Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 11/15/1990

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Sitzung ist eröffnet. Meine Damen und Herren, die heutige Sitzung habe ich gemäß Art. 39 Abs. 3 Satz 3 des Grundgesetzes auf Grund eines Verlangens der Fraktion der SPD einberufen. Den Gegenstand dieses Einberufungsverlangens werden wir unter Punkt 2 der Tagesordnung beraten. Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich einige Mitteilungen zu machen. Herr Kollege Dr. Möller feierte am 2. November 1990 seinen 60. Geburtstag ({0}) und Herr Kollege Dr. Czaja am 5. November 1990 seinen 76. Geburtstag. ({1}) Ich spreche beiden Kollegen nachträglich im Namen des Hauses sehr herzliche Glückwünsche aus. Herr Abgeordneter Dr. Biedenkopf hat am 9. November 1990 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat Herr Abgeordneter Lohmann ({2}) am 12. November 1990 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich heiße den uns aus der 10. Wahlperiode bekannten Kollegen herzlich willkommen. ({3}) Herr Kollege Wüppesahl hat fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung der heutigen Tagesordnung eingereicht. Dieser Antrag wird nach Tagesordnungspunkt 1 aufgerufen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Regierungserklärung des Bundeskanzlers - über die Ergebnisse seiner Gespräche mit dem Ministerpräsidenten der Republik Polen, Tadeusz Mazowiecki, und dem Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, sowie - zur Unterzeichnung des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze. Hierzu sind Entschließungsanträge angekündigt worden, die noch im Laufe der Sitzung eingebracht werden sollen. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch dagegen. Das Wort zur Regierungserklärung hat der Herr Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe Ihnen heute über zwei Besuche in unserem Land zu berichten, die vor dem Hintergrund der geschichtlichen Situation eine besondere Bedeutung haben: Mit Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki konnte ich den ersten ausländischen Regierungschef und mit dem Präsidenten der UdSSR Michail Sergejewitsch Gorbatschow das erste ausländische Staatsoberhaupt im vereinten Deutschland willkommen heißen. Beide Besuche standen im Zeichen des gemeinsamen politischen Willens, die bitteren Auseinandersetzungen der letzten Jahrzehnte endgültig zu überwinden und jetzt gemeinsam den Weg in eine friedliche Zukunft zu beschreiten. Beiden Besuchen kommt eine erhöhte politische Aussagekraft zu, weil sie in den Tagen stattfanden, in denen sich der Fall der Berliner Mauer zum ersten Mal jährte. Sie verdeutlichten die große, weite politische Wegstrecke, die wir Deutsche seither auf dem Weg zu unserer Einheit zurückgelegt haben, einer Einheit, die wir auch den politischen Umgestaltungen in Mittel- und Osteuropa verdanken und die wir im Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn und Partnern glücklich vollenden konnten. Ich habe deshalb beiden Besuchern gegenüber unsere Dankbarkeit bekräftigt. Der zehnjährige Kampf der „Solidarität" in Polen für Freiheit und Selbstbestimmung hat auch unserer, der deutschen Sache gedient. ({0}) Ohne das Geschehen an der Danziger Lenin-Werft 1980 wäre Berlin vor einem Jahr nicht denkbar gewesen. 1 R820 Ich habe besonders gewürdigt, daß Ministerpräsident Mazowiecki und seine Regierung zu den ersten gehörten, die die Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands im Bündnis freiheitlicher Demokratien des Westens befürwortet haben. Ich habe Präsident Gorbatschow gedankt, daß er neues Denken auch in der sowjetischen Deutschlandpolitik durchsetzte. Er hat uns Deutschen damit den Weg zur Einheit freigemacht. ({1}) Meine Damen und Herren, der Ort des Treffens mit Ministerpräsident Mazowiecki, Frankfurt an der Oder, hat eine besondere Bedeutung; denn hier verläuft die Grenze, die wir, wie wir es im Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland zugesagt haben, durch einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag bekräftigen wollen und die wir zugleich im Sinne der größeren Einheit Europas als Brücke zwischen den Völkern zukunftsgewandt ausgestalten wollen. Die Vertragsverhandlungen zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen waren deshalb ein Schwerpunkt der Gespräche mit Ministerpräsident Mazowiecki. Wir waren uns einig, daß neben dem Grenzvertrag auch ein umfassender Vertrag ausgehandelt wird. Der bereits fertiggestellte Grenzvertrag ist gestern von den beiden Außenministern in Warschau unterzeichnet worden. Der zweite, der umfassende Vertrag wird auf der Gemeinsamen Erklärung, die wir vor einem Jahr unterzeichnet haben, aufbauen. Unser Ziel ist es - ich will das unterstreichen - , ihn bis Ende Januar, Anfang Februar 1991 fertig zu verhandeln. Bereits jetzt haben wir fest vereinbart, daß beide Verträge gemeinsam ins parlamentarische Verfahren eingeführt und ratifiziert werden. Das heißt, daß dabei kein Vertrag vorgezogen wird. ({2}) Der Inhalt des Grenzvertrages lehnt sich, wie dies von Anfang an beabsichtigt war, aufs engste an die Entschließungen des Deutschen Bundestages und der Volkskammer vom Juni 1990 an. Ich möchte besonders einen Satz aus der Präambel des Vertrags zitieren. Dort heißt es: ... eingedenk dessen, daß seit Ende des Zweiten Weltkrieges 45 Jahre vergangen sind, und im Bewußtsein, daß das schwere Leid, das dieser Krieg mit sich gebracht hat, insbesondere auch der von zahlreichen Deutschen und Polen erlittene Verlust ihrer Heimat durch Vertreibung oder Aussiedlung, eine Mahnung und Herausforderung zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen beiden Völkern und Staaten darstellt, ... Diese Aussage zeugt von gemeinsamer Bereitschaft zur Versöhnung. Deutsche und Polen gedenken des von den Menschen beider Völker Erlittenen und begreifen es als Mahnung und Herausforderung. Deutsche und Polen wollen den Blick nach vorn richten und die Zukunft gemeinsam und friedlich gestalten. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal unterstreichen: Alle Menschen in Deutschland, an deren Leid, an deren Verlust der Heimat erinnert wird, verdienen gerade in diesen Tagen unsere besondere Solidarität und Zuwendung. ({3}) Gestern, bei der Vertragsunterzeichnung in Warschau, hat Ministerpräsident Mazowiecki betont, man müsse heute auch von den Leiden des deutschen Volkes sprechen. Er sagte wörtlich: Wir denken daran, daß es bei der Rechnung der Opfer keine Arithmetik geben kann. Jedes Unrecht bleibt Unrecht, jedes Unglück bleibt Unglück, unabhängig welches Unrecht und welches Unglück wir selbst erlitten haben. Für den zweiten, den umfassenden Vertrag haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich uns ein hohes Ziel gesetzt. Wir wollen den Beziehungen des vereinten Deutschlands und der Republik Polen einen starken und zukunftsgewandten Impuls geben, wie uns dies ja auch glücklicherweise im Verhältnis zu unseren französischen Nachbarn gelungen ist. Wir wollen, mit einem Wort, Vorwärtsbewegung auf allen Gebieten: in der Politik einschließlich der Sicherheitspolitik sowie bei Abrüstung und Rüstungskontrolle, in Wissenschaft, in Wirtschaft und Technik, im kulturellen Austausch und in humanitären Fragen sowie in der breiten Begegnung der Menschen. Insbesondere wollen wir die junge Generation beider Völker zusammenführen. Wir wollen dies durch die Gründung eines deutsch-polnischen Jugendwerks weithin sichtbar machen. ({4}) Ich bin mit Ministerpräsident Mazowiecki einig, daß eine umfassende Regelung der Rechte der deutschen Minderheit in Polen - und im Gegenzug der bei uns wohnenden polnischen Bürger - Kernstück unseres Vertrages sein wird. Ministerpräsident Mazowiecki hat die Bereitschaft Polens erklärt, diese Rechte nach europäischem Standard zu regeln. Ich würdige diese weiterführende Zusage ausdrücklich; denn sie bedeutet, daß wir die einschlägigen Bestimmungen der Schlußakte von Helsinki und der KSZE-Dokumente von Wien und Kopenhagen, die den Charakter politischer Willenserklärungen tragen, nunmehr in den Rang völkerrechtlicher Verpflichtungen erheben und so zur festen Grundlage unserer Beziehungen machen. Polen wird darüber hinaus für die Rechtsstellung der nationalen Minderheiten Weiteres leisten. Im Zuge seines beabsichtigten Beitritts zum Europarat, den wir selbstverständlich befürworten und fördern, wird es die Europäische Menschenrechtskonvention ratifizieren. Darin ist - ich betone dies - bekanntlich auch die Zuständigkeit des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs enthalten. Im Zuge seiner Verfassungsreform, die 1991 abgeschlossen sein soll, will Polen die politischen Vertretungsrechte aller nationalen Minderheiten stärken. Meine Damen und Herren, ausführlich haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich auch über die Möglichkeiten gesprochen, unseren Landsleuten zusammen mit ihren polnischen Mitbürgern die notwendige Unterstützung vor Ort zu geben. Wir wollen den Sprachunterricht und die Kulturarbeit verstärken. Wir wollen sie mehr als bisher mit unseren Medien versorgen. Wir haben ausdrücklich die Fortschritte in der Frage von Gottesdiensten in der Muttersprache gewürdigt. Meine herzliche Bitte gilt heute allen Bürgern unseres Landes und insbesondere auch allen Verantwortlichen in Parteien und Stiftungen, in Kirchen und Gewerkschaften sowie Verbänden: Setzen Sie sich dafür ein, tun Sie das Ihnen Mögliche, um das Leben unserer Landsleute in ihrer angestammten Heimat zu erleichtern. ({5}) Ein weiterer Schwerpunkt der Gespräche in Frankfurt/Oder war das Zusammenleben an der Grenze. Hier müssen Sofortmaßnahmen und langfristige Planungen Hand in Hand gehen. Erstens habe ich, nach Vorgesprächen mit Ministerpräsident Stolpe und Oberbürgermeister Denda, mit Ministerpräsident Mazowiecki vereinbart, die Autobahn Berlin-Warschau beiderseits der Grenze auf einer Länge von je 5 Kilometern sechsspurig auszubauen und endlich die Zollabfertigung zu modernisieren und zu beschleunigen. Es ist für mich nicht nur eine technische oder bürokratische Frage, daß es an dieser Grenze und an anderen Übergängen nicht wie heute zu kilometerlangen Staus und zu unerträglichen Wartezeiten kommt. Dies zu vermeiden hat auch an dieser Grenze eine hohe politische und psychologische Bedeutung. ({6}) In diesem Geiste haben wir zweitens vereinbart, die Sichtvermerkspflicht aufzuheben, sobald das laufende Konsultationsverfahren mit unseren Partnern im Schengener Abkommen abgeschlossen ist. Drittens sind wir uns einig, daß grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit ein Schlüssel für die künftige Gemeinsamkeit beider Staaten und Völker ist. Wir Deutschen können dabei an die guten Erfahrungen anknüpfen, die wir mit unseren Nachbarn im Norden, im Westen und im Süden unseres Landes gemacht haben. Mit Ministerpräsident Mazowiecki war ich einig, daß es auf beiden Seiten unserer jetzt rund 500 Kilometer langen Grenze zu einer möglichst ausgewogenen Entwicklung kommen muß: bei der industriellen Ansiedlung und bei der Verkehrsinfrastruktur, beim Umweltschutz und bei den vielfältigen gegenseitigen Hilfeleistungen auf kommunaler Ebene. Damit diese Zusammenarbeit möglichst rasch in Gang kommt, haben Ministerpräsident Mazowiecki und ich beschlossen, als ersten Schritt eine Kommission für grenzüberschreitende regionale Zusammenarbeit einzuberufen. In ihr werden die angrenzenden Bundesländer auf unserer Seite, die Woiwodschaften auf der polnischen Seite und die grenznahen Städte und Gemeinden beider Seiten vertreten sein. Mein Ziel - und so ist auch die Absprache - ist es, daß diese Kommission noch in diesem Jahr zusammentritt. Viertens waren Ministerpräsident Mazowiecki und ich uns einig, daß die Tatsache, daß an Oder und Neiße jetzt auch die Außengrenze der Europäischen Gemeinschaft verläuft, keineswegs dazu führen darf, daß sich hier eine Wohlstandsgrenze verfestigt. Wir waren uns deshalb einig, daß noch bestehende Handelshemmnisse gemäß dem Kooperationsabkommen Polens mit der Europäischen Gemeinschaft zügig abgebaut werden und daß Polen im Rahmen einer Assoziierung so schnell wie möglich näher an die Europäische Gemeinschaft herangegführt werden muß. Wir wollen damit nicht zuletzt die polnischen Reformen in Richtung Marktwirtschaft wirksam abstützen. Wir werden uns nachdrücklich bemühen, bei der Neuordnung unserer Handelsbeziehungen Übergangslösungen zu finden und der polnischen Volkswirtschaft in Deutschland und im EG-Raum insgesamt lohnende Perspektiven zu eröffnen. Ich beabsichtige darüber hinaus, die weitere Unterstützung der polnischen Wirtschaftsreformen auf dem bevorstehenden Europäischen Rat im Dezember in Rom mit Nachdruck anzusprechen. Wir werden uns wie bisher für die Anliegen auch unserer östlichen Nachbarn einsetzen. Meine Damen und Herren, wer in diesen Tagen die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschen und Polen in der Mitte Europas bedenkt, wer ihre besondere Verantwortung vor der Geschichte wägt und ihre herausragende Rolle beim Aufbau eines friedlichen und freiheitlichen Europas würdigt, der sollte sich 25 Jahre zurückerinnern. Damals, 1965, haben die beiden Kirchen Worte der Verständigung, der Vergebung und der Versöhnung gefunden. Sie haben damit der Politik beider Staaten und den Bürgern beider Völker die Richtung in eine gemeinsame friedliche Zukunft vorgegeben. Tadeusz Mazowiecki und ich haben uns vor einem Jahr in Kreisau zu dieser gemeinsamen Aufgabe verpflichtet. Wir haben das jetzt in Frankfurt/Oder bekräftigt: Wir halten Kurs! Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der Besuch Präsident Gorbatschows im vereinten Deutschland war ein Markstein in der Geschichte unserer Länder und Völker. Er hat das Neue in den deutsch-sowjetischen Beziehungen verdeutlicht: den gemeinsamen Willen an die große und gute Tradition jahrhundertelanger Beziehungen zwischen unseren Völkern wieder anzuknüpfen; das gemeinsame Bewußtsein, welch große Bedeutung unserem Verhältnis für die Zukunft ganz Europas und für den Frieden in der Welt zukommt, nicht zuletzt das hohe Maß an politischem und persönlichem Vertrauen, das Präsident Gorbatschow und mich und auch die beiden Außenminister verbindet. Im Verhältnis zwischen den Deutschen und den Völkern der Sowjetunion ist eine neue Qualität erreicht worden. Unsere Beziehungen werden unübersehbar durch neue Tatsachen geprägt: Jahrzehntelang gab es Widerstand gegen die Einheit unseres Vaterlandes. Jetzt sprach Präsident Gorbatschow davon, daß die Vereinigung Deutschlands im Rahmen der stürmischen internationalen Veränderungen „beinahe das eindrucksvollste Ereignis" war. Wir halten uns nicht länger mit Prognosen über das Scheitern kommunistischer Wirtschaftsstrukturen auf. Heute unterstützen wir aktiv ihre Umgestaltung in Richtung Markt und Privatinitiative. Statt überlebter Feindbilder gibt es jetzt Beweise der Freundschaft. Dies alles geschieht aus dem Geist und aus der Überzeugung, daß nur so gemeinsam eine friedliche Zukunft unserer Völker gestaltet werden kann. Der Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit, den Präsident Gorbatschow und ich am vergangenen Freitag unterzeichnet haben, verkörpert diesen politischen Willen. Er ist der erste politische Grundsatzvertrag, den das vereinte Deutschland schließt. Mit diesem Vertrag ziehen wir erstens einen Schlußstrich unter die leidvollen Kapitel der Vergangenheit. Wir wollen einen Neubeginn im Zeichen guter Nachbarschaft und der Versöhnung. Zweitens bahnen wir den Weg zu einer alle Bereiche des zwischenstaatlichen Lebens umfassenden engen Zusammenarbeit, wie sie auch in mehr als zwanzig Verträgen und Abkommen, die wir in den letzten beiden Jahren geschlossen haben, zum Ausdruck kommt. Drittens stellen wir uns den Herausforderungen, die morgen und an der Schwelle des nächsten Jahrtausends unsere Völker, ja alle Völker Europas und der Welt, vor sich sehen: Wir wollen jeden Krieg vermeiden und den Frieden wahren und gestalten. ({7}) Wir wollen den Vorrang des Völkerrechts in der inneren und in der internationalen Politik durchsetzen. Wir wollen das Überleben der Menschheit sichern und für die Erhaltung der natürlichen Umwelt sorgen. Wir wollen nicht zuletzt den Menschen mit seiner Würde und seinen Rechten in den Mittelpunkt der Politik stellen. Zu diesen hohen Zielen bekennen wir uns in unserem Vertrag mit ganz konkreten Verpflichtungen: Achtung der territorialen Integrität aller Staaten in Europa, Verzicht auf Androhung und Anwendung von Gewalt, Nichtangriff und friedliche Konfliktlösung, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Wir setzen damit in der Mitte Europas einen starken Pfeiler für die übergreifenden Sicherheitsstrukturen, die - wie ich dies vor einem Jahr in meinen Zehn Punkten vorgezeichnet habe - unseren ganzen Kontinent umspannen sollen. Meine Damen und Herren, die deutsch-sowjetische Verständigung muß sich vor allem im Tun und im Denken unserer Bürger bewähren. Es erfüllt mich deshalb mit großer Befriedigung, daß der „Große Vertrag" auch die Menschen, auch jeden einzelnen Bürger anspricht. Der Vertrag eröffnet den Weg zu umfassender Begegnung, insbesondere der jungen Generation, und zu verstärktem kulturellen Austausch. Wir wollen, daß unsere Bürger Land und Leute, Sprache und Kultur des Partners besser kennenlernen. Der Vertrag setzt auch ein Zeichen der Aussöhnung über den Gräbern der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Diese Stätten können nunmehr, wo immer sie liegen mögen, besucht, erhalten und gepflegt werden. Sie stehen unter dem Schutz unserer Gesetze. ({8}) Besonders will ich hervorheben, daß der Vertrag es den sowjetischen Bürgern deutscher Nationalität nunmehr verstärkt ermöglicht, ihre Sprache, ihre Kultur und Tradition zu pflegen und damit ihre Identität zu erhalten. Uns ist die Chance gegeben, ihnen dabei vor Ort zu helfen. ({9}) Wir werden diese neu eröffneten Möglichkeiten nach besten Kräften nutzen. Ich habe an Präsident Gorbatschow appelliert, daß die sowjetische Regierung gleichgerichtete Anstrengungen unternimmt, das Leben dieser Menschen in ihrer angestammten Heimat zu erleichtern, damit sie in der Sowjetunion eine gesicherte Zukunft erwarten können. Präsident Gorbatschow hat mir entsprechende Bemühungen zugesagt. Unsere menschliche Haltung muß sich auch im Umgang mit den in den neuen Bundesländern stationierten sowjetischen Soldaten und ihren Familien bewähren. Wir alle wissen, daß dies für viele unserer Mitbürger auf Grund bisheriger Erfahrungen eine schwierige Aufgabe ist. Gerade sie bitte ich aber, mit mir den Blick nach vorn zu richten: Wir haben in einem Vertrag über den befristeten Aufenthalt und den planmäßigen Abzug der sowjetischen Streitkräfte festgelegt, daß diese Soldaten bis Ende 1994 unser Land verlassen werden. Ab jetzt wird bereits ihr Übungsbetrieb vermindert. Wir wollen - und ich will das mit Nachdruck unterstreichen -, daß sich die sowjetischen Soldaten und ihre Familien in der verbleibenden Zeit ihres Hierseins wohl fühlen. Sie sollen, wenn sie heimkehren, unser Land und seine Menschen in guter Erinnerung behalten. Wir werden gemäß unserem Überleitungsvertrag ihre Eingliederung durch ein umfassendes Wohnungsbauprogramm und durch Umschulungsmaßnahmen erleichtern. ({10}) Meine Damen und Herren, ein Schwerpunkt meiner Gespräche mit Präsident Gorbatschow war der von ihm ins Werk gesetzte umfassende Umbau der sowjetischen Volkswirtschaft. Er ist seit den jüngsten Beschlüssen des Obersten Sowjets in ein neues und ganz entscheidendes Stadium getreten. Präsident Gorbatschow hat deutlich gemacht, daß Perestroika vor allem natürlich eine Sache der Sowjetunion selbst ist. Zugleich aber waren wir uns einig, daß der Erfolg des Reformwerks schneller und zielstrebiger erreicht werden kann, wenn es auch von außen mit Rat und Tat abgestützt wird. Dabei kommt - hierin pflichte ich Präsident Gorbatschow ausdrücklich bei - der engen wirtschaftlichen und wissenschaftlich-technischen Zusammenarbeit des vereinten Deutschlands mit der Sowjetunion eine Schlüsselbedeutung zu. Das ergibt sich zunächst aus der Tatsache, daß das vereinte Deutschland der größte Wirtschaftspartner der Sowjetunion ist. Das ergibt sich aus unserer Verankerung in einer sich dynamisch entwickelnden Europäischen Gemeinschaft und aus unserer wichtigen Rolle in den internationalen Finanzinstitutionen. Das ergibt sich insbesondere aus den gewachsenen Wirtschaftsverflechtungen und daraus entstandenem Vertrauen zwischen unseren beiden Ländern. Wir haben aus alledem für die künftige Zusammenarbeit Folgerungen gezogen. Die Bestimmungen des „Großen Vertrages" werden durch einen Vertrag über umfassende Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, der Industrie, der Wissenschaft und Technik ergänzt. Diesen Vertrag haben Bundesminister Haussmann und der stellvertretende Ministerpräsident Sitarjan am letzten Freitag ebenfalls unterzeichnet. Er eröffnet Perspektiven der Zusammenarbeit, die weit über die Schwelle unseres Jahrhunderts hinausreichen. Wir unterstützen die Perestroika weiterhin nach besten Kräften. Mit unseren bisherigen Leistungen stehen wir an der Spitze der westlichen Industrieländer. Ich erinnere an die im Juni von der Bundesregierung verbürgten Bankkredite und an die in diesem Jahr neu gewährten Exportbürgschaften. Ich erinnere an unsere Leistungen im Rahmen des Überleitungsabkommens, insbesondere für Wohnungsbau in der Sowjetunion und für die Umschulung sowjetischer Soldaten. Ich erinnere an wiederholte Lebensmittellieferungen, die wir im Fall akuter Versorgungskrisen auch in Zukunft fortsetzen werden. Auch dies habe ich Präsident Gorbatschow zugesagt. ({11}) Ich erinnere nicht zuletzt an unsere Bemühungen auf dem EG-Gipfel in Dublin und auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston, internationale Hilfsleistungen in Gang zu bringen. Für deren zügige Umsetzung und Abwicklung wollen wir uns auch in Zukunft nachdrücklich einsetzen. Zusätzlich, meine Damen und Herren, habe ich mit Präsident Gorbatschow vereinbart, daß eine hochrangige Expertengruppe die sowjetische Regierung bei der Umsetzung des Reformprogramms berät. Mit einem von Bundesminister Blüm unterzeichneten Abkommen der beiderseitigen Arbeits- und Sozialressorts wird zugleich der Grund für Beratungen auf dem Gebiet der Arbeitsverwaltung, der Arbeitsvermittlung und der Umschulung gelegt. Wie wir immer wieder hören konnten, wird diese Hilfe von sowjetischer Seite hoch geschätzt; denn im Zuge der Umgestaltung müssen Arbeitskräfte in produktivere Beschäftigungen umgesetzt und selbstverständlich dafür vorbereitet werden. Ich habe Präsident Gorbatschow zugesagt, das bei meinem Moskau-Besuch im Oktober 1988 vereinbarte Austauschprogramm über das Jahr 1991 hinaus fortzusetzen und auszubauen. Hier geht es in erster Linie um Aus- und Fortbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft, damit auch in soweit Entwicklungschancen eröffnet werden. Flankierend dazu geht es um einen breiten Austausch von Wissenschaftlern, Studenten, Schülern und Jugendlichen insgesamt. Meine Damen und Herren, mit alledem beweisen wir: Wir wollen den Erfolg der politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung in der Sowjetunion. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die Reformen in Polen, in der CSFR, in Ungarn und in den anderen Reformländern. Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Wir lassen uns in unserer Politik von der Grunderfahrung leiten, die jeder auch im privaten Lebensbereich nachvollziehen kann: Rasche, uneigennützige Hilfe für den Nachbarn in Not und in Bedrängnis bleibt in langer und guter Erinnerung. Sie begründet dauerhafte Freundschaft ({12}) und ist eine gute Investition in die gemeinsame Zukunft. Meine Damen und Herren, Präsident Gorbatschow und ich sowie die beiden Außenminister haben ausführlich über die Lage am Golf gesprochen. Wir haben mit Sorge festgestellt, daß sich die irakische Führung nach wie vor weigert, den Forderungen der Völkergemeinschaft nachzukommen, vor allem die Geiseln aus allen Nationen unverzüglich freizulassen und sich aus Kuwait vollständig zurückzuziehen. Die internationale Solidarität gegen Aggression und Gewalt, die in nunmehr zehn Resolutionen des UNO-Sicherheitsrates zum Ausdruck kommt, ist ermutigend. Diese Solidarität gilt es unbedingt zu wahren. ({13}) Ich stimme der Aussage Präsident Gorbatschows ausdrücklich zu, der erklärt hat: Wir müssen einig bleiben! Möge niemand darauf setzen, zu versuchen, diese Einheit durch Keiletreiben zu untergraben! Deshalb waren Präsident Gorbatschow und ich uns einig, daß der Sicherheitsrat und insbesondere seine ständigen Mitglieder ihre Anstrengungen fortsetzen und verstärken müssen, um das internationale Recht durchzusetzen und so vor allem einer friedlichen Lösung den Weg zu bereiten. Meine Damen und Herren, meine Gespräche mit Präsident Gorbatschow im kleinen Kreise, in der Delegation und nicht zuletzt in meiner Heimat, in der Pfalz, standen vor allem unter dem Leitmotiv „Vertrauen". Wir haben dieses Vertrauen auf einem langen gemeinsamen Wege aufgebaut, beginnend mit meinem Besuch in Moskau vor zwei Jahren über den Gegenbesuch im Juni vergangenen Jahres und die Begegnungen in Moskau und im Kaukasus, bei denen wir den Weg zur deutschen Einheit gemeinsam frei gemacht haben. Wir haben die Grundlagen für eine weit in die Zukunft gerichtete freundschaftliche Zusammenarbeit gelegt, die unseren Völkern Frieden und Sicherheit garantieren kann. ({14}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, am kommenden Wochenende werde ich Präsident George Bush zu einem Kurzbesuch in Ludwigshafen willkommen heißen. Schwerpunkte unserer Gespräche werden naturgemäß die Lage am Golf und die Bemühungen der Völkergemeinschaft um eine friedliche Lösung sein. Wir werden bei diesen Gesprächen selbstverständlich auch die Frage der Freilassung der Geiseln im Irak zu besprechen haben, wobei wir mit unseren amerikanischen Freunden immer wieder darin einig waren und sind, daß es um die Freilassung aller Geiseln aus allen Nationen geht. ({15}) Bei diesem Treffen - ich denke, daß Gespräche mit vielen anderen auch am Rande der KSZE-Konferenz in Paris am kommenden Montag, Dienstag und Mittwoch geführt werden können - werden wir vor allem auch darüber zu sprechen haben, inwieweit die westlichen Industrieländer die Reformprozesse in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas wirksam und abgestimmt abstützen können. Dies ist bitter notwendig, vor allem angesichts des zu erwartenden schwierigen Winters, der in diesen Reformstaaten überall bevorsteht. ({16}) Meine Damen und Herren, vor allem werde ich aber die Gelegenheit wahrnehmen, Präsident Bush noch einmal für die großartige Unterstützung der Vereinigten Staaten von Amerika und für sein eigenes Engagement zu danken, mit denen sie uns vom ersten Augenblick an, an dem die Berliner Mauer fiel, auf dem Weg zur deutschen Einheit geholfen haben. Wir werden dies unseren amerikanischen Freunden nie vergessen. ({17}) Meine Damen und Herren, Anfang der kommenden Woche werden, wie schon erwähnt, der Bundesaußenminister und ich an der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs der KSZE in Paris teilnehmen. Wir wollen dort die Chance zu vielen Gesprächen nutzen. Gemeinsam mit allen unseren Partnern wollen wir dort einen weiteren Eckstein für die europäische Friedensordnung setzen. Wir werden das erste Abkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa unterzeichnen. Es verringert erstmals ganz wesentlich die konventionellen Potentiale beider Seiten und unterstreicht angesichts des grundlegenden politischen Wandels, den Europa heute erlebt, die Richtigkeit auch unserer Politik. „Frieden schaffen mit weniger Waffen", das hat sich, für jedermann erkennbar, bewährt. ({18}) Die Mitgliedstaaten von NATO und Warschauer Pakt werden in einer gemeinsamen Erklärung feststellen, daß sie einander nicht mehr als Gegner betrachten, daß sie vielmehr eine neue Partnerschaft begründen wollen. Mit neuen vertrauens- und sicherheitsbildenden Maßnahmen setzen wir konsequent den Weg zu mehr Offenheit und Vertrauensbildung auf militärischem Gebiet fort. Nicht zuletzt werden wir die KSZE selbst durch neue Institutionen stärken und durch Fortschritte zu Rechtsstaat und Pluralismus, zu Menschen- und Minderheitenrechten ausbauen. Schließlich wird die Europäische Gemeinschaft mit den USA und Kanada in transatlantischen Erklärungen deren dauerhafte Verankerung in der politischen Verantwortung in und für Europa festschreiben. Meine Damen und Herren, dies alles belegt: Konfrontation und kalter Krieg in Europa liegen endgültig hinter uns. ({19}) Wir Deutschen, die mehr als andere darunter gelitten haben, sind verständlicherweise die ersten, die diesen Wandel begrüßen. Wir können heute dankbar feststellen: Anders als vor 120 Jahren, als nach drei Kriegen mit „Blut und Eisen" das Bismarck-Reich entstand, haben wir 1990 unsere Einheit in Freiheit, in Frieden und in gutem Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn und Partnern erreicht. ({20}) Uns allen, aber vor allem auch der älteren Generation, die die geschichtlichen Katastrophen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts noch selbst erlebt hat und die in diesen Tagen zurückblickt, ist in besonderer Weise bewußt, was es heißt: Niemand zweifelt am Friedenswillen von uns Deutschen; ({21}) und was es heißt - und ich wünsche mir, diese Botschaft erreicht viele in unserem Land - : Unser Land hat keine Gegner, hat keine Feinde mehr! ({22}) Wir verzeichnen dies mit großer Dankbarkeit und leiten daraus die feierliche Verpflichtung ab: Deutsche Politik ist und bleibt Friedenspolitik. ({23})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Ministerpräsident des Saarlandes, Herr Lafontaine. ({0}) Ministerpräsident Lafontaine ({1}): Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Besuch Michail Gorbatschows in Deutschland und der Unterzeichnung der deutsch-sowjetischen Kooperationsverträge ist der lange, gewiß nicht immer geradlinig verlaufende Prozeß der Entspannung zwischen Ost und West ein gutes Stück vorangekommen. Was wir Sozialdemokraten immer angestrebt haben, kann jetzt Wirklichkeit werden: Die Konfrontation der Blöcke kann aufgehoben werden. Freundschaftliche Zusammenarbeit und Partnerschaft Ministerpräsident Lafontaine ({2}) sind an die Stelle von Mißtrauen und Gegnerschaft getreten. ({3}) Dies und nichts anderes wollten wir erreichen, als wir vor mehr als 20 Jahren den Entspannungsprozeß durch eine neue Ostpolitik wiederbelebten. Ich kann Ihnen, Herr Bundeskanzler, die Erinnerung nicht ersparen: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätte es die Entspannungspolitik nicht gegeben, und dann hätte es auch keine deutsche Einheit gegeben. ({4}) Daß es jetzt eine von der CDU/CSU geführte Bundesregierung ist, die die Verträge mit der Sowjetunion aushandelt und unterzeichnet, tut unserer Freude keinen Abbruch. ({5}) Wir können diesen Verträgen deshalb so uneingeschränkt zustimmen, weil wir darin so gut wie alle Forderungen berücksichtigt finden, die wir seit Jahr und Tag erhoben haben: ({6}) Gewaltverzicht und Sicherheitspartnerschaft sind zentrale Vertragselemente. Die strukturelle Angriffsunfähigkeit und die Anerkennung einer atomwaffenfreien Zone im östlichen Deutschland sind jetzt auch zur Grundlage der Regierungspolitik geworden. ({7}) Es gibt aber auch Elemente im Vertrag, bei denen schon heute absehbar ist, daß sie sich schnell überleben werden. Das gilt vor allem für die Passage, in der von einem stabilen Gleichgewicht der Streitkräfte und Rüstungen die Rede ist. Die Kategorie des militärischen Gleichgewichtes ist ein Konzept der Vergangenheit. ({8}) Es stammt eher aus der Zeit der Blockkonfrontation zwischen Ost und West. Für die Regelung der künftigen Sicherungsaufgaben in Europa wird das Aufrechnen der militärischen Kräfte immer bedeutungsloser. ({9}) Dieser Sachverhalt ist inzwischen allen an den Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung Beteiligten klargeworden. Wenn wir die Partnerschaft mit der Sowjetunion, die in den Verträgen festgelegt wurde, ernst nehmen, dann müssen wir heute nach Wegen suchen, die sowjetischen Streitkräfte an der Sicherung Europas zu beteiligen ({10}) und ein europäisches System entwickeln, das die gegeneinander gerichteten Waffen und Armeen und ihre entsprechenden Institutionen aufhebt. Endlich ist die Oder-Neiße-Grenze offiziell anerkannt worden, auch wenn dabei der fade Nachgeschmack bleibt, daß es viel zu lange gedauert hat, bis sich die Bundesregierung zu diesem absolut notwendigen Schritt durchgerungen hat. ({11}) Wir unterstützen den Partnerschaftsvertrag mit der Sowjetunion. Ich begrüße, daß die Bundesregierung endlich die Bereitschaft erklärt hat, Michail Gorbatschow bei seiner schwierigen Politik der demokratischen Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft und der sowjetischen Wirtschaft zu helfen. Wir Sozialdemokraten fordern dies seit langem; denn dem Frieden ist in dieser Welt besser damit gedient, der Sowjetunion zu helfen und die Perestroika zu sichern, als gegen sie hochzurüsten. ({12}) Wir freuen uns, daß sich diese Einsicht allmählich durchsetzt. Die Unterzeichnung der deutsch-sowjetischen Kooperationsverträge ist ein Schlußstrich unter die durch den Ost-West-Konflikt geprägte Nachkriegszeit. Allerdings sind vor einigen Tagen nicht zum erstenmal in der Nachkriegszeit deutsch-sowjetische und deutsch-polnische Verträge unterzeichnet worden: ({13}) Der von der Regierung Brandt 1970 ausgehandelte und unterzeichnete Moskauer Vertrag wie der Warschauer Vertrag waren Meilensteine auf dem Weg der Entspannung zwischen Ost und West. ({14}) Durch diese Verträge ist das Verhältnis zwischen der Sowjetunion und Polen auf der einen Seite und Deutschland auf der anderen Seite entschieden verbessert worden. Sie markieren das Ende des kalten Krieges. Wir hätten es begrüßt, Herr Bundeskanzler, wenn diese Verträge auch heute die Gnade Ihrer Erwähnung gefunden hätten. ({15}) Demnach haben wir Sozialdemokraten allen Grund, uns durch die vor einigen Tagen unterzeichneten Verträge bestätigt zu fühlen. Unsere langfristig angelegte Ost- und Entspannungspolitik war auf die Zukunft gerichtet. Es sind auch die Früchte dieser Politik, die jetzt geerntet werden. ({16}) Der Prozeß der Entspannung war durch die Entwicklung zwischenmenschlicher Beziehungen über die Blockgrenzen hinweg gekennzeichnet. Was die Verbesserung zwischenmenschlicher Beziehungen etwa mit dem Generalsekretär der KPdSU, Michail Ministerpräsident Lafontaine ({17}) Gorbatschow, für den Frieden bewirken kann, haben auch Sie, Herr Bundeskanzler, gerade in den letzten Jahren erlebt. Wir freuen uns über neue Einsichten und Verhaltensweisen. Schließlich herrscht auch im Himmel mehr Freude über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren. ({18}) Was sind die Prinzipien einer Friedenspolitik nach der Auflösung der ideologischen Verkrampfung zwischen Ost und West? Welche außenpolitischen Prämissen müssen wir formulieren, um eine zeitgemäße, eine den neuen Problemen angemessene Politik darzustellen? Sicherlich ist es gut, ab und zu zu feiern. Wir sollten aber nicht die Augen vor den alten und neuen Konflikten verschließen, die früher im Dämmerschatten des Ost-West-Konflikts immer unterbelichtet waren. Zunächst einmal müssen wir erkennen, daß die Demokratisierung der mittel- und osteuropäischen Länder nach innen immer mit einer Öffnung der Grenzen nach außen verbunden sein wird. ({19}) Angesichts der jetzt noch vorhandenen, ja, sich verstärkenden Wohlstandsdifferenzen zwischen den westlichen und den östlichen Industrienationen ist mit einer verstärkten Abwanderung zu rechnen. Die Zahl der Armuts- und Elendsflüchtlinge in der Welt nimmt zu, auch als eine Folge der siegreichen demokratischen Idee. Die Antwort auf diese globalen Probleme kann nicht heißen, daß sich Deutschland oder die Länder der Europäischen Gemeinschaft in einen Wettbewerb über die Erschwerung der Einwanderungsbedingungen begeben. ({20}) Vielmehr geht es darum, die Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit, die eine Gesellschaft im Inneren ordnen sollten, auf unsere Nachbarn und deren Nachbarländer zu übertragen. Eine koordinierte europäische Einwanderungspolitik ist heute das Gebot der Stunde. ({21}) Auf Dauer müssen die Prinzipien innerstaatlicher Gerechtigkeit ihren Niederschlag in den Prinzipien zwischenstaatlicher Gerechtigkeit finden. Friedenspolitik heute bedeutet auch: Wir sollten uns vermehrt auf die Umweltrisiken konzentrieren, die die Völker in einen grenzüberschreitenden Wirkungszusammenhang einbinden. Tschernobyl ist uns allen hoffentlich noch in Erinnerung. Die Verbrennung der tropischen Regenwälder in Brasilien - manchmal aus purer Not - ist ein Problem aller Staaten dieser Erde. Friedenspolitik heute bedeutet immer mehr, daß wir in den westlichen Industrienationen unser ökonomisches System ökologisch so weiterentwickeln, daß es, wie Kurt Biedenkopf es einmal formulierte, planetar verallgemeinerungsfähig wird. ({22}) Der Golfkonflikt, meine Damen und Herren, ist nicht nur Veranlassung, über den Einsatz der Bundeswehr daherzureden, sondern ist Veranlassung, endlich einzusehen, daß eine vernünftige Energiepolitik heute Friedenspolitik ist. ({23}) Das Ende des Ost-West-Konflikts markiert weder das Ende der Friedenspolitik noch das Ende der Außenpolitik. Dies gilt zumindest für diejenigen, die Außenpolitik nicht mit Militärpolitik verwechseln. Für die Konzentration auf die deutsch-deutsche Entwicklung in den Jahren 1989 und 1990 gab es gute Gründe. Aber diese Konzentration darf nicht dazu verführen, den Blick zu verengen und auszublenden, was um uns herum geschieht. ({24}) Obwohl seit dem Ende der 70er Jahre und durch die ganzen 80er Jahre hindurch der Nahe und Mittlere Osten ein Pulverfaß ist, hat die Bundesregierung unzureichende Beiträge für eine Politik in dieser Region formuliert. ({25}) Wir können nicht so tun, als ginge uns dies überhaupt nichts an, trotz der Zurückhaltung, die ein Urteil über den palästinensisch-israelischen Konflikt aus deutscher Sicht weiterhin erfordert. Das Verdrängen der krisenhaften Entwicklungen in den zu Europa unmittelbaren Nachbarländern ist kein Zufall, wird doch immer noch allzuoft Außenpolitik auf Sicherheitspolitik, Sicherheitspolitik auf Militärpolitik und Militärpolitik auf NATO-Mitgliedschaft reduziert. Der Kommunismus ist zusammengebrochen, der Ost-West-Konflikt ist überwunden, der kalte Krieg ist endgültig beendet. Doch dürfen wir jetzt nicht stehenbleiben. Wir müssen den Blick nach vorn richten. Friedenspolitik hat eine neue Dimension bekommen. Wir stehen vor zwei Aufgaben: Erstens. Wir müssen aus der Entspannung in Europa Konsequenzen ziehen. Zweitens. Wir müssen bei der Formulierung der neuen Friedenspolitik über die Grenzen Deutschlands und Europas hinaus denken. Die entscheidende Aufgabe ist heute die Lösung des Nord-Süd- und des Nahostkonflikts. ({26}) Bei der Abrüstung, meine Damen und Herren, müssen wir jetzt wirklich neu denken lernen, müssen wir jetzt wirklich neue Wege gehen. Es paßt nicht zusammen, neue partnerschaftliche Beziehungen zu vereinMinisterpräsident Lafontaine ({27}) baren und gleichzeitig an Aufrüstungsprogrammen für die Bundeswehr festzuhalten. ({28}) Die neue Erkenntnis auch von Teilen der Bundesregierung, daß die Sowjetunion nicht mehr unser Gegner ist, darf keine Worthülse bleiben. Aus ihr müssen praktische Konsequenzen für die Abrüstung gezogen werden. ({29}) Sicherheitspartnerschaft, die von der SPD konzipiert wurde und nun ihre vertragliche Form gefunden hat, verlangt, die Entwicklung des Jäger 90 nun endlich zu stoppen ({30}) und viele andere Programme zur Neuentwicklung von Waffen zu beenden. Wir können die Milliardensummen, die ihre Entwicklung und Produktion verschlingen, besser verwenden, ({31}) darunter auch für die von der Bundesregierung zugesagte Unterstützung der sowjetischen Wirtschaftsreformen. ({32}) Die Bundesregierung hat zugestimmt, daß in den neuen Bundesländern weder Atomwaffen noch deren Trägersysteme stationiert werden dürfen. Nach Abzug der sowjetischen Streitkräfte werden diese Bundesländer zu einer atomwaffenfreien Zone innerhalb Deutschlands. Man erinnert sich ab und zu daran, wie das Konzept der atomwaffenfreien Zone etwa noch vor einem Jahr behandelt wurde. Wir sind froh, daß es jetzt soweit ist. ({33}) Das Verschwinden der militärischen Bedrohung und die neuen Beziehungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion erlauben es nach unserer Überzeugung, Atomwaffen auch aus den alten Ländern abzuziehen. ({34}) Atomwaffen sollten Deutschland ebenfalls nicht länger spalten. Wenn wir schon auf die Herstellung von ABC-Waffen verzichten, dann sollten wir auch auf die Stationierung solcher Waffensysteme verzichten. ({35}) Die Entspannung bietet große Chancen zur drastischen Abrüstung; wir müssen sie ergreifen. Zur Zeit besteht leider der Eindruck, daß die Abrüstungsrhetorik mit einer praktischen Politik des „Weiter so!" einhergeht. So zitiert etwa die „Wirtschaftswoche" am 2. November 1990 den ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Timmermann mit den Worten: Es ist doch eine Katastrophe, wenn unter dem Druck der Rüstungswirtschaft der beamtete Beschaffungsapparat einfach weiterläuft, obwohl die Führung überhaupt keine Konzeption mehr hat. Recht hat der Mann, kann man da nur sagen. ({36}) Im Jahre 1990, dem historischen Jahr der europäischen Entspannung, trägt diese Bundesregierung - und das ist nun tatsächlich ein Anachronismus - die Verantwortung für den höchsten Rüstungsetat in der Geschichte der Bundesrepublik. ({37}) Auch nach den gestrigen Beschlüssen des Kabinetts zu den Eckwerten des Bundeshaushalts 1991 ist zu befürchten, daß Sie nicht willens und nicht in der Lage sind, tiefgreifende Einschnitte im Verteidigungsetat vorzunehmen. ({38}) Die Bundesregierung hat keinerlei konkrete Schritte eingeleitet oder gar präzise Zahlen genannt. Kürzungen im Verteidigungsetat werden, so hören wir mit Erstaunen, „in Erwägung gezogen" ! ({39}) Und in der Pressemitteilung des Bundesfinanzministers heißt es: Unter Ausnutzung aller Einsparmöglichkeiten erscheint es möglich, auch die Eingliederung der NVA in die Bundeswehr ohne Anhebung des im Juli 1990 vom Kabinett für 1991 beschlossenen Plafonds der Verteidigungsausgaben zu vollziehen. Wirklich eine tolle Leistung, die Sie sich da vorgenommen haben! Kürzung des Verteidigungshaushaltes heißt also weiterhin Nichtanhebung. Die Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt. ({40}) Sie rühmt sich, bereits in diesem Jahr im Verteidigungsetat einen „Schwerpunkt" bei den Einsparungen vorgenommen zu haben. Wenn der höchste Rüstungsetat in der Geschichte der Bundesrepublik für die Bundesregierung bereits ein „Sparhaushalt" war, dann schwant den Bürgerinnen und Bürgern für das Jahr 1991 nichts Gutes. ({41}) Ministerpräsident Lafontaine ({42}) Statt drastischer Kürzungen im Haushalt setzt die Bundesregierung die ruinöse Inflationierung der Staatsverschuldung fort. ({43}) Wenn Sie, meine Damen und Herren, die Aufgaben gegenüber Osteuropa wirklich erfüllen wollen, ({44}) dann ist eine solide Haushaltspolitik die Grundlage dafür. ({45}) Der Bundeswirtschaftsminister hat den Regierungen von Amerika und Japan dieser Tage zu geringe Wirtschaftshilfe für die UdSSR vorgeworfen. ({46}) Er erinnerte an die Übereinkünfte des Wirtschaftsgipfels in Houston. Wenn diese durchaus berechtigte Kritik des Bundeswirtschaftsministers nicht zum Bumerang gegen die Bundesregierung werden soll, dann muß die Bundesregierung endlich zu einer seriösen Haushaltspolitik zurückfinden. ({47}) Sie sind dabei, meine Damen und Herren, dieselben Fehler zu machen, die die Reagan-Administration - von Ihnen so oft bewundert - am Beginn der 80er Jahre gemacht hat. ({48}) Als ein Mitglied der gegenwärtigen Administration gefragt wurde, warum Amerika in Osteuropa denn nicht mehr helfen könne, war seine Antwort: Wir könnten allenfalls das Geld in Japan leihen und es dann nach Osteuropa weiterleiten. - Sie werden bald in derselben Situation sein, wenn Sie so weitermachen. ({49}) Wir müssen, meine Damen und Herren - wollen wir in der Friedenspolitik an den Ursachen ansetzen - , den wirtschaftlich schwachen „Südländern" auf die Beine helfen, ({50}) statt sie mit immer größeren Schuldenlasten und immer höheren Zinsen in die Knie zu zwingen. ({51}) Gerade in diesen Tagen erscheint der Nahe Osten als Gebiet voller Kriegsgefahren. Der Bundesregierung ist es nicht gelungen, eine gemeinsame europäische Politik im Nahen und Mittleren Osten zu erreichen. Die Hoffnungen der Völker des Nahen und Mittleren Ostens richten sich seit Jahren auf die Europäische Gemeinschaft, von der ein tatsächlicher Beitrag für die Friedenslösung erwartet wird. Leider wurde und wird die Europäische Gemeinschaft diesem Anspruch nicht gerecht. Statt Kräfte zu bündeln, verfolgen die europäischen Staaten weiterhin eigene nationale Interessen. Willy Brandt wird beim nächsten Punkt der Tagesordnung unserer heutigen Sitzung skizzieren, welche Konturen eine Friedenspolitik im Nahen Osten haben kann. Ich will dem nicht vorgreifen. Nur ein Satz sei jetzt gesagt: Willy Brandts Bemühen galt und gilt den Geiseln und einer politischen Lösung des Konfliktes. ({52}) Ich freue mich, daß ich gerade heute, an einem Tage, an dem auch die Ostpolitik Willy Brandts ihre späte Rechtfertigung erfährt, ihm für seine Bemühungen im Nahen Osten danken darf. ({53}) Die Störmanöver des Bundeskanzlers vor, während und nach der Reise - ({54}) Die Störmanöver des Bundeskanzlers vor, während und nach der Reise waren manchmal peinlich. ({55}) - Meine Damen und Herren, Sie müssen sich das hinter die Ohren schreiben: Die Hilfe für Menschen ist keine Frage parteipolitischer Ausgewogenheit. ({56}) Der Irak-Konflikt sollte endgültig klargemacht haben: Es muß Schluß gemacht werden mit der alten Politik der Waffenexporte. ({57}) Nicht zuletzt deutsche Waffen haben es möglich gemacht, daß ein Regime wie das des Irak seine Nachbarn angreifen kann. Heute sehen wir die unheilvollen Folgen. Die Vorstellung, daß Soldaten unserer Partnerländer oder - nach Ihrem Willen - Wehrpflichtige aus der Bundesrepublik mit Waffen deutscher Herkunft angegriffen werden, zeigt das Ausmaß des Irrweges, den die Bundesregierung beschritten hat. ({58}) Ministerpräsident Lafontaine ({59}) Nach Auskunft der Bundesregierung betrug der Gesamtwert der erteilten Ausfuhrgenehmigungen für Rüstungsgüter im Zeitraum 1982 bis 1989 75,2 Milliarden DM. ({60}) Das waren nur die genehmigten Rüstungsgüter. Ich kann nur dringend an Sie appellieren: Es wird Zeit für eine grundlegende Kurskorrektur, wenn unser Anspruch, Friedenspolitik zu machen, wirklich glaubwürdig sein soll. ({61})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Ministerpräsident, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Wolfgramm? Ministerpräsident Lafontaine ({0}): Ich wollte meine Ausführungen eigentlich im Zusammenhang vortragen. ({1}) Ich glaube, daß man die gleichen Grundsätze bei der Abgabe von Erklärungen anwenden sollte. ({2}) Im übrigen, Herr Bundeskanzler, tragen Sie auf diesem Sektor Mitverantwortung. Es ist geboten, an folgendes zu erinnern. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich bitte Sie, den Redner anzuhören und ruhig zu sein. ({0}) Ministerpräsident Lafontaine ({1}): Bereits im Mai vorigen Jahres hat die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundestag förmlich beantragt, die Bundesregierung möge einen Bericht über die Rüstungsexporte deutscher Firmen in den Irak vorlegen. Sie haben dies abgelehnt, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({2}) Daran muß heute erinnert werden, wenn über die Bewältigung des Irak-Konfliktes gesprochen wird. ({3}) Im Juni 1989 haben wir zum wiederholten Male beantragt, die Rüstungsexporte zu vermindern und die Rüstungsexportkontrolle zu verbessern. ({4}) Wir haben beantragt, Waffenexporte in den Nahen Osten nicht zu genehmigen. ({5}) Sie haben alle diese Anträge abgelehnt, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition. ({6}) Die Rüstungsexportskandale machen die Notwendigkeit einer Verschärfung der Außenwirtschaftskontrollen überdeutlich. ({7}) Zur Erinnerung: Lieferung von Bauplänen für U-Boote und einer Multisensorplattform an Südafrika, Lieferung von Komponenten, Gütern, Materialien und Know-how von Atomtechnik nach Pakistan und Indien, Lieferung von Komponenten, Gütern, Materialien und Know-how für eine Fabrik zur Produktion chemischer Waffen an Lybien, Verdacht der Beteiligung bei der Entwicklung und Produktion von Trägersystemen für ABC-Waffen im Irak, in Rumänien, Ägypten und Argentinien, Verdacht der Lieferung von Hubschraubern und Nachtsichtgeräten an den Irak und beabsichtigte Lieferung von Tornados an Jordanien und Süd-Korea, von U-Booten bzw. von U-Bootplänen an Süd-Korea und Israel. ({8}) Diese Liste ließe sich verlängern. ({9}) Dies ist der Test auf die Glaubwürdigkeit der Friedenspolitik in der Zukunft! ({10}) Erst mit unserer Mehrheit im Bundesrat konnten wir im Herbst dieses Jahres einen Teilsieg erringen ({11}) und Ihnen eine graduelle Verschärfung des Außenwirtschaftsgesetzes über den Vermittlungsausschuß abtrotzen. ({12}) - Abtrotzen, ja. Statt daß sie um neue Wege einer Friedensordnung ringen, fällt Mitgliedern der Bundesregierung nichts Besseres ein, als wieder mit den militärischen Muskeln zu spielen. „Stoltenberg: Bundeswehr auf Auslandseinsätze vorbereiten", so titelte die Tageszeitung „Die Welt". Die Bundeswehr müßte so vorbereitet werden, daß sie künftig u. a. auch für den Einsatz bei - ich zitiere- „regionalen Konflikten in Europa" sowie nach Schaffung der verfassungsrechtlichen Voraussetzungen „im Rahmen internationaler militärischer Missionen der Vereinten Nationen" verwendet werden könnte. ({13}) Diese völlig neuen und politisch heiklen Aufgabenstellungen für die Bundeswehr hat Stoltenberg nach Informationen der „Welt" in einer vertraulichen Unterredung mit Helmut Kohl vor einer Woche einvernehmlich abgesprochen. Ministerpräsident Lafontaine ({14}) Herr Bundeskanzler, wir fragen Sie: Ist dieser Bericht zutreffend? Und haben wir derzeit wirklich nichts Besseres zu tun, als uns kurz nach der Vereinigung wieder Gedanken darüber zu machen, ob deutsche Soldaten in aller Welt eingesetzt werden können? ({15}) Ich freue mich, daß viele Mitbürgerinnen und Mitbürger heute nicht wieder die Welt so sorglos in einen Krieg taumeln lassen wollen, wie es schon oft geschah. Wenn in diesem Hause über Friedenspolitik und die klimatischen, kulturellen und sozialen Prozesse, die den Ergebnissen von heute vorangehen, geredet wird, dann denke ich auch an die Friedensbewegung. Auch ihr gebührt heute Dank dafür, daß es zur Entspannung zwischen Ost und West gekommen ist. ({16}) Seit dem 3. Oktober ist viel davon geredet worden, welche neue Rolle das vereinte Deutschland eigentlich spielen soll. Dabei ist hier und da auch der Begriff „Weltmacht" aufgetaucht. Ich glaube, daß wir alle uns Zurückhaltung auferlegen sollten, ({17}) wenn solche Begriffe in die Debatte geworfen werden. Ich würde mir eher wünschen, daß wir die neu gewonnenen Chancen dazu nutzen, andere, wichtigere Vorreiterrollen zu übernehmen. Eine dieser Rollen kann auf der Grundlage unserer Geschichte das Bemühen um Abrüstung in Mitteleuropa sein. Deutschland kann einen besonderen Beitrag zur Sicherung des Friedens leisten, wenn es seine Möglichkeiten nutzt, die sicherheitspolitische Zusammenarbeit in Europa voranzutreiben. Wenn in Europa Frieden herrschen soll, müssen die Sicherheitssysteme der beteiligten Staaten so ineinander verzahnt werden, daß ein einzelnes Land nicht mehr in der Lage ist, seinen militärischen Apparat gegen die anderen einzusetzen. ({18}) Mit der Integration der Sicherheitssysteme muß ein Wandel in der Funktion der Streitkräfte einhergehen. Was spricht dagegen, sie auch gegen nichtmilitärische Gefahren für unsere Sicherheit einzusetzen? Dabei ist nicht nur an Katastrophenhilfe zu denken, sondern auch an den Einsatz im Umweltschutz oder in der Entwicklungspolitik. Ich bin der festen Überzeugung: Sicherheitspolitik heißt in der Zukunft mehr und mehr, die Lebensgrundlagen dieser Erde zu bewahren. ({19}) Sicherheitspolitik heißt in der Zukunft mehr und mehr, für einen gerechten Ausgleich zwischen den armen Ländern des Südens und den reichen Industrienationen zu sorgen. ({20}) Es würde uns gut anstehen, über einen solchen umfassenden Funktionswandel der Streitkräfte nachzudenken; denn die Geschichte verpflichtet uns, einen besonderen Beitrag zum Frieden zu leisten. So könnte eine Vorreiterrolle der nunmehr souveränen Bundesrepublik aussehen. Deutschland und die Sowjetunion sind durch die geschlossenen Verträge Partner. Es ist unsere Aufgabe, nach der Überwindung des Ost-West-Konflikts nach vorne zu schauen. Deutschland und die Sowjetunion haben nun gemeinsame Aufgaben für eine neue Friedenspolitik. Drastische Abrüstung, Stopp der geplanten Modernisierung der Waffenarsenale, atomwaffenfreies Deutschland, entschiedene Einsparungen im Verteidigungsetat, dafür mehr Hilfe vor allem für die armen Länder in der Welt, aktive Friedenspolitik im Nahen Osten, Kurskorrektur bei den Rüstungsexporten und schließlich neues Denken nun endlich auch in der Sicherheitspolitik, das sind die Stichworte einer zeitgemäßen neuen Friedenspolitik. Dafür werden wir Sozialdemokraten eintreten. ({21})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die deutsche Revolution hat in einem Jahr die Lage Deutschlands und Europas und damit die Lage der Welt grundlegend verändert, grundlegend verbessert. ({0}) Es begann mit Demonstrationen in der DDR, an denen Hunderttausende teilnahmen. Keiner der Demonstranten war vermummt, von keinem ging Gewalt aus. Nicht wenige trugen ihre Kerzen durch die Straßen ihrer Städte und stellten sie den Bewaffneten vor die Stiefel. Die Welt hat es mit Verblüffung, mit Respekt und schließlich mit Bewunderung gesehen. Meine Damen und Herren, ich möchte heute, nachdem diese Revolution diese Erfolge gehabt hat, unseren Landsleuten in der DDR für ihren Mut und ihre Besonnenheit danken. Sie haben einen ganz wesentlichen Beitrag für die deutsche Einheit geleistet. ({1}) Wir in Westdeutschland haben das getan, was nur im freien Teil unseres Vaterlandes geschehen konnte. Wir - jedenfalls die CDU/CSU - haben 40 Jahre hindurch unerschütterlich am Ziel der Einheit und der Freiheit Deutschlands festgehalten. Das kann die SPD von sich nicht in gleicher Weise sagen. ({2}) Wenn wir, die CDU/CSU, dem Rat des jetzigen Kanzlerkandidaten der SPD gefolgt wären und die Geraer Forderungen Honeckers und damit auch eine eigene Staatsbürgerschaft der DDR anerkannt hätten, dann hätten die Botschaften der Bundesrepublik Deutschland in Budapest, in Prag und in Warschau den Flüchtlingen aus der DDR keine Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland ausstellen können. ({3}) Wenn die CDU/CSU-regierten Bundesländer nicht eingesprungen wären, als die SPD-regierten Bundesländer die Finanzierung der Erfassungsstelle in Salzgitter einstellten, dann wäre dieses Dokumentationszentrum geschlossen worden. ({4}) Salzgitter hat den Stasi-Terror nicht verhindert, aber gebremst. Die Unterlagen in Salzgitter bieten jetzt die Möglichkeit, in rechtsstaatlich geordneten Verfahren die Verbrecher zur Verantwortung zu ziehen, die diese großen Verbrechen am deutschen Volk in der DDR begangen haben. ({5}) Ich möchte die Gelegenheit nutzen, die deutsche Justiz aufzufordern, trotz aller Schwierigkeiten, die es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gibt, diese rechtsstaatliche Aufgabe, die Vergangenheit rechtsstaatlich zu klären, mit allen Anstrengungen wahrzunehmen. Meine Damen und Herren, wir haben im freien Teil unseres Vaterlandes eine zweite Voraussetzung geschaffen. Wir haben es durch das System der sozialen Marktwirtschaft, durch Unterstützung von Ludwig Erhard, den Deutschen im westlichen Teil Deutschlands ermöglicht, aus den Trümmern des Krieges schnell an die Spitze der Weltrangliste aufzusteigen und uns durch die ökonomische Kraft unseres Landes politisch handlungsfähig zu machen. ({6}) Schon diese westliche Bundesrepublik Deutschland wurde zum drittgrößten Industrieland der Erde, zum größten Europas und - im Wechsel mit den USA - zum weltweit stärksten Exporteur mit der D-Mark als der Leitwährung in Europa, der neben dem Dollar wichtigsten Reservewährung der Welt, und mit einem Sozialsystem, das nirgendwo dichter gestaltet ist als bei uns. Diese ökonomische und soziale Leistung war eine Voraussetzung dafür, daß die Bundesrepublik Deutschland das Interesse aller Deutschen in Ost und West mit Erfolg wahrnehmen konnte. ({7}) Das dritte: Wir haben das vereinigte Deutschland zum Verbündeten des Westens und zugleich zum bevorzugten Partner des Ostens gemacht. Die Weichenstellung hat schon Konrad Adenauer eingeleitet: nicht Neutralität, sondern Westbindung. Wenn diese Entscheidung nicht getroffen worden wäre, dann hätten wir heute im Westen keine Verbündeten und im Osten nicht die Optionen, die wir haben, sondern der Ring des Mißtrauens hätte sich längst wieder um Deutschland geschlossen. ({8}) Meine Damen und Herren, die Zuwendung zum Westen bedeutet nicht die Abwendung vom Osten. Am 16. Juli hat Helmut Kohl, der deutsche Bundeskanzler, im Kaukasus die Zustimmung des sowjetischen Staatspräsidenten dazu bekommen, daß das vereinigte Deutschland als Ganzes Teil der westlichen Allianz bleibt. Wer sich einmal überlegt, was das für die Sowjetunion bedeutet, der muß die staatsmännische Leistung Michail Gorbatschows bewundern, der sich dazu durchgerungen hat, um damit einen Beitrag für den Frieden in Europa und in der Welt zu leisten. Meine Damen und Herren, wir danken Michail Gorbatschow. ({9}) Aber wir haben nicht nur Anlaß, ihm zu danken, sondern auch besonderen Anlaß, dem deutschen Bundeskanzler, seinem Außenminister und seiner Regierung dafür zu danken, daß sie ein Vertrauensverhältnis, auch ein menschliches Vertrauensverhältnis, zum sowjetischen Staatspräsidenten und zum sowjetischen Außenminister aufgebaut haben, die solche politischen Entscheidungen möglich gemacht haben. ({10}) Verbündeter des Westens, Herr Lafontaine, das werden wir bleiben. Wir sind für die Entmilitarisierung der Ost-West-Beziehungen und leisten dazu ganz erhebliche Beiträge. Aber niemand soll Zweifel daran bekommen, welches die deutsche Position ist. Wir sind unverrückbar ein Teil der westlichen Welt, wir sind kalkulierbar. Wir sind nicht Wanderer zwischen den Welten, sondern - das hat Helmut Kohls Vereinbarung mit Gorbatschow möglich gemacht - ein Teil der westlichen Welt. Das wollen wir bleiben. Ich warne die Sozialdemokratie davor, etwa andere Eindrücke entstehen zu lassen. ({11}) Meine Damen und Herren, das Gespenst von Rapallo, das in einigen westlichen Zeitungen umgeht, kann und muß endgültig außer Dienst gestellt werden. Weil wir Teil des Westens bleiben, unterstützen wir mit großem Nachdruck auch den Ausbau der Europäischen Gemeinschaft. Im Dezember dieses Jahres werden zwei Regierungskonferenzen einberufen, die die Wirtschafts- und Währungsunion und die politische Union dieses Europas, dem wir angehören, verwirklichen helfen sollen. Damit ist ganz klar: Wir bleiben Teil dieser westlichen Welt. ({12}) Die Entscheidung für den Westen bedeutet keine Abwendung vom Osten. Rußland ist seit dem 18. Jahrhundert europäische Großmacht. Seitdem hat sich in Europa nichts geändert, ohne daß dieses Rußland - in welcher Gestalt auch immer - daran beteiligt gewesen wäre. Wir sind das Volk in der Mitte Europas. Wir haben die meisten Nachbarn, tragen die größten Risiken, haben aber auch die größten Chancen. Wir müssen mit allen europäischen Staaten in Frieden leben, gerade und vor allem auch mit Rußland, mit der So18832 wjetunion, und mit unserem unmittelbaren Nachbarn Polen. ({13}) Drei entscheidende Vorgänge haben das neue Verhältnis zwischen dem vereinigten Deutschland und der Sowjetunion klargestellt: zum einen die Zustimmung der Sowjetunion, daß wir Teil der westlichen Allianz bleiben; zweitens die Vereinbarung darüber, daß die 380 000 sowjetischen Soldaten vom Boden der ehemaligen DDR bis 1994 abgezogen werden. Wir unterstützen das mit einer Zahlung von 13 Milliarden DM. Davon sollen 7,5 Milliarden DM verwendet werden, um in der Sowjetunion für die zurückkehrenden Truppen Wohnungen zu bauen. Meine Damen und Herren, das ist viel Geld, aber es ist gleichzeitig auch eine Investition in die künftigen guten Beziehungen zwischen dem vereinigten Deutschland und der Sowjetunion, in welcher Gestalt auch immer dieser Staat existiert. ({14}) Das dritte große Werk ist der große Vertrag, der Partnerschaftsvertrag, der in der vergangenen Woche von Michail Gorbatschow und Helmut Kohl hier in Bonn unterzeichnet worden ist und den wir in der kommenden Legislaturperiode ratifizieren wollen. Für diesen Vertrag gibt es in der westlichen Welt bisher kein Beispiel. Wir sind schon jetzt der größte Handelspartner der Sowjetunion. Die Sowjetunion legt Wert auf Zusammenarbeit mit dem Westen, insbesondere auf Zusammenarbeit mit den Deutschen. Sie hat in der technischen und ökonomischen Zusammenarbeit mit Deutschland immer nur die besten Erfahrungen gemacht. Wenn man sich überlegt, daß sich dieses Land vom Bug bis zum Pazifischen Ozean erstreckt - das größte Land der Erde - und mit Rohstoffen, Energievorkommen, tüchtigen Menschen und mit Naturschätzen, die nur angeritzt und noch gar nicht gehoben worden sind, ausgestattet ist, dann ist diese Zusammenarbeit zwischen dem vereinigten Deutschland und Rußland, heute in der Gestalt der Sowjetunion, doch eine einzigartige Zukunftschance. ({15}) Meine Damen und Herren, Verbündeter des Westens und bevorzugter Partner des Ostens - das bedeutet die Perspektive eines langen Friedens und einer intensiven gesamteuropäischen Zusammenarbeit. Ich meine: Das ist eine Zukunftsperspektive für unser Volk und für unsere Jugend. Da können wir wirklich alle unsere Talente entfalten, nicht nur zum Nutzen unseres eigenen Landes, sondern auch zum Nutzen der Sowjetunion - Rußlands - und ganz Europas. Verbündeter des Westens und bevorzugter Partner des Ostens - wenn es diese Konstellation schon 1910 octer 1930 gegeben hätte, dann hätten die beiden Weltkriege nicht stattgefunden, (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Ja, das ist wohl wahr!) und dann wäre uns wahrscheinlich auch die blutige Spur erspart geblieben, die die rote Diktatur und die braune Diktatur durch Deutschland und Europa gezogen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP -

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Sehr wahr!) Meine Damen und Herren, in diese Zusammenarbeit zwischen Ost und West gehören auch die ostmitteleuropäischen Völker, insbesondere die Ungarn, denen wir Deutsche vieles zu verdanken haben. Wenn die Ungarn - dieses kleine Volk, das von der Sowjetunion schon einmal blutig unterdrückt worden ist - nicht den Mut gehabt hätten, die Flüchtlinge aus der DDR, die mit den Reisepässen der Bundesrepublik Deutschland ausgestattet worden waren, in ein Land ihrer Wahl ausreisen zu lassen, über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland, dann wäre die Mauer in Berlin heute noch zu. Wir danken den Ungarn für das, was sie für uns getan haben, ({0}) und wir wollen auch ihr Anwalt sein, wenn es darum geht, sie in die Europäische Gemeinschaft - zunächst als assoziiertes Mitglied - einzubeziehen. Was für Ungarn gilt, gilt auch für das Volk der Tschechen und Slowaken, mit denen uns eine tausendjährige Geschichte verbindet, soweit es die Tschechen angeht, sogar im Rahmen des Heiligen Römischen Reiches, das ja mit dem Zusatz „Deutscher Nation" nicht richtig bezeichnet war, in dem Prag über einige Jahrzehnte hinweg die Hauptstadt gewesen ist. Wir vergessen auch nicht, was der Staatspräsident Havel moralisch und politisch für das Zusammenleben der Deutschen mit den Tschechen getan hat - durch seinen Mut, seine Klugheit und seine Besonnenheit. Das ist wirklich ein europäischer Präsident, der heute auf der Burg sitzt, und wir haben allen Anlaß, ihn zu unterstützen. ({1}) Das gilt, meine Damen und Herren, auch für die Polen, mit denen wir nach all dem Schrecklichen, was unseren Völkern angetan wurde - meist nicht von dem jeweils anderen Volk, sondern von irgendwelchen Leuten, die gerade die Macht besaßen - , nach all dem, was auf beiden Seiten geschehen ist, nun eine neue Epoche begründen wollen. Dazu gehören in der Tat zwei Verträge, nicht nur der Grenzvertrag, sondern auch der Partnerschaftsvertrag, der gewährleistet, daß diese Grenze einen europäischen Charakter erhält. Es wäre absurd, historischen Grenzen im Westen ihren trennenden Charakter zu nehmen und einer unhistorischen Grenze an Oder und Neiße jetzt den Charakter einer Teilungsgrenze zu geben. ({2}) Europäischer Charakter, das heißt: Freizügigkeit; das heißt: Niederlassungsfreiheit; das heißt: Volksgruppenrechte. Ich weiß: Polen wird das ohnehin einräumen müssen, wenn es Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden wird - was wir unterstützen -; aber es wäre von polnischer Seite ein Zeichen der Versöhnung zwischen Polen und Deutschland, wenn das bereits jetzt in dem Partnerschaftsvertrag zwiDr. Dregger schen Polen und Deutschland vereinbart würde. Wir haben nach den Gesprächen des Bundeskanzlers mit dem polnischen Ministerpräsidenten gute Hoffnung, daß das zustande kommen wird. Ich habe in meiner Rede im Reichstag am 4. Oktober, einen Tag nach der Wiedervereinigung, zur Solidarität mit denen aufgerufen, die durch die Grenze an Oder und Neiße besonders betroffen sind. Das sind sowohl die Heimatvertriebenen wie die Deutschen, die, vor allem in Oberschlesien, Deutsche bleiben wollen. Wir hatten hier in Bonn Gespräche mit den deutschen Freundschaftskreisen, und ich hatte ein gutes Gespräch mit dem polnischen Botschafter. Seitdem nicht mehr die Kommunisten in Polen regieren, hat sich die Situation schon verändert. Ich kann mir vorstellen, daß mit den beiden Verträgen, die selbstverständlich gleichzeitig behandelt und ratifiziert werden - der Bundeskanzler hat das mit Recht betont -, eine neue Epoche eingeleitet wird, die Deutsche und Polen auch einmal zu Freunden machen sollte. Ich meine, wir haben Anlaß, die Heimatvertriebenen zu bitten, an diesem Versöhnungswerk im Geiste ihrer Charta mitzuwirken, die sie gleich nach dem Kriege beschlossen haben, und das polnische Volk sowie die polnische Regierung zu bitten, auch ihrerseits alles dazu zu tun, damit das erreicht wird. Bitte schön, Herr Duve.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Dregger, schließt diese Solidarität mit den Vertriebenenverbänden auch eine Unterstützung oder zumindest Achtung von Plänen ein, die dort und auch von Mitgliedern Ihrer Fraktion geäußert werden, die auf eine Internationalisierung oder Europäisierung Schlesiens hinauslaufen? Herr Dr. Czaja und sein Nachfolger haben sich in dieser Form mehrfach geäußert. ({0})

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich halte diese Pläne, so wünschenswert sie erscheinen mögen, ({0}) nicht für realistisch. Ich bin der Ansicht, daß mit den Verträgen, die jetzt abgeschlossen werden und ratifiziert sind, dieses Thema erledigt ist. Auf der Grundlage dieser Verträge müssen wir Freundschaft schließen. ({1}) Meine Damen und Herren, das vereinigte Deutschland wird größere Verantwortung tragen müssen. Drei Aufgaben scheinen mir die wichtigsten zu sein: beizutragen zum Frieden der Welt. Auch dazu braucht man Streitkräfte. Zur Friedenswahrung gehört auch Solidarität in der UNO. Nach meinen Informationen hat es eine Absprache zwischen SPD und uns gegeben, daß wir dieses Thema nach den Wahlen im Zuge einer Verfassungsänderung behandeln werden, die das zweifelsfrei ermöglicht. Meine Damen und Herren, wir Deutschen können nicht stärkste Wirtschaftsmacht in Europa sein und uns von jeder solidarischen Hilfe zur Wahrung des Friedens ausschließen. ({2}) Das zweite große Ziel besteht darin, die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten. Ich möchte dem jetzigen Umweltminister, Herrn Töpfer, und seinen Vorgängern mein Kompliment für die Leistungen, die sie erbracht haben, aussprechen. ({3}) Wir sind heute Vorreiter des Umweltschutzes im westlichen Europa. Uns wächst beim Zusammenwachsen mit der DDR eine ungeheure Aufgabe zu, da die Umwelt in der DDR tot ist wie in allen sozialistischen Ländern, in denen keine Umweltpolitik gemacht worden ist. Umweltpolitik gehört zu den großen Aufgaben, die uns im eigenen Lande bevorstehen. Wir werden aber auch bei der Rettung der Regenwälder, also über unseren Kontinent hinaus, Verantwortung zu tragen haben. Der Bundeskanzler hat davon mehrfach gesprochen. Das dritte Ziel ist: Wir werden denen zu helfen haben, die unserer Hilfe bedürftig sind. Das sind jetzt unsere Landsleute in der DDR. Das sind die Länder Ostmitteleuropas und Osteuropas, die sich mit deutscher Hilfe von den Folgen des Sozialismus zu erholen versuchen. Das sind aber auch die Länder der Dritten Welt. ({4}) Dazu muß Deutschland handlungsfähig bleiben. Meine Damen und Herren, mein Dank gilt heute im Namen der Fraktion dem Bundeskanzler, dem Außenminister und der ganzen Regierung für das große Friedenswerk, das in diesem Jahr zustande gekommen ist. ({5}) Helmut Kohl hat nicht nur verstanden, zu warten und Rechtspositionen und Handlungsmöglichkeiten offenzuhalten - seine naiven Kritiker haben dies als „Aussitzen" bezeichnet - , sondern er hat auch in der Stunde, in der der geschichtliche Augenblick da war, mit seinem Zehn-Punkte-Plan zugegriffen. Er hat damit die Intiative in Europa übernommen, und er hat sie bis heute nicht aus der Hand gegeben. ({6}) Bundeskanzler a. D. Helmut Schmidt hat in einem Interview mit einer Sonntagszeitung auf die Frage, was er von seinem Nachfolger halte, gesagt: „Er hat fast nichts falsch gemacht." Meine Damen und Herren, ein solches Kompliment hat ein früherer Bundeskanzler noch nie seinem Nachfolger gemacht. Ich finde das toll. ({7}) Als Helmut Schmidt dann gefragt wurde, was er von seinem Parteifreund, der jetzt Kanzler werden will, also von Herrn Lafontaine, halte, hat er gesagt: „Dazu möchte ich mich nicht äußern. " ({8}) Verehrter Herr Lafontaine, es ist ein wirklich vernichtendes Urteil, das Helmut Schmidt über Sie gesprochen hat. Meine Damen und Herren, nach dieser Feststellung Helmut Schmidts darf ich, wenn wir auch im Wahlkampf sind, doch sagen, daß dieser Bundeskanzler und diese Bundesregierung nicht nur den Dank der eigenen Fraktionen und Koalition, sondern den Dank des ganzen Hauses und des deutschen Volkes verdienen. Herzlichen Dank. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Dr. Ullmann.

Dr. Wolfgang Ullmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002354, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Europa ist nicht zuerst ein Erdteil, sondern eine Stätte der Begegnung aller Kontinente. Es genügt, die Namen Rom, Paris, Prag, London und Moskau zu nennen, um in Erinnerung zu rufen, was mit dieser Begegnung der Kontinente und der Kulturen gemeint sein soll. Es genügt aber auch, die Namen Berlin und Wien und in ihrem Gefolge Genf und Helsinki zu nennen, um klarzustellen: Europa ist auch der Ort der frontalsten Konfrontationen, der Ort der Abgrenzung von Welt 1 und Welt 2 - Washington und Moskau - von der Zwei-DrittelWelt der südlichen Hemisphäre. Darum ist Europa auch Ursprungsort und Quelle der radikalsten Infragestellung der Humanität gewesen, jener Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die in den beiden Weltkriegen begangen wurden und uns damit bedrohten, daß die letzten Tage der Menschheit durch ihre Selbstzerstörung anbrechen würden. Deshalb muß Europa heute auch der Areopag des Diskurses darüber sein, ob es uns denn gelingt, die Ära der Weltkriege und der selbstzerstörerischen Konfrontation zu beenden und den Schritt in das dritte Jahrtausend als einen Schritt aus der selbstmörderischen Barbarei und Unreife der Kriege in das Zeitalter der Mündigkeit und der friedlichen Kommunikation zu tun. ({0}) Der Pflicht zur Solidarität, zu der Sie uns, Herr Abgeordneter Dregger, mit Recht ermahnt haben, ist nach meinem Dafürhalten mit ganz anderen Grundgesetzänderungen nachzukommen als mit denen, die Sie vorgeschlagen haben. ({1}) Die soeben abgeschlossenen oder noch abzuschließenden Verträge zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik, zwischen Polen und der Bundesrepublik müssen im Lichte dieser Aufgabe gesehen und gewürdigt werden. Insofern meine ich, daß die Verleihung des Friedensnobelpreises an Präsident Gorbatschow ein Zeichen der Hoffnung ist, daß dieser Schritt gelingen kann. ({2}) Seit Wilsons 14 Punkten und seit Lenins Dekret über den Frieden, seit Jalta, Dumbarton Oaks und der Gründung der Vereinten Nationen werden in immer neuen Anläufen Kräfte gesammelt, um diesen entscheidenden Schritt zu vollziehen. Man könnte meinen, es seien die Kräfte der Religion, nach denen hier gefragt wird. Ich glaube, diese Annahme wäre irrig. Es war eine kirchliche Synode, die 794 in Frankfurt erstmalig davon ausging, daß Europa identisch sei mit Westeuropa und daß das römische Imperium mit seiner Hauptstadt Neu-Rom weiter nichts sei als ein ketzerisches Griechenland. Es war gerade der Gedanke christlicher Prinzipien, mit denen die Heilige Allianz 1815 dem Menschenrechtsprogramm der Französichen Revolution entgegentrat. Es geht, so meine ich, jetzt bei diesem Schritt in ein neues Jahrtausend friedlicher Beziehungen einer erwachsenen Menschheit, die über das Freund-FeindDenken hinausgewachsen ist, um Glauben schlechthin, Glauben an die Einheit der Menschheit und die Gewißheit einer gemeinsamen Zukunft in einer globalen Humanität. Ich denke, das muß in diesem Haus in einem Moment betont werden, da das Ende der Konfrontation zwischen West- und Osteuropa einhergeht mit der Eskalation der Kriegsgefahr zwischen nördlicher und südlicher Hemisphäre und junge Leute in diesem Lande bedroht sind, in einen unlösbaren Konflikt mit ihrem Gewissen und dem Grundgesetz dieses Landes zu geraten, da vom Verteidigungsminister öffentlich darüber philosophiert wird, wie solches Handeln grundgesetzlich begründet werden könne. Diese Situation ist eine Herausforderung an unser Verständnis von Politik, Humanität und Recht. Ich will das an zwei Punkten konkretisieren, zunächst an dem Grenzvertrag zwischen der Republik Polen und der Bundesrepublik Deutschland und dann am Verhältnis zu den in den neuen Bundesländern stationierten sowjetischen Truppen. Am Anfang dessen, was ich zu dem neuen Grenzvertrag zu sagen habe, muß ein Dank stehen, ein Dank an alle Politiker in den Parlamenten und den Regierungen beider Länder, die am Zustandekommen dieses Vertrages mitgewirkt haben. Ich beziehe ausdrücklich Willy Brandt ein, der einen wichtigen, ich denke, den wichtigsten Schritt in dieser Richtung einmal getan hat. ({3}) Ich beziehe ebenso den Herrn Bundeskanzler ein und spreche meine Dankbarkeit für das aus, was er über die künftigen politischen Perspektiven in der heutigen Regierungserklärung gesagt hat, und bitte um Verständnis, daß ein Historiker wie ich eine gewisse Fußnote zu Seite 7 seiner Erklärung nicht unterdrükken kann: Tadeusz Mazowiecki und ich haben uns vor einem Jahr in Kreisau zu dieser gemeinsamen AufDr. Ullmann gabe verpflichtet. Und wir haben in Frankfurt/ Oder bekräftigt: Wir halten Kurs! Als Historiker würde ich nun anmerken: Für die Regierung der Bundesrepublik wäre es korrekter zu sagen: Wir haben Gott sei Dank in Kreisau und nicht auf dem Annaberg den Kurs gefunden, ({4}) und wir gedenken ihn zu halten. ({5}) Ich muß ferner zu diesem Vertrag sagen: Die Grenzstabilität ist ein Eckstein der neuen Friedensordnung. Hier hat der Zweite Weltkrieg begonnen, und darum ist dieser Vertrag an dieser Stelle so wichtig. Wenn es im Lande noch immer Stimmen gibt, die gegen diese Grenze zu opponieren versuchen, dann muß ihnen gesagt werden: Ihre Stimmen sind eine Kriegserklärung an die entstehende Friedensordnung des sich einigenden Europas. ({6}) Ich spreche nun in persönlicher Betroffenheit, und ich sehe eine besondere Belastung und Zumutung darin, daß diese Stimmen immer wieder im Namen der Vertriebenen erhoben werden. ({7}) Wer das Schicksal der Vertriebenen aus eigener Erfahrung - wie meine Familie - kennt, der weigert sich, mit Gedanken zu spielen, die diejenigen, die nach den Katastrophen der Weltkriege eine neue Heimat gefunden haben, mit neuer Verunsicherung bedrohen. ({8}) Er mag seine Politik der ultrakonservativen Rückständigkeit betreiben, sofern er dabei auf der Basis der Demokratie bleibt. Er soll aber aufhören, das Prinzip der Repräsentation zu mißbrauchen, indem er sich anmaßt, im Namen der Vertriebenen schlechthin zu sprechen. ({9}) Ich beziehe mich zweitens auf die Anrede von Präsident Gorbatschow an meine Landsleute in den neuen Ländern der Bundesrepublik, an diejenigen, die mit den dort stationierten sowjetischen Truppen zusammenleben. Ich denke, wir müssen auf diese ernste Anrede des Präsidenten antworten, in der er uns fragt, ob nicht das Verhältnis zu diesen Truppen der Prüfstein für freundschaftliche Beziehungen ist. Ich glaube, liebe Landsleute, wenn ihr das hört, fällt euch zuerst der Fluglärm der Tiefflieger ein, und es fallen euch die Flurschäden auf den Truppenübungsplätzen ein. Vielleicht fällt euch auch noch etwas viel Ernsteres ein, z. B. jener kleine Dorffriedhof in Oberbärenburg, wo viele Frauen beerdigt sind, die sich aus Furcht vor Vergewaltigung das Leben genommen haben. Wir sind soweit, daß wir meinen, es muß über alles gesprochen werden können. Ich glaube, es muß möglich sein, aber es wird nur möglich sein, wenn wir in dem Geiste sprechen, wie es Präsident Gorbatschow von uns verlangt hat, wenn wir im Geist der grenzenlosen Menschenliebe und einer unendlichen Demut vor allen Opfern der Inhumanitäten des Jahrhunderts sprechen. ({10}) Das ist neues Denken, und das ist neues Handeln. Ich gebe dem Herren Bundeskanzler recht, der in seiner Tischrede beim Empfang für Präsident Gorbatschow und seine Frau gesagt hat: Bilaterale Beziehungen reichen nicht aus, um dieses neue Denken zu verwirklichen. So glaube ich auch, daß Art. 13 und 14 des Vertrages über Zusammenarbeit sowie die vorhandenen Institutionen nicht ausreichen werden. Das Zeitalter der Konfrontation ist vorbei, und es beginnt die Zeit einer Kooperation, ganz neuer Formen, neuer Inhalte und Dimensionen. Ich danke Ihnen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Schumann.

Prof. Dr. Michael Schumann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002115, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bitte zunächst um Verständnis dafür, daß ich auf die meisten meiner Vorredner nicht eingehen kann, weil wir heute Flugverspätung hatten. Mit der Paraphierung des deutsch-polnischen Grenzvertrages kommt das vereinte Deutschland der entsprechenden Verpflichtung aus dem Zwei-plusVier-Vertrag nach und erfüllt sich der Wille, den im Sommer dieses Jahres beide deutsche Parlamente in inhaltsgleichen Entschließungen zum Ausdruck brachten. Die endgültige völkerrechtliche Bestätigung der im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen deutsch-polnischen Grenze ist von uns immer als ein entscheidendes Fundament nicht allein der deutsch-polnischen Beziehungen, sondern der europäischen Friedensordnung insgesamt betrachtet worden. Wir sehen daher in der Paraphierung dieses Vertrages einen historischen Sieg der politischen Vernunft, und wir sehen - das möchte ich besonders betonen - in ihm die logische politische Voraussetzung für einen umfassenden Nachbarschaftsvertrag, der ein neues Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungen einleiten kann. Wir Deutschen stehen dabei in der Verantwortung, diese Beziehungen als Modell gesamteuropäischer Integration und nicht lediglich im Sinne eines neuen Bilateralismus zu gestalten. Dies gilt selbstverständlich auch im Hinblick auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen. Wir unterstützen eine aufrichtige konsequente Politik im Sinne der im Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit enthaltenen beispielhaften Verpflichtungen zum Nichtangriff, zum Verzicht auf den Ersteinsatz von Streitkräften gegeneinander und gegen Dritte, zum Verzicht auf Gewalt. Dies könnte Befürchtungen und Dr. Schumann ({0}) Ängste vieler Europäer, die durch die weitgehende Abkoppelung der deutschen Vereinigung vom europäischen Prozeß fortbestehen, zurückdrängen. Besondere Bedeutung hat dabei die Verpflichtung zu weiterer drastischer Abrüstung bis hin zur Nichtangriffsfähigkeit. Es ist ein unbestrittener Vorzug der Verträge, daß sie deutliche Verpflichtungen der Partner enthalten, einen gemeinsamen Beitrag zur Ausgestaltung des KSZE-Prozesses entsprechend den heutigen Gegebenheiten und Erfordernissen zu leisten. Wir werden uns dafür einsetzen, daß die Realisierung der Verträge das solidarische Zusammenwirken der Staaten und Völker Europas voranbringt. In diesem Sinne begrüßen wir ausdrücklich noch einmal die Absicht, analoge Verträge mit Polen und auch der Tschechoslowakei abzuschließen. Der Vertrag über die Entwicklung einer umfassenden Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Wirtschaft, Industrie, Wissenschaft und Technik enthält umfassende Vorhaben, deren Realisierung einerseits von großem Nutzen für die Deutschen und insbesondere die Menschen in den neuen Bundesländern wäre und andererseits dazu beitragen könnte, die Reformprozesse in der Sowjetunion in einer überaus kritischen Phase zu unterstützen. Wir stimmen der bei der Unterzeichnung des Abkommens vom Bundeskanzler abgegebenen Erklärung zu, daß der grundlegende Vertrag den Weg für eine breite Zusammenarbeit zwischen unseren Staaten im Interesse der Völker und des europäischen Friedens eröffnet. Diese begrüßenswerte Erklärung des Kanzlers stimmt jedoch absolut nicht mit der hier herrschenden Militärdoktrin überein, die die UdSSR auch künftig als größte potentielle Bedrohung der westlichen Sicherheit betrachtet. Wenn der Vertrag seine im Titel enthaltenen Ziele - gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit - erreichen soll, dann muß er als wesentlicher Schritt zu einem friedlichen Europa gesamtkontinentaler Zusammenarbeit, frei vom Denken in Militärblöcken, betrachtet und erfüllt werden. Vorstellungen, hochmobile deutsche Streitkräfte u.a. auch zur Lösung europäischer Konflikte einzusetzen, wie sie in dieser Woche vom Bundesverteidigungsministerium geäußert worden sind, sind nach unserer Meinung mit Geist und Buchstaben dieser Verträge völlig unvereinbar. Ich möchte auch sagen, daß Grundgesetzänderungen, mit denen man hier Ellenbogenfreiheit schaffen will, vor den Wahlen deutlich angekündigt werden sollten. Wenn Abrüstung und nicht Umrüstung gemeint ist, dann darf die Reduzierung von Streitkräften nicht durch die Fortsetzung Milliarden verschlingender Rüstungsprojekte relativiert werden, wie sie im Etat des Verteidigungsministers vorgesehen sind. Der Abzug der sowjetischen Streitkräfte aus den ostdeutschen Bundesländern darf nicht durch das Vorrücken von NATO-integrierten Streitkräften an die Oder abgelöst werden. Das Vertragswerk hat wichtige innenpolitische Implikationen. Es erfordert nicht nur die Übernahme ursprünglicher DDR-Vertragsverpflichtungen durch westdeutsche Unternehmen, sondern auch eine wirtschaftspolitische Kurskorrektur, die die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der UdSSR vor allem als Chance für die ökonomische Entwicklung und die Arbeitsplatzsicherung in den ostdeutschen Bundesländern begreift. Schließlich: Die auf Ausgleich und Versöhnung gerichtete Politik gegenüber der UdSSR ist und bleibt nur glaubhaft, wenn sich die Politik auch im Innern von den Stereotypen des Kalten Krieges löst und Toleranz und demokratische Kultur die politische Auseinandersetzung in Deutschland selbst prägen. Meine Damen und Herren, die mit der Sowjetunion und Polen geschlossenen Verträge werte ich als sichtbare Zeichen des Endes einer historischen Epoche, der Epoche des Ost-West-Konflikts; sie markieren zugleich neue Herausforderungen. Die Überwindung des Ost-West-Konfliktes und die Herausbildung einer neuen europäischen Friedensordnung sind kein isolierter Prozeß, sondern mit der Fundamentalkrise der Dritten Welt und der ökologischen Krise verklammert. Der Sinn der Verträge erfüllt sich letztlich erst im Kontext einer Politik, die sie als Schritte auf dem Weg zu einer neuen Gemeinschaft der Nationen und Völker versteht, die in Solidarität für die Sicherung der grundlegenden Existenzbedingungen des Lebens schlechthin einsteht. Die politische Einteilung in eine westliche und in eine östliche Welt beginnt angesichts gemeinsamer Existenzprobleme ihren Sinn zusehends zu verlieren. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Bundesminister des Auswärtigen, Herr Genscher.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zu den positiven Erfahrungen der heutigen Bundestagssitzung gehört die Zustimmung aller Fraktionen zu dem umfassenden Vertrag mit der Sowjetunion, den der Bundeskanzler mit Präsident Gorbatschow unterzeichnet hat, und auch zu dem Vertrag, den ich gestern in Warschau mit dem polnischen Außenminister Skubiszewski unterzeichnet habe. Das hat nicht nur innenpolitische Bedeutung; das macht deutlich, daß die mit diesen Verträgen angestrebte und besiegelte Politik in Deutschland und in unserem Parlament über die breitest denkbare Mehrheit verfügt. Das bedeutet Sicherheit für die Partner dieser historischen Vertragswerke. Die heutige Debatte hat aber auch Aufschluß darüber gegeben, daß es über die künftigen Ziele deutscher Politik grundlegende Meinungsverschiedenheiten nicht geben kann. Herr Ministerpräsident Lafontaine ist zwar hart mit der Bundesregierung ins Gericht gegangen, aber er muß sich sagen lassen, daß die Politik, die er so hart kritisiert, zu deutscher Einheit mit europäischer Zustimmung geführt hat. ({0}) Ich denke, daß die Ziele, die er für die künftige deutsche Politik dargelegt hat, nicht sehr weit entfernt sind von dem, was in der Regierungserklärung zum Ausdruck kam und was die Ziele der Bundesregierung sind. Ich habe - das möchte ich auch in Abwesenheit des Kollegen Ullmann sagen - mit großer Aufmerksamkeit seinen sehr differenzierten Ausführungen zum Standort unseres Landes, zu unseren künftigen Aufgaben zugehört. Ich wünschte mir, daß Beiträge dieser Art auch von der Opposition in Zukunft zu einer Bereicherung der Debatte führen und sicher auch zu einer Ermutigung der Bundesregierung, auf einen solchen Dialog einzugehen. Meine Damen und Herren, vielleicht kann das auch zu einer neuen Kultur in unserer politischen Debatte hier im Deutschen Bundestag führen. ({1}) Die deutsche Politik nach der Vereinigung soll nach Auffassung der Bundesregierung eine Politik des guten Beispiels sein. Die heute behandelten Verträge sind Ausdruck dieser Politik des guten Beispiels.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reuschenbach?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Gerne, ja.

Peter W. Reuschenbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001827, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Bundesminister, würden Sie mir zustimmen, wenn ich sage, daß Ihr Appell zu differenzierten Darlegungen und Ausführungen nicht nur an eine Seite des Hauses zu richten wäre?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ich betrachte alles, was ich an die Adresse anderer sage, immer auch im Sinne einer Selbstverpflichtung und gebe mir derzeit, wie Sie sehen, Mühe. ({0}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich wissen wir, daß die Menschen in Europa, die uns auf dem Wege zu unserer Einheit begleitet haben, sich auch die Frage stellen: Was werden fast 80 Millionen Deutsche mit der wiedergewonnenen Einheit in Freiheit anfangen? Hier ist unsere Antwort ganz eindeutig und klar: Wir Deutschen wollen nichts anderes, als in Freiheit, in Demokratie, in Einheit und in guter Nachbarschaft mit allen Völkern Europas leben. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten, daß sich dieses Europa in Stabilität entwickeln kann. Wir können vielleicht einen bedeutsamen Beitrag dazu leisten, wenn wir den Begriff „europäische Stabilität" neu verständlich machen, dabei helfen, daß er neu definiert werden kann. Nicht länger kann Stabilität in Europa zuallererst in militärischen Kategorien gesehen werden. ({1}) Stabilität in Europa bedeutet: wirtschaftliche Stabilität in allen Teilen Europas. - Das ist eine europäische Solidaritätsverantwortung, der wir uns stellen und von der wir hoffen, daß alle unsere Freunde im Westen diese Verantwortung mit der gleichen Klarheit erkennen, wie wir das tun. ({2}) Stabilität in Europa bedeutet: soziale Stabilität überall in Europa. Und Stabilität in Europa bedeutet: ökologische Stabilität in ganz Europa. Die Mauern aus Stein sind gefallen; der Stacheldrahtzaun ist beseitigt. Es darf nicht ein neuer wirtschaftlicher Graben Europa trennen. Deshalb ist die Investition in die Reformpolitik unserer östlichen Nachbarn eine Frage gesamteuropäischen Interesses. Hier geht es um die gemeinsame europäische Zukunft. Die Stabilität gründet sich nicht nur auf die zwischenstaatlichen Beziehungen; sie gründet sich auch auf die innere Stabilität in den europäischen Staaten. Das gilt auch für die innere Stabilität in der Sowjetunion. Das zu erkennen verlangt ein hohes Maß an Verantwortung und Einsicht der anderen europäischen Staaten. Wirtschaftliche Hilfe für die Sowjetunion, Zusammenarbeit mit der Sowjetunion ist ein unverzichtbarer Beitrag zur Stabilität dieses großen Landes. Wer die dramatischen Ausführungen des sowjetischen Präsidenten vor Angehörigen der Roten Armee gehört hat, wird verstehen, worum es jetzt in diesem für uns und Europa so wichtigen Land geht. Zu dem Prozeß der Erneuerung und Umgestaltung in diesem Land gehören auch das zukünftige Verhältnis des sowjetischen Gesamtstaates zu den einzelnen Republiken und auch die künftige Stellung der Nationalitäten in der Sowjetunion. Es muß das Interesse der Staatengemeinschaft sein, daß sich die dramatischen Prozesse, die damit verbunden sind, in einem stabilen Rahmen vollziehen, damit die innere Stabilität der Sowjetunion gewahrt werden kann. Darauf sollte jeder Rücksicht nehmen, der die Ereignisse dort kommentiert. Sowjetische Stabilität, jugoslawische Stabilität, ungarische Stabilität, tschechoslowakische, polnische, rumänische Stabilität - alles das sind Grundelemente europäischer Stabilität. Sie verlangen ein hohes Maß an Verantwortung auf unserer Seite. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, daraus ergibt sich die Notwendigkeit, unsere Politik auf das abzuklopfen, was bleiben, und auf das, was verändert werden muß. Ich denke, daß es richtig ist, wenn wir den Weg der europäischen Integration in der Europäischen Gemeinschaft weitergehen. Es ist ein Weg, der in diesem Teil Europas eine in Europa vorher nie gekannte Stabilität geschaffen hat: politisch, wirtschaftlich und sozial. Diese Gemeinschaft ist der Stabilitätsanker in Europa geworden. Sie wird es bleiben, wenn sie für die östlichen Nachbarn offenbleibt. Sie hat auch eine neue Kultur des Zusammenlebens in Europa geschaffen. Das ist jetzt besonders wichtig, da nach Jahrzehnten der Repression und der ideologischen Überdeckung in Mittel- und Osteuropa auch nationalistische Tendenzen aufkommen, die um Him18838 mels Willen nicht in einer Renationalisierung Mittel-, Ost- und Südosteuropas münden dürfen. ({4}) Dies zu verhindern muß das gemeinsame Anliegen der Staatengemeinschaft sein. Der KSZE-Prozeß ist dafür der stabile Rahmen. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir neben der Integration in der Europäischen Gemeinschaft den KSZE-Prozeß mit allen Kräften stärken und neue Institutionen schaffen. Je stabiler dieser Rahmen ist, um so besser ist das für die schwerwiegenden sozialen, wirtschaftlichen, auch nationalen Entwicklungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Gerne.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt, daß es nicht zu einer Phase der Renationalisierung in Osteuropa kommen dürfe. Meinen Sie eigentlich, daß wir in dieser Frage ganz gute Ratgeber sind, wenn man daran denkt, in welchem Verhältnis die nationale Frage zur Frage der europäischen Einigung gestanden hat und welche Rolle der Vorgang dieser europäischen Einigung im letzten Jahr bei uns in der Regierung gespielt hat?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Frau Kollegin Vollmer, wenn wir den Weg zur deutschen Einheit nachzeichnen, werden wir, glaube ich, feststellen, daß es kein nationaler, sondern ein durch und durch europäischer Weg zur deutschen Einheit gewesen ist. ({0}) Wenn ich bedenke, was der gestern unterzeichnete Vertrag auch für die Lösung anderer Probleme in Europa an gutem Beispiel gibt, wenn ich bedenke, daß mit der deutschen Vereinigung ein tiefgreifender Schritt zur Reduzierung unserer Streitkräfte vor Vereinbarungen im gesamteuropäischen Rahmen verbunden ist, dann wird eines deutlich: Die deutsche Einheit hat für Europa nicht ein neues Problem geschaffen, sondern sie hat ein altes, schwerwiegendes europäisches Problem zum Wohle aller Völker in Europa gelöst. ({1}) Ich möchte, daß wir hier übereinstimmen können, daß der Einigungsprozeß in der EG und der gesamteuropäische Einigungsprozeß im KSZE-Rahmen nicht Gegensätze sind, sondern daß sie untrennbar zusammengehören, daß wir als Europäische Gemeinschaft unsere Verantwortung für das ganze Europa erfüllen. Das Tragen von Verantwortung wird die deutsche Politik auch in Zukunft auszeichnen. Daß die deutsche Einheit nicht mehr Macht bedeutet, das wissen wir. Daß wir nicht mehr Macht ableiten sollten, ist das Gesetz unserer Politik, wie es in unserer Verfassung, in ihren Werten und ihrer Präambel, vorgegeben ist. Aber daß wir größere Verantwortung tragen, das wissen wir auch. Das heißt, es muß heute darum gehen, daß wir als Staat und als Mitgliedstaat in der Europäischen Gemeinschaft und im KSZE-Prozeß Anwälte einer gesamteuropäischen Sicht und Politik werden. Dazu gehört auch, daß wir zur Umgestaltung unseres Bündnisses beitragen, das mehr und mehr Teil und Element gesamteuropäischer Sicherheitsstrukturen wird. Es wird ein neues Verhältnis zwischen den Soldaten der verschiedenen Staaten entstehen. Hier ist mit Recht auf die Probleme der Soldaten der Roten Armee in den östlichen Bundesländern hingewiesen worden. Dort stehen heute Soldaten der Bundeswehr in unmittelbarer Nachbarschaft zu Soldaten der Roten Armee. Wenn es eines Beispieles für gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen noch bedürfte, wäre dies das sinnfälligste: In derselben Stadt stehen Streitkräfte zweier Bündnisse. Ich bin nicht sicher, ob allen eigentlich klar ist, was das an grundlegender Veränderung bedeutet. Da ist kein Platz mehr für Feindbilder, für Gegnerhaltungen, sondern hier wird deutlich: Der eine empfindet den anderen nicht mehr als Bedrohung, sondern als Partner für eine gemeinsame Sicherheit. Ich kann all denen zustimmen, die sagen, daß wir ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen und Zuwendung, auch menschlicher Zuwendung, für die Soldaten der Roten Armee brauchen, die ja nicht nur den Auftrag für ihre Anwesenheit verloren haben, sondern die sich zur gleichen Zeit in einer für sie fremden politischen, gesellschaftspolitischen, sozialen und wirtschaftlichen Umgebung zurechtfinden müssen. Herr Kollege Lafontaine hat die Ausgaben im Verteidigungsetat kritisiert. ({2}) Es ist keine leichte Sache, zwei Armeen zusammenzuführen und das Reduktionsziel zu erreichen, ohne schwerwiegende soziale Probleme für die beteiligten Soldaten heraufzubeschwören. ({3}) Deshalb ist es wichtig, daß wir innerhalb des Verteidigungsetats den Vorrang des Menschen in der Bundeswehr stärker zur Geltung bringen. ({4}) - Herr Kollege Ehmke, da ich weiß, was Sie fragen werden, ({5}) sage ich: Auch kein Waffensystem kann außerhalb der Diskussion stehen. Das werden wir mit Abgewogenheit und in Ruhe tun.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Ehmke?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Aber sicher; aber sicher.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da wir uns darin einig sind, wundere ich mich, Herr Kollege Genscher, und frage Sie, ob Sie mir erklären können, warum die FDP zwar immer die Einstellung des Jägers 90 fordert, aber dann, wenn hier abgestimmt wird, doch nicht den Mut zum Springen hat. ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Kollege Ehmke, wir wollen nicht springen, sondern wir wollen zur richtigen Zeit die richtigen Entscheidungen treffen. ({0}) Sie wissen ja, daß wir das immer mit hoher Kunst getan haben. Manchmal haben Sie sich darüber gefreut; manchmal waren Sie damit nicht einverstanden. Aber Sie können davon ausgehen: Wenn es um die Haltung der FDP zur Bundeswehr geht, sehen wir die Soldaten. Denn ihrem Dienst verdanken wir, daß wir bis heute in Freiheit gelebt haben. Sie werden auch morgen ihre Funktion in gesamteuropäischen Sicherheitsstrukturen haben. ({1}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck verleihen, daß die heutige Debatte Ausgangspunkt des Bemühens um eine gemeinsame Definition der Politik des vereinigten Deutschlands wird. Die Zustimmung zu den beiden heute hier besprochenen Verträgen ist ein ermutigendes Signal. Ich danke Ihnen. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Uns liegen zwei Anträge der SPD und der GRÜNEN/Bündnis 90 auf den Drucksachen 11/8443 und 11/8444 vor. Es wird Überweisung an die zuständigen Ausschüsse beantragt. Wer stimmt dem zu? - Gegenprobe! ({0}) - Moment! Entschuldigung! Ich bin leider gestört worden. Was für Wünsche haben Sie? ({1}) - Sie haben sich zur Abstimmung nicht gemeldet. ({2}) - Das kommt doch später, Verehrtester! ({3}) - Aha. Einen Augenblick! Mir wurde soeben dieser Antrag hier auf den Tisch gelegt. Der eine ist zu Polen, der andere ist zu Gorbatschow. ({4}) - Das ist zur Golfregion. Dann haben wir hier nur den einen Antrag von der SPD auf Drucksache 11/8443. ({5}) - Aber, meine Damen und Herren! Über Polen und den Golf ist doch getrennt abzustimmen! ({6}) - Entschuldigen Sie, das ist mir falsch mitgeteilt worden; es ist so spät gekommen. Wir haben die Drucksachen 11/8443 und 11/8444. Hier ist die Überweisung beantragt. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen. Nach § 30 der Geschäftsordnung hat jetzt der Abgeordnete Dr. Czaja das Wort.

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte Äußerungen in der Aussprache, die sich auf meine Person bezogen haben, gemäß § 30 der Geschäftsordnung richtigstellen. Ich verweise vorweg auf den Wortlaut meiner Erklärungen im Bundestag vom 8. November 1989, 8. März 1990, 21. Juni 1990, 9. August 1990, 20. September 1990 und 5. Oktober 1990 und füge zur Richtigstellung über meinen Standpunkt hinzu: In immer kürzeren Abständen wird die Endgültigkeit der deutsch-polnischen Grenze behauptet. Dann genügt bald das Behauptete nicht: Die Angst ist nicht gebannt. Neues wird versucht. Auch jetzt lese ich nichts von einer rechtlich konstitutiven Gebietsabtretung, die ich als völlige Preisgabe ablehne, zu der jetzt und übrigens auch in dieser Form die Legitimation fehlt. Es wird in sich Widersprüchliches, teilweise auch Nichtiges im gleichen Vertragsartikel, Art. 1, wie es wörtlich heißt: „bestätigt". Unverständlich ist, welche Bindungswirkung der völlig widersprüchliche Inhalt von Art. 1 ergeben soll. Da wird das vom Untergang Deutschlands ausgehende, über Niemandsland verfügende Görlitzer Abkommen von 1950 bestätigt, das die rechtmäßige Regierung Adenauers, Paul Löbes Erklärung für den Bundestag folgend, zu Recht als null und nichtig feststellte und die Hohen Kommissare als Verstoß gegen die Vier-Mächte-Verantwortung bezeichneten. Da wird gleichzeitig der Warschauer Gewaltverzichtsvertrag bestätigt, der eindeutig im vollen Gegensatz zum Görlitzer Abkommen vom Fortbestand Deutschlands ausgeht, der die Lage beschreibt, aber nicht anerkannte - so Außenminister Scheel am 9. Februar 1972 im Bundesrat. Da ist ferner das Potsdamer Protokoll, von dem die Denkschrift der Regierung Brandt/Scheel an den Bundestag zum Warschauer Abkommen sagt: Eine endgültige Festlegung der deutsch-polnischen Grenze blieb - es ist gemeint: in Potsdam ausdrücklich einer friedensvertraglichen Regelung vorbehalten. Über die Minderung der territorialen Souveränität des nach dem Gebietsstand des Versailler Vertrages fortbestehenden Deutschland kann nur die freie Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes, also der Summe aller deutschen Staatsangehörigen, die noch nicht ihr Parlament gewählt haben, unter Beachtung des Völkerrechts, der Menschenrechte und der nicht wandelbaren Normen mitentscheiden. Auch das ist noch nicht erfolgt. Wichtiger als das Gebietssyndrom, meine Damen und Herren, ist vorerst die Hilfe für die Menschen jenseits der Grenzlinie gegen den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kollaps und zur Überwindung des Chauvinismus in gemeinsamem Wiederaufbau, also Hilfe für Polen und Deutsche, und überprüfbare Volksgruppenselbstverwaltung für die Deutschen, Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat. Dafür geschieht zu wenig. Für die Verwirklichung der Ankündigungen trete ich trotz unberechtigter Verleumdungen entschieden ein. Das Leid der beiden Völker erfordert die zumutbare Wiedergutmachung der nun auch von Polen bestätigten Massenvertreibung sowie die Verwirklichung des Rechtes auf die Heimat statt eines schädlichen Heimatverlustes. Jedes Unrecht bedarf zumutbarer Wiedergutmachung. Polen sollte sich nun sehr bald der Europäischen Menschenrechtskonvention mit allen Zusatzprotokollen unterwerfen. Meine Damen und Herren, die Geschichte geht weiter. Ich setze im Gegensatz zu Dr. Dregger - da friedliche Abstimmungen immer realistisch sind und dies bereits 150 000 Unterschriften fordern - auf den friedlichen Wandel, den „peaceful change", ({0}) in allen uns noch betreffenden Unrechtsfolgen im Verlauf der noch nicht durch einen tragfähigen, glaubwürdigen, differenzierten historischen Ausgleich geordneten europäischen Nachkriegsgeschichte, auch für die deutsch-polnischen Beziehungen. Dieser Ausgleich kann nicht dem einen alles, dem anderen nichts geben; er kann aber auch nicht durch Finassieren ohne ehrlichen Ausgleich zwischen den Menschen entstehen. Sonst bleibt der Unruheherd, den Winston Churchill voraussagte. ({1}) Ein letztes persönliches Wort. Meine Heimat ist und bleibt Ostschlesien im größeren oberschlesischen Gebiet. Ich wünsche auch in freier Entscheidung unseren Nachkommen die Mitwirkung am Wiederaufbau. Oberschlesien hatte bis 1932 den kleinsten Anteil der NSDAP-Stimmen und Ostoberschlesien bis 1939 eine bedeutsame nicht gleichgeschaltete deutsche Christliche Volkspartei und eine kleine Deutsche Sozialdemokratische Partei. Oberschlesiens schwieriger Alltag bleibt der eines Landes unter dem Kreuz; auch der Annaberg ein Berg unter dem Kreuz und nicht unter dem Hakenkreuz. ({2}) Ich wünsche den Parteien der Mitte einen ebenso maßvollen wie entschiedenen Wettbewerb bei der Vertretung berechtigter deutscher, auch ostdeutscher Anliegen, ({3}) wie er manchmal hart, aber sinnvoll unter Adenauer, Schumacher und Dehler geführt wurde. ({4}) Nur so läßt sich ein Überborden der nationalen Emotionalisierung vermeiden. Ich werde mich gemäß Art. 31 Abs. 2 der Geschäftsordnung nicht an Abstimmung über Entschließungen beteiligen, die die freie Selbstbestimmung betreffen, die das ganze deutsche Parlament wahrzunehmen hat. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, der Herr Abgeordnete Wüppesahl hat fristgemäß einen Antrag auf Erweiterung der Tagesordnung eingereicht. Nach der Geschäftsordnung hat er jetzt das Wort.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht vertiefen, daß dieser Tagesordnungsaufsetzungsantrag entgegen den Regeln der Geschäftsordnung nicht vor Eintritt in die Tagesordnung behandelt worden ist, sondern erst jetzt von mir eingebracht werden kann; ich will auch nicht vertiefen, daß es heute neben dem sinnvollen Gegenstand, dessentwegen wir zu dieser Sondersitzung zusammengekommen sind, weitere, sinnträchtigere Gegenstände gibt als diejenigen, über die wir gerade eben gesprochen haben, z. B. „Gladio" ; ich will auch nicht vertiefen - sondern letztlich meinen Tagesordnungsaufsetzungsantrag begründen - , daß die Bundesregierung mit der Sondersitzung zur Golfproblematik offenbar Probleme hatte und über die heutige Regierungserklärung und die anschließende Aussprache die Luft aus der Problematik zu ziehen versucht hat. ({0}) Mir geht es vielmehr darum, daß wir heute vielleicht doch noch einmal über etwas reden, was ich unter der Überschrift „Finanzielle Kosten der deutschen Einheit für die Gebietskörperschaften und die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland" auf die Tagesordnung setzen lassen möchte. Ich denke in der Tat, daß der Kassensturz, der für gestern angekündigt worden war, von der Qualität her nicht viel mehr darstellt als einen schlechten Referentenentwurf des Bundesfinanzministers, mit Eckwerten, die nicht plausibel sind - nachdem wir im Haushaltsausschuß bei einer Anhörung erfahren mußten, daß die tatsächlichen Kosten der deutschen Einheit sehr viel höher sein werden -, und mit Belegen für die Finanzierung, die jeglicher schlüssiger Überlegung nicht standhalten können. Ich denke, daß wir noch Worte dazu hören müßten, wie diese Regierung am 2. Dezember mit so einem Schuldenkanzler, wie er in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland einmalig ist, ({1}) und vor allem mit welchem Anspruch sie wiedergewählt werden will. Es geht auch um die Tatsache, daß den Städten und Gemeinden, vor allem denen in den östlichen Bundesländern, das Wasser bis zum Halse steht und daß die Bundesländer der ehemaligen Bundesrepublik entgegen den Abmachungen in den Staatsverträgen plötzlich zusätzlich zur Kasse gebeten werden sollen. ({2}) Ich denke in der Tat, daß erklärt gehört - und zwar noch heute, vor dem 2. Dezember dieses Jahres, damit den Wählerinnen und Wählern reiner Wein eingeschenkt wird, wenn sie in der Wahlkabine ihr Kreuz machen -, wie die hohen Kosten, die zusätzlichen Geschenke, z. B. mehr als 16 Milliarden DM an die Sowjetunion .. .

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Machen Sie keine Sachdebatte, Herr Kollege!

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich begründe gerade den Aufsetzungsantrag.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Aber bitte wirklich nur eine kurze Begründung und nicht eine Sachdebatte!

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich habe fünf Minuten Zeit dafür, Frau Kollegin Renger. ({0}) . wie die 3,5 Milliarden DM zusätzlicher Kosten für den Golfeinsatz der Amerikaner bezahlt werden sollen, wie die Renten vorzeitig erhöht werden sollen. Niemand weiß, woher das Geld kommen soll. Die Wahlkampf-Spendierhosen dieser Regierung haben anscheinend unendlich viele Taschen, in die Sie greifen. Ich denke, was wir hier erleben, sind typische Wahlversprechen. Sie wissen, daß es noch sehr viel andere zusammengesetzte Begriffe gibt, die mit „Wahl" anfangen, z. B. „Wahllüge", aber auch „Wahlbetrüger" . Ich möchte die Bundesregierung mit diesem Tagesordnungsaufsetzungsantrag davor bewahren. Ich möchte ihr gewissermaßen die Gelegenheit geben, noch einmal zu erklären, ob sie diese Versprechen einhalten kann, und bei der Gelegenheit dieser gedanklichen Entwicklung vielleicht die notwendigen Korrekturen an den vielen Versprechungen vorzunehmen. Ich denke in der Tat, daß der gestrige Vorschlag des Bundesfinanzministers diese ganzen Fragen verschleiert und verdunkelt und daß die Bürger und Bürgerinnen in dieser Republik geradezu verdummt werden sollen, ({1}) wenn ihnen glaubhaft gemacht werden soll, daß dies alles ohne Steuererhöhungen finanziert werden kann.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, meinen Sie nicht, daß Sie jetzt lange genug begründet haben? ({0}) Denn Sie sind wirklich in die Sachdebatte eingestiegen. Tun Sie mir doch den Gefallen und verlängern Sie die Sitzung nicht unnötig.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich habe noch 60 Sekunden Zeit, . . .

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Daß Sie die ausnutzen müssen, hat das Bundesverfassungsgericht nicht ausdrücklich vorgeschrieben. ({0})

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

... wobei von der Gesamtredezeit durch diese Intervention weitere Sekunden verlorengegangen sind. Sie wissen ganz genau, meine Damen und Herren, daß z. B. der Kanzlerkandidat zu dem Tagesordnungspunkt eben ganz andere Themen angesprochen hat, u. a. auch dies. Wenn mir in dieser Weise in die Parade gefahren wird, wo ich zu einem Tagesordnungsaufsetzungsantrag diese sachliche Begründung vortrage, dann können Sie davon ausgehen, daß ich diesen Verstoß genauso wie die Behandlung des Aufsetzungsantrages entgegen den Regeln der Geschäftsordnung vor dem zuständigen Gremium zur Prüfung bringen werde. Ich bitte abschließend um Zustimmung ({0}) zu einer solchen Aussprache über die Kosten der deutschen Einheit. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, wird zur Geschäftsordnung weiterhin das Wort gewünscht? - Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich über den Antrag des Abgeordneten Wüppesahl abstimmen. Wer stimmt der Aufsetzung auf die Tagesordnung zu? - Enthaltungen? - Wer ist dagegen? - Die PDS und der Abgeordnete Wüppesahl haben zugestimmt; teilweise gab es Enthaltun18842 Deutschei Bundestag - i i. Wahlperiode Vizepräsidentin Renger gen. Der Antrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt, Herr Wüppesahl. Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 2 auf: Aussprache über die Lage in der Golfregion Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD sowie der GRÜNEN/Bündnis 90 und ein weiterer Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP vor, der allerdings noch nicht auf dem Tisch liegt, aber angekündigt ist. Ich darf das nur einmal mitteilen. Interfraktionell sind 90 Minuten für die Aussprache vereinbart worden. Auch darüber gibt es Einverständnis. Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Brandt.

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

({0}) Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Grundgesetz verpflichtet uns - zusätzlich zur eigenen Einsicht - , zum Weltfrieden beizutragen. Diese Sondersitzung des Bundestages gibt uns Gelegenheit, diese Verpflichtung angesichts der Golfkrise zu konkretisieren und unsere Stimme zugunsten einer friedlichen Lösung jener überaus gefahrvollen Krise zu erheben. Damit verbindet sich aus meiner Sicht die mitmenschliche Verpflichtung, das Leid der im Irak Festgehaltenen und ihrer Angehörigen daheim zu beenden - ganz konkret: alles uns mögliche zu tun, um unsere Landsleute und alle anderen, die widerrechtlich festgehalten werden und sich in einer verzweifelten Lage befinden, endlich freizubekommen. ({1}) Angesichts der zugespitzten Lage am Golf ist es mit Resolutionen der UN und Erklärungen der EG alleine nicht getan. ({2}) Da die Zeituhr tickt - sie tickt lauter, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen - , sind die politisch Verantwortlichen gut beraten, sich eines Vorgehens zu bedienen, das zugleich entschlossen und flexibel ist, wo immer möglich, in Abstimmung mit anderen, wenn nötig, aber auch mit eigenem Wagnis. ({3}) Um des Friedens und der Menschen willen lohnt sich das allemal. Deutschland darf bei den Anstrengungen für den Frieden hinter keinem anderen zurückstehen. Ich greife hier auch auf, was zu diesem Gegenstand mein Freund Lafontaine in der voraufgegangenen Debatte gesagt hat. Krieg ist - ich erinnere an Gustav Heinemanns Definition - die Ultima Irratio der Politik. Das gilt auch für die Krise, die durch die irakische Besetzung Kuwaits ausgelöst worden ist. Wer weiß, daß die Golfregion, daß der mittlere Osten insgesamt ein prall gefülltes Pulverfaß ist, der müßte alles Erdenkliche unternehmen, um eine Entfesselung der militärischen Zerstörungspotentiale zu vermeiden. Dies ist um so mehr geboten, als - daran ist zu erinnern - europäische, nicht zuletzt auch deutsche Exporte erheblich dazu beigetragen haben, jenes Pulverfaß zu dem werden zu lassen, was es heute ist. ({4}) Niemand sollte meinen, wir könnten unbeschadet am Rande stehen, wenn die Golfregion samt Erdölfeldern in Flammen stünde. Auch sollte niemand so naiv sein, denke ich, an einen Blitzkrieg, einen Krieg von kurzer Dauer, zu glauben, wo doch selbst kommandierende US-Generale vor Ort verlauten lassen - ob es immer vernünftig ist, daß Militärs verlauten lassen, wie lange wohl Kriege dauern werden, lasse ich dahingestellt; aber sie lassen es verlauten -, daß sie von monatelangen opferreichen Kämpfen ausgehen. Alle halbwegs Kundigen wissen, daß beide Seiten über modernstes Kriegsgerät verfügen. Ich muß auch wohl kaum daran erinnern, daß bereits im letzten Golfkrieg, der ja fast ein Jahrzehnt gedauert hat, chemische Waffen eingesetzt wurden und daß jener achtjährige Krieg zwischen dem Irak und dem Iran mehr als 1 Million Menschen das Leben gekostet hat. Nun ist eine Sache, daß totalitäre Regime für kürzere oder längere Zeit solche Opfer erzwingen können; eine andere Sache ist es, daß Demokratien ihre eigenen Maßstäbe anzulegen haben. Es gibt nachdenkenswerte Beispiele und Erfahrungen aus der jüngsten Geschichte, gar nicht so weit vom Mittleren Osten entfernt. Es gibt auch jetzt gerade in den Vereinigten Staaten von Amerika eine Respekt gebietende Debatte über Sinn und Ziel einer auf das Militärische eingeengten Option. Ich denke, auch hierzulande muß sich mancher, der in den letzten Wochen über die Krisenregion geredet oder geschrieben hat, fragen lassen, ob er dem Gegenstand und den ihm innewohnenden Risiken hinreichend gerecht geworden ist. ({5}) Ich jedenfalls rate ab von forschen Parolen beim Reden und Schreiben, zumal, verehrte Kolleginnen und Kollegen, angesichts der ohnehin gegebenen gefühlsmäßigen Aufpeitschung in jener Region zumal niemand zu garantieren vermag, daß nicht aus einem lokalen Kriegsziel ein regionaler Flächenbrand oder noch wesentlich mehr als dies wird. Wir wissen doch einiges von den Emotionen und Ressentiments in der Region, von der realen Gefahr eines arabischen Bruderkrieges, aber auch von der Möglichkeit, arabische oder islamische Massen gegen eine vermeintlich feindliche Außenwelt zu mobilisieren. Wir müssen uns doch, denke ich, darüber im klaren sein, daß früher oder später auch Israel involviert werden könnte. Das kann uns doch nicht gleichgültig lassen. Hat nicht schon vor Wochen der Generalsekretär der Vereinten Nationen vor dem Hineinschlittern in einen neuen Weltkrieg gewarnt? Ich lasse offen, ob nicht die Wortwahl, also hier der Begriff „Weltkrieg", zu falschen Vergleichen anregt und vom Verständnis des jetzt anstehenden Problems eher abzulenken geeignet ist. Lassen Sie mich, verehrte Kolleginnen und Kollegen, noch auf die Risiken eines ungewollten Kriegsausbruchs durch technische Fehler, Kommunikationsmängel oder Unfälle hinweisen. Dies war, wie sich mancher erinnern wird, ein wichtiges Argument in dem Bericht der Palme-Kommission „Gemeinsame Sicherheit" Anfang der 80er Jahre, jenes Argument, das nicht nur für Mitteleuropa galt, sondern für alle Regionen mit hoher Truppenmassierung und Konfrontation mit übersensiblen Waffen Geltung hat. Ich weise nachdrücklich auf diese Risiken hin. In der Golfregion besteht die Gefahr, daß eine militärische Option, die - ich stelle das im übrigen durchaus in Rechnung - unter bestimmten Bedingungen heilsamen Druck auszuüben vermag, zum Selbstläufer werden kann mit unkalkulierbaren Folgen. ({6}) Meine Damen und Herren, zweifellos liegt die Verantwortung für die Eskalation in der Golfregion letztlich beim Irak, dessen Führung bislang noch keine ernsthaften Schritte zur Befolgung der Resolution der Vereinten Nationen unternommen hat. Weder wurde die Annexion Kuwaits zurückgenommen noch allen Ausländern die Ausreise gestattet. Diese eklatanten Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte können nicht toleriert werden. ({7}) Ich durfte davon ausgehen und darf bestätigt sehen, daß wir hier im Bundestag darin alle übereinstimmen. Daß der Weltsicherheitsrat nach der Invasion Kuwaits rasch Sanktionen gegen den Irak beschlossen und umgesetzt hat, war richtig. Das war aus meiner Sicht weltpolitisch ein wichtiges Signal. Allzulange waren die Vereinten Nationen durch die Ost-WestKonfrontation gelähmt, hatten sich die Weltmächte im Sicherheitsrat gegenseitig blockiert und den Generalsekretär der UNO weitgehend zur Untätigkeit verurteilt. Erst seit 1987 trat ein Wandel zum Besseren ein: in der Einstellung Moskaus und Washingtons zueinander und zu den Vereinten Nationen. Wichtige Vermittlungserfolge, so auch der Waffenstillstand im vorigen Golfkrieg, gelangen nicht von ungefähr. Mit dem Jahr des großen europäischen Umbruchs 1989 trat dann auch der Weltsicherheitsrat in eine neue Epoche ein. Offenkundig hat die Führung des Irak die Zeichen der Zeit verkannt. Was immer die Gründe und Motive für die Invasion Kuwaits waren - auf die eine oder andere der Erklärungen, die ich in Bagdad gehört habe, werde ich gleich zurückkommen - , festzuhalten bleibt: Die irakische Führung hat das internationale Klima, wenn man es so nennen darf, falsch eingeschätzt. Man scheint geglaubt zu haben, Europa sei mit sich selbst beschäftigt, die Sowjetunion ohnehin, was ja im zweiten Fall auch mit Sicherheit stimmt; die Chinesen seien desinteressiert; die widerstrebenden arabischen Brüder ließen sich aushebeln, so daß die USA ziemlich leicht auszukontern wären. Erst neuerdings scheint sich in Bagdad die Erkenntnis durchzusetzen, daß die irakische Politik in die Isolierung geführt hat. Sicherlich hat die strikte Anwendung der Wirtschaftssanktionen - übrigens auch von seiten der Nachbarstaaten, was für diese gar nicht so einfach ist - zu dieser späten Erkenntnis beigetragen. Nun führen, wie wir wissen, Wirtschaftssanktionen, wenn sie überhaupt zu etwas führen, jedenfalls nicht von heute auf morgen zu den erwünschten Ergebnissen. Mittlerweile sind jedoch die Auswirkungen, so Versorgungsmängel und enorm gestiegene Preise, im Irak und notgedrungen wohl auch in Kuwait empfindlich spürbar. Obwohl mir von hektischen Anstrengungen berichtet wurde, frühere Importe durch Eigenproduktion zu ersetzen, sind die entsprechenden Möglichkeiten des Irak ungleich begrenzter, als sie es im Falle Südafrikas waren und sind, zum einen wegen der beschränkteren Ressourcen, zum anderen dank der im Fall des Irak umfassenderen, bei weitem besser eingehaltenen Sanktionsmaßnahmen als in dem anderen erwähnten Fall. Insofern ist mit einem wirtschaftlichen Kollaps nicht erst in Jahren zu rechnen. Ich meine, die Monate fortzusetzenden wirtschaftlichen Drucks sollten genutzt werden, um auf allen nur denkbaren Wegen einer politischen Lösung den Weg zu ebnen. Dafür sehe ich durchaus noch Chancen. Zunächst möchte ich aber mit aller Eindringlichkeit sagen dürfen: Niemand darf nach mehr als drei Monaten des Bangens von den noch Festgehaltenen und ihren Angehörigen erwarten, daß sie sich weiter gedulden, bis eine oder die politische Lösung gefunden ist. ({8}) Wer die laufenden Vorbereitungen einer militärischen Lösung verfolgt oder von ihnen erfährt, der sollte auch aus diesem Grunde alle Anstrengungen unternehmen, um unsere Landsleute und die anderen Ausländer so rasch wie möglich aus dem Irak und aus Kuwait herauszuholen, wenn es denn irgend geht. Wenn vor und nach meiner Reise in den Irak in der vorigen Woche und der Reise von Parlamentariern aus anderen Ländern mit erhobenem Zeigefinger vor einem Aufbrechen internationaler Solidarität gewarnt wurde, so verwunderte mich nicht nur die unpassende Begrifflichkeit. Eine Solidarität, die sich im Hinblick auf schwer bedrängte Menschen im Nichtstun erschöpft oder die nur das letzte Mittel im Visier hat, macht keinen Sinn. ({9}) Im übrigen brauche ich auch, bei aller Zurückhaltung, in Fragen internationaler Solidarität keinen Nachhilfeunterricht. ({10}) Ich weiß seit meinen jungen Jahren, daß dazu allemal der persönliche Einsatz für Menschen in Bedrängnis gehört, ({11}) im eigenen Land, in Europa und darüber hinaus. Wenn ich dies hinzufügen darf, ohne zuviel Zeit darauf zu verwenden: Aus meiner Sicht war der humanitäre Ertrag meiner eigenen Reise, vorbereitet durch zwei befreundete Europa-Abgeordnete, sehr wirksam unterstützt durch den deutschen Botschafter vor Ort, durchaus nicht enttäuschend. Für 194 widerrechtlich Festgehaltene, 138 Deutsche, 51 andere Europäer, 5 Nordamerikaner, konnte immerhin in dieser Runde die Ausreise erreicht werden. Die Mühe hätte sich auch gelohnt - ich sage es hier noch einmal -, hätte man einem einzigen, hätte man nur einer Familie helfen können. ({12}) Bei jenen, die noch immer gegen ihren Willen festgehalten werden - und dabei haben es natürlich die an strategische Punkte Verbrachten erheblich schwerer als die, die in Bagdad leben können - , bin ich im Wort mitzuhelfen, daß sie recht bald rauskommen. Im übrigen, wer da meint, bereits der Preis, der vermeintliche Preis, überhaupt nach Bagdad zu reisen, sei zu hoch, hat wohl vergessen, daß wir bei anderen Gelegenheiten andere Maßstäbe angelegt haben. ({13}) Noch im letzten Jahr wurden bekanntlich erhebliche öffentliche Mittel aufgewendet, um Landsleute freizubekommen, die anderswo ihrer Freiheit beraubt worden waren. Es gilt der Satz - für mich jedenfalls - : Humanitäre Bemühungen und gemeinsame Verantwortung im Sinne der Beschlüsse der Vereinten Nationen schließen einander nicht aus. ({14}) Ich muß einen Satz hinzufügen dürfen, nachdem ich den ungewöhnlich tüchtigen deutschen Botschafter vor Ort, im Irak also, genannt habe. Ich bin heute morgen gefragt worden, ob ich ihn mitgenommen hätte zu den politischen Gesprächen, informatorischen Gesprächen, die auch geführt wurden. Er wäre gern mitgekommen. Die Regierung hielt es für richtig, ihm zu sagen, er solle sich davon fernhalten. ({15}) kritisiere das nicht, ich stelle es nur fest, nachdem ich danach gefragt worden bin. Meine Gespräche in Bagdad, meine Damen und Herren, haben mich zusätzlich davon überzeugt, daß die Bemühungen um eine nichtmilitärische Überwindung der Golf-Krise nicht aufgegeben, sondern vielmehr verstärkt werden sollten. Daher begrüße ich eine Initiative wie die des Königs von Marokko zu einem Gipfeltreffen der Arabischen Liga, an dem der irakische Präsident teilnehmen soll und wohl, wenn ich mir das alles überlege, schließlich auch teilnehmen wird. Das mag ein Hoffnungsschimmer sein, mehr gewiß noch nicht. Seit dem fehlgeschlagenen Kairoer Gipfel von Anfang August war die Arabische Liga bekanntlich handlungsunfähig, da der Golf-Konflikt die interarabischen Fronten - Fronten im wahrsten Sinne des Wortes - verhärtete. Die Interessengegensätze und alte wie neue Rivalitäten zu überbrücken scheint nahezu unmöglich. Allerdings könnte die sehr reale Kriegsgefahr die Kompromißbereitschaft dann doch noch befördern. Angesichts der prekären Ausgangslage wäre es wenig hilfreich, wenn von europäischer oder amerikanischer Seite die Meßlatte für jenes Gipfeltreffen zu hoch gehängt würde. Wer vorab „alles oder nichts" einfordert, hat, soweit ich es erkennen kann, wenig von internationaler Politik im allgemeinen und von den Gegebenheiten jener Region im besonderen verstanden. ({16}) Ich meine, es wäre schon viel erreicht, wenn für Kuwait Schritte in die richtige Richtung erkennbar würden. Wünschenswert wäre - ich sage das nicht nur hier - ein Zeitplan für den Rückzug irakischer Truppen, die durch eine arabische Streitmacht, am besten, wenn es geht, unter UN-Agide, ersetzt würden, damit möglichst bald unter Beteiligung des Volkes die Legitimität und Integrität von Kuwait neu begründet werden kann. ({17}) Keine Frage, Präsident Saddam Hussein muß Konzessionen machen, konkrete Schritte in Richtung auf die Verwirklichung der UN-Resolution 660. Verhandlungsspielraum eröffnet sich für den Irak aber erst bei einer generellen Ausreiseerlaubnis für alle Ausländer. ({18}) Vielleicht ist auch dem dortigen Präsidenten inzwischen klargeworden, daß Geiseln eine militärische Option nicht nur nicht ausschließen, sondern sogar zeitlich näherrücken lassen können. Die irakische Führung dürfte mittlerweile wissen - sage ich, nachdem ich zurück bin - , daß die festgehaltenen Ausländer keine Schutzschilde zur Verhinderung des Krieges sind, auch nicht die verschleppten. Der irakischen Armee und Öffentlichkeit galten sie freilich als Symbol unmittelbarer Kriegsgefahr. Ich jedenfalls habe mich für die Freilassung aller eingesetzt, damit die internationale Gesprächsbereitschaft gefördert wird, nicht umgekehrt. Nun wissen wir, Irak und Saudi-Arabien würden unmittelbar zum militärischen Kampfschauplatz werden, was beide Seiten zum Hinhören aufeinander veranlassen mag. Saddam Hussein sprach bekanntlich von Garantien für Saudi-Arabien, während der saudische Verteidigungsminister vor kurzem - es ist dann von anderen, nicht von ihm, zurückgenommen worden - über die Nutzung eines Golfhafens für Irak laut nachgedacht hat. Unabhängig davon: Ein Auseinanderrücken von Truppen könnte sich, jedenfalls sobald man einen Schritt weiter ist, als nützlich erweisen. Ob und wie, meine Kolleginnen und Kollegen, der Streit zwischen den Erdölproduzenten der Region um Fördermengen und Preisniveau - das war vor der Besetzung ein sehr brisantes Thema zwischen Bagdad und Kuwait geworden - geschlichtet werden kann, das übersteigt meine Kenntnis der Materie. Nur, daß Erdölerlöse, besonders die aus einem umstrittenen Erdölfeld, nämlich zwischen den beiden erwähnten Ländern umstrittenen Erdölfeld, im Vorfeld der Invasion für Konfliktstoff zwischen Irak und Kuwait sorgten, ist uns vermutlich allen bekannt. Es liegt auf der Hand, daß ein bevölkerungsschwaches Land mit enormen Erdöleinnahmen und langjährigen hohen Kapitalüberschüssen, deren Finanzerträge sogar die laufenden Erdölerlöse überstiegen, andere Interessen hat als der vergleichsweise bevölkerungsreiche östliche Nachbar, der infolge eines langjährigen selbstverschuldeten Krieges in die tiefroten Zahlen der Verschuldung geraten ist. Auf die Region als Ganze bezogen bestehen unübersehbare Interessenkonflikte zwischen mehr oder weniger reichen Erdölländern und ärmeren Nichterdölländern. Ausgleichszahlungen und Arbeitsmöglichkeiten konnten zwar in den Boomjahren so manchen Unmut kühlen, nicht aber bei fallenden Erdölpreisen, die in den letzten Jahren mehrere Länder des mittleren Ostens in schwere Strukturkrisen geraten ließen. Ich will das nicht ausweiten, sondern nur sagen: Der Erdölfaktor wird zu häufig übersehen, wenn man über Möglichkeiten der weiteren Entwicklung oder gar einer Friedensregelung nachdenkt. Angesichts der widersprüchlichen Entwicklungsprozesse im arabischen Raum darf Europa natürlich nicht gleichgültig reagieren. Vielmehr macht es für die EG guten Sinn, alle Möglichkeiten der Zusammenarbeit, gerade auch in den wirtschaftlichen und wissenschaftlich-kulturellen Bereichen, woran dieser Tage in Brüssel erneut erinnert wurde, mit dem Nahen und mittleren Osten zu verstärken. Ich stimme auch bei einiger sonst schwerverdaulichen Doppelbödigkeit - ich wiederhole das: bei aller für mich sonst schwerverdaulichen Doppelbödigkeit - mit der Haltung Frankreichs darin überein, daß Westeuropa zur Lösung der grundlegenden Sicherheitsprobleme der Region beitragen kann, und zwar in einem modernen Verständnis der Interdependenzen, der gegenseitigen Abhängigkeiten zwischen militärischen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Sicherheitsfragen. Aus diesem Grunde habe ich in Bagdad, nicht im Vorbeigehen, auf den KSZE-Prozeß aufmerksam gemacht, der selbstredend nicht einfach oder schematisch auf den mittleren Osten übertragen werden kann. Gleichwohl bestand einiges Interesse an unseren KSZE-Erfahrungen, um die Probleme der Region gleichsam in den uns wohlbekannten Körben abzuarbeiten. Wir haben ja auch vor 15 Jahren nicht geahnt, daß Helsinki so weit tragen würde, wie es getragen hat; ({19}) schon gar nicht vor 20 Jahren, als sich einige von uns auf diesen Prozeß vorbereiteten. Die Liste derer, die empfohlen haben, auf einen Verhandlungsprozeß über die offenen Fragen im Nahen bzw. mittleren Osten hinzuarbeiten - vermutlich in Gestalt mehrerer Konferenzen -, ist lang: Die EG gehört nicht zuletzt dazu; die EG zusammen mit den Russen im September; die nicht Gebundenen bei den Vereinten Nationen; jene internationale Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Parteien, deren Vorsitzender ich bin, um nur einige Beispiele zu nennen. Ich hatte den Eindruck, die irakische Führung sei sich bewußt, daß der Teilnehmerkreis für KSZE-artige Konferenzen nicht zu eng gefaßt sein darf. Man weiß in Bagdad, daß der dort als grundlegend erachtete Israel-Palästina-Komplex und das Libanon-Problem - das sind ja noch nicht alle Probleme; es gibt ja z. B. auch das grenzüberschreitende Problem der Kurden - , daß die regionalen Probleme, die auf einer Konferenz zu behandeln wären, nicht vor, sondern erst nach einer Lösung der Golfkrise angegangen werden können. ({20}) Allerdings haben meine irakischen Gesprächspartner auch unmißverständlich aufmerksam gemacht auf die aus ihrer Sicht gegebene europäische Mitverantwortung für einen die gesamte Region umfassenden Friedensprozeß. Dabei scheint man nicht nur in Bagdad die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft zu überschätzen. Ich verbinde meine Hoffnungen ja gerne mit denen des Bundesaußenministers bezüglich der möglicherweise zunehmenden außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EG. Aber gerade in der Golfkrise - lügen wir uns nicht in die Tasche - sind doch die Interessenunterschiede der Mitgliedstaaten unübersehbar, was dann die Einflußmöglichkeiten natürlich und leider über Gebühr schmälert. Doch auch hier gilt aus meiner Sicht: Das darf nicht dazu führen, daß ein Minimalkonsens der EG-Staaten im sachlichen, inhaltlichen Nichtstun besteht. Ich vermute, daß der Außenminister das nicht wesentlich anders sieht als ich. Wenn aus mancherlei Gründen noch nicht gemeinsam gehandelt werden kann, sind die einzelnen Regierungen am Zuge. ({21}) Jede Regierung steht vor der Frage, ob sie mit in etwas hineinschlittern will, was der Öffentlichkeit schwer verständlich zu machen wäre. ({22}) Mich wundert, daß hierzulande gern darauf hingewiesen wird, die erweiterte Bundesrepublik habe an Gewicht gewonnen, während angesichts einer akuten Krise wie der am Golf eher ein liebgewordener Provinzialismus gepflegt wird. ({23}) statt darauf zu bestehen, daß politisches Gewicht für den Frieden und für die Menschen in Bedrängnis voll in die Waagschale geworfen wird. Es kann ja auch ein Vorteil sein, daß deutsche Truppen nicht am Golf stehen. ({24})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Seifert?

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darauf bitte ich jetzt zu verzichten, denn ich bin bei meinem letzten Satz und möchte meine Ausführungen abschließen. Es könnte - ich sage das im Anschluß an den eben gesprochenen Satz - den politischen Handlungsrahmen erweitern, statt ihn einzuengen. Jedenfalls gilt es - und darum bitte ich sehr herzlich -, jede der deutsche Politik gegebene Chance für die Menschen und für den Frieden zu nutzen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, das Wort hat Frau Abgeordnete Geiger. ({0})

Michaela Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000649, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lage im Irak ist ernst, und die dort verbliebenen Geiseln kommen Tag für Tag in eine verzweifeltere Lage. Wir danken Willy Brandt dafür, daß er dem Diktator Saddam Hussein über 170 Geiseln abringen konnte. Wir freuen uns mit den heimgekehrten Geiseln und ihren Angehörigen über ihre Rettung. ({0}) Uns bedrückt allerdings die Situation der Menschen, die mit ausreisen wollten, aber aus einer willkürlichen Entscheidung des Diktators heraus dann doch nicht nach Hause fliegen durften. Wir verurteilen der grausamen Menschenhandel von Saddam Hussein. Wir müssen alle Anstrengungen unternehmen, die uns im Rahmen der UNO-Resolutionen und der EG-Beschlüsse möglich sind, um den im Irak Zurückgebliebenen rasch zu helfen. Die - inzwischen - zehn verschiedenen UN-Resolutionen sind mit einer für diese Organisation erfreulichen Einmütigkeit verabschiedet worden. Sie fordern die sofortige Ausreise aller Geiseln aus dem Irak und die Freigabe des besetzten Kuwaits. ({1}) Nach der Satzung der UN sind die Resolutionen für alle Staaten bindend und müssen voll und ganz angewandt werden. Die Bundesregierung und die CDU/ CSU-Fraktion stehen seit Beginn der Krise voll hinter den Beschlüssen der Staatengemeinschaft. Wir bestehen darauf, daß alle zehn Resolutionen der UNO bedingungslos durchgesetzt werden. ({2}) Dies ist die einzige Chance, daß wirklich alle Geiseln aus dem Irak herausgeholt werden können. Ein Ausbrechen aus dieser Solidarität der anderen Staaten oder gar ein Alleingang unserer Regierung könnte die Gefahr für die im Irak verbliebenen Geiseln erhöhen. ({3}) Je mehr Geiseln in Einzelaktionen aus dem Irak herausgeholt werden, desto größer wird die Gefahr für die dort Verbleibenden, für die Geiseln, die noch in Bagdad, in Kuwait oder an strategisch wichtigen Orten als menschliche Schutzschilde mißbraucht werden. ({4}) Dies ist der Grund, warum die Bundesregierung immer wieder gemeinsame Aktionen der EG-Partner angeregt hat, zuletzt die Vereinbarungen der EG-Außenminister vom vergangenen Montag. Es ist eine bewußte Irreführung der Öffentlichkeit, wenn der Bundesregierung in dieser Frage Untätigkeit vorgeworfen wird. Daß diese Vorwürfe gerade von der Seite kommen, die die UN-Beschlüsse sonst immer wie einen Banner vor sich herträgt und auf die Einhaltung jedes Kommas achtet, ist ein durchsichtiges Manöver. Hier wird mit Menschenschicksalen Wahlkampf gemacht. ({5}) Die Beschlüsse, mit dem Diktator nicht zu verhandeln, sind von vielen Seiten umgangen worden. Zwar hat keine Regierung isoliert verhandelt, und die in den Irak gereisten Ruhestandspolitiker Heath und Nakasone - zuletzt Jörgensen aus Dänemark - hatten keinerlei Verhandlungsmandat. Trotzdem blieb der Eindruck, die Front der Isolierung des Iraks würde aufgeweicht. Auch die Franzosen scheinen, wie Rudolf Augstein es im „Spiegel" ausdrückte, „im Hinterzimmer Billard gespielt zu haben", während alle französischen Geiseln durch die Vordertür heimkehren durften. Manche in diesen Ländern, die die Reise Willy Brandts jetzt kritisieren, sollten eigentlich ein schlechtes Gewissen dabei haben. ({6}) Wir hätten es lieber gesehen, wenn diese Reise in eine EG- oder UN-Mission eingebunden worden wäre. ({7}) Der Bundeskanzler und auch sein Außenminister haben sich persönlich dafür verwandt; leider kam eine solche Lösung nicht zustande. So wurde die Chance vertan, die Solidarität der EG-Staaten aufrechtzuerFrau Geiger halten und - darüber hinaus - die Ausreise aller Geiseln zu erreichen. ({8}) Für mich unverständlich war die Reaktion des UN-Generalsekretärs Perez de Cuellar. Er hätte Willy Brandt offiziell einen UN-Auftrag geben können. Als Friedensnobelpreisträger und früherer Bundeskanzler wäre er der richtige Mann für diese Aufgabe gewesen, zumal der von Perez de Cuella selbst auserwählte Emissär nicht einmal eine Einreisegenehmigung in den Irak bekam. Hier hätte mit etwas mehr Flexibilität viel mehr erreicht werden können. Die verschiedenen Aspekte und die Problematik der Reise von Willy Brandt in den Irak spiegeln sich auch in den Kommentaren der führenden Zeitungen wider. Dieter Schröder hat in der Wochenendausgabe der „Süddeutschen Zeitung" vom 10./11. November 1990 folgendes ausgeführt: Willy Brandt ist wahrscheinlich mehr als jeder andere enttäuscht, daß seiner Mission nach Bagdad nur ein begrenzter Erfolg beschieden war. Deshalb muß man ihm das nicht sagen. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, er habe nicht alles in seiner Macht Stehende getan. Mehr als er getan hat, konnte er nicht tun. Für das, was er erreicht hat, gebührt ihm zunächst Dank. 170 Menschen sind frei und mit ihren Angehörigen vereint. Auch für weniger hätte sich der Einsatz gelohnt. Allerdings war dieser sehr hoch: Brandt hat seinen persönlichen Ruf aufs Spiel gesetzt, und er hat in Kauf genommen, daß die Zuverlässigkeit der Bundesregierung von den Verbündeten in Frage gestellt wird. In Augenblicken der Not, die Solidarität erfordern, vor allem an die eigenen Leute zu denken schafft Mißtrauen und Mißgunst. Es macht die Lage derer, die zurückbleiben müssen, nicht einfacher und verlängert unter Umständen deren Leiden. Denn jeder Bittsteller muß einen Mann wie Saddam Hussein in seinem Glauben bestärken, die internationale Gemeinschaft doch noch aufbrechen zu können. Soweit die Meinung des Kommentators der „Süddeutschen Zeitung". Ähnliche Einschätzungen finden Sie in vielen großen deutschen Publikationen. Für meine Fraktion erkläre ich nochmals, daß wir Willy Brandts humanitären Einsatz für die Geiseln achten. Was allerdings seine Partei aus seiner Reise in der SPD-Wahlkampfzeitung „Zeitung am Sonntag" vom letzten Wochenende gemacht hat, hätte ich ihm nicht gewünscht. Auf dieser Zeitung steht: „20 Millionen Auflage, größte Zeitung der Welt." Da wird das durchaus ehrenwerte Vorgehen des SPD-Ehrenvorsitzenden für den Wahlkampf mißbraucht. Soweit dabei die Person Willy Brandts in den Vordergrund gestellt wird, ist dies durchaus in Ordnung. Wenn aber gefragt wird: „Wo war der Kanzler?" und wenn sich in diesem Pamphlet ein Strafrechtsprofessor darüber verbreitet, daß eine Anzeige gegen den Bundeskanzler wegen angeblich unterlassener Hilfeleistung Aussicht auf Erfolg hätte, dann ist dies ein ausgesprochen geschmackloses Wahlkampfgetöse. ({9}) Pikanterweise wird in diesem Artikel Außenminister Genscher von dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung ausdrücklich ausgenommen, obwohl doch in Bonn jedermann weiß, daß der Bundeskanzler und sein Außenminister in dieser wirklich sehr wichtigen Frage aufs engste zusammenarbeiten. Ich wiederhole: Willy Brandt und seine Mission haben es nicht verdient, daß sie in dieser Weise für den Wahlkampf mißbraucht werden. ({10}) Die Geschmacklosigkeiten, die sich manche in der SPD derzeit leisten, gehen aber noch weiter: Der Abgeordnete Scheer hat der Bundesregierung im Zusammenhang mit der Golffrage „Kadavergehorsam gegenüber den USA" vorgeworfen. Da kommt die alte Amerikafeindlichkeit der deutschen Linken wieder durch. ({11}) Hat man dort so schnell vergessen, daß die Vereinigten Staaten beim Einigungsprozeß der Deutschen die allergrößte Solidarität bewiesen haben? ({12}) Ohne die konstruktive Haltung von Präsident Bush und seiner Regierung hätten wir die deutsche Einigung nie so schnell über die Bühne gebracht. Hat man schon vergessen, wer uns nach dem Krieg 40 Jahre lang ein Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht hat? Hat man vergessen, wer Berlin während der Blockade versorgt hat? ({13}) Auch damals ging es um sehr viele Menschenleben. So kurz darf doch auch im Wahlkampf das Gedächtnis der Sozialdemokraten nicht sein. ({14}) Für mich und meine Fraktion erkläre ich ausdrücklich: Die Bundesregierung, die CDU/CSU-Fraktion, niemand von uns will Krieg, wie uns schon unterstellt wurde. Im Gegenteil: Alles muß getan werden, damit im Golf eine friedliche Lösung möglich wird. Wir Deutsche haben in diesem Jahr erleben können, daß Mauer und Stacheldraht in unserem Land beseitigt wurden, daß der Ost-West-Konflikt abgebaut wurde und der Friede in Europa soviel sicherer geworden ist. Wir wollen diesen Frieden aber nicht nur in Europa. Wir wollen, daß dieser Frieden auch auf andere Regionen ausgedehnt wird. Wir wollen nach friedlichen Lösungen für die Golfregion suchen und aktiv daran mitwirken, daß eine Lösung gefunden werden kann. Ein Krieg am Golf hätte furchtbare Wirkungen. Krieg bedeutet immer Zerstörung, Not und Tod und Leid für Zehntausende von Menschen. Uns Deutsche, die wir zwei verheerende Kriege in diesem Jahrhundert durchgemacht haben, ängstigt verständlicherweise der Gedanke an das Ausbrechen eines neuen Krieges besonders. Sollte im Irak ein neuer Brand entstehen, würde er mit Sicherheit nicht auf dieses Land beschränkt bleiben. Die ganze Region ginge in Flammen auf, mit verheerenden Folgen, die heute niemand genau abschätzen kann. Die Amerikaner, Franzosen, Engländer und auch alle anderen wollen keinen Krieg. Sie und viele andere sind es ja, die ihre Soldaten dort unten stationiert haben; das bedeutet ganz konkret: ihre Ehemänner, ihre Söhne, ihre Freunde. ({15}) Sie stehen dort auch für uns und auch für unsere Interessen. Vor diesem Hintergrund und in dem Bewußtsein, daß aus Deutschland keine Bundeswehrsoldaten am Golf stationiert sind und nach unserer Gesetzeslage nicht stationiert werden dürfen, muß manche verächtliche und diffamierende Äußerung von SPD und GRÜNEN auf unsere Freunde und Verbündeten, deren Soldaten dort sind, wie eine Provokation wirken. ({16}) Eine große Chance für die friedliche Lösung sehe ich darin, daß sich die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion in der Irakfrage vollkommen einig sind. Dieser Schulterschluß von Bush und Gorbatschow wird Saddam Hussein am ehesten überzeugen, daß er keine Chance hat, wenn er nicht nachgibt und die UN-Resolutionen befolgt. Es darf, wie Bush und Gorbatschow formulierten, im Jahr 1990 nicht geduldet werden, daß ein Staat wie ein Raubtier Beute macht. Um dies unmißverständlich klarzumachen, haben beide militärische Optionen nicht ausgeschlossen. Wie sonst könnten sie den Rechtsbrecher Saddam Hussein zur Räson bringen und ihn endgültig zur Umkehr bewegen? Ich hoffe, daß sich die Meldungen bewahrheiten werden, nach denen Saddam Hussein zu einem Einlenken bereit sein soll. Möglich wäre dies, nachdem ein UNO-Beschluß für eine Militäraktion nicht mehr ausgeschlossen wird. In dieser Situation würden wir es sehr begrüßen, wenn ein vom marokkanischen König Hassan vorgeschlagenes arabisches Gipfeltreffen die Kriegsgefahr abwenden könnte. Mir scheint überhaupt, daß sich das Golfproblem letztendlich - trotz aller früheren Rückschläge - unter einem gesamtarabischen Dach am ehesten lösen ließe. Lösungsansätze, die von dort kommen, würden in der arabisch-islamischen Welt vermutlich eher als rein westliche Vorschläge angenommen. Eine direkte Übertragung westlicher Modelle ist bei den Arabern stets auf Ablehnung gestoßen. Besonders sicherheitspolitische Konzepte, sogenannte neue regionale Sicherheitsstrukturen, die direkt an westliche Strukturen angebunden sind, stoßen im Zeichen islamischer Rückbesinnung auf immer stärkere Bedenken. Die Araber wollen vom Westen nicht bevormundet sein. Da gibt es noch viele Ressentiments aus der Kolonialzeit. Abschließend darf ich sagen: Alle Länder, die westlichen, die östlichen, die arabischen und die blockfreien, sind sich erfreulich einig in der Kuwait-Frage und in der Forderung nach einer Räumung Kuwaits. Deshalb muß der Irak nachgeben, alle Geiseln umgehend freilassen und die besetzten Gebiete räumen. ({17}) Erst dann kann verhandelt werden: über einen Friedensplan für die gesamte Golfregion, der auch die Probleme Israels, der Palästinenser und des Libanon einschließt. Unsere Fraktion wird alles in ihrer Macht Stehende tun, damit ein solch umfassender Friedensplan gelingen kann. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fraktionen DIE GRÜNEN/Bündnis 90 hat am vorigen Donnerstag diese Sondersitzung des Deutschen Bundestages beantragt, weil die Kriegsgefahr im Nahen Osten täglich wächst. Die von uns begrüßte Reise Willy Brandts für die Befreiung der Geiseln, ({0}) aber auch für eine friedliche Lösung ist von der Bundesregierung nicht unterstützt, sondern eher distanziert und hämisch kommentiert worden. Die Regierung wollte auch diese Debatte am liebsten gar nicht, und die Regierungsfraktionen haben sich bisher zu diesem Thema ausgeschwiegen. Die Bundesrepublik ist nicht nur durch das Schicksal der Geiseln im Irak direkt wie indirekt betroffen. Sie ist als jahrelanger Lieferant von Technologien und Waffen, übrigens auch aus dem Gebiet der früheren DDR, für die Entwicklung zum Krieg am Golf mitverantwortlich. ({1}) Die Bundesregierung unterstützt bis heute den Militäraufmarsch in Saudi-Arabien logistisch und finanziell. Sie beeilt sich, wie gestern und vorgestern wieder, den US-Streitkräften rollendes Material aus Beständen der Bundeswehr und der NVA anzudienen. Zuverlässigkeit gegenüber dem amerikanischen Verbündeten ist ihr wichtiger als eigenständige Friedensinitiativen. ({2}) Darüber hat es bisher in diesem Hause keine demokratische Debatte gegeben, auch nicht darüber, warum sich die Regierung mit Friedensbemühungen so zurückhält. Zu lange haben wir der Regierung und den militärischen Planungsstäben das Handeln überlassen. Weil wir hier nicht debattieren, gibt es einen Gewöhnungseffekt, wird die täglich bedrohlicher werdende Situation passiv hingenommen. Wir erleben in unserem Volk schweigend, wie sich eine Situation aufbaut und zuspitzt, die aus vielerlei Gründen ein kriegerisches Inferno der Waffen nach sich ziehen kann. Ganz offen wird in unseren Zeitungen über den Zeitpunkt und den Einsatz von Chemie- und Atomwaffen diskutiert, als ob es Hiroshima und die GasToten im irakisch-iranischen Krieg nicht gegeben, als ob es den amerikanischen Krieg in Vietnam und den russischen in Afghanistan nicht gegeben hätte. Glauben die Amerikaner denn wirklich, daß sie mit einem solchen Krieg langfristig friedliche Strukturen in dieser Region schaffen können? Bevor ich meine Argumentation fortsetze, möchte ich feststellen: Die militärische Annexion Kuwaits durch Saddam Hussein ist ein Verbrechen gegen das Völkerrecht. Sie muß rückgängig gemacht werden. ({3}) Wir wollen auch nicht vergessen, daß Saddam Hussein, dessen Regime faschistische Züge aufweist, in einem Feldzug gegen die kurdische Bevölkerung bedenkenlos Giftgas eingesetzt hat. Auch wenn wir alle hier im Haus diese Einschätzung teilen, kommen wir um die Beantwortung der Frage nicht herum, ob der militärische Aufmarsch, ob der Krieg als Mittel zur Lösung von Konflikten, speziell dieses Konfliktes, erlaubt sein darf. Ich trage Ihnen vier Argumente gegen diesen Krieg vor. Erstens. Wer auf einen militärischen Aufmarsch setzt, wer den Krieg einkalkuliert, nimmt in Kauf, daß vor allem die Zivilbevölkerung - Frauen, Kinder, Männer, alte Menschen - die größten Opfer zu bringen hat. Das war bisher in allen Kriegen so. Warum sollte es im Nahen Osten anders sein? Im Krieg kommen auf viehische Weise Tausende und Zehntausende junger Menschen als Soldaten um. Wer mit dem Krieg spielt, nimmt das billigend in Kauf. Ich frage Sie, ob das Öl, die Interessen der Industrienationen, die Macht der Ersten Welt, die Interessen des Großkapitals, das so oder so seine Gewinne hat, wichtiger sein dürfen als das Leben so vieler Menschen. Zweitens. Krieg im Nahen Osten bedeutet mit Sicherheit die Zerstörung der größten Erdölfelder der Welt. Sie werden brennen. Das ist eine Umweltkatastrophe im Ausmaß von Supergaus; von Gas und Gift rede ich noch gar nicht. Hier kämpfen wir gegen die Klimakatastrophe, für die Absenkung der CO2-Emissionen, und dort - man geht das Risiko ein - soll mit einem Schlag mehr CO2 in die Atmosphäre abgegeben werden als in den letzten hundert Jahren zusammengenommen. Ich frage Sie: Wollen wir das hinnehmen? Drittens. Für wen und was gehen wir dieses militärische Risiko ein? Mit dem Krieg werden bestenfalls die alten feudalen und fanatisch fundamentalistischen Regime wieder an die Macht gebracht: ein kriegerischer Aufmarsch, um die Ölscheichs wieder in ihre alten Rechte zu setzen. Ich frage Sie: Glauben Sie ernsthaft an eine Demokratisierung dieser Region durch Krieg? Viertens. Krieg und Gewalt als Antwort auf einen Gewalttäter ist die unintelligenteste Antwort, eine Bankrotterklärung der führenden Politiker der westlichen Welt. ({4}) Das alte Regime der Krisenbewältigung, Gewalt und Krieg als Ultima ratio, lebt fort. Ich stelle hier fest: Die Bundesregierung war billigend an der militärischen Aufrüstung dieser Region in gewaltigem Umfang beteiligt. ({5}) Die Bundesregierung ist heute nicht bereit oder nicht in der Lage, den eigenen Waffenexport, wohin auch immer, zu beenden. Ich frage Sie von der Regierungsseite: Bleibt Ihnen vielleicht gar keine andere Möglichkeit als die, mit der großen Keule Krieg die eigene Verstrickung zu überdecken? Präsident Bush hat in diesen Tagen erklärt: „Einen Kompromiß kann es nicht geben. Dem Kerl gehört eins auf die Nase." Das ist die alte Männerlogik, die wir ablehnen. ({6}) Wir leben trotz in Gang gekommener Abrüstung mit menschlich unbegreifbaren zerstörerischen Waffentechnologien. Wir begrüßen es als einen Fortschritt, daß es nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes zum erstenmal gelungen ist, im Sicherheitsrat der UNO Einigkeit in der Beurteilung der irakischen Aggression zu erzielen. In der weltweiten Allianz gegen Hussein wird die Chance sichtbar, neue und friedliche Wege zur Lösung regionaler Konflikte für die ganze Menschheit zu finden. Wer wie die Amerikaner und alle, die sie unterstützen, auf die Logik des Krieges setzt, will über die alten Muster der Konfliktlösung nicht hinaus. Das aber hat auch seinen Grund; das wurde schon verschiedentlich angesprochen. ({7}) NATO und USA schließen aus dem Ende des Ost-West-Konflikts folgendes. Frieden durch Abschrekkung war in Europa erfolgreich. Jetzt soll diese fragwürdige Erfolgsstrategie - bei Frau Geiger kam das auch sehr deutlich zum Ausdruck - in den Nahen Osten übertragen werden. Tatsache aber ist, daß sie mit diesem bloß militärstrategischen Denken den alten Rüstungswahnsinn in eine neue Runde jagen, statt endlich von ihm loszukommen. Weil Sie von der Regierung das so sehen, kommen von Ihnen bisher auch keine Initiativen zur Friedenslösung und gegen den Rüstungsexport. Für diese Politik brauchen Sie auch die illustre Gesellschaft deutscher Unternehmer, die als Stützen der bundesrepublikanischen Gesellschaft und als Garanten so vieler Arbeitsplätze in der Liste der Ausstatter Saddam Husseins auftauchen. In diesem Zusammenhang möchte ich nebenbei anmerken, daß sich Arbeiter, die mit dem Bau von Panzern oder der Produktion von Giftgasanlagen ihr Geld verdienen, darüber klarwerden müssen, daß auch sie für einen möglichen Krieg mitverantwortlich sind. ({8}) Wir haben überhaupt nichts dagegen, wenn solche Arbeitsplätze wegfallen. Ich will Ihnen und allen Bürgern draußen im Lande von dieser Stelle aus wichtige Namen aus der langen Liste von Unternehmen vorlesen. Sie sollen wissen, wer am Krieg im Nahen Osten, am Sterben und Morden mit deutschen Waffen verdient und zu verdienen gedenkt. Im Bereich Raketen, Hubschrauber, Nukleartechnik und Militärforschung sind unter anderem beteiligt: MBB, München, Leifeld, Ahlen, Gildemeister-Projekte, Bielefeld, Degussa, Frankfurt/Main, Carl Zeiss, Heidenheim, Deutsche BP, Hamburg, Mauserwerke, Oberndorf, Rheinmetall, Neuss, Metallform, Drensteinfurt, NUKEM, Hanau, Saarstahl, Völklingen. Waffen und Munitionsanlagen, Systeme für biologische und chemische Kampfstoffe liefern: Karl Kolb, Dreieich, Pilot Planet, Preussag, Hannover, Ferrostaal, Essen, Buderus, Essen, Klöckner, Duisburg, Mannesmann Demag, Duisburg, Züblin, Stuttgart, ABB, Mannheim, ASCO Umformtechnik, Coburg, AEG, Frankfurt, Thyssen, Düsseldorf, Siemens, München, Dynamit Nobel, Troisdorf. Transportsysteme liefern: FAUN, Lauf, MAN, München, Iveco, Ulm, Magirus/Daimler-Benz, Stuttgart. Ich vergesse nie, was mein Vater, der als 18jähriger Mann 1916 in den Ersten Weltkrieg mußte, mir erzählt hat: Der Rüstungskonzern Krupp hat im Ersten Weltkrieg auch Zünder für Handgranaten über die Schweiz an die französische Armee geliefert, die dann auf deutsche Soldaten geworfen wurden. Wen wundert es da eigentlich, wenn ich, wenn die GRÜNEN angesichts dieser geschichtlichen Erfahrung, dieser langen aktuellen Liste deutscher Firmen und der Untätigkeit der Bundesregierung die Soldaten der Bundeswehr in einem Flugblatt auffordern, sich nicht als Kanonenfutter mißbrauchen zu lassen. ({9}) den Kriegsdienst zu verweigern und, falls sie in das Nahostgebiet geschickt werden, zu desertieren. In antimilitaristischer, pazifistischer Tradition bekräftige ich, Willi Hoss, von dieser Stelle aus diesen Aufruf. ({10}) Der deutschlandpolitische Sprecher der CSU, Lowack, der vorhin hier noch saß, hat uns vorgeworfen, wir würden den Amerikanern damit in den Rücken fallen. Dazu sage ich: In diesem Punkt des militärischen Aufmarsches in Nahost wollen wir den Amerikanern in den Arm fallen. ({11}) Sie werden sich noch wundern, welchen Einfluß wir GRÜNEN in dieser Frage auf die jungen Leute haben.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmude?

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gerade so im Gange. Wenn Sie mich jetzt nicht stören würden, wäre ich Ihnen dankbar. Ich bin sonst gerne bereit, Fragen zu beantworten. Die neugewonnene Souveränität muß vor allem eine Verpflichtung zum Frieden und gegen Abschreckungs- und militärisches Feindbilddenken sein. Wir stellen uns durchaus die Frage, auf welche Weise sich die neue deutsche Republik sowohl im Rahmen der KSZE als auch im Rahmen der UNO an Friedensaktionen beteiligen kann. Was derzeit aber in Nahost geschieht, läuft darauf hinaus, die UNO durch eine Großmacht auszumanövrieren und sie zu mißbrauchen. Der Kanzler, Bundesverteidigungsminister Stoltenberg und NATO-Chef Wörner sehen in der neugewonnenen Souveränität die Möglichkeit zur Verteidigung vermeintlich vitaler westlicher Interessen außerhalb unseres Bündnisgebiets. Der Kanzler hat schon angekündigt, daß der neue Bundestag militärische Einsätze der Bundeswehr außerhalb des NATO-Vertrages gesetzlich legitimieren soll. Die SPD hat in dieser Frage bisher keine mich befriedigende präzise Haltung. Ich freue mich daher über Kollegen wie Hermann Scheer, der eine klare Sprache spricht. Er lehnt wie wir GRÜNE jede Grundgesetzänderung, die solche Einsätze ermöglicht, ebenso ab wie alle Änderungen am NATO-Vertrag mit dem Ziel, das Einsatzgebiet durch Aufnahme neuer Mitglieder, z. B. aus dem Nahostraum, zu erweitern. Wir GRÜNEN werden mit aller Kraft jede Grundgesetzänderung dieser Art bekämpfen. Wir wollen keine deutschen Soldaten, in keinem Krieg, an keiner Stelle der Welt. ({0}) Das ist die Lehre, die wir ohne Einschränkung aus zwei Kriegen ziehen. Unsere Vorschläge und Forderungen zur friedlichen Lösung, die Ausdauer, Geduld, Zeit und unbedingte Friedensliebe voraussetzen, sind: erstens in jeder geeigneten Weise auf den amerikanischen Präsidenten einzuwirken, von einer militärischen Intervention in Kuwait oder dem Irak Abstand zu nehmen und die US-Truppenpräsenz nicht auf-, sondern abzubauen. ({1}) Zweitens: Fortsetzung der konsequenten und international verbindlichen, aber human gehandhabten UNO-Boykottpolitik gegen den Irak. Drittens: Aufnahme von Gesprächen durch eine Parlamentsdelegation mit der irakischen Seite, die die Freilassung aller Geiseln betreffen, und Sondierung von Friedenslösungen. Viertens: Unterstützung einer internationalen Nahostkonferenz zur Lösung des Irak-Konfliktes, die aber auch die Forderungen der Palästinenser auf Autonomie und die Anerkennung Israels durch die arabischen Staaten thematisiert und den Nahen Osten zu einer ABC-Waffen-freien Zone macht. Fünftens und letztens: Verbot jeglicher Rüstungsexporte. Am Rüstungsexport beteiligte Firmen, Regierungsmitglieder und Beamte, die ihre Pflichten verletzt haben, werden zur Verantwortung gezogen. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Kaufmann. ({0}) - Sie kommen schon noch dran, Herr Wüppesahl. Bitte schön, Frau Kaufmann.

Dr. Sylvia Yvonne Kaufmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001075, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist in der Tat so: Im Grunde sitzen wir alle auf einem Pulverfaß, auch wenn es sich ein paar tausend Kilometer fernab in der arabischen Wüste befindet. Ein Funke, eine unbedachte Handlung oder ein Computerfehler genügt, und alles fliegt in die Luft. Tausende unschuldige Menschen, Araber, Israelis und Amerikaner, Deutsche und Geiseln anderer Nationen, sterben. Was wären die ökonomischen und die sozialen Folgen eines Kriegs am Golf für uns Deutsche? - Eine Preislawine in allen Bereichen des täglichen Lebens mit allen negativen Folgen für die Wirtschaft, die eine Ölpreisexplosion nach sich zieht. Angesichts dessen finde ich es schon sehr ungewöhnlich, daß man auf diese Konsequenzen so selten hinweist, wenn man zur gleichen Zeit vollmundig der Militärpräsenz am Golf und überdies einer militärischen Offensiv- und Angriffsstrategie gegen den Irak das Wort redet. Meine Damen und Herren, die Lage am Golf wird immer unkalkulierbarer, immer unbeherrschbarer. Mit der Entscheidung des US-Präsidenten, die Truppenpräsenz zu verdoppeln, um eine Angriffsfähigkeit zu schaffen, hat der Konflikt eine neue, höchst gefährliche Dimension erreicht. US-Generäle am Golf sprechen von einer baldigen Offensive, von einem „new ballgame", nur etwas schwieriger als der Vietnamkrieg. Angesichts dieses Säbelrasselns gerät - das ist neu - selbst die internationale Koalition gegen den Irak ins Wanken. Auch in den USA wächst die Kritik an der neuen Offensivstrategie des Präsidenten. Bush sei der Nation eine Erklärung schuldig, weshalb Kuwait für die USA von lebenswichtigem Interesse sei, so wird z. B. selbst von Senator Nunn hinterfragt. Auf seiner jüngsten Nahostreise mußte sich Außenminister Baker in Bahrain, Saudi-Arabien, Ägypten und in der Türkei fragen lassen, ob den UNO-Sanktionsbeschlüssen nicht mehr Zeit gegeben werden müßte, damit sie überhaupt greifen könnten. - Genau das ist der Punkt, der die Absurdität der amerikanischen Kriegsstrategie verdeutlicht. Sie soll offenbar eine - gewiß schwierige, aber dennoch mögliche und notwendige - diplomatische Verhandlungslösung des Konflikts verhindern. ({0}) Meine Damen und Herren, die PDS hat sich von Anfang an klar gegen die Annexion Kuwaits durch den Irak ausgesprochen, die Wiederherstellung der staatlichen Souveränität und Integrität Kuwaits gefordert und die diesbezüglichen UNO-Beschlüsse unterstützt. Man kann aber - auch dies habe ich bereits vor der Volkskammer erklärt - den Golfkonflikt nicht losgelöst vom Nahostkonflikt als Ganzem betrachten und behandeln. Das heißt: Für die Wiederherstellung eines souveränen Kuwait einzutreten, ohne gleichzeitig auch die Durchsetzung des Rechts der Palästinenser auf einen eigenen Staat einzuklagen, ist einfach unehrlich und einer dauerhaften und gerechten Lösung des Nahostkonflikts höchst abträglich. ({1}) Wenn es wirklich um die Durchsetzung des Völkerrechts, um Selbstbestimmungsrecht und Menschenrechte geht, dann darf man auch nicht darin nachlassen, mit der gleichen Konsequenz von Israel zu fordern, die unrechtmäßige Okkupation arabischer Gebiete zu beenden. Meine Damen und Herren, die PDS tritt dafür ein, daß es nur eine politische Bewältigung des Golfkonflikts geben darf. Eine militärische Offensivlösung lehnen wir ebenso wie das bisherige militärische Überengagement der USA in der Region entschieden ab. Lassen Sie mich hier anfügen: Eine stillschweigende oder ausdrückliche Zustimmung der außenpolitisch handlungsbegrenzten Sowjetunion zur offensiven Anwendung militärischer Gewalt am Golf wäre für mich weder ein Argument noch ein Alibi für einen westlichen Angriff gegen den Irak. Meine Damen und Herren, eine Militarisierung des Nord-Süd-Konflikts - dies ist genau das, was hier passiert und wozu der Golfkonflikt mißbraucht zu werden scheint - kann das bewerkstelligen, was der Ost-West-Konflikt glücklicherweise nicht zuwege gebracht hat: uns alle in eine ökonomische, soziale und ökologische Katastrophe zu führen. Wer ist denn verantwortlich für die Militarisierung der Dritten Welt? - Es sind doch die Staaten der nördlichen Hemisphäre, die Waffen und Kriegsgerät geliefert haben. Es waren doch auch deutsche Unternehmen, die in ihrer Profitgier dazu beitrugen, daß der Irak heute mit Giftgas drohen kann. ({2}) Es ist französisches und auch sowjetisches Kriegsgerät, das mithalf, den Irak bis an die Zähne zu bewaffnen. Nun wird es zum Bumerang. Meine Damen und Herren, worauf kommt es heute und morgen an? - Grundlegende Veränderungen im Zusammenleben von Nord und Süd sind das Gebot der Stunde. Politische, nicht militärische Konzepte zur Krisenbewältigung müssen her. Neue globale Sicherheitsstrukturen müssen geschaffen werden, begin18852 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 235. Sitzung. Bonn, Donnerstag den 15. November 1990 nend mit einem sofortigen, umfassenden und überprüfbaren Exportverbot für jedwede Rüstung in die Dritte Welt. Um die Probleme aber bei der Wuzel zu packen, müssen eine neue Weltwirtschafts- und Weltökologieordnung entwickelt werden. Das bislang für die Rüstung verschleuderte Geld wird benötigt, um die dringendsten ökonomischen, sozialen und ökologischen Deformationen sowohl in den Industrie- als auch in den Entwicklungsländern zu beseitigen. Meine Damen und Herren, bedauerlicherweise vermag ich nicht zu erkennen, daß, abgesehen vom persönlichen Engagement Willy Brandts zur Geiselbefreiung - das wir nachdrücklichst unterstützen -, dem Handeln der Bundesregierung im Golf ein durchschaubares politisches Konzept zugrunde liegt. Man gewinnt eher den Eindruck, daß sich die Bundesregierung damit begnügen will, im Golf die kostenaufwendige Rolle eines Hilfssheriffs zu spielen. So habe ich mir, ehrlich gesagt, den Eintritt des vereinten Deutschland in die Weltpolitik nicht vorgestellt. ({3}) Hinter verschlossenen Türen wird, wie „Die Welt" vorgestern berichtete, die Bundeswehr bereits personell, materiell und strukturell auf Auslandseinsätze in Konfliktgebieten vorbereitet, obwohl dies das Grundgesetz eindeutig verbietet. Mit uns, meine Damen und Herren, ist das nicht zu machen! Keine deutschen Soldaten in den Golf, in den Südosten oder, wie auch gefordert wurde, in einen sogenannten Hinterhof Europas, und dann vielleicht noch mit NVA-Kriegstechnik als Vorauskommando. Dieses Sicherheitsdenken ist anachronistisch und selbstmörderisch zugleich. Die Zeichen der Zeit stehen auf „radikale Abrüstung". Deutschlands weltpolitische Rolle kann und muß darin bestehen, Initiator und Motor der vollständigen Abrüstung zu werden. Radikale Abrüstung, Entnuklearisierung und Entmilitarisierung gehören daher als Staatsziel in eine neue deutsche Verfassung. Eine dementsprechende Politik muß endlich in Angriff genommen werden. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({4})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort zur Geschäftordnung hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl. Herr Abgeordneter Wüppesahl, Sie können nur zur Geschäftsordnung und nicht zu einem Entschließungsantrag sprechen, der dem Parlament weder vorliegt noch eingereicht worden ist.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte mich an das übliche Procedere für die Begründung von Geschäftsordnungsanträgen. Sie wissen, daß ich als Unabhängiger mit Fraktionslosenstatus einige Probleme in meiner Arbeit habe. Heute stehe ich vor einem, dem Sie abhelfen können. Ich habe einen Entschließungsantrag formuliert. Entschließungsanträge können nach der gültigen Geschäftsordnung des Bundestages nur von einer Fraktion eingebracht werden, mit einer Ausnahmeregelung, die in der Geschäftsordnung ebenfalls verankert ist. Der Text dieses Entschließungsantrags lautet: Der Deutsche Bundestag begrüßt es, wenn sich Mitglieder des Deutschen Bundestages sowie deutsche Abgeordnete des Europäischen Parlaments und Abgeordnete anderer nationalen Parlamente aus möglichst allen Fraktionen und Gruppen sowie fraktionslose Abgeordnete zur Verhinderung eines Krieges in den Irak und nach Kuwait fahren und sich dort aufhalten. Das ist der Wortlaut meines Entschließungsantrags. Ich denke, nach den Ausführungen, die wir von dem Kollegen Brandt, von dem Kollegen Hoss und von Frau Dr. Kaufmann von der PDS gehört haben, ist die Einschätzung hier im Hause überdeutlich, daß die Zeituhr, wie Kollege Brandt formulierte, immer lauter tickt und daß die Vorbereitung für eine militärische Auseinandersetzung auf Hochtouren läuft. Ich denke, auch deshalb hat sich die SPD-Fraktion - nachdem die GRÜNEN eine Sondersitzung zu diesem Thema bereits beantragt hatten - noch etwas intensiver, als es die GRÜNEN tun, überlegt, ob sie eine Sondersitzung des Bundestages beantragen und uns für den heutigen Tag zusammenrufen läßt.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Wüppesahl, bitte beschränken Sie sich auf Ihren Antrag zur Geschäftsordnung.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich tue das, Herr Stücklen, selbstverständlich. Wenn es so ist, daß, entgegen den Einschätzungen, möglicherweise in den nächsten Wochen eine solche Auseinandersetzung denkbar ist, dann geht es bei dem festen Willen, auch in den USA, nicht ohne Gesichtsverlust, die Truppen wieder abzuziehen und vor allen Dingen die innenpolitische Rechtfertigung für den Truppenaufmarsch am Golf nicht zu haben. Wir haben kaum noch Möglichkeiten, darauf einzuwirken. Aber wir haben erlebt, daß mit Frau Geiger eine Rednerin nach vorne geschickt wurde, die nicht, wie bei dem vorherigen Tagesordnungspunkt, die Ebene darstellt, die der Krise am Golf angemessen ist.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Wüppesahl, ich ermahne Sie zum zweitenmal. Sie haben das Wort zur Geschäftsordnung bekommen. Stellen Sie bitte Ihren Antrag zur Geschäftsordnung.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Ich stelle den Antrag und begründe ihn gerade. Aus diesen Gründen denke ich, daß der Aufenthalt einer solchen Abgeordnetengruppe im Irak und auch in Kuwait dazu angetan wäre, die USA nicht militärisch losschlagen zu lassen. Es ist eine andere Frage und jeder muß es für sich selbst in Abstimmung mit seiner Familie und mit seinen politischen Freunden und Freundinnen entscheiden, ob er dieses Wagnis eingehen will. Nur, bei den geringen Möglichkeiten, die noch zur Verfügung stehen, ist dies wahrscheinlich die letzte effektive Möglichkeit, und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem man es als realistisch annehWüppesahl men kann, daß dort eine militärische Auseinandersetzung erfolgen wird. Ich bitte Sie daher, mit einer Zweidrittelmehrheit nicht dem Antrag zuzustimmen, sondern die Abstimmung über den Antrag im Plenum des Deutschen Bundestages zu ermöglichen. Ich brauche jetzt eine Zweidrittelmehrheit, damit über diesen Entschließungsantrag überhaupt inhaltlich abgestimmt werden kann. Ich denke, es wäre auch ein Stück demokratischer Kultur, daß man den Vorschlag, den ich hier unterbreite, nicht mit Geschäftsordnungsregeln vom Tisch zu wischen versucht, ({0}) sondern daß man eine inhaltlich-substantielle Abstimmung darüber ermöglicht. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, Herr Abgeordneter Wüppesahl hat den Antrag gestellt, gemäß § 126 der Geschäftsordnung - Abweichungen von dieser Geschäftsordnung - über einen Entschließungsantrag, den er vorgelesen hat, abzustimmen. Ich stelle diesen Antrag des Herrn Abgeordneten Wüppesahl zur Abstimmung. Wer für diesen Antrag nach § 126 von der Geschäftsordnung abzuweichen, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist bei einigen Enthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt. Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen das Wort.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann der Analyse und der Beurteilung, die der Herr Kollege Brandt hier zur Lage in der Golfregion gegeben hat, zustimmen. Wir sind uns alle darüber im klaren, daß wir der ersten Herausforderung gegenüberstehen, die nach dem großen europäischen Friedensschluß nunmehr der Weltfrieden bekommen hat. Mehrere Kollegen haben von einer Kriegsgefahr im Golfkonflikt gesprochen. Ich möchte weitergehen. Am Anfang des Konflikts stand ein Krieg, der Krieg des Irak gegen Kuwait. Die widerrechtliche Besetzung eines kleinen Landes durch ein großes macht noch nicht aus einem Krieg eine Friedensaktion, weil diese Besetzung relativ schnell vonstatten gehen kann. Ein Krieg stand also am Anfang dieser Entwicklung. Die Frage ist, ob der Krieg ausgeweitet wird; vor dieser Frage stehen wir. Wir haben in Europa erlebt, daß ein wirklicher europäischer Friedensschluß möglich wurde. Wir sind uns bewußt, daß das auch Wirkungen auf die Lage in der Golfregion hat. Es ist nicht auszudenken, wenn dasselbe in der Zeit des kalten Krieges geschehen wäre. Dann ginge es nicht mehr um die Frage einer Ausweitung des Krieges in der Region; wir stünden heute an der Schwelle zu einem Weltkrieg. Auf der anderen Seite darf dieser europäische Friedensschluß nicht die Wirkung haben, daß nun ein Krieg außerhalb Europas leichter wird. Der europäische Friedensschluß muß vielmehr dazu genutzt werden, das Friedensgebot, das die europäische Politik in West und Ost beherrscht, nunmehr auf die Welt auszudehnen. Man kann sagen, daß die Haltung der Staaten aus allen Teilen der Welt im Weltsicherheitsrat ermutigend ist. Ich würde das Zusammenwirken zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten in seiner Bedeutung nicht geringschätzen. Ich denke, Präsident Gorbatschow - der Bundeskanzler hat das heute morgen ja schon zitiert - hat recht, wenn er sagt: Wir müssen einig bleiben. Möge niemand darauf zu setzen versuchen, diese Einheit durch Keiletreiben zu untergraben. - Worüber müssen wir einig sein? Worin müssen wir einig bleiben? Erstens darin, daß Menschen, die gegen ihren Willen festgehalten werden, unverzüglich und bedingungslos, ohne daß dafür eine Gegenleistung verlangt wird, freigelassen werden. ({0}) Wir müssen auch einig bleiben, daß der Krieg des Irak - übrigens nicht der erste Krieg, den der Irak begonnen hat; der erste fand gegen Iran statt; und mancher, der sich heute vom Irak bedroht fühlt, hat damals im Irak ein Mittel und Instrument gesehen, den Iran zu bekämpfen; die Hochrüstung des Irak ist ja aus Quellen finanziert worden, die sich heute durch diese Hochrüstung unmittelbar bedroht fühlen - ({1}) Also, es muß darum gehen, den Irak zu veranlassen, die Besetzung Kuwaits zu beenden. Wir wollen auch darin einig sein, daß wir alle Mittel - alle Mittel! - der friedlichen Lösung auszuschöpfen haben, wenn wir uns einig sind, daß das nicht bedeuten kann, daß durch Zeitablauf die Weltgemeinschaft bereit ist, einen Preis für Aggression zu zahlen. Einen Preis für Aggression darf es nicht geben. ({2}) Wenn wir also entschlossen sind, diesen Weg der friedlichen Lösung zu gehen, so müssen wir prüfen, ob alle friedlichen Mittel angewandt sind. Es ist richtig: Die Sanktionen wirken. Sie wirken auch in einem Bereich, der für die Unterhaltung einer modernen Militärmaschine wichtig ist. Ob sie umfassend wirken, darüber kann man streiten; - zur See sicher, in der Luft auch, ob zu Lande, daran darf man Zweifel anmelden. Wenn diejenigen Länder, die sich dazu verpflichtet haben, die Sanktionen der Vereinten Nationen als Nachbarn durchzuführen, in irgendeiner Weise von anderen Unterstützung haben wollen, um ihre Grenzen zu kontrollieren, sollte sich dem ein anderer nicht entziehen - vielleicht Staaten aus der Region in erster Linie, nicht andere. Da ist von uns aus das gesagt worden, was unsere Verfassung zuläßt und was nicht. Einheit ist also gefordert. Nur, wenn sich diese Einheit bei der jetzigen Haltung, wie sie vom Sicherheitsrat festgelegt wurde, auch bei künftigen Schritten bewährt, werden wir das Mittel der friedlichen Beendigung erfolgreich einsetzen können und zugleich jedem künftigen Aggressor deutlich machen: Er kann nicht auf eine Prämie für Aggression hoffen. Die Frage der Einheit ist nun wahrlich keine Entschuldigung für Untätigkeit, schon gar nicht im humanitären Bereich. Ich fand, daß manche Stimme bei uns, auch politische Stimmen im Ausland, zu Unrecht an der Reise Anstoß genommen haben, die der Kollege Brandt angetreten hat. Wir haben immer die Meinung vertreten: Wenn es darum geht, Menschen zu retten, Menschen die Freiheit zu geben, spricht man mit denen, die, ob zu Recht oder zu Unrecht, Verfügungsgewait über das Schicksal dieser Menschen haben; das ist die Führung im Irak. Man kann das tun, wenn man sich in einer Frage völlig einig ist: Die Verantwortlichkeit für die Lage in der Golfregion und für den Freiheitsentzug an den Ausländern liegt allein bei der Führung im Irak. ({3}) Man hat manchmal den Eindruck, daß Ursache und Wirkung umgedreht werden; das wäre nicht gerechtfertigt. Natürlich haben wir uns auch in der Europäischen Gemeinschaft nicht darauf verpflichtet, keine Bemühungen anzustellen, um Menschen freizubekommen. Mit guten Gründen ist formuliert worden, daß man nicht Verhandlungen führt; denn natürlich kann man das Recht eines Menschen, ein anderes Land zu verlassen, nicht zum Gegenstand einer Verhandlung machen - das war gemeint - , genausowenig wie man die Pflicht des Irak, diese Menschen freizulassen, zum Verhandlungsgegenstand machen kann, und auch nicht die Pflicht, die Besetzung Kuwaits zu beenden. Ich habe das im Kreis der Außenminister der Europäischen Gemeinschaft in Rom und in Brüssel zum Ausdruck gebracht. Ich möchte wiederholen, was ich dort gesagt habe: Die Bundesregierung hat die Anstrengungen und die Bemühungen des Kollegen Brandt nicht nur mit Respekt, sondern mit Dankbarkeit dafür begleitet, daß er Menschen zur Freiheit verholfen hat. Ich wehre mich dagegen, den Erfolg der Reise an der Zahl der Freigelassenen bemessen zu wollen. ({4}) Es ist so, daß wir uns über jeden freuen, der durch einen solchen Schritt seine Freiheit erlangt, und daß wir mit jedem, der diese Freiheit noch nicht erlangt hat, und seiner Familie weiter bangen. Wir haben es in solchen Lagen - es ist nicht das erstemal, daß wir uns einer solchen Situation gegenübersehen - immer so verhalten, und wir werden das auch in Zukunft tun. Ich denke, daß die Lage in der Golfregion Anlaß gibt, auch über manche künftige Entwicklungen nachzudenken, die wir schon heute mit in Betracht ziehen müssen. Wie ist die Zukunft nach der hoffentlich bald stattfindenden Räumung Kuwaits? Sind sich alle Staaten dieser Region wirklich der Verantwortung, die aus ihrem Reichtum resultiert, den sie ihren Ölreserven oder der Zufälligkeit der Ölreserven auf ihrem Gebiet verdanken, dafür bewußt, ob sie diesen Reichtum wirklich richtig einsetzen? Diese Frage wird neu gestellt werden. Das, was heute als Solidaritätsbeiträge von Golfstaaten gewürdigt wird, ist, wie mir scheint, ein Bruchteil dessen, was an Mehrgewinnen durch den erhöhten Ölpreis erzielt wird. Das kann nicht so bleiben ({5}) angesichts der schwierigen Lage in der Golfregion und auch im Nahen Osten. Nicht auszudenken, welche Möglichkeiten für eine friedliche Lösung des Nahostproblems sich ergeben würden, wenn die Ölmilliarden in arabischer Solidarität für die Entwicklung und Stabilität in diesem Gebiet, aber nicht für eine Aufrüstung der Staaten dieses Gebietes verwendet würden! Ich denke, daß hier die arabische Gemeinschaft und die Weltgemeinschaft ihre Verantwortung erkennen müssen, auch bei der Bestimmung der Entwicklung nach dem Konflikt und nach der Krise. Hier liegt auch die Verantwortung der Europäischen Gemeinschaft, die so untätig, wie manche Stimme es hier erscheinen ließ, gerade in der nahöstlichen und mittelöstlichen Region nicht gewesen ist. Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Gemeinschaft gegenüber den Staaten des Maghreb, des Maschrik und gegenüber Israel ist ein Beitrag zur Stabilität in der Region, und dabei Stabilität auch nicht militärisch verstanden, sondern wirtschaftlich und sozial. Wir würden uns wünschen, daß die Staaten der Arabischen Liga wirklich den vom König von Marokko vorgeschlagenen Gipfel besuchen werden, auch der Präsident des Irak, und daß man dort das findet, was eine arabische Lösung genannt wird, was aber in Wahrheit natürlich eine weltpolitische Lösung sein muß, die im Kreise der arabischen Staaten vollendet wird. Die Kraft der arabischen Staaten wird nicht ausreichen, Saddam Hussein zur Umkehr zu bringen. Dazu brauchen sie die Solidarität der Weltgemeinschaft. ({6}) Aber eine Verständigung im Kreise der arabischen Staaten, die dem entspricht, was die Weltgemeinschaft in den Entschließungen des Weltsicherheitsrates gefordert hat, sollte unsere Unterstützung finden. ({7}) Politische Gespräche und Anstrengungen, die in diese Richtung unternommen werden, verdienen Unterstützung. Das haben wir zum politischen Teil der Gespräche des Kollegen Brandt gesagt. Natürlich wollen wir uns ja auch nicht der Möglichkeiten begeben, die in einer parlamentarischen Demokratie dem Parlament zur Verfügung stehen, das manchmal Schritte tun kann, die der Regierung aus ganz anderen Gründen versagt sind. ({8})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Ja, natürlich.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Dr. Ursula Fischer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000557, Fraktion: Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS)

Herr Außenminister, ich habe folgende Frage: Der IPPNW hat hier Anfang Oktober einen Kongreß veranstaltet. Es fand dabei auch eine Sondertagung zum Golfkonflikt statt. Aus dem gesamten Treffen resultierte ein Brief an die Bundesregierung. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, welche Antwort der IPPNW darauf erhalten hat. ({0})

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Dazu müßte mir der Brief jetzt vorliegen. Dann könnte ich ihn vielleicht sogar mündlich beantworten. Nur, mir ist nur Redezeit, aber keine Lesezeit eingeräumt worden. ({0}) - Danke schön. Ich werde Ihnen gern eine Antwort darauf geben. Ich möchte übrigens an die Adresse Ihrer Kollegin, die sich hier zur Bundeswehr geäußert hat und die die Bundeswehr in die Nähe von Armeen gebracht hat, die in Europa intervenieren könnten, sagen: Ich wäre vorsichtig mit solchen Bemerkungen, solange nicht aufgearbeitet ist, wer die Verantwortung dafür trägt, daß NVA-Streitkräfte 1968 zur Niederschlagung der Freiheitsrevolution in der CSSR eingesetzt worden sind. ({1}) Meine Damen und Herren, ich denke, daß die heutige Debatte gezeigt hat, daß wir in unserem Mitgefühl mit den Geiseln und ihren Angehörigen übereinstimmen und daß auch Übereinstimmung darüber besteht, daß diese Menschen freigelassen werden sollen. Herr Kollege Brandt, ich habe es als Ausdruck europäischer Solidarität und nicht als Ausdruck des Gegenteils empfunden, daß Sie sich auch für die Geiseln aus anderen Staaten eingesetzt haben. Ich hätte mir gewünscht, daß alle Reisenden nach Bagdad das mit der gleichen Energie getan hätten. ({2}) Wir stimmen darin überein, daß die Besetzung Kuwaits beendet werden soll. Wir stimmen wohl auch darin überein, daß alles, aber auch alles dafür getan werden muß, daß es keinen Preis für Aggression gibt und daß wir das mit friedlichen Mitteln durchsetzen. Wir werden gemeinsam wohl auch dazu beitragen müssen, in der Golfregion und im Nahen Osten Strukturen zu schaffen, die Bestand haben. Wenn wir der Aggression gegen Kuwait widerstehen, dann sagen wir: Hier geht es um die Souveränität der Staaten. Hier geht es um die Unabhängigkeit der Staaten. Hier geht es um die Absage an Krieg. Aber um die Verteidigung der Freiheit geht es dabei noch nicht, bevor nicht auch die Menschen in dieser Region ihren Freiheitswillen selbst durch freie Wahlen ausdrücken können. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich schließe die Aussprache. Die Entschließungsanträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 auf den Drucksachen 11/8446, 11/8442 und 11/8445 sollen an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Gibt es andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Damit ist die Überweisung so beschlossen. Ich darf darauf hinweisen, daß die Fraktion DIE GRÜNEN/Bündnis 90 ihren Entschließungsantrag auf Drucksache 11/8438 zurückgezogen hat. Meine Damen und Herren, wir sind am Schluß unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestags auf Donnerstag, den 22. November 1990, 10 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.