Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/22/1990

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Vor Eintritt in die Tagesordnung darf ich Herrn Bundesminister Dr. Schwarz-Schilling zu seinem am 19. November gefeierten 60. Geburtstag herzlich beglückwünschen. ({0}) Die CDU/CSU-Fraktion hat fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung vorgelegt. Dieser soll nach Tagesordnungspunkt 1 behandelt werden. Es handelt sich dabei um die Entsendung von Beobachtern in das Europäische Parlament. Die endgültige Entscheidung ist erst kurz vor dieser Sitzung in der Fraktion gefallen; deshalb die nachträgliche Beantragung. Ist das Haus damit einverstanden? - Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Auch nicht. Dann ist dieser Antrag der CDU/CSU-Fraktion einstimmig als ergänzender Punkt auf die Tagesordnung genommen. Die Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 beantragt unter Abweichung von der Geschäftsordnung gemäß § 126 eine Erweiterung der Tagesordnung. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Such.

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Namens meiner Fraktion möchte ich das Haus bitten, gemäß § 126 GO folgender Abweichung von der Geschäftsordnung zuzustimmen. Obwohl wir dies nicht fristgemäß nach § 20 Abs. 2 GO angekündigt haben, möchten wir beantragen, die heutige Tagesordnung um eine Aussprache zu ergänzen, und zwar über die „Aufgaben, Organisation und Tätigkeit der Geheimorganisation ,Gladio'/,Stay Behind' sowie das diesbezügliche Informationsverhalten der Bundesregierung gegenüber dem Deutschen Bundestag". Ich halte das Thema für so wichtig und hoffe mich dabei in Übereinstimmung mit vielen Kolleginnen und Kollegen, daß sowohl eine Zweidrittelzustimmung nach § 126 GO wie auch eine Mehrheit für den Antrag auf Ergänzung der Tagesordnung als solchen möglich sein sollte. Diese Hoffnung gründet auf folgenden Erwägungen - ich begründe damit meinen Antrag - : Erstens. Die Nachricht von Existenz und mutmaßlichem Wirken dieser Organisation erschüttert seit knapp drei Wochen ganz Westeuropa. ({0}) Nach den ersten Berichten aus Italien hat zunächst meine Fraktion hierzu zwei Anfragen an die Regierung gerichtet, die leider trotz Fristablauf noch nicht beantwortet wurden. Dann folgten auch einzelne andere Kollegen. Unseren Anträgen auf Sondersitzungen des Innen- und Verteidigungsausschusses in der vergangenen Woche, um ausführliche Informationen der Bundesregierung entgegenzunehmen, sind die Fraktionen der Koalition wie auch der SPD leider einmütig entgegengetreten. Anschließend haben Sie, lieber Kollege Penner, sich in der Presse mehrfach zitieren lassen, das Plenum oder zumindest der Verteidigungsausschuß solle über „Gladio" informiert werden und diskutieren. Ich gehe davon aus, daß dies mittlerweile der Haltung Ihrer gesamten Fraktion entspricht und deren Zustimmung zu unserem Antrag ermöglicht. Zweitens. In ganz Europa haben sich die Parlamente inzwischen mit „Gladio" befaßt. Eine Plenarsitzung fand z. B. gestern in den Niederlanden statt; heute oder morgen findet eine im Europäischen Parlament statt. In Italien nahm am vergangenen Donnerstag ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß seine Arbeit auf. Ähnliches ist für Belgien angekündigt. Die Regierungschefs anderer Staaten haben - beginnend schon in der ersten Novemberwoche in Italien - ihren Parlamenten ausführliche schriftliche Informationen zukommen lassen. Beides, also Information und Befassung des Plenums, sollte daher auch in Deutschland möglich sein. ({1}) Drittens. Was geschieht hier bisher aber tatsächlich? Heute nachmittag soll die PKK zu „Gladio" tagen, einmal mehr unter Ausschluß der GRÜNEN. ({2}) Entgegen den Erklärungen von Minister Klein bleiben nach dem PKK-Gesetz aber auch das Plenum und die Fachausschüsse für diese Fragen zuständig. Die Befassung in der PKK reicht nicht aus; nicht nur des18862 halb, weil die Vertreter aller Parteien, die Verantwortung für „Gladio" getragen haben, dort unter sich sitzen, sondern auch wegen des Gegensatzes zur beschriebenen Praxis anderer Staaten. Wir halten es da mehr mit Minister Töpfer, der am vergangenen Mittwoch im „Stern TV" spontan sagte, über diese Organisation müßten Parlament wie Öffentlichkeit rückhaltlos aufgeklärt werden. ({3}) Viertens. Ich hoffe auch auf Zustimmung aus FDP und CDU/CSU. Herr Hirsch, Sie als PKK-Mitglied haben gestern abend im ZDF erklärt, Sie seien von den Presseberichten über „Gladio" überrascht gewesen. Ähnlich dürfte es daher auch Ihren Kollegen aus der PKK ergangen sein. Schon wegen dieser bisher unterlassenen Information durch die Regierung, wegen des Affronts gegen die PKK sollten Sie nun für eine Behandlung im Plenum stimmen können. Fünftens. Terminlich sollte dieser zusätzliche Tagesordnungspunkt zu der Zeit der vorgesehenen PKK-Sitzung, also praktisch statt dieser nach dem Bericht über die KSZE-Konferenz stattfinden. Dies schlösse inhaltlich direkt an den europäischen Kontext an, bevor die rein innenpolitische Frage von Steuern bzw. Abgaben erörtert würde. Angemessen schiene mir eine Debattenzeit von ca. zwei Stunden zu sein. ({4}) Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Es muß unser aller Interesse sein, insbesondere auch das der Fraktionen, welche während der Existenz von „Gladio" Regierungsverantwortung trugen bzw. tragen, den Wählerinnen und Wählern noch vor dem 2. Dezember 1990 Klarheit darüber zu geben, wie diese geheime Organisation in Deutschland gewirkt hat und wie die bisherige Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber den Volksvertretern in dieser Sache zu rechtfertigen ist. Ich bitte Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Bohl zur Geschäftsordnung. Bitte sehr.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn eine Fraktion der Auffassung ist, man müsse einen wichtigen Punkt noch nachträglich auf die Tagesordnung setzen, so ist dafür nach unserer Geschäftsordnung eine Frist vorgesehen. ({0}) Diese Frist endet am Tage vorher um 18 Uhr. Ein solcher Antrag wäre also gestern zu diesem Zeitpunkt noch möglich gewesen. ({1}) Sie haben eben ausgeführt, daß Sie dieses Thema für besonders wichtig und dringlich halten, ({2}) obwohl darüber schon seit 14 Tagen in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Ich muß sagen: Es ist relativ unglaubwürdig, wenn Sie, nachdem über dieses Thema nach ihrem eigenen Vortrag schon 14 Tage in der Öffentlichkeit diskutiert wird, nicht die Kraft und die Zeit finden, bis 18 Uhr des Vortages einen entsprechenden Antrag hier im Hause einzubringen. ({3}) Das zeigt im Grunde genommen, daß Sie ganz andere Ziele verfolgen. ({4}) Wir haben - das haben Sie nach Ihrem eigenen Vortrag hier zur Kenntnis zu nehmen - die parlamentarischen Kontrollgremien, die sich mit dieser Frage befassen, ({5}) die informiert werden und die darüber diskutieren. Die Bundesregierung hat sich durch den zuständigen Staatsminister Stavenhagen öffentlich erklärt. All dies zeigt überdeutlich, daß hier nichts unter den Teppich gekehrt wird, ({6}) daß hier seitens der Regierung Offenheit und Klarheit hergestellt wird ({7}) und daß Sie, wohl wissend, daß Sie keine Zweidrittelmehrheit für die Änderung der Tagesordnung heute haben werden, im Grund genommen nur die Direktübertragung des deutschen Fernsehens mißbrauchen wollen, um Ihre Dinge hier vorzutragen. Das ist der Sachverhalt. ({8}) Das alles bringt mich dazu, für die Fraktion der CDU/CSU festzustellen, daß wir Ihrem Antrag nicht zustimmen werden. Ich bin ganz sicher, daß die deutsche Öffentlichkeit für dieses Wahlschauspiel, das Sie inszenieren wollen, wohl Verständnis haben wird, aber unserer Überzeugung noch mehr Verständnis entgegenbringt, daß der Bundestag nicht der richtige Ort ist, an dem heute darüber geredet werden sollte. Vielen Dank. ({9})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Zur Geschäftsordnung erteile ich dem Abgeordneten Herrn Jahn das Wort.

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was öffentlich unter dem Stichwort „Gladio" ruchbar geworden ist, trägt alle Zeichen eines Skandals. ({0}) Es hat den Anschein, daß die Bundesregierung ihrer gesetzlich festgelegten Pflicht zu einer umfassenden Unterrichtung des Parlamentes in der Parlamentarischen Kontrollkommission zur Kontrolle der Nachrichtendienste nicht nachgekommen ist. ({1}) Umfassende und öffentliche Aufklärung ist deshalb geboten. Aber wir meinen, Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN, man kann das nicht tun, indem man den zweiten vor dem ersten Schritt tut. ({2}) Wir wollen in der heutigen Sitzung der Parlamentarischen Kontrollkommission deutlich machen, daß die Sozialdemokraten nicht bereit sind, das in dieser vertraulich arbeitenden Kommission verstecken zu lassen. ({3}) Wir wollen die öffentliche Aufklärung im Verteidigungsausschuß und im Auswärtigen Ausschuß. ({4}) Dort muß zunächst einmal vorbereitet werden, was dann am Ende auch als Ergebnis der Prüfung im Plenum des Deutschen Bundestages erörtert werden muß. Aber ohne eine sorgfältige Vorbereitung, wie sie nur in den Fachausschüssen möglich ist, kann das hier nicht zu einer geordneten Auseinandersetzung führen. Deswegen stimmen wir einer Erörterung in der öffentlichen Debatte heute nicht zu, behalten uns aber eine Fortführung des Themas in aller Form vor. ({5})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung über den Geschäftsordnungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Reihe von Enthaltungen und Ja-Stimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 und der Fraktion der SPD ist dieser Antrag abgelehnt. Es liegen noch Geschäftsordnungsanträge des Herrn Abgeordneten Wüppesahl vor. Ich erteile Herrn Abgeordneten Wüppesahl das Wort zur Geschäftsordnung und mache ihn darauf aufmerksam, daß dieser Geschäftsordnungsbeitrag nach der Geschäftsordnung nicht länger als fünf Minuten sein darf. ({0}) - Zurückgezogen? ({1}) - Damit haben sich diese Geschäftsordnungsanträge erledigt. ({2}) Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf: Regierungserklärung des Bundeskanzlers zu den Ergebnissen des Gipfeltreffens der Staats-und Regierungschefs der KSZE in Paris und zum bevorstehenden Europäischen Rat in Rom Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD vor. Weitere Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 sind angekündigt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache drei Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema unserer heutigen Debatte ist die Zukunft Europas, seine künftige Sicherheit und Zusammenarbeit und sein immer engerer Zusammenschluß in der Europäischen Gemeinschaft. Ich berichte Ihnen über den KSZE-Gipfel der Staats- und Regierungschefs Anfang dieser Woche in Paris und über die dort unterzeichneten und verabschiedeten Dokumente, und ich gebe Ihnen einen Ausblick auf den Europäischen Rat in Rom Mitte Dezember und die dort zu eröffnenden zwei Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union. Zusammengenommen bedeuten diese beiden Gipfelbegegnungen im Abstand von weniger als einem Monat Weichenstellungen für eine neue Epoche der europäischen Geschichte, in der wir der Vision von dem einen Europa entscheidend näher kommen. ({0}) Gerade für unser Land, die Bundesrepublik Deutschland, das vor sechs Wochen seine Einheit in Frieden, in Freiheit und in gutem Einvernehmen mit allen seinen Nachbarn und Partnern vollenden konnte, sind beide Gipfelbegegnungen von historischem Rang. In Paris wurde das Werk der deutschen Einigung unter dem europäischen Dach vollendet. In den Beiträgen der Staats- und Regierungschefs und in den Dokumenten wurde besonders sinnfällig, daß jetzt ein großes Ziel deutscher und europäischer Politik erreicht ist: Wir Deutsche überwinden die widernatürliche Teilung, unter der unser Land und Volk mehr als vierzig Jahre gelitten hat, und wir Europäer beenden Konfrontation und Kalten Krieg und begründen die historisch gewachsene Einheit unseres Kontinents neu. Ich habe in Paris all unseren Partnern in der KSZE für ihren großartigen Beitrag zu diesem Erfolg gedankt. Im KSZE-Prozeß ist über 15 Jahre hindurch hervorragende Arbeit geleistet worden. Die Schlußakte von Helsinki von 1975 war die richtige, die zukunftsweisende Weichenstellung. ({1}) - Jetzt warten Sie bitte erst einmal ab. - Wir, die Unionsparteien, haben sie damals mit Skepsis aufgenommen, - ({2}) - Meine Damen und Herren, ich würde Ihnen wirklich raten: Jetzt warten Sie doch einmal ab. Im Moment brauchen wir hier keine Wahlversammlung abzuhalten. ({3}) Es sollte möglich sein, auch in einer solchen Stunde einen solchen Satz einmal ruhig aussprechen zu können. Wir, die Unionsparteien, haben sie damals mit Skepsis aufgenommen, eine Skepsis, die sich glücklicherweise als unbegründet herausgestellt hat. Ich nehme deshalb diese Debatte zum Anlaß, der damaligen Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt und Bundesminister Hans-Dietrich Genscher meinen besonderen Respekt für diese Entscheidung zu bezeugen. ({4}) Jetzt möchte ich den anderen Satz auch noch ruhig sagen. Ich schließe die Kollegen Willy Brandt und Walter Scheel ausdrücklich in diese Feststellung ein. ({5}) Auf dem Europäischen Rat in Rom werden wir Deutsche durch die Tat beweisen, daß wir mit der wiedergewonnenen Souveränität unseres Landes nicht rückwärtsgewandt umgehen. Wir sind im Gegenteil mehr als bisher bereit, Hoheitsrechte auf die Europäische Gemeinschaft zu übertragen. Wir arbeiten weiter an dem großen Ziel, das uns mit unseren europäischen Freunden eint, nämlich an den Vereinigten Staaten von Europa zu bauen. Daß wir Deutsche in diesem Herbst eine glückliche Wende unserer Geschichte erleben und zugleich eine große Zukunft für ganz Europa mitgestalten dürfen, verdanken wir vor allem zwei historischen Entwicklungen: Präsident Gorbatschow hat in der Außen- und Sicherheitspolitik der Sowjetunion „Neues Denken" durchgesetzt, und die Völker Mittel-, Ost- und Südosteuropas sind in festem Vertrauen auf die Ideale der KSZE mutig für ihr Recht, für ihre Freiheit und für ihre Selbstbestimmung eingetreten. Ich habe dies in der letzten Sitzung des Deutschen Bundestages ausführlich gewürdigt und will heute unseren Dank noch einmal bekräftigen. ({6}) Nur auf dem Fundament dieses grundlegenden Wandels und des darauf neu begründeten Vertrauens war es möglich, in Paris Ecksteine für eine dauerhafte und gerechte europäische Friedensordnung zu legen. Dieser grundlegende Wandel kommt besonders sinnfällig in der „gemeinsamen Erklärung von 22 Staaten" zum Ausdruck. Hierin erklären die 22 Staaten, die sich vormals in Bündnissen unversöhnlich gegenüberstanden, daß sie nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen. ({7}) Vor allem: Sie bekräftigen ihre Verpflichtungen zum Gewaltverzicht. Sie versichern feierlich, daß sie keine ihrer Waffen jemals einsetzen werden, es sei denn zur Selbstverteidigung oder im Einklang mit der UNO-Charta. Wann in der Menschheitsgeschichte sind Allianzen in diesem Geist des Friedens und der Versöhnung aufeinander zugegangen? Mit dem „Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa" haben die 22 Staaten gleichzeitig das umfassendste und weitreichendste Abkommen in der Geschichte der Abrüstung und Rüstungskontrolle unterzeichnet. In nur 20monatigen Verhandlungen haben sie ein beispielloses Regelwerk geschaffen, um vom Atlantik bis zum Ural die konventionellen Hauptwaffensysteme zu begrenzen und diese Begrenzungen strikten Überprüfungen zu unterwerfen. Künftig wird es in Europa auf jeder Seite nur noch 20 000 Kampfpanzer, 30 000 gepanzerte Kampffahrzeuge, 20 000 Artilleriesysteme, 6 800 Kampfflugzeuge und 2 000 Kampfhubschrauber geben. Kein einzelner Staat darf mehr als ein Drittel dieses Potentials behalten. Für die Umsetzung dieses Vertrages sind weniger als vier Jahre vorgesehen. Danach wird zwischen den westlichen und den östlichen Staaten Gleichheit der konventionellen Streitkräfte in Europa auf niedrigerem Niveau als bisher geschaffen sein. Danach wird kein Staat in Europa mehr die Fähigkeit haben, einen Überraschungsangriff auszulösen oder großangelegte Offensivhandlungen zu unternehmen. Damit ist sowohl ein historischer Markstein der Abrüstung erreicht als auch das Fundament einer ganz Europa umfassenden Sicherheitsarchitektur gelegt. ({8}) Kurzum: Frieden und Sicherheit in Europa werden künftig mit weniger Waffen verbürgt. Ich habe in meiner ersten Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag im Oktober 1982 die Arbeit der von mir geführten Bundesregierung unter das Ziel gestellt: Frieden schaffen mit weniger Waffen. Wir haben Wort gehalten. ({9}) Die Bundesregierung hat deshalb von Anfang an als Teil ihrer besonderen Verantwortung für den Frieden in Europa angesehen, die Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa in jeder nur denkbaren Weise zu fördern. Wir haben weiterführende Konzeptionen und konsensfähige Texte beigetragen, wofür ich den Verhandlungsführern wie auch ihren Kollegen in den anderen Wiener Foren meine besondere Anerkennung aussprechen möchte. Meine Damen und Herren, wir haben nicht zuletzt auf dem Weg zur deutschen Einheit die Verpflichtung übernommen, die Streitkräfte des geeinten Deutschland auf die Zahl von 370 000 Mann zurückzuführen. Diese Verpflichtung war der Schlüssel zum Verhandlungserfolg in Wien. Genauso hatten wir im Sommer 1987 mit unserem Verzicht auf die Pershing I a den Durchbruch zum INF-Vertrag und zur weltweiten Verschrottung aller nuklearen Mittelstreckenraketen erleichtert. ({10}) Die Bundesrepublik Deutschland hat im Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa Reduzierungspflichten übernommen, mit denen sie in absoluten Zahlen nach der Sowjetunion an zweiter Stelle steht, gemessen an den vorhandenen Potentialen jedoch an der Spitze liegt. Wir bauen ab: Panzer um 42 %, gepanzerte Kampffahrzeuge um 64 %, Artillerie um 42 %, Flugzeuge um 16 % und Kampfhubschrauber um 14 %. Alle Reduzierungen werden selbstverständlich überprüft durch ein bis in Einzelheiten festgelegtes System der Verifikation und Inspektion. Damit wird in Europa ein Maß an Offenheit und Transparenz auf militärischem Gebiet erreicht, das in der Geschichte ohne Vorbild ist. ({11}) Besonders wichtig ist für uns die im Vertrag enthaltene Verpflichtung, unmittelbar im Anschluß an seine Unterzeichnung die Verhandlungen auf der Grundlage des gleichen Mandats sowie im gleichen Teilnehmerkreis fortzusetzen. Wir gehen davon aus, daß dabei auch andere Partner ihren Beitrag zur Festigung von Sicherheit und Stabilität in Europa leisten und ebenfalls ihre Personalstärken begrenzen. Lassen Sie mich an dieser Stelle einfügen: Mit der Unterzeichnung des ersten Wiener Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa erhält nunmehr der erfolgreiche Abschluß der Genfer Verhandlungen über die weltweite Ächtung chemischer Waffen höchste Priorität. Vor dem Hintergrund der krisenhaften Entwicklung am Golf ist es allerhöchste Zeit, daß das Damoklesschwert dieser Massenvernichtungswaffen von der Menschheit genommen wird. ({12}) Ich würdige in diesem Zusammenhang erneut, daß Präsident Bush die amerikanischen Chemiewaffen aus unserem Land einseitig und vorzeitig abgezogen hat. Mit dem Vertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa wird die sicherheitspolitische Lage Europas grundlegend verbessert. Diese positive Wirkung wird durch die neuen vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen weiter verstärkt, die parallel dazu in Wien ausgehandelt wurden und die die Staats- und Regierungschefs nunmehr in Paris zustimmend zur Kenntnis genommen haben. Ich hebe besonders die sicherheitspolitische Bedeutung des neuen Mechanismus für die Aufklärung ungewöhnlicher militärischer Aktivitäten hervor; ebenso den umfassenden Informationsaustausch, der erstmals auch Militärhaushalte und die Planungen für Großgerät einbezieht. Ich begrüße das neue, moderne Kommunikationssystem, das gerade im Krisenfall schnellste Abstimmung erlaubt und dadurch Fehleinschätzungen verhindert. Diese vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen durchzusetzen gehört zu den ersten Hauptaufgaben des KSZE-Konfliktverhütungszentrums, das die Staats- und Regierungschefs in Paris beschlossen haben. Damit ist ein wesentliches deutsches Verhandlungsziel erreicht. Meine Damen und Herren, ich komme damit zum wichtigsten Abschluß des Pariser Gipfels, dem Dokument unter dem Titel „Pariser Charta für ein neues Europa". Diese Charta verdient eine ausführlichere Würdigung, als dies im Rahmen einer Regierungserklärung möglich ist. Lassen Sie mich jedoch zwei wesentliche Aspekte hervorheben. Erstens: Das Pariser Gipfeldokument ist eine Magna Charta der Freiheit. ({13}) Es bekennt sich zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, zu Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit sowie zu gleicher Sicherheit für alle Länder. Die sind Leitbilder für die gemeinsame Zukunft unseres Kontinents. Die Hoffnungen und Erwartungen so vieler Menschen und Völker, die sich über Jahrzehnte mutig für die Ideale der KSZE eingesetzt haben, werden damit endlich erfüllt. Wir erinnern uns in dieser Stunde mit großer Dankbarkeit an Andrej Sacharow, der vor knapp einen Jahr starb. ({14}) Wer an die Tage zurückdenkt, in denen er seinen Kampf aufnahm, wer an die von sofortiger Repression begleiteten Anfänge so vieler Helsinki-Gruppen zurückdenkt, der kann ermessen, welch große Wegstrecke Europa auf dem Weg zur gemeinsamen Freiheit gegangen ist. Für uns Deutsche ist die umfassende Bekräftigung der Rechte der Minderheiten von besonderer Bedeutung. Das Pariser Gipfeldokument bekennt sich zu ihrem Schutz als Gebot des Friedens, der Gerechtigkeit, der Stabilität und der Demokratie. Es gewährlei18866 stet ihnen die Entfaltung ihrer ethnischen, kulturellen, sprachlichen und religiösen Identität. Die Staats- und Regierungschefs haben zu diesem besonderen, für uns sehr wichtigen Thema ein zusätzliches KSZE-Forum einberufen. Zweitens: 15 Jahre nach der Schlußakte von Helsinki werden erstmals im Rahmen der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa gesamteuropäische Institutionen geschaffen. Sie befähigen die KSZE besser als bisher, ihre Arbeit im Dienst des Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in ganz Europa wirksam zu erfüllen. Regelmäßige Zusammenkünfte der Staats- und Regierungschefs, Treffen der Außenminister als Rat der KSZE mindestens einmal im Jahr sowie deren Vorbereitung durch hohe Beamte schaffen ein beispiellos dichtes Netz des Dialogs und der Konsultation. Ein neu geschaffenes Sekretariat in Prag wird diese Konsultation und Kommunikation unterstützen. Ich begrüße besonders, daß das erste Treffen der Außenminister im Juni 1991 in Berlin stattfinden wird. ({15}) Neben dem schon erwähnten Konfliktverhütungszentrum, das in Wien arbeiten wird, wird ein Büro für freie Wahlen in Warschau eingerichtet, um im Zusammenhang mit Wahlen in den Teilnehmerstaaten Kontakte und Informationsaustausch zu erleichtern. Besonders begrüße ich, daß künftig die Parlamente im KSZE-Prozeß stärker mitsprechen werden. Die Schaffung einer parlamentarischen Versammlung der KSZE steht auf der Tagesordnung des ersten KSZE-Außenministerrates im Sommer in Berlin. Meine Damen und Herren, schließlich haben die Europäische Gemeinschaft und ihre Mitgliedstaaten einerseits und die Vereinigten Staaten von Amerika bzw. Kanada andererseits in gemeinsamen transatlantischen Erklärungen ihre künftigen Beziehungen verabredet. Zusätzlich zum Nordatlantischen Bündnis und zusätzlich zur KSZE-Rolle der USA und Kanadas bedeuten die transatlantischen Erklärungen eine weitere starke Bindung zwischen Europa und den nordamerikanischen Demokratien. Deren Verantwortung in und für Europa wird erneut festgeschrieben. Die transatlantische Solidarität wird bekräftigt. ({16}) Angesichts des dynamischen Fortschritts bei der Einigung Europas werden die Gemeinschaft und ihre Organe nun selbst Partner der USA und Kanadas. Verabredet sind regelmäßige Konsultationen auf höchster Ebene und engste Abstimmungen in allen Fragen der gemeinschaftlichen Zuständigkeit. Herr Präsident, meine Damen und Herren, am Rande des Pariser KSZE-Gipfels bin ich wiederholt mit Präsident Gorbatschow zusammengetroffen. Wir haben unsere Gespräche von Bonn und Ludwigshafen fortgesetzt, und wiederum standen die Wirtschaftsreformen in der Sowjetunion und Möglichkeiten, ihre Durchsetzung von außen abzustützen, im Mittelpunkt der Gespräche. Wir haben vereinbart, daß in der kommenden Woche eine hochrangige deutsche Expertengruppe nach Moskau reist. Sie wird dort mit Präsident Gorbatschow selbst und mit seinem Beauftragten, dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten Sitarjan, zusammentreffen. Es geht dabei um die Unterstützung der Reformen im Bereich von drei Schwerpunkten: Erstens sollen Wege erörtert werden, die beiderseitige Zusammenarbeit so wirksam wie möglich zu gestalten. Zweitens soll im Hinblick auf den Europäischen Rat in Rom im Dezember die multilaterale Zusammenarbeit vorbesprochen werden. Drittens wollen wir uns bemühen, die Weichen für humanitäre Hilfsaktionen so zu stellen, daß das, was hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gespendet wird, auch tatsächlich den Menschen in der Sowjetunion zugute kommt. ({17}) Um es klar auszudrücken: Es geht nicht darum, die Hilfsorganisationen von Staats wegen zu bevormunden. Vielmehr geht es darum, zu erreichen - das ist ein wichtiges Anliegen vieler Mitbürgerinnen und Mitbürger aus der Bundesrepublik - , daß die Menschen eine gewisse Garantie bekommen, daß ihre Hilfe auch tatsächlich den Empfänger erreicht. In diesem Sinne hat Präsident Gorbatschow vorgeschlagen, daß wir beide auch die Schirmherrschaft über diese Aktion übernehmen. ({18}) Meine Damen und Herren, in Paris ist bei allen Fortschritten im KSZE-Rahmen deutlich geworden, daß unser Kontinent die Europäische Gemeinschaft als einen politischen und wirtschaftlichen Stabilitätsanker braucht; ich füge hinzu, aus deutscher Sicht mehr denn je. Die EG muß Europa in dieser entscheidenden Phase der geschichtlichen Entwicklung den notwendigen Halt geben. Wir wollen daher die Europäische Gemeinschaft in den kommenden Jahren im Innern weiter festigen und ihre Handlungsfähigkeit sicherstellen. Nur so kann sie auch in Zukunft als treibende Kraft im gesamteuropäischen Prozeß und darüber hinaus wirken. Daher wollen wir sie entsprechend der Vision ihrer Gründungsväter zur Europäischen Union ausbauen und damit den Grundstein zu den Vereinigten Staaten von Europa legen. ({19}) Diesem Ziel gelten die beiden Regierungskonferenzen, die wir in drei Wochen in Rom eröffnen. Sie sollen die Grundlagen für die Wirtschafts- und Währungsunion festlegen und die Politische Union voranbringen. Nur wenn es uns gelingt, diese Reformvorhaben zum Erfolg zu führen, wird die Europäische Gemeinschaft die Herausforderungen, die sich ihr von innen und von außen stellen, bestehen können. Nur so wird sie in der Lage sein, ihrer politischen und wirtschaftlichen Verantwortung für ganz Europa und gegenüber ihren Partnern in der Welt gerecht zu werden. Für uns Deutsche kommt es bei diesen Konferenzen im wesentlichen auf folgendes an: Erstens wollen wir rechtzeitig vor der nächsten Europawahl im Sommer 1994 die Rechte und die Kompetenzen des Europäischen Parlaments nachhaltig stärken. ({20}) Es entspricht unserem demokratischen Selbstverständnis, weitere Hoheitsrechte der nationalen Parlamente und Regierungen in dem Maße auf europäische Institutionen zu übertragen, in dem gleichzeitig eine klare parlamentarische Kontrolle auf europäischer Ebene gewährleistet ist. Es ist ganz unstreitig, meine Damen und Herren, daß wir bisher eine Reihe von Kompetenzen der nationalen Parlamente und Regierungen auf die Gemeinschaft übertragen haben, ohne daß in diesem Bereich eine wirkliche parlamentarische Kontrolle existiert - ein an sich unmöglicher Zustand, den wir ändern müssen. ({21}) Wir brauchen ein starkes Europäisches Parlament. Seine Befugnisse werden sich im Laufe der kommenden Jahre mehr und mehr denen der nationalen Parlamente annähern. So sollte das Parlament z. B. zukünftig bei der Wahl des Präsidenten und der Mitglieder der Kommission beteiligt werden. Vor allem aber müssen wir den Weg zu einer echten Mitentscheidung des Parlaments bei der Gesetzgebung ebnen. Zweitens muß es darum gehen, die Effizienz der Gemeinschaftsorgane nachdrücklich zu verbessern. Hierzu gehört sicherlich die Straffung der Arbeitsweise und der Entscheidungsprozesse von Kommission, Rat und Europäischem Parlament. Eines der Schlüsselthemen, das große Schwierigkeiten aufwerfen wird, wird die Vermehrung der Fälle sein, in denen der Rat mit qualifizierter Mehrheit abstimmt. Zugleich muß an entsprechend klare Quoten im Parlament gedacht werden. Aber auch Stellung und Aufgaben des Europäischen Rates sollten insbesondere auf der Grundlage der feierlichen Deklaration von Stuttgart aus dem Jahre 1983 in den Verträgen verankert und fortentwickelt werden. Drittens geht es um die Schaffung einer echten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zu der auch die Entwicklungspolitik gehören muß. Für uns gilt unverändert, daß das europäische Einigungswerk ohne die volle Einbeziehung der Sicherheitspolitik und langfristig auch der Verteidigung unvollständig bleibt. Gerade die Ereignisse dieses Jahres haben uns vor Augen geführt, wie notwendig es ist, daß die Europäer über ein wirkungsvolles Instrumentarium verfügen, um ihre gemeinsamen Interessen in der Welt noch deutlicher zur Geltung zu bringen. Viertens wollen wir die europäische Wirtschafts- und Währungsunion verwirklichen. Auf der Grundlage des Berichts des Delors-Ausschusses, den wir im Sommer 1988 in Hannover unter meinem Vorsitz eingesetzt hatten, hat der Europäische Rat Ende Oktober dieses Jahres in Rom der Regierungskonferenz klare Orientierungen vorgegeben. Meine Damen und Herren, es ist erfreulich, daß sich die Notenbankgouverneure der Zwölf bereits jetzt unter der Leitung von Bundesbankpräsident Pöhl auf einen gemeinsamen Entwurf für ein Statut der künftigen europäischen Zentralbank verständigt haben. Wer die Diskussion der letzten Jahre aufmerksam verfolgt hat, muß feststellen, daß es heute über die von uns immer wieder vorgebrachten Eckpunkte keinen wirklichen Dissens mehr gibt. ({22}) Für diese wichtige Überzeugungsarbeit schulden wir auch der Deutschen Bundesbank und ihrem Präsidenten Dank. ({23}) Meine Damen und Herren, Kern und Ziel muß ein unabhängiges europäisches Zentralbanksystem sein, das ebenso wie die Deutsche Bundesbank vorrangig der Sicherung der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Um dies zu erreichen, brauchen wir bereits bis zum Eintritt in die zweite Stufe am 1. Januar 1994 nachhaltige Fortschritte in der wirtschaftlichen Konvergenz aller Beteiligten. Fünftens gilt für uns bei alledem, daß wir keinesfalls mehr Zentralismus in Europa wollen, ({24}) sondern ein Europa der Bürger, das die Eigenarten und Traditionen der Länder und Regionen achtet und erhält. ({25}) Hierzu gehört nach unserer Überzeugung die Verankerung eines vernünftigen Gleichgewichts zwischen den Befugnissen der Gemeinschaft und denen ihrer Mitglieder. Föderalismus, Subsidiarität und die Einbeziehung der Interessen der Regionen sind für uns wesentliche Ordnungsprinzipien unserer europäischen Zukunft. Für uns Deutsche ist - ich will dies besonders betonen - die Parallelität der beiden Regierungskonferenzen von einer grundlegenden Bedeutung. Unser Kernziel ist und bleibt die politische Union Europas. So wichtig die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion ist, sie bliebe aus meiner Sicht nur Stückwerk, wenn wir nicht gleichzeitig die politische Union verwirklichten; beide Ziele gehören unauflöslich zusammen. ({26}) Meine Damen und Herren, wir werden uns in Rom erneut einem Thema zuzuwenden haben, das Anlaß zu großer Sorge gibt: Es geht um den Kampf gegen Drogen, gegen die international organisierte Kriminalität, insbesondere gegen die Mafia, sowie gegen den nationalen und internationalen Terrorismus. Wir haben hierzu auf der europäischen Ebene in den letzten Jahren Maßnahmen eingeleitet, die nach meiner Überzeugung angesichts der Dimension der Gefährdung jedoch nicht ausreichen. ({27}) Ich halte es für das Gebot der Stunde, die Zusammenarbeit auch auf der europäischen Ebene sehr rasch und spürbar zu verbessern. Ich bin der Überzeugung, daß wir dringend eine europäische Zentrale zur Verbrechensbekämpfung brauchen; sonst laufen wir Gefahr, daß die Dinge außer Kontrolle geraten. Wir wollen weiterhin den Abbau und den Wegfall der Grenzkontrollen. Dies erfordert aber zwingend engste Abstimmung sowie ein gemeinsames Vorgehen in Kernbereichen polizeilichen und justizpolitischen Handelns. Wir werden daher im Rahmen der Regierungskonferenz zur Politischen Union nachdrücklich dafür eintreten, daß diese Fragen in die Gemeinschaftsverträge einbezogen werden. Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt, daß wir in den kommenen Jahren auf diese Weise nicht nur für ein handlungsfähiges Europa sorgen, sondern zugleich auch der Vision der europäischen Einheit einen wesentlichen Schritt näherkommen werden. Wir wollen einen entscheidenden Beitrag für ein neues kraftvolles Europa leisten, für unsere gemeinsame europäische Zukunft in Frieden, in Freiheit, in Wohlstand und in Sicherheit. Wir wollen unseren Beitrag zu dem Ziel leisten, das in der Präambel unseres Grundgesetzes mit gleichem Rang verankert ist wie die Wiederherstellung unserer Einheit: das vereinte Europa. Das in Freiheit vereinte Deutschland ist sich seiner Verantwortung für ein in Freiheit vereintes Europa bewußt. Wir werden auch in Zukunft unsere Politik danach ausrichten. ({28}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Begegnung von 34 Staats- und Regierungschefs gab Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen auch am Rande der Konferenz. Dabei standen verständlicherweise vor allem der Golfkonflikt und - damit verbunden - das Problem der im Irak und in Kuwait festgehaltenen Ausländer im Vordergrund. Wir freuen uns mit den deutschen Geiseln und ihren Angehörigen über die Ankündigung, daß alle festgehaltenen Deutschen jetzt endlich ausreisen dürfen. Wir haben von Anfang an auf dieses Ziel hingearbeitet. ({29}) Unsere gemeinsamen Anstrengungen - ich denke, das darf ich für alle hier im Hause sagen - waren aber immer darauf gerichtet, die Freilassung aller Geiseln aus allen Nationen zu erreichen. ({30}) Wir werden auch in Zukunft alles tun - soweit dies in unseren Möglichkeiten liegt - , um dieses Ziel zu erreichen. Wir hoffen, daß bis zum Weihnachtsfest, dem Fest des Friedens für alle Christen, alle Geiseln ausreisen dürfen. Meine Damen und Herren, dies wäre ein wichtiges Signal, das die Chancen für eine friedliche Lösung entscheidend verbessern könnte. Wer im Golfkonflikt eine friedliche Lösung will, wer eine militärische Auseinandersetzung ausschließen will, der muß wissen, daß die Lösung der Geiselfrage höchste Priorität hat. Die irakische Führung sollte wissen, daß ein weiteres Festhalten von Ausländern in Kuwait und im Irak den Konflikt erheblich verschärft, daß dies ein Spiel mit dem Feuer ist. Alle meine Gesprächspartner in den vergangenen Tagen haben die internationale Solidarität beschworen. Das gilt für Präsident Bush, für Präsident Mitterrand, für Premierministerin Thatcher genauso wie für Präsident Gorbatschow und andere. Wir sind uns einig, daß diese völlige Übereinstimmung von höchstem Gewicht und von größter Bedeutung für die Zukunft ist. Wer diese Solidarität gefährdet oder aufkündigt, erschwert eine friedliche Lösung des Konflikts und die Durchsetzung der allgemein gültigen Normen des Völkerrechts in der Golfregion. ({31}) Meine Damen und Herren, diese überzeugende solidarische Haltung schließt den klaren Wunsch aller ein, eine friedliche Lösung anzustreben. Keiner von uns will Krieg. Aber wir alle wollen die Durchsetzung der Resolutionen des UN-Sicherheitsrates, das heißt vor allem den bedingungslosen Abzug aller irakischen Truppen aus Kuwait, die Wiederherstellung der vollen Souveränität des Landes und selbstverständlich - ich wiederhole es noch einmal - die Freilassung aller festgehaltenen Ausländer. Alle sind sich einig, daß nur im Rahmen der Verantwortung der Vereinten Nationen gehandelt werden soll. Sie bleiben das Dach für alle Aktionen, und niemand soll sich im Blick auf die Entschlossenheit der Mitglieder des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen täuschen, den Beschlüssen Geltung zu verschaffen und sie durchzusetzen. Wir alle waren uns aber auch darin einig, daß die Zeit reif ist, daß über den Golfkonflikt hinaus auch die Probleme der anderen Krisenherde dieser Region auf dem Verhandlungswege gelöst werden müssen. Es wird im Mittleren und Nahen Osten keinen dauerhaften Frieden und keine Sicherheit geben, wenn nicht endlich der arabisch-israelische und der Libanon-Konflikt auf dem Verhandlungsweg beigelegt werden. ({32}) Das Ziel, so denke ich, könnten regionale Sicherheitsstrukturen sein, die wie in Europa auf Abrüstung und Rüstungskontrolle und insbesondere auf den allseitigen Verzicht auf ABC-Massenvernichtungsmittel sowie auf Zusammenarbeit gründen. Meine Damen und Herren, der KSZE-Gipfel in Paris war eine eindrucksvolle Demonstration des Friedenswillens aller. Aber wir wissen, daß Frieden und Sicherheit in Europa nicht für sich allein stehen können. Wir müssen gemeinsam Mitverantwortung dafür übernehmen, daß der Frieden auch in anderen Regionen der Erde möglich wird. Wir, die Bundesregierung, sind zu dieser Mitverantwortung bereit. ({33})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das gestern abgeschlossene Gipfeltreffen der KSZE-Staaten von Paris ist aus der Sicht der SPD ein außenpolitisch notwendiger, sicherheitspolitisch sinnvoller und europapolitisch hoffnungsvoller Schritt auf dem Weg zu einer europäischen Friedensordnung. ({0}) Neues im Konsens von 34 Staaten durchzusetzen wird nie einfach sein. Daß es bei dieser Konferenz in beachtlichem Maße gelungen ist, ist zunächst Ausdruck dessen, daß sich die KSZE-Staaten in den letzten Jahren entscheidend nähergekommen sind. Es ist aber auch Ausdruck des Einsatzes der Verhandlungsdelegationen in den verschiedenen Bereichen, und ich spreche sicher nicht nur im Namen meiner Fraktion, wenn ich den Mitarbeitern des Auswärtigen Amtes, des Verteidigungsministeriums und allen anderen an dem Verhandlungserfolg beteiligten Ressorts meinen herzlichen Dank und Glückwunsch ausspreche. ({1}) Die Ergebnisse von Paris sind ein Erfolg der KSZE-Staaten, aber auch ein Erfolg deutscher Außenpolitik. Ich erinnere daran, daß sich Paris nahtlos in die Architektur der sozialdemokratischen Friedens-, Sicherheits- und Menschenrechtspolitik einfügt, die mit der Person von Willy Brandt verbunden ist. ({2}) Es war Willy Brandt, der die Entspannung in Europa eingeleitet hat, deren Früchte Sie und wir heute ernten. Die Kollegen aus den Unionsparteien erinnern sich vielleicht noch daran, daß es nicht ganz leicht war, Helsinki und die KSZE gegen ihre starre KalteKriegs-Mentalität durchzudrücken. ({3}) Ohne Helsinki gäbe es heute keine deutsche Einheit. Herr Bundeskanzler, ich möchte Ihnen dazu gratulieren, daß Sie sich überwunden haben, heute zuzugeben, daß sich die Union damals geirrt hat, ({4}) und daß Sie Willy Brandt gratuliert haben, daß er trotz Ihres starren Widerstandes die Entspannungspolitik fortgeführt hat. Das ehrt Sie, Herr Bundeskanzler. Ich darf Ihnen sagen, wir Sozialdemokraten sind immer froh, wenn Sie und andere Mitglieder der Unionsparteien sozialdemokratisches Gedankengut übernehmen. Wir haben nur noch eine kleine Bitte: es sollte nicht immer fünfzehn Jahre dauern, Herr Bundeskanzler. ({5}) In diesem Zusammenhang möchte ich auch Egon Bahr nennen, der heute seine Abschiedsrede in diesem Hohen Hause halten wird. ({6}) Unser Freund Egon Bahr trug hohe Verantwortung bei der Konzipierung und Ausführung einer zukunftsweisenden Ost- und Entspannungspolitik. Wir alle haben ihm für sein Wirken in der Bundesregierung und als Abgeordneter zu danken. ({7}) Der KSZE-Prozeß war von Beginn an mit dem Bemühen um konventionelle Abrüstung verbunden. Der Grundsatz, daß Kooperation in Europa ohne den Abbau von Konfrontation nicht möglich ist, hat heute nichts an Gültigkeit verloren. Wir begrüßen daher nachdrücklich, daß mit dem am 19. November unterzeichneten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa der Einstieg in die konventionelle Abrüstung gelungen ist. Der konventionelle Rüstungswettlauf, der uns nicht nur höhere Kosten, sondern auch höhere Risiken aufgebürdet hatte, wird nun durch einen politisch kontrollierten Abrüstungsprozeß ersetzt. Die Bundeswehr wird - das stand schon vorher fest - auf 370 000 Mann begrenzt. Für uns, Herr Bundeskanzler und Herr Bundesverteidigungsminister, steht außer Frage, daß diese Reduzierung der Mannschaftsstärke auch von einer deutlichen Verringerung der Rüstungsausgaben begleitet werden muß. ({8}) Unser Ziel ist es, den Verteidigungshaushalt in der kommenden Legislaturperiode um die Hälfte zu reduzieren. ({9}) Dabei spreche ich von den reinen Militärausgaben. Wir sind uns bewußt, daß die Abrüstung auch mit vielen strukturpolitischen und sozialen Problemen verbunden ist, für deren Lösung in der Übergangsphase auch Gelder eingesetzt werden müssen, die im Verteidigungshaushalt frei werden. ({10})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, darf ich Sie bitten, Platz zu nehmen.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundeskanzler und vor allem Herr Bundesaußenminister, das Festhalten der Regierungskoalition am Jäger 90 - um nur dieses Beispiel noch einmal zu nennen - ist sicherheitspolitisch ebenso sinn- wie finanzpolitisch verantwortungslos. ({0}) Herr Bundeskanzler, diese Waffe ist die technische Vergegenständlichung alten Denkens, ein Restbestand einer verstaubten Gleichgewichtsutopie, die von zwei Bündnissen ausgeht, die alles versuchen, um Dr. Ehmke ({1}) sich gegenseitig die Hälse umzudrehen. Schmeißen Sie endlich auch diese Antiquität Ihrer sogenannten Politik der Stärke über Bord! ({2}) Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, noch eins: Sie sollten nach den Vorgängen im Golf, von denen Sie gerade gesprochen haben, nun endlich Ernst machen mit einer restriktiven Politik des Waffenexports. ({3}) Die lasche Haltung Ihrer Regierung hat bereits viel Unheil im Nahen Osten angerichtet. ({4}) Da das so ist und da deutsche Gas-Produktionsstätten in Rabta wie auch im Irak gebaut werden konnten - meine Herren, ich weiß nicht, was es darüber zu lachen gibt; das ist einer der traurigsten Tatbestände der deutschen Politik Ihrer Regierungszeit -, ({5}) sollten wir die durch Willy Brandts Aktion eingeleitete Freigabe aller deutscher Geiseln, die wir mit Freude für sie und ihre Familienangehörigen begrüßen, zum Anlaß nehmen, uns in der Beschränkung des Waffenexports doppelt verpflichtet zu fühlen. ({6}) - Wenn Gasproduktion im Nahen Osten, Kollege Vogel, für Sie der billige Jakob ist, dann ist es höchste Zeit, daß Sie ({7}) Leuten Platz machen, die das anders sehen, die das richtig sehen. ({8}) Sie wissen doch genau, daß es dieses Versagen der Bundesregierung ist, das Sie in der Geisel-Frage so schweigsam gemacht hat, weil die Amerikaner Sie mit den Versäumnissen auf diesem Gebiet jeden Tag vorführen können. ({9}) Aber zurück zu Paris: Die Fortsetzung der Wiener Verhandlungen und die Aussicht auf ein weiteres Abrüstungsabkommen im Jahre 1992 stimmen hoffnungsfroh. Ich bin aber der Auffassung, daß wir den europäischen Abrüstungsprozeß bereits jetzt langfristiger anlegen, stärker ausweiten und neu strukturieren sollten. Insbesondere gilt es, die vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen auszuweiten. Die militärischen Potentiale in Europa müssen nicht nur verringert werden, sondern sie müssen auch in der Struktur so verändert werden, daß sie zum Angriff nicht mehr tauglich sind. Der sozialdemokratische Leitgedanke der Angriffsunfähigkeit muß jetzt verwirklicht werden. ({10}) Das im Rahmen des Pariser VKSE-Abkommens einzurichtende Verifikationsregime ist zu begrüßen. Noch besser wäre allerdings eine gemeinsame - d. h. eine supranationale - Verifikations- und Kontrollagentur. Sie wäre ein wichtiger Beitrag zu kooperativer Sicherheit in Europa. Gemeinsame Anstrengungen sind auch im Bereich der Konversion gefordert. Wir stecken bei der Konversionsforschung und auch hinsichtlich der Verfahren zur Vernichtung von Waffen und militärischem Gerät noch ganz in den Anfängen. Aber es wäre doch widersinnig, gerade dieses Gebiet von der internationalen Arbeitsteilung auszunehmen. ({11}) Nachdem wir von unseren ost- und mitteleuropäischen Nachbarn, vor allem von der Sowjetunion Zustimmung zu weitgehenden Abrüstungsmaßnahmen erreicht haben, liegt es in unserem eigenen Interesse, diesen Ländern bei der Umstellung ihrer Industrien und bei der Vernichtung von Waffen und militärischem Gerät zu helfen. Wir sollten auch das neue Denken im sowjetischen Militär politisch nutzen und eine institutionalisierte Kooperation militärischer Stäbe aufbauen. Wir müssen unsere Vorstellungen von gemeinsamer Sicherheit bzw. Sicherheitspartnerschaft in eine auf Dauer angelegte und supranational verankerte Abrüstungsgemeinschaft umsetzen. Die Vereinbarungen zur Intensivierung und Institutionalisierung des KSZE-Prozesses - der Bundeskanzler hat sie aufgezählt - sind zu begrüßen. Dabei geht es nicht nur um eine Verstetigung des Verhandlungsprozesses, sondern es geht auch um den ersten Schritt auf dem Wege zum Aufbau integrativer Sicherheitsstrukturen in Europa. Uns Europäern ist nach zwei Weltkriegen klargeworden, daß ein bloßes Neben- und selbst ein Miteinander von Nationalstaaten noch keine feste Friedensordnung schafft. Die Länder im Nahen und Mittleren Osten machen heute in der Golfkrise die gleiche Erfahrung noch einmal. Wir freuen uns, Herr Bundeskanzler, Sie auch hinsichtlich der Frage von Krieg und Frieden im Nahen Osten heute auf den Spuren Willy Brandts gefunden zu haben. ({12}) Wer eine dauerhafte Friedensordnung in Europa will, muß zweigleisig vorgehen: Nicht nur müssen die Militärpotentiale abgebaut und damit die Fähigkeit zur Kriegsführung verringert werden, sondern es müssen auch supranationale, friedenschaffende Strukturen aufgebaut werden. Der westeuropäische Dr. Ehmke ({13}) Integrationsprozeß hat gezeigt, daß das möglich ist. So wie heute auf Grund dieses Prozesses ein Krieg zwischen Frankreich und Deutschland undenkbar ist, so muß morgen jeder militärische Konflikt in Europa vom Antlantik bis zum Ural undenkbar werden. ({14}) Dabei erfordert die Errichtung eines europäischen Sicherheitssystems nicht nur die endgültige Überwindung der Blockkonfrontation, sondern auch die Erarbeitung und Umsetzung einer gemeinsamen Friedens- und Sicherheitsordnung. Das erfordert den Verzicht auf nationale Souveränität, so wie ihn das Grundgesetz heute bereits erlaubt. ({15}) Die neue Ordnung muß über kompetente, demokratisch legitimierte und durchsetzungsfähige Institutionen verfügen. Die Ergebnisse von Paris spiegeln die Veränderung der Grundkonstellation europäischer Politik aber nur sehr unvollkommen wider. Das Pariser Gipfeltreffen hat im Bereich der konventionellen Abrüstung beachtliche Ergebnisse gebracht. Was die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses angeht, so kann bestenfalls von bescheidenen Ansätzen gesprochen werden. Nun muß man sehen: Die Ausgangslage war unterschiedlich. Während die konventionelle Abrüstung an langjährige Erfahrung aus den MBFR-Verhandlungen anknüpfen konnte und von den noch bestehenden Militärallianzen organisiert wurde, müssen für die neuen Aufgaben der KSZE-Staaten, gemeinsame Sicherheit zu organisieren, neue kooperative Strukturen geschaffen werden. Dies geht sicher nicht von heute auf morgen. Lassen Sie mich aber bitte daran erinnern, daß die NATO im Jahre 1986 ihr Bekenntnis zu konventioneller Abrüstung mit der Forderung nach kühnen neuen Schritten verbunden hat. Ein wenig von dieser Kühnheit hätte man sich auch in Paris für die nun eingeleitete Institutionalisierung des KSZE-Prozesses gewünscht. Statt dessen regiert im Augenblick leider eher Kleingläubigkeit. ({16}) Ich denke da, Herr Bundeskanzler, z. B. an das sehr mager ausgestattete KSZE-Sekretariat. Ich denke aber insbesondere an das neu eingerichtete Konfliktverhütungszentrum, das der auf dem NATO-Gipfel in London erhobenen Forderung, es solle auch zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen KSZE-Mitgliedstaaten dienen, in der jetzigen Form nicht genügen kann. Hier fehlt eindeutig ein politisches Mandat, das diese KSZE-Institution in die Lage versetzen würde, den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa gerecht zu werden. Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kalte Krieg ist zwar vorbei, der Ost-West-Konflikt existiert nicht mehr; dem steht aber der Ausbruch nationaler Spannungen im Osten und Südosten Europas gegenüber - Spannungen, die von der kommunistischen Zwangsherrschaft zwar Jahrzehnte lang unterdrückt, aber nicht gelöst worden sind. Die KSZE-Staaten müssen daher gemeinsam dafür sorgen, daß solche Spannungen entschärft und, wenn es geht, abgebaut werden und daß auf keinen Fall die Sicherheit Europas Opfer solcher neuen nationalen Konflikte wird. ({17}) Ein Konfliktverhütungszentrum, das wie das in Paris geschaffene nur buchhalterische Aufgaben hat, wird dieser Aufgabe nicht gerecht. Den in Paris verhandelnden Staaten ist es nur ansatzweise gelungen, die Grundlagen einer Friedenspolitik der 90er Jahre festzulegen. Zu definieren ist beispielsweise auch noch, Herr Bundeskanzler, die künftige Gestaltung transatlantischer Beziehungen. Die Stärkung und Ausweitung der europäischen Zusammenarbeit und des Dialogs mit den Vereinigten Staaten und mit Kanada kommen beiden Seiten zugute. Aber was immer verabschiedet worden ist, Herr Bundeskanzler, wir bedauern, daß die vorbereitete transatlantische Erklärung leider nicht die Zustimmung der Konferenz gefunden hat. In Europa selbst wird angesichts zunehmend offener Grenzen die alte Unterscheidung zwischen Außen- und Innenpolitik immer prekärer. Der Sieg der demokratischen Idee - gerade dieses positive Ereignis - , hat zur Folge, daß die Wohlstandsdifferenzen zwischen den verschiedenen Staaten wie ein Magnet auf die Wanderungsströme wirken. Eine nationale Abschottung ist auf die Dauer keine Lösungsmöglichkeit. Wir werden hoffentlich nach dem Wahlkampf sehr schnell auf die Vorschläge und die Anregungen von Oskar Lafontaine zurückkommen. Wir werden dasselbe wie bei den Aus- und Übersiedlern erleben: Erst schreien Sie „Das ist nicht gut! ", und hinterher schreiben Sie es ab. So wird es auch in diesem Fall gehen. ({18}) Der konsequente Ausbau der KSZE-Bereiche wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte ist daher neben der Lösung der Abrüstungsfrage dringend geboten. Wirtschaftliche Hilfe bei der Umstrukturierung und beim Aufbau der Volkswirtschaften in Osteuropa und der Sowjetunion ist nicht nur ein Gebot demokratischer Solidarität und spezifisch deutscher historischer Verantwortung; das alles liegt auch in unserem eigenen Interesse. Wir dürfen es nicht zulassen, daß nach Überwindung des alten Ost-West-Gegensatzes nun ein neuer Konflikt zwischen verarmten östlichen und reichen westlichen Ländern entsteht. ({19}) Wir dürfen auch nicht zulassen, daß die mühsam erreichte Demokratisierung in Osteuropa deshalb scheitert - übrigens mit Rückwirkung auf den Prozeß der deutschen Einheit; machen Sie sich da bitte nichts vor -, weil die neuen demokratischen Regierungen Dr. Ehmke ({20}) nicht rasch genug die sozio-ökonomischen Krisen meistern können. ({21}) Was wir jetzt benötigen, ist schnelle sofortige Hilfe, verbunden mit der gemeinsamen Ausarbeitung eines Konzepts für die Heranführung der neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa an die Europäische Gemeinschaft. Herr Bundeskanzler, Sie haben über Ihre Absprache mit Präsident Gorbatschow in bezug auf eine Soforthilfe berichtet. Alles, was dort nur irgend möglich ist, Herr Bundeskanzler, wird die Unterstützung der deutschen Sozialdemokraten haben; ({22}) denn wir sind der Meinung: In dem bevorstehenden Winter wird sich für die Völker der Sowjetunion und Osteuropas zeigen, was unsere Worte eigentlich wert sind. ({23}) Ich halte es im übrigen nicht nur für sinnvoll, die politische, wirtschaftliche und menschliche Dimension auszubauen; der KSZE-Prozeß muß gleichzeitig auch alle Aspekte des Umweltschutzes umfassen. Friedenspolitik heißt heute auch, die grenzüberschreitenden Umweltrisiken zu mildern. Die ökologischen Probleme Osteuropas einschließlich der Sowjetunion sind bekannt. Wir erleben sie ja hautnah in den neuen Bundesländern. Wir wissen: Die osteuropäischen Volkswirtschaften werden nur sehr langsam in der Lage sein, mit diesen Problemen fertig zu werden, schon aus finanziellen Gründen. Weil wir davon unmittelbar und mittelbar betroffen sind und nicht noch weitere Jahre zuwarten dürfen, müssen wir jetzt gemeinsame Lösungen suchen. Ich halte es für erforderlich, schon auf der nächsten Konferenz 1992 einen KSZE-Umweltministerrat einzurichten mit einem ständigen Sekretariat, einer Umweltschutzagentur, einer gesicherten europaweiten Datenerhebung, einem Technologietransfer-Zentrum und insbesondere einer europäischen supranationalen Aufsichtsbehörde auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit. ({24}) Wenn ich hier einen langen sozialdemokratischen Wunschkatalog vortrage, der bei weitem noch nicht vollständig ist, ist mir durchaus klar, daß im Rahmen der KSZE viele Interessen berücksichtigt werden müssen und daß man immer nur schrittweise vorwärtskommt. Aber, Herr Bundeskanzler: Wo sich deutsche und europäische Interessen treffen, muß meines Erachtens die Bundesregierung entschlossener die Initiative ergreifen. Aus Konzeptionslosigkeit resultierende Gestaltungsschwäche würde von uns allen teuer bezahlt werden. So ist es, um ein Beispiel zu nennen, außerordentlich bedauerlich, daß Paris uns den von der NATO schon seit Monaten in Aussicht gestellten Verhandlungen über nukleare Kurzstreckenwaffen nicht nähergebracht hat. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich für die unverzügliche Aufnahme dieser Verhandlungen einzusetzen. Verhandlungsziel muß dabei die dritte Null-Lösung sein, und zwar sowohl bei den land- als auch bei den luftgestützten Nuklearsystemen. Das ist nicht nur eine Ergänzung der konventionellen Abrüstung in Europa, es ist auch ein wichtiger Baustein für eine gesamteuropäische Friedensordnung. Die NATO-Staaten haben soeben in Paris feierlich erklärt, daß die Staaten des Warschauer Pakts nicht mehr unsere Gegner sind. Die NATO hat den Schluß gezogen, daß sie ihre Nuklearstrategie grundsätzlich ändern muß. Demnach sollen Nuklearwaffen künftig nur mehr allerletztes Zufluchtmittel sein. Das ist nur ein Stück Umdenken. Aber schon dieses Stück Umdenken, Herr Bundeskanzler, macht es erforderlich, in ganz Europa auf nukleare Kurzstreckenwaffen zu verzichten. Wenn Sie diesen sicherheitspolitischen Aspekt nicht einsehen, werden Sie sicher Einsehen haben, wenn ich Ihnen sage: Die Völker Europas, auch das deutsche Volk, sind nicht bereit, eine andere Lösung als den vollständigen Abzug taktischer Nuklearwaffen aus Europa hinzunehmen. ({25}) Ich sprach davon, daß die Geschichte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa sich nahtlos in die Architektur sozialdemokratischer Ostpolitik einfügt. Im Verlauf dieser Geschichte hat sich der Helsinki-Prozeß gewandelt. Auch das müssen wir sehen. Ging es zunächst lange Jahre darum, auf unserem hochgerüsteten Kontinent schrittweise mehr Vertrauen zwischen Ost und West zu schaffen und gleichzeitig die Menschenrechte im kommunistischen Machtbereich langsam voranzubringen, so haben sich die Ausgangsbedingungen mit dem Wirken von Michail Gorbatschow grundlegend geändert, dem auch wir noch einmal für alles, was er in diesem Jahr und in den vorangegangenen Jahren für Deutschland und für Europa getan hat, herzlich danken. ({26}) Wir haben es heute in Osteuropa mit demokratisch legitimierten Regierungen zu tun, die sich aktiv für den Ausbau, die Intensivierung und die Institutionalisierung des KSZE-Prozesses einsetzen. Angesichts dieser neuen Voraussetzungen kann die Politik der kleinen Schritte, die zu den Veränderungen in Mittel- und Osteuropa so Grundsätzliches beigetragen hat, ausgeweitet werden. Der KSZE-Prozeß war von Anfang an in mehrfacher Hinsicht innovativ: Er war erstens ein blockübergreifender Kooperationsprozeß, in dem West- und Osteuropäer, neutrale und blockfreie Europäer, die USA, Kanada und die Sowjetunion gleichberechtigt mitgearbeitet haben. Er hat außen-, sicherheits-, wirtschafts- und gesellschaftspolitische Interessen miteinander verknüpft mit dem Ziel, Sicherheit, Zusammenarbeit und Verflechtung zu erreichen und damit Konflikte gewaltfrei zu lösen. Der KSZE-Prozeß wies von Anfang an über eine multilaterale Kooperation hinaus auf eine neue europäische Friedensordnung, eine Friedensordnung, die gleichzeitig Sicherheit, wirtschaftliches Wachstum Dr. Ehmke ({27}) und demokratische Beteiligung für alle kooperierenden Staaten in Aussicht stellt. Wenn dieser Prozeß nicht bei der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner aller beteiligten Staaten stehenbleiben soll, bedarf es neuer Formen der Kooperation, der Integration und supranationaler Strukturen. Das grundsätzliche Anliegen der KSZE, in ganz Europa für Menschenrechte und Demokratie einzutreten, ist keineswegs gegenstandslos geworden. An vielen Stellen in Osteuropa funktionieren leider die alten Seilschaften noch, oder sie erheben sich schon wieder. Gerade in den neu hinzugekommenen Ländern der Bundesrepublik wissen die Menschen davon jeden Tag ein trauriges Lied zu singen. Da steht uns eine sehr, sehr große Aufgabe weiter bevor. Dafür ist es wichtig, daß der KSZE-Prozeß nicht nur eine Sache der Regierungen und der Parlamente bleibt. Er muß, wo immer es geht, auf der Ebene der Gesellschaften ergänzt werden. Die europäische Friedensordnung muß im gesellschaftlichen Leben verwurzelt werden, wie es sich etwa das Helsinki-Citizen-Committee zum Ziel gesetzt hat. Wenn wir von demokratischer Beteiligung reden, meinen wir auch die Beteiligung von Jugendorganisationen, Sportverbänden, Kirchen, Schulen und Universitäten an dem neuen Miteinander in Europa. Unser besonderer Dank gilt in dieser Hinsicht Präsident Vaclav Havel, der diese gemeinhin etwas unterbelichteten Seiten des europäischen Einigungsprozesses immer wieder eindrucksvoll herausgestellt hat. ({28}) Europa war in seiner langen Geschichte eher eine Heimstätte des Krieges als des Friedens. Über Jahrhunderte war ein großer Teil der europäischen Intelligenz davon absorbiert, daß man immer neue Schlachtordnungen, immer neue Destruktionsmaschinen erfand. Auch gegen Ende des 20. Jahrhunderts wird uns der Friede nicht automatisch in den Schoß fallen oder erhalten bleiben. Friede muß organisiert werden. Der Friedensprozeß braucht eine Architektur. Auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Friedensordnung scheinen mir folgende Punkte von besonderem Gewicht zu sein: Wir wollen den Abrüstungsprozeß fortsetzen, beschleunigen und ausbauen. Wir wollen ein verbindliches Streitschlichtungsregime aufbauen, das Konflikte schon im Ansatz verhindern bzw. friedlich beilegen kann. Wir wollen den weiteren Ausbau wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit dem Ziel einer langfristigen Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften. Wir wollen den Auf- und Ausbau einer wirksamen Umweltschutzgemeinschaft in Europa. Wir wollen mit der Friedensordnung auch einen Beitrag leisten zur Reform der internationalen Staatengemeinschaft, zur Stärkung der UNO, zur Überwindung des Nord-Süd-Gegensatzes und zur friedlichen Regelung regionaler Konflikte. Eine europäische Innenpolitik wäre ein großer Beitrag auf dem Weg zu einer Weltinnenpolitik. Wir wollen schließlich für diese europäische Friedensordnung den Ausbau demokratischer Strukturen in und zwischen den europäischen Gesellschaften. Supranationale Einrichtungen müssen her, aber sie müssen demokratisch legitimiert und kontrolliert werden. Wir wollen den europäischen Bundesstaat, nicht nur die europäische Union, die Vereinigten Staaten von Europa verwirklichen, wirtschaftlich eng verflochten, förderativ gestaltet, politisch handlungsfähig, demokratisch und sozial ausgerichtet und aufgebaut über die freiwillige schrittweise Abgabe nationaler Souveränitätsrechte an die größere europäische Einheit. ({29}) Dieses Ziel, einen friedlichen, demokratischen und sozialen Bundesstaat in Europa einzurichten, ist nicht neu. Wir Sozialdemokraten haben dies bereits in unserem Heidelberger Programm von 1925 gefordert. Die Vorstellung von einem geeinten und friedlichen Europa gehörte auch zu den Hoffnungen nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Diese Hoffnungen zerstoben an der Engstirnigkeit der Siegermächte und dann am Wahnsinn Hitlers. Im deutschen Widerstand gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft lebte diese europäische Idee wieder auf. Mit dem 1949 gegründeten Europarat begann der Versuch ihrer Verwirklichung. Er scheiterte zunächst an der Blockbildung und an der Blockkonfrontation. Verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß die Überwindung dieser Blockkonfrontation möglich geworden ist, ist das große Hoffnungszeichen unserer Zeit. Nun dürfen wir nicht in alten, bornierten Nationalismus zurückfallen, sondern wir müssen gemeinsam sagen: Unsere Zukunft heißt Europa. ({30})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Bötsch.

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 1990 ist ein glückliches Jahr für die Deutschen. Am 3. Oktober vollzog sich die Einheit Deutschlands in Freiheit und Frieden mit Zustimmung unserer Verbündeten und europäischen Nachbarn. Am 9. November unterzeichneten Bundeskanzler Kohl und Präsident Gorbatschow den umfassenden deutsch-sowjetischen Vertrag in Bonn, und am Montag dieser Woche haben sich NATO und Warschauer Pakt mit der Unterzeichnung des Wiener Vertrages über konventionelle Abrüstung in Europa und mit ihrer gemeinsamen Erklärung die Hand zur Freundschaft gereicht. Nicht im 200. Jahr nach der Französischen Revolution, aber immerhin ein Jahr danach setzen sich Freiheit, Menschenrechte und Demokratie in ganz Europa durch. Dieses Europa am 22. November 1990 läßt sich mit dem Europa etwa vom 1. Januar 1989 nicht vergleichen. Noch vor 23 Monaten schien der Kommunismus noch nicht gescheitert, lag der Erfolg der Wiener Abrüstungsgespräche noch im dunkeln, und nicht einmal Optimisten hätten zu hoffen gewagt, daß noch im selben Jahr die Mauer in Berlin fallen wird und mit den 90er Jahren eine neue Ära eingeleitet wird, die nicht mehr von alter Gegnerschaft, sondern von Solidarität und verantwortlichem Handeln für die Erhaltung des Friedens in Europa und der Welt geprägt wird. ({0}) Für Europa bricht ein neues Morgen an. Die Charta von Paris dokumentiert den geschichtlichen Wendepunkt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte!

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Duve!

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Bötsch, Sie haben eben von verantwortlichem Handeln gesprochen. Gehört es auch zu verantwortlichem Handeln, wenn Sie die Menschen in der ehemaligen DDR als missionsbedürftig und die ehemalige DDR als Missionsland bezeichnen, die - wie Afrika - zu missionieren sei? Ist das verantwortungsvolles Handeln eines Politikers der Bundesrepublik Deutschland?

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Duve, da Ihr offener Brief an den früheren Ministerpräsidenten de Maizière in der Öffentlichkeit nicht die Bedeutung gefunden hat, die Sie ihm offenbar beigemessen haben, versuchen Sie jetzt, mit einer Zwischenfrage, vom Thema weg, hier irgend etwas abzuhandeln. ({0}) Ich werde Ihrem Brief natürlich nicht noch nachträglich zu dieser Publizität verhelfen. - So! ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren - ({2}) - Herr Präsident, ist es eigentlich so, daß das Mikrophon nach der Zwischenfrage eingeschaltet bleibt?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Nein, nein! Aber man kann es selbst wieder einschalten, und das ist manchmal nicht ganz mit der Geschäftsordnung vereinbar. ({0})

Dr. Wolfgang Bötsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000228, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es wird immer gesagt: Der Erfolg hat viele Väter. - Diesmal stimmt es jedenfalls. Am Erfolg beteiligt sind die Polen - sie hätten nicht so früh lachen sollen -, ({0}) die sich in der Gewerkschaft Solidarität zusammenfanden und einen langen, von Rückschlägen nicht freien, aber letztlich erfolgreichen Kampf gegen Privilegien, gegen Bevormundung und gegen die Diktatur der Politbüros führten. Beteiligt sind die Ungarn, die in einer mutigen Entscheidung die Ausreise unserer Landsleute aus der damaligen DDR in die Freiheit gestattet und damit - wie Bundeskanzler Kohl schon im letzten Dezember bei seinem Besuch in Ungarn festgestellt hat - den ersten Stein aus der Mauer gerissen haben, die Deutschland und Europa teilte. ({1}) Beteiligt waren die um ihre Freiheit kämpfenden Tschechen und Slowaken, die mit ihrem Präsidenten Vaclav Havel neue Zeichen für eine friedvolle Nachbarschaft in Europa und das neue Denken setzten. Zu verweisen ist auf den Mut der Leipziger, der Dresdener, der Rostocker, der Erfurter, der Berliner und vieler anderer unserer Landsleute, die mit friedlichen Demonstrationen die SED-Unterdrückung abschüttelten. Ich danke Michail Gorbatschow, der durch sein neues Denken von Glasnost und Perestroika dieser Entwicklung nicht nur freien Lauf ließ, sondern sie auch tatkräftig förderte. Auch die Politik im freien Teil Deutschlands strebte diesen Erfolg an - hier will ich im Endergebnis keine Partei ausnehmen - , die einen früher, die anderen etwas später. Deutschland, in der Mitte Europas gelegen, von allen europäischen Staaten mit den meisten Nachbarn, war von der Konfrontation zwischen den Blöcken am meisten betroffen und bedroht. Der saarländische Ministerpräsident sagte jedoch vor einer Woche an dieser Stelle, es seien nur die Früchte der langfristig angelegten SPD-Ost- und -Entspannungspolitik, die jetzt geerntet würden, und zwar von anderen geerntet würden. Der Bundeskanzler hat dazu heute in seiner Regierungserklärung einen Dank an die damals handelnden Politiker ausgesprochen, und ich schließe mich diesem Dank an. ({2}) Nur, meine Damen und Herren von der Opposition und Herr Kollege Klejdzinski - ich spreche Sie jetzt an, weil Sie dazwischengerufen haben - , Ihre Entspannungspolitik war nicht auf die Beseitigung der Spaltung Deutschlands und Europas ausgerichtet, ({3}) sondern nur darauf, die Spaltung erträglicher zu machen. Nun gut, das war auch schon etwas; das will ich überhaupt nicht bestreiten. Herr Ehmke, wenn Sie heute aber sagen, die Ziele seien zunächst anders gewesen, die Ziele hätten erst durch Gorbatschow umgestellt werden können, dann frage ich mich, warum Sie immer wieder die Offenheit der deutschen Frage zur Lebenslüge erklärt haben ({4}) und warum Ihr Parteivorsitzender noch am 3. Oktober 1989 zur Ablehnung des leichtfertigen und illusionären Wiedervereinigungsgeredes aufgefordert hat. ({5}) Ich sage zum wiederholten Male: Nicht die sogenannte Friedensbewegung, die gegen unsere Verbündeten demonstriert hat, nicht aber gegen die Verletzung der Menschenrechte durch die kommunistische Nomenklatura, hat die deutsche Einheit bewirkt, ({6}) sondern unsere Standfestigkeit in Sicherheitsfragen und in Fragen unserer gesamten Verteidigungspolitik. Das war der Erfolg. ({7}) Nicht diejenigen haben den Erfolg herbeigeführt, die durch voreilige einseitige Abrüstungsvorschläge in Richtung Sowjetunion nur zu einer Zementierung der Verhältnisse beigetragen hätten. Meine Damen und Herren! Sie müssen sich schon vorhalten lassen, daß Sie mehr auf die damaligen Machthaber und weniger auf die betroffenen Menschen gehört haben, ({8}) wie z. B. auf Alexander Solschenizyn, der in der Dankrede für den Preis, den er wegen des Verbots der sowjetischen Führung in Stockholm nicht entgegennehmen durfte, davor warnte, der grinsenden Fratze der Barbarei nur Nachgiebigkeit und Lächeln entgegenzusetzen. Sie wollten auch die Weisheit und Weitsicht des Harmel-Berichtes nicht erkennen, der 1967 formulierte: ({9}) Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist jedoch nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannung in Europa bildet. Ihr Kanzlerkandidat wollte diese Tatsache nicht einmal im Spätfrühjahr dieses Jahres akzeptieren, als er die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag aufforderte, den Vertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, den ersten und unumkehrbaren Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit, abzulehnen. Dies ist es, was die Menschen in Deutschland Herrn Lafontaine heute vorwerfen. Deshalb kommt er natürlich als Kanzler für das vereinte Deutschland auch nicht in Frage. ({10}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, in den 70er Jahren wurde die Rüstung im Ostblock ein so starkes Bedrohungspotential für den freien Westen, daß sich die NATO auf Anregung des damaligen Bundeskanzlers Helmut Schmidt - schon damals hatte er recht - zu Ihrem bekannten Doppelbeschluß entschließen mußte. Jetzt, während unserer Regierungszeit, wurde der INF-Vertrag über den vollständigen Abbau der atomaren Mittelstreckenraketen in Europa und der vollständige Abzug der Chemiewaffen aus der Bundesrepublik vereinbart und inzwischen vollzogen. Wie auch der erste Vertrag über den Abbau der konventionellen Waffen in Europa mit unserer konstruktiven Abrüstungspolitik die eigene Festigkeit und Verteidigungsfähigkeit mit umfassender Verhandlungsbereitschaft verband, haben wir mehr erreicht, als die SPD je verlangt hat. Es ist das Verdienst von Helmut Kohl, es ist das Verdienst von Ronald Reagan, von George Bush und anderen westlichen Staatsmännern, daß die Freiheit über den Kommunismus gesiegt hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({11}) Diese Politik hat auch wesentlich zu dem Erfolg der KSZE beigetragen. Der Zusammenhalt der westlichen Allianz ist gewahrt geblieben, auch bei der schwersten Bewährungsprobe dieses Bündnisses im Gefolge des von Helmut Schmidt initiierten NATO-Doppelbeschlusses. Die Vereinigten Staaten von Amerika und Kanada blieben und bleiben über die KSZE ein politischer Machtfaktor in Europa. Schon in der Vorbereitung der KSZE wuchs Europa zusammen. Es entwickelte sich über die Wirtschaftsgemeinschaft hinaus die europäische politische Zusammenarbeit der Staaten der Europäischen Gemeinschaft. Der Westen hat seine Grundwerte wie Menschenwürde, Freiheit des Individiums, offene Grenzen für Menschen und damit die Beseitigung der Spaltung Deutschlands, Informationen und Meinungen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in den Mittelpunkt der Konferenz gestellt. Menschenrechte gegen staatliche Willkür, Selbstbestimmungsrecht gegen Fremdbestimmung - das ist die Erfolgsgeschichte der KSZE, besonders ab 1983. Vorher hatte die KSZE weder die Breschnew-Doktrin noch die Verbannung Sacharows verhindert, und Vaclav Havel mußte wiederholt ins Gefängnis. Das Belgrader Folgetreffen 1977 war ein Fehlschlag. 1981 wurde das Madrider Folgetreffen von den Ereignissen in Polen überschattet. Der KSZE drohte das endgültige Scheitern. 1982 konnte der Erfolg nur dadurch gerettet werden, daß die KSZE um ein halbes Jahr vertagt wurde. Meine Damen und Herren, erst unter unserer Regierungszeit zeigte die KSZE positive Ergebnisse. Die verschiedenen Expertentreffen des Folgetreffens in Wien und die VKSE in Stockholm haben Bewegung in den festgefügten Status quo gebracht. Insofern war Stockholm der erste Durchbruch von der Konfrontation zur Kooperation. Meine sehr verehrten Damen und Herren, damit ist die Nachkriegsepoche endgültig zu den Akten der Geschichte gelegt, und wir können endlich darangehen, ein Europa zu verwirklichen, in welchem die Menschen miteinander und nicht gegeneinander leben. Trotzdem vermißte dieser Tage ein Journalist den Ausdruck echter Freude bei den Menschen. Dies mag beispielsweise an der Golfkrise liegen, die ja auch das Gipfeltreffen von Paris überschattete. Die positive Erfahrung der internationalen Solidarität gegen eine Diktatur wird überlagert von der Sorge über eine bestehende Kriegsgefahr, über das Wohl und Wehe von Menschen, die als Geiseln mißbraucht werden. Ich wiederhole das, was der Bundeskanzler sagte: Wir freuen uns über die Freilassung der deutschen Geiseln und danken allen, die daran beteiligt waren. Wir freuen uns mit ihnen und mit ihren Familien. Doch unsere Forderung nach Freilassung aller Geiseln aller Nationen und nach dem Rückzug des Irak aus Kuwait bleibt davon unberührt, meine Damen und Herren. ({12}) Herr Kollege Ehmke, Sie haben da etwas mißverständliche Äußerungen gemacht, so als ob sich der Herr Bundeskanzler nicht immer auf dem Weg des Friedens und auf dem Weg der Verhandlungen befunden hätte. Sie sollten das noch einmal nachlesen und prüfen, ob Sie das wirklich so mißverständlich stehenlassen sollten. Sie müssen auch die Frage beantworten, ob angesichts dieses Erfolges der KSZE, angesichts der Sorge, wie es am Golf weitergeht, die von Ihnen für heute nachmittag beantragte Sondersitzung so recht in den Rahmen hineinpaßt. Das ist nicht Ihre Sorge um die Menschen, sondern das ist Ihre Sorge um fehlende Wahlkampfthemen, die Sie dazu getrieben hat, meine sehr verehrten Damen und Herren. ({13}) Meine Damen und Herren, der sozialistische Zentralismus war der Feind der persönlichen Leistung, die der Würde des Menschen entspricht. Deshalb stimme ich dem zu - jetzt ist er gerade hinausgegangen - , was der Kollege Ehmke sagte: Wir müssen diese Strukturen in den Betrieben, in den Verwaltungen beseitigen. Natürlich gibt es da noch alte Seilschaften, ({14}) sowohl in den fünf Ländern als auch in den Ländern des ehemaligen Ostblocks, auch in Polen, auch in der Tschechoslowakei. Das ist eine gemeinsame Aufgabe, die wir hier haben, und es freut mich, meine Damen und Herren, daß die SPD auch für das, was der Bundeskanzler an Hilfe für die Sowjetunion hier angekündigt hat, ihre Unterstützung zugesagt hat. Es ist eine gemeinsame Aufgabe. Der größte Fehler wäre es, wenn wir bei der Schaffung der Friedensordnung die Sowjetunion ausklammerten, ausgrenzten, außen vor ließen. Ich glaube, die Sowjetunion gehört mit dazu, genauso wie die Vereinigten Staaten und Kanada als europäische politische Mächte mit zu diesem Prozeß gehören. Das ist gut so; denn wir müssen die Abrüstung vorantreiben. Die Fortsetzung der Gespräche über die konventionelle Abrüstung ab dem 26. November begrüßen wir; denn Abrüstung ist überall vonnöten. Wir brauchen in Europa keine landgestützten Kurzstreckenraketen mehr. Auf wen sollen sie den eigentlich schießen? Wir brauchen die freiwerdenden Ressourcen für unsere Aufgaben in Deutschland, für die politische und wirtschaftliche Umstrukturierung in den Staaten des sich auflösenden Warschauer Paktes, für unsere Hilfe zur Selbsthilfe in der Dritten Welt und für den Schutz der Umwelt. ({15}) - Wollen Sie mir hier widersprechen? ({16}) - Nein, wir machen es zum richtigen Zeitpunkt. Sie hätten es als Vorleistung gebracht. Wir machen es in einem gleichmäßigen, gleichzeitigen und die Sicherheit nicht bedrohenden Abrüstungsprozeß. Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer Politik. ({17}) Herr Bundeskanzler, die KSZE-Staaten haben die Vereinigung Deutschlands mit Genugtuung zur Kenntnis genommen. Sie, Herr Bundeskanzler, haben ihnen für den Beitrag zu dieser Entwicklung gedankt. Ich möchte Ihnen heute namens der CDU/CSU-Fraktion für Ihre erfolgreiche Arbeit danken, für die erfolgreiche Arbeit Ihrer gesamten Regierung. Sie haben es verdient, Regierungschef im vereinten Deutschland zu sein und es auch nach dem 2. Dezember zu bleiben. ({18})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die letzten 500 Jahre europäischer Zivilisation kannten neben unzähligen Kriegen auch vier große europäische Friedenskonferenzen: Den Westfälischen Frieden, den Wiener Kongreß, den Versailler Frieden und nun den KSZE-Gipfel von Paris. Auch aus dem letzten, diesem Kalten Krieg kriechen die Völker Europas heraus wie aus einer zu langen und zu kalten Frostperiode. Sie begreifen die neue Ordnung noch nicht und wissen noch nicht: Wird dieser Frieden nun von Dauer sein? Einiges ist diesmal sicher anders als früher und vielleicht hoffnungsvoller: Auf dem Schlachtfeld des Kalten Krieges blieben nicht Millionen Tote zurück wie früher, wenn auch immer noch zu viele Verluste und Schädigungen von Menschen zu beklagen sind. Und es sind diesmal nicht die Sieger, die die Landkarte Europas im Rausch ihres Erfolges neu entwerfen. Formal jedenfalls waren sie alle gleichberechtigt, die am Runden Tisch in Paris Platz nahmen. Es gab also keine Sieger mit Waffen; das ist wahr. Trotzdem hat es so etwas wie Gewinner gegeben, und wir Deutschen gehören dazu. Die Frage aber, die in Paris als Schrift groß an der Wand stand, ist nicht beantwortet worden: Wird es auch keine Verlierer geben? Paris war vorerst nur der Abschluß einer Epoche, deren Ordnung berechenbar, waffenstarrend und ungerecht war. Ob es in der unsicheren Zukunft Europas wirklich keine Verlierer geben wird, hängt ganz und gar davon ab, ob es gelingt, eine gerechte Zukunftsordnung für dieses neue europäische Haus zu entwerfen. ({0}) Dieser Frage will ich in acht Punkten nachgehen. Diese achte Punkte kann man - je nach Blickwinkel - als Ausdruck von Sorge oder als umgestülpte Hoffnungen ansehen. Zum ersten: Entstehen die neuen europäischen Ideen wirklich schneller, als die alten europäischen Wahnideen zurückkehren? Es erscheint keineswegs zufällig, daß sich mitten im risikoreichen Geburtsvorgang eines neuen Verhältnisses der Völker Europas zueinander wieder die alten Gespenster melden. Mit den Waffen und Techniken der Alten und der Neuen Welt droht - wir haben schon darüber gesprochen - Kriegsgefahr am Golf. Und wieder geht es dabei - neben anderen Gründen - auch um den Anspruch Europas auf Energieressourcen, wie in vielen europäischen Konflikten der früheren Jahrhunderte auch. Und da ist die nicht endenwollende Krise der Entkolonialisierung der Sowjetunion mit ihren wild aufbrechenden Nationalitätenkonflikten; da sind Krawalle, Verschärfung der sozialen Konflikte und drohende Hungerrevolten in den großen Städten Osteuropas, und da gibt es wieder Fremdenhaß und Pogrome. Dies alles erzeugt ungeheure Anforderungen an die Politik. Sie muß in der Lage sein, durch Selbstfesselung den drohenden Kriegsausbruch zu verhindern. Sie muß in der Lage sein, Hoffnungen gerade aus Osteuropa zu erfüllen, von denen wir nicht einmal wissen, ob es überhaupt möglich ist, sie nicht allzu sehr zu enttäuschen; und sie muß praktisch die Menschenrechte schützen und Toleranz stärken. ({1}) Zum zweiten. Michail Gorbatschow hat in seiner Rede am 9. November gesagt: Wir brauchen eine ganz neue Kategorie in den internationalen Beziehungen, das Vertrauen! - Vertrauen ist gut, meinte schon Lenin, aber er konnte hinter diesen Satz keinen Punkt setzen; Kontrolle ist besser, hat er darum gleich hinter's Semikolon gesetzt. Gleiches tun heute alle die, die meine, die Einheit Europas immer noch mit Waffen bewachen zu müssen. Vertrauen ist gut, sagt Gorbatschow, Kontrolle ist besser, murmelt Herr Bush und murmelte Frau Thatcher, die gerade zurückgetreten ist, und murmelt auch Herr Wörner. ({2}) Gegenüber der ungeheuren Risikobereitschaft der Selbstauflösung des Warschauer Pakts erscheint die NATO quasi als eine Agentur des Mißtrauens, quasi als letzte Zentrale dieses lenistischen Denkens. ({3}) Es ist im übrigen bemerkenswert, zu welch romantischen Landschaftsskizzen sich auch die sonst so kühl-rationale FAZ aufwirft, wenn es um die NATO geht. Da schreibt Karl Feldmeyer am 19. November, die NATO gewährleiste „die Teilhabe an der Tiefe des strategischen Raums". - Aha, Teilhabe an der Tiefe des strategischen Raums also! Wer denkt dabei nicht an Napoleon, von anderen Feldherren ganz zu schweigen! Denkt man auch an ihr Ende? ({4}) Zum dritten. NATO und KSZE können auf Dauer keine Partner sein, so wie gewaltfreie Politik und Gewaltpolitik nie Brüder sein können. Ob wir mutig genug sind, die Waffen aus der Hand zu legen, oder so feige, daß wir Vertrauen pur nicht ertragen können, daran, glaube ich, entscheidet sich die Zukunft Europas. Was wir brauchen ist nicht mehr und nicht weniger als eine radikale Umwertung aller politischen Werte. Solange uns der ältlich-stählerne Charme der NATO als Stärke und das mutige und idealistische Gebilde KSZE als zu schwach erscheint, solange, glaube ich, bleiben wir weiterhin Kinder des 20. Jahrhunderts. ({5}) Rein realpolitisch gibt es für mich aus diesen Überlegungen nur folgende Konsequenz: Entweder löst sich die NATO in absehbarer Zeit zugunsten eines über die KSZE entstehenden gesamteuropäischen neuen Sicherheitssystems auf, in dem alle Länder Europas Mitglied sein können, oder alle osteuropäischen Staaten, inklusive der Sowjetunion, erhalten die Möglichkeit, Mitglied der NATO zu sein, was eine völlige Umkrempelung der NATO bedeuten würde und somit faktisch auf dasselbe hinausliefe. ({6}) Zum vierten: Was fangen die Deutschen mit ihrer neuen Rolle in der Mitte Europas an? - Mein altes Thema. Mit der deutschen Vereinigung ist ein neues Machtzentrum entstanden, genauer, ein altes hat eine neue Qualität bekommen. Das neue Deutschland ist eben nicht die BRD plus ein bißchen. Das Neue besteht nicht nur darin, daß Deutschland jetzt auch ökonomisch noch stärker wird. Das eigentlich Neue liegt auch nicht allein in der günstigen Brückenstellung zwischen Ost und West. Vielmehr ist so etwas wie ein neuer ideologischer Leitstern am Horizont Europas erschienen, der die sowjetische Jahrhundertvision vom proletarischen Weltreich, aber eben auch die Leitfunktion des American way of life ablöst. ({7}) Von gefährlicher Faszination erstrahlt also nun der „German way of life" eine Lebensart, in der sich Mercedes und die Grünen, Seidenhemden und soziale Sicherung friedlich zu verbinden scheinen. ({8}) Die amerikanische Art zu leben, die noch zu Kennedys Zeiten höchst erfolgreich war und seine Politik begleitet hat, hat drei Kennzeichen, die sie heute offenbar zu einem auslaufenden Modell macht. ({9}) Erstens. Die Spaltung zwischen Arm und Reich ist tief und brutal. Zweitens. Der Energieverbrauch ist so grotesk hoch, daß diese Art der Verschwendung im beginnenden Zeitalter der Ökologie allzu deutlich die Zeichen ihres eigenen notwendigen Untergangs trägt. Drittens. Die Neigung der amerikanischen Politik zum Militärischen und zur Weltpolizistenrolle erscheint unausrottbar. ({10}) Dagegen, nur dagegen erscheint Deutschland heute vergleichsweise zurückhaltend, intelligent, effizient und stark. Dieses Bild macht Deutschland im Wortsinn zu einem Fluchtpunkt mitten in Europa, zu einem Punkt, wohin man fliehen will. Doch - darauf bestehe ich - ist dieser „German way of life" nicht die Spitze der globalen Hoffnung, sondern nur ihre am besten funktionierende Illusion. Und doch ist er eher das schillernde und damit gefährliche Ende einer Epoche als der Beginn einer neuen. ({11}) Wir sind derzeit nur das lustigste und eleganteste Bluesorchester auf der Titanic der Weltgesellschaft. ({12}) Wie soll daraus ein gemeinsamer Aufbruch zur Überwindung der ökonomischen und sozialen Spaltung Europas entstehen? Das ist die Hauptaufgabe. Wie sollen damit die dunklen Wolken der Armut von Osteuropa vertrieben werden, von denen Tadeusz Mazowiecki gesprochen hat? Das Gegenteil geschieht: Im Osten bahnt sich im Augenblick ein gnadenloser Kampf um einen der wenigen Plätze im Rettungsboot Europa an. ({13}) Bei uns werden im Geist und in den Gesetzesschmieden neue Mauern konstruiert. Die Wirkung des westlichen Modells auf den Osten ist mittlerweile so, daß die Menschen dort wie Ertrinkende beginnen, sich von allem zu trennen, was auf dem schnellen Weg zum Westen oder zur Kopie des Westens hinderlich sein könnte. Der erste Impuls von West nach Ost war wirklich die Freiheit und die Demokratie, der zweite scheint Brutalität und Egoismus zu sein. Dazu gehört auch die beispiellose Geschichtsvergessenheit, daß wir ausgerechnet die sowjetischen Juden, die zu uns reisen wollen - das ist erstaunlich genug - , zurückweisen. Dagegen bitten wir Sie, unseren Antrag zu unterstützen. ({14}) Zum fünften. Wir müssen bei uns anfangen. Wir brauchen einen historischen Kompromiß mit Osteuropa, und wir brauchen einen neuen Begriff von einer europäischen und von einer Weltbürgergemeinsamkeit. In bezug auf die Menschenrechte und die politischen Freiheiten konnten die westlichen Demokratien tatsächlich ein Vorbild für Osteuropa sein. In bezug auf die Ökonomie - darauf bestehen wir GRÜNEN - dürfen wir kein Vorbild sein. Darum müssen gerade die westlichen Staaten ökonomisch abrüsten. Sie müssen ihren Krieg gegen die Natur, die Zerstörung des Bodens durch die Agrarindustrie und die Überflutung der Erde mit Gift und Abfall beenden. ({15}) Oder wollen wir demnächst die Deponie Schönberg erst nach Polen, dann in die Sowjetunion und schließlich nach Afrika exportieren? ({16}) Sicherheit wird auch die KSZE in Zukunft nur noch dann schaffen können, wenn sie die Ökologie in den Mittelpunkt rückt. Die KSZE braucht einen vierten Korb, einen grünen Korb, einen Korb eigens und ausdrücklich für die Ökologie. ({17}) Nebenbei bemerkt: Daß man ausgerechnet die Frauen einfach mit ins erste Körbchen hineinlegt, kann doch wohl nicht der Beitrag der KSZE zur Emanzipation der Frauen sein. ({18}) Noch zwei weitere Vorschläge. Nach dem Vorbild des Club of Rome sollte es einen Club of Bitterfeld - oder wie immer man ihn nennen will - , einen Zusammenschluß westeuropäischer Wissenschaftler, Unternehmer, Gewerkschafter, Umweltschützer und Banker zur Planung und Durchführung der ökologischen Erneuerung der Industrien und Landwirtschaften Osteuropas, geben. Und man sollte die demütigende Nutzlosigkeit der sowjetischen Soldaten auf dem Boden der ehemaligen DDR beenden. ({19}) Sie könnten mit einer großzügigen handwerklichen und ökologischen Ausbildung umgeschult werden und damit wichtige Initiativen zur Ausbildung in ihrem Land leisten. ({20}) Das wäre dann eine Konversion menschlicher Fähigkeiten, die auch allen anderen Soldaten guttäte, insbesondere auch den amerikanischen, die im Augenblick Bremerhaven und Frankfurt Nacht für Nacht zur Drehscheibe im Golfkrieg machen. ({21}) Der sechste Punkt. Zur Lösung der Zukunftsaufgaben der zukünftigen Europäer müssen wir alte Lasten loswerden, vor allem die Bürokratien, die durch den Kalten Krieg gewachsen sind. Die Bürokratien sind der neue Feudaladel Europas. Die UdSSR ist unter der Last von 17 Millionen Bürokraten zusammengebrochen, auch ökonomisch. ({22}) Ich befürchte, daß auch dies ein gesamteuropäisches Problem ist. Die überflüssige Nomenklatura wegzukriegen, die überflüssige NATO aufzulösen und den die EG-Bürokratie auf ein rationelles Maß zurückzustutzen, auch das sind gigantische Zukunftsaufgaben für Europa. ({23}) Weitergehende Abrüstung in Europa wäre dazu der wichtigste Schritt und eine doppelte Befreiung: von den Kosten und von den Sicherheitsapparaten. Warum also geschieht das nicht? Warum geht die mächtige, starke Bundesrepublik da nicht voran? Ich glaube, CDU und FDP können es nicht, weil sie - wie schon die Rüstungsexporte gezeigt haben - mit den Militärbürokratien und -industrien seit Jahrzehnten zu sehr verbrüdert sind. Es fehlt ihnen der Mut, alte Freunde in die Bedeutungslosigkeit zu entlassen; es mangelt ihnen manchmal auch an pazifistischer Phantasie. Sie, Herr Genscher, haben in Ihrer Rede letzte Woche die gleichzeitige Anwesenheit von Offizieren verschiedener Pakte ({24}) - oder Soldaten - in ein und derselben Stadt als die Spitze der europäischen Sicherheitspartnerschaft skizziert. Ich kann nur sagen: Die Spitze ist erst erreicht, wenn sich diese Soldaten als Zivilisten begegnen. ({25}) Wie lange, Herr Bundeskanzler, müssen wir eigentlich noch auf Ihre Phantasie warten, sich endlich einmal bei der Friedensbewegung zu bedanken? ({26}) Der siebte Punkt: Der KSZE-Gedanke muß ausgebaut und mit wirklicher Macht ausgestattet werden. Am Anfang der KSZE waren nur die Träumer klug. Die Zweifler waren damals die historisch Dummen. Die CDU gehörte - das hat der Bundeskanzler dankenswerterweise anerkannt - zu den letzteren, zu den Dummen. Grundlage des KSZE-Prozesses war ursprünglich nämlich eine Fiktion - eine Fiktion des guten Willens aller Vertragsparteien, eine Fiktion, die zunächst naiv und idealistisch schien, mittlerweile aber geschichtsträchtig geworden ist. Auch in Zukunft geht es bei der KSZE um eine Fiktion, um eine Fiktion des Runden Tisches und der Gleichheit aller Beteiligten. Hoffentlich ist diese Fiktion ebenso erfolgreich, hoffentlich führt sie zu einer Gleichheit unter den Menschen Europas und damit auch inhaltlich zu einer Ablösung des sozialistischen Ideals von Gleichheit. Dazu aber ist eine Stärkung dieses Gremiums nötig, die mit den jüngsten Beschlüssen allenfalls angedeutet, aber noch keinesfalls eingeleitet wurde. Die Idee einer europäischen Konföderation ist hier am meisten zu fördern, weil sie am meisten auf diesem Prinzip der Gleichberechtigung besteht. Aber eine Konföderation braucht kein Machtzentrum. Europa besteht heute aus mehr als 30 Staaten. Morgen schon können es 40 oder 50 sein, je nachdem, wie sich Jugoslawien, die Sowjetunion, aber auch manche Länder Westeuropas entwickeln werden. Allein schon diese Zahlen zeigen: Jeder Versuch eines gesamteuropäischen Zentralismus fördert nur die alten Großmachtrivalitäten und kann deswegen nur schiefgehen. Der letzte Punkt: Das gilt auch für jede Art von neuer europäischer Weltbeglückungsaktion. Was auch immer wir in Europa machen - es darf nur die Hälfte unserer Kraft beanspruchen. Die eigentliche Aufgabe wird immer mehr das Verhältnis zum Süden sein. Peter Sloterdijk hat gesagt: Die Pointe des 20. Jahrhundert ist, daß die Dinge so weit gekommen sind, daß der imperiale Ring um den Erdkreis geschlossen ist. Durch unsere Wirtschaftsweise wird heute aus jedem Geiselnehmer auch eine Geisel und aus jedem Erpresser auch ein Erpreßter. Das wird das Schicksal der Nationen im 3. Jahrtausend bestimmen. Wir werden uns einleben müssen - so Peter Sloterdijk in einer Welt, in der die fremden Lebenden wichtiger werden als die eigenen Toten. Das wäre dann auch das Ende der nationalen Egoismen, und genaugenommen ist gerade das eine der größten Hoffnungen für Europa. Ich danke Ihnen. ({27})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin Dr. Vollmer, Sie gehören zu denjenigen, die jetzt ihre letzte Rede in diesem Parlament gehalten haben. Da ich weiß, daß die Präsidentin am Schluß unserer heutigen Tagesordnung uns alle, die wir hier ausscheiden, in besonderer Weise ansprechen will, bitte ich Sie um Verständnis dafür, daß ich jetzt dazu nichts sage. Graf Lambsdorff ist der nächste Redner. ({0})

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es ist in der Tat nicht meine letzte Rede in diesem Parlament. Aber es muß ja auch für die Frau Kollegin Vollmer nicht die letzte sein; es kann ja einmal eine Legislaturperiode lang unterbrochen werden. Wer weiß denn, was alles noch geschieht. ({0}) - Für wen auch immer. Jeder hier in diesem Hause hat sicherlich seine Wünsche und wünscht sich manchen als letzten Redner in seiner letzten Legislaturperiode. Da ist der Phantasie keine Grenze gesetzt. Meine Damen und Herren, die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden und in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, das sind die Ziele, die das Grundgesetz den Deutschen und insbesondere den politisch Handelnden vorgegeben hat. Für die FDP hat es nie einen Zweifel daran gegeben, daß sie ihre ganze Kraft für die Erfüllung dieser Aufträge einsetzen wird. Seit dem 3. Oktober leben die Deutschen wieder in einem Staat mit einer Verfassung, einem Parlament und einer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Den ersten Auftrag unseres Grundgesetzes haben wir damit erfüllt. In den vergangenen Tagen haben die europäischen Staaten, die USA und Kanada in Paris gemeinsam die Fundamente für eine Friedensordnung in Europa gelegt und in der Charta für Europas Zukunft Einvernehmen über wesentliche Elemente der Konstruktion des gemeinsamen europäischen Hauses gefunden. Die europäische Friedensordnung ist damit keine Vision mehr, sondern ein konkretes Handlungsprogramm. Die Entwicklung in Europa seit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes hat es nicht immer einfach gemacht, sich den Glauben daran zu erhalten, daß die Einheit Deutschlands und eine europäische Friedensordnung Ziele sind, die durch konkretes politisches Handeln verwirklicht werden können. 1967, sechs Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer und ein Jahr vor der Niederschlagung des Prager Frühlings, schrieb der Westen im Harmel-Bericht das Konzept dessen auf, was jetzt Wirklichkeit geworden ist: Die Entwicklung der sowjetischen und osteuropäischen Politik berechtigt zu der Hoffnung, daß diese Regierungen schließlich die Vorteile erkennen werden, die auch ihnen aus der gemeinsamen Erarbeitung einer friedlichen Regelung erwachsen. Und weiter: Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren. Zu dieser Zeit regierte in Bonn die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD. Beide Parteien zogen außen- und deutschlandpolitisch mit großer Energie in entgegengesetzte Richtungen und sorgten so für Unbeweglichkeit. Die FDP bemühte sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, auf die Notwendigkeit einer neuen Ostpolitik hinzuweisen. 1969 ermöglichte der Wähler die Bildung der sozialliberalen Koalition, die den deutschen Beitrag zur Schaffung einer europäischen Friedensordnung einleiten konnte. Die Regierung Brandt/Scheel schloß die Verträge mit der Sowjetunion, mit Polen, mit der Tschechoslowakei und mit der DDR. Sie waren ein entscheidender Beitrag zur Herstellung der noch schwankenden Vertrauensbasis, die die Voraussetzung für den erfolgreichen Abschluß des ersten KSZE-Gipfels 1975 in Helsinki war. ({1}) Die Ostverträge und die Einleitung des KSZE-Prozesses mußten damals gegen den heftigen Widerstand der CDU/CSU durchgesetzt werden. Meine Damen und Herren von der CDU/CSU, erinnern Sie sich noch daran, wie Sie das KSZE-Dokument von Helsinki damals charakterisiert haben? Sie sagten: „Supermarkt von Attrappen. " ({2}) - Herr Bötsch hat das alles heute so in Watte verpackt. ({3}) - Meine Damen und Herren, zum Thema „Binnenwahlkampf" kann ich nur sagen: Der Kollege Bötsch hat mir vor ein paar Minuten gesagt, die FDP bekomme bald die absolute Mehrheit. Ich habe ihm gesagt: Noch ein paar CSU-Wahlkongresse, dann könnten wir das vielleicht schaffen. ({4}) Selbstverständlich; war auch uns nicht verborgen geblieben, daß die Schlußakte von Helsinki nicht viel mehr als ein politisches Programm war, das im Rahmen eines langfristigen Prozesses mit konkretem, vertraglich fixiertem Inhalt ausgefüllt werden mußte. Wir machten uns an die Arbeit. Der Pariser Gipfel zeigt, daß wir uns auf den richtigen Weg begeben hatten. Die Sowjetunion war erst unter Präsident Gorbatschow bereit, die Perspektiven des KSZE-Prozesses wirklich auszuloten. Er erkannte die Möglichkeiten, die sich aus den Rahmenbedingungen des KSZE-Prozesses für die Sowjetunion ergeben. Er verzichtete darauf, anderen Völkern mit Gewalt seinen Willen aufzuzwingen. Er verschaffte den Menschenrechten in der Sowjetunion Geltung, und er entsprach damit wesentlichen Forderungen der KSZE-Vereinbarungen. Dies ist sein historisches Verdienst. Der von ihm eingeleitete Wandel der sowjetischen Politik machte 1986 den ersten großen Erfolg der KSZE-Sicherheitspolitik möglich: die Stockholmer Vereinbarungen über vertrauensbildende Maßnahmen. 1987 folgte die Vereinbarung über die beiderseitige und vollständige Beseitigung der Mittelstreckenwaffen. Der NATO-Doppelbeschluß, den wir in der Regierung Schmidt gemeinsam mit der SPD gefaßt hatten, wurde zum Erfolg und zugleich zum entscheidenden Beweis für die Veränderung der Politik der Sowjetunion. ({5}) Die SPD hatte in dieser wie auch in anderen Fragen schon während der Regierung Schmidt den Mut verloren, und sie hat ihn bis heute nicht wiedergefunden. Auch deswegen hat Helmut Schmidt recht: Oskar Lafontaine hat einen Wahlsieg nicht verdient. ({6}) Meine Damen und Herren, man muß nicht nur die richtigen politischen Ideen haben, sondern auch den Mut haben, durchzuhalten, wenn es schwierig wird. Ich frage mich schon, Herr Bahr, wie Ihnen zumute ist, wenn Sie nachlesen, was Sie damals - 1988 - in der Veranstaltung „Nachdenken über Deutschland" in den Münchener Kammerspielen gesagt haben: „Wer dabei die deutsche Frage aufwirft, der stört Europa." ({7}) - Nicht übel, aber es war eine Fehleinschätzung. - Jetzt ist die Frage gelöst, und niemand ist gestört. Der entscheidende Durchbruch des KSZE-Prozesses kam mit der Wiener Folgekonferenz, die im Januar 1989 mit einem richtungsweisenden Schlußdokument abgeschlossen wurde. Zwei Elemente dieses Dokuments sind hervorzuheben: die Festschreibung der Menschen- und Bürgerrechte und die Einsetzung von Verhandlungen über konventionelle Abrüstung in Europa. ({8}) Die Betonung der Menschen- und Bürgerrechte hat den Reformgruppen in den Staaten Ost- und Südosteuropas den Rücken gestärkt und dazu beigetragen, daß sie sich binnen weniger Monate durchsetzen konnten. Die Revolution in der früheren DDR, die den Weg zur Überwindung der Teilung Deutschlands mit friedlichen Mitteln freikämpfte, konnte sich auf die Erklärung zu den Menschenrechten der KSZE-Dokumente und auf das ungarische Beispiel stützen. ({9}) - Vor allen Dingen auch auf das Festhalten an der einheitlichen Staatsbürgerschaft, die Herr Lafontaine abschaffen wollte. Die Deutschen haben ihre Einheit mit Zustimmung und Unterstützung der Vier Mächte und mit Zustimmung und Unterstützung aller ihrer Nachbarn und aller ihrer Partner vollenden können. Es gibt keinen besseren Beweis dafür, daß wir das Vertrauen der Völkergemeinschaft wiedergewonnen haben. Das Vertrauen gilt in ganz besonderem Maße dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher. ({10}) Seine Außenpolitik der Verantwortung und Berechenbarkeit machte die schnelle Verständigung mit den Vier Mächten über die deutsche Einheit möglich. Jeder, der sieht, wie schwierig manches in den Ländern östlich unserer Grenzen heute wird, kann nur glücklich darüber sein, ({11}) wie schnell wir den Zwei-plus-Vier-Prozeß in trokkene Tücher gebracht haben, daß wir von allen möglichen Entwicklungen nicht mehr beeinträchtigt werden. ({12}) Der römische Gipfel und eigentlich auch die KSZE-Veranstaltung sollten die deutsche Einheit ja noch gewissermaßen absegnen und billigen; man hat nur noch den Vollzug billigend zur Kenntnis nehmen können. Das war schon eine große Leistung. Es wird mit der FDP, mit dem Außenminister Genscher auch in Zukunft nationale Alleingänge der Deutschen nicht geben. Der KSZE-Gipfel in Paris hat die Vereinigung Deutschlands als Beitrag zur europäischen Stabilität zur Kenntnis genommen, und er hat die Einbettung der deutschen Einheit in den Aufbau der europäischen Friedensordnung unterstrichen. Wie weit wir auf dem Weg von der Konfrontation zur Kooperation vorangekommen sind, zeigt die von den 22 Mitgliedstaaten der NATO und des Warschauer Pakts auf dem Pariser Gipfel abgegebene feierliche Erklärung, die einen Gewaltverzicht zwischen beiden Bündnissen ausspricht und ein neues Verhältnis ihrer Mitgliedstaaten zueinander vorzeichnet. Meine Damen und Herren, man muß sich ja immer mühen, noch dreimal die Augen aufzureißen und die Ohren aufzumachen, um das überhaupt alles zu begreifen, was sich in den letzten zwölf Monaten entwickelt hat. ({13}) Aber der Kanzlerkandidat der Sozialdemokraten konnte sich noch im Januar dieses Jahres eine solche Entwicklung nicht vorstellen. Wie sonst wäre zu erklären, daß er die Einbindung eines vereinten Deutschland in die NATO für anachronistisch hielt - so wörtlich. ({14}) - In dem Zeitpunkt sind wir für die Einbindung des vereinten Deutschlands in die NATO eingetreten, aber Herr Lafontaine hat uns gesagt, das sei eine anachronistische Vorstellung. Der Anachronist und das Provisorium ist er. ({15}) Die Bedeutung der Beteiligung der USA und Kanadas bei der Gestaltung des Friedens auf dem europäischen Kontinent unterstreicht die Transatlantische Erklärung, die die zwölf EG-Staaten und die USA und Kanada während des Pariser Gipfels unterzeichnet haben. Die amerikanische Präsenz hat in den vergangenen Jahrzehnten entscheidend zur Friedenssicherung und zur Stabilität in Europa beigetragen. Gerade in der Zeit des Wandels und der Neuorientierung in Europa können und wollen wir auf diese Präsenz nicht verzichten; das europäische Haus braucht eine nordamerikanische Einliegerwohnung. ({16}) Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Weichen für die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union sind gestellt. Wir wollen die Vertiefung der Europäischen Gemeinschaft. Der Reformprozeß in der Sowjetunion, Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und den anderen Staaten Osteuropas muß unumkehrbar werden, und er muß zu einem vollen Erfolg werden. Deshalb muß die Gemeinschaft offen sein für die neuen Demokra18882 tien und Marktwirtschaften, die schon jetzt die Perspektive einer Integration in die EG brauchen. ({17}) Die FDP ist - anders als der Herr Bundeskanzler - der Meinung, daß wir Deutschen geradezu verpflichtet sind, den Ungarn, den Polen, den Tschechoslowaken den Weg in die Europäische Gemeinschaft zu öffnen. ({18}) Es kann nicht genug sein, an Sonn- und Feiertagen und in Staatsakten unsere Dankbarkeit gegenüber den Regierungen und Völkern zum Ausdruck zu bringen, ihnen aber das Eigentliche, was sie brauchen - das sind nicht Kredite und Lieferungen, sondern Integration in die westliche Wirtschaft - , zu verwehren. Das ist falsch. ({19}) - Nein, nein, nun wollen wir das mal nicht verstekken. Der Herr Bundeskanzler hat ausdrücklich eine andere Position noch vor drei Wochen vertreten. ({20}) - Wir können doch noch lesen und hören. ({21}) - Aber wenn es nicht so ist, ist es ja ein leichtes, es zu sagen. Dann wäre es ja schön. Dann wären wir einig. Das machte die Koalitionsverhandlungen schon wieder einfacher, meine Damen und Herren. ({22}) Von Europa, meine Damen und Herren, das zu einer neuen Form friedlichen Zusammenlebens findet, wird umfassende, weltweite Solidarität mit den wirtschaftlich, ökologisch, sozial und militärisch gefährdeten Regionen dieser Welt erwartet. Nur, sage ich, Frau Vollmer, noch einmal: Sosehr auch wir selbstverständlich dafür sind, allen ökologischen Forderungen so schnell und so umfassend wie möglich gerecht zu werden, eine Voraussetzung brauchen Sie dafür, nämlich leistungsfähige Wirtschaften; sonst sieht es nämlich am Ende so aus wie in der DDR. ({23}) Diesen Herausforderungen gerecht zu werden heißt in diesen Tagen nach Auffassung der Freien Demokraten: wir müssen der Sowjetunion im bevorstehenden Winter helfen. Das ist das Drängendste. Aber, meine Damen und Herren, Winterhilfe allein reicht nicht. Die Sowjetunion und unsere östlichen Nachbarn brauchen weitere Hilfe für ihren Weg der Reformen. Für die FDP sage ich - wohlwissend, wie schwierig das ökonomisch alles zu beurteilen ist, und ich kann das hier nur sehr kurz darstellen - zwei Punkte: Erstens: Zuwarten reicht nicht. Jawohl, Kredite brauchen Reformen, aber Reformen brauchen auch Kredite. ({24}) Zweitens: Die Stabilität der Sowjetunion ist auch unsere Stabilität. ({25}) Meine Damen und Herren, das Konzept für die europäische Friedensordnung liegt vor. Die ersten Baumaßnahmen sind begonnen. Es kommt jetzt darauf an, die Dynamik dieses Prozesses aufrechtzuerhalten und möglichst zu beschleunigen. Die Liberalen haben den Auftrag der Präambel des Grundgesetzes stets als konkrete Aufforderung zu politischem Handeln verstanden. Lassen Sie mich dies hier heute einmal sagen: Wir sind stolz auf die kontinuierliche außenpolitische Haltung und Linie unserer Partei. Mit Konrad Adenauer und der CDU/CSU haben wir die Aussöhnung nach Westen getragen, heftig bekämpft von der SPD. Mit Willy Brandt und Helmut Schmidt und der SPD haben wir die Ost- und Entspannungspolitik getragen, heftig bekämpft von CDU und CSU. Ich bekunde dem Bundeskanzler ausdrücklich meinen Respekt für die Einsicht, die er heute hier zum KSZE-Prozeß vorgetragen hat. Ich wünschte mir, Herr Bahr, daß von Ihnen eine ähnliche Erklärung - Herr Ehmke hat nichts dergleichen gesagt - und ähnliche Einsichten zum NATO-Doppelbeschluß und seiner Wirkung auch einmal kämen. ({26}) Ich sage, Frau Vollmer, ich sehe keinen Anlaß, uns bei der Friedensbewegung zu bedanken; denn sie hätte uns den falschen Weg gewiesen. ({27}) Unsere Folgerichtigkeit hat zum KSZE-Gipfel nach Paris geführt. Die Freie Demokratische Partei braucht an ihrem außenpolitischen Weg durch die vier Jahrzehnte Bundesrepublik Deutschland nichts zu korrigieren. Die Namen von zwei liberalen Außenministern stehen für diese Politik, erst Walter Scheel, unser späterer Bundespräsident. Sein Name steht unter dem Brief zur deutschen Einheit. Unter dem Schlußdokument der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen steht der Name des Mannes, der seit sechzehn Jahren die Verantwortung für die deutsche Außenpolitik hat. Die FDP sagt Hans-Dietrich Genscher Dank für eine überragende staatsmännische Leistung. ({28}) Der Erfolg der Konferenz der KSZE-Staaten in Paris erfüllt uns mit Freude. Meine Damen und Herren, die deutsche Einheit ist vollendet. Die Teilung Deutschlands und Europas ist überwunden. ({29}) - Die deutsche Einheit ist vollendet, nicht die Einheitlichkeit, das wissen wir auch. Aber die staatliche Einheit ist vollendet. Warum müssen wir denn immer davon abstreichen? Warum müssen wir diesen Erfolg denn immer kleinschreiben? Das hat doch überhaupt keinen Sinn. ({30}) Ich wiederhole: Die deutsche Einheit ist vollendet. Am 3. Oktober war sie vollendet. Daß da noch viel zu tun bleibt, wissen alle; und ich glaube, wir haben bessere Konzepte als Sie. ({31}) Die Teilung Deutschlands und Europas ist überwunden. Heute ist die letzte Plenarsitzung dieser Sitzungsperiode. Für die Freien Demokraten sage ich - und jeder Bürger in unserem Lande kann es nachvollziehen und überprüfen - : Es hat seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland keine ertragreichere, keine erfolgreichere Legislaturperiode gegeben. Wir wollen diese Arbeit fortsetzen. ({32})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Kaufmann.

Dr. Sylvia Yvonne Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001075, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Pariser Europagipfel ist zu Ende. Die Gruppe der Abgeordneten der PDS begrüßt seine Ergebnisse, insbesondere den Vertrag über die Reduzierung und Begrenzung der konventionellen Streitkräfte. Damit wurde die Tür für erforderliche weitergehende Abrüstungsschritte weit aufgestoßen. Ausdrücklich möchte ich erklären, daß wir das Friedensbekenntnis des Bundeskanzlers, seine erneute Bekräftigung der Endgültigkeit der Grenzen als Faktor der Stabilität in Europa begrüßen. Wir tragen die damit einhergehende Forderung, keine neuen Wohlstandsgrenzen zu errichten sowie dem neuen Nationalismus keinen Raum zu gewähren, nicht nur uneingeschränkt mit, sondern werden dies - wo und wann auch immer erforderlich - mit einklagen. In Paris sollten die Nachkriegsära, der Kalte Krieg und die Block-Konfrontation endgültig zu Grabe getragen werden, wenngleich nicht wenige Politiker ihn im Innern, z. B. gegenüber der PDS, fortsetzen, wenngleich in der früheren DDR ausgeteilte, entwürdigende Fragebogen von altem antikommunistischen und antisowjetischen Geist geprägt sind. Daß die Nachkriegsära in Paris für beendet erklärt werden konnte, dies haben die demokratischen Umwälzungen und die Reformen im Osten Europas ermöglicht. ({0}) Sichtbarster Ausdruck sind die historischen Veränderungen auf der politischen Landkarte, die deutsche Einheit, der eingeleitete Prozeß des Abbaus der überdimensionalen Waffenarsenale und die gegenseitige Versicherung der Staaten von Warschauer Vertrag und NATO, nicht mehr Gegner, sondern künftig Partner zu sein. Meine Damen und Herren, Europas neue Horizonte werden aber zugleich von dunklen Wolken der Kriegsgefahr am Golf überschattet. Präsident Bush wollte seine an der Heimatfront zunehmend umstrittene militärische Offensivstrategie in Paris offensichtlich bestätigen lassen; dies mißlang. Und es wäre wohl auch mehr als ein Geburtsfehler gewesen, wenn der europäische Aufbruch von einer De-facto-Kriegserklärung begleitet worden wäre, wo doch die Zeichen aus Bagdad andeuten, daß das gemeinsame, entschlossene Handeln der internationalen Staatengemeinschaft den Agressor ohne Krieg zum Rückzug zwingen kann. ({1}) Nein, der Zynismus Saddam Husseins in seinem Spiel mit Geiseln und einem okkupierten Staat darf nicht durch Zynismus gegenüber Abertausenden unschuldigen Menschen und der Umwelt ersetzt werden, die Opfer eines Angriffskrieges am Golf werden würden. Wir begrüßen die angekündigte Freilassung der deutschen Geiseln und fordern Saddam Hussein auf, alle ausländischen Geiseln freizulassen. Die angekündigte Freilassung der deutschen Geiseln sollte die Bundesregierung nicht in Erklärungszwänge verstrikken, sondern ihr endlich Veranlassung sein, sich politisch aktiv in den Konflikt einzuschalten und seine nichtmilitärische Überwindung in den Mittelpunkt ihres Handelns zu stellen. Statt dessen wird jedoch über die Änderung des Grundgesetzes nachgedacht, um deutsche Soldaten an den Golf entsenden zu können. Wir sind unter Beachtung der deutschen Geschichte strikt dagegen, daß deutsche Soldaten jemals wieder außerhalb Deutschlands eingesetzt werden. ({2}) Und die Aufforderung an deutsche Soldaten, sich an einem solchen Einsatz nicht zu beteiligten, ist schon deshalb keine Straftat, weil nach der gegenwärtigen Rechtslage noch ihr Einsatz eine Straftat wäre. Meine Damen und Herren, es wäre unredlich, zu übersehen, daß Paris zwar eine historische Etappe in Würde abgeschlossen, zugleich aber über die Zukunft Europas noch nicht bzw. erst in Ansätzen entschieden hat. Diese schwierige Aufgabe liegt erst noch vor uns, und daran müssen alle politischen Kräfte Europas - sowohl die, die Regierungsverantwortung tragen, als auch jene, die sich in der Opposition befinden - teilnehmen können. Noch lebt, wie Präsident Mitterrand erklärte, der Kalte Krieg in manchen Köpfen weiter, obwohl er öffentlich für tot erklärt wurde. Die Fähigkeit des vereinten Deutschland, den Bauplan eines künftigen gemeinsamen Hauses Europa kreativ und prägend mitzugestalten, wird in hohem Maße davon abhängen, wie es gelingt, die im eigenen deutschen Haus bestehenden sozialen, wirtschaftlichen und geistigen Grä18884 ben zu überwinden und Versuche der Ausgrenzung Andersdenkender zu beenden. ({3}) Demokratie kann sich - sei es im Osten Deutschlands, sei es im Osten Europas - nur befestigen, wenn sich alle Bürgerinnen und Bürger chancengleich in der neuen deutschen und europäischen Geschichte wiederfinden. ({4}) Internationalisierung darf sich nicht an nationale Grenzen stoßen. Der Ruf nach der Einheit Europas und das Verbot des Wahlrechts für Ausländer sind nicht miteinander vereinbar. Auch dieses Defizit im Grundgesetz zeigt, daß die Ausarbeitung einer neuen deutschen Verfassung in Angriff zu nehmen ist. Meine Damen und Herren, was erwarten die Menschen in den ostdeutschen Ländern, im Süden und Osten Europas und in der Sowjetunion von diesem sich einigenden Europa? Sie erwarten Frieden, weit geöffnete Grenzen und vor allem einen wirtschaftlichen Aufschwung, der ihre Lebensqualität deutlich und spürbar verbessert. Ihre Erwartungen in die ökonomische Kraft des Westens sind so hoch, daß es schwerfallen wird, sie auch nur annähernd zu erfüllen. Viele Menschen glauben, daß ihnen die Marktwirtschaft und der Brückenschlag zum Westen gewissermaßen über Nacht ein Schlaraffenland bescheren. Es sollte deshalb auch der Mut aufgebracht werden, die Dimension der tatsächlich bestehenden und noch zu erwartenden Probleme klar zu benennen und ebenso unmißverständlich die Weichen für ihre realistische Bewältigung zu stellen. Die Erfahrungen, die wir im Osten Deutschlands gemacht haben und machen, gebieten dies schlicht und einfach. Absichtserklärungen, wonach es keine Wohlstandsmauern, keine Europäer erster und zweiter Klasse, kein Armenhaus und kein Billiglohngebiet Europas geben dürfe, sind die eine Seite. Die andere Seite aber ist, daß eben dies nicht ausreicht. Ein gesamteuropäisches „new deal", das von allen Staaten mitgetragen wird, muß schleunigst entwickelt und am besten baldmöglichst zum Gegenstand einer Art ökonomischer Nachfolge-KSZE gemacht werden. ({5}) Auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt es Hunderte, wenn nicht Tausende von Arbeitslosen mit den unterschiedlichsten Berufen, die in der UdSSR und in anderen osteuropäischen Ländern studiert, gelebt und gearbeitet haben und über ausgezeichnete Sprach- und Landeskenntnisse verfügen. Sie sollten die Möglichkeit erhalten, entsprechend ihren Fähigkeiten für diese Länder oder in ihnen tätig zu werden. Meine Damen und Herren, der zentralistischen Planwirtschaft einfach eine zum Teil rücksichtslose Marktwirtschaft, wie sie z. B. im Westen Deutschlands kaum noch üblich war, aufzustülpen führt zu neuen gefährlichen Deformationen. Die unvermeidliche Konsequenz enttäuschter Hoffnungen der Menschen, gepaart mit nationalen Leidenschaften und über Jahrhunderte gewachsenen ethnischen Konflikten, sind Faktoren der Instabilität, die zu Chaos, Bürgerkrieg und zur Entstehung von regelrechten Krisen-und Konfliktzonen führen können. Wir übersehen nicht die reale Gefahr, daß dadurch die Einigung Europas großen Schaden nehmen und ernsthaft hinausgezögert werden kann. Die künftigen sicherheitspolitischen Strukturen, die den Westen u n d den Osten einschließen müssen, sind noch nicht klar erkennbar. Dabei übersehen wir nicht, daß erste Schritte zur Institutionalisierung von Einrichtungen und zur Schaffung von Mechanismen zur Friedensbewahrung in der Pariser Charta festgeschrieben wurden. Wir glauben aber nicht, daß die KSZE künftig nur eine Art multinationaler Rahmen für Entscheidungen sein kann, die in der NATO oder anderswo getroffen werden. Europa braucht ein neues, umfassendes, nicht militärisch geprägtes Sicherheitsdenken; denn die eigentlichen Gefahren für seine Stabilität und Sicherheit erwachsen nicht mehr aus der militärischen Konfrontation, sondern aus nationalen Konflikten, ungelösten ökonomischen und sozialen Problemen. Das heißt, die NATO kann auf Dauer so, wie sie ist, nicht bleiben. Sie muß sich von ihren doktrinären und strukturellen Altlasten lösen. ({6}) Es kann doch nicht sein, daß die NATO einerseits in der Sowjetunion keinen Feind mehr sieht, die UdSSR aber andererseits nach wie vor als größte potentielle Bedrohung bezeichnet wird. Es stellt sich doch die Frage: Entweder werden beide Blöcke aufgelöst und ein neues, wirklich kollektives Sicherheitssystem im Rahmen der KSZE geschaffen, oder die NATO verändert total ihre Optionen und Strukturen, erklärt sich offen für den Beitritt aller anderen europäischen Staaten, einschließlich der Sowjetunion, und macht so den Weg für die Entstehung eines solchen Systems frei. ({7}) Meine Damen und Herren, es darf keine Pause in der Abrüstung zugelassen werden. Der aus der Reduzierung von Quantität resultierende Effekt darf nicht durch Fortsetzung qualitativ neuer Rüstung zunichte gemacht werden. ({8}) Überhaupt wird die drastische Reduzierung von Ausgaben für militärische Zwecke zur Nagelprobe. Die Bundesregierung muß hier neue Signale setzen, d. h. Verzicht auf weitere Milliarden verschlingende Rüstungsobjekte wie Jäger 90 und Panzerabwehrkampfhubschrauber. Die Bundesregierung muß neue Signale setzen, indem sie sich dafür einsetzt, daß die in der ehemaligen DDR entstehende kernwaffenfreie Zone nicht durch luftgestützte nukleare Abstandswaffen praktisch aufgehoben wird, und indem sie auf den Abzug aller Kernwaffen und Kernwaffenträger aus ganz Deutschland hinwirkt. ({9}) Die Bevölkerung erwartet ein komplexes, vor allem sozialen und ökologischen Bedürfnissen entsprechendes Konzept für eine umfassende Konversion. Das von der PDS noch in der Volkskammer mit initiierte Konversionsgesetz muß im neuen Bundestag behandelt werden. Diesbezüglich wurden die ehemaligen Volkskammerabgeordneten alle verpflichtet. Auch die Fragen von Wehr- und Zivildienst können in einer wirklich demokratisch selbstbestimmten Gesellschaft nur auf der Grundlage freier Entscheidung der Betroffenen gelöst werden. Die Forderung nach der Aufhebung der Wehrpflicht bleibt deshalb aktuell. Im Zusammenhang mit der Abrüstung muß deutliche Kritik an der Bundesregierung geübt werden. Radikale Abrüstungsvorschläge kamen bisher noch nie von ihr, sondern immer von anderen Regierungen, insbesondere von der sowjetischen Regierung, und, Herr Graf Lambsdorff, gerade auch von der außerparlamentarischen Friedensbewegung. Der Anteil dieser Bundesregierung bestand stets darin, zu verhindern, daß die Abrüstung zu radikal wird. Viel zu häufig verhandelte sie nach oben statt nach unten. Gerade nach Herstellung der Einheit Deutschlands sollten künftig von einer deutschen Regierung die am weitesten reichenden Abrüstungsvorschläge ausgehen. ({10}) - Das ist überhaupt kein Unsinn. Wir würden es begrüßen, wenn im Wettbewerb um die radikalsten Abrüstungsvorschläge künftig die Bundesrepublik Deutschland als Sieger hervorgeht. ({11}) Meine Damen und Herren, viele Fragen stehen neu vor uns: die Notwendigkeit, insbesondere die ökonomische, kulturelle und humanitäre Dimension der KSZE weiter auszugestalten und das Verhältnis von EG-Integration und gesamteuropäischem Prozeß, von Europarat und KSZE zu durchdenken. Es kommt darauf an, im Rahmen der KSZE die parlamentarisch-demokratische Kontrolle zu stärken und die entsprechende Zusammenarbeit mit gesamteuropäischen Rahmen zu fördern. Dazu gehört eine Erweiterung der Rechte des Europaparlaments. Was die Architekten des künftigen Europas betrifft, sieht die PDS eine realistische Vision in der Idee einer gesamteuropäischen Konföderation gleichberechtigter Staaten. Sie könnte die Realisierung von Plänen für eine Vormachtrolle des vereinten Deutschlands in Europa zumindest erschweren. Es ist gefährlich, Träume von einer solchen Vormachtrolle oder von einer Großmachtrolle Deutschlands zu hegen. ({12}) - Das ist nicht meine Gedankenwelt. Gucken Sie bitte ins Protokoll: Auf der Sitzung im Reichstag hat Herr Dregger in bezug auf Deutschland von einem Kernland in Europa gesprochen. Dahinter sehe ich schon so etwas. ({13}) Das neue Europa darf nicht nur durch Regierungen und Eliten gestaltet werden. Es erfordert vielmehr das gemeinsame Handeln aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die Mitwirkung seiner Bürgerinnen und Bürger, die als Angehörige ihrer Nationen zugleich Europäer werden möchten. ({14}) Die Bedeutung aller in Europa ablaufenden Prozesse darf jedoch nicht zu einem Eurozentrismus führen. Frieden, d. h. auch ökonomischer, ökologischer und sozialer Ausgleich, muß unbedingt auch mit der sogenannten Dritten Welt gefunden werden. ({15}) Es darf nicht dabei bleiben, daß die Industriestaaten auf Kosten der sogenannten Dritten Welt leben, daß zwischen verschiedenen Mächten über die Neuverteilung hinsichtlich der Ausbeutung dieser Welt nur nachgedacht wird. ({16}) Im Ausgleich mit der sogenannten Dritten Welt muß Europa und kann auch die Bundesrepublik Deutschland eine positive Rolle spielen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({17})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Bahr.

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor einer Woche hat der Bundeskanzler hier verspätet eingeräumt, daß es bisher einen Feind gab. Aber es stimmt: Wir haben keinen Gegner, keinen Feind mehr. Kaum etwas kennzeichnet die vollständig veränderte Lage besser als die verrückte Tatsache, daß die sowjetische Elitearmee auf dem Territorium der NATO in Deutschland steht, obwohl die NATO doch gerade das immer verhindern wollte. ({0}) Und niemand ist deswegen beunruhigt. Der Ost-West-Konflikt ist zu Ende. Die deutsche Teilung ist zu Ende. Die Teilung Europas ist zu Ende. Ein verspätetes Geschenk des Ost-West-Konflikts ist der Abrüstungsvertrag, der Anfang dieser Woche in Paris unterzeichnet wurde. Sein Ziel war, ein Gleichgewicht konventioneller Waffen zwischen NATO und Warschauer Vertrag zu erreichen. Dieses Ziel ist auf dem Papier erreicht, in der Realität verfehlt. Wer mehr hat, soll mehr abrüsten. Das war die anerkannte Regel zwischen Ost und West, ({1}) um ein Gleichgewicht zu schaffen, das auf der Basis der deutschen Teilung ausgerichtet wurde. Die Stabilität europäischer Streitkräfte sollte um die deutsche Teilung herum ausbalanciert werden. Wenn das funktioniert hätte, wäre der jetzt unterzeichnete Vertrag ein Riesenerfolg der Entspannungspolitik geworden. In den nicht einmal 20 Monaten der Verhandlungen sind die Grundlagen verlorengegangen. Der Vertrag kam in dem letzten geschichtlich möglichen Augenblick, in dem die Staaten des Warschauer Vertrages noch als Staaten des Warschauer Vertrages Rüstungsverpflichtungen übernehmen konnten und wollten - mit Ausnahme der DDR, die schon nicht mehr unterzeichnet hat, weil es sie nicht mehr gibt. Aber die Warschauer Vertragsorganisation ist keine militärische Einheit mehr. Jeder weiß, daß Polen, die CSFR und Ungarn nicht mehr gemeinsam mit der Sowjetunion auf die östliche Waagschale geworfen werden können. Ihre frei gewählten Regierungen definieren ihre Sicherheitsinteressen selbst. Sofern sie ihre Unabhängigkeit aus dem Osten bedroht sähen, würden sie sie östlich von Deutschland behaupten. Aber selbst eine solche Überlegung ist veraltetes Denken aus der Zeit der Konfrontation. Jedenfalls wird das Verschwinden der bisherigen östlichen konventionellen Überlegenheiten nicht das erstrebte Gleichgewicht, sondern eine neue Asymmetrie zugunsten des Westens bringen. Es wird politisch von großer Bedeutung für die weitere Entwicklung in Europa sein, daß die alte Gleichung „NATO gegen Warschauer Vertrag" sich nicht auf eine Gegenüberstellung von NATO und Sowjetunion reduziert. Denn auch die NATO hat keinen Feind mehr. ({2}) Die Sowjetunion, unser Sicherheitspartner, braucht die neue Entwicklung nicht zu stören. Unter- und Überlegenheiten bei Stückzahlen von Waffen sind in Europa politisch irrelevant geworden. Sie waren auch früher nicht so wichtig, wie sie hier gemacht wurden, weil sie ohnehin militärisch nicht mehr benutzbar waren. Zu den kleinen Schönheitsfehlern des Vertrages gehört die Festsetzung von Obergrenzen, die den NATO-Staaten bei einigen Waffenkategorien sogar Aufrüstung gestatten. Deutschland ist die Ausnahme. Wir werden, da uns die NVA glücklicherweise zugerechnet wird, prozentual weit an der Spitze der Abrüstung liegen. ({3}) Unsere Verbündeten werden wohl nicht so verrückt sein, ohne Feind weiterzurüsten. ({4}) Auch daß der Westen letztlich weniger Verifikation wollte, als er im Ansatz gefordert hat, zeigt die Veränderung der Lage. Das bedeutendste Abrüstungsabkommen der Geschichte ist durch die Geschichte überholt worden, schon am Tage der Unterschrift. ({5}) Das mindert nicht das berechtigte Lob für die große und engagierte Arbeit, die Beamte aus allen beteiligten Staaten geleistet haben, übrigens auch aus der DDR. Im Unterausschuß für Abrüstung und Rüstungskontrolle hatten wir Gelegenheit, Zivilisten und Soldaten schätzenzulernen, die Phantasie mit dem Willen zum Erfolg verbanden. Wir dürfen uns auch an die Vorgeschichte dieses Vertrages erinnern, an das Signal von Reykjavik, aber die Vorgeschichte beginnt spätestens in Oreanda 1970, als Bundeskanzler Brandt und Generalsekretär Breschnew vereinbarten, daß der politischen Entspannung die militärische folgen muß. Reduktion der Streitkräfte ohne Nachteil für die Beteiligten, das war die Formel, aus der die jahrelangen Verhandlungen in Wien über ausgewogene Truppenverminderung wurden. Immer weiter getriebene Waffenprogramme, konventionell wie atomar, qualitativ wie quantitativ, unterminierten das schon erreichte Vertrauen. Das ging so weit, daß ein amerikanischer Präsident 1976, Gerald Ford, also ein Jahr nach der Helsinki-Schlußakte, feststellt, Détente sei im amerikanischen ein Fremdwort, womit er sprachgeschichtlich wohl sogar recht hatte. Rüstungen und Gegenrüstungen haben die sinnlose Fähigkeit zum Kriegführen ausgebaut, und die Wirksamkeit der Helsinki-Schlußakte gebremst. Die äußere Drohkulisse hat die innere Dynamik behindert, in der Gesellschaften zu Reform und Demokratie drängten. ({6}) Die Rückschläge in Polen Anfang der 80er Jahre sind unvergessen. Die Historiker werden zu entscheiden haben, ob die Rüstung so notwendig war oder, umgekehrt, ob sie nicht gerade marode Regime stabilisiert hat. ({7}) Graf Lambsdorff, ich bin jedenfalls der Meinung, daß für die heutige Lage Gorbatschow wichtiger war als der Doppelbeschluß. ({8}) Europa kann durch Rüstung der vergangenen Jahre auch kostbare Zeit verloren haben. Abrüstung ist ein Schlüssel für Menschenrechte, mehr Freiheit und Reformen. Daran erinnern heißt fordern: Es muß erreicht werden, daß Rüstung und Modernisierung nie wieder ein Eigenleben gewinnen und neue Spannungen produzieren. ({9}) Es darf kein neuer Wettlauf mit qualitativ neuen Waffensystemen entstehen, die neue militärische Optionen eröffnen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Bahr, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Knabe?

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bahr, Sie haben den Einsatz von Gorbatschow und den Doppelbeschluß verglichen. Aber war nicht eine wesentliche Voraussetzung die langjährige Arbeit der Friedensbewegung, die auch im Osten Vertrauen erzeugt hat, daß hier im Westen Menschen leben, die sie nicht vernichten wollen, die sich nicht angreifen wollen, sondern die für eine Verständigung insgesamt eingetreten sind?

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe schon früher gesagt, daß es einen Zeitpunkt gegeben hat, in dem man die Friedensbewegung hätte erfinden müssen, wenn es sie nicht gegeben hätte. ({0}) Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß Forschungsprogramme und Entwicklungsprogramme weiterlaufen. Wenn wir es nicht schaffen, da einen Deckel draufzusetzen, hat Europa auf Sand gebaut. ({1}) Verhandlungen mit dem Ziel Stopp der Modernisierung müssen nun beginnen. Die beiden bisherigen Seiten dürfen je 20 000 Panzer behalten. Wer braucht gegen wen 40 000 Panzer, da niemand mehr Gegner und Feind hat? ({2}) Die zügige Fortsetzung der Verhandlungen zur Fortsetzung der Abrüstung ist geboten. Geboten ist die Überprüfung aller Rüstungsprogramme. Gegen wen sollen die Panzer rollen, die in den nächsten vier Jahren vom Band rollen sollen? - Wirtschaftlicher Unsinn muß gestoppt werden, um den politischen Unsinn einer neuen Drohkulisse zu verhindern. ({3}) Hier kann sich die neue Souveränität des größeren Deutschland bewähren. Es wird gar nicht billig, den Schutt des alten Konflikts wegzuräumen, aber das darf doch kein Grund sein, neuen Schrott zu produzieren! ({4}) Wenn 1994 alle sowjetischen Streitkräfte hinter der sowjetischen Grenze stehen werden, reduziert und kontrolliert, dann werden die Amerikaner bedeutend weniger als 100 000 Mann haben, die Engländer stark reduziert haben, die Franzosen vielleicht abgezogen sein. Andere Verbündete auf deutschem Boden werden sich ähnlich entscheiden. Polen will seine Streitkräfte auf 130 000 Mann reduzieren, die CSFR auf 60 000. Deutschland wird dann 370 000 Mann haben, ({5}) und unsere Nachbarn werden fragen: Wozu braucht ihr soviel? In der Tat: Wir werden nicht mehr brauchen als alle unsere Nachbarn zusammen, die ja weder Gegner noch Feind sind. „Sicherheit für Deutschland und Sicherheit vor Deutschland" wird ein Kriterium der europäischen Stabilität sein, die eben nur im gesamteuropäischen Rahmen zu finden sein wird. Da also weitere Abrüstung erwünscht und möglich ist, wird die Bundeswehrplanung schon jetzt darauf einzurichten sein, daß es nicht bei 370 000 Mann bleibt. ({6}) Die Bundeswehr steht vor der größten Reform, seit es sie gibt. ({7}) Da man den Streitkräften nicht alle vier Jahre eine neue Struktur verordnen kann, sollten die jetzt fälligen Entscheidungen so getroffen werden, daß weitere Reduktionen mitgedacht werden. ({8}) Ich nenne einmal die Richtzahl von 250 000, ({9}) die unter- oder überschritten werden kann, je nachdem, wie wir das im Verbund mit unseren Nachbarn beschließen. Streitkräfte brauchen eine sinnvolle und erfüllbare Aufgabe, sonst passiert, was wir bei der sowjetischen Armee in Ostdeutschland sehen. Unsere Sorge vor ihr ist zu einer Sorge für sie geworden. Was also wird die Aufgabe der Bundeswehr? Eine ist sicherlich, die Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums zu schützen. Da wird dann die Frage zu stellen sein, ob Deutschland so stark aus dem Westen bedroht wird, daß es die Masse seiner Streitkräfte im Westen haben muß. Zwei Drittel des deutschen Territoriums bildet die ehemalige Bundesrepublik, ein Drittel bildet die ehemalige DDR. Im Augenblick ist vorgesehen, daß sechs Siebtel der Bundeswehr im alten Westen, ein Siebtel im alten Osten stehen. ({10}) Das macht keinen Sinn. Wer für die neuen Bundesbürger gleiche Rechte und Pflichten will, weil nur so die Einigung der Deutschen zu vollenden ist, wird ihnen auch gleiche Belastungen bei den Streitkräften zumuten oder zubilligen. ({11}) Aber da wir ja auch im Osten keine Gegner oder Feinde mehr haben, gegen die wir die Bundeswehr konzentrieren müßten, wird sich für die Bundeswehr eine so ausgewogene Stationierung empfehlen, daß weder im Westen noch im Osten deutsche Hintergedanken vermutet werden können. Eine territorial ausgewogene Verteilung von Streitkräften, die im wesentlichen territoriale Aufgaben haben - das ist die Richtung für die deutschen wie für die Streitkräfte unserer europäischen Nachbarn. Eine zweite Aufgabe der Bundeswehr wird sein, ihren Beitrag im und zum Verbund der europäischen Sicherheit und der dafür aufzubauenden Strukturen zu leisten. Zum Schutt aus den Zeiten der Konfrontation und Bedrohung gehören die Atomwaffen auf unserem Boden. Mit dem INF-Vertrag wurden landgestützte weitreichende Mittelstreckenraketen verboten. In kurzer Zeit wird es keine solchen Waffen mehr geben, die vom Boden der NATO-Staaten aus die Sowjetunion erreichen können. Gleiches gilt umgekehrt für sowjetische Atomwaffen mit europäischen Reichweiten. Was zu regeln bleibt, sind weitreichende Raketen, die aus der Luft oder von Schiffen aus gegeneinander gerichtet werden können. Ich denke, es ist klar: Sie müssen weg, und neue zu entwickeln ist sinnlos. ({12}) Falls sie in Amerika noch entwickelt werden sollten, was unwahrscheinlich geworden ist, sollte die Bundesregierung erklären, daß sie jedenfalls nicht in Deutschland stationiert werden. ({13}) Sie würden nicht in die Landschaft passen, in der Sicherheit in Europa gemeinsam mit dem Partner hergestellt wird. Wir haben ja in der letzten Woche vertraglich festgelegt, daß auch die Sowjetunion zu diesen Partnern gehört. Dann gibt es noch die Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen. Sie können noch die Tschechen bedrohen; oder die Bundesregierung, falls sie nach Berlin zieht. ({14}) Auch unsere französischen Freunde werden sich zu fragen haben, ob die größere Reichweite, die sie mit der Hades statt der Pluton gewinnen wollten, noch irgendeinen politischen oder militärischen Sinn macht. Denn wem soll es nützen, Dresden oder Rostock oder Prag treffen zu können? Seit der Bundeskanzler Ostdeutschland endgültig zur atomwaffenfreien Zone gemacht hat, verdient er nicht nur den Glückwunsch der Sozialdemokraten, die das schon lange wollten, sondern er steht auch vor der grundsätzlicheren Frage: Soll das geeinte Deutschland in der Sicherheit geteilt bleiben? Wir können für die Westdeutschen weder mehr noch weniger Sicherheit wollen oder haben wie für die Ostdeutschen. Gegen wen oder was sind Atomwaffen noch zu begründen? ({15}) Unsere alte Forderung „keine Atomwaffen auf dem Gebiet von Staaten, die darüber nicht verfügen" muß jetzt verwirklicht werden. ({16}) Von Norwegen bis nach Griechenland zieht sich nun ein atomwaffenfreier Korridor. Es täte Europa gut, wenn er durch das Gebiet der alten Bundesrepublik etwas erweitert wird. Als Sozialdemokraten nach der zweiten Null-Lösung die nächste forderten, erklärte der Bundeskanzler: Die dritte Null-Lösung gibt es nur über meine Leiche. Nun ist die dritte Null-Lösung fällig. Helmut Kohl wird sie, falls er Kanzler bleibt, machen und sich dennoch seines Lebens freuen. ({17}) - Nun warten Sie doch einmal ab! Sie haben ja schon erlebt, daß der Bundeskanzler die zweite Null-Lösung akzeptiert hat. Heute war er sogar stolz, daß er die Pershing I zugesagt hat. Das waren doch alles sozialdemokratische Forderungen, die mit Verspätung akzeptiert wurden. ({18}) Wir erwarten von der Bundesregierung, daß sie auf den zugesagten Beginn der nuklearen Verhandlungen drängt und sich für eine Null-Lösung einsetzt, die keine Stationierungsart - auch nicht die Stationierung von Flugzeugen - ausschließt. Es dürfen keine neuen Grauzonen entstehen. Die Fähigkeit zum Kriegführen mit Atomwaffen muß endgültig beseitigt werden. ({19}) Die neugewonnene Souveränität sollten die Deutschen als Gewicht gerade dafür einsetzen. Seit Jahren haben wir eine neue Strategie der NATO gefordert, die an die Stelle der Abschreckung gemeinsame Sicherheit durch Sicherheitspartnerschaft setzt. Das ist nun Politik des Bündnisses geworden. Die Chemiewaffenfreiheit kommt für Europa, auch wenn es die weltweite Ächtung noch nicht gibt. Hinlängliche Verteidigung und strukturelle Angriffsunfähigkeit - diese komplizierten Begriffe werden nun erlebbare Wirklichkeit; eigentlich Grund genug, die Regierung zu preisen, daß sie erreicht hat, wogegen sie immer gekämpft hat. ({20}) Nun reicht die NATO der Sowjetunion die Hand zur Freundschaft. So weit sind Sozialdemokraten nie gegangen. Aber wir begrüßen das natürlich trotzdem. ({21}) Es gab noch eine erstaunliche Veränderung. Aus dem früheren Vorwurf an die SPD, sie mache sich mehr Sorgen um die Sowjetunion als um uns, ist eine gemeinsame Sorge geworden. ({22}) Die deutsche Frage ist durch die russische Frage abgelöst worden, wenn von potentieller Instabilität in Europa gesprochen wird. Wir alle wünschen, daß Perestroika und Glasnost erfolgreich sein mögen. Aber das Zerbrechen der alten Identität von Partei und Staat ist dort noch schwieriger als in allen anderen Staaten, in denen sich eine Partei einen Staat, ein Parlament, eine Regierung hielt, weil es dort eben keine Strukturen und keine Traditionen gibt, an die sich die Gesellschaft noch erinnern könnte. Sehr viele suchen ihre Identität in der Nationalität. Wenn Europa den Völkern der Sowjetunion helfen will, damit die Nationen, wie hier, nicht mehr das Maß aller Dinge bleiben oder werden, dann müssen wir die europäische Aussicht eröffnen. „Einbinden und nicht Ausgrenzen" muß die Devise sein. Europäische Sicherheit - so haben wir immer gesagt - ist nicht ohne oder gegen Amerika, aber eben auch nicht ohne oder gegen die Sowjetunion zu garantieren. ({23}) Niemand weiß, ob es gelingt, die Sowjetunion zu einem Bundesstaat oder einem Staatenbund umzuformen; aber wir haben keine Zeit, das abzuwarten. ({24}) Auch deshalb müssen die Verhandlungen schnell fortgesetzt werden, weil die Sowjetunion mit weiteren Verträgen verpflichtet werden sollte, solange es die Sowjetunion noch gibt. ({25}) Wird der Grundriß des europäischen Hauses schnell genug und verbindlich genug festgelegt, um für die Nationen in Osteuropa annehmbar und glaubwürdig zu werden, oder läuft die Desintegration dort schneller, als die europäische Integration wächst? Die Antwort auf nationale und nationalistische Ambitionen heißt Europa. Die sowjetische Armee kann die Probleme des Landes nicht lösen. Die Unsicherheiten dort dürfen nicht zur Ersatzbefriedigung in Brüssel werden, um nach neuen oder Restbedrohungen zu suchen. Es gibt auch außerhalb Europas keinen Konflikt, der neue Rüstungen rechtfertigt. Was immer in der Sowjetunion passiert - der Westen wird es nicht mit Waffen lösen können. ({26}) Den strategischen Atomschirm halten die Amerikaner aufgespannt. Gerade auch in diesem Zusammenhang wird eine fundamentale Änderung der Situation klar: Die Politik der Stärke ist zu Ende. ({27}) Genauer gesagt: Auch die Konservativen sagen das endlich. Gescheitert war ({28}) die Politik der Stärke schon in Vietnam und in Afghanistan. ({29}) Und wenn ich die letzten dreißig Jahre überblicke, sehe ich nicht, daß Politik der Stärke in der Dritten Welt Erfolg haben kann. ({30}) Wir halten den Platz frei für die Staaten Osteuropas ({31}) für den Augenblick, in dem sie selbst bestimmen können. So hieß es am Anfang des Gemeinsamen Marktes. In Paris haben die frei gewählten Repräsentanten Ungarns, Polens und der Tschechoslowakei deutlich gemacht: Jetzt ist dieser Augenblick gekommen. Die jahrzehntelange Aufforderung des Westens, der Osten sollte seine Fenster nach Europa öffnen, darf nun, da dies geschieht, nicht damit beantwortet werden, daß die EG ihre Fenster schließt. ({32}) Wenn Europa näher zusammenrückt, darf der Atlantik nicht breiter werden. Noch ist die NATO das einzige völkerrechtliche Instrument für die amerikanischen Verpflichtungen in Europa und die Kontrolle Deutschlands. Verbindungen, Beziehungen, Zusammenarbeit bis hin zu institutioneller Art können auch die NATO zu einem europäischen Sicherheitssystem wachsen lassen - vielleicht unter anderem Namen -, das dann aber auch die Sowjetunion nicht ausschließen dürfte. ({33}) Es ist noch offen, ob die Entwicklung diesen Weg nimmt oder ob die KSZE neue europäische Strukturen entwickelt und völkerrechtlich verbindlich macht, die dann die NATO entbehrlich werden lassen. Europäische Strukturen brauchen wir jedenfalls, verläßliche Institutionen, damit die beschlossene Sicherheitsge18890 meinschaft der Europäer unzerbrechbar wird, geschützt gegen jeden Rückfall und gegen Abenteurertum. Hier bringt Paris zu wenig, weniger, als die Bundesregierung wollte. Ein Auftrag zur Ausarbeitung eines Vertrages für eine Nachfolgekonferenz 1992 ist leider nicht erteilt worden. Hier muß Bonn am Ball bleiben. Wer am Ende des Ost-West-Konfliktes alles überprüft, was zu seiner Überwindung nötig gewesen sein mag, stellt nun neue Risiken fest: die Instabilität, die durch wirtschaftliche Verrottung zu Not und Mangel führt, wie in Ländern der Dritten Welt. Dagegen helfen keine Waffen. Wenn Europa der Kontinent der Demokratie wird, dann wird er der Kontinent des Friedens. Die beste Friedensgarantie für uns ist eine demokratische Sowjetunion. Die Staaten Ost- und Südosteuropas müssen Erfolg bei ihrer Demokratisierung haben. Dazu helfen keine Waffen. ({34}) Die Menschen in Osteuropa werden nicht anders reagieren als die Menschen in der DDR: Wenn die Waren nicht zu den Menschen kommen, gehen die Menschen zu den Waren, sofern sie können. ({35}) Wir sind ja für Bewegungsfreiheit, oder? Russische Beobachter rechnen in Millionen-Ziffern. Das wird doch nur zu verhindern sein, wenn die Menschen begründete Hoffnung haben können, daß es zu bleiben lohnt. Auch für diese Hoffnung helfen keine Waffen. ({36}) Vom 1. Januar an soll es Reisefreiheit für die Bürger der Sowjetunion geben. Sie werden nicht nur nach Polen, in die Tschechoslowakei, Ungarn und Österreich reisen. Die Aufrufe zur Hilfe sind richtig. Das erfreuliche Echo darf nicht verhallen; also muß die Hilfe dorthin kommen, wo sie gebraucht wird. Die verstopften Eisenbahnverbindungen sind dafür keine Garantie. Es gibt genug Transportkapazität bei der sowjetischen Luftwaffe in Deutschland und bei der deutschen Luftwaffe; es gibt auch genügend Flugplätze. Vorbereitungen für eine Luftbrücke der europäischen Sicherheitspartner könnten noch vor Weihnachten getroffen werden. ({37}) Für die neuen Herausforderungen sind wir kaum vorbereitet. Unsere Sicherheit wird nicht mehr durch Waffen bedroht, sondern durch wirtschaftliche Existenzfragen unserer Partner. Das bedeutet: Bisher war der Preis für die Sicherheit die Rüstung. Jetzt ist der Preis für die europäische Stabilität die Hilfe. ({38}) Wir brauchen neben den Sofortmaßnahmen Krisenzentren gegen Konflikte, die sich aus Wanderungsbewegungen, nationalistischen Gegensätzen, Autonomiebestrebungen von Minderheiten und Separation ergeben, alles verstärkt durch wirtschaftliche Hoffnungslosigkeit. Zur Bewältigung dieser sich entwikkelnden Krisen brauchen wir Management - europäisch -, Hilfen - europäisch - und Programme und Politik - europäisch -; dazu brauchen wir Institutionen, die Europa vernetzen, zu einem Raum machen, in dem gleiche Regeln der Demokratie, des Rechtes und der wirtschaftlichen Verläßlichkeit herrschen. Wir müssen aus der Schlußakte von Helsinki einen verbindlichen Vertrag machen. ({39}) Europa hat eine Chance wie nie zuvor in seiner Geschichte: Die Friedensordnung, von der wir so lange als Ziel gesprochen haben, ist zur praktischen Aufgabe geworden. Lassen Sie mich am Schluß meiner letzten Rede im Deutschen Bundestag für viele Anregungen, sogar Aufregungen danken, die 18 Jahre mit sich bringen, und für Erfahrungen bei Erfolgen und Mißerfolgen. Sollte ich jemanden unwissentlich verletzt haben, bitte ich um Verzeihung, sollte ich jemanden willentlich verletzt haben, um Nachsicht; auch ich hatte einiges einzustecken. ({40}) Allen Kolleginnen und Kollegen, die nicht wiederkehren, wünsche ich Gesundheit und sinnvolle Erfüllung; allen, die wiederkommen, eine glückliche Hand bei den großen und schönen Aufgaben, vor denen wir gemeinsam stehen. ({41})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wie der Kollege Westphal heute morgen schon gesagt hat, werden alle ausscheidenden Kolleginnen und Kollegen in gebührender Form noch von der Präsidentin verabschiedet, so daß ich es mir verkneifen muß, jetzt eine Bemerkung zu machen. Das Wort hat der Abgeordnete Professor Hornhues. ({0})

Prof. Dr. Karl Heinz Hornhues (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000960, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, meine sehr geehrten Damen und Herren, Herr Kollege Bahr, alles Gute! Wir haben uns manchmal über Sie geärgert, ({0}) Manchmal haben wir auch durchaus anerkennend, auch wenn's nicht laut war, gedacht: Nicht schlecht gemacht! Gefreut hätten wir uns heute, wenn Sie den Ball von Graf Lambsdorff so ganz am Ende doch noch aufgegriffen hätten und vielleicht das, was Sie ja gemeint, aber nicht so deutlich gesagt haben, was auch Herr Kollege Ehmke gemeint hat und nicht sagen wollte, als er den Beamten der Ministerien dankte, die Größe gehabt hätten zu sagen: Danke schön auch an diejenigen, die oben auf den Ministerien sitzen, dem Bundeskanzler, dem Bundesaußenminister und dem Verteidigungsminister. Es hätte dazu gehört, es wäre schön gewesen, aber was soll's. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die CDU sieht in den Ergebnissen von Paris den krönenden Abschluß von zwölf Monaten, die - da muß ich dem Kollegen Lambsdorff recht gegen - soviel an Ereignissen gebracht haben, daß man immer wieder innehalten möchte, um zu begreifen, was sich eigentlich alles getan hat und wo viele unserer Bürger Mühe haben mitzubekommen, was sich in welchem Tempo eigentlich tut. Das Schöne an all diesen Ereignissen aber ist, was selten geschieht, daß man im Grunde immer wieder ja sagen kann zur Entwicklung und sich freuen kann über die Entwicklung, die wir erlebt haben: Freie Wahlen in Polen, Ungarn zerreißt den Eisernen Vorhang, Fall der Mauer, Helmut Kohl nimmt Ende November, vor gut einem Jahr, Kurs auf die deutsche Einheit mit dem Zehn-Punkte-Plan, Vaclav Havel, der Mann, der die Helsinki-Erklärung zu seiner Standarte für Freiheit gemacht hat, wird Präsident der Tschechoslowakei. Zwischen Kohl und Gorbatschow wird vereinbart, daß die sowjetischen Truppen Deutschland verlassen, sie gehen nach Hause, in ihre Heimat zurück, Deutschland bleibt insgesamt in der NATO. Der Höhepunkt für uns Deutsche ist der 3. Oktober. Wir gewinnen, was kaum einer für sich und seine aktive Zeit noch hat erwarten können, die deutsche Einheit, und jetzt die Charta von Paris, wo am Vorabend das umfassendste Abrüstungsabkommen unterzeichnet wurde, das es bisher gegeben hat. Die Superlative in der Presse sind so zahlreich, daß ich nicht den Versuch machen möchte, noch einiges hinzuzufügen. Aber es bewegt einen dann doch, wenn nach all den Jahren, die hier skizziert und beschrieben worden sind, es in Paris von den Regierungs- und Staatschefs unterzeichnet, feierlich heißt, daß sie in dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen wollen. Meine sehr geehrten Damen und Herren, das sagen wir heute so locker daher. Herr Kollege Bahr, wir haben dabei nicht mal mehr Interpretationsprobleme, was dies denn heißen könnte, weil alle Seiten im Grunde gar nicht versuchen, zu interpretieren. Darin sehe ich den größten Fortschritt, den wir erreicht haben, nämlich einen ungeheuren Zuwachs an wechselseitigem Vertrauen. Wir vertrauen darauf, daß die andere Seite, die unterzeichnet hat, es genauso versteht, wie wir es verstehen, und dies sehe ich als den ganz großen Gewinn, der dann in solchen Sätzen seinen Niederschlag findet. Wenn ich mich an so manche Interpretationsstreitereien, die wir in der Vergangenheit haben durchführen müssen, erinnere, dann weiß ich, was es heißt, dies so sagen zu können. Wir haben das Vertrauen, daß alle, die unterzeichnet haben, das gleiche meinen. Der Pariser Gipfel ist unserer Auffassung nach in einem zentralen Punkt von, wie ich glaube, wegweisender Bedeutung. Er ist einerseits Schlußpunkt unter, wenn Sie so wollen, das alte Europa. Er ist aber auch Anfangspunkt für ein neues Europa. In der Charta von Paris wird dies deutlich. Wenn alle 34 Staats- und Regierungschefs das, was wir immer unter Rechtsstaatlichkeit und pluralistischer Demokratie verstanden haben, als das sie jetzt Verbindende bezeichnen, wenn schon damals in Bonn vereinbart worden ist, daß man die gleiche ökonomisch-gesellschaftliche Ordnung gemeinsam realisieren wird, dann ist die Charta von Paris das Manifest für das neue Europa, das es jetzt entscheidend zu gestalten gilt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, unserer Auffassung nach steht jetzt im Vordergrund, denjenigen, die zu uns gefunden und die die Chance ergriffen haben, sich für Freiheit und Demokratie zu entscheiden, als sie die Chance zur Entscheidung bekamen, zu helfen und sie zu unterstützen, damit dies auf Dauer verwirklicht werden kann. Denn noch ist nicht sicher, daß das, was im Pariser Dokument steht, überall sicher bleiben wird. Die jungen Demokratien und diejenigen, die Demokratien werden wollen und auf dem Weg dahin sind, kämpfen mit größten Schwierigkeiten. Es ist nicht nur eine Frage von „Man muß helfen, wenn man die Möglichkeit dazu hat" . Es ist nicht nur eine Frage von Solidarität, oder wie immer man dies bezeichnen will. Es ist vielmehr - ich betone das - zutiefst in unserem Interesse - ein egoistisches Interesse, wenn Sie so wollen - , daß wir nun alles tun, was in unseren Kräften steht, um die jetzt aktuellen und konkreten Schwierigkeiten, die im wesentlichen im ökonomischen Bereich liegen, überwinden zu helfen. Denn, Herr Kollege Bahr, wenn dies gelingt - dies muß gelingen - , dann wird manche Frage auch im Blick auf Waffen mit jedem Monat, der vergeht, anders zu beantworten sein. Ich glaube, meine sehr geehrten Damen und Herren, daß wir all unseren Mitbürgern zu Dank verpflichtet sind, die sich längst aufgemacht haben, um angesichts der Meldungen, die aus der Sowjetunion kommen, wie früher und auch noch heute in Polen und anderswo Hilfe zu leisten. Sie fragen: Wo ist die nächste Anschrift, wo man helfen kann? Man sollte bei einer solchen Übertragung im Fernsehen laufend Kontonummern einblenden, damit diejenigen, die spenden möchten, wissen, wohin sie etwas geben können. Ich begrüße nachdrücklich, daß inzwischen alles eingeleitet worden ist, um die Probleme, die entstehen könnten, zu bewältigen. Wenn mehr getan werden muß, dann muß dies auch geschehen. Das Ganze muß bewältigt werden, damit Osteuropa, damit die Sowjet18892 union nicht im Chaos versinkt. - Dies ist der erste Punkt. Der zweite Punkt ist, daß wir den Ländern Mittel- und Osteuropas, die jetzt im Grunde das wollen, was wir haben, nämlich eine Struktur, die für uns immer Soziale Marktwirtschaft hieß, auf allen Ebenen helfen, diese im ökonomischen Bereich zu erreichen, zu gestalten und durchzuführen. Wir haben damit keine großen Erfahrungen. Wir haben erste Erfahrungen im Zusammenleben im neuen, im größeren Deutschland. Diese werden wichtig sein. Der dritte Schritt wird sein - Herr Kollege Bahr und Herr Kollege Lambsdorff, da gebe ich Ihnen recht -, daß wir allen Ländern Mittel- und Osteuropas, die wollen, die Perspektive eröffnen, mit uns gemeinsam im gleichen Verbund, d. h. EG-assoziiert oder auch weitergehend, zusammenzuleben. Diese Perspektive muß entwickelt sein, weil sonst das, was gelingen muß, nur schwer erreichbar sein wird. Gelingen muß, daß es für die Menschen in Mittel- und Osteuropa eine Zukunft gibt, daß es für sie Hoffnung auf Zukunft im eigenen Land gibt. Denn wir müssen wissen: Wenn es diese Perspektive - Hoffnung auf Zukunft im eigenen Land - nicht gibt, dann werden wir allerdings damit rechnen müssen, daß weitere Millionen ihre Zukunft verzweifelt in einem anderen Land suchen werden. Es ist zutiefst in unserem Interesse, wenn wir da mit allem, was wir haben, helfen. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir begrüßen die Vereinbarungen von Paris: das Konfliktverhütungszentrum, das in Wien eingerichtet werden soll, und das Sekretariat in Prag. Ich möchte anregen, daß auch wir - der Deutsche Bundestag - in der nächsten Legislaturperiode einmal darüber nachdenken, ob wir mit unserem klassischen Ausschußinstrumentarium den Herausforderungen gewachsen sind, ob wir da nicht neu gewichten müssen und ob wir uns angesichts des Drängens bestimmter Aufgaben nicht etwas anderes als das bisher Bestehende einfallen lassen müssen. Ich glaube, der Bundeskanzler hat zu Recht angeregt, daß es höchste Zeit wird, die parlamentarische Kontrollücke in Europa, in der Europäischen Gemeinschaft, zu schließen. Wir unterstützen dies nachhaltig. Wir sollten, so meine ich, genauso darauf hinwirken, eine parlamentarische Begleitung des KSZE-Prozesses zu schaffen. Wir sollten kontinuierliche Parlamentariertreffen im Rahmen der KSZE als Ergänzung zu den Bemühungen innerhalb der IPU und zu den Bemühungen im Europarat einrichten. Denn, meine sehr geehrten Damen und Herren, ich habe in den letzten Monaten gelernt - ich bitte all diejenigen um Nachsicht, die sich im Europarat und anderswo engagieren - , daß der „Klub der Internationalisten", wenn sie so wollen, zu Hause oft zu schwach ist, um das, was er denkt, meint und für richtig hält, auch durchzusetzen. Deswegen will ich anregen, daß ein solches permanentes KSZE-Parlamentariertreffen zu den jeweiligen Themen aus der Mitte des Hauses heraus, aus den Fachausschüssen heraus, von uns selber gestaltet wird und das nicht auf einige abgeschoben wird, die sich dann einmal wieder darum kümmern. ({3}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, für meine Fraktion möchte ich feststellen: Wir freuen uns. Wir freuen uns darüber, daß wir das alles so miterleben dürfen; denn es ist einfach schön, das miterleben zu können. Ich bekenne für mich ganz persönlich jedenfalls: Ich hätte es nicht geglaubt, hier stehen zu können und im Kopf diese Ereignisse zu haben. Ich hätte nicht geglaubt, dies noch erleben zu können. Deswegen bin ich doppelt froh und hoffe, daß ich auch beim nächsten Mal - so gut, wie es geht - wieder kräftig mitmischen kann. Ich möchte ein Letztes anmerken. Wir werden ja gleich eine interessante Debatte über Abgaben und ähnliche Riesenprobleme haben. Ich bitte die da beteiligten Kollegen um Nachsicht: Wir werden einmal nicht an dem gemessen werden, wie das mit der Abgabe, mit der Steuer oder mit dem, was da sonst noch anstehen mag, war, Herr Kollege Lafontaine. Wir werden daran gemessen werden, ob wir die Chance, die wir jetzt haben, nämlich ein neues, ein demokratisches Europa im Frieden mit immer weniger Waffen zu gestalten, mit Optimismus und mit Mut ergreifen. Man wird uns danach fragen, ob wir es schaffen oder ob nicht. Und daran werden wir gemessen werden. Ich bedanke mich. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Kottwitz.

Almut Kottwitz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001190, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ende der Blockkonfrontation gibt uns die historische Chance, die bisher durch den Rüstungswettlauf gebundenen materiellen und menschlichen Ressourcen einzusetzen, um die tatsächlichen Probleme anzugehen, denen sich die Menschheit heute gegenübersieht. Die ökologische Krise, der ungehemmte Raubbau des Menschen an der Natur wird in der Pariser Erklärung zwar angesprochen; aber ein rasches, abgestimmtes Handeln aller KSZE-Staaten wird nicht vereinbart, obwohl die Verschmutzung von Wasser, Boden und Luft in vielen Regionen Europas die kritische Grenze schon weit überschritten hat. Die vor einem Jahr in Sofia stattgefundene KSZE-Umweltkonferenz war nur ein erster, nicht ausreichender Schritt, die Umweltprobleme anzugehen. Die GRÜNEN in Europa setzen sich für eine KSZE-Umweltcharta ein, die alle Staaten völkerrechtlich verpflichtet, die Sauberkeit von Wasser, Boden und Luft, die Bewahrung unserer natürlichen Lebensgrundlagen zu garantieren. Ein gemeinsames Umweltsekretariat der KSZE-Staaten sollte geschaffen werden, das jährlich Berichte über die Umsetzung der Umweltcharta erarbeitet, wobei Nicht-Regierungsorganisationen gleichberechtigt zu beteiligen sind. ({0}) Die Umweltbeeinträchtigungen, die von militärischer Nutzung ausgehen, sind so immens, daß dies allein schon Grund genug ist, jegliches Militär abzuschaffen. ({1}) Wir begrüßen das Wiener Abkommen, weil jeder Panzer weniger ein Gewinn für den Frieden und die Umwelt ist. Aber in den Jubel über das Wunder von Wien können wir nicht uneingeschränkt einstimmen. Das östliche Militärbündnis besteht faktisch nicht mehr. Seine endgültige Auflösung ist nur noch eine Frage der Zeit. ({2}) Dagegen aber ist der Aufrüstungswille und die Steigerung des Rüstungsetats bei den NATO-Staaten ungebrochen. ({3}) - Bei uns heißt das: ein Rüstungsetat von 50 Milliarden DM, Jäger 90, Fortsetzung des Tiefflugterrors und neue luftgestützte atomare Abstandswaffen. Sind das die Kennzeichen westlicher Friedenspolitik, Herr Kittelmann? Um die friedenspolitische Bedeutung des in Paris unterzeichneten Vertrages zu ermessen, reicht es eben nicht aus, nur eine Verminderung bei Panzern und anderen Waffen zu sehen, aber gleichzeitig die stattfindende Modernisierung und Umrüstung zu verschweigen. Von dem Abkommen fast unberührt bleiben die Luftstreitkräfte. Auf Druck der NATO völlig ausgeklammert werden die Seestreitkräfte. Deren strategische Bedeutung wird aber gerade in diesen Tagen am Golf deutlich. Die besonders friedensgefährdenden Rüstungsexporte werden nach dem Pariser Abkommen sogar noch zunehmen. Schon jetzt verhandeln die USA mit der spanischen Regierung über den Verkauf von 485 nach dem VKSE-Vertrag abzurüstenden Panzern, und die Bundesrepublik exportiert altes NVA-Gerät in die Krisenregion am Golf. Es ist unverantwortlich und überhaupt nicht friedensfördernd, wenn die nach dem Vertrag zu reduzierenden Waffen in andere Teile der Welt exportiert werden. Sie müssen verschrottet werden, und zwar so schnell wie möglich. ({4}) Daher ist Rüstungskonversion eine der wichtigsten Aufgaben der Zukunft. Im Sinne des Wiener Abkommens wäre es folgerichtig, den aufgeblähten Rüstungshaushalt innerhalb der nächsten Legislaturperiode in einen Konversionshaushalt umzuwandeln. ({5}) Die aktuelle Krise am Golf zeigt, daß auch nach dem Abbau des Ost-West-Konfliktes die Gefahr von internationalen Krisen, ausgehend von regionalen Krisen, keineswegs gebannt ist. Wichtigstes Ziel bei der Regelung aller regionalen Konflikte muß die Wahrung der Gewaltlosigkeit und die Unterbindung der militärischen Intervention sein. Konflikte müssen durch Verhandlungen, z. B. durch eine internationale Nahostkonferenz, befriedet werden. Hier kann der KSZE-Prozeß durchaus als Beispiel dienen. Die ungerechte Weltwirtschaftsordnung und die fortbestehende ökonomische und politische Abhängigkeit der Länder des Südens werden in Zukunft Ursachen für vielfältige Konflikte bleiben. Hier muß die Außenpolitik der KSZE-Staaten gegenüber Ländern der Dritten Welt radikal geändert werden. Gerechte Rohstoffpreise einerseits und die Reduzierung von CO2 und Rohstoffverbrauch andererseits sind notwendig, damit die Schere zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden nicht noch weiter auseinanderklafft. Die Pariser Konferenz hätte hierzu den Vorschlag des Europäischen Parlaments zur Schaffung eines Europäischen Solidaritätsfonds zur Unterstützung der sogenannten Dritten Welt aufgreifen und unterstützen müssen. ({6}) Europa darf nicht zu einer exklusiven Festung der Reichen werden, die sich dann auch noch für Asylsuchende vor allem aus der Dritten Welt schließt. Wir sind sehr besorgt über die wachsende rassistische und chauvinistische Tendenz gegenüber den Immigranten und Flüchtlingen in Europa. Zu den in der Pariser Erklärung erwähnten Menschenrechten gehört auch der Schutz vor Verfolgung aus rassischen, religiösen und politischen Gründen. Deshalb muß in ganz Europa das Recht auf Asyl uneingeschränkte Gültigkeit haben. ({7}) Die GRÜNEN/Bündnis 90 wollen im Gegensatz zu den etablierten Parteien eine starke KSZE, die den Weg zu einer neuen europäischen Friedensordnung ohne Militärblöcke ebnet. Die dazu notwendige Institutionalisierung kann aber nicht aus einem Büro in Prag mit vier Beamten und einem selbst von Präsident Bush bescheiden genannten, mit nur drei Beamten ausgestatteten Konfliktverhütungszentrum in Wien bestehen. Das vorläufige Büro am Rande der Abrüstungsrunde in Wien ist Ausdruck davon, daß die KSZE offenbar auch weiterhin entgegen den salbungsvollen Reden auf der Pariser Konferenz eine nachgeordnete Rolle in Europa spielen soll. Ich komme zum Schluß. Wir fordern eine starke KSZE anstelle der NATO und eine gesamteuropäische ökologisch-ökonomische Vertrags- und Kooperationsgemeinschaft als politisches Gegengewicht zur wirtschaftlich übermächtigen EG. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mit großer Aufmerksamkeit der Rede unseres Kollegen Bahr zugehört. Er hatte heute Gelegenheit, ein Ergebnis zu würdigen in der West-Ost18894 Politik und in der Abrüstungspolitik, an dessen Zustandekommen er einen beachtlichen Anteil hat. Ich möchte ihm an dieser Stelle für viele Jahre gemeinsamen außenpolitischen Weges danken, auf dem unsere Gemeinsamkeit auch dann nicht verloren ging, wenn wir uns innenpolitisch nicht auf derselben Linie befanden. ({0}) Ich möchte an dieser Stelle meinem Fraktionskollegen Hoppe danken für sein stetiges Eintreten für den KSZE-Prozeß von der ersten KSZE-Debatte, die wir im Deutschen Bundestag hatten, bis auf den heutigen Tag. Lieber Herr Hoppe, das bleibt unvergessen. ({1}) Die Frau Kollegin Vollmer hat sich mit einer Rede verabschiedet, die dem entsprach, was ich zu ihren Reden immer gedacht habe: Ich kann ihr nicht in allen Punkten zustimmen, aber ich kann noch weniger ihr in allen Punkten widersprechen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir werden Sie alle hier vermissen. ({2}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, als 1975 die Schlußakte von Helsinki unterzeichnet wurde, war das eine Investition in die Zukunft. Das war Zukunftsvertrauen, was ausgedrückt wurde. Auch jetzt ist von uns wieder Zukunftsvertrauen verlangt. Es geht darum, daß wir nach dem bedeutsamen Ergebnis von Paris, der „Charta für das neue Europa", einen Stabilitätsbegriff in Europa entwickeln, der immer weniger militärisch definiert wird, bei dem die wirtschaftlichen, die ökonomischen, die ökologischen Fragen in den Vordergrund treten und bei dem wir erkennen, wie sehr Europa aufeinander angewiesen ist, wie sehr Europa zusammengehört. ({3}) Wir sind uns ja wohl auch alle bewußt, daß die Werte, zu denen sich nun alle Staaten Europas bekennen, nicht einen Sieg der einen über die andere Seite bedeutet, nicht einen Sieg des Westens über den Osten, sondern eine Besinnung des ganzen Europa auf eine gemeinsame Kultur- und Geistesgeschichte. Das ist wirklich ein Akt europäischer Selbstbesinnung. ({4}) Es ist letztlich ein freiheitliches Bekenntnis zu einem Europa, das nicht irgendein Europa sein soll, sondern ein Europa der Menschenrechte, ein Europa der Demokratie, ein Europa der freien Wahlen, ein Europa der Marktwirtschaft. Der Begriff „Sozialismus" fehlt in dem Dokument von Paris. ({5}) Man kann also sagen: Es ist wirklich ein durch und durch liberales Zeitalter, vor dem wir stehen. ({6}) Deswegen fühlen wir uns sehr wohl. Es ist schön, wenn der Mensch so sehr in den Mittelpunkt europäischer Politik gerückt wird, wie das hier geschieht, und wenn soziale Gerechtigkeit zu einem gemeinsamen Ziel aller Staaten gemacht wird, soziale Gerechtigkeit, die eine wesentliche Voraussetzung auch der wirtschaftlichen und politischen Stabilität jedes Staates ist. Wir müssen lernen, daß dieses Europa, wenn es eins sein soll, nicht mehr ein Europa der West-Ost-Beziehungen ist, wie ich überhaupt finde, daß West und Ost wieder mehr zu geographischen Begriffen werden sollten und nicht zu politischen und ideologischen Unterscheidungsmerkmalen. Wir können das Verhältnis zwischen den verschiedenen Staaten Europas nicht mehr allein durch Handelsbeziehungen und Zusammenarbeit definieren. Wir müssen gemeinsame Einrichtungen schaffen. Damit meine ich nicht die Institutionen, die wir jetzt mit dem Dokument von Paris geschaffen haben; die sind wichtig, damit dieses größere Europa handlungsfähig wird. Wir müssen gemeinsame Verbindungen, gemeinsame Räume, den gemeinsamen europäischen Rechtsraum, eine gemeinsame europäische Infrastruktur, einen europäischen Verkehrsraum, einen europäischen Energieverbund, einen europäischen Kommunikationsverbund schaffen. Das alles müssen Angebote der westlichen Staaten an unsere östlichen Nachbarn sein, um ihnen den Eintritt in die Marktwirtschaft im Rahmen ihrer Reformprozesse zu erleichtern. ({7}) Wir können ihnen die Entscheidungen, die sie intern zu treffen haben, nicht abnehmen. Wir können ihnen aber durch ein solches gesamteuropäisches Angebot die Durchführung dieser Entscheidungen erleichtern. Zu diesem Angebot muß auch die Offenheit unserer Europäischen Gemeinschaft für unsere östlichen Nachbarn gehören. In diesen Tagen hat mich ein Außenminister eines unserer östlichen Nachbarn gefragt, wie es mit der Beitrittsperspektive aussehe. Ich habe ihm gesagt: Wir haben durchaus nicht den Ehrgeiz, für immer das östlichste Land der Europäischen Gemeinschaft zu bleiben, sondern wir möchten gern sehen, daß diese Europäische Gemeinschaft das wird, was ihr Name ausdrückt: eine Gemeinschaft europäischer Demokratien, ({8}) eine Gemeinschaft europäischer, marktwirtschaftlich orientierter Länder. Sie heißt ja nicht Westeuropäische Gemeinschaft. Sie heißt Europäische Gemeinschaft. ({9}) Deshalb wird es wichtig sein, daß wir jetzt erkennen, daß in dieser neuen Phase des KSZE-Prozesses die Erwartungen des Ostens größer sein werden als die des Westens. Jetzt sind wir zur Leistung aufgefordert. Als wir 1975 im Deutschen Bundestag über die Schlußakte diskutierten, habe ich gesagt: Wenn diese Schlußakte Wirklichkeit wird, dann müssen nicht wir uns ändern, sondern unsere östlichen Nachbarn müssen sich ändern. Sie müssen das tun, was notwendig ist, um die hier übernommenen Verpflichtungen zu verwirklichen. Jetzt ist es an uns, darauf die Antwort zu geben. Auf die Reformpolitik des Ostens muß die Solidarität des Westens die gesamteuropäische Antwort sein. ({10}) Es ist ganz gewiß unser Ziel, diesen Reformprozeß unumkehrbar zu machen, aber es ist noch ein zerbrechlicher Prozeß. Es wird vieler Hilfe, großer Geduld und großer europäischer Solidarität bedürfen, damit die Unumkehrbarkeit Realität wird. Der Wille der Völker ist da, der Wille auch ihrer Repräsentanten ist da, aber die Fähigkeit, diesen Willen umzusetzen, können und müssen wir von hier aus unterstützen. Es ist das eine Europa, um das es geht. Es ist unser Europa. Was wir tun, ist auch eine Investition in die eigene, gemeinsame europäische Zukunft. Ich denke, daß die Politik des guten Beispiels des vereinigten Deutschlands sich gerade in dieser Frage bewähren muß. Wenn wir zeigen, daß wir die deutsche Einheit nicht als das Endziel unserer Politik betrachten, sondern daß für uns die deutsche Einheit ein wichtiger Schritt auf dem Wege zur Einheit Europas ist und daß wir deshalb über den großen Problemen, die wir mit der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Bundesländern haben, nicht vergessen, daß es noch größere Probleme östlich der deutschen Ostgrenze gibt. Dann werden wir auch in dieser Phase unsere europäische Bewährungsprobe bestehen. Wir haben uns auf dem Weg zur deutschen Einheit zu Recht für den europäischen Weg zur deutschen Einheit entschieden. Nun werden wir unter Beweis stellen, daß das vereinigte Deutschland diesen europäischen Weg weitergeht als einen gesamteuropäischen Weg, bei dem nicht vergessen wird, daß die Europäische Gemeinschaft die Grundlage unseres Handelns sein muß, daß sie der Stabilitätsanker für das ganze Europa ist, aber daß diese Europäische Gemeinschaft auch ein Angebot an alle Staaten Europas sein muß. Ich habe es sehr begrüßt, daß von allen Rednern die Bedeutung der Einbeziehung der Sowjetunion in dieses ganze Europa unterstrichen worden ist. Das ist wichtig, auch als eine Adresse an diesen großen Nachbarn im Osten, der so viel bedeutet für das Schicksal Europas, dessen Stabilität übrigens auch so viel bedeutet für das Schicksal Europas. Zu Recht ist gesagt worden, daß die Stabilität der Sowjetunion auch unsere Stabilität ist, die gesamteuropäische Stabilität. Deshalb ist der Aufruf, jetzt zu helfen, so wichtig: zu zeigen, daß für uns Solidarität eine Frage der Menschlichkeit ist, der guten Nachbarschaft, des guten Beispiels, daß wir aber darüber hinaus auch interessiert sind, über die aktuelle Hilfe hinaus das größere Europa zu schaffen durch die Verbindung von West und Ost in einem gemeinsamen europäischen Raum, der alle Aspekte des politischen, ökonomischen und menschlichen Lebens umfaßt. Meine sehr geehrten Damen und Herren, so ist der KSZE-Prozeß für uns Deutsche nicht nur ein europäischer Erfolg geworden. Der KSZE-Prozeß hat uns den Weg geebnet zur Einheit unseres Volkes in einem Staat, aber wir dürfen niemals vergessen, daß die Einheit unseres Volkes nur dann Bestand in Frieden und Freiheit haben wird, wenn sie eine Einheit ist in einem größeren Europa der Demokratie, der Freiheit und des Friedens. Deshalb bleibt es dabei, was wir immer gesagt haben: Wir wollen nicht ein deutsches Europa, sondern wir wollen ein europäisches Deutschland. Und dieses vereinigte Deutschland wird ein Deutschland des guten Beispiels sein in der Arbeit für ein größeres, für ein besseres Europa. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.

Gertrud Unruh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002358, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Präsidentin! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Was Herr Genscher vorhin von sich gegeben hat, muß man vom Grundsatz her begrüßen, aber bitte nur, was den Anfang von KSZE und Verträgen betrifft, die geschlossen worden sind. Ansonsten sehe ich Herrn Genscher als einen Übervater, ({0}) der sich so darstellen kann, daß man oftmals nicht glaubt, daß er zur FDP gehört. Wenn ich die beiden Reden von Herrn Lambsdorff, dem Parteiführer der FDP, und Herrn Bahr vergleiche, einem Mann mit langjährigen Erfahrungen, mit 18 Jahren Deutscher Bundestag auf dem Rücken, dann muß ich als Parteivorsitzende der Grauen, initiiert vom Seniorenschutzbund Graue Panther, ({1}) sagen: Wir stehen voll hinter dem, was Herr Bahr hier als seine - leider - letzte Rede von sich gegeben hat. ({2}) Aber jetzt haben Sie quasi eine Übermutter in der Politik vor sich stehen, ({3}) die nämlich folgendes in dieser Bundesrepublik Deutschland veranlassen konnte: daß sich unabhängige alte Politiker - ob mit oder ohne Parteibuch - noch einmal zusammengetan haben, um einfach daran mitzuwirken, ein Gesamteuropa zu gestalten. Jetzt kann ich Ihnen einmal vorlesen, was diese Altpolitiker, querbeet durch alle Parteibücher, und Parteilose sowie auch junge vierzig-, junge dreißigjährige Mitglieder von uns formuliert haben. Davon können sich die CDU, die CSU sowie die FDP einen ganz schönen Stiefel von Politik abschneiden. ({4}) - Ich denke da an Aussagen von Herrn Bahr und nicht an das dumme Gelächter von Herrn Stoltenberg. Ich zitiere aus dem Wahlprogramm der Grauen: Drastische Senkung des Rüstungsetats. Sofortige Einstellung aller Tiefflüge und sonstiger Manöver. Keine neue Stationierung von Kampfhubschraubern, Giftbomben und atomaren Waffen in der BRD. Konsequente Weiterverfolgung einer offensiven Friedens- und Abrüstungspolitik, auch wenn sie mit einseitigen Abrüstungsschritten verbunden ist. - Siehe Bahr. Anstelle der Pflichtbundeswehr oder sonstiger nationaler Kriegstruppen soll eine freiwillige Gesamteuropäische Ost-West-Friedens-Schutzorganisation geschaffen werden. Ferner heißt es in Punkt 14 unseres Wahlprogramms: Aufbau einer Europäischen Ost-West-Gemeinschaft, in der die besten ({5}) - jetzt hören Sie bitte einmal zu ({6}) sozialen Regelungen aus allen Ländern - Das Soziale liegt doch bei Ihnen so im argen, daß es einen schüttelt. ({7}) Also nochmals: Aufbau einer Europäischen Ost-West-Gemeinschaft, in der die besten sozialen Regelungen aus allen Ländern zum Standard erklärt werden müssen. Zum jeweiligen Standard in der Währung und der jeweiligen Nationalität. Und wenn wir über Europa, über Gesamteuropa hinaus denken: Genau wie Weltbank, Welthandel usw. sozialen Welt-Ausgleichsfonds schaffen. Ferner heißt es - und da kommen auch noch die Mittel her - : Streichung der Mittel für Militär- und Rüstungsforschung. Weiter heißt es mit Blick auf das menschliche Miteinander, letztlich nicht nur in Gesamteuropa, sondern später auch in der ganzen Welt: Geeignete Maßnahmen zum Abbau von Ausländerfeindlichkeit und Fremdenhaß. In Europa ist jeder irgendwo ein Ausländer. Aber auch keine Besserstellung z. B. von Aussiedlern gegenüber förderungsbedürftigen Bundesbürgern. Das Asylrecht - für Nicht-Ost- und -West-Europäer - muß nach dem Grundgesetz ausgelegt werden. Ich glaube, Herr Bundesjustizminister, diese Programmpunkte sollte sich Herr Graf Lambsdorff, wenn er wirklich liberal denkt wie Herr Genscher, Ihr Übervater, ({8}) zu eigen machen. Sie könnten die Zukunft für Gesamteuropa sein. Und ich warne wieder die SPD: Geht der FDP nicht auf den Leim. ({9}) Stellen Sie sich einmal vor, Sie müßten mit der FDP koalieren, um an die politische Macht zu kommen. Was würden die Menschen da wohl denken, ({10}) auf der einen Seite einen Graf Lambsdorff zu erleben, ({11}) der teilweise unmenschlich handelt, ({12}) und auf der anderen Seite wieder eine SPD erleben zu müssen, die sagt: Wir wollen die Koalition ja nicht gefährden, deshalb müssen wir leider wieder unsoziale Taten - und dann für Gesamteuropa - vollbringen. ({13}) Also bauen Sie die Grauen auf. ({14})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach dieser Unruhe fällt es mir etwas schwer, zu reden. Aber nachdem mein Außenminister mich auf meine Rede zum KSZE-Prozeß vom 25. Juli 1975 angesprochen hat, die ich für meine Fraktion im Bundestag halten durfte, darf ich in dieser Debatte zum KSZE-Prozeß - denn dazu fühle ich mich dadurch fast aufgefordert - jetzt mein parlamentarisches Schlußwort sprechen. In diesem Jahr sind zwei politische Visionen Realität geworden. Und man kann mit Wernher von Braun sagen, daß hinterher nichts so einfach aussieht wie eine verwirklichte Utopie. ({0}) Seit dem 3. Oktober 1990 leben die Deutschen wieder in einem Staat mit einer Verfassung, einem Parlament und einer Rechts- und Wirtschaftsordnung. Und am 19. November 1990 haben die europäischen Staaten gemeinsam mit den USA und Kanada die Fundamente für eine Friedensordnung in Europa gelegt und Einvernehmen über die wesentlichen Elemente der Konstruktion des gemeinsamen europäischen Hauses erzielt. „Die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden" und „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen" waren die Ziele, die das Grundgesetz uns vorgegeben hatte. Ich beende meine politische Arbeit zu einem Zeitpunkt, an dem Deutschland vereint ist und Europa einer neuen, kooperativen friedlichen Ordnung zustrebt. Meine deutschlandpolitische Vision ist zu einer freudig erfüllten Pflicht geworden. ({1}) Ich scheide mit der Zuversicht, daß auch die Vision des Harmel-Berichts von 1967 insgesamt Realität wird. ({2}) Die Teilung Berlins, Deutschlands und Europas ist Mittelpunkt meines politischen und privaten Lebens gewesen. Als Berliner - ich muß sagen: als gelernter Berliner; denn ich hatte das Glück, 1949 rechtzeitig darüber informiert zu werden, daß ich verhaftet werden sollte, und konnte von Rostock nach Berlin fliehen - habe ich die Teilung Deutschlands und Berlins, das Schicksal der Menschen in der ehemaligen DDR, denen Demokratie und Freiheit über 40 Jahre hinweg vorenthalten blieben, und die Gefahr des Auseinanderlebens der Deutschen unmittelbar erlebt. Trotz der Niederschlagung des Aufstandes im Jahre 1953 und trotz des Mauerbaus habe ich an der Vision festgehalten, daß Deutschland im Rahmen einer europäischen Friedensordnung seine Einheit wiederfinden würde. Ich weiß mich in diesem Punkt mit vielen in diesem Hause einig. Die Gemeinsamkeit der politisch Handelnden, die ich immer für unverzichtbar gehalten habe, bleibt mir in guter Erinnerung. Glücklich würde ich mich schätzen, wenn gerade in der vor uns stehenden schwierigen Aufbauphase im geeinten Deutschland und bei den vielfältigen Aufgaben in Europa und in der ganzen Welt das Bewußtsein der gemeinsamen Verantwortung wieder in den Vordergrund träte. ({3}) Die jetzt anstehenden Entscheidungen müssen in einem kritischen Dialog mit wechselseitiger Fairneß gefunden werden. Das Ansehen unseres Parlaments gründet sich nicht zuletzt auf der Fähigkeit zum Konsens. ({4}) Mit wahltaktischem Peitschenknallen kann man zwar Schlagzeilen produzieren, man kann aber beim Wähler kein Vertrauen gewinnen. Augenauskratzen ist wahrlich nicht das Gebot der Stunde. Deshalb wünsche ich allen, die im neuen Deutschen Bundestag vertreten sein werden, Augenmaß, Einfühlungsvermögen und vor allem Glück. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich glaube, ich sollte sagen, lieber Herr Hoppe, daß Ihnen das ganze Haus für Ihre langjährige parlamentarische Arbeit dankt. Es wünscht auch Ihnen alles Gute. ({0}) Meine Damen und Herren, ich schließe damit die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die vorliegenden Entschließungsanträge. Ich lasse zuerst über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/8462 abstimmen. Hier wird die Überweisung beantragt. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8465 auf. Auch hier wird die Überweisung beantragt. Herr Dr. Lippelt, Sie wünschen das Wort zur Abstimmung nach § 31 der Geschäftsordnung? Bitte schön.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie beantragen Abstimmung über diesen Antrag. Es handelt sich bei diesem Antrag um einen Antrag, der auf die KSZE bezogen worden ist, aber dem Kern und der Sache nach auf die letzte Diskussion über die Golfkrise zurückgeht. Dieser Antrag ist damals zusammen mit anderen Anträgen überwiesen worden, obwohl klar war, daß der Auswärtige Ausschuß nicht mehr tagen würde. Es hat auch keine interfraktionellen Verständigungen gegeben. Wir meinen, daß eine Stellungnahme zur Golfkrise keinen Aufschub mehr duldet. Deshalb wollen wir dieses Spiel mit der Überweisung an die Ausschüsse, die überhaupt nicht mehr existieren, nicht mitmachen. ({0}) - In diesem Punkt wollen wir es nicht mitmachen, Herr Ehmke. Wenn wir die Sache so ernst einschätzen, wie sie ist, dann muß dazu Stellung genommen werden. Deshalb verlangen wir die Abstimmung über diesen Antrag. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie haben den Antrag gehört. Nach der Praxis des Hauses geht der Überweisungsantrag allerdings vor. Ich lasse also zunächst über die Überweisung abstimmen. Wer der Überweisung an die Ausschüsse zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei Gegenstimmen der Fraktion DIE GRÜNEN/ Bündnis 90 und der Gruppe der PDS ist diese Überweisung beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8466. Hier ist ebenfalls die Überweisung beantragt. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8467. Auch hier ist die Überweisung beantragt. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist auch hier die Überweisung beschlossen. Damit sind die Entschließungsanträge zu diesem Tagesordnungspunkt erledigt. Vizepräsidentin Renger Ich darf Ihnen noch mitteilen, daß der heute morgen aufgesetzte Zusatztagesordnungspunkt betreffend Drucksache 11/8468 zu einem späteren Zeitpunkt beraten wird. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Aussprache zur Haltung der Bundesregierung zur Erhöhung von Steuern und Abgaben Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 VOL Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. Das Haus ist damit einverstanden. - Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Ich erteile dem Herrn Ministerpräsidenten des Saarlandes, Herrn Lafontaine, das Wort. Bitte. ({0}) - Weil das so ist. Ministerpräsident Lafontaine ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Koalition, die Bundesregierung, der Bundesfinanzminister und allen voran der Bundeskanzler haben versucht, sich von den Wählerinnen und Wählern einen Blankoscheck ausstellen zu lassen. ({2}) Heute sehen wir die Risiken, wenn man es dieser Bundesregierung überläßt, erst nach der Wahl die Beträge in einen vorzeitig unterschriebenen Scheck einzusetzen. Viele werden überfordert. Deshalb verlangen wir heute Klarheit über Absichten und Wege der künftigen Finanzpolitik, vor allem über die soziale Verteilung der Belastungen, die auf viele Bürgerinnen und Bürger zukommen. ({3}) Ob es Ihnen paßt oder nicht, meine Damen und Herren von der Koalition: ({4}) Der Versuch des Sich-Durchlügens bis zum Wahltag ist ein für allemal gescheitert. ({5}) Ob freiwillig oder unfreiwillig, dies ist die Konsequenz aus den Wochenendäußerungen der Herren Kohl und Waigel. Um den Verdacht zu zerstreuen, der Rückzug des Entwurfs zum Bundeshaushalt 1991 im Sommer diesen Jahres habe etwas mit Verschleierung zu tun, erklärte der Herr Bundeskanzler in einem Fernsehinterview Anfang August, rechtzeitig vor dem Wahltag werde die „Kassenlage" offengelegt. „Der Wähler muß darüber Klarheit haben." Soweit das Zitat. Jetzt, nach Vorlage der sogenannten Eckwertebeschlüsse der Bundesregierung zum Bundeshaushalt 1991 in der vergangenen Woche, wissen wir: Diese Aussage war der Steuerlüge erster Teil. ({6}) Denn die Eckwerte bringen keine Klarheit. Es handelt sich bei dieser Mogelpackung nicht um Eckwerte, sondern allenfalls um Versteckwerte. ({7}) Nicht einmal das für 1991 geplante Ausgabenvolumen wird genannt. Bei der Staatsverschuldung wird getrickst, um die Nebentöpfe zu verschleiern. ({8}) Und was die angeblich zu erzielenden Einsparungen angeht: Zwar wird ein Betrag von 35 Milliarden DM genannt, aber Sie sagen nicht, in welchen Bereichen das Geld eingespart werden soll. ({9}) Als der Bundesfinanzminister die Lippen spitzte, erinnerte er - das werden Sie vielleicht nicht verstehen, meine Damen und Herren von der Koalition - an die Gruppe „Milli Vanilli", ({10}) eine Gruppe, die zeitweise durchaus Erfolg hatte, bei der aber irgendwann herauskam, daß sie, als sie die Lippen spitzte, gar keine Töne von sich gab. ({11}) Statt einer wahrhaftigen Aussage darüber, was man denn bereit ist, einzusparen, ({12}) werden diffuse Einzelmaßnahmen - so wörtlich die Pressemitteilung des Finanzministeriums - „in Erwägung gezogen" . Meine Achtung, meine Damen und Herren: Sie ziehen wirklich Einsparungen in Erwägung. Das erscheint mir angesichts der Haushaltslage ({13}) wirklich eine beachtliche Aussage, die ich ohne jede Einschränkung für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands anerkenne. Kompliment! ({14}) Scherz beiseite: Statt Klarheit herrscht heilloses Durcheinander. ({15}) Die Bundesregierung ist gegenüber Parlament und Öffentlichkeit wortbrüchig geworden. ({16}) Ministerpräsident Lafontaine ({17}) Der Steuerlüge Teil 2 handelt von der Frage: Wird es Mehrbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger geben? Ja oder nein? ({18}) Die Aufführung dieses Aktes hat viele Bilder und Szenen. ({19}) Es lohnt sich, sie einmal nachzuzeichnen. ({20}) Szene 1 des Koalitionstheaters: Gibt es die deutsche Einheit zum Nulltarif? Monatelang haben uns die Bundesregierung und besonders der Bundeskanzler, zuletzt bei der Fernsehansprache zum 1. Juli 1990, stereotyp vorgegaukelt - ich zitiere - : „Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen. " ({21}) Wirklich ein historischer Satz. ({22}) Er ist so schön. Man kann ihn gar nicht oft genug wiederholen: „Keiner wird wegen der deutschen Einheit auf etwas verzichten müssen. " ({23}) Die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wußte von Anfang an, daß dies nicht stimmt. ({24}) Das Eigentliche, das hier anzumerken ist, ist, daß derjenige, der vorgaukelt, die Einheit sei zum Nulltarif zu haben, ({25}) an einer entscheidenden Stelle einen Fehler macht, weil er eben ein solidarisches Miteinander zum richtigen Zeitpunkt nicht einfordert. ({26}) Warum sollte jemand bereit sein, Opfer zu bringen, wenn es laut Bundeskanzler auch ohne Verzicht geht? Wie kann man Opfer bringen ohne Verzicht? Die Bürgerinnen und Bürger sind zu Opfern bereit. Aber sie wollen Klarheit haben, auf was sie verzichten müssen. ({27}) Sie müssen auch ihre privaten Einnahmen und Ausgaben planen können. Sie müssen wissen, daß das Ziel des Opfers den Preis wert ist. Sie müssen vor allem wissen, daß die auf sie zukommenden Belastungen sozial gerecht verteilt werden. ({28}) Viele, dankenswerterweise auch in den Unionsparteien, waren und sind nicht bereit, dem Zickzackkurs des Bundeskanzlers zu folgen. Sie fordern den Bundeskanzler auf, von seinem Nulltarifversprechen abzurücken. ({29}) Und diese Forderungen hatten Wirkung: Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, einen Tag nach der Vereinigung, erklärte der Bundeskanzler, der bisher den Satz, niemand müsse auf etwas verzichten, immer wiederholte, wörtlich: Das wird uns große Anstrengungen abfordern, und dafür werden wir auch Opfer bringen müssen. ({30}) Wie bringen wir das jetzt zusammen, zuerst die Behauptung, niemand müsse auf etwas verzichten, und dann den Appell, wir alle müßten Opfer bringen? Ich glaube, daß hier ein Mann das Opfer der Tatsache geworden ist, daß er rechtzeitig darauf verzichtet hat, gründlich nachzudenken. Anders ist dieser Widerspruch logisch nicht aufzulösen. ({31}) Szene zwei, die behandelt werden muß: Gibt es Steuererhöhungen? Meine Damen und Herren, aus Rücksicht erspare ich es Ihnen und uns, die täglich höhere Latte von Steuererhöhungsforderungen aus Kreisen der Union zu zitieren. ({32}) Der Herr Bundeskanzler wollte keine Steuererhöhungsdiskussion, weil sie ihn gezwungen hätte, vor der Wahl Roß und Reiter zu nennen, weil er Angst hat, konkret zu sagen, welche breiten Schichten der Bevölkerung letztendlich zahlen müssen. Deshalb hat er am Montag voriger Woche vergeblich versucht, die Front zu begradigen. Der CDU-Vorstand - Biedenkopf, Späth und Rommel hin und her - kündigte an: Es wird keine Steuererhöhungen geben. ({33}) Der Versuch, den sächsischen Ministerpräsidenten im CDU-Vorstand zum Schweigen zu bringen, erwies sich bereits zwei Tage später als Pyrrhussieg. Gegenüber der „Sächsischen Zeitung" vom darauf folgenden Mittwoch erklärte Biedenkopf zur Möglichkeit einer generellen Steuererhöhung nach der Bundestagswahl: Das ist eine ganz andere Frage; über die haben wir überhaupt nicht gesprochen. - Auf der Sitzung der CDU-Spitze am Montag seien jedoch eine ganze Reihe von Risiken besprochen worden, aus denen sich Steuererhöhungen ergeben könnten. Diese könnten sich aus den internationalen Beziehungen, Ministerpräsident Lafontaine ({34}) beispielsweise einer Verschärfung der Golfkrise, aus ökologischen Problemen oder der Aufbauarbeit im Osten Europas, so in der Sowjetunion und Polen, ergeben. Würden diese hinzutreten, so ändere sich die Situation, habe auch Bundeskanzler Kohl bemerkt. Herr Bundeskanzler, sagen Sie nicht nur hinter den verschlossenen Türen des CDU-Vorstandes, sagen Sie heute hier vor dem Bundestag klipp und klar, was Sie eigentlich vorhaben! ({35}) Szene drei der Komödie: Steuererhöhungen wofür? Nachdem sich der Bundeskanzler in einen Wust von Äußerungen zu verstricken drohte, schien er in der Fernsehsendung „Was nun, Herr Kohl?" den Gordischen Knoten durchgeschlagen zu haben. ({36}) - Deswegen war auch dieser Defekt beim TED, weil der Herr Bundeskanzler an diesem Tag so hervorragend war. ({37}) Er schien den Gordischen Knoten durchschlagen zu haben. Steuererhöhungen für die deutsche Einheit: niemals, für andere Sachen, UdSSR-Hilfe, Golf, Europa: vielleicht. So die neue Linie des Herrn Bundeskanzlers, als ginge es nicht um ein und denselben Topf, den Bundeshaushalt 1991. Wenn uns die deutsche Einheit eben in der nächsten Zeit mindestens 100 Milliarden DM pro Jahr kostet, ({38}) dann muß das Geld aufgebracht werden. Ich bin dafür, dieses Geld aufzubringen. Jede Mark, auch die gepumpte, kann nur einmal ausgegeben werden. ({39}) Wenn das Geld falsch verwendet wird, fehlt es an anderer Stelle. Es geht insofern nicht um die Finanzierung der deutschen Einheit; es geht um den Bundeshaushalt 1991 und die Finanzplanung von Bund, Ländern und Gemeinden für die nächste Legislaturperiode. ({40}) Es geht darum, die vor uns stehenden Aufgaben zu lösen. Dafür brauchen wir die Mittel, dafür brauchen wir das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sehen können, daß wir sorgsam mit ihrem Geld umgehen, ({41}) und vor allem, daß wir ehrlich mit ihnen umgehen. ({42}) Der Bundeskanzler behauptete dieser Tage, er habe Steuererhöhungen nie grundsätzlich, sondern stets nur als Mittel zur Finanzierung der deutschen Einheit ausgeschlossen. ({43}) Auch diese Behauptung entspricht nicht der Wahrheit. ({44}) Noch am 19. Juni dieses Jahres hat der Bundeskanzler im ZDF die Frage nach Steuererhöhungen wie folgt beantwortet: Wir haben immer gesagt - und ich bleibe dabei -, - ich bleibe dabei! daß beim Zustand unserer Wirtschaft, die sich in einer glänzenden Verfassung präsentiert, wir keine Steuererhöhungen brauchen. ({45}) - Halten Sie mit Ihrem Beifall noch zurück; ich bin mit dem Zitat noch nicht zu Ende. Steuererhöhungen bedeuten doch eine Einschränkung der Investitionsbereitschaft. ({46}) Der Bundeskanzler schloß also Steuererhöhungen noch im Juni ohne jede Einschränkung aus. Es ist nun keine Schande, wenn ein Politiker seine Meinung ändert, ({47}) wenn er sich geirrt hat, selbst wenn ihm fundamentale Fehleinschätzungen unterlaufen sind. ({48}) Aber er sollte sich dazu bekennen, wenn er durch immer neue Irrungen und Wirrungen die Öffentlichkeit zu täuschen versucht. ({49}) Es ist eine Schande, wenn er vorgibt, er habe alles fest im Griff, wo jedermann das finanzpolitische Chaos schon sehen kann. ({50}) Meine Damen und Herren, wenn in der „Herald Tribune " beispielsweise steht, ({51}) daß die Kosten der Einheit zehnmal so hoch sind, ({52}) wie Sie, verehrter Herr Bundeskanzler, geschätzt haben - ich wiederhole: zehnmal so hoch - , dann sollte das doch vielleicht einmal Veranlassung sein, nicht immer nur zu lärmen und in Albernheit zu flüchten, Ministerpräsident Lafontaine ({53}) sondern nun wirklich einmal über eine seriöse Finanzierung in den nächsten Jahren zu reden. ({54}) Die Szene vier, meine Damen und Herren, spielte am Wochende. Steuererhöhungen: nein; aber Abgaben sollten es jetzt sein. ({55}) Auch hier war der Akteur kein Geringerer als der Herr Bundeskanzler persönlich. Gegenüber dem „Kölner Stadtanzeiger" am Samstag brachte er die Abgabenerhöhungen ins Spiel: ({56}) Der Bürger werde in der nächsten Legislaturperiode, so der Bundeskanzler, an dem einen oder anderen Punkt mehr zahlen müssen; beispielsweise könne dies für die Umwelt erforderlich werden, ({57}) etwa in Form einer Kohlendioxidabgabe. ({58}) Zwar bekannte Kohl erfreulicherweise wörtlich: Der Unterschied zwischen Steuern und Abgaben ist für den Bürger nicht so relevant; ({59}) er muß aus demselben Portemonnaie zahlen. Man könnte das in der Sprache des Bundeskanzlers noch fortsetzen: Entscheidend ist für die Bürgerinnen und Bürger, was hinten herauskommt. - So einfach ist das! ({60}) Ihm gefalle der Weg der Abgabe besser, so immer noch der Bundeskanzler, als der der Steuern, weil derjenige, der sich rechtzeitig umgestellt hat und nun weniger Schaden verursacht, belohnt werde, sagt der Bundeskanzler. „Und das kostet Geld." Er habe, heißt es dann abschließend - das kennen wir ja nun schon -, nicht gesagt, es gebe keine Steuer- und Abgabenerhöhungen. Wörtlich: „Ich sage: Es gibt keine Steuerhöhungen im Blick auf die deutsche Einheit. " - Wahrscheinlich wegen der Karnickelplage in Australien oder so! Aber wegen der deutschen Einheit gibt es keine Steuererhöhungen! ({61}) - Meine Damen und Herren, mit dieser Formel „Es gibt keine Steuererhöhungen wegen der deutschen Einheit" machen Sie sich doch nur noch lächerlich! ({62}) Rücken Sie doch von dieser Formel ab! ({63}) Am gleichen Tag wiederholte Helmut Kohl auf dem CSU-Kongreß in München - zwei Orte, zwei Quellen, der gleiche Inhalt; ich zitiere - : Wir werden nicht umhin kommen, in der kommenden Legislaturperiode in einigen Bereichen über die Erhöhung von Abgaben zu reden. Auch in „Bild am Sonntag" sagt er: An dem einen oder anderen Punkt müssen die Deutschen mehr zahlen. Ich habe hier wörtlich zitiert; ({64}) denn die Kurskorrektur des Bundeskanzlers schlug in der Öffentlichkeit und auch in der Koalition wie eine Bombe ein. Bundeskanzler Helmut Kohl und auch der Bundesfinanzminister seien - so ließ Graf Lambsdorff am Montag verlauten „von allen guten Geistern verlassen". ({65}) Ich sage es noch einmal: Bundeskanzler Helmut Kohl und auch der Bundesfinanzminister seien von allen guten Geistern verlassen, ({66}) weil sie 14 Tage vor der Wahl im Zusammenhang mit den Kosten der deutschen Einheit eine Debatte um Abgaben und Steuern eröffnet haben. Bedauerlich ist nur, daß sich der Graf weniger über den Inhalt der Ankündigungen als über den Zeitpunkt ärgerte. ({67}) Dies läßt auf einiges schließen. Der Graf hätte nichts dagegen gehabt, wenn nach der Wahl die Wahrheit gesagt worden wäre. Aber vor der Wahl den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit zu sagen, so Graf Lambsdorff, da muß man doch von allen guten Geistern verlassen sein. ({68}) Süffisant bemerkte der Graf halb entschuldigend, halb bissig: Der Bundeskanzler habe in München schließlich frei gesprochen. ({69}) Als dies nun passiert war, sahen sich Bundeskanzleramt und CDU/CSU-Bundestagsfraktion veranlaßt, eine ganze Batterie von Nebelkerzen zu zünden: Sie verstünden diese Aufregung überhaupt nicht. Der Bundeskanzler habe doch weiterhin Steuererhöhungen ausgeschlossen und Abgaben nur im Sinne des Wahlprogramms für den Umweltschutz gefordert. ({70}) Auch dies stimmt zwar nicht genau, aber immerhin: Ungefähr so etwas hat er auch gesagt. Ein einfacher Blick auf die zitierten Äußerungen von Samstag beweist das Gegenteil. Die CO2-Abgabe wie auch der Umweltschutz wurden vom Bundes18902 Ministerpräsident Lafontaine ({71}) kanzler ausdrücklich nur als ein Beispiel für die Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen genannt. Andere hat er auch nicht ausgeschlossen. Nun wären wir natürlich sehr dankbar, verehrter Herr Bundeskanzler, wenn Sie einmal so nett wären, hier vorne hinzukommen und zu sagen, an welchen Punkten die Bürgerinnen und Bürger denn noch Steuern zahlen müssen. ({72}) Aber wir lassen uns ja gerne überraschen. Wir haben Geduld. Wir haben Zeit. Deshalb lade ich Sie herzlich ein, in irgendeinem Zusammenhang, verehrter Herr Bundeskanzler, vor der Wahl doch so nett zu sein und den Bürgerinnen und Bürgern zu sagen, wo und an welchen Punkten sie, wenn Sie im Amt bleiben, ({73}) mehr Steuern, mehr Abgaben oder mehr Gebühren zahlen müssen. ({74}) Nun zur FDP. Graf Lambsdorff empfiehlt die FDP als einzigen Garanten gegen Steuererhöhungen. Das ist wirklich beachtlich. Die Profilierungsübungen von Ihnen, Herr Graf Lambsdorff, beim Steuerthema sind allerdings etwas unglaubwürdig. Sie haben vielleicht vergessen, daß der Bundeswirtschaftsminister noch vor wenigen Tagen im Kabinett für die Einführung einer Klimaschutzsteuer geworben hat. Ich habe schon immer bewundert, wie Sie es fertigbringen, an einem Tag Presseerklärungen über die Einführung einer Klimaschutzsteuer loszulassen und noch am selben Tag zu tönen, Sie seien gegen jedwede Steuererhöhungen. Ich habe das immer wieder bewundert. Kompliment, Graf Lambsdorff; wirklich: Kompliment. ({75}) Ich zitiere den Sprechzettel des Bundeswirtschaftsministers vom 7. November. ... eine Klimaschutzsteuer, die ich für besonders geeignet erachte, nachhaltige Einsparungen und Substitionsanreize auszulösen. ({76}) Nun war diese Steuererhöhungsankündigung auf dem Markt, und Graf Lambsdorff eierte herum. Da ist er auf einmal auf die Idee gekommen, zu sagen: aber nur dann, wenn sie auf der anderen Seite den Bürgerinnen und Bürgern zurückgegeben werden. ({77}) Das ist nun wirklich toll, Graf Lambsdorff. Ich habe Ihnen wochen- und monatelang zugehört, wie Sie unser Konzept „Fortschritt 90" in ungezählten Presseerklärungen diffamiert haben, wie Sie uns als Steuererhöhungspartei bezeichnet haben ({78}) und wie Sie auf der anderen Seite gesagt haben: Wer sagt, er werde das zurückgeben, der wird gar keinen Umwelteffekt erzielen können. - Nun kratzen Sie die Kurve und schreiben bei uns ab. Das ist wirklich keine starke Vorstellung, Graf Lambsdorff. Das ist wirklich keine starke Vorstellung! ({79}) Dies öffnet den Vorhang zur Szene fünf: Wie vielfältig ist die Phantasie der Bundesregierung und der sie tragenden Parteien für die Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen? Der Bundesfinanzminister hat im „Spiegel" -Gespräch dieser Woche durchaus Kreativität bewiesen. Er sprach vom Sonderopfer für Beamte, und er verbreitete sich über die Privatisierungen z. B. bei der Telekom. Die Idee, die Telekom zu privatisieren ({80}) - Maggie Thatcher läßt grüßen! - zeigt, - ({81}) - Ich wollte das durchaus in einen Zusammenhang stellen. ({82}) Die Idee, die Telekom zu privatisieren, zeigt, daß der Bundesregierung das Wasser bis zum Halse steht. ({83}) Sie will jetzt das Tafelsilber verscherbeln. Für die Sozialdemokraten sage ich den Beschäftigten der Bundespost: Wir werden uns gegen solche Kurzschlußreaktionen zur Wehr setzen. ({84}) Bei dem Erfindungsreichtum lesen wir auch über die Vorteile privat finanzierten Autobahnbaus und über Autobahngebühren. Das wäre im übrigen auch eine Steuererhöhung, weil ja damit das Mineralölsteueraufkommen und die Kraftfahrzeugsteuer für andere Zwecke genutzt werden könnten. ({85}) Wir lesen über Umweltabgaben, und bemerkenswert genug: Die Frage, ob er eine Mehrwertsteuererhöhung ausschließe, hat Waigel nicht etwa verneint, sondern er hat dem „Spiegel" mit einer Gegenfrage geantwortet. Er fragte: Schließen Sie aus, daß mit dieser Frage die Auflage des „Spiegel" sinkt? - Warum war er nicht zu einer klaren Antwort fähig, wenn Sie hier lärmend und lautstark verkünden, Sie seien gegen jedwede Form der Steuererhöhung? ({86}) Ministerpräsident Lafontaine ({87}) Wem glauben Sie diese Lüge eigentlich noch auftischen zu können? Das pfeifen doch die Spatzen von den Dächern! ({88}) Auf die Frage nach den geplanten Beitragserhöhungen für die Arbeitslosenversicherung - es geht ja weiter; Ihr Erfindungsreichtum ist noch lange nicht zu Ende - wollte der Bundesfinanzminister die Erhöhungen so nicht bestätigen. ({89}) Er hat auch guten Grund dazu; denn uns liegen Informationen vor, nach denen der Bundesfinanzminister vorhat, den Beitragssatz um zwei Punkte zu erhöhen. Er hat vor, diesen Beitragssatz um zwei Punkte zu erhöhen - solche Informationen liegen uns aus den Ministerien vor-, während der Beitrag für die Rentenversicherung nur um einen Punkt gesenkt wird: unter dem Strich also eine glatte Beitragserhöhung um elf Milliarden DM. ({90}) In Anlehnung an die berechtigten Hinweise des Bundeskanzlers, daß für die Bürgerinnen und Bürger der Unterschied zwischen Steuern und Abgaben unerheblich sei, gilt dies erst recht für die Beitragserhöhung. ({91}) Hinzu kommt, daß Sie nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern Belastungen aufbürden wollen - die Sie jetzt verschweigen wollen oder im Nebel unsichtbar werden lassen wollen - , sondern auch in die Rentenkasse greifen. Dieser Griff in die Rentenkasse bedeutet, daß die Rentnerinnen und Rentner in Zukunft weniger Rente zu erwarten haben. ({92}) Das Ganze ist ein konzeptionsloser Selbstbedienungsladen. ({93})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Entschuldigen Sie, Herr Ministerpräsident! ({0}) Hier wird eine Debatte geführt. Diese dient dazu, daß man sich den Redner anhört. Dabei sind auch Zwischenrufe erlaubt, aber nicht ununterbrochen, so daß der Redner seine Stimme derartig anstrengen muß, um überhaupt noch gehört zu werden. ({1}) Ich bitte Sie jetzt wirklich sehr nachdrücklich darum, sich etwas zurückzuhalten und dem Redner die Möglichkeit zu geben, sich hier zu artikulieren. ({2}) Ministerpräsident Lafontaine ({3}): Das Ganze ist ein konzeptionsloser Selbstbedienungsladen: ({4}) ein bißchen Umwelt, ein bißchen Autofahrer, dann Sonderopfer für Beamte. Der Bundesfinanzminister wirft ein paar Brocken hin. Nichts Genaues weiß man nicht. Über das, was kommt, wird ein Mantel von Nebel und Verschleierung gehängt. Ich frage mich: Wie lange müssen sich die Bürgerinnen und Bürger das eigentlich noch gefallen lassen? ({5}) Eröffnen Sie, meine Damen und Herren von den Koalitionsparteien, endlich eine seriöse Diskussion über die Finanzierung der deutschen Zukunftsaufgaben. ({6}) Mit den Eckwerten der Bundesregierung ist das nicht geschehen. Diese Eckwerte beinhalten einen Milliardenverschiebebahnhof von der Rentenkasse hin zur Arbeitslosenversicherung. Dies als Einsparung zu verkaufen ist eine Zumutung. ({7}) - Meine Damen und Herren, damit Sie sich beruhigen: Ich bin wirklich überrascht, wie hoch Altbundeskanzler Schmidt bei Ihnen noch im Ansehen steht. ({8}) Er steht auch in meinem Ansehen. Aber bei nicht freigegebenen Äußerungen kann man sich irren. Ein Beleg dafür sitzt etwas weiter hinten in Form des verehrten Herrn Bundeskanzlers. Über ihn sagte ein anderer: Ich halte Herrn Kohl, den ich trotz meines Wissens um seine Unzulänglichkeit um des Friedens willen als Kanzlerkandidaten unterstützt habe ... Er wird nie Kanzler werden; er ist total unfähig; ihm fehlen die charakterlichen, die geistigen und die politischen Voraussetzungen, ihm fehlt alles dafür. Sie sehen, Männer können sich auch einmal irren. Der Beweis: die Wienerwald-Rede des Kanzlerkandidaten. ({9}) Die Verschiebung ist finanzpolitisch eine folgenschwere Fehlentscheidung. Auf Grund der absehba18904 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 236. Sitzung. Bonn, Donnerstag, don 22. November 1990 Ministerpräsident Lafontaine ({10}) ren Bevölkerungsentwicklung mit einem immer weiter steigenden Anteil älterer Menschen und einer entsprechenden Zunahme des Finanzbedarfs der Rentenversicherung haben SPD, CDU/CSU und FDP mit der Rentenreform in einer gemeinsamen Kraftanstrengung, die wir alle gebilligt haben, die Grundlagen dafür geschaffen, daß die Rentenversicherung auch Mitte der 90er Jahre die notwendigen Finanzreserven besitzt. Das war unsere Absicht. Insofern sind die Einwände, die vorgetragen wurden, wirklich an der falschen Stelle vorgetragen. Nach dem, was jetzt von der Bundesregierung beschlossen wurde, ist diese Vereinbarung durchbrochen. Wir nennen das einen Griff in die Rentenkasse. Dies haben wir mit Ihnen nicht vereinbart! ({11}) Auch hier haben Sie Ihr Wort gebrochen. Noch am 17. Mai 1990 hat der Bundessozialminister verkündet: Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln. ({12}) Diesen Standpunkt habe ich immer vertreten. Es gibt keinen Zweifel, daß dies die Position der gesamten Bundesregierung und der Koalition ist. Meine Damen und Herren, hier haben Sie Ihr Wort gebrochen! Das kann man auch nicht mit Albernheiten zukleistern wollen. ({13}) Ich frage den Bundesarbeitsminister: Wie steht es nun mit dem regierungsamtlichen Griff in die Rentenkasse und der Äußerung, die ich gerade zitiert habe, sofern sie nicht falsch zitiert worden ist? Dann würde ich mich im nachhinein entschuldigen; das passiert schon einmal. ({14}) Es kann ja sein, daß die Presse Sie falsch wiedergegeben hat. Dann haben Sie die Gelegenheit, das zu erklären. Ich frage Sie, Herr Blüm: Wie steht es jetzt mit Ihrer Aussage von damals? Haben wir alle - das ist unsere Frage - die gemeinsame Kraftanstrengung zur Sicherung der Renten gemacht, damit Sie jetzt einseitig die Axt anlegen? Das ist die Frage, um die es geht. ({15}) Ich hatte bereits eingangs darauf hingewiesen, daß es sich bei den Eckwerten um eine Mogelpackung handelt, die nicht einmal das beabsichtigte Ausgabenvolumen benennt. Das hat einen guten Grund: Bei dem von der Bundesregierung für die nächsten Jahre angegebenen Ausgabenanstieg von 2 % ergibt sich rechnerisch für den Bundeshaushalt 1991 ein Ausgabevolumen von 404 Milliarden DM. Dem stehen Gesamteinnahmen von nur 321 Milliarden DM gegenüber. Daraus ergibt sich im nächsten Jahr im Bundeshaushalt ein Finanzierungsdefizit von 83 Milliarden DM. Dieses Defizit liegt um 13 Milliarden DM höher als die vom Bundesfinanzminister genannte Nettokreditaufnahme von 70 Milliarden DM. In den folgenden Jahren bis 1994 steigt dieses verheimlichte Defizit auf 25 Milliarden DM an. ({16}) Offensichtlich wollte die Bundesregierung diese ungedeckte Finanzierungslücke deshalb verbergen, um sich der Frage zu entziehen, wie sie diese Lücke zu schließen beabsichtigt. ({17}) Die Bundesregierung weist die gesamtstaatliche Neuverschuldung mit 140 Milliarden DM aus. Frau Kollegin Matthäus-Maier hat Ihnen vorgerechnet, daß die Finanzierungslücke unter Berücksichtigung aller Nebentöpfe und Blindbuchungen für 1991 mehr als 200 Milliarden DM beträgt. ({18}) Meine Damen und Herren, wenn Sie einmal ein bißchen ehrlich wären, ({19}) dann würden Sie zugeben, daß die Einschätzung der ausländischen Presse, daß Sie sich um einen Faktor 10 verschätzt haben, richtig ist und daß niemand vor einigen Monaten hier geglaubt hätte, daß wir einmal über Finanzierungslücken von 200 Milliarden DM zu reden hätten, niemand! ({20}) - Graf Lambsdorff, da nützt auch kein Kopfschütteln! In früheren Jahren sind Finanzminister wegen einiger Milliarden zurückgetreten. Das war in früheren Jahren so, aber seit 1982 gibt es ja das demokratische Institut des Ministerrücktritts nicht mehr. Dies ist auch eine bemerkenswerte Feststellung. ({21}) Der hier erwähnte Sachverhalt ist viel gravierender. Wir werden in den nächsten Jahren dreistellige Milliardensummen zu decken haben - ich hoffe, daß Sie dies bald einmal begriffen haben -, über deren genaues Volumen und über deren Deckung sich die Bundesregierung bis zum heutigen Tage ausgeschwiegen hat. ({22}) Und das können wir doch nicht durchgehen lassen! Unsere Rechnungen basieren auf Fortschreibungen der bisherigen Politik. Wie stellt sich das zu deckende Finanzvolumen eigentlich dar, wenn wir die Zukunftsaufgaben, die Lösung der Infrastrukturprobleme in den neuen Ländern, dazunehmen? Es ist für Ministerpräsident Lafontaine ({23}) uns ein Skandal, wenn wir Milliarden aufwenden, um Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit zu finanzieren, statt mit Investitionsprogrammen etwa in die Sanierung der Umwelt, der Telekommunikation, des Wohnungswesens, des Verkehrssektors Arbeit zu finanzieren und zu organisieren. ({24}) Im Berliner Wahlkampf plakatiert die CDU - man höre und staune - : „Wir packen's an! Gleicher Lohn für gleiche Arbeit! " - Ihre Partei, Herr Bundeskanzler, fordert gleichen Lohn für gleiche Arbeit. ({25}) Ich halte das für Berlin und für ganz Deutschland kurzfristig für viel zu viel versprochen, solange die Produktivität so weit auseinanderläuft. ({26}) Aber wer so etwas in einem Wahlkampf verspricht, der ist in diesem Wahlkampf völlig unglaubwürdig. ({27}) Das kann für den öffentlichen Dienst nicht verwirklicht werden. Wir haben vor Monaten schon auf die Folgen hingewiesen. ({28}) Dies hätte gravierende Folgen für die gewerbliche Wirtschaft. Wäre es nicht sachdienlich, ehrlich über das zu reden, was auf uns zukommt, und offen anzusprechen, daß es große Schwierigkeiten gibt, statt eine Serie von Versprechungen zu machen? Große Haushaltsrisiken bestehen aber nicht nur in Verbindung mit der deutschen Einheit und den kostspieligen Fehlentscheidungen der Bundesregierung. In allen Programmen, die wir jetzt lesen und die auf dem Markt sind, werden Versprechungen gemacht, die zusätzliche enorme Finanzmittel erfordern. ({29}) Die Bundesregierung ist bis zum heutigen Tage eine Antwort schuldig geblieben, wie sie das, was sie zusätzlich verspricht, finanzieren will. Ob Steuern, Abgaben oder Gebühren, die Mittel müssen aufgebracht werden, wenn die Wahlversprechen eingelöst werden sollen. Zukunftsaufgaben stellen sich nicht nur in den neuen, sondern auch in den alten Bundesländern. ({30}) Eine wichtige Aufgabe bleibt, daß wir Maßnahmen gegen die Dauerarbeitslosigkeit, für Arbeitsplätze für Jugendliche und für Behinderte ergreifen. ({31}) Wir Sozialdemokraten wollen auch die ungerechte Steuerpolitik korrigieren. Daß Sie den Weihnachtsfreibetrag gestrichen haben, bedauern wir. Wir werden ihn wieder einführen. ({32}) Wir haben Finanzierungsvorschläge vorgelegt. Die ruinöse Staatsverschuldung der Bundesregierung ist gefährlich. Ich halte mich hier nicht mit klugen abstrakten Rechnereien über Staatsverschuldungsanteile am Bruttosozialprodukt und dergleichen auf. Im Kern geht es bei der realistischen Beurteilung der Staatsverschuldung um drei Seiten: um die fiskalische, die ökonomische und die soziale. Die ausufernde Staatsverschuldung, die wir in diesem Ausmaß noch niemals hatten, hat finanzpolitisch schwerwiegende Folgen. Die zunehmende Zinsbelastung der öffentlichen Haushalte schnürt die Handlungsfähigkeit des Staates immer weiter ein. Bereits in diesem Jahr betragen die Zinszahlungen von Bund, Ländern und Gemeinden nach Angaben der Bundesregierung 67,5 Milliarden DM. ({33}) Weitere Zinsen kommen hinzu. Wer so tief in die Staatsverschuldung greift, macht den Staat fiskalpolitisch handlungsunfähig, und er beraubt sich in der Zukunft der Gestaltungsfähigkeit. ({34}) Die Staatsverschuldung in der geplanten Größenordnung ist auch ökonomisch gefährlich. Sie wirkt zinstreibend. Die Höhe des Zinssatzes und nicht irgendwelche anderen Rechnereien sind jetzt das ökonomisch Entscheidende. Es ist bedauerlich, daß wir jetzt eine Steuerdebatte führen. Das ist ökonomisch völlig verfehlt. Wir bräuchten eine Zinsdebatte; denn sie würde über Investitionen und neue Arbeitsplätze entscheiden. ({35}) Der Präsident der Bundesbank hat Ihnen ins Stammbuch geschrieben, meine Damen und Herren, daß ein hoher Zins in dieser Form folgendes heißt: Einbruch der Investitionen, weil sich das angelegte Kapital besser und sicherer verzinst als das investierte, als Folge davon eine deutliche Abbremsung der Konjunktur, als Folge davon Preiserhöhungen und weitere Zinstreiberei, weil der Kapitalmarkt bereits jetzt überfordert ist. ({36}) Ministerpräsident Lafontaine ({37}) Nichts anders urteilt der Sachverständigenrat in seinem Jahresgutachten, das in der vergangenen Woche veröffentlicht wurde. Die Sachverständigen weisen darauf hin, daß die Bauherrn durch die hohen Zinsen stark belastet würden ({38}) und mit erheblichem Preisanstieg am Bau - sie erwarten für das kommende Jahr 8 % Preisanstieg - zu rechnen sei. Diese Tatsachen zeigen, daß der scheinbar so bequeme Weg über die astronomische Staatsverschuldung in den kommenden Jahren schwerwiegende Folgen haben wird. Ungehemmte Staatsverschuldung hat schließlich eine soziale Seite: Die Spaltung unserer Gesellschaft in jene, die von hohen Zinsen leben können, und andere, die für die Zinsen arbeiten müssen. Wir haben folgende Alternativen formuliert: Erstens. Für Steuersenkung für Unternehmen und Spitzenverdiener sehen wir keinen Raum. ({39}) Zweitens. Es bedarf nun endlich drastischer Einschnitte in den Verteidigungsetat. ({40}) Drittens. Die teilungsbedingten Ausgaben in der Bundesrepublik sind auf die neuen Länder umzubuchen. Das ist nicht populär, aber gleichwohl richtig. ({41}) Viertens. Das Vermögen von SED/PDS und ihren früheren Blockparteien CDU und FDP muß unverzüglich eingezogen und für den Aufbau der neuen Bundesländer eingesetzt werden. ({42}) Mittlerweile wird nicht mehr nur über die Millionenschiebereien der PDS geschrieben, sondern auch über die Millionenschiebereien der Ost-CDU. ({43}) Der Parteivorsitzende könnte sich vielleicht dazu äußern. ({44}) Auch bei der FDP ist die Frage erlaubt, ob sie wirklich glaubwürdig ist. Sie, Graf Lambsdorff, haben hier ein besonderes Beispiel dafür gegeben. Als die Millionenschiebereien der PDS ruchbar wurden, sagten Sie voller Empörung: Mir fehlen die Worte. ({45}) Es wäre besser gewesen, Sie hätten gesagt: An dieser Stelle halte ich die Klappe. - Dann wären Sie sich des Beifalls der großen Mehrheit der Bevölkerung sicher gewesen. ({46}) Wir sagen: Es ist heute nicht mehr die Frage, ob es Mehrbelastungen für die Bürgerinnen und Bürger gibt. Die Frage ist vielmehr, welche Mehrbelastungen es geben wird. Wir Sozialdemokraten sagen Ihnen: Wir lassen nicht zu, daß in erster Linie bei den kleinen Leuten abkassiert wird, weil Sie solch schwere Fehler gemacht haben. ({47}) Ihre Vorschläge ignorieren, daß insbesondere in der ehemaligen DDR noch Nettolöhne von 600 DM gezahlt werden und daß es dort eine Mindestrente von 495 DM gibt, die Sie jetzt teilweise erhöhen wollen. ({48}) Deshalb geht es um dieses Thema: Wir brauchen eine solide Finanzpolitik, wir brauchen aber auch mehr soziale Gerechtigkeit. Um diese soziale Gerechtigkeit werden wir in den nächsten Monaten ringen. „Reaganomics" und „Thachterismus" sind gescheitert. ({49}) Sie haben die erste Runde „Reaganomics" durch die gigantische Staatsverschuldung, die in erster Linie in konsumtive Ausgaben floß, bereits gedreht. Es wird unsere Aufgabe sein zu verhindern, daß hier in der Bundesrepublik in der zweiten Runde nun „Thatcherismus" praktiziert wird. ({50}) Meine Damen und Herren, wir haben erlebt, was es heißt, wenn diese Bundesregierung Steuerbeschlüsse faßt. Es geht immer nach demselben Muster: Es wird von unten nach oben umverteilt. Die Bürgerinnen und Bürger haben die Wahl. Wir entscheiden uns dafür, vor der Wahl die Wahrheit zu sagen. ({51}) Wir entscheiden uns dafür, eine solide Finanzpolitik zur Grundlage unserer weiteren Arbeit zu machen. Und wir entscheiden uns dafür, soziale Gerechtigkeit durchzusetzen, wenn alle - das ist wahr und das haben wir immer gesagt - Opfer bringen müssen. ({52})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Waigel. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war die schwächste Vorstellung eines Kanzlerkandidaten der SPD seit 1949. ({0}) An die Stelle von Fakten und Argumenten treten reine Polemik, Unterstellung und politische Verleumdung. ({1}) Kurt Schumacher, Carlo Schmid, Ernst Reuter, Fritz Erler und auch Herbert Wehner würden sich schämen angesichts dieser Kleinkariertheit, die ein SPD-Spitzenkandidat hier zum Thema Deutschlandpolitik geäußert hat. ({2}) Das ist eine kleinkarierte und bisweilen schäbige Art, wie die Menschen in Ost- und Westdeutschland gegeneinander aufgehetzt werden. ({3}) Ich kann dem Kanzlerkandidaten nur dringend raten, ({4}) mit den ehemaligen SPD-Finanzministern Schiller und Apel einmal ein Wort zu reden. Die könnten ihm nämlich eine Menge darüber sagen, wo er sich irrt und was wir im letzten Jahr richtig gemacht haben. ({5}) Aber wenigstens sollte man Herrn Lafontaine empfehlen, mit seinem Koch zu sprechen, damit er ihm nicht weiter ein Neid-Menü serviert. ({6}) Bei der Besetzung der Stelle des Koches hat er ja auch nicht nach den Kosten gefragt. ({7}) Meine Damen und Herren, was die SPD jetzt bietet, ist das Niedrigstniveau des Wahlkampfes. ({8}) Mir steht die neueste Ausgabe der Sonntagszeitung der SPD mit den Schlagzeilen „Schöne Bescherung - Leere Regale vor Weihnachten - Kunden empört - Lieferungen in den Osten verknappen Angebot" zur Verfügung. ({9}) Es ist ja unglaublich, daß man sich nicht schämt, leere Regale im Westen, die ich noch nicht gesehen habe, darauf zurückführen zu wollen, daß jetzt zu viele Waren in den Osten kommen. Schämen Sie sich über diese Art und Weise der Auseinandersetzung! ({10}) Außerdem, Herr Lafontaine, haben Sie mir unterstellt, ich wolle den Beamten ein Sonderopfer auf erlegen. Woraus entnehmen Sie denn das? ({11}) Ich zitiere wörtlich: Selbstverständlich müssen die anstehenden Beschlüsse von allen Gruppen angemessen getragen werden. Da ist von Sonderopfer überhaupt nicht die Rede. ({12}) Aber es ist doch selbstverständlich, daß beim Nettozuwachs von Löhnen, Gehältern und auch Beamtenbesoldungen in diesem und im nächsten Jahr ein Gleichklang erzielt werden muß. Nicht mehr und nicht weniger habe ich hier zum Ausdruck gebracht. ({13})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Gansel?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Nein.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Er gestattet keine Zwischenfrage, Herr Gansel. ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Meine Damen und Herren, ich erlaube mir, meine Gedanken genauso zusammenhängend vorzutragen, wie es Herr Lafontaine eben getan hat. ({0}) Außerdem habe ich in meinen Reden schon so viele Zwischenfragen zugelassen, daß Sie mir hier wirklich nicht mit dem Zwischenruf „Angst" zu kommen brauchen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Koalition bleibt bei ihrer Haltung: Keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der Investitionen in die Einheit Deutschlands. ({2}) Es bleibt beim Eckwertebeschluß vom 14. November 1990 über Einsparungen und Umschichtungen, über den Abbau von Subventionen und Sonderregelungen sowie einer zeitlich begrenzten Anhebung der Neuverschuldung. ({3}) Wir sind in dieser Haltung vom Sachverständigenrat, von fast allen Sachverständigen, die Sie beim Hearing des Haushaltsausschusses anhören wollten, und von der Bundesbank unterstützt worden. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sind die Steuererhöhungspartei. ({4}) Sie haben die Steuer- und Abgabenquote in den 70er Jahren auf schwindelerregende Rekordhöhe gebracht. Sie haben in den letzten Jahren, zum Glück ohne Regierungsverantwortung, sage und schreibe 44 Steuererhöhungspläne auf den Tisch gelegt. Daß die Staatsquote von 50 auf unter 46 % gesenkt wurde und die Steuerquote heute auf dem niedrigsten Stand seit 1959 ist, ist der Erfolg der Finanzpolitik dieser Koalition und dieser Regierung. ({5}) Ihre Sprache ist allerdings verräterisch. Daß Sie hier nur noch zu Begriffen wie „Lüge" und „Unterstellung" greifen, daß hier Vokabeln wie „Schweinereien" im Zusammenhang mit dem Bund-Länder-Verhältnis von einem Bürgermeister gebraucht werden, das zeigt doch, daß Sie sich in Ihrer Strategie geirrt haben. Sie selber, Herr Lafontaine, haben zugegeben, daß Sie sich darin geirrt haben, wie dies bei der Bevölkerung ankommt. Sie haben gemeint, durch diese Aufputschung der Gefühle könnten Sie eine Mehrheit erreichen. Sie haben sich getäuscht; die Bevölkerung wird anders entscheiden. ({6}) Außerdem wäre es viel reizvoller, Herr Lafontaine, wenn Sie sich einmal mit den verschiedenen sehr widersprüchlichen Äußerungen aus den eigenen Reihen zur Steuerpolitik beschäftigten. ({7}) So hat z. B. Frau Matthäus-Maier noch im Februar 1990 im „Münchner Merkur" gesagt: Ich bin gegen die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Besserverdienende. ({8}) Ja, stimmt das jetzt noch, oder stimmt das nicht mehr, oder haben Sie um des kurzfristigen Vorteils willen, für einige Wochen im Schatten von Herrn Lafontaine stehen zu dürfen, Ihre Überzeugung aufgegeben? ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau MatthäusMaier?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Weil ich sie direkt angesprochen habe, ja.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesfinanzminister, würden Sie bitte zur Kenntnis geben, daß ich dem „Münchener Merkur" noch nie ein Interview gegeben habe? ({0}) - Ich bitte um Entschuldigung! Dann zeigen Sie das bitte vor. Ich habe dem „Münchener Merkur" kein Interview gegeben. Ich bin der Ansicht - wie wir alle; das können Sie nachlesen - , daß die starken Schultern einen zeitlich befristeten Solidarbeitrag leisten müssen. Es wäre eine glatte Lüge, wenn es hier so stehen sollte. ({1})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Ich habe nicht behauptet, daß dort ein Interview abgedruckt ist. Ich frage Sie: Haben Sie diesen oder einen ähnlichen Satz gesagt, oder haben Sie das nicht getan? ({0}) - Frau Präsidentin, ich nehme nicht an, daß das Frage-und-Antwort-Spiel auch in umgekehrter Reihenfolge stattfinden kann. ({1}) Nur, Frau Kollegin Matthäus-Maier, wenn ich mich recht erinnere, haben Sie und auch andere Sprecher der SPD mehrfach erklärt, es sei jetzt nicht die Zeit für Steuererhöhungsdiskussionen, sondern man müsse vielmehr Einsparungen und Umschichtungen vornehmen. Genau das haben wir getan, während Sie hier heute wieder den Steuererhöhungspfad beschreiten. ({2}) Meine Damen und Herren, wollen Sie leugnen oder wollen Sie bestreiten, daß die sozialdemokratischen Bürgermeister und Ministerpräsidenten Voscherau, Engholm, Schröder und Wedemeier zum Teil zusätzlich zur Ergänzungsabgabe immer wieder für eine Anhebung der Mehrwertsteuer eingetreten sind, weil die Länder natürlich davon profitieren würden? Stimmt das auch nicht? ({3}) Die Teilung überwinden heißt, teilen zu lernen; das ist richtig. Aber wir wollen nicht - wie die Sozialdemokraten - den Mißerfolg, sondern wir wollen die Zukunftsperspektiven eines wiedervereinigten Deutschlands teilen. Die Investitionen in die Einheit, in die Freiheit und in den Aufbau einer Sozialen Marktwirtschaft, die wir jetzt und in den nächsten Jahren tätigen, werden die rentierlichsten Investitionen in Deutschland seit 1945 sein. ({4}) Unser Konzept heißt: Prioritäten setzen statt umverteilen. Würden wir nach den Vorstellungen der Sozialdemokraten neue Ausgaben einfach nur auf die bisherigen Verpflichtungen draufsatteln, dann wären wir in wenigen Jahren wieder bei der totalen Staatswirtschaft. ({5}) Wir haben demgegenüber in der letzten Woche klargemacht: Bereits im nächsten Jahr werden 35 Milliarden DM im Bundeshaushalt eingespart und umgeschichtet. ({6}) Bis 1994 werden wir den Ausgaberahmen sogar um 70 Milliarden DM reduzieren. ({7}) - Meine Damen und Herren, wir haben seit 1982 alles, was wir angekündigt haben, auch umgesetzt. Wir haben die Wähler vor den Wahlen nicht angelogen, wie es 1976, 1980 und 1982 von der SPD versucht wurde. ({8}) Setzen Sie sich doch endlich einmal mit dem auseinander, was Ihr früherer Wirtschafts- und Finanzminister, Professor Karl Schiller, gesagt hat oder was Renate Merklein in der „Welt" formuliert hat. ({9}) - Entschuldigung, ich halte das für sehr intelligente Äußerungen, bei denen Lachen völlig unangemessen ist. - Beide haben von den Synergieeffekten auf Grund der Vereinigung gesprochen. Wenn Frau Matthäus-Maier mir in der „Welt" vom 16. November 1990 mangelnde Solidität und Ehrlichkeit vorwirft - ({10}) - Ich finde es bemerkenswert, daß man dem anderen hier ganz bewußt ({11}) mangelnde Ehrlichkeit unterstellen darf. Ich finde das ganz bemerkenswert. Das ist eine Verwilderung der politischen Sitten, die Sie in der Endzeit des Wahlkampfs benötigen, weil Sie nämlich den Kredit beim Wähler verloren haben, meine Damen und Herren. ({12}) Wenn Sie dabei zum Ausdruck bringen, die Aufwendungen für die Einheit belasteten auch noch unsere Kinder und Enkel, ohne daß wir ihnen dafür mit Zukunftsinvestitionen einen Gegenwert hinterlassen, so kann ich darauf nur erwidern: Eine größere und ertragreichere Zukunftsinvestition als die Investition in die deutsche Einheit kann ich mir nicht vorstellen. ({13}) Es wird Zeit, daß Sie endlich die in der Einheit liegenden Zukunftschancen begreifen und Ihre Angstkampagne einstellen. Draußen nimmt Ihnen doch keiner mehr die Behauptung ab, wegen der Investitionen in die Einheit könnten in den alten Bundesländern keine Kindergärten mehr gebaut werden, wie dies Ministerpräsident Rau in einem Zeitungsinterview unterstellt. ({14}) Ist das die Fortsetzung der Methode „Versöhnen statt Spalten"? Ich finde, das ist eine merkwürdige Methode, meine Damen und Herren. ({15}) Wie notleidend Ihre Steuererhöhungskampagne geworden ist, zeigt Ihr verzweifelter Rückgriff auf die völlig unschuldige CO2-Abgabe. Bereits am 13. Juni 1990 hat das Bundeskabinett die Ressorts beauftragt, die Möglichkeiten der CO2-Reduktion u. a. durch spezielle Steuern oder Abgaben zu prüfen. ({16}) Am 22. Oktober 1990 hat sich die CDU in ihrem Wahlprogramm für die CO2-Abgabe ausgesprochen, und auch wir in der CSU haben etwas Entsprechendes gefordert. Am 7. November 1990 hat das Bundeskabinett einen Bericht zur Reduzierung der CO2-Emissionen, der wiederum die Steuer- oder Abgabenoption enthält, verabschiedet. Jetzt, am 19. November 1990, schlägt Ministerpräsident Lafontaine Alarm, obwohl die CO2-Abgabe oder Klimaschutzsteuer mit der deutschen Einheit nun wirklich überhaupt nichts zu tun hat. ({17}) Sie offenbaren damit wieder einmal Ihren völligen Mangel an finanzpolitischem Grundwissen. Sie müßten doch wissen: Sonderabgaben dürfen nach den strengen Vorgaben der Rechtsprechung überhaupt nicht zur Finanzierung allgemeiner Staatsaufgaben eingesetzt werden. ({18}) Sie dienen ausschließlich und allein der Verbesserung des Umweltschutzes. Nicht die Bundesregierung durch eine mögliche CO2-Abgabe, sondern die Sozialdemokraten durch ihr widersprüchliches und umstrittenes Öko-Steuerprogramm wollen bei den Bürgern abkassieren, die Staatsquote erhöhen und ein neues Umverteilungskarussell in Gang setzen. ({19}) Meine Damen und Herren, ich verstehe auch die Kritik der SPD an alternativen Finanzierungsformen für Infrastrukturinvestitionen überhaupt nicht. Wenn wir solche Modelle prüfen, geht es doch nur darum, wirtschaftlich sinnvolle Projekte, die im Rahmen einer verantwortbaren Kreditfinanzierung kurzfristig nicht verwirklicht werden könnten, so früh wie möglich auf den Weg zu bringen. ({20}) Es entspricht ganz elementaren marktwirtschaftlichen Grundregeln, Investitionen vorzunehmen, die sich durch Entgelte der Benutzer zumindest auf mittlere Sicht selbst tragen. Mit zusätzlichen Belastungen der Bürger hat das ebensowenig etwas zu tun wie die Erhebung von Eintrittsgeldern in einem Freizeitpark oder in einem Kino. Es ist schon ein starkes Stück, wie Lafontaine zu behaupten, wir würden einen Griff in die Rentenkasse vornehmen, und es sei die Kürzung von Renten zu befürchten. ({21}) In einem Gesetzentwurf der Fraktion der SPD vom 5. Juni 1990 - Drucksache 11/7357 des Deutschen Bundestages - heißt es: Senkung des Beitragssatzes von 18,7 auf 18 Prozent zum 1. September 1990 und damit Heranführung der Schwankungsreserve an den gesetzlich vorgeschriebenen Wert von einer Monatsausgabe. Unterschrieben von „Dr. Vogel und Fraktion". Ja, es ist doch ein seltenes Maß an Doppelzüngigkeit, uns, wenn wir so etwas vorhaben, einen Griff in die Rentenkasse zu unterstellen, während man noch vor wenigen Wochen genau das gleiche vorhatte und es hier im Deutschen Bundestag eingebracht hat. ({22}) Für wie dumm halten Sie eigentlich die Mitglieder des Deutschen Bundestages und die deutsche Öffentlich18910 keit, wenn Sie meinen, daß sie vergessen haben, was Sie hier noch am 5. Juni selber beantragt haben? Es ist der Gipfelpunkt an Heuchelei, was hier stattfindet. ({23}) Meine Damen und Herren, würden wir uns der Strategie von Herrn Lafontaine anschließen und Tatsachen durch Unterstellungen ersetzen, so müßte ich konsequenterweise den gesamten SPD-Vorstand der Gysi-Lüge bezichtigen. Denn da war in der Presse zu lesen - ich zitiere - : Gysi lügt, die SPD wird gegen ihn vorgehen. - Einen Tag später wurde über Gespräche des SPD-Präsidiumsmitglieds Bahr mit Herrn Gysi über die Rückgabe von SED-Vermögen an die SPD gesprochen. Wir tun das nicht. ({24}) Ich will es vor allem heute auch deshalb nicht tun, weil der Kollege Bahr seine letzte Rede hier gehalten hat. Nur, meine Damen und Herren, wenn man diese Art und Weise von Unterstellungen zum politischen Handwerk macht, dann vergiftet man das politische Klima und leistet einen miserablen Beitrag zur politischen Semantik und zur politischen Kultur. ({25}) Ich nehme an, daß der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sehr beeindruckt war von der Aufforderung der SPD-Spitze zu mehr Solidarität. Aber, Herr Kollege Vogel, das kann doch wohl nicht Ihr Ernst sein. ({26}) Wer wie Oskar Lafontaine die von Helmut Schmidt hervorgehobenen und beim Wiederaufbau der ehemaligen DDR dringend benötigten Tugenden wie Pflichtgefühl und Standhaftigkeit als bloße Sekundärtugenden abtut und - ich zitiere - hinzufügt „präzise gesagt: damit kann man auch ein KZ betreiben", ({27}) der kann doch keine Solidarität verlangen. Oder sind Unterstellungen, Verleumdungen und Beleidigungen neuerdings zu Primärtugenden des SPD-Kanzlerkandidaten und seiner geschrumpften Anhängerschaft geworden? ({28}) Ich halte es auch für notwendig, Herr Ministerpräsident Lafontaine, an ein paar Bemerkungen aus den letzten Jahren zu erinnern. ({29}) Noch 1987, Herr Ministerpräsident, waren Sie überzeugt, die DDR des Erich Honecker sei keineswegs ein flüchtiges Phänomen, sondern - ich zitiere wörtlich - „ein wirtschaftlich leistungsfähiger, innenpolitisch stabiler und außenpolitisch selbstbewußter Staat". ({30}) - „Strauß läßt grüßen"? Mit Strauß verglichen zu werden ist nobel; ich bedanke mich sehr herzlich dafür. ({31}) Wir haben übrigens bei den Landtagswahlen in Bayern fast das gleiche Ergebnis erzielt, und er ist mit uns sehr zufrieden, wie ich aus verläßlicher Quelle weiß. ({32}) Im August sprachen Sie, Herr Lafontaine, davon, bis zum Fall der Mauer sei die DDR ein führendes Industrieland gewesen. Woher Sie diese Erkenntnis beziehen, weiß ich nicht. Das ist wirklich höhere Nationalökonomie, über die wir nicht verfügen; das gebe ich gerne zu. ({33}) Und wenn ich heute noch von Ihnen höre, man hätte damals Herrn Modrow doch das Geld geben sollen, dann kann ich nur entgegnen, meine Damen und Herren: Wir sind stolz darauf, daß wir dem Mann, dessen Verstrickungen heute erst deutlich werden, damals keine Mark mitgegeben haben, sondern erst danach den Demokraten. ({34}) Sie, Herr Lafontaine, rennen dem Zug der Einheit seit zwölf Monaten vergeblich hinterher. Sie haben sich geirrt. Sie haben im Bundesrat die Währungsunion abgelehnt, während die große Mehrheit Ihrer Fraktion zugestimmt hat. Während im Ollenhauerhaus Fusionsverhandlungen zwischen der SPD-West und der SPD-Ost stattfanden, lehnten Sie immer noch das Tempo der politischen Einigung ab. Es trifft zu und bleibt wahr: Sie sind der falsche Mann zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort - auch für die SPD! ({35})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Ullmann?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Bitte schön.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, gehen Sie mit mir davon aus, daß Sie Herrn Modrow zwar nicht 15 Milliarden DM gegeben haben, aber Ihr Vorgänger im Parteiamt Herrn Honecker mehrere Kredite in Milliardenhöhe zugeschanzt hat? ({0})

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Zu diesem Zeitpunkt, Herr Kollege, war klar, daß eine demokratische Regierung kommen würde. ({0}) Zu diesem Zeitpunkt war klar, daß Herr Modrow und Frau Luft unfähig waren, das herbeizuführen, was man an Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft verBundesminister Dr. Waigel langen konnte. Zu diesem Zeitpunkt wären die 15 Milliarden DM in den Sand gesetzt worden, ({1}) während sie nachher gut angelegt waren, und dabei bleibt es! ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Brück?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Nein. ({0}) - Ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie zugeben, daß das wichtige Sätze sind. Von Lafontaine konnte man das nicht behaupten; da haben Sie den Zuruf auch nicht gemacht. ({1}) Was seine immer noch gehegten Vorstellungen angeht, ein langsam zu vollziehender, langjähriger Stufenplan wäre wohl das richtige gewesen, so sollte sich Lafontaine doch von seinem zeitweiligen wirtschaftspolitischen Berater, Professor Karl Schiller, überzeugen lassen, der in der „Zeit" kürzlich mit großer Klarheit dazu Stellung genommen hat. Schiller hat dazu geschrieben: Vermag man es sich wirklich auszumalen, daß eine schwache Obrigkeit in der turbulenten DDR für mehrere Jahre einen ökonomischen Schutzzaun um das Gebiet hätte halten, Devisenkontrollen durchsetzen, eine solide Finanzpolitik und moderne Geldpolitik bei schwankenden Wechselkursen handhaben können? Glauben Sie im Ernst, Herr Ministerpräsident Lafontaine, Ihr Kollege Romberg hätte einen vernünftigen Haushalt aufstellen, Subventionen abbauen und die Konvertibilität der DDR-Mark herstellen können? Und mit welchen Mitteln hätten Sie eine neue Mauer bauen wollen, um die Menschen davon abzuhalten, Hunderttausende oder Millionen, vom Osten in den Westen zu gehen? ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, bleibt es bei der Ablehnung von Zwischenfragen, oder lassen Sie jetzt eine weitere Zwischenfrage zu?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Nein. ({0}) Lassen Sie mich, weil Sie mir die Schulden dieses Jahres quasi immer so als persönliche Schulden vorhalten, noch etwas zur Finanzpolitik im Saarland sagen. ({1}) Denn die Menschen in der Bundesrepublik sind doch wirklich daran interessiert, zu erfahren, wie Finanzpolitik im Saarland stattfindet. ({2}) Nur, wer abrechnen will, der muß auch rechnen können. Herr Ministerpräsident Lafontaine, wenn Sie die Finanzpolitik der Bundesregierung hier massiv angreifen, dann müssen Sie sich an dem messen lassen, was Sie selbst als Ministerpräsident im Saarland erreicht bzw. nicht erreicht haben. ({3}) Sie haben sich im letzten Jahr einen Anteil der Kredite an den Gesamtausgaben von über 15 % geleistet. ({4}) Bei den Flächenländern insgesamt betrug der entsprechende Anteil nur 3,9 %, beim Bund 6,6 %. ({5}) Die Verschuldung des Saarlandes war Ende 1989 mit über 10 000 DM pro Kopf doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Flächenländer. ({6}) Das ist schon ein starkes Stück: mir hier die Schulden des Jahres 1990 vorzuhalten, sich aber die eigenen Schulden nicht vorhalten zu lassen. Nein, mit dem Doppelspiel können Sie hier nicht mehr durchkommen! ({7}) Allein seit 1985 hat jeder Saarländer 3 000 DM zusätzliche Landesschulden zu tragen; ({8}) im Durchschnitt betrug der Anstieg nur 900 DM. ({9}) Sie haben die finanzpolitische Situation des Saarlandes bis zur Verfassungswidrigkeit festgefahren - wie Ihr eigener Rechnungshof Ihnen bestätigt hat. ({10}) Sie sind keinen Schritt vorangekommen, obwohl der Bund seine Zuweisungen ab 1985 um über 10 % jährlich erhöht hat. ({11}) Die Folgen dieser verfehlten Finanz- und Wirtschaftspolitik liegen auf der Hand. Im „Handelsblatt" vom 11. Oktober 1990 ist nachzulesen: „Das Land Lafontaines hinkt dem Durchschnitt hinterher". ({12}) Insgesamt erhöhte sich die reale gesamtwirtschaftliche Leistung an der Saar seit 1980 um 14,6 %, verglichen mit einem Zuwachs von 18,4 % im Bundesgebiet.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Matthäus-Maier?

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Nein. ({0}) Meine Damen und Herren, wir und die Wähler wären wahrhaftig schlecht beraten, wenn wir auf finanzpolitische Konzepte des gescheiterten Ministerpräsidenten von der Saar hören würden. Meine Damen und Herren, Sie haben doch in den 70er Jahren auf die externen Angebotsschocks falsch reagiert. Damals ist es zur Überforderung des Staates gekommen. Damals ist die finanzpolitische Stabilität verlassen worden. ({1}) Damals hat man in einer Reformeuphorie eine Finanzpolitik betrieben, die im Jahre 1982 ein Erbe hinterlassen hat, das uns ungeheure Mühen bereitet hat, den Staat finanzpolitisch wieder zu konsolidieren. ({2}) Die Solidität unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die Rückbesinnung auf die marktwirtschaftlichen Ordnungsprinzipien, die schrittweise Konsolidierung der öffentlichen Haushalte, die Reduzierung der leistungs- und wachstumsfeindlichen Steuerbelastung, Maßnahmen zur Deregulierung und Privatisierung haben die Voraussetzung für die längste konjunkturelle Aufwärtsbewegung der Nachkriegsgeschichte geschaffen. ({3}) Acht Jahre Konjunkturaufschwung, eine um über 2,5 Millionen gestiegene Erwerbstätigenzahl, weitgehend stabile Preise, steigende Realeinkommen aller Schichten der Bevölkerung - das ist eine Bilanz, die sich sehen lassen kann und auf die wir stolz sind. ({4}) Vielleicht, Herr Lafontaine, überlegen Sie sich doch noch einmal, was Karl Schiller, Hans Apel und Helmut Schmidt, drei renommierte frühere Finanzminister dieser Republik, gesagt haben. ({5}) Karl Schiller erklärte: „Ich hätte es genauso gemacht. " - Wir bedanken uns bei Karl Schiller für diese objektive Darstellung. ({6}) Hans Apel hat dieser Tage gesagt: „In Bonn müßte ich immer wieder nur dasselbe erzählen, nämlich daß der Waigel nichts kann; und im Stillen wüßte ich, daß das nicht stimmt." - Ich bedanke mich bei Hans Apel für diese Fairneß. ({7}) Und Helmut Schmidt hat recht mit seinen Worten, auch wenn er sie nur privat gesagt hat: „Lafontaine wird die Wahl verlieren, und das verdient er auch" . - Helmut Schmidt hat recht. Ich danke Ihnen. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zu einer Kurzintervention hat Frau Matthäus-Maier das Wort.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, wir haben Ihnen viele Fragen gestellt: Wie hoch wird im nächsten Jahr das Ausgabevolumen des Haushaltes sein? Wie hoch sind die Einnahmen? Wie wollen Sie die Finanzierungslücke von über 200 Milliarden DM finanzieren? Wo wollen Sie konkret einsparen? Warum haben Sie bisher nicht eingespart, insbesondere beim Verteidigungshaushalt? Warum haben Sie keine Haushaltssperre erlassen? Welche Beiträge, Gebühren, Steuern und Abgaben wollen Sie erhöhen? An welcher Stelle wollen Sie den Bürger konkret belasten? Obwohl Sie 35 Minuten gesprochen haben, haben Sie keine einzige dieser Fragen beantwortet. ({0}) Meine Damen und Herren, das waren 35 Minuten Ablenkungsmanöver. Wir sitzen doch hier im Bundestag, weil dies der Ort ist, um solche Antworten zu geben. Eine derartige Rede haben die Bürgerinnen und Bürger in dieser Republik nicht verdient. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Vennegerts.

Christa Vennegerts (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002365, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung ist an Unglaubwürdigkeit nicht zu übertreffen. Das hat eben erst Minister Waigel wieder vorgeführt, indem er versucht hat darzustellen, daß er bereits 1982, als der damalige Ministerpräsident Strauß Honecker die Milliardenkredite zugesagt hat, die kommende Revolution vorausgesehen hat. Das ist eine wirkliche Verdummung der Leute. Es ist unglaublich, was hier abläuft. ({0}) Als die Reform lief, hat er Herrn Modrow jede 1,50 DM verweigert. Das ist Ihre unsoziale und ungerechte Politik! Was viele vermutet haben, wurde durch die Ankündigung des Bundeskanzlers und Herrn Waigels klar: Auf die Bürgerinnen und Bürger kommen im nächsten Jahr höhere Belastungen zur Finanzierung des riesigen Haushaltsdefizits zu. Eine ganze Nation muß wohl schwerhörig gewesen sein, wenn der Kanzler jetzt behauptet, er habe nie versprochen, es werde keine Steuer- oder Abgabenerhöhungen geben. Lügenbaron Münchhausen erscheint nach dieser Behauptung des Kanzlers geradezu als Waisenknabe. ({1}) Da ein Großteil der geplanten Rekordverschuldung für 1991 auf Grund des Einigungsprozesses zustande kommt, ist es einfach absurd, Herr Bundeskanzler, zu behaupten, die vorgesehenen Steuererhöhungen seien nicht zur Finanzierung der Aufgaben in den neuen Bundesländern bestimmt. Die CDU ist nicht nur steuerpolitisch unzuverlässig, wie Graf Lambsdorff feststellte, sie hat im Verbund mit Minister Waigel versucht, die Bevölkerung an der Nase herumzuführen. Minister Waigel spricht von Opfern, Einsparungen und Rückführung der Ausgaben. Die Frage ist nur: Wo erfolgt es, und zu wessen Kosten geht es? Mit der magischen Formel „Wirtschaftswunder DDR" glaubte die Bundesregierung alle durch die überstürzte Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ausgelösten Probleme wegzaubern zu können. Wie aber sieht die Wirklichkeit aus? In nahezu allen Bereichen der Haushalts-, Wirtschafts- und Finanzpolitik erweisen sich die optimistischen Prognosen der Bundesregierung als hinfällig. Auch die von der Bundesregierung letzte Woche bekanntgegebenen Haushaltseckwerte für das Haushaltsjahr 1991, die man wohl genauer als Verschleierungswerte bezeichnen sollte, gehen von Voraussetzungen aus, von denen heute schon sicher ist, daß sie nicht eintreten werden. Das ist die Wahrheit. ({2}) Die Wachstumsraten des Bruttosozialprodukts für 1991 werden bewußt zu hoch angesetzt. Für die fünf neuen Bundesländer wagt das Finanzministerium keine Prognose, sondern zündet wahlpropagandistische Nebelkerzen. Für die Beitrittsländer erwarte die Bundesregierung - so Waigel - , daß der Aufschwung im Frühjahr beginnt und kräftig ausfällt. Diese Aussage ist wirklich sehr fundiert und genau: Mein Vorschlag an die Bundesregierung: Wie wäre es denn, wenn sie angesichts des bevorstehenden Weihnachtsfestes den Wirtschaftsaufschwung schon am 24. Dezember beginnen ließen? Im Zurechtfrisieren von Zahlen sind Sie ja hinlänglich geübt. Der Zweck der Übung ist doch allen klar: Hohes wirtschaftliches Wachstum - auf dem Papier - führt zu höheren Steuereinnahmen - auf dem Papier - und vermindert entsprechend das Haushaltsdefizit - gleichfalls auf dem Papier. Schon jetzt gibt es deutliche Alarmzeichen für die wirtschaftlich und sozial fatalen Folgen einer Politik der überzogenen Staatsverschuldung. Auf diesem Gebiet sind Sie wirklich Rekordminister, Herr Waigel. Die Ausdehnung der staatlichen Kreditnachfrage treibt das Zinsniveau in die Höhe, was Realinvestitionen zunehmend unrentabel macht. Die Finanzpolitik der Bundesregierung gerät somit sogar in Widerspruch zu ihrer eigenen Zielsetzung, nämlich Investitionen zu fördern. Das hohe Zinsniveau geht auch voll zu Lasten der sozial Schwachen. Für Wohnungssuchende und Mieter verteuern sich die Mieten; ganz zu schweigen von den kleinen Bauherren. Der Zinsanstieg führt auch zu steigenden Zinsausgaben im Bundeshaushalt. Bereits 1990 sind die Ausgaben für Zinsen mit 35 Milliarden DM nach den Ausgaben für Soziales und Verteidigung der drittgrößte Ausgabenposten im Haushalt. Ein weiterer Anstieg dieser Ausgaben droht die künftigen haushaltspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten auf Null zu reduzieren. Wir fordern deshalb einen sofortigen Schulden-Stopp und nicht, was Sie machen, eine unverantwortliche Rekordneuverschuldung, Herr Minister. Anstelle der unverantwortlichen Ausdehung der Staatsverschuldung schlagen wir Einsparungen und Umschichtungen im Bundeshaushalt vor, die Sie bis jetzt schuldig geblieben sind. Bereits mit der Herstellung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 wäre die Bundesregierung verpflichtet gewesen, zügig Einsparvorschläge zu entwickeln. Wenn nunmehr in den Haushaltseckwerten für 1991 großangelegte Umschichtungen im Volumen von 35 Milliarden DM angekündigt werden, ist auch dies völlig unglaubwürdig. Im Juni dieses Jahres kündigte Minister Waigel Einsparungen von 20 Milliarden DM an, dann von 7,6 Milliarden DM, dann wieder von 35 Milliarden DM. Im Zeugnis jedes Grundschülers würde ein solcher Zickzackkurs zu einem „Versetzung gefährdet" führen. Und Sie versuchen, sich hier noch als seriöser Finanzminister darzustellen! Das ist wirklich mehr als dünn. ({3}) Wir befürchten, daß die Bundesregierung großangelegte Streichungen bei Steuervergünstigungen und Finanzhilfen für Arbeitnehmer, Kleinsparer und sozial Schwache plant, aber nicht wagt, sie vor der Bundestagswahl bekanntzugeben. Warum sagen Sie denn nicht, wo Sie streichen wollen, wenn Sie nicht solche Gemeinheiten planen? Abbau von Subventionen sind die schönen Worte. Umverteilung von unten nach oben werden die häßlichen Taten sein. Unsere Alternativen sind: Erstens fordern wir massive Kürzungen im Verteidigungsbereich. Trotz der Auflösung der Blockkon18914 frontation bewegt sich der Verteidigungshaushalt auf einem unverantwortlichen Rekordniveau von 57 Milliarden DM. Eine drastische Kürzung der Verteidigungsausgaben ist überfällig. 15 Milliarden DM sind durchaus realisierbar. ({4}) Daß auch die SPD für das kommende Jahr Einsparungen von 9 Milliarden DM fordert, begrüßen wir selbstverständlich. Aber wir erinnern uns daran, daß es noch kein Jahr her ist, daß die GRÜNEN einen Vorschlag der SPD-Haushälter zur Kürzung des Verteidigungsetats um 5 Milliarden DM aufgegriffen haben und bei der entscheidenden Abstimmung im Parlament die SPD sich enthalten hat. ({5}) Also beim nächsten Mal bitte nicht den gleichen Eiertanz! Zweitens fordern wir die Streichung von Mitteln im Bereich der bemannten Raumfahrt und im Bereich der Atomenergie und die Einsparung der teilungsbedingten Kosten. Alles zusammengenommen, lassen sich damit ca. 30 Milliarden DM einsparen. Es wäre jedoch eine Illusion, zu glauben - auch das an Ihre Adresse, Herr Finanzminister -, daß Sie allein durch Einsparungen und Umschichtungen die gewaltigen Aufgaben in der ehemaligen DDR bestreiten können. Notwendig ist deshalb eine Verbesserung der Einnahmenseite, und das wissen Sie. Statt wie die Bundesregierung eine unseriöse und unsoziale Finanzpolitik auf dem Buckel der sozial Schwachen durch hohe Neuverschuldung und eine geplante Mehrwertsteuererhöhung durchzuführen, schlagen wir eine ökologisch orientierte und sozial differenzierte Anhebung der Steuern vor. Völlig unstreitig dürfte sein, daß sowohl zur raschen Umweltsanierung Ostdeutschlands wie zur Verbesserung der ökologischen Situation in der Bundesrepublik erhebliche Geldbeträge investiert werden müssen. Die GRÜNEN haben bereits vor Jahren zum ökologischen Umbau der Industriegesellschaft ein entsprechendes ökologisches Steuer- und Abgabenprogramm vorgelegt. ({6}) Aber nun wird es hochinteressant: Zu Wahlkampfzeiten entdeckt offensichtlich jede Partei ihr Herz für die Umwelt und hängt sich schnell ein ökologisches Mäntelchen um. Wenn jetzt der Kanzler Öko-Abgaben ins Spiel bringt, drängt sich der Verdacht auf, daß es sich ausschließlich um ökologisches Wahlkampfgeklimpere handelt. In Wirklichkeit soll nur Minister Waigels Haushaltskasse gefüllt werden. Zur Finanzierung des ökologischen Umbaus sollte unserer Ansicht nach u. a. eine Primärenergiesteuer eingeführt werden und die Mineralölsteuer im ersten Schritt um eine D-Mark je Liter angehoben werden. ({7}) Eine Primärenergiesteuer ist einer CO2-Abgabe eindeutig vorzuziehen, da eine CO2-Abgabe den Atomstrom freistellt und dieser dadurch begünstigt würde. Dies ist vermutlich auch die Absicht von Kanzler und Atomlobby. Ziel einer ökologisch verträglichen Energiepolitik muß die generelle Verbrauchssenkung und der Ersatz fossiler durch erneuerbare Energien sein. ({8}) Dazu gehört auch der sofortige Ausstieg aus der Atomenergie. Genau dies wollen die Altparteien aber nicht, auch die SPD nicht. Die Einnahmen aus der Primärenergie- und Mineralölsteuer von rund 70 Milliarden DM müssen zweckgebunden für Energiesparinvestitionen, erneuerbare Energien und zum Ausbau und Aufbau eines preiswerten und attraktiven öffentlichen Nahverkehrs eingesetzt werden. Umweltabgaben werden nur dann zu einer Verhaltensänderung beitragen, wenn sie wirklich spürbar umweltschädigendes Verhalten belasten. Es mutet deshalb schon geradezu lächerlich an, wenn CDU/ CSU und der Bundeskanzler eine CO2-Abgabe fordern, und der Abgabesatz bei 10 DM pro Tonne CO2 liegen soll. Umgerechnet bedeutet dies knapp drei Pfennig pro Liter Heizöl oder Benzin. Wie dadurch eine Verhaltensänderung bewirkt werden soll, mag verstehen wer will. ({9}) Problematisch ist auch der SPD-Vorschlag, Ökoabgaben zur Finanzierung der Anhebung des steuerlichen Grundfreibetrags und nicht für den ökologischen Umbau einzusetzen. Daraus erklärt sich auch, warum im SPD-Konzept kaum Mittel für alternative Verkehrsmittel, für eine umweltverträgliche Landwirtschaft und für Sanierungsmaßnahmen, z. B. im Altlastenbereich, bereitstehen. Sie wollen auch weiter die Landschaft mit Autobahnen und Fernstraßen zupflastern. Wer Ökosteuern zur allgemeinen Steuerentlastung einsetzt, dem fehlt das Geld für den ökologischen Umbau; das ist nun einmal so. ({10}) Ökoabgaben werden von den Menschen nur akzeptiert und sind nur dann sinnvoll, wenn ihnen konkrete umweltverträgliche Alternativen angeboten werden und sie so in die Lage versetzt werden, sich ökologisch vernünftig zu verhalten. Ökoabgaben sind dann am effektivsten, wenn ihr Aufkommen gegen Null geht, ein Zeichen dafür, daß die Bürgerinnen und Bürger ihr Verhalten geändert haben und folglich keine Abgaben mehr entstehen. Auch aus diesem Grund verbietet es sich, Umweltsteuern zur Finanzierung allgemeiner Staatsausgaben einzuplanen. Wie soll denn ein kontinuierlicher Ausgabebedarf, z. B. für die Anhebung des Grundfreibetrags, finanziert werden, wenn die Umweltsteuern zurückgehen? Das ist ein Konzept, das in sich widersprüchlich und nicht schlüssig ist. Darüber sollte die SPD auch noch einmal nachdenken. ({11}) Die Finanzierung der deutschen Einheit darf keine soziale Schlagseite bekommen; das ist uns besonders wichtig. Wer viel verdient, soll entsprechend seiner höheren Leistungsfähigkeit einen im Vergleich zum Durchschnittsbürger höheren Beitrag leisten. ({12}) Deshalb ist die Einführung einer Ergänzungsabgabe für Höherverdienende sowohl aus Finanzierungswie aus Gerechtigkeitsgründen geboten. ({13}) Das haben wir bereits im März gesagt. Eine Solidarabgabe der Wirtschaft auf nicht investierte und nicht ausgeschüttete Gewinne ist ebenfalls gerecht. Die Schaffung eines Niedrigsteuergebietes im Bereich der ehemaligen DDR, wie es die FDP vorschlägt, lehnen wir ab, weil wir glauben, daß damit der Auftakt zu einer allgemeinen Senkung vor allen Dingen auch der Unternehmensteuern bezweckt wird. Außerdem lehnen wir aus sozialen Gründen die Anhebung der Mehrwertsteuer ab, weil sie unsozial ist. Es geht nicht darum, über den hohen Finanzbedarf zur Finanzierung der Einheit zu jammern, was immer unterstellt wird, wenn man als Opposition eine andere Meinung zur Finanzierung hat, entscheidend ist, zu wessen Lasten die Finanzierung erfolgen soll und für welche Zwecke die Gelder eingesetzt werden. ({14}) Apropos Geld: Die überhastete Wirtschafts- und Währungsunion hat nicht nur ökonomisch und sozial fatale Folgen, sie hat auch kriminelle Machenschaften und Geldschiebereien der ehemaligen Blockparteien begünstigt, wie sich heute wieder herausgestellt hat. Für diese Schiebereien ist auch die West-CDU verantwortlich. ({15}) Die GRÜNEN/Bündnis 90 setzen sich für einen konsequenten ökologischen Umbau der Industriegesellschaft ein, der den Menschen eine echte ökologische Alternative bietet. Die Bundesregierung hat nicht nur finanzpolitisch total versagt; sie hat auch kein Konzept dafür, wie die ökologischen Probleme des alten und neuen Deutschland zu lösen sind. Was die Menschen in den neuen Bundesländern brauchen, sind Maßnahmen gegen Massenarbeitslosigkeit, Aufbau z. B. von Beschäftigungsgesellschaften und konkrete Sanierungsprogramme im Umweltbereich. Die Bundesregierung hat mit der schnellen Wirtschafts- und Währungsunion sowie dem Einigungsvertrag - mit Unterstützung der SPD - die Weichen für diese unsoziale und umweltschädliche Politik gestellt. Wir fordern einen ökologischen und sozialen Umbau in Gesamtdeutschland. Nur die GRÜNEN/Bündnis 90 stehen für eine sozial gerechte und ökologisch glaubwürdige Politik. ({16})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich glaube, für diese etwas kümmerliche Rede ({0}) hätten sich nicht einmal Milli Vanilli, auch nicht gegen ein hohes Honorar, zur Verfügung gestellt. ({1}) Meine Damen und Herren, die Steuerdiskussion der letzten Wochen ist ein recht eindrucksvolles Beispiel dafür, wie man das erreicht, was die Amerikaner self-fulfilling prophecy, also sich selbst bestätigende Prophezeiung, nennen: Man redet den Wählern ein, die sozialen Kosten der deutschen Einheit, die in Wahrheit Reparaturkosten des Sozialismus sind, ({2}) gingen in die Hunderte von Milliarden. Karl Schiller hat das heute mit Recht als ein erbärmliches Armutszeugnis bezeichnet. Wenn man diese Rechnung auf die Million macht, und dann kommen die zwölf Nullen, dann werden Sie schon erlauben, daß man fragt, wer die dreizehnte ist. Das ist dann so bei dieser Rechnung! ({3}) Dann, meine Damen und Herren, behaupte man wahrheitswidrig, diese Riesensummen müßten vom öffentlichen Haushalt, also vom Steuerzahler, aufgebracht werden. Dann schließt man messerscharf, dazu brauche man Steuererhöhungen. Sollte das jemand bestreiten, so bezeichne man ihn als Steuerlügner. Das Rezept hat gewirkt. Die Argumentationskette - zwar falsch, aber sozialistisch griffig - hat bewirkt, daß angeblich 76 % der Menschen im Lande Steuererhöhungen erwarten. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition, diese 76 % gehen Ihnen nun doch nicht völlig auf den steuerpolitischen Horrorleim. Wählen werden sie Sie nicht. ({4}) So masochistisch ist der deutsche Steuerzahler denn doch nicht, daß er sich Steuererhöhungen geradezu wünschte. ({5}) 76 % erwarten sie. 76 % erwarten auch, daß sie in diesem Winter die Grippe bekommen. Wünschen tun sie sich beides nicht. ({6}) Meine Damen und Herren, die Sozialdemokratische Partei ist aber - das merkt man auch an ihrer Wahldarstellung, was das Wählerverhalten und die Ansprache der Wähler angeht - dem Realismus doch deutlich näher gerückt. ({7}) Wir haben ja Ihren Fernsehspot gesehen, angelehnt an die Sendung „Dingsda" mit den 4- bis 6jährigen Kindern. Man kann über Geschmack streiten, darüber, ob es sehr sinnvoll ist, 4- bis 6jährige Kinder zur Parteienwerbung einzusetzen - ich will das gar nicht tun -; es zeigt Realität. Sie wenden sich an die übernächste Wählergeneration, und daran tun sie recht. ({8}) Meine Damen und Herren, trotzdem, die Reaktionen der Presse - ({9}) - Kinderfreundliche Gesellschaft, wenn man das nun im Ernst aufnehmen wollte, Herr Vogel, dann muß ich sagen: Ich stelle mir unter einer solchen kinderfreundlichen Gesellschaft nicht vor, daß Kinder zur Wahlwerbung und Parteipolitik eingesetzt werden. Das haben wir nun gerade in einem anderen Teil Deutschlands gehabt. ({10}) - Ich wollte das nicht vertiefen. Aber wenn das der Hintergrund Ihrer Überlegungen ist, dann: Danke, nein. ({11}) Trotzdem, meine Damen und Herren: Die Reaktionen der Presse auf die Reden des Bundeskanzlers und des Bundesfinanzministers in München waren mindestens ebenso bemerkenswert wie die Reden selbst. Fast ohne Ausnahme erklang von „FAZ" bis „Frankfurter Rundschau" der Ruf: Na endlich! Nun ist also auch der Bundeskanzler für Steuererhöhungen, und der Bundesfinanzminister will wenigstens die Beamten ärgern. ({12}) Um das gleich klarzustellen: Ein Sonderopfer für die Beamten ist mit der FDP nicht zu machen. ({13}) Die Beamten werden durch eine Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung nicht belastet; sie werden durch eine Senkung der Beiträge zur Rentenversicherung aber auch nicht entlastet. Außerdem, meine Damen und Herren, das wissen wir nun alle, sind solche Sonderopfer erfahrungsgemäß in den Tarifverhandlungen für Angestellte und gewerbliche Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes niemals durchzusetzen. Aber, ich füge hinzu: Eine Tarifforderung des öffentlichen Dienstes von 10 % läßt alles Augenmaß und jede gebotene Zurückhaltung gegenüber den Anforderungen vermissen, die angesichts der deutschen Einheit notwendig sind. ({14}) Nur, meine Damen und Herren, stimme ich auch dem zu - ich glaube, Herr Lafontaine hat das gesagt -, daß die Wahlplakate der CDU von Herrn Diepgen in Berlin „gleiches Einkommen auf beiden Seiten" völlig unsinnig und unrealistisch sind und - das kann man am Ende natürlich gar nicht erfüllen - deswegen auch nicht ehrlich sind. Meine Damen und Herren, in der Steuerdiskussion gewinnt man bei uns den Eindruck, daß der gesamte finanzwissenschaftliche Sachverstand bei uns in den Wind spricht. Seine Hinweise gehen offenbar zum einen Ohr herein und zum anderen wieder heraus. Dies gilt im übrigen auch bei vielen journalistischen Kommentatoren, die die Politik doch sonst so gerne ermahnen, sachverständigen Rat nicht in den Wind zu schlagen. Selbst die Zeitung, die Karl Schillers überzeugendes Plädoyer gegen Steuererhöhungen jedweder Art als erste im Wortlaut abdruckte - allerdings im wirtschaftspolitischen, im sachverständigen Teil -, empfiehlt eine Woche darauf das Gegenteil in ihrem politischen Teil. Da wüßte man doch gerne, welche Ausgabe das Wohlgefallen des Herrn Bundeskanzlers gefunden hat. Wer im Kontext des Themas „Kosten der deutschen Einheit" über Steuern und umweltpolitische Abgaben in einem Atemzug spricht, wird sich über das verwirrende Echo nicht gewundert haben. Steuern haben zum Ziel, die Einnahmen des Staates zu erhöhen. ({15}) Sie sollen mehr Geld in die Kasse bringen. Umweltabgaben haben das Ziel, die Menschen zu umweltfreundlichem Verhalten zu bringen. Sie haben ihr Ziel dann erreicht, wenn kein Geld mehr in die Kasse kommt, weil die Abgabepflicht durch umweltgerechtes Verhalten entfallen ist. Für die FDP, meine Damen und Herren, sind Umweltabgaben kein Alibi für verdeckte Belastungserhöhungen. Die FDP hat sich in ihrem Wahlprogramm zum Ziel einer Reduzierung des CO2-Ausstoßes um 25 % bis zum Jahr 2005 bekannt. Eine gemeinsame europäische Klimaschutzsteuer in Gestalt einer zeitlich gestaffelten Energiesteuer auf fossile Energieträger halten wir für ein geeignetes Mittel, dieses Ziel zu erreichen. ({16}) - Nun einmal langsam. Wir stimmen einer solchen Steuerlösung unter folgenden Bedingungen zu - das tun wir seit langem - : Erstens. Es muß sich um eine wettbewerbsneutrale europäische Lösung handeln. Zweitens. Die Steuerquote darf nicht dauerhaft ansteigen. Drittens. Die Mittel müssen zur Absenkung der leistungsfeindlichen direkten Steuern verwandt werden. Viertens. Das Mittelaufkommen muß dem allgemeinen Bundeshaushalt zufließen. Fünftens. Die Steuersätze müssen mit fortschreitender Erreichung des Reduktionsziels zurückgeführt und die CO2-Steuer wieder abgeschafft werden. Eine CO2-Lenkungsabgabe halten wir für das falsche Mittel, weil das Abgabenaufkommen nach aufwendiger staatlicher Verwaltung ruft. Das Steueraufkommen und die Notwendigkeit, staatliche Projekte im Umweltschutz zu finanzieren, stehen aber in keinem begründbaren Zusammenhang. Eine Ausnahme gilt nur für die produktbezogene Deponieabgabe für Sonderabfälle. ({17}) Hier macht eine Zuordnung Sinn, weil der Abgabe konkrete Aufwendungen der öffentlichen Hand gegenüberstehen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Westphal?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nein.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte, Herr Westphal.

Heinz Westphal (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002489, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Graf Lambsdorff, ich wollte Sie eigentlich nur am Anfang dessen, was Sie als Bedingung zu einer neuen Steuer genannt haben, fragen, ob Sie noch in Erinnerung haben, wie Herbert Wehner so etwas genannt hätte, nämlich ein Messer ohne Klinge, dem das Heft fehlt?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das wäre dann ein ungeeignetes Handwerkszeug. Das, was ich gesagt habe, ist kein ungeeignetes Handwerkszeug, Herr Westphal. Wir können darüber gerne noch einmal reden. Aber ich will Ihnen auch gleich sagen, wo unser Hauptproblem liegt. Umweltprojekte des Staates müssen sich in die Prioritäten des allgemeinen Haushalts einordnen - jetzt kommt ein entscheidender Satz -; sie dürfen kein unkontrolliertes Schattenhaushaltsdasein führen. Mit diesen grundsätzlichen Bedenken haben wir Ihre Projekte des Emissionspfennigs und des Sondervermögens Arbeit und Umwelt immer wieder abgelehnt. Es gibt für uns keinen ersichtlichen Grund, Herr Bundesminister Töpfer, der CDU/CSU zuzugestehen, was wir der SPD ablehnen. Auch das heutige Interview in der „Bild"-Zeitung, Herr Rühe, läßt Unklarheiten bestehen und Hintertüren offen. Wollen Sie nun eine insgesamt höhere Belastung der Bürger oder nicht? - Wir wollen sie nicht. Das ist der entscheidende Punkt. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte sehr.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Graf Lambsdorff, darf ich auf Ihre Grundbedingungen für eine CO2-Steuer, wie Sie sie genannt haben, zurückkommen, wobei Sie u. a. erwähnt haben, daß Sie das in den allgemeinen Topf des Staatsaufkommens hineintun wollen? Sind Sie mit mir der Auffassung, daß gerade dies nach den verfassungsrechtlichen Möglichkeiten bei einer Umweltabgabe nicht geht, daß Sie hier also etwas anderes wollen, als der Bundeskanzler angeführt hat, der seinerseits ausdrücklich eine Abgabe für den CO2-Ausstoß haben wollte, die ihrerseits zweckgebunden ist und dadurch eben nicht in die Kategorie der Steuern einzureihen ist?

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, das ist genau falsch. Da gibt es genaue Unterschiede. Ich stimme Ihnen überhaupt nicht zu, daß das verfassungsrechtlich nicht möglich sei, sondern ich sage Ihnen: Wir wollen kein gesondertes Abgabeaufkommen, das in irgendeinem anderen Haushalt als dem des Bundesfinanzministers erscheint; nirgendwo anders! ({0}) Dies soll als eine umweltpolitische Abgabe konstruiert werden, die sich selber aufhebt, wenn das umweltfreundliche Verhalten der Menschen nicht mehr zur Abgabeerhebung verpflichtet. ({1}) Reden wir doch nicht darum herum. Hier soll in einigen Ressorts ein Schattenhaushalt errichtet werden, mit dem man dann alle möglichen Denkmäler errichten kann. Dies geht mit uns nicht! ({2}) Meine Damen und Herren, der Herr Ministerpräsident des Saarlandes - - Es fällt mir ja immer schwer - das wissen Sie - , die Klappe zu halten, aber das ist ja im Vergleich zu dem, was Sie draußen sagen, noch eine ganz höfliche Formulierung. ({3}) Draußen lese ich: Kohl und Lambsdorff sind die Erbschleicher des Stalinismus. - Wenn ich das noch einmal höre, dann zitiere ich nicht König Herodes, sondern Al Capone, Herr Ministerpräsident. ({4}) Also manchmal kommt da doch ein bißchen sehr kleines Karo aus Saarbrücken; und auf Pepita kann man nicht Schach spielen, Herr Lafontaine. ({5}) Meine Damen und Herren, die FDP beteiligt sich an sächsischen, bayerischen oder deutschen Meisterschaften im Rückwärtsrudern von steuerpolitischen Erklärungen nicht. ({6}) Wir waren, wir sind und wir bleiben die einzige Partei, die geschlossen Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit ablehnt. ({7}) Wir werden keiner Erhöhung der Steuerlastquote zustimmen. Ich sage es noch einmal: Wir werden keiner Erhöhung der Steuerlastquote zustimmen. - Und schon höre ich den Ruf: Ja, zur Finanzierung der deutschen Einheit wollt ihr keine Steuer erhöhen - so ja auch Herr Lafontaine -, aber sonst wollt ihr das doch. - Dann kommt ein Schwall von völlig absurden Argumenten. Erstens. Die Mehrwertsteuer müsse wegen der europäischen Harmonisierung erhöht werden. ({8}) Das ist einfach falsch. Der Mehrwertsteuersatz von 14 % liegt im voraussehbaren europäischen Rahmen. ({9}) - Entschuldigen Sie vielmals, das habe ich vom Finanzminister nun nicht gehört; das habe ich von ganz anderen gehört, auch von Ihnen. ({10}) - Hören Sie mal, Ihre Ministerpräsidenten schlagen ja nicht nur Mehrwertsteuererhöhungen vor, sondern setzen sich auch noch drei Tage vor der Wahl hin und lehnen jede zusätzliche Finanzierung zugunsten der neuen Bundesländer ab. Das soll Herr Rau mal dem Herrn Stolpe beibringen, dem er zwar seine Truppen hinschickt, die das Land halbwegs übernehmen, dem er Geld aber nicht geben will. ({11}) Meine Damen und Herren, als Reaktion auf die Golfkrise - zweites Argument - müsse die Mineralölsteuer erhöht werden. - Welch ein Unsinn! ({12}) - Das mache ich nachher. ({13}) Wenn Saddam Hussein die Öl- und Benzinpreise herauftreibt, wollen wir sie dann noch zusätzlich durch eine Mineralölsteuererhöhung verschärfen? Drittens. Es könnte eine Rezession geben, und dann misse man die Steuern erhöhen. - Nun sieht niemand für die Bundesrepublik eine Rezession heraufziehen; aber selbst wenn sie kommen sollte, was wäre das für eine Wirtschafts- und Finanzpolitik, die auf eine Rezession nicht mit Steuererleichterungen, sondern mit Steuererhöhungen reagieren wollte? Die FDP kann keinen vernünftigen Grund erkennen, Steuern und Steuerlastquote zu erhöhen, nicht einen einzigen. ({14}) Im Gegenteil, meine Damen und Herren: Wenn wir die sogenannten heimlichen Steuererhöhungen, die ja durch das Zusammenwirken von nominalen Einkommensverbesserungen und steuerlicher Tarifprogression zustande kommen, nicht korrigieren, werden wir allein daraus in den nächsten Jahren Milliarden von Steuermehreinnahmen haben. Nein, meine Damen und Herren, Steuererhöhungen sind falsch. Sie sind für die Leistungskraft unserer Wirtschaft im Westen schädlich, die wir für den Wiederaufbau der vom Sozialismus verwüsteten Wirtschaft der neuen Bundesländer brauchen. ({15}) Sie sind gleichermaßen schädlich für die neuen Bundesländer. Auf Strukturbrüche dieses Ausmaßes reagiert man doch nicht mit Steuererhöhungen. Will Ministerpräsident Biedenkopf allen Ernstes den Verbrauchern in Sachsen ausgerechnet eine Mehrwertsteuererhöhung zumuten? Wir brauchen Steuererleichterungen in den fünf neuen Bundesländern. Die Hauptaufgabe des Jahres 1991 heißt: Investitionen im produzierenden Gewerbe in die frühere DDR bringen. Nur das schafft Arbeitsplätze, nicht jedoch das Absetzen und Verkaufen. ({16}) Dazu bedarf es massiver Verbesserungen der Rahmenbedingungen. Machen wir uns bitte alle miteinander nichts vor: Die Ex-DDR steht als Investitionsstandort im Wettbewerb mit Spanien, Portugal, Belgien und vielen anderen Standorten. Dazu eine Zahl: Ein neuer Arbeitsplatz in der Automobilindustrie wird in Portugal mit 400 000 DM subventioniert. Darauf müssen wir reagieren. Wir müssen auch versuchen, Investitionen in den neuen Bundesländern attraktiver als Anlagen in festverzinslichen Wertpapieren zu machen. Das wird durch das weltweit hohe Zinsniveau erschwert. Es ist aber falsch, die Zinshöhe auf das Thema deutsche Einheit zu reduzieren: Das Weltzinsniveau ist höher als bei uns. Völlig falsch ist die Annahme, Herr Lafontaine, Steuererhöhungen seien für den Kapitalmarkt schonender als Kreditaufnahmen. Insbesondere ihre Neidsteuer für Besserverdienende trifft genau die Steuerzahler mit der höchsten Sparquote, also die private Ersparnis, und belastet den Kapitalmarkt. ({17}) Für den Investitionsstandort neue Bundesländer schlägt die FDP das Niedrigsteuerland zusätzlich zu den Fördermitteln unserer Regionalpolitik vor. ({18}) Es muß jetzt geklotzt und nicht gekleckert werden. Sonst wird die deutsche Einheit eine dauerhafte AliGraf Lambsdorff mentationsveranstaltung von West nach Ost. Das kann nicht gutgehen. Wenn wir es richtig machen, dann wird die Investition in die deutsche Einheit ein überaus lohnendes Investment sein, für die deutsche Volkswirtschaft im ganzen und für alle von uns. Eine Überschrift von Karl Schiller von heute lautet: „Phantastische Fusionsgewinne". Das ist die Wahrheit, wenn man nicht immer nur statisch denkt, sondern den dynamischen Prozeß einer Marktwirtschaft und einer solchen Entwicklung sieht. Aber Schluß mit Sozialismus jedweder Spielart! ({19}) Wer die Dynamik von Wirtschaftsprozessen nicht begreift, wer dauernd Kosten mit Investitionen verwechselt, wer Sparkapitalbildung durch Neidsteuern zerstören will, der taugt nicht als Architekt für das Bauvorhaben Deutschland; den darf man nicht einmal als Polier auf die Baustelle lassen. ({20}) Herr Ministerpräsident, Sie haben eine leicht kabarettistische Note für Ihren heutigen Abgang von der Bundesbühne - jedenfalls in Teilen Ihrer Rede - gewählt. Sie haben Ihre Rede ja auch in Theaterakte unterteilt. Ich empfehle Hamlet, letzter Akt, letzte Szene, letzte Zeile: Der Rest ist Schweigen. Der Vorhang fällt am 2. Dezember abends. ({21})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Gysi. ({0})

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Ich bin entzückt hinsichtlich der freudigen Aufnahme. Wenn man als schlichter Bürger wie ich ({0}) - zumindest relativ neu im Bundestag - den Reden folgt, die hier gehalten werden, und wenn man allen glauben will, kommt man zu der Feststellung, daß man keiner Partei trauen kann. Das spricht doch dafür, daß auch eine neue gewählt werden kann. ({1}) Als ehemalige DDR-Bürger und jetzige Bundesneubürger haben wir uns in diesem Jahr an den unterschiedlichen Wert von Wahlversprechungen vor und nach dem Urnengang gewöhnen müssen. Den Wert solcher Verkündungen wie „Niemandem wird es schlechter gehen, im Gegenteil" haben inzwischen fast alle Familien in der ehemaligen DDR erfahren. ({2}) Heute heißt es, daß die Talsohle noch nicht erreicht sei. Aber Mitte des nächsten Jahres soll der mehrfach versprochene stürmische Aufschwung nun tatsächlich erfolgen. Wir stehen ja wieder vor einer Wahl. Angesichts eines solchen schon festen Rituals von Versprechen vor der Wahl, Widerrufen oder Vergessen nach der Wahl erhebt sich die Frage: Was mag den Bundeskanzler bewogen haben, vierzehn Tage vor der Wahl zu erklären, in der neuen Legislaturperiode werde es notwendig sein, über eine Erhöhung von Abgaben zu reden. Ist es eine völlig neue Erkenntnis, daß die Kosten für das Zusammengehen von BRD und DDR doch weit höher sind als man wahrhaben wollte, oder ist die Lage so dramatisch, daß es nun doch opportuner erscheint, bereits vor der Wahl etwas den Schleier zu lüften, um nach der Wahl nicht als der große Leugner dazustehen? ({3}) Erinnert sei in diesem Zusammenhang auch an das Versprechen in dem von Ihnen abgeschlossenen Vertrag über die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Da stand nämlich drin, daß ehemalige DDR-Bürger eine Urkunde über ihren Anteil am Volkseigentum erhalten, womit sie sich später einmal eine Wohnung oder ähnliches kaufen könnten. Das ist vertraglich vereinbart, aber es redet kein Mensch mehr davon. Das war zumindest, um es gelinde auszudrükken, eine Täuschung. ({4}) Vor welchen Ergebnissen der Regierung Kohl und de Maizière stehen wir jetzt? Alle Wirtschaftsexperten sind sich einig, und jede Bürgerin und jeder Bürger spürt es, daß der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik den Altländern einen kräftigen Konjukturimpuls bescherte, während in den ostdeutschen Ländern eine schwere und, wie sich immer mehr abzeichnet, tiefe und langwierige Anpassungskrise eingetreten ist, ({5}) die zu einem wirtschaftlichen Kollaps führen kann. Und das ist nun nicht mehr nur mit 41 Jahren DDR, sondern auch mit handfesten Fehlentscheidungen ({6}) in diesem Jahr zu erklären. Das zeigen die Fakten: Rückgang der Industrieproduktion in der früheren DDR im ersten Quartal 1990 4,5 %, im zweiten Quartal 1990 10 %, aber im dritten Quartal 1990, d. h. nach der überstürzten und nicht ausgewogenen Währungs- und Wirtschaftsunion, 48 %! Das ist eine Tatsache. ({7}) - Also wissen Sie, Ihre Beziehungen zu Herrn Honekker waren wesentlich enger als meine. Da müssen Sie ihn schon selbst befragen, ja. ({8}) - Ich habe ihn noch nicht einmal persönlich sprechen können. Herr Waigel, Sie hatten ja mehrfach die Möglichkeit und haben sich deshalb oft geschätzt. ({9}) Von einem Investitionsfluß von West nach Ost ({10}) oder einem Investitionseffekt der Einheit ist noch nichts zu spüren. Dagegen spricht man offen von einem Konjunktureffekt der Einheit für die Industrieunternehmen und Handelsketten in den Altländern der Bundesrepublik, ({11}) für die die neuen Länder in erster Linie Markt, dann verlängerte Werkbank und bisher nur in den wenigsten Fällen potentieller Produktionsstandort sind. Gespaltene Konjunktur, gespaltener Absatzmarkt zwischen den alten und den neuen Bundesländern, das ist die bisherige Realität der politischen Einheit. Während in den Altländern in diesem Jahr die Zahl der Beschäftigten gegenüber dem Vorjahr um über 700 000 stieg, zeigt sich in den neuen deutschen Ländern Ende Oktober ein völlig anderes Bild. Eine Arbeitslosigkeit von fast 2,6 Millionen Menschen, offen oder verschleiert, Kurzarbeiter, insbesondere mit null Arbeitsstunden einberechnet. Hinzu kommt noch eine geheimgehaltene Zahl von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des öffentlichen Dienstes, die in die berüchtigte Warteschleife ohne eine reale Perspektive katapultiert wurden und die ja mit Sicherheit auch arbeitslos werden. Alle Vorschläge und Mahnungen für notwendige Übergangs- und Strukturanpassungsmaßnahmen sowie Beschäftigungsprogramme für die Wirtschaft der ehemaligen DDR, ({12}) wie sie auch von vielen Wirtschaftsexperten gefordert wurden, sind von den Regierungen Kohl und de Maizière und den sie tragenden Parteien arrogant in den Wind geschlagen und häufig als linke Schwarzmalerei und Panikmache etikettiert worden. Dabei waren die Hinweise auf die Auswirkungen, auch von uns, noch eher bagatellisierend. ({13}) Die Auswirkungen der politischen Fehlentscheidungen, zementiert im Einigungsvertrag, sind schon heute auf finanziellem Gebiet gravierend. Ich kann auf Zwischenfragen gerne antworten, aber ich weiß nicht, ob Sie mir das von der Redezeit abziehen, Frau Präsidentin. ({14}) - Dann würde ich Ihnen sagen: Schauen Sie einmal nach. Die ehemaligen Leiter der Betriebe, wo ich nur von dem Teil etwas halte, soweit sie sich ernsthaft um die Betriebe und die Belegschaften bemühen. Diejenigen, die wirklich in ihre Tasche wirtschaften, können meinetwegen von ihren Belegschaften davongejagt werden. Aber gucken Sie mal, was die heute für Parteibücher haben. Da finden Sie die merkwürdigsten dabei, bloß kein PDS-Parteibuch. ({15}) - Ihre Parteibücher sind reichlich dabei. Die Auswirkungen der politischen Fehlentscheidungen, zementiert im Einigungsvertrag, sind schon heute auf finanziellem Gebiet gravierend. Der überstürzte Crashkurs wirkt sich einfach aus. Die steigenden Kosten für die Arbeitslosigkeit - sie sind mehrfach falsch eingeschätzt worden - zeigen jedem deutlich, daß es viel besser wäre, die Finanzierung von Arbeit, die Finanzierung der Erhaltung vorhandener und die Finanzierung der Schaffung neuer Arbeitsplätze zu erreichen, anstatt die Finanzierung von Arbeitslosigkeit mit Priorität vorzusehen. Bundeswirtschaftsminister und Bundesfinanzminister sehen das offensichtlich ganz anders. Wie soll sonst die Verweigerung der Lizenzen für den Ostexport, z. B. für den ökologisch deutlich verbesserten Pkw Trabant, zu erklären sein? Das sonderbare Argument von Herrn Haussmann, die Gewährung von Subventionen in Höhe von 80 Millionen DM verletze die Gleichbehandlung aller Unternehmen, kann nur Erstaunen hervorrufen, wenn man die reale Situation in Ostdeutschland bedenkt und beachtet, daß die Alternative - so die IG Metall - Arbeitslosengelder von monatlich etwa 30 Millionen DM sind. Produktionsrückgänge und Konkurse führen außerdem unweigerlich zu Steuereinbußen und verschärfen damit automatisch die Defizite in den öffentlichen Haushalten der ostdeutschen Länder und Kommunen. In dieser Situation setzt nach altbewährtem Muster ein Verwirrspiel der Parteien der Regierungskoalition um die Steuererhöhungen ein. Keine Steuererhöhung für die deutsche Einheit, so eine Aussage. Lediglich Abgaben im Umweltbereich, so eine andere. Einsparungen, Umschichtungen und Subventionsabbau eine dritte, und Überprüfung der Bund-Länder-Finanzbeziehungen eine vierte. So tönt es jetzt von den Parteien. Von der FDP allerdings hört man, sie spreche überhaupt nicht über Steuererhöhungen, und mit ihr gebe es keine Steuererhöhungen. Heftig prallen auch die Aussagen für und wider ein Niedrigsteuergebiet in den neuen Ländern aufeinander. Die PDS fordert: Herr Bundeskanzler, machen Sie endlich mit der Verunsicherung der Bevölkerung durch diese wahltaktischen Diskussionen Schluß! Es kann doch nicht so schwer sein, klar zu sagen, was die deutsche Einheit voraussichtlich kostet und was sie wem einbringt. Das haben seriöse Wissenschaftler längst ausgerechnet. ({16}) Für uns wird bei diesem Gerangel eines unübersehbar: Im Kern laufen die Vorschläge der Regierungsparteien darauf hinaus, daß wieder die sogenannten kleinen Leute zur Kasse gebeten werden. ({17}) Besonders sollen die ehemaligen Bürgerinnen und Bürger der DDR die Lasten auferlegt bekommen, die mit neuen Westpreisen und alten Ostlöhnen und -renten leben sollen. Was halten wir im Gegensatz zur Regierungspolitik in dieser Situation für geboten? Dringend erforderlich ist ein langjähriges Struktur- und Beschäftigungsprogramm, um Ostdeutschland als Produktions-und Investitionsstandort zu erhalten. ({18}) - Sie wissen, daß Sie damit nicht ernsthaft etwas anfangen können. Notwendig sind Sofortmaßnahmen, um die in den letzten Monaten praktizierte Zerstörung der Existenz auch sanierungsfähiger Betriebe in der Ex-DDR durch eine gnadenlose Konkurrenz zu verhindern. ({19}) Es ist durch die Treuhand Eigentum von Kommunen zu schaffen. Wir erwarten, daß den Handwerkern und Gewerbetreibenden nachträglich die Einlagen ihrer Geschäftskonten per 30. Juni 1990 1 : 1 getauscht werden, damit sie nicht weiter ihre Angestellten entlassen müssen. ({20}) Wir erwarten, daß im Verteidigungshaushalt nach dem Abbau des Ost-West-Konflikts nicht 50 Milliarden DM hineingesteckt werden, sondern daß erheblich eingespart wird. ({21}) Wir wenden uns dagegen, daß die neuen Rüstungsmilliarden offensichtlich mit der Überlegung auf Konflikte hinsichtlich der Dritten Welt ausgegeben werden sollen. ({22}) Das halten wir für eine Katastrophe. Wir glauben auch, daß es gerechtfertigt ist, eine Umlage für Besserverdienende einzuführen, mit der man allein 10 Milliarden DM einsparen könnte. ({23}) Die Steuereinnahmen des Staates und die höheren Gewinne westdeutscher Unternehmen bedeuten wiederum höhere Steuereinnahmen des Staates in der Folge. Ich sehe, daß meine Zeit abgelaufen ist, Frau Präsidentin. ({24})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ja, Ihre Redezeit ist abgelaufen.

Dr. Gregor Gysi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000756, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Darum kümmern sich schon ganz andere. Alle Rechtsradikalen des Landes begleiten mich permanent, ({0}) und Sie übernehmen auch ein bißchen politische Verantwortung für das, was sie in diesem Land so alles unternehmen. Ich finde, diese Debatten zeigen deutlich, daß es wirklich erforderlich wird, sich für ein etwas anderes Deutschland zu entscheiden als das, das Sie vorhaben. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat Herr Bundesminister Töpfer.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der, wie wir gerade gemerkt haben, glücklicherweise nicht mehr real existierende Sozialismus der SED ({0}) hat über 40 Jahre lang ({1}) die Menschen von Rostock bis Dresden, von Frankfurt bis Magdeburg geschunden; er hat sie psychisch und physisch rücksichtslos ausgebeutet und ruiniert. Dieser Sozialismus hat unglaubliche Ruinen bei Menschen und in der Natur hinterlassen. Er hat einen Kollaps der Umwelt begründet. ({2}) Die Altlasten sind dramatisch und schockierend, auch und nicht zuletzt in der Rede, die wir gerade gehört haben. ({3}) Die Altlasten sind gesundheitlich ausgebeutete Menschen mit niedrigerer Lebenserwartung, vergiftete Böden, tote Gewässer, verwüstete Landschaften und eine ruinierte Wirtschaft. ({4}) Der ökologische Offenbarungseid zeigt ein menschenverachtendes, die Schöpfung zerstörendes System und belegt, daß unbarmherzig und unmensch18922 lich auf Kosten der Menschen und zu Lasten von Natur und Umwelt gewirtschaftet worden ist. Meine Damen und Herren, dies alles wird heute von niemandem mehr ernsthaft bestritten. Tagtäglich werden die Katastrophen, die damit angerichtet worden sind, noch deutlicher sichtbar; wir betrachten diese mit Entsetzen und Abscheu. Vor diesem Hintergrund behauptet Herr Lafontaine in einem „Spiegel"-Interview in diesem Jahr: Die DDR war, bis die Mauer fiel, ein führendes Industrieland. Meine Damen und Herren, dies ist ein empörender Satz; es ist ein Satz, der bestenfalls Zeichen für unglaubliche Ignoranz ist; wahrscheinlicher aber - so muß vermutet werden - ist er jedoch ein Beleg für einen schlimmen, menschenverachtenden Zynismus. ({5}) Die Kosten für die Beseitigung der Altlasten des Sozialismus werden heute als Kosten der deutschen Einheit beklagt, und gleichzeitig wird die DDR zu einer führenden Industrienation erklärt. Welche Argumentation könnte eigentlich doppelzüngiger und unehrlicher sein als die, die Herr Lafontaine uns hier bietet? ({6}) Die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft wird gefordert, und gleichzeitig wird die DDR zu einem führenden Industrieland erklärt. Welche Unglaubwürdigkeit könnte dies eigentlich noch übertreffen? Man kann - das muß Herr Lafontaine gesagt werden - einfach noch nicht in Leuna oder Buna, in Espenhain oder Bitterfeld, in den Schwermetallanlagen von Helbra oder Mansfeld gewesen sein und hier hinkommen und sagen: Die DDR war ein führendes Industrieland. Herr Lafontaine kann noch nicht dagewesen sein. Auch Herr Gysi ist offenbar auch noch nicht dort gewesen, meine Damen und Herren. Er kann noch nicht mit den Menschen dort geredet haben. ({7}) Meine Damen und Herren, wer dies so behauptet, wer das so sagt, der will am Prozeß der deutschen Einheit nicht mitwirken. ({8}) Er will vielmehr den Eindruck erwecken, als wären diese gewaltigen Schwierigkeiten in der Wirtschaft, die unglaublichen Belastungen von Natur und Umwelt und die menschenunwürdige soziale Absicherung der Menschen nicht durch den Sozialismus der SED, sondern durch den Prozeß der deutschen Einheit verursacht; er will allein aus wahltaktischen Gründen der Bundesregierung anlasten, was einzig und allein einen Verursacher hat, nämlich das menschenverachtende, mißwirtschaftende Regime der DDR. ({9}) Meine Damen und Herren, Mensch und Natur sind mißbraucht worden. Mit der deutschen Einheit werden Menschenwürde am Arbeitsplatz und eine lebenswerte Umwelt wieder zur Grundlage politischen Handelns. Die Menschen können jetzt wieder durchatmen, und wir werden dies weiter so vorantreiben. ({10}) Da ist die Frage natürlich berechtigt, meine Damen und Herren: Wie ist dieses herausragende, dieses schwierige Aufgabenfeld zu bewältigen? Da ist es sinnvoll und richtig, in unsere Geschichte zurückzublicken. Ich kann es aus meiner eigenen persönlichen Lebenserfahrung schildern. Ich bin 1938 in Waldenburg in Schlesien geboren worden. 1945 bin ich mit meinen Eltern und Geschwistern nach Höxter an der Weser vertrieben worden. Mit einem Koffer in der Hand sind wir in ein durch Ruinen gekennzeichnetes Land gekommen. Aber die Generation meiner Eltern hat nicht resigniert; sie hat nicht gefragt, wieviel das Wirtschaftswunder kostet, sondern sie hat mit Optimismus gehandelt; sie hat investiert, und sie hat eine gute politische Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft und für Konrad Adenauer und seine kluge Politik getroffen und hat damit den Aufschwung ermöglicht, meine Damen und Herren. ({11}) Wäre damals Lafontaine in der Verantwortung gewesen, so würden wir heute noch nach den Kosten der deutschen Einheit fragen, weil wir noch unter den Folgen des Morgenthau-Plans leiden würden, meine Damen und Herren. Das ist der Zusammenhang. ({12}) Diese historische Lektion ist europaweit, ja weltweit verstanden worden. Nicht irgendeine Spielart des Sozialismus, sondern nur eine soziale, ökologisch verpflichtete Marktwirtschaft in einer freiheitlichen Gesellschaft ermöglicht die Bewältigung der Zukunft. Wenn Lafontaine in diesem Jahr, 1990, noch schreibt - ich darf zitieren - : „Wenn das alte sozialistische Projekt nicht mehr trägt, so ist es höchste Zeit, ein neues zu konstruieren" , dann können wir ihm nur sagen: Es ist höchste Zeit, alle sozialistischen Modelle und Modellchen zu vergessen und endlich zu einer klaren sozial orientierten Marktwirtschaft zu kommen. Das ist die Entscheidung, die zu treffen ist. ({13}) Es geht eben nicht - lassen Sie mich das zumindest in die Richtung von Herrn Lafontaine sagen - um irgendeinen neuen Weg in die alte sozialistische Sackgasse, sondern es geht um den bewährten Weg zu dem Ziel der sozialen, ökologisch orientierten Marktwirtschaft. ({14}) Dem Kenner der Sekundärtugenden sei gesagt: Wenn es denn eine Sekundärtugend gibt, dann ist es der neue Weg; denn es geht nicht darum, daß der Weg neu ist, sondern es geht um die Frage, welches Ziel mit diesem Weg erreicht wird. Das ist die Primärtugend. Deswegen setzen wir auf die sozial orientierte Marktwirtschaft auf einem bewährten Weg dorthin. Dies ist die entscheidende Frage. ({15}) Meine Damen und Herren, in Sachen Ehrlichkeit brauchen wir uns dabei sicherlich keine Vorwürfe oder Vorhaltungen von jemandem anzuhören, der über das Ziel nichts aussagt, der aber auch nicht an irgendeiner Stelle einmal etwas darüber ausgesagt hat, was er selbst geleistet hat. Im Saarland ist in den letzten fünf Jahren einiges gewachsen; das ist wahr. Die Schulden sind dramatisch gewachsen, die Zahl der Ministerien ist gewachsen, die Zahl der Staatssekretäre ist gewachsen, aber was nicht gewachsen ist, meine Damen und Herren, ist die wirtschaftliche Leistungskraft etwa im ersten Halbjahr dieses Jahres. Dies ist in der Tat wahr. ({16}) Deswegen brauchen wir wirtschaftliche Stabilität. Wir brauchen wirtschaftliche Stabilität, damit die zentrale Voraussetzung zur Überwindung der deutschen Teilung auch wirklich eingehalten wird. Eine wirklich gewichtige Meldung ist eine Meldung vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, die wir heute in der Zeitung lesen können. Dort heißt es nämlich - ich darf zitieren - : Rekord bei Investitionen in der Bundesrepublik Deutschland. So stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung fest, daß die Investitionsquote, die bis 1982 auf 15,5 % gefallen war, 1990 auf nahezu 19 % gestiegen ist. Im kommenden Jahr sei mit einem weiteren Anstieg der Investitionen im Unternehmensbereich um 5 % zu rechnen. Soweit das Zitat. Diese Investitionen sind die entscheidenden Voraussetzungen für die Überwindung der Belastungen, die der real existierende Sozialismus zurückgelassen hat. Das ist die Basis. ({17}) Deswegen dürfen wir Ihnen, Graf Lambsdorff, eines sagen: Bei Ihrer Entscheidung, die deutsche Einheit ohne Steuererhöhungen weiterzuentwickeln, sind Sie nicht allein, sondern Sie haben die CDU/CSU ganz eindeutig an Ihrer Seite. Dies ist die Aussage des Bundeskanzlers, und das ist auch die Aussage, die ich zu wiederholen hier in der Lage bin. ({18}) Meine Damen und Herren, dies ist die zentrale Herausforderung auch für die ökologische Seite. Wenn die Bundesrepublik Deutschland heute - das ist unstrittig - europaweit und weltweit bei der Umweltvorsorge und bei der Umweltsanierung an der Spitze steht, dann deswegen, weil wir acht Jahre wirtschaftlicher Stabilität mit hohen Investitionen in der Bundesrepublik Deutschland hinter uns haben. Im Wachstum die Wirtschaft ökologisch neu zu gestalten, das war die Herausforderung. Dieser Herausforderung haben wir uns gestellt, und wir haben sie bewältigt. ({19}) Wir haben mit wirtschaftlichem Wachstum die Grundlage dafür geschaffen, daß im Rahmen von neuen Investitionen tatsächlich auch neue umweltverträglichere Techniken eingesetzt werden konnten. Wir haben bei der Ausstattung der Produktionsanlagen den Anforderungen an den Umweltschutz Rechnung getragen und nicht mehr nur gefragt, welche Filter geeignet sind, um eine alte Anlage nachträglich auszurüsten. Das ist der entscheidende Fortschritt. Dort, wo investiert wird, dort wird eben ungleich besser und ungleich unmittelbarer gerade auch Umwelt entlastet als mit noch so viel Steuermitteln, die nur im nachhinein korrigieren können und nicht im vorhinein Vorsorge treffen können. Darum geht es. ({20}) Meine Damen und Herren, es geht eben nicht - auch das muß man immer wieder sagen - um die Höhe der Steuersätze, sondern es geht um die Höhe der Steuererträge. Wir haben in dieser Legislaturperiode gerade durch eine Steuerreform mit sinkenden Steuersätzen die Steuererträge erhöht. Das war der entscheidende Fortschritt, um den es ging. ({21}) Dadurch war dann hinterher die finanzielle Möglichkeit gegeben. Nun kommen wir zu der Frage, meine Damen und Herren, der umweltbezogenen marktwirtschaftlichen Anreize: Ich freue mich natürlich, Graf Lambsdorff, daß wir in dieser jetzt zu Ende gehenden Legislaturperiode gemeinsam mit der FDP ein neues Abwasserabgabengesetz gemacht haben. ({22}) Ich habe viel Grund und viel Anlaß, mich gerade etwa bei dem Abgeordneten Wolfgramm dafür zu bedanken, daß er sehr darauf geachtet hat, daß wir bei dieser Abwasserabgabe auch die Restverschmutzung mit berücksichtigen, um damit einen Anreiz zu bekommen, daß derjenige, der in Abwasserreinhaltung investiert, auch eine entsprechende Vergünstigung bekommt. Herzlichen Dank für diese Unterstützung. ({23}) Daß dieses in der Koalition gemeinsam möglich war, ist eine gute Sache. Daß am Ende auch die Sozialdemokraten zugestimmt haben, wollen wir nicht vergessen. Wenn das so ist, Graf Lambsdorff, dann muß man doch wirklich fragen: Wenn für den Bereich des Wassers eine solche Abwasserabgabe ein sinnvolles, weil investitionsauslösendes und nicht irgendwo einen Verschiebebahnhof darstellendes Instrument ist, warum sollen wir das Instrument nicht einsetzen, um bei einer der zentralen, weltweit herausfordernden Fragestellungen, der des Treibhauseffektes, voranzukommen? Dies ist unsere Fragestellung. ({24}) Warum soll es falsch sein, wenn wir im Ordnungsrecht bestimmte Wirkungsgrade für die Verwendung fossi18924 ler Energieträger vorlegen, eine Unterschreitung dieser Wirkungsgrade mit einer Abgabe belegen und den davon freistellen, der investiert, um den Wirkungsgrad zu erhöhen und damit fossile Energieträger sinnvoller zu nutzen und die CO2-Belastung zu vermindern? Was ist denn daran so überraschend? ({25}) Ich halte es für eine gute Angelegenheit, daß wir dabei gleichzeitig auf dem Boden des Urteils des Bundesverfassungsgerichts sagen können: Dies ist eine Abgabe, die eben gruppennützlich für den Zweck eingesetzt werden muß, für den sie erhoben wird, ({26}) also für eine Verbesserung der Wirkungsgrade von fossilen Energieträgern. Dies ist, wie ich meine, eine sehr sinnvolle, vernünftige Vorgehensweise. ({27}) Da ich ja nur zu gut weiß, wie außerordentlich engagiert Sie gerade nach solchen Instrumenten auch mit Ausschau halten, bei denen über den Anreiz marktwirtschaftliches Verhalten im Umweltschutz belohnt wird, gehe ich davon aus, daß wir uns auch über diesen Weg noch einigen werden, eine CO2-bezogene Abgabe so einzusetzen, daß wir unser herausragendes Ziel von bis zu 30 % Minderung bei CO2 auch wirklich erreichen können. ({28})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Graf Lambsdorff?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Sehr gerne.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Töpfer, darf ich noch einmal darauf aufmerksam machen, daß es mir gar nicht um die Frage geht, für welchen Zweck an welcher Stelle eine Abgabe eingesetzt wird - wenn das umweltpolitisch sinnvoll ist, warum soll man nicht darüber reden? -, sondern das es mir um die Frage geht: Was wird mit den aufkommenden Mitteln getan, und wird die dadurch entstehende Mehrbelastung an anderer Stelle kompensiert, bleibt die allgemeine Belastung der Bürger unverändert?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ich bin außerordentlich dankbar, Graf Lambsdorff, daß Sie das noch einmal auf diesen Punkt hin formuliert haben. Bei dem, was wir vorgelegt haben, ist diese Forderung nun wirklich zu 100 % erfüllt. ({0}) Sie ist nämlich dadurch erfüllt, daß erstens derjenige, der investiert, überhaupt keine Abgabe zahlt und daß zweitens diese Mittel nicht in einen allgemeinen Dekkungshaushalt eingesetzt werden, sondern ausschließlich für diesen Zweck. Das ist, glaube ich, eine wichtige, eine sinnvolle Sache, die die Staatsquote nicht erhöht, ({1}) sondern die Investitionen für Umweltschutz weiter stabilisiert. ({2}) Meine Damen und Herren, lassen Sie mich deutlich hinzufügen: Diese Überlegung ist nicht im Rahmen der Diskussion um die deutsche Einheit vorangekommen, sondern es ging um die Notwendigkeit, im Rahmen des Ordnungsrechts unser Ziel 25 bis 30 % weniger CO2 - nebenbei: damit sind wir weltweit an der Spitze - zu erreichen und auch marktwirtschaftlich abzusichern. Meine Damen und Herren, die Schweiz und andere haben genau dasselbe Instrument. Wer kann denn wirklich auf die Idee kommen, über eine CO2-Abgabe so etwas wie eine Umwegfinanzierung für die Reparatur des real existierenden Sozialismus zu sehen? Das Gegenteil ist der Fall. Wir machen weiter eine Umweltpolitik, die im Einklang steht mit einer wirtschaftlichen Stabilität, die wir dringend brauchen, damit eben auch auf Dauer die Herausforderungen der deutschen Einheit nicht durch neue Steuern finanziert werden müssen. Dies ist der Zusammenhang. So meine ich, meine Damen und Herren, daß es eine gute Gelegenheit gewesen ist, in dieser Stunde des Parlaments noch einmal deutlich zu machen: Wir wollen Anreize für wirtschaftliche Stabilität und für vorsorgenden Umweltschutz. Nur so sind die gravierenden Umwelthypotheken in den neuen fünf Bundesländern mit Augenmaß und Sicherheit zum Wohle der Menschen zu beseitigen. Ich danke Ihnen. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich erteile dem Abgeordneten Schäfer das Wort zu einer Kurzintervention.

Harald B. Schäfer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001931, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir waren nach den Diskussionsbeiträgen heute - auch von Herrn Graf Lambsdorff - gespannt, ob jetzt endlich einmal von der Bundesregierung die Höhe der in der Diskussion befindlichen CO2-Abgabe genannt wird. Wer soll die CO2-Abgabe zahlen? In welcher Höhe und wann hat die Bundesregierung vor diese CO2-Abgabe zu erheben? Leider hat der Bundesumweltminister diese Chance vertan. ({0}) Die Wahrheit ist: Am 15. November - es ist wenige Tage her - hat die Bundesregierung geantwortet, es stehe noch nicht fest, in welcher Höhe die CO2-Abgabe erhoben werde und ob die Bundesregierung den Weg einer Klimaschutzsteuer oder einer CO2-Abgabe gehen werde. Was jetzt not tut, ist Wahrheit und Klarheit. Leider ist auch der Bundesumweltminister in einer zentralen Frage der Umweltpolitik hier diesem Hohen Hause und der Öffentlichkeit schuldig geblieben, für Wahrheit und Klarheit zu sorgen. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Bundesminister, wollen Sie antworten? - Nein. ({0}) Das Wort hat dann die Abgeordnete Frau Unruh.

Gertrud Unruh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002358, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Ob ich ein Höhepunkt bin, das weiß ich nicht zu beurteilen; aber daß die Grauen der Höhepunkt im nächsten Bundestag sein werden, das weiß ich zu beurteilen. ({0}) Und eines habe ich in dieser Debatte doch festgestellt: eine Bevölkerungsgruppe hat keine Lobby in diesem Deutschen Bundestag. ({1}) Wir werden uns ganz energisch dagegen wehren, daß z. B. die Rentenkassen wieder einmal zur Plünderung anstehen. Es ist ja nicht das erste Mal, daß die kleinen Rentner und Rentnerinnen aus der Pflichtversichertenkasse bluten müssen. Darin waren sich CDU/CSU und FDP und - man höre und staune - seit Ehrenbergs Zeiten auch die SPD einig. Sie waren sich so einig, weil Sie ja Hunderte von Milliarden aus diesen Rentenkassen entnommen haben. Sie haben diese kleinen Rentner um 25 % abdynamisiert. Sie waren sich so sicher und so einig, daß selbst die Sozialdemokraten im August vorigen Jahres einen Renten-Deal mit ihnen gemacht haben. Also, es gibt kein Stück Lobby für die Renten, die bei uns am niedrigsten sind: vierzig Jahre Erwerbstätigkeit und, wenn es hoch kommt, 1 400 Mark Rente. Was haben Sie denn da angestellt! Anstatt 30 Milliarden für die Finanzierung der Arbeitlosenversicherung in der Ex-DDR zu riskieren, zahlen Sie doch einmal eine 13. Weihnachtsrente für diese kleinen Rentner. Geben Sie, Sozialdemokraten, doch eine einmalige Abfindung für die kleinen Rentner, die ihr so geschädigt habt im Laufe der vierzig Jahre; nein, nicht vierzig, es läuft erst seit 1952. Da sind die ersten Renten geklaut worden - es sind ja eigentlich Renten - zum Aufbau einer Rüstung - 1952! Und stellen Sie sich einmal vor, Graf Lambsdorff: Ohne Zinsen ist das aus der Kasse genommen worden. ({2}) Es ist auch nicht wieder reingelegt worden, schon gar nicht mit Zinsen. So, und jetzt kommt doch ein Punkt: ({3}) Wenn eine neue Partei antritt - für wen tritt sie denn an? ({4}) und dann noch den Anspruch erhebt, Lobby der Rentenkassen zu werden, dann kann es natürlich nur für die enttäuschten Rentner und Rentnerinnen sein, denen wir wirklich zurufen: Vertraut noch einmal, geht zur Wahl! - Schämen Sie sich alle gar nicht, daß fast 30 % der Menschen nicht mehr zur Wahl gehen? Das muß doch irgendeinen Hintergrund haben. ({5}) Diesen Hintergrund, den haben wir Alten. - Verzeichen Sie, Sie gehören doch noch gar nicht zu den Alten. ({6}) Wir mit unseren Lebenserfahrungen, wir haben es doch gespürt: Es gibt hier keine Mindestrente. Oder gibt es eine? - So. Auch die Alten in der Ex-DDR haben natürlich eine Mindestrente verdient, mit Recht, und zwar von dem Volksvermögen, das diese Alten geschaffen haben. Die Urkunde ist in eine Mindestrente oder, wie man sagen könnte, in eine Intelligenzrente umzusetzen. Ist es nicht hochintelligent, nach dem Zweiten Weltkrieg überlebt zu haben? Überlegen Sie sich doch einmal: Was bedeutet denn Intelligenz? ({7}) Eins darf sich im Deutschen Bundestag natürlich nicht wiederholen: daß CDU-Abgeordnete während einer heißen Debatte rausgehen und sagen: Was kümmert mich das? Gehen wir lieber einen trinken! - Dafür gibt es die Diäten nicht, meine Herren der CDU. ({8}) Und - Schlußsatz - : Überlegen Sie sich einmal, was es bedeutet, in unserer Gesellschaft unkündbar zu sein - unkündbar! Wen muß man als Lobby dann haben, ({9}) damit die Unkündbarkeit unserer Beamten endlich anders geregelt wird? Oder wir werden alle unkündbar, ein sozial gerechtes System. In diesem Sinne: Wähler und Wählerinnen, wählt die Grauen! ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Bundesminister Dr. Blüm.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wollte noch ein paar Sätze zu den Bemerkungen des Kanzlerkandidaten Lafontaine sagen. Ich finde, er hat den Wahlkampf konsequent geführt. Er hat ihn so beendet, wie er ihn begonnen hat: mit Angst, Neid, Verdächtigungen und Verdrehungen. ({0}) Der historischen Stunde, den historischen Themen ist er nicht gerecht geworden. ({1}) Freiheit, Einheit, Frieden - dazu hat er auch heute nachmittag nichts zu sagen gewußt. ({2}) Er gebärdet sich als der Chefbuchhalter einer Einheit, mit der er sich nie befreunden konnte. Aber, meine Damen und Herren, ich will Ihnen noch einmal etwas zu diesen ganzen Kosten-Debatten sagen: In der ehemaligen DDR haben sie alles berechnet - und nichts hat gestimmt. ({3}) Ludwig Erhard hat so gut wie nichts berechnet - und trotzdem hat die Soziale Marktwirtschaft geklappt. ({4}) Das ist der Unterschied! Ich bleibe dabei: Mir kommt es so vor, wie wenn bei einem großen Hochzeitsfest ein alter, verknöcherter Onkel dauernd sagt: Aber die Kinder werden teuer! - Mein Gott, wir freuen uns über die deutsche Einheit, und wir werden es auch schaffen, die deutsche Einheit zu finanzieren. Daran wird sie nicht scheitern. ({5}) Und jetzt zur Rente - deswegen habe ich mich gemeldet - : Griff in die Rentenkasse wegen einer diskutierten Beitragssenkung. Sie, Ihre Fraktion, haben doch am 5. Juni eine Beitragssenkung vorgeschlagen. ({6}) Was hat der Kanzlerkandidat damals dazu gesagt? Ich war damals vorsichtiger und habe gemeint: Erst muß die Entwicklung abgewartet werden. Beitragssenkungen gibt es aber doch nicht zum ersten Mal in der Rentenversicherung. Sie selbst haben 1980 eine durchgeführt. ({7}) Ich wende mich an die Rentner. Beitragssenkungen gefährden nicht die Rentensicherung. Die Höhe des Beitragssatzes entscheidet nicht über die Höhe der Renten. Liebe Rentner, laßt euch nicht von den Angstmachern vor den Karren spannen! Wir haben Eure Rente wieder sicher gemacht. ({8}) Wie kann ich mir von der SPD etwas vorwerfen lassen? Was war denn die Rentenpolitik der SPD? Es war eine Rutschpartie der Rücklagen: Von 44 Milliarden DM im Jahre 1974 waren Sie im Jahre 1982 bei 20,5 Milliarden DM angekommen. Jetzt steigen die Rücklagen. Die Rutschbahn-Meister machen uns Vorwürfe, die wir die Rücklagen erhöhen. Wir sind jetzt bei 33 Milliarden DM angekommen. Ohne Beitragssenkung würde die Rücklage im nächsten Jahr auf 42 Milliarden DM steigen; das wären drei Monatsausgaben. Da entsteht die Frage, ob man nicht einen Prozentpunkt des Beitrags an die Beitragszahler zurückgeben kann. Das ist kein Griff in die Rentenkasse; ({9}) das ist ein ausgewogenes Konzept. ({10}) - Schreien Sie doch nicht pausenlos! Sie haben doch im Juni diesen Vorschlag gemacht. Man wird sich doch an Vorschläge anhängen dürfen, die Sie selber gemacht haben. ({11}) Meine Damen und Herren, wenn es um den Griff in die Rentenkasse geht: In Kürzungen des Bundeszuschusses ist die SPD deutscher Meister. Die größte Kürzung des Bundeszuschusses, 3,5 Milliarden DM im Jahre 1981, war ein Griff in die Rentenkasse. ({12})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Minister Blüm, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein, ich stelle im Zusammenhang dar. Von 1970 an wurde mit fast 6 Milliarden DM in die Rentenkasse gegriffen. Nein, meine Damen und Herren, das ist eine Politik „Haltet den Dieb!" , die von den eigenen Schwächen ablenken will. Ich sage den Rentnern: Sie können sich auf uns verlassen. ({0}) Wir haben Ihre Rente wieder sicher gemacht. So, wie unser Rentensystem in Westdeutschland funktioniert hat, soll es auch in den neuen fünf Bundesländern funktionieren. Wir haben die Rente bereits mit der Sozialunion um 30 % angehoben. Sie wird ab 1. Januar noch mal um 15 % erhöht. Wären die Renten nicht im Verhältnis 1 : 1, was Ihr Kanzlerkandidat kritisiert hat, sondern im Verhältnis 2 : 1 umgestellt worden, hätten Sie bei einer fünfprozentigen Rentenerhöhung zehn Jahre warten müssen, um da zu sein, wo wir heute sind. Nein, Lafontaine eignet sich nicht für eine solide Rentenpolitik. ({1}) Mit Lafontaine ist weder die Einheit noch Sozialpolitik zu machen. Wir wenden das Elend des Sozialismus zu Wohlstand in ganz Deutschland. Dazu lade ich ein. Der neue Weg Lafontaines ist die alte Sackgasse. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zu einer Kurzintervention hat der Abgeordnete Dreßler das Wort. ({0})

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit diesen Feststellungen, die der Bundesarbeitsminister heute wieder gemacht hat, hat er bereits im April versucht, in Nordrhein-Westfalen Stimmung zu machen. Er landete bei 36 %. ({0}) Deshalb folgende drei Feststellungen: Erstens. Oskar Lafontaine hat seinen Wahlkampf so begonnen, wie er ihn beenden wird: mit harten Fakten, einem soliden Programm zur Lösung der Probleme und dem Mut, vor der Wahl die Wahrheit zu sagen. ({1}) Zweitens. Ein Bundessozialminister ist auch so etwas wie ein treuhänderischer Verwalter von Sozialversicherungsbeiträgen. Drittens. Diese treuhänderische Verwaltung hat den Bundesarbeitsminister am 17. Mai 1990 mit folgender Presseerklärung seines Hauses vor die Öffentlichkeit treten lassen - ich zitiere - : Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. ({2}) Herr Blüm erklärte weiter: Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln. Diesen Standpunkt habe ich immer vertreten, und es gibt keinen Zweifel, daß dies die Position der gesamten Bundesregierung und der Koalition in Bonn ist. Das war am 17. Mai. Daraufhin hat die SPD, weil sie ihm schon damals mißtraute, eine Senkung der Rentenversicherungsbeiträge verlangt, damit der Juckreiz von Herrn Blüm und Herrn Waigel, in die Kassen zu greifen, nicht jetzt im November zu entsprechenden Handlungen führt. Damals hat er uns beschimpft, weil wir die Senkung verlangt haben. Heute senkt er hier die Beiträge, hebt aber die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung an und macht damit die bis 1998 vorgesehene Beitragssatzstabilität in der Rentenversicherung bis 1993 auf dem Verkürzungsweg unsicher. Die Beitragszahler in der Rentenversicherung müssen ab 1993 die Zeche zahlen, die Sie heute mit diesem Beschluß hier verkündet haben. ({3}) Herr Blüm, Sie haben im Mai ausweislich dieses Papiers aus Ihrem Hause die Unwahrheit gesagt. Warum sollte man jemandem, der das im Mai getan hat, im November, nur wenige Monate später, trauen? ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Es erfolgt die Antwort des Herrn Bundesministers.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe im Mai die Wahrheit gesagt, und ich sage sie im November auch: Die Anschubfinanzierung erfolgte aus Steuermitteln. ({0}) Eine Beitragssenkung ist kein Griff in die Rentenkasse. Ich zitiere jetzt den Hauptgeschäftsführer des Verbands der Deutschen Rentenversicherungsträger, Herrn Kolb: „Die Beiträge werden dort erhöht, wo höhere Kosten anfallen, und dort gesenkt, wo höhere Rücklagen dies gestatten. Dies ist systemgerecht. " Ich schließe mich dem an. Damals war das richtig, und heute ist es auch richtig. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Nun eine Kurzintervention von Herrn Cronenberg.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000342, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich habe Verständnis dafür, wenn Wahlkampf gemacht wird. Aber ich habe kein Verständnis dafür, wenn das auf dem Buckel der Rentner ausgetragen wird, indem man Verwirrung stiftet. ({0}) Hier wird bewußt Verwirrung gestiftet. Tatsache ist, daß die Sozialdemokraten einen Antrag gestellt haben, die Rentenversicherungsbeiträge um 0,7 % zu senken. Tatsache ist, daß dieses konsequent war entsprechend dem, was wir gemeinsam zur Rentenstrukturreform vereinbart hatten, nämlich die Beiträge dann zu senken, wenn keine Notwendigkeit mehr für solche hohen Beiträge vorhanden ist. Insofern war die Entscheidung richtig und konsequent. Nachdem sich die Beschäftigungssituation so verbessert hat, konnte man noch um 0,3 % über den sozialdemokratischen Antrag hinausgehen und die Beitragssenkung auf 1 erhöhen. Ich meine, das sollte hier jetzt nicht zerredet werden. Dies war das Ergebnis der gemeinsamen Rentenstrukturreform. Diese Entlastung der Beitragszahler in der Rentenversicherung sollte von den Sozialdemokraten begrüßt werden. ({1}) Es ist nicht so, daß aus einer Kasse, nämlich der Rentenversicherungskasse, auch nur eine müde Mark genommen wird. ({2}) Es ist Unsinn, wenn das hier behauptet wird. ({3}) Tatsache ist, daß die Finanzierung der Arbeitslosenversicherung systemgerecht durch Beiträge erfolgt. Auch dieses ist vernünftig und richtig. Cronenberg ({4}) In diesem Sinne bitte ich, doch den Unsinn sein zu lassen, hier von einem Verschiebebahnhof zu reden, da doch systemgerecht gehandelt wird. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Hoss als letzter zur Intervention.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn wir die Sache aus dem Wahlkampf heraushalten wollen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf diejenigen Rentner lenken, die bei der ganzen Rentenfrage am schlechtesten dastehen. Zu sehen ist das an der Rentenerhöhung, die für die Rentner in der ehemaligen DDR hier in diesem Bundestag beschlossen worden ist. Dabei ist man zweigleisig verfahren: Man hat diejenigen Rentner, die die geringsten Renten bekommen, die dafür als Ausgleich einen Sozialzuschlag erhalten, von der Erhöhung dieses Sozialzuschlags ausgenommen. Wenn ich von dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit ausgehe, finde ich dieses Vorgehen unerhört. Daß sich in der Rentenkasse Geld angesammelt hat, wird ja nicht bestritten, Herr Blüm. Es geht um die Frage: Wofür wird das Geld verwendet? ({0}) Sie verwenden das Geld dafür, einerseits in der Rentenversicherung den Beitrag zu senken, während Sie gleichzeitig den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung erhöhen. Ich meine, der Schwindel besteht darin, daß dieses Geld nicht dazu verwendet wird, den Rentnern mit geringen Renten das zu geben, was ihnen zusteht. ({1}) Herr Blüm, da Sie sich immer mit dem Mäntelchen des Sozialen ausstaffieren, hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie gerade an diese Menschen denken, die es am nötigsten brauchen, nicht an Ihre Rechenkunststückchen und Taschenspielertricks. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Als letzter Redner in der heutigen Debatte hat das Wort der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Das einzige, was für den 2. Dezember sicher und heute schon prognostizierbar ist, ist ({0}) daß der Anteil der Nichtwähler noch mal erheblich angewachsen sein wird, nicht zuletzt durch den heutigen Debattenbeitrag als Grundlage für solch ein Wählerverhalten. Mit der Ankündigung, es werde in der nächsten Legislaturperiode nötig sein, über eine Erhöhung der Abgaben zu reden, erntete der Bundeskanzler die ungeteilte Häme des Grafen Lambsdorff und ein differenziertes Medienecho. Es ist nun mal ein grober handwerklicher Fehler, den Bürgerinnen und Bürgern über Monate einzureden, die Deutsche Einheit werde nicht durch Steuererhöhungen finanziert, obwohl man vom Gegenteil ausgehen mußte, und dann knapp 14 Tage vor dem Wahltermin laut über eine Erhöhung der Abgaben eben dieser Bürgerinnen und Bürger nachzudenken, obwohl diese Informationen schon seit mindestens drei Monaten vorgelegen haben müssen. Wenn man die Bürger schon belügt, dann kann man doch nicht 14 Tage vor dem Wahltermin anfangen, die Wahrheit auszuplaudern. Handwerklich, wie schon dargestellt, nicht lege artis. Der Bundeskanzler hätte nach seiner bisherigen Logik in der Tat besser daran getan, mit dieser Information bis nach den Wahlen zu warten. Hier brach offensichtlich das Naturell unseres Kanzlers, der alte und in vielen Situationen erprobte Tolpatschstil, durch. Tolpatschig ist allerdings in keinster Weise, daß er sich auch heute der direkten Auseinandersetzung mit dem Kanzlerkandidaten Lafontaine entzogen hat. Eine weitere Notlüge soll dem Wahlvolk die bittere Pille erleichtern: Nein, keine Steuern, sondern Abgaben wird's geben. Eine laienhafte Sprachregelung! Vielleicht hat der Bundeskanzler tatsächlich nicht gewußt, daß die Steuer zu den klassischen Abgabenarten zählt. Schon ein kurzer Blick in den Duden hätte ihm aber die unnötigen Belehrungen seitens der verschiedenen Pressekommentatoren ob seiner nicht sonderlich durchdachten Äußerung erspart. Der Bundeskanzler wird auch nicht ernsthaft erwarten, daß die mitdenkenden Staatsbürger annehmen, daß er erst am vergangenen Wochenende plötzlich und für ihn völlig unerwartet über die desolate Finanzlage informiert wurde. Diese Informationen haben ihm spätestens Anfang September dieses Jahres vorgelegen oder vorliegen müssen. Ich darf in diesem Zusammenhang daran erinnern: Der Zeitplan des Bundestags sah vor, in der ersten Sitzungwoche nach der Sommerpause, also Anfang September, die Beratung des Bundeshaushalts 1991 durchzuführen. Aber auch wenn der Bundeskanzler jetzt endlich öffentlich eingesteht, daß über Abgabenerhöhungen und damit natürlich auch Steuererhöhungen zu reden sein wird, befreit ihn dies nicht vom Vorwurf der Steuerlüge. Wer seit Monaten bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit verspricht, es werde zur Finanzierung der deutschen Einheit keine Steuererhöhung geben, gleichzeitig aber offen läßt, ob bzw. inwieweit die Steuern aus anderen Gründen angehoben werden, muß angesichts der Tatsache, daß es der Bundesregierung ohnehin nicht möglich sein wird, nachzuweisen, welche Ausgaben durch die beabsichtigten Steuererhöhungen gedeckt werden, sich den Vorwurf der Lüge gefallen lassen. Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben bei ihrer Logik allerdings nicht berücksichtigt, daß die führenden Wirtschaftsinstitute schon frühzeitig darauf hingewiesen haben, daß eine voreilige und überstürzte Vereinigung der beiden deutschen Staaten zu weit höheren Kosten führen wird als ein behutsames Zusammenwachsen. Eine langsamere Gangart hätte hier eine billigere Finanzsituation mit sich gebracht. Halten wir an dieser Stelle eine Rückschau auf die Äußerungen, die über die Kosten der deutschen Einheit gemacht wurden: Ende des vergangenen Jahres war von der Regierung zu hören, die Kosten der Einheit ließen sich aus der Portokasse bestreiten. Man muß sich das noch mal vergegenwärtigen: Aus der Portokasse! Im Frühjahr dieses Jahres wurden die Kosten mit dem Hinweis, die DDR sei schließlich kleiner als Nordrhein-Westfalen, verniedlicht. Nur wenig später versuchte die Bundesregierung, die Akzeptanz der Einheit mit dem Hinweis zu erhöhen, daß die EG keine und die Bundesländer nur sehr beschränkt Finanzmittel zur deutschen Einheit werden beitragen müssen. Heute sollen die Bundesländer zusätzlich zahlen. Die Salamitaktik ist offensichtlich, obwohl man von Anfang an gewußt hat, daß die Kosten immens sein werden. Im späten Frühjahr begann endlich die SPD in der Person des jetzigen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine, der Bundesregierung konkrete Fragen nach den Kosten der Einheit zu stellen. Von der Bundesregierung war lediglich die Frage zu hören, ob die SPD die Einheit an den Kosten scheitern lassen wolle. Das allerdings reichte bereits bei dieser SPD, sie gleich mehrere Schritte rückwärts gehen zu lassen: Man wolle die deutsche Einheit nicht behindern. In diesen Zusammenhang ist es sicherlich der taktisch größte Fehler der SPD gewesen, daß sie sich darauf eingelassen hat, den Wahltag auf den 2. Dezember zu legen und nicht in Verbindung mit ihrer Zustimmung zum Einigungsvertrag den 13. Januar ausgewählt hat. Denn wenn der Bundeskanzler unter dem öffentlichen Druck zwei Wochen vor dem 2. Dezember zusammenbricht und ankündigt, es wird Abgaben- und Steuererhöhungen geben müssen, dann ist sicherlich klar, daß dieser fünfwöchige Zeitgewinn - Wahltermin 13. Januar - nicht nur deshalb die Wahlchancen des Kanzlerkandidaten Lafontaine erhöht hätte, sondern vor allen Dingen auch, weil die ganzen Puffermaßnahmen im sozialen Bereich in der DDR, Warteschleifen im öffentlichen Dienst etc., bei Großentlassungen ab 1. Januar nächsten Jahres, voll zur Geltung gekommen wären. Diese Tatsachen hätten sich natürlich in das Wahlverhalten umgeschlagen. In der Sommerpause gab es die ersten Betriebsunfälle der Bundesregierung. Kohl ließ am sonnigen Wolfgangsee in einem Interview die Möglichkeit von Steuererhöhungen durchblicken. Die Sprachregelung lautet jetzt plötzlich seit einigen Wochen: keine Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit. Allerdings legte sich Helmut Kohl auf einigen Wahlveranstaltungen, so in dem einstündigen Fernsehinterview der ARD vor neun Tagen, doch fest, daß es keine Steuererhöhungen geben werde. ({1}) Ein weiterer Grund, weshalb man von Steuerlüge weiter sprechen muß. Bereits während der Sondersitzung in der Sommerpause hätte die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag von dieser Stelle aus Rede und Antwort zur finanziellen Situation der Bundesrepublik Deutschland im Jahre 1991 stehen müssen, und sie hätte es auch können. Wie verhält sich aber die SPD bei dieser grundlegenden Diskussion? Von mir wurde noch in der letzten Woche, am 15. November, kritisiert, daß der von der Bundesregierung als Kassensturz angekündigte, vorgelegte Eckdatenentwurf des Haushaltes 91 einen schlechten Referentenentwurf des Bundesfinanzministers darstellt. Statt meinem Tagesordnungsaufsetzungsantrag zur Sondersitzung vor einer Woche zuzustimmen und schon zum damaligen Zeitpunkt eine Debatte über die finanziellen Kosten der deutschen Einheit für die Gebietskörperschaften und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland zu führen, hatte die SPD nichts Besseres zu tun, als gemeinsam mit den Regierungsfraktionen diesen Antrag vom Tisch zu wischen. Dies war eine Einschätzung, die heute auch die SPD teilt. Welch ein Sinneswandel innerhalb von acht Tagen! ({2}) Daß die SPD in der Sondersitzung noch am 15. November kein Interesse zeigte, die Kosten der deutschen Einheit zu diskutieren und zum selben Thema am 17. November eine Sondersitzung beantragt, zwei Tage später also, zeigt, in welcher Verfassung sich diese Partei derzeit befindet. Da nimmt es auch nicht wunder, wenn aus Ihren eigenen Reihen die Kronzeugen von der Regierung süffisant bemüht werden können, wie Hans Apel oder Helmut Schmidt. Auch sei daran erinnert, daß diese SPD allen von der Bundesregierung mit der damaligen DDR ausgehandelten Staatsverträgen zugestimmt und daß die SPD wider ihren Möglichkeiten das Tempo der Beratungen dieser Staatsverträge durch den Deutschen Bundestag nicht auf ein vernünftiges Maß reduziert hat. Ein weiteres interessantes Thema ist die Verwendung der Erlöse der Treuhandanstalt. Im sogenannten Einigungsvertrag wurde festgelegt - Interessierte können dies in Art. 25 Abs. 3 nachlesen -, daß die Erlöse der Treuhandanstalt vorrangig für die Strukturanpassung der Wirtschaft und für die Sanierung des Staatshaushalts der DDR zu nutzen sind. Diese Regelung wirft eine Reihe von Fragen auf: Was ist unter dem Begriff „vorrangig" zu verstehen? Wie wird überprüft, ob die Erlöse der Treuhandanstalt - bekanntermaßen ist die Bundesregierung faktisch die Treuhand - vorrangig für diese Ziele verwendet werden? Ist die Bundesregierung überhaupt verpflichtet, diesen Beweis zu führen? Steht dem nicht sogar der in § 8 Satz 1 Bundeshaushaltsordnung definierte Grundsatz der Gesamtdeckung entgegen? Der Bundeskanzler und auch der Bundesfinanzminister haben in der Eile der Erarbeitung und der Verabschiedung dieses Vertragswerkes bedauerlicherweise versäumt, eine den § 8 Satz 2 und § 17 Abs. 3 Bundeshaushaltsordnung entsprechende Ausnahmeregelung zu schaffen, oder bewußt die definitive Zweckbindung dieser Mittel nicht im dritten Staatsvertrag verankert. Welche Maßnahmen für die Strukturanpassung der Wirtschaft sind denn hier gemeint? Bedeutet diese Formulierung, daß aus den Erlösen der Treuhandanstalt - hierbei handelt es sich um das volkseigene Vermögen der Bevölkerung der neuen fünf Bundesländer - die Subventionen und die Steuergeschenke an die altdeutschen Großunternehmen finanziert werden sollen? Hat die Bundesregierung dies als Anforderung zu verstehen, den Staatshaushalt erst durch Überschuldung zu ruinieren, damit dieser dann aus den Erlösen der Treuhandanstalt wieder saniert werden kann? Ist sich die Bundesregierung eigentlich darüber im klaren, wie fragwürdig die Behandlung des Haushalts für 1991 unter verfassungsrechtlichen Maßstäben ist? Ich bezweifle dies sehr. Zusätzlich stellt sich natürlich die Frage, inwieweit sich die beabsichtigte oder zum Teil bereits im Gang befindliche Verschleuderung und Verscherbelung des Volkseigentums der Bürgerinnen und Bürger der ehemaligen DDR von dem so sehr kritisierten und sogar als kriminell titulierten Finanzgebaren der PDS unterscheidet.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ihre Redezeit ist beendet, Herr Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich wünsche mir jedenfalls für eine bessere Umsetzung der Werte unseres Grundgesetzes die Ablösung dieser Regierung, so wenig optimistisch ich auch einem Bundeskanzler Lafontaine entgegensehen würde. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache und komme zu den Entschließungsanträgen. Die Entschließungsanträge der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/8463 und der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf Drucksache 11/8469 sollen an den Finanzausschuß und den Haushaltsausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? ({0}) Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich teile Ihnen mit, daß die heute morgen zusätzlich auf die Tagesordnung gesetzte Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/8468 betreffend Entsendung von Beobachtern in das Europäische Parlament interfraktionell einvernehmlich abgesetzt worden ist. Ich möchte Sie jetzt bitten, noch ein paar Minuten auszuharren, a) weil es zwei Erklärungen außerhalb der Tagesordnung gibt und b) weil ich gern jene Abgeordneten, die nicht wieder kandidieren, trotz dieser Debatte heute so verabschieden möchte, daß es seine Form hat. Ich rufe zunächst den Abgeordneten Herrn Ullmann für eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach § 32 der Geschäftsordnung auf.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der 230. Bundestagssitzung am 24. Oktober 1990 habe ich folgendes gesagt: Ich bin einfach über die Art und Weise erschrokken, wie Herrn Seifert heute von Staatssekretär Wimmer geantwortet worden ist. Wenn wir diesen Stil unter uns nicht abschaffen, dann werden wir auch das Mißtrauen, das ich gerne aus meinem Herzen los sein möchte, nicht loswerden können. Ich bitte sehr darum, daß wir diesen Stil beseitigen. Herr Staatssekretär Wimmer hat mich brieflich wissen lassen, daß er sich gegen solche Vorwürfe verwahre, da es zwischen ihm und dem Kollegen Dr. Seifert keinen Wortwechsel gegeben habe. Er bitte mich um Richtigstellung meiner Aussage. Ich komme dieser Bitte hiermit nach und erkläre folgendes: Erstens. Die Nennung von Herrn Staatssekretär Wimmer in meinem Redebeitrag beruht auf einem durch eine Fehlinformation veranlaßten Irrtum. Ich bedaure diesen Irrtum und möchte mich bei Herrn Wimmer entschuldigen. Zweitens. Ich kann den Wunsch verstehen, in diesem Zusammenhang öffentlich nicht genannt zu werden; denn die in meinem Redebeitrag geäußerte Kritik muß ich vollinhaltlich aufrechterhalten, freilich mit der Bemerkung, daß ihr Adressat laut Protokoll der genannten Sitzung der Herr Parlamentarische Staatssekretär Vogt beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ist. - Ich danke Ihnen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Zu einer Erklärung, ebenfalls nach § 32 der Geschäftsordnung, Herr Professor Heuer!

Prof. Dr. Uwe Jens Heuer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000891, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte zu einem Erlebnis vom gestrigen Tage, das mich erschüttert hat, eine persönliche Erklärung abgeben. Am Abend fand auf dem Augustusplatz in Dresden eine Wahlversammlung der PDS in Anwesenheit von Gregor Gysi statt. Eine Gruppe von 50 bis 100 Personen rief minutenlang: Jude raus! - Ich hoffe, daß das Haus mit mir der Auffassung ist, daß eine solche Form politischer Auseinandersetzung immer unwürdig war, nach Auschwitz aber in Deutschland unerträglich ist und von uns allen verurteilt werden sollte. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich darf sagen: Auch hier ist noch zu lernen. Es ist eine Erklärung nach § 32 der Geschäftsordnung angemeldet worden, und die haben wir zunächst zu hören. Ich möchte am Ende der heutigen Sitzung einige Worte an Sie richten. Ich gehe zunächst einmal davon aus, daß dies ja wohl - nach dem, was ich höre - die letzte Sitzung in dieser Wahlperiode ist. ({0}) Ich möchte zunächst einmal feststellen: Auch wenn heute die Debatte ihren Inhalt und ihren Verlauf wahlkampfbedingt genommen hat, haben wir gerade am Ende dieser Wahlperiode allen Grund, sie als eine ganz außergewöhnliche zu sehen; denn es gibt, wenn es um den Kernpunkt der deutschen Frage, die Überwindung der Teilung, die wiedergewonnene Freiheit und Einheit geht, nichts Vergleichbares seit 1949. ({1}) Insofern war dies eine ganz außergewöhnliche Wahlperiode. Außergewöhnlich war sie auch in vielen außen- und innenpolitischen Debatten und Entscheidungen. Es geschahen Dinge, die niemand von uns für möglich gehalten hätte, ob es der erste und der zweite Einigungsvertrag war oder der Nicht-Angriffspakt mit der Sowjetunion oder die Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrages, ({2}) dem die Parlamentserklärungen vorausgegangen sind. Ich denke, auch unter Einschluß der großen Dinge im Bereich der Steuer-, der Gesundheits-, der Renten- und der Postreform - so kontrovers hier auch diskutiert worden ist - , daß hier unsägliche Arbeit geleistet worden ist. Manches, was hier im Streit nicht sichtbar ist, wäre nicht möglich gewesen, wenn es nicht auch untereinander so viel Konsens gegeben hätte. Ohne den Konsens in Vereinbarungen zwischen den Geschäftsführern und den Fraktionen wäre vieles nicht möglich gewesen, was wir in wirklich kürzester Zeit hier gemeinsam geleistet haben. ({3}) - Ja, auch das. Ich denke, es ist in allen Fraktionen so, daß wir um die Stärke der Geschäftsführer wissen, aber es gilt, sie auch dort zu loben, wo sie zu loben sind. ({4}) Viele, die dem Bundestag angehört haben, werden nicht mehr zu den Mitgliedern des 12. Bundestages zählen. 161 Mitglieder kandidieren am 2. Dezember nicht mehr. Ich kann hier nicht alle persönlich würdigen, sondern tue dies bei einigen stellvertretend für alle. Ich nenne als Mitglied, das dem Bundestag seit 1949 ununterbrochen angehörte, Richard Stücklen, der uns verläßt. ({5}) Neben einem Regierungsamt hat er als Präsident und als Vizepräsident für unser Haus gewirkt. Wir schulden ihm Dank und sagen ihm dies heute noch einmal ausdrücklich. Ebenso verläßt uns ein Stück Urgestein dieses Parlaments, Annemarie Renger, die als Präsidentin, als Vizepräsidentin und in vielen anderen Funktionen dieses Haus entscheidend mitgetragen hat. Unseren ganz, ganz herzlichen Dank an Sie, Frau Renger. ({6}) Mit Philipp Jenninger verläßt uns ein weiterer aus dem Kreis der ehemaligen Bundestagspräsidenten. Ich möchte ihm für seine Arbeit hier danken und ihm für die vor ihm liegende Aufgabe alles Gute wünschen. ({7}) Heinz Westphal scheidet als amtierender Vizepräsident aus. Auch ihm möchte ich für seine verantwortungsvolle Arbeit im Dienst unseres Parlaments herzlich danken. ({8}) Diesen Dank möchte ich unserem früheren Vizepräsidenten - danach dann Minister - Heinrich Windelen ganz ausdrücklich ebenso aussprechen. ({9}) Für die amtierenden Präsidenten sind unerläßlich die Schriftführer und Schriftführerinnen, die hier, meist unsichtbar und doch sichtbar, wirken. ({10}) - Was sie tun, ist meist unsichtbar, als Personen sind sie sichtbar. - Stellvertretend für alle möchte ich einen herausheben, den dienstältesten, Max Amling, der heute zum letztenmal amtiert hat. Ich möchte ihm im Namen aller stellvertretend für seine Hilfe und die Hilfe seiner Kolleginnen und Kollegen besonders danken. ({11}) Ausscheiden werden die Ausschußvorsitzenden Uwe Ronneburger - ich kann ihm nicht in plattdeutsch danken -, Hans-Günther Hoppe, Hermann Josef Unland und Frau Heike Wilms-Kegel. Auch Ihnen unseren Dank für die im Ausschußvorsitz geleistete Arbeit. ({12}) Unter denen, die dem nächsten Bundestag nicht mehr angehören werden, sind eine Reihe von Kollegen, die auf 25 Jahre und mehr Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag zurückblicken können. Zu ihnen zählen Dr. Manfred Abelein, Dr. Hans Apel, Alwin Brück, Hermann Buschfort, Dr. Herbert Czaja, Präsidentin Dr. Süssmuth Dr. Werner Dollinger, Ernst Haar, Dr. Hansjörg Häfele, Dr. Anton Stark, Hans-Jürgen Wischnewski, Dr. Friedrich Zimmermann und Otto Zink. Wenn ich als letztes den Namen von Gerhard Jahn nenne, dann mit der Absicht, ihm nochmals besonders für sehr viel Konsensfindung in den letzten Jahren zu danken. Es wäre sonst wirklich vieles nicht möglich gewesen. ({13}) Ihnen allen und den vielen Kolleginnen und Kollegen, die ich nicht nennen konnte und die in den verschiedenen Ausschüssen ungeheure Arbeit geleistet haben - draußen ist zum Teil nicht mehr deutlich, daß die Ausschüsse zum Teil nicht mehr wußten, wie sie überhaupt durchkommen sollten, ich denke nur an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung -, möchte ich im Namen des Hauses ganz herzlich danken und sie mit unseren besten Wünschen begleiten. Ich denke, wie der Dank den Abgeordneten gilt, so gilt er auch - ich sage das auch für die Ressorts - den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den Fraktionen und in der Bundestagsverwaltung. ({14}) Vor Ihnen sitzen die Stenographen, ({15}) die in dieser Wahlperiode Unglaubliches leisten mußten. Ihnen gilt unser besonderer Dank. Die Sitzung ist beendet. Wir schauen auf eine gute Zeit zurück. Ich hoffe, daß auch die nächste Wahlperiode eine gute für uns wird. - Herzlichen Dank. ({16})