, wenn Unzufriedenheit womöglich in Aktivitäten, ({7}) manchmal sogar in Kampf oder in Widerstand gegen die ökologische Zerstörung und die soziale Ungerechtigkeit mündet. Diejenigen 35 000, die heute gegen Ihre gegen die Arbeitsplätze in der Stahlbranche gerichtete Politik demonstriert haben, werden mit diesem Zuversichts- und Stolzgehabe nichts anzufangen wissen und nichts anfangen wollen, sondern weiter Ihre Politik bekämpfen. ({8}) Der von Ihnen erhoffte brave deutsche Bürger soll weder Naturzerstörung noch seine soziale Lage zum Gegenstand seiner Anstrengungen und zum Gegenstand seiner Kritik machen, sondern - das ist die andere Seite dieser Regierungserklärung - vor zwei Dingen Angst haben, erstens vor AIDS. All diejenigen, die bei Hunger, Krebs, Atomkraftwerken und unverantwortlicher Chemieproduktion schon mal ein Auge zudrücken oder auf das Restrisiko, das der Fortschritt so mit sich bringt, verweisen und darauf vertrösten, daß dieses Restrisiko einen ja schlimmstenfalls in das bessere Jenseits befördern kann, wie Herr Geißler das gemacht hat, all diejenigen also sehen aus diesem Anlaß ihre Stunde gekommen, gegen das Restrisiko entweder Totalüberwachung, Reglementierung oder Repression oder aber - was meine Erwartung für die nächste Zeit ist - die Erfindung des Ganzkörperkondoms zu preisen. ({9}) Strauß hat ja nicht umsonst seine Hoffnung ausgedrückt, daß durch diese inszenierte AIDS-Hysterie Fragen wie Raketenstationierung oder Militär- und Atompolitik in den Hintergrund der politischen Auseinandersetzung gedrückt werden können. ({10}) Wenn Ihre Argumente gegen die wahrlich gefährliche AIDS-Erkrankung ernst zu nehmen wären, wie ist es dann zu erklären, daß das, was hier so gefeiert wurde, nämlich die Forschung zur Heilung oder Bekämpfung der AIDS-Krankheit, weniger als ein Fünftel des Kostenvolumens der Werbekampagne zugunsten der Volkszählung ausmacht? Da sind ja wohl die Proportionen auseinander! ({11}) Den eindringlichen Aufforderungen zur Gesetzestreue, die an uns heute reichlich gerichtet wurden, ({12}) besonders seitens der Regierungsvertreter, habe ich mit besonderer Aufmerksamkeit gelauscht. ({13}) Hier ist wahre Kompetenz am Werk. Schließlich haben die Aktivitäten von Kanzler und Ministern inzwischen den Charakter eines staatlichen Beschäftigungsprogramms für die Staatsanwaltschaft weit überschritten. ({14}) Besonders erfreut wäre ich, wenn Graf Lambsdorff in dieser Angelegenheit noch ein Wort an das deutsche Volk richten würde. ({15}) Ihm wurde jüngst vom Bonner Landgericht - ich zitiere - unübersehbare Tatkraft beim Gesetzesverstoß attestiert; der von ihm angerichtete Steuerschaden wird auf 1,2 Millionen DM veranschlagt. Unmittelbar danach vermeldete das FDP-Präsidium, der Graf sei für jedes politische Amt voll einsatzfähig. Sehr interessant wären auch die Ausführungen der Minister Zimmer- und Wallmann, die den Weiterbetrieb der erwiesenermaßen illegalen Hanauer Atomanlagen anweisen, übrigens ein Gesetzesverstoß, der für die acht Arbeiter, die letzte Woche durch Plutonium vergiftet wurden, durchaus mörderische Konsequenzen haben kann. ({16}) Wenn der Bericht des U-Boot-Untersuchungsausschusses vorliegen wird, werden wir wissen, ob und wie viele Minister im Interesse der profitträchtigen Deals mit Südafrika auch einmal ein bißchen gegen das Außenwirtschaftsgesetz verstoßen haben. Und stellen Sie sich bloß mal vor, man würde die Auszählung der Stimmen bei den zurückliegenden Bundestagswahlen in die Hände von FDP-Mitgliedern gelegt haben! ({17}) Wir wären dann wahrscheinlich mit dem Phänomen konfrontiert, weniger Stimmen als Mitglieder zu haben. ({18}) Die CDU würde wahrscheinlich in den Koalitionsverhandlungen noch um das dritte Ministeramt ringen, ({19}) und die Sozialdemokraten wären an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert. wenn übrigens in diesen Tagen ein ernsthafter Grund besteht, sich Sorgen über Gesetzesbruch zu machen, dann sollte man einmal den Blick in die Chefetagen des VW-Konzerns lenken. ({20}) Da fließt sozusagen - jedenfalls aus Sicht der Regierungserklärung . - geradezu unkommentiert bei einem kriminellen Spekulationsverlust mindestens eine halbe Milliarde DM - erwartet werden wesentlich größere Summen - in die Hände von Finanzspekulanten. Was ist das eigentlich für eine Wirtschaftsordnung? Was ist das eigentlich für eine ungeheure Macht, ({21}) wenn einige nicht gesetzestreue Mitglieder der Chefetage des VW-Werks jedem einzelnen Beschäftigten bei VW 2 500 DM wegspekulieren, und wie oft ist eigentlich diese Praxis bisher nicht aufgeflogen? Wie oft ist diese Praxis aufgeflogen, aber aus konzerninternen Gründen nicht enthüllt worden? ({22}) Das sind diejenigen, bei denen es um wirkliche Summen beim Gesetzesbruch geht. Nun zum Gesetzesbruch, der uns hier zur Last gelegt wird. Es geht ja, genauer genommen - wir wollen in diesem Hohen Hause präziser sein - , um die Aufforderung zu einer Ordnungswidrigkeit. Im Grunde genommen, meine Damen und Herren, raten wir dem Bürger nur, eines der berühmtesten Kanzlerworte für sich in Anspruch zu nehmen. Denn es ist zweifellos echt und richtig zitiert, daß der Kanzler vor Jahresfrist wörtlich ausführte: „Entschuldigung, aber was ich beantworte, überlassen Sie freundlicherweise mir. " ({23}) Das fiel im Flick-Ausschuß, und solch ein Ausschuß ist ja ein Staatsorgan. Das wollte etwas wissen, und der Kanzler beharrte auf seinem Recht, das zu verweigern. Wir fordern in der Tat nicht mehr. Ihre Aufgeregtheit wegen dieser unserer Forderungen speist sich nicht aus unserer Haltung - zivilen Ungehorsam dieser Größenordnung ({24}) haben wir Ihnen schon öfter zugemutet -, sondern diese Hektik der vergangenen Tage speist sich daraus, daß Sie jeden Tag mehr spüren: Es sind zu viele Bundesbürger nicht bereit, Ihre Träume von der Totalerfassung in Erfüllung gehen zu lassen. ({25}) Sie haben alle Möglichkeiten der Reklame auf Ihrer Seite: die Millionenbeträge, die erhöht wurden, die beste Sendezeit, die schönsten Hochglanzbroschüren, Einstimmigkeit aller Ministerpräsidenten; Börner und andere Promis werden persönlich sammeln; Sie können es total leicht schaffen, 300 berühmte Persönlichkeiten des westdeutschen Lebens zu Sammlern für diese gute Sache zu machen. ({26}) Aber Sie wissen ganz genau: All diese Werbemaßnahmen, all diese ideologischen Anstrengungen würden, wenn Sie auf Ihrer Seite nicht die Strafandrohnung hätten, nicht einmal jeden zweiten Bundesbürger veranlassen, dieser Aushorchung nachzugeben. ({27}) Nur dieses Wissen macht die Hektik aus, macht diesen Quatsch aus, welche Buttons wir hier tragen dürfen und welche Transparente da draußen, welche Telefone bei uns funktionieren, macht diesen Irrsinn aus, daß der Rebmann sich da einschaltet, der bisher und im Ansehen des Volkes für etwas anderes zuständig war, ({28}) daß jeder Politiker sich empört äußern muß. Diese ganze Chose wird nur abgezogen, weil Sie wissen: die Volkszählung wird scheitern. ({29}) So stehe ich hier abschließend vor der schwierigen Fragestellung, die Liberalität der Frau Präsidentin einzuschätzen: Soll ich es sagen oder nicht? Einerseits soll man als Neuling im Parlament ja unbedingt vermeiden, des Saales verwiesen oder sogar für ein paar Tage gesperrt zu werden, andererseits hat der Bundeskanzler heute so sehr an mich appelliert. Er sagte: Die Bundesregierung ist zum offenen Gespräch bereit, zuerst und vor allem hier im frei gewählten deutschen Parlament. - Wenn ich es verschweigen würde, dann würde ich mich ja diesem offenen Gespräch - dann noch hier in diesem frei gewählten deutschen Parlament - irgendwie verweigern. Also sage ich es lieber und erfülle damit den Wunsch des Kanzlers: Leute, tut uns einen Gefallen: Seid so schlau und boykottiert! ({30})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Ebermann, ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf für die Bemerkung, die Sie zuletzt gemacht haben. ({0}) - Meine Damen und Herren, lassen Sie es doch ganz ruhig angehen. Es wird sich hier im Hause im Laufe der Zeit alles wieder so einpendeln, wie es sich gehört. ({1}) Das Wort hat Herr Dr. Biedenkopf.

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mich hat das, was Herr Ebermann soeben vorgetragen hat, an eine Zeit erinnert, die jetzt ziemlich genau 20 Jahre zurückliegt, nämlich an die Zeit der studentischen Bewegungen und Unruhen Ende der 60er Jahre und die Auseinandersetzungen in Universitäten. ({0}) Das einzige - wenn ich so in die Richtung blicke -, was sich geändert hat, ist das Alter. Sonst ist eigentlich alles im wesentlichen gleichgeblieben. Ich fand es eigentlich entlarvend, daß über ein Gesetz, was im Bundestag verabschiedet worden ist und was unstreitig zu den notwendigen Grundlagen eines Sozialstaates gehört, ({1}) in dieser Weise gesprochen wird. ({2}) Herr Ebermann hat gesagt, Lassalle sei ein sehr strenger Anspruch, aber ich nehme ja an, daß er diesen Anspruch für sich selbst gelten läßt. Wir können die Wirklichkeit ohne deren Erfassung nicht gestalten. Sehen Sie, das genau ist ja der Punkt. Sie verweigern, indem Sie sich der Erfassung der Wirklichkeit verschließen, überhaupt die Voraussetzung dafür, einen geordneten Streit über die Frage führen zu können, wie man diese Wirklichkeit gestalten soll. ({3}) Das ist genau das, was denjenigen, der politisch gestalten möchte, von dem Dogmatiker unterscheidet, der - wie dies schon in den 60er Jahren geschah - sagt: Was interessieren mich die Tatsachen, wenn sie nicht in meine Theorie passen! Wir müssen - daran besteht kein Zweifel; und die überwältigende Mehrheit der Menschen in unserem Land weiß das - erfahren, wie unsere Wirklichkeit aussieht. Von dieser Wirklichkeit und unserem Gestaltungsauftrag soll ja in der Debatte über die Regierungserklärung die Rede sein. Ich möchte mich vor allem einigen Fragen aus dem Bereich der Wirtschaft zuwenden, und zwar deshalb, weil ich es mit Rathenau halte, der zu Recht gesagt hat, daß die Wirtschaft unser Schicksal ist, daß auf der wirtschaftlichen Leistúng des Volkes alle anderen Möglichkeiten der Politik beruhen, daß es ohne eine funktionierende Wirtschaft weder soziale Sicherheit noch Arbeit noch Chancen für die nachwachsenden Generationen noch die Fähigkeit zur Verteidigung oder die Entfaltung des einzelnen nach seinen eigenen Lebensentwürfen und Möglichkeiten geben kann. Es kann ohne eine funktionierende Wirtschaft keinen inneren und auch keinen äußeren Frieden geben. Wir erinnern uns immer wieder zu Recht daran, daß der Mensch nicht von Brot alleine lebt, aber die Feststellung ist auch gerechtfertigt, und zwar gerade wenn wir uns über die nächten Jahre verständigen wollen, daß er ohne Brot auch nicht leben kann. Unsere heutige wirtschaftliche Situation ist stabil. In der zurückliegenden Legislaturperiode gab es in der Bundesrepublik Deutschland trotz einer leicht abnehmenden Bevölkerung den höchsten realen Zuwachs des Bruttosozialprodukts in vergleichbaren Preisen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Die Behauptung, solche Angaben über den Zuwachs des Bruttosozialproduktes zu machen, wie das geschehen ist, sei eine Wachstumslüge, ist schlicht falsch. Selbst wenn wir im Jahre 1987 nur 1,5 bis 2 % Wachstum des Bruttosozialprodukts hätten, nähme das Bruttosozialprodukt zwischen 30 und 40 Milliarden DM zu, und das bei abnehmender Bevölkerung. Wenn das als politischer Handlungsspielraum für ein hochentwickeltes Industrievolk nicht ausreicht, dann liegen die Ursachen nicht beim fehlenden Wachstum, sondern woanders. Deshalb sage ich nicht erst heute in diesem Hohen Hause - ich habe es schon in den 70er Jahren getan - , daß es ein Fehler wäre, davon auszugehen, daß unser Land nur bei ständiger Expansion des Bruttosozialprodukts regierungsfähig sei und daß die Politik auch nur dann Gestaltungsspielräume habe. Aber natürlich läßt sich die Politik sehr viel besser und leichter gestalten und läßt sich den Notwendigkeiten besser Rechnung tragen, wenn die Wirtschaft wächst. Der Zuwachs des Bruttosozialprodukts hat zu einem hohen Wohlfahrtsstand der großen Mehrheit der Bevölkerung geführt. Die soziale Frage des 19. Jahrhunderts hat sich in ein neues soziales Problem gewandelt, nämlich die soziale Stellung von Minderheiten. Eine der großen Schwierigkeiten bei der Überwindung der Arbeitslosigkeit besteht heute darin, daß es nicht Mehrheiten sind, die mit Hilfe des Staates den Versuch machen könnten, ihre Lebensverhältnisse zu verändern, sondern darin, daß Mehrheiten mitwirken müssen, damit es Minderheiten besser geht. Diese tiefgreifende Veränderung in unserer politischen Lage, daß wir nämlich Mehrheiten in der Bevölkerung davon überzeugen müssen, daß es Minderheiten besser gehen muß, ist die eigentliche Herausforderung, vor der nach meiner Überzeugung unsere parlamentarische Demokratie steht. Das gilt vor allem dann, wenn man berücksichtigt, daß sich ein wesentlicher Teil dieser Mehrheiten in vielfältigen Interessengruppen und Organisationen sehr wirkungsvoll organisiert hat und sich diese wiederum in einem sehr leistungsfähigen Geflecht von Beziehungen und Einwirkungsmöglichkeiten untereinander verbunden haben und auf uns alle in diesem Hohen Hause in der einen oder anderen Weise einzuwirken versuchen. Deshalb ist es richtig, wenn der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung darauf hinweist, daß die eigentliche Aufgabe heute darin besteht, denjenigen auch durch unsere Politik Hilfe und staatliche Unterstützung zukommen zu lassen, die nicht organisierten Gruppen angehören, die nicht durch Sprecher oder Organisationen an der politischen Willensbildung beteiligt sind. Wir haben mit der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage ein solides Fundament geschaffen. Wir stimmen dem Bundeskanzler hinsichtlich seiner Eingangsfeststellung in der Regierungserklärung gerade zu diesem Punkt ausdrücklich zu. Aber dieses solide wirtschaftliche Fundament hat weder Ewigkeitsdauer noch besteht es aus sich heraus. Vielmehr ist seine Erhaltung und Sicherung eine ständige und fortdauernde politische, wirtschaftliche und kulturelle Leistung. Entsprechende Anstrengungen sind erforderlich. ({4}) - Es ist richtig, daß das im Godesberger Programm steht. Ich wünschte, Sie würden es heute noch beachten. Eines der Probleme unserer Diskussion mit den Sozialdemokraten liegt ja gerade darin, daß Sie sich in vielen Punkten vom Godesberger Programm zum Irseer Programm weiterbewegen. Dort steht es eben nicht mehr. ({5}) - Herr Vogel, gerne. Die Kontinuität von Ahlen bis heute ist sehr viel überzeugener als die Kontinuität von dem, was Sie 1947 vertreten haben, bis zu dem, was wir heute von Ihnen hören. ({6}) - Ich komme auf die Kraftanstrengung gleich in anderem Zusammenhang zurück. ({7}) Das Fundament, das wir geschaffen haben, muß stabil gehalten werden, vor allem deshalb, weil in dieser Legislaturperiode - darauf möchte ich nach der Regierungserklärung unsere Aufmerksamkeit noch einmal lenken - eine ganze Reihe von außerordentlich schwierigen gesetzgeberischen Aufgaben vor uns liegt. Die wichtigste Aufgabe ist in der Tat nach wie vor die Überwindung der Arbeitslosigkeit, aber mindestens ebensowichtig und mit dieser Aufgabe untrennbar verbunden ist die Weiterentwicklung und Erneuerung unseres Systems der sozialen Sicherheit, insbesondere die Rentenreform, die Reform der Krankenversicherung. Zu den weiteren großen Aufgaben dieser Legislaturperiode, die wiederum Rückwirkungen auf die anderen beiden haben, gehören der Einbau des Umweltschutzes in unser Wirtschafts- und Gesell122 schaftssystem im Sinne eines integralen Bestandteils und nicht nur im Sinne - ich meine das keineswegs einschränkend oder zurücksetzend - der Schaffung von einzelnen Geboten oder Verboten sowie der Ausdruck all dieser Maßnahmen auch im Rahmen der Steuerreform. ({8}) Ich glaube und bin davon überzeugt, daß wir diese Aufgabe nur werden erfüllen können, wenn wir die Reform des Arbeitsmarktes, die Reform der gesetzlichen Alterssicherung, der Krankenversicherung und die Entwicklung einer ökologischen Dimension der Sozialen Marktwirtschaft als eine einheitliche Ordnungsaufgabe in unserer modernen Industriegesellschaft begreifen. Immer geht es dabei auch um die Frage: Was kann der Staat leisten, was soll er leisten, und unter welchen Bedingungen kann er das leisten, was wir von ihm erwarten? Wir haben schon zu einem früheren Zeitpunkt hier immer wieder darüber diskutiert, ob es eine Vollbeschäftigungsgarantie des Staates geben kann. Das ist bis heute eine Schlüsselfrage der Arbeitsmarktpolitik geblieben. Wenn wir die Tarifautonomie ernst nehmen und wenn wir die Freiheitsrechte, die wir in der Wirtschaft - ich habe den Eindruck, daß die überwiegende Mehrheit der Mitglieder dieses Hauses dies tut - für unverzichtbar halten, ernst nehmen, dann kann es eine staatliche Vollbeschäftigungsgarantie nicht geben. ({9}) Es kann Anstrengungen des Staates geben, dazu beizutragen, daß sich Arbeit - im Sinne einer Vermehrung von Arbeitsplätzen - vermehren kann, aber ein Staat kann niemals die Verantwortung dafür übernehmen, daß dies geschieht, wenn gleichzeitig die freiheitlichen Positionen erhalten werden sollen, von denen ich eben gesprochen habe. Gerade hier scheint mir ein Satz von großer Bedeutung zu sein, nämlich der Satz, daß nur der glaubwürdig ist, der sagt, was er kann und verantworten will, und der auch deutlich macht, was er nicht kann und was er nicht verantworten will. Die Eingrenzung unserer Möglichkeiten hier im Parlament ist nach meiner Überzeugung die Voraussetzung dafür, daß wir das, was wir können, wirklich tun. Wir sollten nicht ständig über das reden, was wir gar nicht einlösen können. Deshalb möchte ich gerade in diesem Zusammenhang ein Wort zu Kohle und Stahl sagen. Sie haben in Ihrem Beitrag gesagt, wir hätten den Jahrhundertvertrag in Frage gestellt. Das ist unzutreffend. ({10}) Wir haben weder den Jahrhundertvertrag noch die Kohlevorrangpolitik in Frage gestellt. In der Koalitionsvereinbarung ist vorgesehen, daß über die Berechnungsgrundlage des Kohlepfennigs gesprochen und diese Berechnungsgrundlage auf eine neue Basis gestellt werden muß. Die Notwendigkeit dafür ist offensichtlich. ({11}) Kein Mensch hat zu dem Zeitpunkt, als der Kohlepfennig konzipiert und mit einer gesetzlichen Grundlage ausgestattet wurde, annehmen können und angenommen, daß die Kluft zwischen dem Ölpreis und dem Förderpreis für Kohle jemals so groß werden würde, wie sie heute geworden ist. Es ist ganz offensichtlich, daß eine Weiterführung des ursprünglichen Konzepts ohne Berücksichtigung dieser Veränderung der Geschäftsgrundlage sogar in Nordrhein-Westfalen und im Ruhrgebiet selbst zu enormen Konsequenzen negativer Art für andere Unternehmen als die Kohleunternehmen führen muß, nämlich für alle diejenigen, die elektrische Energie verbrauchen. Bei mir häufen sich inzwischen die Anfragen und Sorgen von Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen und dem Ruhrgebiet, die befürchten, daß ihnen wegen einer weiteren Erhöhung des Kohlepfennigs die wirtschaftliche Grundlage für ihren Betrieb entzogen wird, weil sie elektroenergieintensive Betriebe - wie z. B. Aluminiumschmelzen und andere - sind. Wir müssen gerade in diesem Zusammenhang einen vernünftigen Mittelweg finden. Der zweite Grund: Eine der Absichten, die mit dem Kohlepfennig verbunden waren, nämlich die Verdrängung des Öls aus der Erzeugung elektrischer Energie, ist inzwischen weitgehend abgeschlossen, so daß auch hierüber neu gesprochen werden muß. Was die Exportsubvention der Kokskohle betrifft: Erstens verlieren keine 30 000 Arbeitnehmer ihre Arbeitsplätze, wenn tatsächlich über einen Zeitraum von zwei bis vier Jahren diese Subvention bei 5 Millionen Tonnen Kohle abgebaut werden muß; ({12}) denn es gibt auch eine ganze Menge Kohle, die wettbewerbsfähig ist. Nicht alle Kohle ist wettbewerbsunfähig. Zweitens. Unabhängig davon war die Bereitschaft, die Subvention der Exportkohle abzubauen, die Voraussetzung dafür, daß die Europäische Gemeinschaft der weiteren Subvention der Kohle aus energiesicherheitspolitischen Gründen im Inland zugestimmt hat. Wenn Sie jetzt diese Bedingung in Frage stellen, stellen Sie die gesamte Zustimmungsfähigkeit der Kohlesubventionspolitik und damit der Kohlevorrangpolitik in Frage. Es ist also genau das Gegenteil von dem richtig, was Sie sagen: Wir bemühen uns im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten um Konsensfähigkeit mit den anderen Bundesländern in der Kohlepolitik, und, Herr Roth, uns wird diese Bemühung durch den Umstand nicht gerade erleichtert, daß sich die Kohleförderländer, nämlich Nordrhein-Westfalen und das Saarland, gegen den Beschluß querlegen, den alle Wirtschaftsminister der Bundesländer im September 1985 noch gefaßt haben, nämlich das Junktim zwischen Kohle und Kernkraft. Dieser Beschluß, auch unterschrieben vom Land Nordrhein-Westfalen, auch unterschrieben vom Saarland, wird von den anderen Bundesländern, wie ich glaube, zu Recht, als ein Teil der Geschäftsgrundlage für die Fortsetzung dieser Politik angesehen. ({13}) Wenn Sie jetzt nicht dazu beitragen, daß diese Geschäftsgrundlage erhalten bleibt und gleichzeitig von uns einfordern, daß wir trotz Gefährdung der Geschäftsgrundlage die alte Politik weiterführen, ist das unredlich. ({14})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Vosen?

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Biedenkopf, ist es Ihnen nicht bewußt oder ist es Ihnen entgangen, daß die Aufkündigung der gemeinsamen Geschäftsgrundlage eigentlich dadurch bewirkt wurde, daß die Bundesregierung einseitig beschlossen hat, die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zu bauen, ohne daß da also ein gemeinsames Konzept vorhanden war, so daß der eigentliche Grund war daß die Entsorgung strittig wurde?

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist mir keineswegs entfallen; denn das ist so nicht zutreffend. Lesen Sie bitte den Beschluß vom September 1985 noch einmal durch, der auch die Unterschrift von Herrn Jochimsen trägt! Da ist dieses Junktim ausdrücklich nicht gemacht, sondern es ist der Auftrag gegeben, dieses Problem zu lösen, ({0}) und zwar schon seit viel längerer Zeit. Der eigentlich entscheidende Satz in dieser Vereinbarung ist, daß die revierfernen Länder feststellen, sie seien nur in der Lage zu einer Fortsetzung der Politik, wenn die Revierländer bereit seien, auch die weitere Kernenergiepolitik mitzutragen. ({1}) Diese Bereitschaft hat auch bis zum Frühsommer 1986 bestanden und ist dann aufgekündigt worden. ({2}) - Nicht aus dem von Ihnen vorgetragenen Grund. Wir haben das mehrfach im Landtag von NordrheinWestfalen debattiert, und es hat keinen Widerspruch zu dieser Feststellung gegeben. Was die Stahlindustrie anbetrifft, Herr Roth: Kapazitätsabbau muß in der Stahlindustrie stattfinden; das wissen wir alle. Ich möchte Sie hier darauf hinweisen - das kommt mir etwas zu kurz - , daß die Standortentscheidungen, wo der Kapazitätsabbau stattfinden soll, von den Unternehmen, nicht von der Bundesregierung getroffen werden und daß diese Unternehmen montanmitbestimmt sind und daß in den montan-mitbestimmten Aufsichtsräten enorme Konflikte über die Frage ausgetragen werden müssen: Wo bauen wir die Kapazitäten ab, am Ort der Muttergesellschaft, bei den Tochtergesellschaften oder wo? Fragen Sie mal die Betriebsräte im Siegener Raum, wie sie sich von den Betriebsräten und Gesamtbetriebsräten der Muttergesellschaften bei Krupp oder bei Thyssen oder anderswo vertreten fühlen, wenn es um den Abbau von Standorten geht und die Muttergesellschaften sagen: Uns ist das Hemd näher als die Jacke! Wir werden uns in diese Auseinandersetzung als Regierung oder Politiker nicht einmischen. Ich habe mich nicht deshalb für die Mitbestimmung und jetzt auch für die Fortdauer der Mitbestimmung eingesetzt, weil ich der Meinung bin, daß die Mitbestimmungsträger bei der Ausübung ihrer Verantwortung staatliche Unterstützung brauchten, sondern weil ich der Meinung bin, daß dies eine Methode ist, um gerade in der Montanindustrie notwendige Strukturanpassungen in der Verantwortung der beiden Träger des Unternehmens, nämlich der Eigentümer und der Arbeitnehmer, anzusiedeln. ({3}) - Zu den Arbeitsplätzen wollte ich jetzt etwas sagen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Dr. Biedenkopf, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Roth?

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Roth.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Professor Biedenkopf, Sie kennen das Engagement der niedersächsischen Landesregierung für den Stahlstandort Osnabrück .. .

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Richtig.

Wolfgang Roth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001891, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

..., den es ohne diese Tätigkeit - übrigens aller Parteien des niedersächsischen Landtages - nicht mehr gäbe. War das ein Fehler?

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe nicht gesagt, daß das ein Fehler war - ich komme jetzt gerade zu dem, was die Regierung tun kann -, ich habe nur gesagt, daß die Regierung nicht entscheiden kann, welche Standorte innerhalb eines Konzerns geschlossen werden sollen. Das müssen die Unternehmen selbst entscheiden. Das ist im übrigen bisher auch unbestritten gewesen. ({0}) - Nein, ich habe Ihnen ja gesagt, daß ich jetzt dazu komme. - Der Staat kann flankierende Maßnahmen ergreifen. Der Staat kann und wird sich natürlich auch bei den Unternehmen dafür einsetzen, daß sie möglicherweise die und keine andere Entscheidung treffen. Nur, die Verantwortung, Herr Roth - um die geht es mir - , liegt bei den Unternehmen. Was der Staat tun kann, ist, für Ersatzarbeitsplätze zu sorgen. Nun haben wir - hier kann ich meine Erfahrungen als Landtagsabgeordneter in NordrheinWestfalen einbringen - dieses Problem nicht erst seit gestern. Wir diskutieren in Nordrhein-Westfalen seit Ende der 70er/Anfang der 80er Jahre über die Schaffung von Ersatzarbeitsplätzen. Es hat immer wieder Programme gegeben, die Landesregierung hat immer wieder versprochen, mit ihren Programmen Zehntausende von Ersatzarbeitsplätzen zu schaffen. Wo sind diese Ersatzarbeitsplätze? Sie sind nicht geschaffen worden. Mit einem Programm sollten 48 000 geschaffen werden, am Ende waren es 5 000 oder 6 000. Und was ist der Grund? Der Grund ist, daß der Staat das nicht kann, daß er allenfalls Rahmenbedingungen und Erleichterungen schaffen kann, dann aber auf das angewiesen ist, was ja in Ihrem Regierungsprogramm, meine Herren, so eindrucksvoll und voll zitierbar steht: Wir brauchen eine Gründer- und Erneuerungswelle mit vielen neuen Unternehmen. Dies erf ordert eine lange Investitionsanstrengung und verläßliche staatliche Rahmenbedingungen, damit kleine und mittlere Unternehmen neu entstehen und sich behaupten können. Und genau diese verläßlichen Rahmenbedingungen hat es im Revier nicht gegeben. ({1}) Es hat immer wieder - und die Industrie- und Handelskammern, die Handwerkskammern, die Universitäten und andere haben es beschrieben - ungeheure Hemmnisse gegen die Schaffung konkurrierender Arbeitsplätze gegeben, weil die bestehenden Industrien Angst hatten, ihre Facharbeiterschaft oder ihren Einfluß zu verlieren, oder weil man Angst davor hatte, daß sich die politischen Strukturen verändern, wenn sich die Industriestruktur verändert. ({2}) - Dazu komme ich gleich. - Fehlende Rahmenbedingungen, fehlendes Eingehen auf die besonderen Bedürfnisse bei der Ansiedlung neuer Betriebe, Auseinandersetzung über den Abstandserlaß, der uns im Landtag jahrelang beschäftigt hat ({3}) und immer noch beschäftigt - das sind die eigentlichen Ursachen dafür, Herr Roth, warum die Leute jetzt auf der Straße stehen und keine alternative Beschäftigung finden. ({4}) Es hat überhaupt keinen Sinn, bei der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, daß das Problem gelöst wäre, wenn wir jetzt im Rahmen der Ersatzarbeitsplatzbeschaffungen, im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe nur 200 Millionen DM im Jahr zusätzlich in die Hand nähmen. Dieses Geld fließt überhaupt nicht ab. Es fließt nicht ab, ({5}) weil es nicht genug Initiativen gibt. Sorgen Sie in Nordrhein-Westfalen dafür - Sie haben dort die absolute Mehrheit - , sorgen Sie im Ruhrgebiet dafür, daß sich in dieser Wirtschaftslandschaft ein Investitionsklima entwickeln kann, das für Unternehmen ebenso attraktiv ist wie das Investitionsklima in anderen Bundesländern. ({6}) - Sie haben mich auf Stahl und Kohle angesprochen, ich antworte Ihnen darauf. Sie selbst, meine Herren, haben in Ihrem Regierungsprogramm, im Regierungsprogramm des gescheiterten Kandidaten Rau, gesagt, es gebe keine schnell wirkenden Patentantworten auf die Arbeitslosigkeit. Nur, Herr Roth, weil Sie das vorhin eingefordert haben: Sie haben als Antwort in Ihrem Regierungsprogramm ein nationales Bündnis der Vernunft und auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaft die Entschlossenheit gefordert, das Ziel der Vollbeschäftigung energisch zu verfolgen. Das tun auch wir. Darüber gibt es überhaupt keine Meinungsverschiedenheit. ({7}) Beschäftigungsorientierte Wirtschafts- und Industriepolitik: Da habe ich schon erhebliche Zweifel, was das eigentlich heißen soll. Wer soll denn entscheiden, welche Industriepolitik beschäftigungswirksam ist und welche nicht? Sie wollen doch langfristige stabile Rahmenbedingungen schaffen, schreiben Sie an anderer Stelle. Hier empfehlen Sie einen dauernden -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Verstehen Sie: Ich darf bloß mal fragen: Sie haben jetzt 26 Minuten Zeit in Anspruch genommen.

Prof. Dr. Kurt H. Biedenkopf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000173, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bin sofort fertig. Sie haben beständige Rahmenbedingungen versprochen. Auf der anderen Seite fordern Sie ständige gezielte Interventionen. ({0}) Die ökologische Erneuerung ist in der Tat eine große Aufgabe. Aber sie führt nur dann zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit, wenn uns etwas anderes gelingt, was uns in dieser Legislaturperiode noch immer wieder beschäftigen wird, wenn es uns nämlich gelingt die erstarrten Strukturen im Arbeitsmarkt selbst aufzubrechen, wenn es uns gelingt, die Erstarrung der Sozialsysteme zu überwinden, Beweglichkeit und Flexibilität in den Bereichen zu schaffen, in denen letztlich durch Gesetzgebung, Tarifvertrag und Verhalten der einzelnen darüber entschieden wird, ob Arbeit sinnvoll angeboten und nachgefragt werden kann, wenn es uns gelingt, dort Bewegung zu schaffen, ein Stück gegenseitiges Vertrauen zu mobilisieren, nicht jede Frage sofort als Sozialdemontage zu diffamieren, alternative Antworten wenigstens anzuhören, ehe man sie ablehnt. Wenn uns das gelingt, dann bin ich in der Tat der Meinung, daß wir in diesem Haus einen Beitrag zur Überwindung der Arbeitslosigkeit leisten können. Sonst werden wir immer auch in Zukunft aneinander vorbeireden. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Mitzscherling.

Dr. Peter Mitzscherling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001516, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Kollege Biedenkopf, Sie haben es als eine entscheidende Aufgabe bezeichnet, daß das Fundament stabil bleiben müsse, um alle die Zukunftsaufgaben, die vor uns stehen, zu lösen. Ich glaube, in dieser generellen Aussage sind wir gar nicht allzu weit auseinander. Nur, ich muß Sie fragen, wie Sie, wenn Sie diese Forderung erheben, gleichzeitig mit der Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers zufrieden sein können. Denn dort ist diese Zukunftserwartung, die Sie ja selber zur Stabilität des Fundaments benötigen, doch gar nicht enthalten. ({0}) Finden Sie irgendwelche konkreten Hinweise auf Problembereiche, auf Kreise, die geeignet wären, die Stabilität zu gefährden? Sie sind vielleicht mit einem Schlagwort angesprochen. Aber jede konkrete Ausformulierung, welche politische Antwort diese Bundesregierung geben möchte, um diese Stabilität, wenn sie schon da ist, zu erhalten, fehlt; die findet sich nicht. Ich finde sie auch nicht in der Rede von Herrn Bangemann. Ich bin enttäuscht über das, was die Bundesregierung als Antwort auf die Anforderungen zu sagen hat, die die Gegenwart an uns stellt. Diese Antwort ist nicht erkennbar. Ich muß Ihnen gestehen, daß wir da auch nicht weiterkommen, wenn wir uns darüber unterhalten, ob das Bruttosozialprodukt preisbereinigt um eineinhalb Prozent oder mehr gestiegen ist und ob das nicht ein toller politischer Erfolg war. Was werden wir denn gegen Ende dieses Jahres sagen, wenn die Ölpreisentlastungseffekte weggefallen sind? Da werden Sie feststellen, daß sich ganz plötzlich die Preissteigerungsrate wieder hebt. Die niedrige Preissteigerung ist doch nicht ein Erfolg allein Ihrer Politik. Sie mögen durch überzogene Konsolidierung dazu beigetragen haben. Aber es ist doch auch ein importierter Effekt, der hier zum Zug kommt. Darüber muß gesprochen werden. Das erwähnen Sie nicht. ({1}) Was Sie vor allem nicht sagen, was die Regierungserklärung nicht enthält und was der Herr Bangemann nicht erwähnt hat, das sind die Antworten, die auf die Gefährdung der Stabilität von der außenwirtschaftlichen Flanke her zu geben sind. Was ist da gekommen? Da wird erwähnt: Wir brauchen eine GATT-Runde. Das ist, glaube ich, unstrittig. ({2}) Aber wie soll sie denn ausformuliert werden, und welche Schritte haben Sie in den nächsten vier Jahren vor, um sie zum Erfolg zu führen? Keine Antwort, weder in der Regierungserklärung noch von Herrn Bangemann. Protektionismus. Wir sind alle dagegen, daß Protektionismus stattfindet. Wir wollen keine verzerrten Strukturen. Wir wollen die Wohlstandseffekte im Land haben. Keine Antwort. Was haben Sie eigentlich zur Lösung der Verschuldungskrise in den Ländern der Dritten Welt zu sagen? Nichts. Ich habe nichts gehört. Wo ist der Beitrag der Bundesregierung als der Regierung eines wirtschaftlich starken Staates zu einer dauerhaften Lösung der Verschuldungskrise in der Dritten Welt? Keine Antwort. ({3}) Ich vermisse Ihre Antwort, die Ausformulierung in Ihrer Regierungserklärung: Was wollen Sie konkret auf das Angebot von Gorbatschow zu einer intensiveren wirtschaftlichen Zusammenarbeit tun? Hier hätte es sich gelohnt, etwas zu sagen. Nichts hat die Bundesregierung dazu gesagt. Unser Land ist das wirtschaftlich stärkste Land in Europa. Hätten Sie nicht in dieser Regierungserklärung oder hätte nicht auch Herr Bangemann, der jetzt nicht mehr da ist, deutlich machen können, wie Sie sich konkret die Schritte in der Gestaltung Europas in den nächsten Jahren vorstellen? Natürlich wollen alle den Binnenmarkt. Natürlich wollen alle eine Weiterentwicklung, eine politische Weiterentwicklung in Europa, zumindest was die beiden Seiten des Hauses anlangt. Nur frage ich Sie: Wie wollen Sie den Binnenmarkt erreichen? Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht, wie es beispielsweise im Dienstleistungsbereich, wie es bei der Versicherungswirtschaft aussieht? ({4}) - Ich habe es eben erwähnt. - Da sind Probleme, die das europäische Währungssystem anbelangen. Sie haben nichts dazu gesagt. ({5})) - Erwähnt; Sie haben das Schlagwort gesagt. Aber die einzelnen Schritte, die Weiterentwicklung, das vermisse ich. Da ist nichts da. ({6}) Ich will jetzt auf die Teile, die mein Kollege Roth schon angesprochen hat, nicht eingehen. Wir haben die Probleme bei der Agrarpolitik. Ohne deren Lösung wird nichts laufen. Ohne eine Reform der europäischen Agrarpolitik wird es keine GATT-Runde mit Erfolg geben. Das muß immer wieder betont werden. ({7}) Deshalb also die Feststellung: Fragen über Fragen; es bleibt viel zuviel offen. Konkrete Antworten sind nicht erkennbar. Sie geben keine klare Vorstellungen, die Sie als Bundesregierung für die Entwicklung unseres Landes haben, geschweige denn über die Entwicklung Europas. Zukunft kommt bei Ihnen in der Tat - das wurde heute schon gesagt - nur auf den Plakaten vor. Das reicht nicht, meine Damen und Herren von der Koalition. Sie hoffen offenbar immer noch darauf, daß sich die Interessengegensätze, die nun einmal da sind, und die Zielkonflikte irgendwie auflösen werden. Sie entscheiden nur, wenn es nicht mehr anders geht. In europäischen Fragen ist Ihr Gestaltungswille schlichtweg nicht erkennbar. Daher ist es eben auch so, daß Europa nicht vorankommt. Statt die Kooperation mit anderen Industrieländern voranzutreiben, gefallen Sie sich - das muß man den Äußerungen der Vertreter der Bundesregierung entnehmen - eher in der Rolle eines Musterknaben, der seine Wirtschaftspolitik preist, der der beste von allen sein will und der die Lösung der Probleme eigentlich nur darin sieht, daß alle anderen Länder die gleiche Wirtschaftspolitik betreiben mögen wie die Deutschen; dann wird es dieser Welt schon besser gehen. So einfach ist das. Aber Sie müssen doch einfach einmal zur Kenntnis nehmen - es klingt immer mal so am Rande an -, daß der überbewertete Dollar und der kreditfinanzierte Aufschwung der Vereinigten Staaten ganz entscheidend als Impuls für den Aufschwung bei uns, so schwach er auch ist, beigetragen hat. ({8}) - Und die Ölpreise, die rechtzeitig, als diese Effekte abebbten zusammenbrachen und einem Konjunkturprogramm gleichkamen, das die Binnennachfrage angeregt hat. Wir haben also Wachstum importiert. Wir haben damit auch Arbeitsplätze importiert. Wenn Sie die Wirkung von Exportboom und Ölpreissturz herausrechnen, werden Sie feststellen, daß es im Grunde nur einen ganz bescheidenen Zuwachs an Arbeitsplätzen gegeben hat. Per Saldo: hausgemachte Arbeitsplätze sind kaum entstanden. ({9}) - Lieber Herr Uldall, Glück hat manchmal auch der, der es nicht verdient. Aber in diesem Falle geht es darum, daß es den Deutschen besser geht. Selbstverständlich haben auch wir uns darüber gefreut, daß wir von den Entlastungen profitiert haben. Ich glaube, das ist im Interesse aller deutschen Bürger und Arbeitnehmer, die durch Ihre Politik, die die Binnennachfrage geschwächt und nicht gestärkt hat, eher bestraft worden wären. ({10}) - Herr Kittelmann, die außenwirtschaftliche Glückssträhne, die Sie immer so bejubelt haben, ist jetzt vorbei! ({11}) - Wie Sie sich noch heute trauen können, das zu behaupten, weiß ich nicht. Das werden Sie mit Ihrem Selbstverständnis als außenwirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion abzumachen haben. Aber dem Daueraufschwung, den die Wähler bisher von Ihnen so vorgeführt bekommen haben, ist doch längst die Luft ausgegangen. Wir reden nicht von einer Rezession, aber wir reden davon, daß wir uns schnurstracks auf den Weg in eine Stagnationsphase begeben. Und das ist kreuzgefährlich, meine Damen und Herren. Da genügt es auch nicht, wenn sich der Herr Bundeswirtschaftsminister hier hinstellt und sagt, Prognosen dieser Art, wie sie die Sozialdemokraten abgäben, seien gefährlich, sie seien sogar geeignet, das Investitionsklima in diesem Lande zu zerstören. Wenn die noch weiter kritisierten, redeten sie den Konjunkturaufschwung noch kaputt. - Das ist doch schlichter Unsinn, der hier erzählt wird. Wenn es so wäre, müßte der Herr Bundeswirtschaftsminister - man kann es ja auch anders sehen - die Kompetenz der sozialdemokratischen Prognostiker eigentlich akzeptiert haben. Denn wenn eine investitionsfreudige deutsche Wirtschaft glaubt, was wir an Entwicklungstendenzen voraussagen, und darauf wirtschaftlich reagierte, könnte uns doch eigentlich gar nichts Besseres passieren. Die Wirtschaft sei stabil, hat Herr Biedenkopf gesagt. Ich habe auf diese scheinbare Stabilität hingewiesen. Sie machen auf Optimismus, und Sie lassen verkünden: Nur nicht nervös werden; der Rückgang der Auslandsaufträge ist nur vorübergehend, im zweiten Halbjahr wird dann alles wieder besser werden, dann wird auch der Export wieder bergauf gehen. - Woher Sie die Indikatoren für diese Erwartung nehmen, weiß ich nicht. Mir sind sie nicht verfügbar. Vielleicht haben Sie bessere Hinweise, die uns verborgen geblieben sind. - Ich kann Sie nur vor solchen Illusionen warnen. Auch hier kommen Sie mit dem schon so oft zitierten „Weiter so", mit dem bloßen „Weiter so", eben nicht voran. In den letzten Jahren haben Sie Glück gehabt - wir haben es gesagt - : Die USA haben wirtschaftspolitisch auf das Gaspedal getreten. So konnten Sie hier abbremsen. Sie konnten Haushaltsdefizite abbauen. Sie konnten auch auf die Inflationsrate Einfluß nehmen. Und wir bekamen, dank gewaltiger Exporte, trotzdem einige Arbeitsplätze. Doch diese Politik, meine Damen und Herren, funktioniert nicht mehr. Die USA treten finanzpolitisch jetzt ebenfalls auf die Bremse. Sie kürzen ihre Haushaltsdefizite. Vor allem wollen sie von ihrem gewaltigen Handelsbilanzdefizit runter. Sie wollen mehr Exporte, und sie wollen weniger importieren. Machen Sie doch sich und der Öffentlichkeit nichts vor! Wenn die USA jetzt finanzpolitisch bremsen und gleichzeitig die Bundesregierung und die Bundesbank bremsen, schlittert die Weltwirtschaft in eine Stagnation mit der Besorgnis, daß daraus eine Rezession werden könnte. Wenn die USA ihr gewaltiges Handelsbilanzdefizit von rund 170 Milliarden Dollar, wenn sie verlorene Marktanteile, wenn sie 3 Millionen verlorene Arbeitsplätze zurückerobern wollen, können nicht gleichzeitig deutsche und japanische Wirtschafter darauf hoffen, daß sie ihre Weltmarktanteile halten können. Dies wäre eine Illusion - und dies vor allem deshalb, weil nicht nur in den USA, sondern auch in den jungen Industrieländern im pazifischen Raum viele die gleiche Absicht haben, nämlich ihre Weltmarktanteile auszubauen. Mit anderen Worten: Wir haben keinen Spielraum mehr für ein exportorientiertes Wachstum. Und täuschen Sie sich nicht: Die USA sind fest entschlossen, ihr Handelsbilanzdefizit schrittweise abzubauen. Wenn es beim jetzigen Dollarkurs nicht gelingt, läßt man ihn noch weiter abrutschen, oder man zieht die protektionistische Bremse. US-Finanzminister Baker - wir haben das hier schon öfter erörtert - fordert seit mehr als einem Jahr die Bundesrepublik zu vermehrten Anstrengungen auf, ihr binnenwirtschaftliches Wachstum zu stärken, und zwar deshalb, damit dieses Wachstum auch bei stagnierenden Exporten in der Bundesrepublik und in Japan aufrechterhalten werden kann. Daran haben die Amerikaner ein Interesse, damit sich nämlich Amerikas Exportmöglichkeiten nach Europa und Japan verbessern und damit die Weltwirtschaft nicht in eine Rezession gerät, sobald die USA anfangen, ihr Haushaltsdefizit zu sanieren. Erst haben Sie sich auf die amerikanischen Forderungen hin völlig taub gestellt, dann haben Sie den USA optimistische Wachstumsprognosen verkauft, dann haben Sie sich jetzt klein gemacht und haben erzählt, die Bundesrepublik hätte keinen Einfluß auf die weltwirtschaftliche Entwicklung. Zuletzt haben Sie ihre 5 Milliarden DM an Steuerentlastung zum Beginn des Jahres 1988 vorgesehen. Auch die Bundesbank hat es einmal den Amerikanern zeigen wollen. Zuerst hat sie Zinssenkungen immer abgelehnt, dann hat sie sie hinausgeschoben, und dann hat sie schließlich in Minischritten zu einem Zeitpunkt nachgegeben, wo es im Grunde und auch in dem Maßnahmenbündel selbst nicht mehr angemessen war. Sie stellen sich heute hin und sagen: Wir hatten das Louvre-Abkommen in Paris. Das macht deutlich, daß die internationale wirtschaftliche Kooperation bestens funktioniert. Ich frage Sie: Was hat sich eigentlich seit diesem ominösen Abkommen geändert? Japan hat verstanden, daß die USA die hohen japanischen Überschüsse nicht mehr hinnehmen wollen, und ist auf binnenwirtschaftliche Expansion umgeschwenkt. Und was haben Sie getan? - Ein bißchen Steuersenkung, die für die Konjunktur so gut wir nichts bringen wird, und Steuerversprechungen für 1990. Wo ist denn nun eigentlich Ihre angeblich so erfolgreiche Umsteuerung auf die binnenwirtschaftliche Expansion? Der Ölpreissturz ist Ihnen - das habe ich schon gesagt - zu Hilfe gekommen. Er hat den privaten Verbrauch angeregt. Ich sage: auch die USA werden Ihnen Ihre optimistischen Parolen, mit denen Sie auch über Landtagswahlen hinwegkommen wollen, nicht abnehmen. Sie werden Nachbesserungen von Ihnen verlangen, und zwar schon bald. Dessen bin ich sicher. US-Notenbank-Chef Volcker hat erst kürzlich, und zwar nach dem Louvre-Abkommen, erklärt: Wenn die Bundesrepublik nicht binnenwirtschaftliches Wachstum verstärkt, muß der Dollar eben noch stärker fallen. Das muß Sie doch alarmieren. Haben Sie denn nicht gemerkt, daß hiervon nicht nur Nordrhein-Westfalen betroffen ist, sondern auch die von Ihnen regierten Länder im Süden der Bundesrepublik? Auch dort wird das spürbar werden. Worauf warten Sie eigentlich noch? Wollen Sie die Arbeitslosigkeit noch mehr steigen lassen? Wolfgang Roth hat Ihnen erklärt, welche Vorschläge wir für eine binnenwirtschaftlich orientierte Expansion, für ein Umsteuern, vorgelegt haben. Nutzen Sie doch diese Vorschläge. Sie haben uns aufgefordert zusammenzuarbeiten. Natürlich sind wir auch dazu bereit. Vorschläge liegen auf dem Tisch. Werfen Sie nicht einfach über Bord und sagen Sie nicht: Das ist alles nichts, das bringt nichts.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, ich glaube, Sie sollten zum Ende kommen.

Dr. Peter Mitzscherling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001516, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja. Beklagen Sie sich nicht länger über die Weltkonjunktur! Hören Sie endlich damit auf, unser Land kleiner zu machen, als es ist! ({0}) Wir sind eine große Wirtschaftsmacht, Herr Kittelmann. Sie reden doch ständig davon. Der Dollar-Kurs ist nichts Schicksalhaftes. Die Bundesrepublik kann als führende Wirtschaftsmacht mehr tun, sie kann stärkeren Einfluß auf die europäische Wirtschaftsentwicklung und damit auf die Weltwirtschaft nehmen. Aber sie tut es nicht. Sie kann auch stärkeren Einfluß auf die Dollar-Entwicklung nehmen. Deshalb unsere Forderung nach einem europäischen Beschäftigungspakt. Wir sind für eine Weiterentwicklung des Europäischen Währungssystems, für eine zügige Entwicklung des europäischen Binnenmarktes und natürlich für die Reformen der Agrarpolitik, ohne die nichts läuft, und für GATT-Verhandlungen, mehr Stabilität des Währungssystems, für dauerhafte Lösungen der Verschuldung und Lösung der Probleme in der Dritten Welt. Hier sind Sie, meine Damen und Herren von der Bundesregierung, gefordert. Man muß Einfluß nehmen wollen, wenn man eine Führungsrolle hat. Sie haben diese Führungsrolle in Europa. Aber ich habe allmählich das Gefühl, daß Sie es gar nicht wollen. Ich bedanke mich. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist schon richtig, Herr Mitzscherling, daß Paul Volcker uns auffordert, etwas für die Binnenkonjunktur zu tun. Allerdings erwähnen Sie nicht den Vorschlag, den uns die Amerikaner Baker und Volcker gemeinsam machen: Tut das über Steuersenkungen! Das ist der Weg, den diese Bundesregierung geht. Nach meiner Meinung wäre es sogar sehr viel wünschenswerter, wenn wir haushaltsmäßig und mit Zustimmung der Länder nicht erst 1990 die Steuern zu senken brauchten, sondern dies genau aus den Gründen, die Sie genannt haben, auch um unserer weltwirtschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden, früher tun könnten. Der europäische Beschäftigungspakt, meine Damen und Herren und lieber Herr Mitzscherling, bedeutet Deficit-spending, Schuldenmachen, und präzise dies ist es, was die Amerikaner uns nicht vorschlagen und auch nicht von uns verlangen. Im übrigen werden Sie am Ende dieses Jahres sehen, daß Ihre Behauptung, die Japaner reagierten schneller und besser, falsch ist. Der japanische Handelsbilanzüberschuß gegenüber den Vereinigten Staaten ist ein struktureller Überschuß. Er steigt, er wird am Ende dieses Jahres weiter sehr hoch sein. Der deutsche Export in die Vereinigten Staaten geht mindestens real, wahrscheinlich auch nominal zurück. Wir werden einen geringeren Überschuß am Ende des Jahres 1987 haben. Ich halte das für vernünftig, um den Amerikanern bei der Bewältigung dieses Problems behilflich zu sein. Herr Biedenkopf hat vorhin - ich möchte daran anknüpfen - davon gesprochen, daß wir uns schon früher einig waren, daß es eine staatliche Vollbeschäftigungsgarantie nicht geben kann. Ich gehe einen Schritt weiter, Herr Biedenkopf. Der Staat kann die Fehler der Tarifvertragsparteien nicht in Ordnung bringen und nicht reparieren. ({0}) Im übrigen ist auch dies unter dem Gesichtspunkt der Mehrheiten und der Minderheiten zu betrachten. Sind da nicht Mehrheiten am Werk, die auf die Minderheit, sprich: die Arbeitslosen, herzlich wenig Rücksicht nehmen? Von beiden Seiten, Arbeitgebern und Arbeitnehmern? Beispiel: Der Staat kann nicht heilen, wenn über Sockellohnerhöhungen der Anteil ungelernter und angelernter Arbeitskräfte in der Arbeitslosigkeit bei 50 % liegt. Das sind Fehler der Tarifvertragsparteien, die wir nicht in Ordnung bringen können. ({1}) Der Staat kann es nicht heilen, meine Damen und Herren, wenn wir keine Differenzierung in den Tarifverträgen bekommen. Das Stichwort „Qualifizierung und Ausbildung" ist ja völlig richtig, nur hilft Qualifizierung und Ausbildung nicht schnell, hilft nur mittelfristig. Im übrigen werden Sie immer Menschen auch in unserer Gesellschaft haben, die mit noch soviel gutem Willen und noch so viel Angebot an Qualifizierung und Ausbildung nicht in die Lage versetzt werden, höheren Anforderungen zu genügen. Wollen Sie die durch den Rost dieser Gesellschaft fallen lassen? Ich hielte das für inhuman. Was Herr Biedenkopf im übrigen zum Thema „Angebotsbedingungen im Revier" gesagt hat, ist der entscheidende Grund für das Rückfallen des Landes Nordrhein-Westfalen. Ich stimme Ihnen zu. Natürlich ist - und da wird es kritisch, ich weiß das - „Eurosklerosis" in einem Gebiete deutschen Rechtes und deutscher Wirtschaftspraxis wahrlich die richtige Bezeichnung, nämlich bei der Zustandsbeschreibung von Arbeitsrecht und Arbeitsvertragsrecht. Wenn wir da nicht mutige Schritte unternehmen, werden wir nicht vorankommen. ({2}) - Da kommt sofort der Zwischenruf: Arbeitslose als Freiwild. ({3}) Auf dieser Basis können Sie nicht vernünftig diskutieren, ({4}) können Sie keine ernsthafte wirtschafts- und beschäftigungspolitische Diskussion führen. Das ist die Basis gegenseitiger Verleumdung, aber nicht die Basis des Austausches von Sachargumenten. ({5}) Meine Damen und Herren, das ist das Erfreuliche - das haben wir ja schon früher geübt unter den Wirtschaftspolitikern - : Am späten Abend, wenn die Fernsehkameras ausgeschaltet sind, kann man Sachargumente austauschen. Herr Mitzscherling und Herr Roth haben es ja auch bewiesen, aber einige andere können es eben schwer. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, die Arbeitslosigkeit zu bezahlen. Wir müssen Arbeitsplätze schaffen. Da frage ich nun: Ist eine Steuerpolitik, die darauf abstellt, die übertriebene Steuerbelastung der deutschen Wirtschaft im internationalen Vergleich zu reduzieren, Arbeitsmarktpolitik? Ist das nicht ein Bestandteil der Arbeitsmarktpolitik? Gehört es nicht zu den Rahmenbedingungen? Meine Damen und Herren, was die soziale Gerechtigkeit dieser Steuerpolitik anlangt: Es gibt keinen sozialdemokratischen Vorschlag aus der Zeit vor der Bundestagswahl, der auch nur annähernd eine so massive Entlastung der unteren Einkommensempfänger vorgeschlagen hätte, wie ihn diese Bundesregierung, diese Koalition jetzt zu Papier gebracht hat, nicht einen einzigen. ({6}) Ihre Grundfreibetragserhöhungen liegen niedriger. Das Entscheidende ist doch nicht der in meinen Augen töricht und unnötig hochgezogene Spitzensteuersatz, sondern die Entlastung im Mittelstandsbereich, im Bereich der mittleren Einkommen, auf die etwa 23 Milliarden entfallen, der linear-progressive Tarif. Dies ist ein Punkt, der für die Angebotsbedingungen insbesondere der kleinen und mittleren Unternehmen von erheblicher Bedeutung ist. ({7}) Ich will, meine Damen und Herren, die Diskussion gar nicht aufnehmen, ob das Stichwort „Gewinne führen zu Investitionen, Investitionen führen zu Arbeitsplätzen" im ersten Teil richtig ist. Wir werden uns nicht einigen können. Aber über eines werden wir uns wohl einigen können - das ist auch von Herrn Roth angesprochen worden - : daß man jedenfalls ohne Investitionen nicht zu Arbeitsplätzen kommen kann. Und noch einmal, Herr Biedenkopf: Ich sehe nach wie vor mit großem Vorbehalt Ihre Überlegungen, daß man - ich führe es jetzt einmal auf den Punkt und übertreibe - mit Null-Wachstum zurechtkommen könnte. Wir wissen, daß wie keine Riesenwachstumsraten haben werden, die die Arbeitslosigkeit beseitigen. Das ist nicht möglich, auch nicht wünschenswert aus ökologischen Gründen, aus Gründen der Ressourcenschonung. Aber ich denke schon, daß das Wort von Karl Schiller gilt: Wachstum ist nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles nichts. Ein Mindestmaß an WachsDr. Graf Lambsdorff turn werden wir brauchen. Wir stehen sonst vor ganz erheblichen Problemen. Die Investitionen beruhen in erster Linie auf den Erwartungen der Unternehmen, nicht auf den erzielten Gewinnen, sondern auf den zu erwartenden Gewinnen. Für diese Erwartungen sind in unserer Lage die Exporterwartungen, Herr Mitzscherling, von ganz erheblicher Bedeutung. Daß sie als Folge der Währungsbewegungen zurückgegangen sind, hat dazu geführt, daß die Investitionen zurückgegangen sind. Der private Konsum in der Bundesrepublik Deutschland ist wahrlich nicht beklagenswert. Ich will gerne zugeben, daß die Ölpreissenkungen dabei geholfen haben. Wie groß das Konjunkturprogramm dadurch war, weiß ich gar nicht. Es ist auch nichts Verbotenes, daß sie helfen. Daß wir einen Verteilungsspielraum, daß wir im vorigen Jahr einen realen Einkommenszuwachs von 4 % gehabt haben - man konnte es am Weihnachtsgeschäft sehen, man konnte es am Winterschlußverkauf sehen -, ist hervorragend, ist gut so. Darüber wird sich doch niemand beklagen wollen. Wir müssen unsere außenwirtschaftlichen Abhängigkeiten erkennen. Die wirtschaftspolitischen Positionen der GRÜNEN sagen: Wir wollen keinen Export, wir sollen uns von der Weltwirtschaft abklinken. ({8}) Das ist ein wirtschaftspolitisches Programm der Armut und der Verarmung der Bundesrepublik Deutschland. Daß die außenpolitische Abhängigkeit mit den Wechselkursen zu tun hat, weiß jeder. Die Wechselkurse haben sich in den letzten Jahren im Verhältnis D-Mark/Dollar um sage und schreibe 80 % verändert. Das Weltwährungssystem von Bretton Woods, verehrter Herr Mitzscherling, ist bei viel geringeren Währungsschwankungen zerbrochen. Was träumen Sie und einige Ihrer Freunde, ({9}) von mir hochgeschätzte, früher hochgestellte Freunde, von festen Wechselkursen, von Zielzonen - neuerdings heißt das Reference Ranges -? Das funktioniert alles nicht, und die EWS-Parallele kann nicht herangezogen werden, weil es an der Konvergenz und Kooperation weltweit fehlt, die im EWS nicht zuletzt dank der Europäischen Gemeinschaft und der dort erreichten Institutionen zustande gekommen ist. Das schaffen Sie schnell und weltweit in diesem Umfang nicht. ({10}) Meine Damen und Herren, es ist außerordentlich wichtig, daß wir zu mehr Kooperation kommen. Die internationalen wirtschaftspolitischen Konferenzen dieses Jahres stellen auch die Bundesregierung vor große Aufgaben. Nicht nur GATT, auch der Weltwirtschaftsgipfel, auch die OECD-Konferenz dieses Jahres; denn daß der protektionistische Druck aus Washington immer stärker wird, daß dort Gesetzesvorschläge auf den Tisch gelegt werden - alleine das, was Senator Bentson jetzt aufgetischt hat - , die einem Angst einjagen, ist gar nicht zu bezweifeln. Der Versuch, die Anpassungslasten, die dadurch entstehen, daß man das amerikanische Haushaltsdefizit zurückführt - Ihr Wort, Herr Mitzscherling, daß das jetzt geschehe, höre ich gerne: ich werde nächste Woche selbst hinfahren, ich glaube aber nicht, daß es geschieht; sehen Sie sich den Konjunkturverlauf in den USA im ersten Monat dieses Jahres an; man kann nur zweifeln - über Währungsinterventionen einerseits und Protektionismus andererseits zu verschieben, ist das Problem, mit dem wir uns herumschlagen. Wenn wir den amerikanischen Drang zum Protektionismus erfolgreich bekämpfen wollen, dann können wir das nicht ohne steuerpolitische Aktivitäten in unserem Lande, ohne Steuersenkungen. Das ist es, was in der internationalen wirtschaftspolitischen Diskussion von uns gefordert wird. Sie, meine Damen und Herren, wollten ursprünglich überhaupt keine Steuerreform. Dann haben Sie vor den Wahlen ein bißchen Steuersenkung angekündigt, als Sie gemerkt haben, daß das bei der Wählerschaft gut ankam. Es war aber zu spät und zu wenig, und es hat nicht mehr geholfen. Meine Damen und Herren, zur Energiepolitik lassen Sie mich bitte nur zwei kurze Bemerkungen machen. Erstens: Von Ihnen, Herr Biedenkopf, ist vorhin gesagt worden, die Grundlage für die Berechnung des Ausgleichspfennigs, des Kohlepfennigs, habe sich grundlegend verändert, und daraus müßten Änderungen folgen. Sie haben gesagt, die Verdrängung des Öls sei ja erreicht. Wollen wir das Öl wieder hereinholen? Wir haben in der Bundesrepbulik Deutschland zehn Kraftwerke stehen, die sofort wieder auf 01 umsteigen können. ({11}) Müssen wir nicht längerfristig dabei bleiben, weil wir wissen, Öl ist knapp und wird eines Tages wieder teurer, daß wir nicht auf Öl ausweichen, sondern an der Verstromung der Steinkohle festhalten? Selbst wenn wir uns auf Ihre Anregung einstellen, Herr Biedenkopf, werden wir die Verteuerung im Bereich Aluminiumschmelzen und Chlorelektrolyse leider nicht in den Griff bekommen. ({12}) Da entstehen gewaltige Probleme, aber die sind nicht über den Einsatz von Steinkohle zu lösen, verehrter Herr Roth, nicht einmal über den Kernenergiestrom. In anderen Ländern ist man eben sehr viel billiger als bei uns. Die Kokskohlesubvention für die Exporte, die Sie, Herr Roth, angesprochen haben, haben wir in der alten Koalition in Übereinstimmung mit der IGBE zurückgeführt, weil wir - und zwar mit Recht - gesagt haben, daß es doch keine Sicherung der heimischen Kohleversorgung ist, wenn wir Kokskohle, die exportiert werden muß, subventionieren. Es hat etwas mit der Kostendegression bei der Produktion in der Bundesrepublik zu tun - insofern gibt es einen Zusammenhang -, aber fortsetzen konnte man das so nicht. ({13}) Meine Damen und Herren, der Konsens Kernenergie/Kohle stammt aus dem Jahre 1979 und ist von einem sozialdemokratischen Bundeskanzler und einem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen unterzeichnet worden. Sie stellen ihn in Frage! Sie sind übrigens ganz konsequent. Sie haben in Ihrem Nürnberger Hauff-Papier bei Ihrer Absage an die Kernenergie beschlossen, das Importkohle ins Land geholt werden muß. Meine Damen und Herren, wer die deutsche Steinkohle dem Wettbewerb mit Importkohle aussetzen will, der tötet die deutsche Steinkohle; die ist dann am Ende, und das müssen Sie wissen. ({14}) Norddeutsche SPD-Organisationen haben vor der Wahl schon neue Importkontingente verlangt. Das haben Sie ganz schnell abgestellt, weil das vor der Wahl nicht ins Konzept von Herrn Rau gepaßt hat. Das war aber die Konsequenz aus Ihren eigenen Beschlüssen! Lesen Sie es nach. ({15}) Bisher gab es die gemeinsam getragene Überzeugung - und an der wollen wir festhalten - , daß wir ohne die Sicherung der deutschen Steinkohle nicht auskommen können. Der entscheidende Punkt dabei sind die Gründe der Sicherheit, nicht einmal die beschäftigungspolitischen Gründe, ({16}) so wichtig sie sind, weil sich das auf bestimmte Gebiete konzentriert. Aber die Zahlen sind ja gar nicht so groß. Aus Gründen der Energiesicherung wollen wir diese einzige Primärenergie erhalten. Dafür müssen wir teuer bezahlen. Es ist lebensgefährlich, wenn dieser Konsens durch Sie aufgebrochen wird. Dann ist die deutsche Steinkohle verloren. Ihr Papier weist in diese Richtung. ({17}) - Lesen Sie es bitte nach! Der Satz über die Importkohle steht darin, und der ist lebensgefährlich für die deutsche Steinkohle. Fragen Sie einmal Ihr neues Mitglied, den Vorsitzenden der IGBE; dort hinten sitzt er. Fragen Sie ihn einmal, was er davon hält! Herr Meyer, herzlich willkommen! Herr Niggemeier sitzt neben ihm; die können Ihnen Auskunft darüber geben, was sie davon halten. Meine Damen und Herren, zu den Stichworten: Konjunktur und deren Zusammenbruch, Kaputtreden sei Unsinn. Verehrter Herr Kollege Mitzscherling, Konjunktur ist zu 50 % Psychologie. Deswegen ist das, was der Bundeswirtschaftsminister sagt, kein Unsinn.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin, wenn mir das nicht angerechnet wird, gerne. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, nachdem Sie sich in diesem Zusammenhang so zum Sprecher für die Kohle gemacht haben, frage ich Sie: Sind nicht Sie als Wirtschaftsminister es gewesen, der die Tür für die Importkohle weit geöffnet hat?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein. ({0}) Wir haben seinerzeit in Übereinstimmung mit allen Beteiligten beschränkte Importkontingente, die wir immer gehabt haben, Herr Westphal, um geringfügige Millionen-Tonnen-Zahlen erhöht, weil wir Kohle aus Polen, weil wir Kohle aus der DDR gekauft haben, die wir in revierfernen Kraftwerken einsetzen. Das ist immer so gewesen. Da gab es Übereinstimmung. Das hat niemals eine Konkurrenz zur deutschen Steinkohle verursacht. Aber, verehrter Herr Kollege, zu unserer Zeit und zu meiner Zeit ist der Jahrhundertvertrag mit der Verpflichtung bis zu 45 Millionen t pro Jahr zu verstromen, zustande gekommen. Wer an diesen Jahrhundertvertrag herangeht, der nimmt der deutschen Steinkohle jede Überlebenschance. Von der Kokskohlenlieferung kann sie nicht leben; die hängt vom Stahl ab. Vom Jahrhundertvertrag hängt es ab, und daran gehen Sie natürlich, wenn Sie den revierfernen Ländern die Nutzung der Kernenergie unmöglich machen. Wenn Sie das verhindern, ruinieren Sie den Jahrhundertvertrag, und damit entziehen Sie der deutschen Steinkohle die Existenzbasis. ({1}) - Sie sowieso, meine Damen und Herren, aber über Ihre Wirtschaftspolitik will ich heute nicht diskutieren. Die gibt es ja auch gar nicht. ({2}) Meine Damen und Herren, noch einige Worte zur Konjunktur: 1987 wird - daran besteht gar kein Zweifel - ein schwierigeres Jahr als 1986. Dem Tüchtigen steht auch einmal das Glück zur Seite, Herr Mitzscherling. Das hat Ihnen nicht gepaßt, das hat Ihnen nicht gefallen. Die Auswirkungen waren für Sie auch nicht so gut. Der Verteilungsspielraum wird im Jahre 1987 nicht genauso groß sein wie im Jahre 1986. Wenn Sie das hier anmerken, teilen Sie das bitte auch einmal den Gewerkschaften mit, wenn es um deren Tarifforderungen geht. 6 bis 7 % bei höchstens 1,5 To erwarteter Preissteigerungsrate; wer glaubt, daß wir solche Verteilungsspielräume hätten, ohne - ({3}) - Es geht um die Reallohnsteigerung, um die Steigerung der realen Einkommen um 4 % im letzten Jahr. Wenn Sie davon keine Kenntnis nehmen wollen, weil Sie nicht rechnen können oder nicht rechnen wollen, ist das Ihre Sache. Wir haben Probleme im Export; wir haben Währungsprobleme: Protektionismus, Stahl-, in dessen Gefolge Kohleprobleme, aber, meine Herren, trotzdem: Die Bundesrepublik Deutschland wird wirtschaftliches Wachstum haben; die Bundesrepublik Deutschland wird Stabilität haben. Die Preissteigerungsrate liegt bei uns, wenn Sie die Ölpreise herausrechnen, Herr Mitzscherling, bei 1,5 %. Da hätten Sie und wir alle in der alten Koalition mittags um 12 eine halbe Stunde alle Kirchenglocken läuten lassen, wenn wir 1,5 % erreicht hätten. ({4}) Sie sagen, das seien die Folgen einer übertriebenen Konsolidierungspolitik. Das ist sehr zurückhaltend und sehr vornehm und sehr akademisch formuliert, nicht? Vor vier Jahren hieß das: Ihr spart die deutsche Wirtschaft kaputt. Den Spruch habe ich im Wahlkampf von keinem von Ihnen mehr gehört. Sie haben sich auch nicht mehr getraut, den anzuwenden. Handelsbilanzüberschuß wird die Bundesrepublik Deutschland haben. Wir werden immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit haben. Aber wir haben eine Chance, die Arbeitslosigkeit abzubauen. Wir haben eine Chance, sie zurückzuführen, wenn wir uns in der Richtung bewegen - da bin ich mit Herrn Biedenkopf einig - , die hier aufgezeigt worden ist. Ohne Flexibilität, ohne Infragestellen verkrusteter Strukturen, ohne daß - ({5}) - Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Arbeitszeit verkürzt wird. Aber wenn mit einem Leisten über alle hergegangen wird, wenn die Arbeitszeit des Facharbeiters verkürzt wird, den Sie mit der Lupe nicht finden können und dem Sie dann Überstunden bezahlen müssen, und er dieselbe Arbeitszeit vorgegeben kriegt wie der ungelernte Arbeiter, den Sie in Hülle und Fülle zur Verfügung haben, weil Sie sich weigern, im selben Betrieb unterschiedliche Arbeitszeiten zuzulassen, weil das in gewerkschaftlichen Organisationsvorstellungen nicht erfaßt wird, dann allerdings, meine Damen und Herren, wird uns die Arbeitszeitverkürzung nicht helfen. Auf diese Weise geht es nicht. Wer sich nicht ein bißchen einfallen läßt, wer nicht ein bißchen Phantasie mitbringt, wer nicht auch ein bißchen Mut mitbringt, alte Positionen zu überprüfen und zu ändern, der wird die Arbeitslosigkeit nicht bekämpfen, der wird ihr nicht erfolgreich zu Leibe rücken, der wird es dann aber auch zu verantworten haben, wenn so viele Menschen außerhalb der Arbeit und damit außerhalb eines Teils unserer Gesellschaft verbleiben. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Sellin. Es ist eine Redezeit von fünf Minuten angemeldet.

Peter Sellin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja, vorweg möchte ich doch noch kurz auf Herrn Lambsdorff eingehen, weil sich das so ergibt. Es gibt so eine schöne Überschrift im „Handelsblatt" vom 11. März. Da steht drin: „Lambsdorff: Wir sitzen jetzt in einer selbstgezimmerten Mausefalle. " Gemeint ist die Finanzierungsseite der Steuerreform. Ich frage mich, weil Sie die in Ihren Koalitionsvereinbarungen offengelassen haben, wie Sie aus dieser Rattenfalle - sage ich jetzt mal - wieder herauskommen. Ich nehme an, im Herbst werden wir dann hier sehen, wie die verschiedensten Lobbys da gegeneinander kämpfen. Aber ich möchte auf grundsätzliche Fragen eingehen und nicht an diesem finanzpolitischen Thema entlang. Eine Wahlkampfparole der Bundesregierungsparteien lautete sinngemäß: Der Aufschwung läuft; die Wirtschaft ist super; nur SPD und GRÜNE mäkeln. Mit dröhnender Selbstgefälligkeit wurde auch wirtschaftspolitisch das „Weiter so, Deutschland" herausposaunt. Man konnte den Eindruck gewinnen, in der Wirtschaft habe ein Zeitalter der Dukatenesel begonnen. In den Hochglanzbroschüren und Wahlkampfreden der Regierungsparteien waren Begriffe wie Massenarbeitslosigkeit, zunehmende neue Armut, Umweltzerstörung und Firmenpleiten nicht zu entdecken. Von den Strukturkrisen in der Stahl-, Kohle- und Werftenindustrie und in der Landwirtschaft war nicht die Rede. Statt dessen hat sich die Bundesregierung unverfroren mit fremden Federn geschmückt. Die Preisstabilität und die daraus resultierenden Erhöhungen der Realeinkommen des Jahres 1986 sind auf den rapiden Verfall der Öl- und Rohstoffpreise zurückzuführen. Die Einfuhrpreise sind 1986 um 20 % gesunken; dies nur als Nachweis dafür. Dies hat alles nichts mit Ihrer Regierungspolitik zu tun. Sie haben das schöne Bild einer Wirtschaft gezeichnet, die unaufhörlich wächst, und haben diese anarchistische Wucherung der Wirtschaft als erstrebenswert verkauft. Nun hören wir wenige Tage nach der Bundestagswahl, daß sich am Konjunkturhimmel düstere Wolken zeigen. „Auftragsrückgänge", „Bestellungen werden zurückgenommen", „Maschinenbau vor Talfahrt", das sind so die Zeitungsmeldungen. Es mag ja sein, daß die sogenannten Wirtschaftssachverständigen derzeit übertreiben, um den Gewerkschaften im Zusammenhang mit dem Kampf um die 35-StundenWoche Mäßigung aufzuerlegen und sie in die Defensive zu treiben. Dabei ist es noch lange nicht ausgemacht, in welcher Art von Tiefe und Dauer ein konjunktureller Abschwung uns bevorsteht. Damit kein Mißverständnis aus unserer Sicht entsteht: Wir werfen Ihnen nicht vor, daß es zu einem wirtschaftlichen Abschwung kommen wird. Das Auf und Ab einer Konjunktur gehört zu einer kapitalistischen Wirtschaft wie der Wechsel der Jahreszeiten. ({0}) Wir werfen Ihnen vor, daß Sie die Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit vorrangig vom Wirtschaftswachstum abhängig machen. Wir werfen Ihnen vor, daß Sie mit Ihrer blinden Wachstumsorientierung die immensen ökologischen und sozialen Folgekosten des Wachstums systematisch aus Ihrer Betrachtung ausblenden, wir werfen Ihnen vor, daß Sie zu einem Kurswechsel hin zu einer ökologischen und sozialen Wirtschaftspolitik nicht bereit sind, und wir werfen Ihnen vor, daß Sie auf die Strukturkrise von Stahl, Kohle und Landwirtschaft keine Antworten geben. ({1}) Es bahnt sich also die nächste Konjunkturkrise an, und zwar auf einem Niveau, was in der Bundesrepublik Deutschland noch nie zu verzeichnen war, nämlich auf einem Einstiegsniveau von 2,5 Millionen registrierten Arbeitslosen. Das haben Sie zu verantworten. In dieser Lage sind wir. Vor diesem Hintergrund müssen wir eine grundsätzliche Diskussion über Ziele und Instrumente der Wirtschaftspolitik führen. Die alten Rezepte der angebots- und nachfrageorientierten Schulen der Wirtschaftspolitik greifen nicht mehr. Sie werden weder dem Erfordernis der ökologischen Stabilität noch dem Erfordernis der sozialen Gerechtigkeit, nämlich gegen die Arbeitslosigkeit anzutreten, gerecht. Seit vielen Jahren ist die herrschende Wirtschaftspolitik nicht in der Lage, diese zentralen Probleme anzugehen, geschweige denn zu lösen. Wir brauchen deshalb eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, eine neue Sicht der Dinge. Um das nun anzusprechen: Es ist sinnvoll, nach 20 Jahren das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz einmal wieder in den Mittelpunkt der Debatte zu stellen. Als es entstand, galt es als Ausdruck eines aufgeklärten Kapitalismus. Nach der Lehre von Keynes sollen die Instabilitäten von Konjunktur und Beschäftigung mit Staatseingriffen bekämpft werden. Dabei ist in der Zwischenzeit offensichtlich, daß der hohe Beschäftigungsgrad, also Vollbeschäftigung, der damals als Ziel vorschwebte, zur angeblich „natürlichen" Arbeitslosenrate degeneriert ist. Sie nehmen 10 To Arbeitslosigkeit im Durchschnitt in der Bundesrepublik hin, als ob das nichts sei. ({2}) Das Ziel eines außenwirtschaftlichen Gleichgewichts ist ins außenwirtschaftliche Übergewicht eines Herrn Bangemann gedrückt worden. ({3}) Das heißt nichts anderes - das haben Sie soeben selbst gesagt -, als daß Exportexpansion Ihr weiteres Ziel ist. Wohin das in bezug auf den Weltmarkt führt, haben Sie nicht ausgeführt. ({4}) Die herrschende Wirtschaftpolitik soll dazu beitragen, daß ein stetiges und angemessenes Wachstum erreicht wird. Wir GRÜNEN sind der Auffassung, daß im Zeitalter dramatischer ökologischer Bedrohungen das Wachstum des realen Bruttosozialprodukts nicht länger ein Ziel der Wirtschaftspolitik sein darf. ({5}) Wir stimmen in dieser Frage - das ist interessant, wenn man die Debatte von vorhin aufnimmt - mit einem CDU-Politiker in diesem Hause überein, nämlich in diesem Fall mit Herrn Biedenkopf. Ein Zitat aus seinem Buch „Die neue Sicht der Dinge": Gesellschaften, die dauernd expandieren müssen, sind nicht dauerhaft lebensfähig. Sie gefährden die Umweltbasis, ihre Zukunftschancen und damit letztlich sich selbst. Die Auffassung, die in diesem Zitat von Biedenkopf zum Ausdruck kommt, können wir teilen. Es macht deutlich, daß hier Problemerkenntnis vorgelegen hat, die man bei Bangemann, Lambsdorff und anderen vermißt. ({6}) Sie setzen weiter auf Wachstum. Sie sind letztlich Fetischisten in diesem Abbild, wenn Sie meinen, die Probleme einer Industriegesellschaft damit lösen zu können. Wir meinen, daß die ökologischen und sozialen Folgekosten, die in einigen Studien auf 30 To des Bruttosozialprodukts geschätzt werden, in unsere Betrachtungsweise eingehen müssen. Für uns ist es notwendig, daß eine ökologische und soziale Schadensbilanz für die Bundesrepublik aufgestellt wird, und diese Bilanz ist schlicht alarmierend. Es seien nur aufgezählt: Luftverschmutzung, Waldschäden, Gewässerverunreinigung, Bodenzerstörung, Lärm, umwelt- und arbeitsbedingte Krankheiten verursachen nach groben Schätzungen - in diesem Fall ebenfalls von einem CDU-Mitglied, dem Direktor des Umweltbundesamtes Lutz Wicke; er hat natürlich grob geschätzt in seinem Buch; da kann man vieles kritisieren - Schäden in Höhe von 100 Milliarden DM. Man kann nur sagen: Das sollten Sie sich zu Gemüte führen, wenn Sie hier weiter als Wachstumsapostel auftreten. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, Ihre Redezeit ist weit überschritten, und es wäre gut, wenn Sie zum Ende kämen.

Peter Sellin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002159, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme damit zum Schluß und will nur kurz sagen: Es geht um den Umbau der Industriegesellschaft und nicht, was Sie uns laufend unterstellen, um einen Ausstieg aus dieser Industriegesellschaft. Es geht um den Umbau einzelner Industriebranchen. Um jede Produktlinie muß in einem gesellschaftspolitischen Diskurs diskutiert werden. Dann kann es gelingen, daß wir zu ökologisch und sozial verträglichen Lebensverhältnissen zurückkommen. Eine Methode - das ist aktuell - besteht in der Arbeitszeitverkürzung. Daher ist der Arbeitskampf in der Metallindustrie natürlich nur zu begrüßen. Er sollte schnellstens zur 35-Stunden-Woche führen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Der letzte Redner heute ist Herr Abgeordneter Spilker.

Dr. h. c. Karl Heinz Spilker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002200, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Zum Abschluß der heutigen Debatte darf ich mir erlauben, noch einige Gedanken zu äußern, und zunächst einmal sagen, daß ich mich im Laufe des Tages eigentlich immer wieder an frühere Regierungserklärungen und Debatten erinnern mußte; speziell an die Debatte vor vier Jahren, aber auch an die Diskussionen Ende letzten Jahres, als es hier um Haushalts-, Steuerfragen und um andere Probleme ging. Ich selbst habe damals einigen Herren der Opposition, der SPD, Schwarzmalerei und Agitation vorgeworfen und gesagt, daß ich Ihnen mit dieser Methode der Opposition eigentlich keine Chance gebe, den Weg zur Regierungsbank einmal wieder zu bewältigen. ({0}) Das ist natürlich angezweifelt worden, aber der Wähler hat Ihnen das in der Zwischenzeit ausdrücklich bestätigt. ({1}) Sie haben jetzt wieder einige Jahre Zeit, sich zu besinnen, welche Art der Opposition für Sie erfolgreich sein könnte; eine Aufgabe, über die auch der Bundeskanzler heute früh gesprochen hat. ({2}) Herr Dr. Vogel, Sie haben diesen Ball heute morgen aufgenommen und haben den Weg fortgesetzt. Nur, Ihre, sagen wir einmal: Schwarzmalerei, Ihr Pessimismus bezog sich ({3}) auf die wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik. Ich habe Sie jedenfalls so verstanden, nachdem ich Ihnen vorher sogar einige Male Beifall gegeben habe, z. B. an dem Punkt, wo Sie sich mit den GRÜNEN auseinandergesetzt haben. Das bezog sich aber sicherlich nur auf das Fernsehpublikum; denn in der Praxis draußen, in Ihrer Partei sieht das ganz anders aus. ({4}) Das ist eben der Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Aber heute früh meinte ich Sie so verstehen zu sollen, daß Sie bereits in diesem Jahre bei uns in der Bundesrepublik eine Rezession erwarten. Herr Mitzscherling sprach vorhin von Stagnation. Sie wissen doch eigentlich selbst: Es gibt doch keinen ernst zu nehmenden Wirtschaftsexperten in dieser Republik, der in diesem Jahr mit einer Rezession rechnet. Glauben Sie denn, daß es richtig ist, hier in einen Konjunkturpessimismus zu verfallen, der Ihnen genausowenig bringt wie all Ihre Agitation in den letzten Monaten, die Ihnen nichts genutzt, sondern nur geschadet hat? Auch wir übersehen nicht, daß wir uns derzeit konjunkturell, sagen wir einmal: in einem etwas ruhigeren Fahrwasser befinden. Wir haben nie im Zusammenhang mit der Marktwirtschaft von einem Binnensee gesprochen, sondern waren immer diejenigen, die sagten, es geht rauf und runter. Das muß nur in einem vernünftigen Verhältnis vor sich gehen. ({5}) Die Aufwertung der D-Mark im Verhältnis zum Dollar ist uns bekannt wie Ihnen. Die 80 % im letzten Jahr sind schon ein Hammer und wirken sich natürlich auf den Export aus. Nur, wir haben nie begonnen, darüber zu lamentieren. Sie haben die ganzen Rezessionen in Ihren Regierungszeiten immer mit dem Ausland, immer mit dem Export oder mit anderen Gedanken dieser Art begründet. Das gilt speziell für den früheren Bundeskanzler Helmut Schmidt. Meine Damen und Herren, gibt es jetzt wirklich Bremsspuren, so wird die Wirtschaft in der Bundesrepublik damit fertig werden. Überlassen wir der Wirtschaft, dem Handel, den Unternehmen das Handeln. Geben wir ihnen die richtigen Rahmenbedingungen! Die wissen besser, wie sie sich zu verhalten haben, und bedürfen nicht unserer Empfehlungen oder gewisser Ausdrücke des Besserwissens, die ich hier wieder vernehmen mußte. Meine Damen und Herren, die deutsche Wirtschaft ist doch in Ordnung. ({6}) Wir können überhaupt kein Argument finden, warum das jetzt plötzlich anders sein sollte. Wenn das Wachstum einmal um Punkte nach dem Komma weniger wird, um dann wieder mehr zu werden, so müssen wir daran denken, daß wir durch Rahmenbedingungen dafür zu sorgen haben, daß die Verhältnisse sich insgesamt gut entwickeln. Der hektische Aktionismus, der dann immer wieder gefordert wird - Herr Dr. Vogel, Sie befürworten ihn - , wird von uns abgelehnt. ({7}) Der Praxis vertraue ich mehr als Ihren Prophezeiungen oder Ihrer Schwarzmalerei. Der Staat kann nicht mit einem Knopfdruck dafür sorgen, daß sich die Konjunktur so oder so entwickelt. Das müssen Sie lernen; für uns ist das eigentlich eine Selbstverständlichkeit. ({8}) Verläßliche, gute Rahmenbedingungen als Voraussetzung für Wachstum, Wohlstand und mehr Beschäftigung sind und bleiben das Gebot der Stunde. Der Bundeskanzler hat heute morgen in seiner Regierungserklärung die Grundlinien der Steuer- und Finanzpolitik für die kommenden vier Jahre eindrucksvoll dargelegt. ({9}) Für die CDU/CSU-Fraktion versichere ich ihm - das gilt auch für den Bundesfinanzminister - , daß wir den eingeschlagenen Weg der Stabilität, der Kontinuität - das sind alles Voraussetzungen für Steuersenkungen - mitgehen. Ich möchte aber auch auf etwas hinweisen, was wir begrüßen, was leicht übersehen wird und was notwendig ist, um Reformen wie die Steuerreform durchzuführen oder eine Reform im Sozialbereich anzufassen, die auch ihren Preis hat. Wir begrüßen ausdrücklich die Festlegung in der Koalitionsvereinbarung, daß in den ersten beiden Jahren dieser Legislaturperiode keine neuen Leistungsgesetze verabschiedet werden, mit Ausnahme natürlich der Anpassung im Kriegsopferbereich oder der Besoldung etc. Ich darf noch zwei Äußerungen des Bundeskanzlers erwähnen. Das eine war seine besorgte Schilderung der Agrarkrise im europäischen Bereich, die sich in der Zwischenzeit weltweit entwickelt hat. Wir müssen viel dafür tun, daß die EG-Kommission in ihrer Arbeit für die Bauern innerhalb Europas einen anderen Weg einschlägt. Das wird seine Zeit brauchen. ({10}) Aber - und das begrüße ich außerordentlich - unsere nationale Verantwortung können wir hier nicht übersehen und nicht an die Seite schieben. Wir haben dafür zu sorgen, daß sich die Bauern draußen auf uns verlassen können. Es geht um ihre Existenz, es geht um die Existenz vieler, vieler zigtausend Familien in der Landwirtschaft, für die wir hier eine große Verantwortung tragen. ({11}) Das ist die eine Bemerkung. Die andere: Der Bundeskanzler sprach im Rahmen einer Darstellung unserer Gesellschaftsstruktur von der Vielfalt unserer Vereine, Heimatvereine, im kulturellen Bereich, ({12}) im sozialen Bereich, im Sportbereich. ({13}) - Jetzt lassen Sie mich mal reden! Sie sind ein Pferdezüchter, und wir kümmern uns noch um einige andere Tiere. ({14}) - Das tut er auch. Aber ich habe netterweise gehört, daß er auch ein großer Wetter ist. Ich habe nichts dagegen; ich gönne ihm auch, daß er hin und wieder etwas verdient oder gewinnt. Das ist ein Zeichen, daß er vielleicht eine gute Nase für Pferde hat. Für die Politik - das muß ich Ihnen ehrlich sagen - haben Sie keine gute Nase. Sonst hätten Sie nicht im Fernsehen erklärt - ich habe das durch Zufall gesehen, sonst hätte ich gar nicht hingeschaut - , Sie hätten sich erst nach einem Zeitraum von sechs bis acht Jahren vorgenommen, Herrn Stoltenberg abzulösen. Da wünsche ich Ihnen eine gute Wartezeit. Ich war bei einem anderen Gebiet, nämlich bei der Vielfalt unserer Vereine. Ich glaube, daß wir den Wert des Vereinslebens in der Bundesrepublik gar nicht hoch genug einordnen können. Das ist ein ganz, ganz ernstes Thema. Immer, wenn wir über Vereinsleben in der Bundesrepublik sprechen, meine Damen und Herren, sollten wir zunächst den Kommunen, den Gemeinden, den Ländern danken; ({15}) denn alles, was sich hier entwickeln konnte, konnte nur mit Hilfe der Gemeinden geschehen. Ich erwähne das nicht, weil es hier viele Freiwillige gibt, nicht weil es hier ein unglaubliches ehrenamtliches Engagement gibt, sondern weil wir für dieses ehrenamtliche Engagement auch etwas mehr tun sollten, als es uns bis jetzt gelungen ist. ({16}) Ich darf das ergänzen, was der Bundeskanzler heute sagte, und ich möchte doch noch eine kleine Zwischenbemerkung machen. Was bedeuten denn Vereine in einer kleinen Gemeinde oder in einer größeren? Ich rede nicht allein von den Großstädten. Sie bedeuten, daß viele Menschen in einem Verein eine Heimat gefunden haben, in ihrer Freizeit oder für ihre Freizeit. Das gilt für Jung und Alt, für Gesunde und Kranke, für Kinder und Senioren. ({17}) Hier, meine Damen und Herren, gibt es unendlich viele Helfer und Übungsleiter. All das, was sie tun, wie sie sich engagieren, nehmen wir als selbstverständlich hin. ({18}) - Ich wollte dazu dies sagen: im übrigen von selbst, es bedarf gar nicht Ihres Zwischenrufes, Herr Roth. Wir haben uns darüber Gedanken gemacht, und wir wollten die Situation verbessern und nicht verschlechtern. Im übrigen haben wir uns eine massive Erhöhung des Grundfreibetrages vorgenommen, um auch dieser Situation Rechnung zu tragen. Das ist nur eine Nebenbemerkung. Aber wir haben hier - ich habe es selbst beantragt - eine Sachverständigenkommission eingesetzt, um einmal das gesamte Recht der Gemeinnützigkeit zu durchforsten. ({19}) - Sehr richtig, Herr Schily, das ist etwas. Das ist nicht ganz einfach, sondern sehr schwierig. Das Ergebnis wird in zwei, drei Monaten vorliegen. Auf dieser Basis können wir uns dann mit dieser Frage befassen und sie hoffentlich zu einem guten Abschluß bringen. Ich wollte jedoch begrüßen, was der Bundeskanzler heute in diesem Zusammenhang gesagt hat, weil das schließlich nicht nur dem Spitzensport, für den wir moch mehr tun wollen, sondern vor allem dem Breitensport mit über 20 Millionen aktiven Menschen in der Bundesrepublik dient. Ich möchte alle, die hier sind bitten, dieser Frage sehr große Aufmerksamkeit zu schenken. ({20})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, für heute abend liegen keine Wortmeldungen mehr vor. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 19. März 1987, 9 Uhr ein. Wir beginnen zunächst mit der Beratung des Tagesordnungspunktes 3, Wahl der Schriftführer, und setzen anschließend die Aussprache über die Erklärung der Bundesregierung fort. Die Sitzung ist geschlossen.