Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu unserer heutigen Sitzung, in der wir den Gesetzentwurf zu dem Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik beraten, begrüße ich ganz herzlich den Herrn Bundespräsidenten, der auf der Tribüne Platz genommen hat.
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Ich begrüße ebenfalls die Präsidentin der Volkskammer, Frau Dr. Bergmann-Pohl, sowie die Mitglieder des Ausschusses Deutsche Einheit der Volkskammer der DDR.
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Ich möchte Sie im Namen aller Kolleginnen und Kollegen zu diesem ersten Besuch im Deutschen Bundestag herzlich willkommen heißen. Sie werden am Nachmittag in gemeinsamer Sitzung mit dem Ausschuß Deutsche Einheit des Deutschen Bundestages den Staatsvertrag zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion beraten. Unsere gemeinsame Aufgabe wird es sein, als die gewählten Vertretungen des souveränen Volkes der besonderen Verantwortung im deutschen Einigungsprozeß gerecht zu werden. Zur Erreichung dieses Zieles wünsche ich Ihnen und uns eine erfolgreiche Arbeit.
Meine Damen und Herren, Herr Kollege Dr. Köhler ({2}) feierte am 20. Mai seinen 60. Geburtstag. Ich gratuliere ihm im Namen des Hauses herzlich und wünsche alles Gute.
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Interfraktionell ist vereinbart worden, bei Tagesordnungspunkt 2 von der Frist für die Beratung abzuweichen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf :
a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 18. Mai 1990 über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik
- Drucksache 11/7171 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß Deutsche Einheit ({4})
Auswärtiger Ausschuß
Innenausschuß
Sportausschuß
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Post und Telekommunikation
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1990 ({5})
- Drucksache 11/7150 -
Überweisung: Haushaltsausschuß
c) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Wirtschaftsplan des ERP-Sondervermögens für das Jahr 1990 ({6})
- Drucksache 11/7185 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({7})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung vier Stunden vorgesehen. - Auch dazu sehe ich keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Präsidentin Dr. Süssmuth
Ich eröffne die Aussprache. Als erstes hat der Bundesminister der Finanzen, Herr Dr. Waigel, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland wollen in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald vollenden. So steht es in der Präambel. Das ist das Ziel des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik, den mein Kollege Romberg und ich am letzten Freitag im Auftrag unserer Regierungen unterzeichnet haben.
Heute, am 41. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beraten wir über ein Vertragswerk, das epochale Daten und Fakten schafft. Der 9. November 1989, der 18. Mai 1990 und der nun greifbar nahe liegende Tag der Vereinigung Deutschlands sind für künftige Generationen der Beginn eines neuen Abschnitts in der deutschen Geschichte.
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Wir wollen in dieser Zeit und an diesem Tag aber auch schmerzhafte Daten nicht vergessen, Daten der schmerzhaften Erinnerung und Mahnung: Der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961 bleiben wichtig. Aber sie werden künftig einer geschichtlichen Periode der Nachkriegszeit zuzurechnen sein, die wir nun endlich überwinden können.
Jetzt findet Deutschland seinen richtigen Platz in der Gemeinschaft der freien, friedliebenden und souveränen Völker. Der beharrliche Kampf um die nationale Einheit, das standhafte Bekenntnis zur westlichen Wertegemeinschaft, zur selbstbewußten Demokratie und zur individuellen Freiheit zahlen sich aus. Unser Land ist gut dafür gerüstet, ein neues, verheißungsvolles Kapitel seiner Geschichte aufzuschlagen. Wir handeln im Auftrag des deutschen Volkes.
Friedliche Demonstrationen haben den Zusammenbruch der verhaßten kommunistischen Diktatur herbeigeführt.
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- Es war das Volk, das diese friedliche, freie Demonstration herbeigeführt hat. ({2})
Jetzt ist es der Wille des deutschen Volkes, der das Handeln der Regierenden bestimmt. Die Menschen in Ost und West wollen die Vereinigung. Die Deutschen in der DDR haben in der ersten demokratischen Wahl auf dem Gebiet der DDR nach 57 Jahren brauner und roter Diktatur für unser Grundgesetz, für unsere freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung gestimmt. Dieser Auftrag war und ist zwischen den Regierungen in Ost und West nicht mehr verhandelbar. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, den Rahmen zu schaffen, in dem sich die Vereinigung zum Vorteil aller Deutschen vollziehen kann.
Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bildet den entscheidenden, unumkehrbaren Schritt auf dem Weg zur staatlichen Einheit Deutschlands. Die Einheit ist eine historische Aufgabe der Deutschen. Wir stehen heute erstmals in der Geschichte unseres Landes vor der Chance, die Einheit in Freiheit zu vollenden.
Angesichts dieser Chance halte ich nichts davon, in dieser Stunde Rechnungen und Gegenrechnungen zu präsentieren, um eine deutschlandpolitische Abrechnung vorzunehmen. Ich darf jedoch einige Anmerkungen machen.
Bei allem Streit über die Ostverträge und über den richtigen Weg zur Beendigung der Nachkriegsgeschichte bestand doch zwischen den großen demokratischen Parteien dieses Hauses Einigkeit im Wunsch, die Ursachen der Spannungen in Europa zu beseitigen. Diese Ursachen liegen nach übereinstimmender Einschätzung in der unnatürlichen Teilung Europas, Deutschlands und Berlins. Dauerhafte Entspannung ist nur möglich durch Überwindung dieser Teilung. Nun ist das möglich.
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Wir standen stets zum verfassungsmäßigen Ziel der Einheit Deutschlands, aber nicht um den Preis der Freiheit. Heute haben wir die Chance der Einheit unseres Vaterlandes in Freiheit und mit fester Bindung an die Wertegemeinschaft des Westens. Das ist für uns gleichbedeutend mit Garantie der Bürgerrechte, parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaat und sozialverpflichteter Marktwirtschaft. Wir müssen die historische Chance nutzen.
Die Geschichte ist ein offener Prozeß, der keiner naturgesetzlichen Entwicklung entspricht. Deshalb war immer klar: Die Herstellung der Einheit Deutschlands ist weder von der Form noch vom Datum her planbar. Die Herstellung der Einheit ist nur möglich, wenn das totalitäre Regime in der DDR beseitigt ist, die Menschen in der DDR auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts mehrheitlich für die Einheit plädieren und unsere Freunde im Westen und unsere Nachbarn im Osten dem Prozeß der Wiedervereinigung ihre Zustimmung geben.
Diese Konstellation ist jetzt gegeben. Die friedliche Revolution in der DDR, das eindeutige Votum am 18. März 1990 bei den Volkskammerwahlen, die übereinstimmende Haltung unserer Freunde und Nachbarn, insbesondere der vier Siegermächte, haben die historische Chance jetzt eröffnet.
Wer den Staatsvertrag platzen lassen will, wer in dieser politischen Konstellation die ökonomische und politische Einheit Deutschlands - aus welchen Gründen auch immer - auf die lange Bank der Geschichte legen will, der verweigert Solidarität, der stellt sich neben den eindeutigen Auftrag unserer Verfassung und der verkennt die Chance des Augenblicks und die Gunst der Stunde.
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Niemand weiß, ob in einigen Jahren die politische Konstellation von heute noch Bestand hat. Die innenBundesminister Dr. Waigel
politische Situation in der DDR ist nach wie vor labil. Niemand vermag vorherzusehen, ob die Reformen im Ostblock von dauerhaftem Bestand sein werden. Und niemand kann mit Sicherheit sagen, ob und wie lange Gorbatschows neues Denken in der Sowjetunion anhalten wird. Deshalb sollte jeder für sich sorgfältig in Rechnung stellen, ob er sein eventuelles Nein heute im Hinblick auf nicht ausschließbare Folgewirkungen verantwortungsethisch im Sinne Max Webers rechtfertigen kann.
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Wer heute nein sagt, sollte überlegen, ob er es politisch und historisch verantworten kann, wenn diese Entscheidung zur dauerhaften Aufrechterhaltung der Spaltung Deutschlands und Europas führt. Wer nach dem 9. November 1989 und nach den Wahlen vom 18. März 1990 noch immer glaubt, ein geregeltes Miteinander, ein geregeltes Nebeneinander und gutnachbarschaftliche Beziehungen auf der Grundlage der Zweistaatlichkeit
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seien ein erfolgversprechendes und realistisches Modell zur Lösung der deutschen Frage, der hat nicht nur die Zeichen der Zeit verkannt, sondern darüber hinaus die tatsächlichen Grundlagen des DDR-Staates mißverstanden. Dieser Staat kann keine Zukunft haben.
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Er hat es in seiner 40jährigen Geschichte trotz sozialistischer Erziehung, Ideologisierung und Indoktrinierung seiner Bürger nicht geschafft, staatliche Identität zu bilden, und ein nationales Bewußtsein zu schaffen. Kein Politiker kann nach den Ereignissen der letzten sechs Monate den ungebrochenen Willen der Deutschen zur Einheit der Nation leugnen. Es ist gut, daß die Spalterflagge bald verschwinden wird.
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- Es ist schon eine unglaubliche Aussage - ich hoffe, das Protokoll kann feststellen, von wem sie ist -, wenn jemand das Bekenntnis zur Einheit in Freiheit mit dem Ausdruck „kalter Krieger" bezeichnet.
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Ich frage den Zwischenrufer: Wollen Sie die Spalterflagge behalten? Dann sagen Sie das bitte hier. Dann weiß das Volk, wofür und wogegen Sie stehen.
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Wer heute die ökonomische und politische Einheit vertagen will, muß sich der internationalen Auswirkungen einer solchen Entscheidung bewußt werden. Was würden die Siegermächte, was würden die Polen und Ungarn, die Engländer und Franzosen, die Russen und die Amerikaner sagen, wenn die Deutschen im Westen jetzt diese historische Chance verspielen würden?
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Hohn und Spott über die Verkümmerung von Nationalbewußtsein und Patriotismus wären ebenso die Folge wie die Erschütterung der Glaubwürdigkeit unserer internationalen Beziehungen. Man kann gewiß historische Chancen nicht erzwingen. Aber wenn sich einmal historische Chancen dieser Dimension ergeben, dann muß die Politik bestimmt diese Chancen ergreifen; denn niemand weiß, ob sie wiederkommen.
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In einem Erlaß an den preußischen Gesandten in München im Jahre 1869 erklärte Otto von Bismarck - ({13})
- Entschuldigung, ich komme auch noch auf Kurt Schumacher.
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Aber eines hatte Kurt Schumacher: ein ungebrochenes Nationalgefühl. Das hatte Kurt Schumacher.
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Es heißt in diesem Erlaß:
Wir können die Uhr vorstellen, die Zeit geht aber deshalb nicht rascher, und die Fähigkeit zu warten, während die Verhältnisse sich entwickeln, ist eine Vorbedingung praktischer Politik.
Diese Feststellung gilt auch umgekehrt: Wer die Uhr künstlich anhalten will, wer das Rad der Geschichte festhalten will, der läuft Gefahr, der verlorengegangenen Chance auf ewig hinterherzulaufen.
({16})
Wer dann zu spät kommt, den bestraft bekanntlich die Geschichte.
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Ich darf um Aufmerksamkeit für den Redner bitten.
Ich kann die Unruhe nur aus der großen Unsicherheit der Sozialdemokratischen Partei heraus erklären.
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Ich möchte auch in ihrer Haut nicht stecken.
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Die gegenwärtige Entwicklung in Deutschland ist ohne historisches Vorbild. Die Revolution von 1848 mißlang, weil die Demokraten damals zuviel auf einmal wollten, nämlich Freiheit, Demokratie und einen großen Nationalstaat.
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Bismarcks Revolution von oben stand unter dem Verdikt von Blut und Eisen. Sie führte zu einem Staat, der sich aus dem ursprünglichen Kräftegleichgewicht in die Isolation manövrierte. Der Versuch eines Neubeginns 1918/19 war belastet durch die Hypothek von Versailles. Er führte schließlich, wie Historiker zutreffend bemerkt haben, zu einer Demokratie ohne Demokraten.
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Heute, 1990, stehen wir vor der Möglichkeit einer Lösung der deutschen Frage in Freiheit mit Zustimmung unserer Partner und Freunde in Ost und West. Dabei besteht keinerlei Gefahr eines Rückfalls in ein machtpolitisches Nationalstaatsdenken.
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Heute können wir auf die Zustimmung unserer Nachbarn bauen, weil sich die großen Ideen des Westens - Freiheit und Selbstbestimmung, Demokratie und Marktwirtschaft - weltweit durchsetzten. Heute erkennen auch unsere Nachbarn im Osten, welche Chancen sich durch die Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas ergeben.
Die Einheit Deutschlands eröffnet erfolgversprechende Zukunftsperspektiven für eine Neuordnung Europas, in deren Mittelpunkt ein grundlegender Wechsel stehen wird: ein Wechsel von der Teilung zur Zusammenarbeit, vom Gegeneinander zum Miteinander, von der Konfrontation zur Kooperation und von der Abgrenzung zum Wettbewerb.
Deshalb möchte ich wiederholen, was Kurt Schumacher am 13. Juni 1950 im Deutschen Bundestag erklärt hat - vielleicht kann ich wenigstens dieses Zitat in voller Ruhe des Parlaments vortragen - :
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... die deutsche Einheit - ... - ist nicht nur eine nationale Frage der Deutschen, die deutsche Einheit ist eine Frage der Selbstbehauptung der Völker Europas und der Weltdemokratie.
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Wir sind sicher, die sogenannten Zwei-plus-VierGespräche werden zu einer erfolgreichen Lösung führen, die Westbindung eines geeinten Deutschlands ermöglichen und deutsche Sonderwege verhindern. Weder dem Westen noch der Sowjetunion ist mit einer deutschen Neutralität gedient. NATO und EG sind heute politische Stabilitätsfaktoren, die ein Machtvakuum in Mitteleuropa verhindern, uns Deutschen Bismarcks Alptraum der Koalitionen ersparen und die Kalkulierbarkeit der Deutschen gegenüber dem Osten garantieren. Es ist doch für die Sowjetunion, wie Franz Josef Strauß einmal gesagt hat, besser, 70 Millionen Deutsche zu Freunden zu haben als 50 Millionen Gegner und 20 Millionen Gefangene.
Wurde früher die Teilung Europas in Blöcke als Garant der Stabilität angesehen, so setzt sich zunehmend die Einsicht von der Stabilität Europas durch Einheit Deutschlands und Überwindung der Grenzen durch. Damit könnten wir jenem Zustand näher rükken, den Kant in der Idee des ewigen Friedens fixiert hat. Wann hatte Europa eine solche Chance, und wann war eine Investition lohnender als das, was wir für diese Aufgabe jetzt geben?
({7})
Die politische Vereinigung muß der wirtschaftlichen so schnell wie möglich folgen. Das Grundgesetz hat hierfür den Weg nach Art. 23 vorgegeben.
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Wir haben uns von Anfang an für diesen Weg eingesetzt, weil wir diese Republik wollen und keine andere.
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In der Präambel des Staatsvertrages haben beide Vertragsparteien den Wunsch nach Herstellung der staatlichen Einheit nach Art. 23 des Grundgesetzes bekräftigt. Ein Volksentscheid über den Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik ist in diesem Artikel des Grundgesetzes nicht vorgesehen. Die Väter unserer Verfassung haben auf Grund schmerzlicher Erfahrungen in der Vergangenheit bewußt darauf verzichtet, Volksentscheide im Grundgesetz vorzusehen.
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Das Gewicht der für diese Entscheidung maßgebenden Gründe besteht auch heute uneingeschränkt fort. Die Volksentscheidungen erfolgen nach dem Grundgesetz durch die Wahlen; die Abgeordneten sind die gewählten und berufenen Vertreter des Volkes.
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- Wir haben weder Angst vor Ihnen noch vor sonst jemandem.
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Sie sehen auch nicht furchterregend aus. Das ist gut so.
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Der Prozeß der staatlichen Einheit sollte so schnell wie möglich vollzogen werden, damit auch die Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik über ihre demokratisch gewählten Vertreter an den Entscheidungen in der Europäischen Gemeinschaft und an dem Aufbau des gemeinsamen europäischen Hauses mitwirken können.
Die Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik übernehmen mit dem Staatsvertrag zahlreiBundesminister Dr. Waigel
che Gesetze und Regelungen aus der Bundesrepublik und müssen deshalb das Recht haben, an den laufenden Veränderungen dieser Regeln mitzuwirken. Wer diesen politischen Prozeß verzögert, verweigert den Menschen in der DDR die möglichen Mitwirkungsrechte.
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Vieles von dem, was in der Zusammenarbeit zweier Staaten als problematisch erscheint, ist lösbar, wenn Deutschland wieder eins ist. Es ist jetzt Sache der Regierung der DDR, gemeinsam mit uns und den vier Siegermächten des Zweiten Weltkrieges über den Terminplan der deutschen Einheit zu entscheiden.
Der Staatsvertrag ist ein Rahmen der Freiheit. Der Vertrag über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik schafft den Rahmen, in dem die Deutschen in der DDR endlich ihr Leben selbst in die Hand nehmen und langgehegte Wünsche und Ziele verwirklichen können. Er bringt die Freiheit der Konsumenten. Er bringt die Vielfalt des internationalen Warenangebots in jeden Ort der DDR. Er bringt die Freiheit der Arbeitsplatzwahl
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und die Entscheidung, eine selbständige Existenz aufbauen zu können. Er bringt die Chance, durch Leistung zu erwerben und über das Erworbene zu verfügen.
In einem Satz: Der Staatsvertrag bringt unsere erfolgreiche Soziale Marktwirtschaft, unsere stabile Währung sowie unsere soziale Vorsorge und damit die Perspektiven entscheidend verbesserter Lebensbedingungen. Er steht für eine bessere Zukunft und nicht für Verzicht und Entbehrung, wie manche unseren Mitbürgern in der DDR einflüstern wollen.
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Die Menschen in der DDR wissen auch, daß sie nach dem, was ihnen zugefügt wurde, die Ärmel aufkrempeln müssen. Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist ein Versprechen, das die Deutschen in der DDR selbst einlösen können. Sie müssen die Chance nutzen und die Ärmel aufkrempeln. Sie dürfen die Nischen und Winkel aufgeben, in denen es sich in der sozialistischen Diktatur recht und schlecht leben ließ, und sie stellen sich dem frischen Wind einer freiheitlichen Marktwirtschaft.
Über die wirtschaftliche und soziale Grundausstattung der DDR haben wir im Staatsvertrag Übereinstimmung erzielt. Solidarisch werden wir darüber hinaus den Deutschen in der DDR bei der Bewältigung von wirtschaftlichen und sozialen Übergangsproblemen helfen. Aber Arbeitsplätze, Wohlstand und soziale Sicherheit müssen auf Dauer durch eigene Anstrengungen erworben werden. Jetzt ist nicht die Zeit der Streiks und weitgehender Umverteilungsforderungen. Deutsch-deutsche Solidarität fordert vielmehr die Bereitschaft zu großen Aufbauleistungen und auch persönliche Anpassungsbereitschaft.
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Die Deutschen in der DDR haben allen Anlaß, mit Selbstbewußtsein in die Zukunft zu blicken. Arbeitnehmer und Selbständige sind jenseits von Elbe und Werra nicht weniger fleißig und nicht weniger fähig als im westlichen Teil unseres Vaterlandes.
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Der Sozialismus hat viel verkommen lassen und viel zerstört. Aber vieles lohnt sich zu erneuern und wieder aufzubauen.
Fast alle wirtschaftlichen Sachverständigen halten in den kommenden Jahren einen enormen Wachstumsschub in der DDR für wahrscheinlich.
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Innerhalb weniger Jahre können sich die Produktivität der DDR-Volkswirtschaft und damit auch Einkommen und soziale Leistungen verdoppeln. Für dieses Wachstum müssen wir kämpfen, wenn wir den Menschen wirklich helfen wollen.
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Der zügige Abschluß der Verhandlungen zwischen den beiden deutschen Regierungen ist der unwiderlegbare Beweis: Die Bundesrepublik Deutschland hat der DDR und ihren Bürgern das angeboten, was sie braucht. Für uns ist Solidarität aller Deutschen selbstverständliche Verpflichtung. Wir haben in der Bundesrepublik Solidarität über 40 Jahre praktiziert. Wir haben eins der leistungsfähigsten sozialen Sicherungssysteme in der westlichen Welt. Unsere Gewerkschaften verteidigen es vehement gegen jede Erosion, die sich nach ihren Befürchtungen z. B. aus der europäischen Integration ergeben könnte.
Wir waren solidarisch mit den Werftarbeitern an der Küste und ebenso mit den Beschäftigten des deutschen Steinkohlebergbaus und der Stahlindustrie.
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Das gleiche gilt für die Landwirtschaft. Wir haben in großer Zahl Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa aufgenommen. Ebenso selbstverständlich helfen wir den Deutschen in der DDR in ihrer besonders schwierigen Situation.
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Wir geben der DDR, was sonst nur in Jahren und Jahrzehnten erworben werden könnte: Erprobte Regeln des Wirtschaftens, internationales Ansehen eines erfolgreichen Industriestaates und eine Währung, die weltweit anerkannt und begehrt ist. Kein anderer der reformwilligen Ostblockstaaten erhält vergleichbare Startbedingungen, wie es Ministerpräsident de Maizière am vergangenen Freitag vor der Unterzeichnung des Vertrages gesagt hat.
Die Konditionen der Währungsumstellung sind ökonomisch und sozial ausgewogen. Die Währungsumstellung zum 2. Juli 1990 trägt gleichermaßen wirtschaftlichen und sozialen Aspekten Rechnung. Sie wurde entsprechend den Wünschen der Regierung der DDR noch modifiziert. Arbeitnehmer und Rentner
brauchen keine Einbußen am Lebensstandard zu befürchten. Nach einer kürzlich vom Münchener IfoInstitut vorgelegten Untersuchung werden die Lebenshaltungskosten im Zusammenhang mit der Währungsumstellung am 2. Juli 1990 nicht ansteigen.
Dort, wo Probleme befürchtet wurden, haben wir auf Wunsch der DDR-Regierung die soziale Absicherung verbessert. So wird niedrigverdienenden Arbeitnehmern für eine Übergangszeit von einem halben Jahr ein staatlicher Zuschuß für die Sozialversicherungsbeiträge gezahlt. Darüber hinaus haben wir uns in den abschließenden Verhandlungen auf ein Grundniveau der Kleinrenten von 495 DM als Vorgriff auf die zu schaffende Sozialhilfe geeinigt.
Die Währungsumstellung bringt auch für die Sparer das bestmögliche Ergebnis, mehr, als die Sparer in der DDR vor einem halben Jahr noch erwarten konnten!
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Viele Sparer werden ihr gesamtes Geldvermögen zum Kurs 1: 1 umtauschen können. Bei größeren Sparguthaben - die Grenze wurde nach dem Lebensalter gestaffelt - wird das Verhältnis 2 : 1 angewandt. Die Kaufkraft wird für alle steigen.
Die entscheidende Aufgabe bei der Währungsumstellung und ebenso bei allen anderen Vereinbarungen ist es, günstige Startchancen für den produktiven Sektor der DDR zu schaffen. Die Währungsumstellung 2: 1 für Verbindlichkeiten befreit die DDR-Betriebe zumindest von einem Teil der Altlasten. Diese Vorkehrung wird jedoch nur nützen, wenn die Privatisierung des sogenannten Volkseigentums so rasch wie möglich vorankommt, wenn die Tür weit für neues Kapital und für Unternehmenskooperation geöffnet wird und wenn sich unternehmerisches Denken in allen Bereichen der DDR-Wirtschaft durchsetzt. Wer allerdings eine völlige Befreiung aller Betriebe von allen Schulden verlangt, muß wissen, daß dies eine zusätzliche Ausgleichsforderung in der Bilanz von mehr als 120 Milliarden DM beansprucht. Man muß dann, wenn man permanent fordert, mehr zu wollen und mehr zu tun, einmal sagen wie man das finanzieren soll, wenn man auf der anderen Seite mit den Finanzierungskosten durchs Land geht und gegen uns Wahlkampf betreibt. Das paßt nicht zusammen!
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Wir haben in der letzten Verhandlungsrunde mit der Regierung der DDR eine Vereinbarung über die Eigentumsfrage erzielt. Entsprechend der gemeinsamen Erklärung in der neuen Anlage IX zum Vertrag erhalten Investoren in der DDR die vollen Eigentumsrechte an dem von ihnen genutzten Grund und Boden. Für Industrie- und Gewerbeansiedlungen werden in ausreichender Zahl und Größe Grundstücke zum Erwerb bereitgestellt. Die Betriebe in der DDR werden nach Einschätzung der dortigen Regierung nur zu einem geringeren Teil sofort voll wettbewerbs- und damit privatisierungsfähig sein. Die Erlöse aus den möglichen Veräußerungen sollen zur Sanierung der übrigen, überlebensfähigen Unternehmen und darüber hinaus zum Ausgleich staatlicher Verpflichtungen eingesetzt werden.
Der Treuhandanstalt, die noch von der Übergangsregierung Modrow errichtet wurde, kommt bei der Privatisierung des Industrie- und des Grundvermögens eine zentrale Rolle zu. Sie ist allerdings nach ihrem personellen und organisatorischen Zuschnitt denkbar schlecht für diese Aufgabe gerüstet. Die DDR-Regierung wird jetzt eine schlagkräftige Beteiligungsverwaltung aufbauen, die in der Lage ist, schnelle Privatisierungserfolge zu erzielen. Um die Sanierung der noch nicht voll wettbewerbsfähigen Betriebe möglichst rasch voranzubringen, werden der Treuhandanstalt für dieses Jahr ein Kreditrahmen von 7 Milliarden DM und für 1991 ein solcher von 10 Milliarden DM zur Verfügung gestellt. Es handelt sich hierbei um klassische Investitionskredite, die sich über die zunehmende Wettbewerbsfähigkeit und die später zu erzielenden Privatisierungserlöse selbst tragen.
Die Investoren müssen jetzt aus den Startlöchern kommen. Für Investoren aus der DDR, aus der Bundesrepublik und aus der ganzen Welt werden mit der Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion außerordentlich günstige Startchancen geschaffen. Die DDR ist ein Zukunftsmarkt mit hervorragenden Verbindungen in die ehemaligen Ostblockstaaten. Darum sind die Probleme mit dem RGW nicht nur finanzielle Lasten, sondern auch Chancen für die Zukunft, die wir nutzen sollten.
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Dabei wäre es völlig verfehlt, die DDR nur als zusätzlichen Absatzmarkt zu betrachten. Es lohnt sich, in der DDR zu produzieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Gewinnen werden in der DDR auf die Dauer diejenigen Investoren, denen es nicht um den schnellen Ertrag, sondern um die Verankerung in einem bedeutenden Zukunftsmarkt geht.
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In der Anfangsphase braucht die DDR nicht nur den Zustrom privaten Kapitals, sondern auch beträchtliche öffentliche Zuschüsse. Die Umstellung von den betriebsbezogenen Abgaben auf ein marktwirtschaftliches und - als Finanzminister darf ich das sagen - ergiebiges Steuersystem braucht Zeit. Gleichzeitig müssen Infrastruktur, Umweltschutz, Wirtschaftsförderung und soziale Vorsorge ausgebaut werden.
Das Defizit im DDR-Haushalt erreicht im nächsten Jahr mit voraussichtlich 53 Milliarden DM seinen Höhepunkt. In den Folgejahren wird der kurzfristig hohe Finanzbedarf im Zuge des dynamischen Aufbau- und Wachstumsprozesses in der DDR wieder deutlich abgebaut. Die Defizite im DDR-Staatshaushalt sollen von 1990 bis 1992 zu rund einem Drittel von der DDR selbst und zu zwei Dritteln von der Bundesrepublik Deutschland getragen werden. Wir müssen in dem Zusammenhang Pläne für die nächsten Jahre im Sinne der Finanzpolitik und der Finanzplanung aufstellen, auch wenn es zu einer wesentlich früheren Wiedervereinigung kommt, weil wir bei allen Maßnahmen natürlich auch die Folgeleistungen in den nächsten Jahren mit etatisieren müssen.
Wir haben mit der DDR einen klaren Rahmen für die eigene Kreditaufnahme von 10 Milliarden DM für die zweite Hälfte 1990 und von 14 Milliarden DM für 1991 vereinbart. Die Kreditaufnahme der DDR erfolgt künftig im Einvernehmen mit dem Bundesminister der Finanzen. Notenbankkredite zur Haushaltsfinanzierung wird es nicht geben.
Den Finanzierungsanteil der Bundesrepublik werden Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam tragen. Die Bundesregierung hat mit den Ministerpräsidenten der Länder die Einrichtung eines Fonds Deutsche Einheit beschlossen. Im Rahmen dieses Fonds werden bis 1994 insgesamt 115 Milliarden DM zur Finanzierung des Vereinigungsprozesses zur Verfügung gestellt. 20 Milliarden DM hiervon wird der Bund insbesondere aus Einsparungen bei den Kosten der Teilung einbringen. Der restliche Betrag in Höhe von 95 Milliarden DM soll durch Kreditaufnahme gedeckt werden. Die höchste jährliche Kreditaufnahme wird 1991 mit 31 Milliarden DM notwendig werden. Bis 1994 sinkt die Kreditfinanzierung des Fonds auf 5 Milliarden DM. Für Zins und Tilgung der aufgenommenen Kredite sollen jährlich 10 % des Kreditvolumens aufgebracht werden. Die Kreditkosten werden sich der Bund auf der einen sowie Länder und Gemeinden auf der anderen Seite im Verhältnis 50 : 50 teilen. Sie betragen jeweils 1 Milliarde DM 1991 und steigen bis 1994 auf jeweils 4,5 Milliarden DM.
Meine Damen und Herren, das ist eine Finanzierung, mit der der Bundeshaushalt und alle Länderhaushalte in den nächsten Jahren gut zu Rande kommen werden. Man darf nicht vor der Summe von 22 Milliarden DM oder 35 Milliarden DM erschrekken. Das gibt ein Kapitalmarkt von fast 300 Milliarden DM in Deutschland und weitaus mehr in Europa und der Welt leicht her. Wenn die öffentlichen Lasten des Bundeshaushalts für eine so großartige Aufgabe im entscheidenden Jahr nicht mehr als 4 bis 5 Milliarden DM betragen, wenn wir in diesem Jahr für diesen Zweck nichts veranschlagen müssen und im nächsten Jahr bei den Ländern und bei dem Bund jeweils nur 1 Milliarde DM, dann ist das, wie ich meine, eine gut gelungene, großzügige und finanzpolitisch glänzende Alternative, zu der mir auch alle Ministerpräsidenten der SPD im Gegensatz zu Frau Matthäus-Maier gern ihre Zustimmung gegeben haben.
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Die Finanzierung des Vereinigungsprozesses wurde von den Regierungen der Bundesländer und von der Bundesregierung einvernehmlich beschlossen. Sie ist finanzpolitisch und gesamtwirtschaftlich richtig und angemessen. Sie bedeutet keine Abweichung vom Kurs verantwortungsvoller Haushaltsfinanzierung.
Ausgangspunkt der gemeinsamen Finanzierungsentscheidung ist die zuletzt außerordentlich geringe Kreditmarktbeanspruchung durch die öffentlichen Haushalte. Wir haben im letzten Jahr mit einem Schuldenzuwachs im Bundeshaushalt vom 14 Milliarden DM den niedrigsten Stand seit 1974 erreicht.
({28})
Einschließlich der Länder, Gemeinden und Sozialversicherungen konnte sogar ein Überschuß von 5 Milliarden DM erzielt werden.
Die Kreditfinanzierung, meine Damen und Herren, ist vor allem deshalb gut begründet, weil diese Mittel in die wohl wichtigste öffentliche Investition fließen, die in den letzten 40 Jahren entstand. Wir investieren in Frieden, Freiheit und außerordentlich günstige wirtschaftliche Perspektiven für alle Deutschen. Wenn es in den letzten 40 Jahren eine öffentliche Investition gegeben hat, deren Kreditfinanzierung voll gerechtfertigt war, dann ist es die Finanzierung der deutschen Einheit.
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Die Kreditaufnahme für den Fonds ist schließlich deshalb richtig, weil es um die Deckung eines vorübergehenden Spitzenbedarfs geht. Es wäre nicht gerechtfertigt, diesen Bedarf durch dauerhafte Steuereinnahmen zu decken. Zusätzliche Steuerquellen führen nach aller Erfahrung zu zusätzlichen Forderungen an den Staatshaushalt und gefährden damit den Konsolidierungskurs in den kommenden Jahren.
Es ist auch richtig, die Finanzierung der Vereinigung in einem besonderen Fonds, getrennt von den Haushalten von Bund, Ländern und Gemeinden, auszuweisen. Der Fonds ist Symbol der außergewöhnlichen Finanzierungsaufgabe. Er läßt in den kommenden Jahren klar erkennen, was wir an Zinsen und Tilgung für die deutsche Einheit aufbringen.
({30})
- Selbstverständlich muß man auch dafür Zinsen zahlen. Wir müssen Zinsen für viel unsinnigere Schulden zahlen, sehr verehrte gnädige Frau.
({31})
- Vor allen Dingen die, die Sie uns hinterlassen haben!
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- Mir fällt noch eine ganze Menge ein, denn glückliche Stunden auf diesem Platz haben Ihre Finanzminister selten erlebt; das muß ich Ihnen ehrlich sagen.
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Die Schaffung des Fonds entbindet die öffentlichen Haushalte nicht von der Pflicht, in allen Ausgabenbereichen nach Einsparungsmöglichkeiten zu suchen und so einen Ausgleich für die zusätzlichen Anforderungen zu schaffen. So wird der Bund selbstverständlich auch Einschnitte beim Verteidigungshaushalt vornehmen,
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soweit die Abrüstungsverhandlungen und die OstWest-Beziehungen es zulassen.
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Die Vorwürfe von Frau Matthäus-Maier und Ministerpräsident Rau, wir planten den größten Rüstungshaushalt, gehen von Zahlen der überholten Finanzplanung aus und entbehren deshalb der Grundlage.
({36})
Meine Damen und Herren, wir legen gleichzeitig - so ist das Werk geschlossen - einen zweiten Nachtragshaushalt 1990 vor. Im Bundeshaushalt selbst bleibt die Solidität unserer Finanzpolitik deutlich. Alles, was wir tun, ist finanzpolitisch sofort untermauert. Durch den zweiten Nachtragshaushalt 1990 steigen die Ausgaben um 4,8 Milliarden DM. 2 Milliarden DM stehen für unseren Beitrag an den Fonds Deutsche Einheit. Weitere 2,75 Milliarden DM entfallen auf die Anschubfinanzierung für die Rentenversicherung und die Neueinrichtung der Arbeitslosenversicherung.
Den zusätzlichen Ausgaben stehen nach den jüngsten Steuerschätzungen Steuermehreinnahmen in Höhe von 6,8 Milliarden DM gegenüber. Frühere Finanzminister, vor allen Dingen der erste, haben über diese Steuermehreinnahmen nie etwas gesagt und hatten deswegen die Möglichkeit, in einer noch nicht so transparenten Gesellschaft wie heute die notwendige Vorsorge für spätere Ausgaben anzuhäufen.
({37})
Heute geht das nicht mehr. Ich halte es auch für richtig, dem Hohen Haus und der Bevölkerung zu sagen, daß gleichzeitig mit dieser Aufgabe, mit dem Zweiten Nachtragshaushalt, mit einer weiteren Milliardensumme, die für die deutsche Einheit und für die Errichtung der Sozialen Marktwirtschaft zur Verfügung gestellt wird, die Nettokreditaufnahme in diesem Jahr um 2 Milliarden DM sinkt und nur noch etwa 30 Milliarden DM betragen wird.
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Das ist eine finanzpolitische Bilanz, um die Sie uns nur beneiden können.
({39})
Im zweiten Nachtragshaushalt 1990 sind neben der bereits erwähnten Ausweitung des ERP-Kreditrahmens weitere Maßnahmen zugunsten des wirtschaftlichen Aufschwungs in der DDR vorgesehen. Im Verkehrsbereich wird durch die Erhöhung der Verpflichtungsermächtigungen um 305 Millionen DM die Auftragsvergabe für drei Brückenbauwerke auf DDR-Gebiet noch in diesem Jahr sichergestellt. Es geht darum, die Lücken in den Autobahnen Hof-Plauen und Bad Hersfeld-Eisenach so schnell wie möglich zu schließen.
({40})
Die ab 1991 fälligen Beträge sollen aus dem DDR-Haushalt selbst finanziert werden. Die Gewährleistungsrahmen sollen durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz um 20 Milliarden DM ausgeweitet werden. Damit wollen wir die Kreditaufnahme der
DDR gegebenenfalls mit Bundesbürgschaften absichern und so der DDR den Zugang zu günstigen Krediten erleichtern. Wir wären ja dumm und töricht, wenn wir das nicht täten und die DDR zwingen würden, ihre Kredite zu ungünstigeren Bedingungen aufzunehmen. Durch dieses Nachtragshaushaltsgesetz werden schließlich die Ausfuhrgewährleistungen des Bundes für die Unternehmen mit Sitz in der DDR geöffnet.
Die Kritik der SPD geht an den tatsächlichen Aufgaben und Problemen leider vorbei. Unsere finanzpolitische Vorsorge für den Vereinigungsprozeß ist insgesamt abgeschlossen, sie ist finanzierbar, und sie ist tragbar.
({41})
Wer jetzt wie die Frau Kollegin Matthäus-Maier von einer „Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump" spricht, zeigt einen gravierenden Mangel in der Einschätzung wirtschafts- und finanzpolitischer Proportionen.
({42})
Ich freue mich, daß der Regierende Bürgermeister von Berlin anwesend ist. Ich glaube, Herr Kollege Momper, Sie werden sicher anschließend den unfairen Angriff der Frau Kollegin Matthäus-Maier auf die Ministerpräsidenten Engholm, Rau, auf Sie, Herr Momper, und auf die Kollegen Voscherau und Wedemeier mit aller Entschiedenheit zurückweisen. Sie haben es nicht nötig, Herr Kollege Momper, die Finanzierung, die wir gemeinsam beschlossen haben, als ein „Gauklerstück" bezeichnen zu lassen.
({43})
Ich weise diesen Angriff gegen die SPD-Ministerpräsidenten mit Entrüstung zurück!
({44})
- Ihnen, Frau Kollegin Fuchs, wäre das nicht passiert. Da bin ich ganz sicher.
({45})
Meine Damen und Herren, der sehr geschätzte Bundessenator aus Hamburg, Horst Gobrecht, der wirklich etwas von Finanzpolitik versteht, hat diese Attakken mit klaren Worten zurückgewiesen.
({46})
- Entschuldigung, ich bin doch kein Schulmeister.
({47})
Das ist natürlich schon interessant: Wenn der Kollege Jahn „Schulmeister" ruft, dann schaut er ganz streng auf die andere Seite.
({48})
Ich habe Verständnis dafür, Herr Jahn; denn Sie müssen mit dem, den Sie wirklich gemeint haben, laufend zusammenarbeiten.
({49})
Der Kollege Gobrecht hat gesagt, die Mittel des Fonds für Investitionen seien Investitionen par excellence. Die Formulierung „Deutsche Einheit auf Pump" hält er für nicht angemessen. Das ist eine für einen Hanseaten angesichts dessen, was er wirklich ausdrücken wollte, typische vornehme Zurückhaltung.
Wie wollen Sie eigentlich, Frau Kollegin Matthäus-Maier,
({50})
Ihre Forderungen mit den Forderungen der Kollegin Däubler-Gmelin und des Kollegen Roth in Übereinstimmung bringen, die noch mehr Strukturanpassungshilfen zugunsten der DDR fordern? Herr Kollege Roth hat erst gestern wieder ein zusätzliches Mammutprogramm von 20 Milliarden DM für Strukturanpassungshilfen in die Diskussion gebracht.
({51})
Meine Damen und Herren, Sie müssen sich einmal entscheiden, was Sie wollen. Wollen Sie uns weiter vorwerfen, daß wir leichtfertig Geld ausgeben, oder wollen Sie täglich mehr Nachbesserungen verlangen? Das müssen Sie sich fragen lassen!
({52})
Was aus der Sicht der Regierung der DDR und aus unserer Einschätzung heraus an Anpassungshilfen für die Betriebe in der DDR und für die Arbeitnehmer notwendig ist, wurde im Staatsvertrag und in besonderen Absprachen vereinbart. Ich darf nochmals darauf zurückkommen, weil Sie, meine Damen und Herren Kollegen aus der SPD, dies ja in den letzten Tagen als eine wichtige Forderung Ihrerseits herausgestellt haben.
Für zwei Jahre wird eine degressive Investitionszulage in Höhe von 12 bzw. 8 % gewährt. Das ERP-Kreditprogramm für die DDR wird noch für 1990 von 1,2 Milliarden DM auf 6 Milliarden DM aufgestockt. Der Kollege Haussmann kann zu Recht sagen, wie erfolgreich das erste Programm war. Wir müssen es fortsetzen, um den Existenzgründungen im Mittelstandsbereich in der DDR eine besondere Chance zu eröffnen.
Die Kreditanstalt für Wiederaufbau hat ihr Mittelstands- und ihr Umweltprogramm für Investitionen in der DDR geöffnet und stellt darüber hinaus weitere Modernisierungs- und Umstrukturierungskredite zur Verfügung. Schließlich sind eine auf neun Monate befristete steuerliche Förderung des Absatzes von DDR-Produkten durch die Einräumung einer Umsatzsteuerpräferenz und die Erhebung von Sondersteuern für Einfuhren in die DDR vorgesehen. Das ist etwas, was die DDR-Seite in diesem Zusammenhang nachdrücklich verlangt hat.
({53})
Die Halbierung der Schulden durch die Währungsumstellung und der Kreditrahmen für die Treuhandanstalt gehören ebenfalls in den Katalog der Maßnahmen zur Erleichterung des Übergangs in die Marktwirtschaft.
In der DDR wird wie in der Bundesrepublik nach dem 1. Juli 1990 das komplette arbeitsmarktpolitische Instrumentarium zur Verfügung stehen, um den Arbeitnehmern die Anpassung an veränderte Bedingungen zu erleichtern. Dazu gehören Umschulung, Weiterbildung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Lebenslanges Lernen und die Bereitschaft, neue Aufgaben zu übernehmen, gehören zum Wettbewerbssystem. Wir werden aber alles tun, damit die Arbeitnehmer in die neuen Tätigkeiten hineinfinden und sich mit modernen Arbeitsbedingungen vertraut machen können. Wir haben vorgesorgt, damit sich der unverzichtbare Strukturwandel in geordneten Bahnen vollziehen kann und soziale Folgen beherrschbar bleiben. Was die DDR jetzt aber vor allem braucht, ist der frische Wind des Wettbewerbs, sind nicht zusätzliche Schutzmauern gegen den Wettbewerb.
({54})
Jede Mark, die jetzt in die Strukturerhaltung gesteckt wird, fehlt beim Aufbau der dringend erforderlichen Zukunftsindustrien, bei der Schaffung zukunftssicherer Arbeitsplätze.
Es ist auch nicht richtig, wenn der SPD-Vorstand und die SPD-regierten Länder im Bundesrat Defizite im Umweltbereich im Staatsvertrag beklagen. Die Regierung der DDR und die Bundesregierung streben vielmehr die schnelle Verwirklichung einer deutschen Umweltunion an. So ist es im Staatsvertrag niedergelegt.
Schon jetzt fördert die Bundesregierung in erheblichem Umfang Umweltschutzinvestitionen in der DDR. Im Bundeshaushalt 1990 und im geltenden Finanzplan sind 300 Millionen DM für sechs mit der DDR vereinbarte Pilotprojekte berücksichtigt. Der erste Nachtrag 1990 sieht weitere 600 Millionen DM für 15 zusätzliche Projekte vor. Damit wird bis 1993 ein Investitionsvolumen von insgesamt 900 Millionen DM mobilisiert. Außerdem sind für die Jahre 1990 und 1991 zusätzlich 800 Millionen DM für Umweltschutzinvestitionen im DDR-Haushalt vorgesehen. Dies ist eine beachtliche Anfangsleistung angesichts der Herausforderung, die dort auf uns zukommt.
({55})
Meine Damen und Herren, ich kann auch nur schwer nachvollziehen, warum sich die SPD gegen ein Vertragswerk stemmt, das unter maßgeblicher Mitwirkung und durch Zustimmung ihrer Schwesterpartei in der DDR zustande gekommen ist und dem die Volkskammer inzwischen mit großer Mehrheit zugestimmt hat.
({56})
Nach Einschätzung des stellvertretenden Vorsitzenden der SPD-Volkskammerfraktion Gottfried Timm ist die Einführung der ökologischen und Sozialen Marktwirtschaft auf DM-Basis in der DDR mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion eine solide Grundlage, um das moderne Deutschland zu bauen
und Wohlstand für alle zu sichern. Nach Auffassung des Vorsitzenden der SPD-Volkskammerfraktion Richard Schröder trägt der Staatsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR deutlich die Handschrift der Sozialdemokraten. Für Arbeitnehmer und Rentner seien soziale Errungenschaften erreicht worden.
({57})
Wollen Sie diese klaren Bewertungen Ihrer Genossen in Ost-Berlin in Frage stellen oder entwerten?
({58})
Sie haben doch immer gesagt: Wir können von den Menschen in der DDR viel lernen.
({59})
Nun lernen Sie doch von Ihren Freunden, einer richtigen Sache zuzustimmen und zu ihr rechtzeitig ja zu sagen!
({60})
Es wäre auch gut, meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie in dieser entscheidenden Frage endlich mit einer Stimme sprächen. Ihr Kanzlerkandidat Lafontaine warnt vor einem zu schnellen Tempo bei der Währungsunion, während die Kollegin Matthäus-Maier noch vor kurzem die zu langsamen Fortschritte bei der Verwirklichung der Währungsunion beklagt hat.
({61})
- Sie haben recht.
({62})
Herr Kollege Vogel, das, was Sie hier immer sagen: Wenn er recht hat, hat er recht, das gilt auch für die Kollegin Matthäus-Maier.
({63})
Nur, wenn Sie dem zustimmen, daß ich recht habe, wenn ich der Frau Kollegin Matthäus-Maier recht gebe,
({64})
dann sagen Sie gleichzeitig, Lafontaine hat unrecht. Das muß einmal festgehalten werden. Ganz klar. Das ist die Logik.
({65})
- Was haben Sie gegen Passau?
({66})
- Eben. Und mit Ihrem neuen zweiten Bürgermeister müssen Sie sich noch auseinandersetzen.
Während des Besuchs von Herrn Modrow kritisierten einige SPD-Abgeordnete die ablehnende Haltung zu dem damals geforderten Blankoscheck in Höhe von 15 Milliarden DM.
({67})
Meine Damen und Herren, wie stünden wir heute da, wenn wir damals denen nachgegeben hätten, die von uns verlangten, 15 Milliarden DM zu geben, ohne mitbestimmen zu können, was drüben passiert? Das Geld wäre heute weg, ohne daß es irgendeinen Nutzen oder eine Produktivität gebracht hätte.
({68})
Nachdem Frau Kollegin Matthäus-Maier noch vor Wochen einen generellen Umtauschkurs von 1 : 1 für ökonomisch nicht vertretbar gehalten hatte, bezeichnete Lafontaine den Vorschlag der Bundesbank für einen generellen Umtauschkurs von 2 : 1 als Wahlbetrug.
({69})
Während der Kollege Roth eine Streichung der Altschulden der Betriebe fordert, hält Nordrhein-Westfalens Wirtschaftsminister Jochimsen einen solchen Schuldenerlaß für nicht hinnehmbar im Hinblick auf die Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe. Nachdem die SPD-regierten Bundesländer abends dem Fonds der deutschen Einheit zugestimmt hatten, kritisiert die Kollegin Matthäus-Maier am nächsten Morgen eben diesen Fonds als unvertretbare Schuldenmacherei.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie müssen hier und heute Farbe bekennen.
({70})
Sie können in dieser Frage nicht mehr mit zwei Stimmen sprechen.
({71})
Sie müssen sich entscheiden, ob Sie hier mit sachpolitischen Argumenten um den richtigen Weg zur politischen Einheit streiten oder Ihre Aussagen an die Rücktrittsdrohung Ihres Kanzlerkandidaten anpassen.
({72})
Das Nein des SPD-Vorstands vorn letzten Montag darf nicht das letzte Wort sein. Aus den Formulierungen des Vorstandsbeschlusses lese ich den Willen, doch noch zu einer Lösung im Interesse der Menschen zu kommen. Der Zeitpunkt für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion darf nicht hinausgeschoben werden.
({73})
Die entscheidende Grundlage für die Wiedervereinigung ist die Fortsetzung des lang anhaltenden Wachstumsprozesses. Deshalb geht es vor allem darum, günstige und stabile Rahmenbedingungen für Investitionen bei uns und in der DDR auch in Zukunft zu gewährleisten.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, die jüngste Steuerschätzung in der letzten Woche hat den Beweis erbracht: Die Gleichung „Weniger Steuern
auf Investitionen und berufliche Leistung bedeuten mehr Wachstum, und mehr Wachstum stärkt die öffentlichen Finanzen" geht auf. Obwohl wir allein in diesem Jahr die Steuern um rund 25 Milliarden DM gesenkt haben, wurden die Schätzergebnisse vom letzten Jahr deutlich übertroffen. In diesem Jahr sind es für alle öffentlichen Haushalte insgesamt 8 Milliarden DM, im nächsten Jahr 28 Milliarden DM und bis 1993 insgesamt 114 Milliarden DM.
Wann, meine Damen und Herren, wollen wir unter günstigeren Bedingungen die Einheit Deutschlands finanzieren und die Einheit in Freiheit herstellen?
({74})
Wir wären schlecht beraten, wenn wir diese günstigen Einnahmeperspektiven durch Sonderabgaben oder Steuererhöhungen zur Finanzierung der Vereinigung gefährdeten. Wir ständen schnell mit leeren Händen da, wenn das, was wir umverteilen wollen, bei wieder ungünstigeren steuerlichen Bedingungen erst gar nicht erwirtschaftet würde.
Es bleibt dabei: Die Steuerzahler müssen kein Sonderopfer für die deutsche Einheit bringen. Der beste Beitrag unserer Bürger besteht vielmehr darin, sich in ihrem Beruf zu engagieren, alles zu tun, damit der Bedarf der DDR vor allem an Investitionsgütern ohne Verzögerungen gedeckt werden kann.
Meine Damen und Herren, Wachstum ist zugleich das beste Mittel zur Sicherung der Stabilität. Die Arbeit der Bundesbank wird um so leichter, je rascher wir die Kapazitäten in Ost und West ausbauen und so Spielraum für zusätzliche Nachfrage schaffen.
Kapital ist in der Bundesrepublik und weltweit genügend vorhanden. Das Volumen des deutschen Kapitalmarktes beträgt jährlich rund 300 Milliarden DM. In den sieben größten Industrieländern insgesamt sind es 2 000 Milliarden DM. Rund 130 Milliarden DM Kapital haben wir in den letzten beiden Jahren exportiert. Wir benötigen einen Teil, einen kleinen Teil, dieses Kapitalexports, um die zusätzlichen Investitionsaufgaben finanzieren zu können. Diese Mittel werden bald wieder zu günstigeren Konditionen zur Verfügung stehen.
Meine Damen und Herren, ich appelliere an alle Seiten dieses Hauses, auch bei jeder Forderung, bei jeder Äußerung darauf Rücksicht zu nehmen und darauf bedacht zu sein, welche Auswirkung eine Äußerung, komme sie aus der Regierung oder komme sie aus der Opposition, auf die Finanzmärkte hat.
({75})
Privates Kapital wird nur fließen, wenn Deutschland und die Deutsche Mark Markenzeichen der Stabilität bleiben. Die Voraussetzungen dafür sind geschaffen. Die Bundesbank behält die volle Souveränität über die Geldschöpfung und die Geldpolitik im neuen gesamtdeutschen Wirtschaftsraum. Bundesbank und Bundesregierung werden wie bisher vertrauensvoll und eng zusammenarbeiten, wenn es um die Sicherung der Stabilität geht.
Ich möchte bei dieser Gelegenheit der Bundesbank, ihrem Präsidenten Pöhl, ihrem Vizepräsidenten Schlesinger und, in anderer Funktion, Herrn Dr. Tietmeyer meinen großen Dank und Respekt für die großartige Leistung in den vergangenen Wochen aussprechen.
({76})
Die Wünsche und Empfehlungen der Bundesbank waren wichtig und haben die Ausgestaltung des Staatsvertrages in wesentlichen Punkten maßgeblich beeinflußt. Manche Befürchtungen in Finanzkreisen über eine mögliche Auflockerung der strikten geldpolitischen Linie im Zusammenhang mit dem Vereinigungsprozeß entbehren jeder Grundlage. Die durch die Geldumstellung zusätzlich entstehende Geldmenge entspricht fast genau dem Verhältnis des Sozialprodukts der DDR zu demjenigen in der Bundesrepublik. Und schließlich haben wir mit der Regierung der DDR einen festen Rahmen für die Kreditaufnahme in diesem und im nächsten Jahr vereinbart.
Die Währungsumstellung, meine Damen und Herren, wird nach Einschätzung der meisten Experten keinen preistreibenden Nachfrageschub bringen. Die Bürger werden froh sein, endlich über wertsichere Guthaben verfügen zu können. Das wirksamste Instrument gegen eine umfassende Auflösung von Sparkonten in der DDR ist das Angebot attraktiver Anlagen. Wir haben deshalb grundsätzlich, auch auf Anraten der Bundesbank, auf Verfügungsbeschränkungen bei den auf D-Mark umgestellten Konten verzichtet. Es gibt allerdings - da sind wir uns einig - keinen Freibrief für spekulativ oder unrechtmäßig erworbene Guthaben.
({77})
Nach dem Staatsvertrag soll bei hinreichenden Anhaltspunkten eine Überprüfung von Guthaben auf die Rechtmäßigkeit des Erwerbs vorgenommen werden.
({78})
Gegebenenfalls können solche Konten gesperrt werden. Spekulanten und allen, die sich durch die Umstellung auf unrechtmäßige Weise bereichern wollen, wird das Geschäft schwergemacht. Die Personalien jedes Umtauschberechtigten werden festgehalten. Ein Umtausch von Bargeld ist nicht möglich. Die Wahrheit der Angaben muß eidesstattlich versichert werden.
In den letzten Wochen und Monaten ist zur Vorbereitung des Staatsvertrags in Ost und West hervorragende und aufopferungsvolle Arbeit geleistet worden. Ich möchte allen Beteiligten, insbesondere den Mitarbeitern der Finanzministerien in Ost und West, aber auch den Mitarbeitern aller anderen Häuser, für ihren Einsatz danken.
({79})
Sie haben sich weit über ihre Beamtenpflicht hinaus engagiert. Sie haben mit einem großartigen Ethos gehandelt. Sie haben damit ihrem Land, ihrem Vaterland einen Dienst erwiesen, und wir können stolz sein
auf das, was unsere Beamten in dieser Zeit an Großartigem zustande gebracht haben.
({80})
Wir haben großen Wert auf den Rat aller Beteiligten gelegt. Insbesondere die Bundesländer wurden so früh wie möglich in den Prozeß einbezogen.
({81})
- Hören Sie einmal zu! Den Zeitablauf, den ich Ihnen vortrage, werden Sie nicht bestreiten können.
Zwischen dem 15. Februar und dem 15. Mai wurden die Regierungen der Länder bei insgesamt zehn Besprechungen auf hoher Ebene über den aktuellen Stand der Beratungen und Verhandlungen informiert. Am 14. und am 17. Mai haben Finanzminister Schleusser und Finanzminister Tandler für die Länder unmittelbar an den Gesprächen mit meinem Kollegen Romberg teilgenommen. Die ersten Arbeitspapiere zum Staatsvertrag wurden den Ländern am 25. April - nur einen Tag nach der Übersendung an Ministerpräsident de Maizière - überreicht. Von einer Mißachtung der Grundsätze föderaler Kooperation kann angesichts dieser Fakten keine Rede sein.
Allerdings ist mir meine Offenheit im Kreis der Länderfinanzminister, was die Kosten anbelangt, in den letzten Wahlkämpfen nicht gedankt worden. Das möchte ich auch einmal in aller Klarheit und Offenheit aussprechen.
Meine Damen und Herren! Bei allen Unterschieden in politischen Grundpositionen und in der Bewertung einzelner Fragen sollte der gemeinsame Wille im Mittelpunkt stehen, auf dem Weg zur deutschen Einheit so rasch wie möglich voranzukommen.
Der Ihnen heute zur Beratung vorliegende Staatsvertrag ist ein Dokument, dem die Deutschen in Ost und West ohne Vorbehalte zustimmen können. Er schafft die Grundlagen für den raschen Aufbau der Wirtschaft in der DDR und ist damit die beste Gewähr für steigenden Wohlstand und zusätzliche Arbeitsplätze. Es gibt keinen deutschen Nationalismus, aber durchaus Anlaß zu Freude und Selbstbewußtsein.
({82})
Mit dem Staatsvertrag, meine Damen und Herren, haben wir das Tor zur Vereinigung weit aufgestoßen. Wir sind dabei, zum Vollmitglied in der Gemeinschaft freiheitlicher, friedliebender und souveräner Völker zu werden. Wir Deutschen sind durch die Lehren der Geschichte zu einem realistischen Volk geworden. Mancher ausländische Beobachter stellt bei uns ein Defizit an nationalem Zusammengehörigkeitsgefühl und nationaler Identität fest. Viele sehen in uns ein Volk, dessen Denken und Handeln vor allem auf ökonomische Fragen ausgerichtet ist.
({83})
Ich konstatierte auch, daß es im Augenblick vorwiegend die Nationalökonomen sind, die sich zu dem Thema deutsche Einheit äußern.
({84})
Ich wünschte mir verstärkt den Beitrag der Sprache, der Literatur und der Zeitgeschichte.
({85})
Die Öffnung der Grenzen zwischen Ost und West hat viel private Freude,
({86})
vor allem bei den unmittelbar Betroffenen, ausgelöst. Aber die Woge des überschäumenden Nationalgefühls, die viele im Ausland erwartet haben, ist ausgeblieben, Gott sei Dank ausgeblieben. Das ist gut so; denn Realismus war schon immer die Grundvoraussetzung dafür, Fehler zu vermeiden.
Aber bei aller Distanziertheit und Kühle sollten wir doch die historische Dimension dessen nicht übersehen, was heute geschieht. Die Wiedervereinigung, die über 40 Jahre unmöglich schien, wird jetzt innerhalb weniger Monate Wirklichkeit. Deutschland geht den Weg zur Einheit zum ersten Mal in seiner Geschichte in völliger Übereinstimmung mit seinen Nachbarn und Freunden in aller Welt. Und nach den Hetzkampagnen des kalten Krieges wird jetzt nicht nur bei uns im Westen, sondern auch im Osten zunehmend anerkannt: Deutschland ist ein friedliebendes, demokratisches Land. Der tschechoslowakische Staatspräsident Vaclav Havel hat diese neue Bewertung stellvertretend für andere in bewundernswerter Klarheit ausgesprochen. Ich zitiere:
Angst vor einem vereinigten Deutschland habe ich nicht, denn ich bin ganz sicher, daß es demokratisch und friedfertig sein wird, daß es auch seine Zukunft in Europa sieht und radikale Kräfte keine Chance haben werden.
Wir danken diesem großartigen Mann für dieses großartige Wort.
({87})
Die Wirtschafts- und Sozialordnung unseres Landes ist zum Vorbild vieler anderer Staaten, vor allem der reformwilligen Länder im ehemaligen Ostblock, geworden. Idee und Wirklichkeit der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik sind dabei gleichermaßen überzeugend. Es war faszinierend, als ich vor einem Jahr zum erstenmal den polnischen Finanzminister Balcerowicz traf und er mir sagte, die Soziale Marktwirtschaft sei sein Vorbild für die künftige Gesellschaft in Polen. Als ich ihn fragte, wo er sie denn habe erlernen können, sagte er mir: Mit einem Stipendium der Friedrich-Ebert-Stiftung.
({88})
- Erstens spricht das für die Stiftungen, zweitens für
die Friedrich-Ebert-Stiftung, und drittens war Geld
der Friedrich-Ebert-Stiftung und damit ein bißchen indirekt auch der Sozialdemokratie noch nie so lohnend angelegt wie bei diesem Stipendium.
({89})
Wir sind ein international begehrter Handels- und Kooperationspartner. Die Länder im Osten einschließlich der Sowjetunion setzen auf unseren Beitrag beim Aufbau ihrer vom Sozialismus zerrütteten Volkswirtschaften. Wir werden und dürfen diese Länder nicht enttäuschen.
Unser Land, meine Damen und Herren, ist stark genug, um die Vereinigung ohne Abstriche bei seinen internationalen Verpflichtungen bewältigen zu können. Das gilt auch für unsere Pflicht in der Entwicklungshilfe.
Wer die öffentliche Diskussion, die zum Teil sichtbar werdenden Ängste der Bürger vor der Wiedervereinigung verfolgt, der muß sich die Frage stellen: Stehen auch wir im Westen immer noch unter der seit 1945 anhaltenden nationalen Lähmung? Sind wir 45 Jahre nach der Beseitigung des Hitler-Regimes immer noch nicht in der Lage, ein allen Völkern eigenes, natürliches Nationalbewußtsein zu entwickeln? Mit welcher Freude, mit welchem Stolz und mit welcher Opferbereitschaft haben andere Völker Europas, wie z. B. die Polen, nach langen Epochen der staatlichen Zerrissenheit ihre nationale Einheit erkämpft und verteidigt! Wann, so frage ich Sie, wenn nicht heute, wollen wir, die Deutschen in Ost und West, die seit 1945 anhaltende Lähmung überwinden?
Es gibt keinen Grund, ängstlich in die Zukunft zu sehen. Der jungen Generation eröffnen sich Zukunftschancen, wie sie keine vorherige Generation dieses Jahrhunderts je hatte.
({90})
Die Epoche der Nachkriegsgeschichte neigt sich ihrem Ende entgegen. Diese Epoche war eine Zeit des Übergangs. Wie Karl Barth in seinem Beitrag „Zwischen den Zeiten" zutreffend schrieb, sind solche Phasen des Übergangs stark in der Negation und Kritik, aber schwach - ({91})
- Was haben Sie dagegen, wenn ich kluge Sozialdemokraten zitiere?
({92})
- Aber selbstverständlich. Und er war auch noch ein interessanter Theologe dazu.
({93})
- Ob er heute noch Sozialdemokrat wäre? Ich glaub's nicht.
({94})
Meine Damen und Herren, es ist schon eigenartig, daß
man einen solchen Gedanken, der wirklich fern jeder
parteipolitischen Polemik stehen muß, hier in einer solchen Debatte nicht normal vortragen kann.
({95})
Meine Damen und Herren! Wer angesichts des nahenden Endes dieser Übergangsphase Politik durch Emotionalisierung, durch das Schüren von Ängsten und durch Verunsicherung der Bürger ersetzen will, der handelt politisch und historisch fahrlässig.
Angst ist ein schlechter Ratgeber auf dem Weg zur Lösung der deutschen Frage. Wer wie die Bonner Regierungskoalition die offene deutsche Frage einer positiven Lösung zuführt, der muß entschiedene Führung demonstrieren und an einem einmal festgelegten politischen Fahrplan festhalten, der muß vorhandene Ängste berücksichtigen, der darf sich aber nicht von diesen Ängsten leiten lassen. Es gibt keinen Weg zurück zur vermeintlichen Nachkriegsidylle. In einem offenen Europa kann sich keine Nation künftig mehr abschotten.
Unsere Partner im Westen verlangen von uns zu Recht - auch die Freunde im Osten wollen das - die Übernahme politischer Verantwortung für Stabilität und Frieden in Europa. Der Staatsvertrag mit der DDR ist Zeichen unserer Bereitschaft, diese Verantwortung zu übernehmen. Der Staatsvertrag ist die Investition der Bundesrepublik Deutschland zur Neuordnung Europas, zu einem geordneten Übergang des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens im anderen Teil Deutschlands.
Soforthilfen in zweistelliger Milliardenhöhe, wie von Herrn Modrow gefordert und von Teilen der Opposition unterstützt, wären längst versickert und hätten am drohenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenbruch in der DDR nichts geändert.
Der Zeitplan für die Währungsunion wurde von der realen Gefahr eines solchen Zusammenbruchs diktiert. Wer von einem überstürzten Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten spricht, vernachlässigt diese Gefahren und übersieht die Notwendigkeit stabiler Verhältnisse in Zentraleuropa gerade in der heutigen Zeit des Übergangs.
({96})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich appelliere an Ihre politische und an Ihre historische Verantwortung. Beweisen Sie gegenüber den Menschen in der DDR die gebotene Solidarität! Eröffnen Sie diesen Menschen die lang erhofften wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven! Stimmen Sie dem Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zu und geben Sie damit den Weg frei für den entscheidenden Schritt zur Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands in Freiheit!
Ich danke Ihnen.
({97})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten sagen ja zur deutschen Einheit.
({0})
Wir freuen uns darüber, daß diese schreckliche Mauer geöffnet worden ist und daß die Einheit nun greifbar nahe geworden ist. Dies ist durch die friedliche Revolution der Menschen in der DDR möglich geworden; ihnen schulden wir Hochachtung und Dank.
({1})
Deutsche Einheit, europäische Integration und sichere Grenzen sind unser Ziel, und dafür kämpfen wir Sozialdemokraten jetzt und in Zukunft.
({2})
Wir Sozialdemokraten sind auch für eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Die Anregung und wesentliche Vorschläge dazu stammen ja schließlich von uns.
({3})
Wir wollen die Wirtschaft-, Währungs- und Sozialunion als entscheidenden Schritt zur deutschen Einheit und als Hoffnungssignal für die Menschen in der DDR, daß es sich lohnt, in ihrer Heimat zu bleiben, dort am Aufbau mitzuarbeiten und nicht als Übersiedler in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen.
({4})
Die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion ist ein solidarisches Angebot der Bundesrepublik Deutschland an die DDR. Sie soll den endgültigen Zusammenbruch der DDR-Wirtschaft verhindern, einen Zusammenbruch, in den sie durch 40 Jahre bürokratischer Kommandowirtschaft
({5})
der SED hineingetrieben worden ist.
({6})
Die SED lehnt die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als „Knebelungsinstrument" , wie die SED sagt, ab. Daß sich aber die Partei, die die Menschen in der DDR 40 Jahre lang geknebelt hat, jetzt zu ihrem Retter aufspielen will, dies ist nun ein besonderes Zeichen von Kaltschnäuzigkeit.
({7})
Weil wir die Einheit wollen, sind wir zur Zusammenarbeit bereit. Sie aber, Herr Bundeskanzler, haben unsere ausgestreckte Hand immer wieder ausgeschlagen.
({8})
Sie haben nicht nur alle Angebote zu konstruktiver Zusammenarbeit brüsk zurückgewiesen;
({9})
Sie haben die SPD sogar systematisch von der Mitarbeit ausgeschlossen.
({10})
Sie wollten die deutsche Vereinigung in einem selbstherrlichen Alleingang durchziehen.
({11})
Wenn es nach dem Bundeskanzler gegangen wäre, wäre der Ausschuß Deutsche Einheit bis heute noch nicht ein einziges Mal zusammengetreten.
({12})
Herr Bundeskanzler, Sie haben versucht, die Einheit für Ihre macht- und parteipolitischen Interessen zu mißbrauchen.
({13})
Sie haben geglaubt, Sie bräuchten die Menschen nicht, und die SPD bräuchten Sie erst recht nicht. Sie reden von Einheit und praktizieren in unserem Lande die Spaltung.
({14})
Ihre verheerenden Wahlniederlagen am 13. Mai in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen haben bewiesen, daß Sie sich gründlich getäuscht haben. Die Bürgerinnen und Bürger haben es endgültig satt, daß die Frage der nationalen Einheit über die Köpfe der Menschen hinweg entschieden wird.
({15})
Die Menschen in unserem Lande sind mündige Bürger, und mit ihrem Wahlzettel habe sie dieser Bundesregierung gesagt: Auch wir sind das Volk!
({16})
Weil er unbedingt einen Alleingang machen wollte, hat der Bundeskanzler bei der Vorbereitung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion schwere Fehler gemacht: beispiellose Hektik,
({17})
das Wecken zu hoher Erwartungen im DDR-Wahlkampf, mangelnde Abstimmung mit der Bundesbank, chaotische öffentliche Diskussionen über Umtauschkurse, mangelndes Einbeziehen des Parlaments,
({18})
heftiges Durcheinander über die Köpfe der Menschen hinweg. Nur, weil der Kanzler die deutsche Einheit als Privatsache betrachtet und eine konstruktive Mitarbeit, insbesondere der Opposition, hartnäckig erschwert hat, sind Fehler unterlaufen,
({19})
die bei einer klugen Politik hätten vermieden werden
können und die die in der Wirtschafts-, WährungsFrau Matthäus-Maier
und Sozialunion liegenden Chancen für die Zeit nach dem 1. Juli leider mindern.
({20})
Obwohl der Kanzler uns nicht beteiligen wollte, haben wir bereits bis heute zusammen mit dem Druck der Bürger hier und in der DDR Verbesserungen gegenüber dem ersten Entwurf erreicht.
({21})
Ein Beispiel: Es waren mein Kollege Rudi Dreßler und die Ost-SPD, die durchgesetzt haben, daß die Sozialunion gleichrangig mit der Währungs- und Wirtschaftsunion eingeführt wird
({22})
und die Kaufkraft insbesondere der kleinen Rentner auch nach der Währungsumstellung nicht niedriger ist als vorher. - Und das ist gut so.
({23})
Wir begrüßen es auch, daß unsere über Wochen erhobene Forderung, die DDR solle ihre Eigenanstrengungen verstärken und dafür z. B. ihr Volksvermögen mobilisieren, in Artikel 26 des Staatsvertrages ihren Niederschlag gefunden hat. Aber: Eine Reihe unserer Forderungen, die für das Gelingen der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion von großer Bedeutung sind, haben Sie bisher nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Wegen dieser Mängel kann die SPD dem Vertragswerk in der jetzt vorliegenden Fassung nicht zustimmen, meine Damen und Herren.
({24})
Wir stehen jetzt erst am Anfang der parlamentarischen Beratungen.
({25})
Die Wähler haben uns für unsere Kritik an Ihren Methoden und dem Inhalt des Vertrages eine Mehrheit in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen und damit im Bundesrat gegeben. Es ist unsere Pflicht, mit den Mitteln der Opposition hier im Bundestag und mit der neu gewonnenen Mehrheit im Bundesrat möglichst viel von diesem Bürgerwillen durchzusetzen.
({26})
Was wären wir für eine Opposition,
({27})
wenn wir die parlamentarische Beratung durch eine
({28})
- Frau Präsidentin, es ist schwierig, hier unter diesen Umständen zu reden.
Darf ich bitten, daß wir zunächst zuhören.
Was wären wir für eine Opposition, wenn wir die parlamentarische Beratung durch eine vorab erklärte, bedingungslose Zustimmung zu einem ergebnislosen Palaver verkommen ließen?
({0})
Auch Abgeordnete der Regierungsparteien sollten bei dieser Beratung im übrigen ihren Verstand nicht an der Garderobe abgeben. Auch für sie ist es keine Schande, brauchbare Verbesserungsvorschläge zu machen. Daß in einem Vertragswerk, meine Damen und Herren, von 432 Seiten Umfang, das in einer beispiellosen Hektik erstellt worden ist, Mängel vorhanden sind, ist doch selbstverständlich und sagt einem schon der normale Menschenverstand.
({1})
Ich stelle hier ausdrücklich fest: Uns geht es nicht um eine Verhinderung des Vertrages.
({2})
Uns geht es nicht um eine Verzögerung des Vertrages.
({3})
Uns geht es ausschließlich um die Verbesserung des Vertrages im Interesse der Bürger in beiden Teilen Deutschlands.
({4})
Herr Waigel, Sie fragten an dieser Stelle nach dem Unterschied zwischen der SPD in der DDR und der SPD hier. In unseren Zielen, Verbesserungen einzuführen, sind wir uns völlig einig. Der Unterschied besteht nur im zeitlichen Ablauf. Die DDR-SPD mußte sich letzten Freitag im Kabinett entscheiden. Wir aber stehen vor dreiwöchigen parlamentarischen Verhandlungen, und erst danach werden wir unsere Entscheidung treffen, und zwar im Lichte Ihrer Antworten.
({5})
Solche Verbesserungen müssen nicht notwendigerweise Änderungen des Vertragstextes bedeuten
({6})
- ich freue mich, daß ich heute dauernd zu Ihrer Freude beitrage - , sondern können auch außerhalb des Vertragstextes
({7})
in Zusätzen, Protokollnotizen, Anlagen, Briefwechseln oder verbindlichen Zusagen geregelt werden. Ihre endgültige Entscheidung zum Vertrag wird die SPD dann im Lichte der Antworten treffen, die auf unsere Forderungen gegeben werden.
({8})
Unsere Verbesserungsvorschläge bedeuten kein finanzielles Draufsatteln. Im Gegenteil: Das Ziel ist vielmehr Einsparung und Kostenminderung. Um ei16680
nes gleich klarzustellen: Seit gestern geistert die angebliche Forderung der SPD nach einem 20-Milliarden-DM-Paket herum. Für die SPD-Bundestagsfraktion und auch für den SPD-Kanzlerkandidaten stelle ich hiermit verbindlich fest: Wir denken nicht im Traum daran, eine solche milliardenschwere Forderung aufzustellen.
({9})
- Das ärgert Sie schon ein bißchen. Sie hätten es ganz gerne, um dann draufhauen zu können.
Nun zu unseren Vorschlägen: Es ist sicherzustellen, daß das Vermögen des Stasi, der SED und ihrer Hilfsorganisationen sowie der Blockparteien für Zwecke der Allgemeinheit herangezogen wird.
({10})
Es ist den Bürgern nicht zuzumuten, daß die SED und die Blockparteien ihr unrechtmäßig zusammengeschachertes Vermögen behalten dürfen, während die Bürger hier höhere Kosten bezahlen müssen.
(Beifall bei der SPD - Zuruf von der CDU/
CSU: Das hätten Sie mal 1987 sagen sollen!
Ich finde es unverantwortlich, daß die Ost-CDU hier offensichtlich blockiert.
({11})
Sie hat als Blockpartei 40 Jahre lang die SED-Herrschaft mitgemacht und trägt für die schlimmen Folgen die gleiche Verantwortung.
({12})
Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland erwarten jetzt von Herrn de Maizière in dieser Frage Taten und keine weiteren Ausweichmanöver und Winkelzüge.
({13})
Ich bin fest davon überzeugt: Diese Erwartung ist auch bei den meisten Bürgern in der DDR vorhanden.
({14})
Meine Damen und Herren, weil der Kanzler an dieser Stelle immer zu sagen pflegt, wir seien gegen die Einheit: Sind wir Gegner der Einheit, weil wir uns für die Einziehung des SED- und Stasi-Vermögens einsetzen?
({15})
Es müssen endlich konkrete Vorkehrungen getroffen werden - ({16})
- Wenn Sie das bitte von der Zeit abrechnen würden, Frau Präsidentin.
Sie schenken der Rednerin weitere Zeit, wenn Sie sich so verhalten.
Es müssen endlich konkrete Vorkehrungen getroffen werden, daß ehemalige hohe SED- und Stasi-Funktionäre ihre großen Sparguthaben nicht in D-Mark umtauschen können,
({0})
die sie sich durch ihre politische Funktion auf Kosten der Bevölkerung zusammengerafft haben.
({1})
Wir denken z. B. an Höchstgrenzen.
Ich sehe bisher auch nicht, meine Damen und Herren, daß die Regierungen in Bonn und Ost-Berlin ausreichende Maßnahmen zur Verhinderung riesiger Spekulationsgewinne getroffen hätten. Wir dürfen nicht zulassen, daß große Spekulanten die Hauptprofiteure der Währungsumstellung werden.
({2})
- Das ist ja völlig richtig; aber dann muß endlich konkret etwas auf den Tisch, damit es wirklich verhindert wird. Das ist bisher nicht ausreichend der Fall.
Die Bedeutung des Umweltschutzes erfordert es, der Schaffung einer Umweltunion den gleichen Rang wie der Wirtschafts- und Währungsunion zu geben. Wir, meine Damen und Herren, wollen nämlich nicht nur eine soziale, wir wollen eine soziale und ökologische Marktwirtschaft, die die SPD in der DDR noch im Widerstand gefordert hat, als Ihr Wirtschaftsminister Pohl in der DDR noch gar nicht wußte, wie man das buchstabiert.
({3})
Wir wissen, daß bei der Strukturanpassung der Wirtschaft der DDR vorübergehende Arbeitslosigkeit unvermeidlich sein wird. Für Sozialdemokraten ist es aber unabdingbar, Arbeitslosigkeit auf das absolut unvermeidliche Maß zu beschränken.
({4})
Deswegen haben wir von Anfang an parallel zur Wirtschafts- und Währungsunion Maßnahmen gefordert, um den Strukturwandel der Wirtschaft zu erleichtern, die Schaffung moderner und qualifizierter Arbeitsplätze zu unterstützen, den Zusammenbruch langfristig wettbewerbsfähiger Unternehmen zu vermeiden und diesen die Umstellung zu ermöglichen.
({5})
Ebenso haben wir von Anfang an ein Fortbildungs-, Umschulungs- und Qualifizierungsprogramm gefordert. Es ist ein Trauerspiel, daß dies nicht schon längst angelaufen ist.
({6})
Die bisherige Regelung der Betriebsschulden ist unzureichend. Mit Sicherheit werden dadurch BeFrau Matthäus-Maier
triebe, die eigentlich wettbewerbsfähig sind, in den Konkurs getrieben. So wird vermeidbare Arbeitslosigkeit produziert. Es wäre besser, wenn der Staat DDR die Schulden seiner Betriebe entweder zum Teil oder ganz übernähme und aus den Erlösen der Privatisierung begliche.
({7})
Herr Finanzminister Waigel, es ist unzutreffend - das wissen Sie auch -, daß dafür auf jeden Fall Ausgleichsforderungen entstehen müßten. Wenn die Schulden vorher übernommen werden, dann tauchen sie in der Bilanz der Unternehmen selbstverständlich nicht mehr auf,
({8})
und die DDR kann aus den Privatisierungserlösen - ({9})
- Meine Damen und Herren, da gerade Sie in der FDP so lauthals lachen: Ich erinnere mich sehr wohl daran, daß der Kollege Otto Graf Lambsdorff diese Position vor kurzem laut und deutlich, im übrigen mit mir zusammen, vertreten hat.
({10})
Frau Abgeordnete Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Faltlhauser?
Ja.
Frau Kollegin
Matthäus-Maier, können Sie mir erklären, wer denn sonst diese 120 Milliarden DM Westgeld zahlen soll, wenn Sie sie gewissermaßen auf zauberische Weise verschwinden lassen wollen? Wollen Sie das aus Ihrem Parteivermögen in der DDR bezahlen?
({0})
Erstens sollten wir die Zahl, obwohl sie schlimm genug ist, nicht künstlich erhöhen. Es sind nicht 120 Milliarden DM, sondern 100 Milliarden DM; das ist allerdings immer noch sehr viel. Und zweitens: Selbstverständlich soll dieser Betrag aus den Privatisierungserlösen des Staates DDR aufgebracht werden.
({0})
Die „Treuhand" hat das nach ihren Vorstellungen auch vor. Und die Privatisierungserlöse der DDR werden entsprechend höher sein, wenn die Betriebe vorher entschuldet worden sind. Es kann sich also allenfalls um Überbrückungsfinanzierung und Liquiditätshilfen handeln, aber nicht um das, was Sie hier sagen.
({1})
Meine Damen und Herren, wenn eine Reduzierung der Betriebsschulden - individuell oder global - unterbleibt, bedeutet dies eine erhebliche zusätzliche Arbeitslosigkeit. Um so wichtiger werden Maßnahmen, die den DDR-Betrieben in der besonders schwierigen Übergangszeit von der Kommandowirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft einen zeitweiligen Schutz - keine Dauersubventionen - zur Strukturanpassung gewähren, von Liquiditätshilfen bis hin zu Bürgschaften. Hier gibt es ein breites Spektrum von Maßnahmen, die im übrigen auch nicht unbedingt Geld kosten müssen, sondern dem DDR-Haushalt sogar Einnahmen bringen können. Als Beispiel dafür nenne ich etwa die wohl auch bei Ihnen diskutierte Sondersteuer auf bestimmte Importgüter.
({2})
Auch der Verkauf von Haus- und Wohnungseigentum - natürlich nicht zu Schleuderpreisen - an bisherige Mieter könnte Geld in die Staatskasse bringen und zugleich im Bausektor zu einer beschleunigten Schaffung neuer Arbeitsplätze durch die damit ausgelösten Renovierungs- und Aufbauarbeiten führen.
({3})
Meine Damen und Herren, jeder Fehler, der jetzt gemacht wird, schafft vermeidbare Arbeitslosigkeit, vermeidbares menschliches Leid, vermeidbare Kosten und leider auch vermeidbare Übersiedlerzahlen. Deshalb müssen Fehler unbedingt vermieden werden.
({4})
Die deutsche Einheit stellt die bundesdeutsche Finanzpolitik vor eine ihrer größten Bewährungsproben. Dieser Herausforderung wird sie nur gerecht, wenn sie sich jetzt strikt am Kurs finanzpolitischer Solidität und Berechenbarkeit orientiert.
({5})
Ich weiß, daß Sie es in der Regel nicht lieben, wenn man über die Kosten spricht; es sei unfein, wenn man über die Einheit spricht. Nein, meine Damen und Herren, das ist nur bei Leuten unfein, die tagtäglich so viel Geld ausgeben können, daß es ihnen nichts ausmacht, wenn ein paar hundert Mark fehlen. Für die Masse der Bevölkerung ist es eine wichtige Frage: Was kostet die deutsche Einheit, und wer soll sie bezahlen? Deswegen stellen wir die Frage.
({6})
Einen Kurs finanzpolitischer Solidität, Herr Waigel, erfüllt der geplante 115-Milliarden-DM-Fonds allerdings nicht. Sie sagen, die SPD-Länder hätten zugestimmt und ich sollte einmal mit Herrn Momper sprechen. Das haben wir selbstverständlich schon getan, der Herr Regierende Bürgermeister und ich. Daß die Bundesländer dem Sonderfonds „Deutsche Einheit"
zugestimmt haben, ist aus den Länderinteressen heraus voll und ganz nachvollziehbar.
({7})
Sie konnten damit die gegenwärtige Umsatzsteuerverteilung für zwei weitere Jahre festschreiben, sie konnten den gegenwärtigen Länderfinanzausgleich bis 1995 sichern, und sie konnten das aus der DDR kommende Kostenrisiko für ihre Haushalte begrenzen. Das ändert aber nichts an der schlichten Wahrheit: Der Sonderfonds ist im wesentlichen nichts anderes als die Finanzierung der deutschen Einheit auf Pump.
({8})
Ich halte das für ein finanzpolitisches Versagen des Bundesfinanzministers.
({9})
Angesichts der vor uns stehenden Herausforderungen müßte die allererste Aufgabe sein: einsparen und umschichten. Dabei müssen alle bisherigen Prioritäten schonungslos auf den Prüfstand.
({10})
Erst wenn alle energischen Sparanstrengungen wirklich unternommen worden sind, dann kann man prüfen, wieweit Kredite noch erforderlich sind. Sie aber haben es umgedreht: Sie haben sich dem heilsamen Zwang des Sparens entzogen und statt dessen den leichten Weg des Schuldenmachens gewählt.
({11})
Dieses Schuldenmachen ist übrigens auch der teuerste Weg zur deutschen Einheit. Meine Damen und Herren, es gibt viele Menschen, die meinen: Wenn ich etwas über Schulden finanziere, dann kostet es eigentlich nichts, weil es ja fremder Leute Geld ist.
({12})
Das Gegenteil ist der Fall. Es darf nicht vergessen werden, daß für die geplanten Kredite von 95 Milliarden DM nicht nur Tilgung bezahlt werden muß, sondern über die gesamte Laufzeit des Fonds nach bisherigem Zinsniveau sage und schreibe 180 Milliarden DM allein für Zinsen zu zahlen sind. Deshalb kostet dieser Sonderfonds die Bundesbürger insgesamt 275 Milliarden DM, obwohl man nur 95 Milliarden DM ausgeben kann. Dieses Versagen vor der Einsparaufgabe kommt den Steuerzahler leider teuer zu stehen.
({13})
Auch beim Nachtragshaushalt keine Spur von Sparen. Sie, Herr Finanzminister, hatten sich doch verpflichtet, noch in diesem Jahr 2 Milliarden DM einzusparen und dieses Geld in den Fonds zu geben. Wer aber in Ihrem Nachtragshaushalt jetzt nach Einsparungen sucht, findet dort nichts. Im Nachtragshaushalt sind vielmehr die 2 Milliarden DM für den Sonderfonds eindeutig nicht durch Einsparungen, sondern durch Steuermehreinnahmen finanziert worden. Das nenne ich Kapitulation der Finanzpolitik vor dem Erfordernis einer sparsamen Haushaltsführung.
Ich stelle fest: Wer jetzt den leichten, bequemen Weg des Schuldenmachens geht, der versucht, sich dem heilsamen Zwang zum Einsparen zu entziehen, und das ist schade.
({14})
Wir fordern statt dessen: Sparen Sie ein! Sparen Sie - Herr Bötsch, Sie warteten schon darauf - endlich beim Verteidigungshaushalt.
({15})
Das ist nicht zum Lachen und zum Witzeln. Die meisten Menschen wissen nicht, daß wir im Jahr der allgemeinen Abrüstung und der Revolutionen in Mittel-und Osteuropa in der Bundesrepublik Deutschland einen Rekordverteidigungshaushalt von 54 Milliarden DM haben.
({16})
Wir geben allein im laufenden Jahr 1990 2,5 Milliarden DM für Munition aus. Ich glaube, jeder weiß, daß das ganz unfaßbar ist. Meistens sagen auch Sie selber hinter vorgehaltener Hand: Das müssen wir streichen. Aber dann tun Sie es doch endlich! Wir machen Ihnen den Vorschlag.
({17})
Ich frage Sie: Wann denn sonst, wenn nicht angesichts dieser Herausforderungen, wollen Sie das schöne Wort vom Subventionsabbau in die Tat umsetzen? Unsere Vorschläge sind: Der Bau des Schnellen Brüters muß sofort eingestellt werden. Die Subventionierung des Verbrauchs von Mineralöl, etwa beim Flugbenzin, muß beendet werden.
({18})
Es gibt viele andere Dinge, meine Damen und Herren: Seit der Wende hat allein diese Bundesregierung drei neue Ministerposten geschaffen und acht neue Staatssekretäre eingesetzt. Ich finde nun wirklich: Spätestens jetzt ist es an der Zeit, Minister einzusparen. Herr Bundeskanzler, Sie müßten schon deswegen ein Interesse daran haben, weil Herr Klein, Ihr sogenannter Informationsminister, offensichtlich, wie die Wahlen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen zeigen
({19})
- und in München - , Ihre Politik nicht besser verkaufen kann, als sie ist, nämlich falsch.
({20})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung kann den Menschen auch nicht klarmachen, daß sie trotz der Herausforderung der deutschen Einheit immer noch an ihrem Plan festhält, die Steuern für Spitzenverdiener und Unternehmen in Höhe von 25 Milliarden DM zu senken.
({21})
Bundesfinanzminister Waigel hat sich erst vor kurzem - so waren seine Worte - ausdrücklich dafür verbürgt, daß dieser Plan in die Tat umgesetzt wird. Wir fordern Sie auf: Lassen Sie endlich ab von Ihren wirtschaftspolitisch unsinnigen und ungerechten Steuerplänen!
({22})
Dann haben wir 25 Milliarden DM, die für die Finanzierung der deutschen Einheit dringend gebraucht werden. Kommen Sie endlich zu einer soliden Finanzpolitik! Denn dann brauchen wir keine Steuererhöhungen, und die deutsche Einheit ist ohne Steuererhöhungen solide finanzierbar.
({23})
Herr Bundeskanzler, Sie haben es leichtfertig versäumt, vor Vertragsabschluß eine breite Mehrheit für den Vertrag in den Parlamenten und in der Bevölkerung sicherzustellen. Es liegt jetzt in Ihrer Verantwortung, wenigstens im nachhinein für diese Mehrheit Sorge zu tragen. Der Vertrag wird nicht an der mangelnden Bereitschaft der deutschen Sozialdemokraten scheitern, Verantwortung auch in der Opposition zu übernehmen. Ein Hindernis ist bisher allein die Uneinsichtigkeit und Überheblichkeit des Bundeskanzlers.
({24})
Wir fordern Sie auf: Verschließen Sie sich nicht länger unseren vernünftigen Verbesserungsvorschlägen. Herr Bundeskanzler, Sie sind jetzt am Zuge!
({25})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Kollegin Matthäus-Maier, das war ein wortgewaltiger, temperamentvoller Vortrag, den Sie dem Hause geboten haben.
({0})
Aber die politischen Grundfragen, die zu beantworten sind, und zwar verantwortlich für die Fraktionen und die Parteien, wurden dadurch nicht beantwortet.
({1})
Deswegen möchte ich zwei Grundfragen an die Opposition richten: Wollen Sie die staatliche Einheit Deutschlands, oder ziehen Sie nach wie vor die Zweistaatlichkeit vor, die jahrelang die Linie Ihrer Politik gewesen ist?
({2})
- Fragen Sie doch einmal Ihren Kanzlerkandidaten, was er dazu meint, und prüfen Sie sein Verhalten! - Die zweite Frage ist: Wenn Sie die staatliche Einheit Deutschlands wollen, wollen Sie sie jetzt, oder wollen Sie sie auf ungewisse Zeit mit ungewissem Ergebnis vertagen?
Unsere Position ist ganz eindeutig: Wir wollen die staatliche Einheit Deutschlands. Wir wollten sie immer, und wir sind von diesem Kurs nie abgewichen.
({3})
Wir wollen die staatliche Einheit jetzt, weil die Rahmenbedingungen dafür nie günstiger als in der gegenwärtigen Situation gewesen sind.
({4})
Unsere Wirtschafts- und Finanzkraft hat nach acht Jahren der Konsolidierung und der inneren Reformen einen Gipfelpunkt erreicht. - Der Finanzminister hat das vorhin an Hand von Zahlen sehr überzeugend dargelegt. - Wir sind die drittgrößte Industrienation der Welt. Wir sind - abwechselnd mit den USA - Weltmeister im Export. Mit der Deutschen Mark haben wir neben dem Dollar die wichtigste Reservewährung der Welt, die in Europa Leitwährung ist.
Unsere Verbündeten, insbesondere die Vereinigten Staaten von Amerika, Frankreich und Großbritannien, stehen in der Frage des Staatsvertrages und der Wiedervereinigung nach Art. 23 GG an unserer Seite.
Für die Sowjetunion sind wir ein wichtiger Partner ihrer technischen und ökonomischen Entwicklung.
({5})
Mit ihr verbindet uns der Wunsch nach Abrüstung und enger Zusammenarbeit. Die Sowjetunion hat die Wiedervereinigung Deutschlands zur deutschen Sache erklärt und hinzugefügt, daß die Klärung der äußeren Aspekte nicht zu einer Diskriminierung des vereinigten Deutschlands führen dürfe.
Unsere östlichen Nachbarn - Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn - , mit denen sich ein Verhältnis des Vertrauens und enger Zusammenarbeit herausbildet, sehen - wie wir selbst - unseren Platz in der NATO. Diese Rahmenbedingungen sind vor allem das Werk von Helmut Kohl, des Bundeskanzlers, und seines Außenministers Hans-Dietrich Genscher, denen wir Dank für ihre historische Leistung sagen.
({6})
Allen, die jetzt bremsen oder zögern, sage ich: Es wäre unverantwortlich, darauf zu vertrauen, daß sich an dieser von uns mit geschaffenen Konstellation nichts ändern könnte. Deshalb handeln wir jetzt. Der Kairos, der geschichtliche Augenblick, ist da. Wer ihn versäumt, setzt unsere Zukunft aufs Spiel. Auch für den wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung, für die Sanierung der vom Sozialismus heruntergewirtschafteten DDR, nicht nur ihrer Betriebe, sondern vor allem auch ihrer Natur und ihrer Umwelt, ist jetzt entschlossenes Handeln geboten.
Meine Damen und Herren der SPD, es gehört leider zu Ihren Traditionen, sich an den Wendepunkten der Geschichte in den Krähwinkel zurückzuziehen. Die SPD war gegen die Soziale Marktwirtschaft, gegen die Westbindung, gegen die NATO-Mitgliedschaft, gegen einen deutschen Verteidigungsbeitrag.
({7})
Jetzt ist sie - jedenfalls nach Vorstandsbeschluß - gegen den Staatsvertrag mit der DDR, gegen den Beitritt der DDR zum Bund gemäß Art. 23 GG und gegen baldige gesamtdeutsche Wahlen.
Im übrigen, meine Damen und Herren, erwecken die SPD-Parteien in Ost und West nicht den Eindruck, als ob sie Schwesterparteien seien. Die SPD-Ost stimmt dem Staatsvertrag zu, die SPD-West dagegen sagt: Ja, aber vielleicht nein. Die SPD-Ost ist nicht der Meinung, der Staatsvertrag zugunsten des DDR-Gebiets bedürfe der Nachbesserung. Eben das sagt die SPD-West jetzt. Sie setzt sich damit in vollen Widerspruch zu dem, was Sie bisher gesagt hat. Meine Damen und Herren der SPD, Sie haben bei den Wählern in der Bundesrepublik Deutschland bisher doch den Eindruck zu erwecken versucht, die Bundesrepublik Deutschland leiste nicht zuwenig, sondern zuviel an die DDR, wodurch der Wohlstand in Westdeutschland gefährdet werde.
Frau Matthäus-Maier, die Einzelvorschläge, die Sie machen, sind im Staatsvertrag weitgehend enthalten. Das gilt z. B. in vollem Umfang für den Umweltschutz und die Umweltunion. Hier ist in Absprache mit der DDR-Regierung sichergestellt, daß in der DDR entsprechende gesetzliche Bestimmungen erlassen werden. Gleiches gilt für die Behandlung unrechtmäßig erworbenen Parteivermögens und des Stasi-Vermögens. Meine Damen und Herren, damit rennen Sie doch offene Türen ein. Wir wollen selbstverständlich, daß diesen Leuten diese Vermögen weggenommen werden.
({8})
Über all das haben wir übrigens bereits in der letzten Woche im Ausschuß Deutsche Einheit gesprochen und Einvernehmen erzielt. Zur Verwirklichung dieser Ziele - das ist jetzt das Entscheidende - bedarf es keiner Änderung des Staatsvertrages. Es besteht kein sachlicher Grund, sein Inkrafttreten deshalb zu vertagen. Das, was noch abzusprechen ist, kann auch außerhalb des Staatsvertrages geschehen.
({9})
Meine Damen und Herren, ich möchte nach dieser Klarstellung alle Deutschen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland dazu aufrufen, jetzt die gemeinsame Sache in den Vordergrund zu stellen. Die friedliche Revolution in der DDR ist noch nicht vollendet. Die SED, die Partei des Mauerbaus, des Stacheldrahts, der Massengräber, des Schießbefehls und des Stasi-Terrors, ist nicht verschwunden. Sie hat nur ihren Namen geändert; sie heißt jetzt PDS. In unglaublicher Frechheit spielt sie sich heute als Hüterin der Demokratie und der sozialen Gerechtigkeit auf - Werte, die sie während der Zeit ihrer Herrschaft in infamster Weise mißachtet hat.
({10})
Es gibt immer noch Angst in der DDR vor dieser SED/ PDS und ihrem noch nicht vergessenen Stasi-Terror. Es werden wohl noch Jahre vergehen, bis die geistigen, moralischen und politischen Folgen dieser
40 Jahre roter Diktatur, die auf die braune Diktatur gefolgt ist, behoben sein werden.
({11})
Meine Damen und Herren, wie ist es bei uns? Begreift man wenigstens jetzt, was drüben geschehen ist? Begreift man, daß eine erfolgreiche demokratische Revolution in der DDR auch uns Westdeutsche und ganz Europa von einer großen Gefahr befreit? Oder fragt man bei uns nur, was es uns kosten könnte, wenn wir zur friedlichen Revolution in der DDR, zum Sieg der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte im anderen Teil unseres Vaterlandes unseren Beitrag leisten?
Es ist doch beschämend, daß sich der Kanzlerkandidat der SPD zum Sprecher einer solch kleinkarierten Auffassung macht.
({12})
Meine Damen und Herren von der SPD, erwecken Sie doch nicht den Eindruck, daß Ihnen anstatt des Herzens ein Rechenschieber eingesetzt worden wäre. Wir, die CDU/CSU, sind jedenfalls nicht bereit, durch soziale Verweigerung die Grenze zur DDR wieder zu schließen.
({13})
Ich frage den Partei- und Fraktionsvorsitzenden der SPD, Herrn Kollegen Vogel, der sich interessanterweise heute nicht zu Wort gemeldet hat, ob es seine Absicht ist, all das auszuführen, was ihm der kleine Machiavelli von der Saar vorgibt, der mit Deutschland nichts am Hut hat und der bereit ist, eine Frage unserer nationalen Existenz seinen persönlichen Machtinteressen unterzuordnen.
({14})
Damit, meine Meine Damen und Herren, wird er scheitern; damit werden auch Sie scheitern, Herr Oppositionsführer; damit wird auch die SPD scheitern. Das alles ist erträglich. Aber lassen Sie Deutschland nicht scheitern! Erinnern Sie sich an Kurt Schumacher!
({15})
Er hätte in dieser Stunde seine patriotische Pflicht ganz gewiß allen parteitaktischen Überlegungen übergeordnet.
Daß die SPD im übrigen, was die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen der Wiedervereinigung angeht, falsch rechnet, ergibt sich aus nahezu allen Gutachten sachverständiger Institute, die außerordentlich positiv lauten. Es kann kein Zweifel sein: Die Wiedervereinigung wird nach einigen Übergangsschwierigkeiten allen zugute kommen, auch uns Westdeutschen.
Aber das ist nicht das Entscheidende. Wer seinem Nachbarn, ja in diesem Falle seinem Bruder, in einer schwierigen Lage nicht beisteht, der handelt verwerflich.
({16})
Wenn das die Politik Ihres Kanzlerkandidaten, meine Damen und Herren der SPD, ist, dann mögen Sie das mitverantworten. Wir, die CDU/CSU, halten an der Politik der Solidarität und der Freiheit Deutschlands fest. Wir haben das getan, seitdem es uns gibt, und das wird so bleiben.
({17})
Bei allen Rechnereien über den Staatsvertrag sollten wir nicht vergessen, um was es in der DDR ging und geht. An den Demonstrationen gegen das kommunistische Regime haben sich Zehntausende, Hunderttausende, ja Millionen beteiligt. Beeindruckend war die Friedlichkeit dieser Demonstrationen. Keine Scheibe ging zu Bruch, kein Demonstrant war vermummt, von keinem ging Gewalt aus. Die Demonstranten trugen Kerzen durch die Straßen ihrer Städte und setzten sie den Bewaffneten vor die Stiefel. Die Welt hat es mit Respekt und Bewunderung gesehen. Wir Westdeutsche haben allen Anlaß, uns bei unseren Landsleuten in der DDR zu bedanken, weil sie ein moralisches Kapital geschaffen haben, das nun dem ganzen deutschen Volk zugute kommt.
({18})
Zu danken haben wir auch den Ungarn. Sie trafen vor dem Hintergrund der Entwicklung in der DDR eine mutige Entscheidung. Sie erlaubten den Flüchtlingen aus der DDR, über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland auszureisen.
({19})
Daß die Ungarn, die 1956 durch eine sowjetische Interventionsarmee blutig niedergeschlagen worden waren, das wagten, war tapfer. Es war ein Akt großmütiger Solidarität, die wir Deutsche den Ungarn nie vergessen werden.
({20})
Aber, meine Damen und Herren, die Tapferkeit der Ungarn wäre ohne Grundlage gewesen, wenn wir, die CDU/CSU Deutschlands, nicht mit Entschiedenheit
({21})
die gemeinsame Staatsbürgerschaft der Deutschen bei uns und in der DDR auch gegen anderslautende Vorschläge führender Sozialdemokraten, z. B. des jetzigen Kanzlerkandidaten, verteidigt hätten.
({22})
Ohne die gemeinsame Staatsbürgerschaft hätten unsere Botschaften in Budapest, Prag und Warschau den Flüchtlingen aus der DDR Reisepässe der Bundesrepublik Deutschland nicht ausstellen können.
Es gab noch einen zweiten Punkt, der den grundsätzlichen Unterschied zwischen unserer Deutschlandpolitik und der der SPD deutlich gemacht hat. Die sozialdemokratisch regierten Bundesländer haben es zuletzt abgelehnt, die Erfassungsstelle in Salzgitter mitzufinanzieren.
({23})
Meine Damen und Herren, Salzgitter hat den StasiTerror nicht verhindert, aber Salzgitter hat ihn gebremst und trägt heute dazu bei, die SED-Verbrechen in rechtsstaatlichen Verfahren anklagen zu können.
({24})
Unsere Deutschlandpolitik der Standhaftigkeit und Konsequenz brauchte und braucht zum Erfolg eine konstruktive Europa-, eine ebenso konstruktive Allianz- und eine ebenso konstruktive Ostpolitik ebenso wie eine nicht minder erfolgreiche Wirtschafts-, Haushalts- und Finanzpolitik. Allen diesen Erfordernissen sind wir gerecht geworden. Unsere Politik beruht auf zwei Grundentscheidungen: auf der Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft und auf der Entscheidung für den Westen, d. h. für die Allianz der westlichen Demokratien und für die Europäische Gemeinschaft. Ohne diese Entscheidungen hätten wir heute weder Verbündete im Westen noch Optionen im Osten, der Ring des Mißtrauens hätte sich schon längst wieder, wie so oft in diesem Jahrhundert, um unser Land geschlossen. Die Entscheidung für den Westen war moralisch ebenso wie strategisch richtig. Moralisch war sie richtig, weil sie unser Volk in die Gemeinschaft der freien Völker führte, zu deren Staatsräson Freiheit, Demokratie und Menschenrechte gehören. Sie war strategisch richtig, weil wir als Volk in der Mitte Europas ohne Verbündete uns nicht behaupten können, wie die tragische Geschichte dieses Jahrhunderts gezeigt hat. Jetzt haben wir die richtigen Verbündeten, von denen wir uns auch dann nicht trennen werden, wenn Deutschland wiedervereinigt ist.
({25})
Es gehört zu unserem Selbstbestimmungsrecht, uns die Bündnisse zu wählen, in denen wir Sicherheit finden. In der KSZE-Schlußakte ist dieses Recht auch von der Sowjetunion anerkannt worden, was bisher viel zu wenig gewürdigt wird.
Dabei ist folgendes zu bedenken. Auch das vereinigte Deutschland wird politisch-militärisch keine Großmacht sein. Die Sowjetunion ist dagegen nukleare Weltmacht und wird es bleiben. Sie ist auch in Zukunft die einzige Großmacht in Europa. Nur sie kann sich auch ohne Bündnis und ohne Glacis allein behaupten. Alle anderen europäischen Staaten - es sind Kleinstaaten oder Mittelmächte - bleiben dagegen auf das Bündnis und auf die Mitwirkung Deutschlands angewiesen, da das Bündnis ohne uns seinen Zusammenhalt verlöre.
Wir haben trotz aller Einwendungen, die wir jetzt aus Moskau hören, die Aussicht, daß auch die Sowjetunion im Zuge der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen dieser Einschätzung zustimmt. Die Sowjetunion braucht jetzt etwas anderes als militärische Obermacht. Sie braucht volle Regale und glückliche Menschen. Das ist nicht mit Panzern zu erreichen. Dazu ist die Hilfe des Westens nötig, nicht zuletzt die Hilfe der Deutschen, die der größte Handelspartner der Sowjetunion sind. Wir haben in der Vergangenheit bewiesen, daß wir dazu bereit sind, und wir werden nach der Wiedervereinigung Deutschlands in noch weit größerem Umfang dazu bereit sein.
Meine Damen und Herren, unseren Landsleuten in der DDR möchte ich sagen: Die Soziale Marktwirt16686
schaft ist keine kapitalistische Veranstaltung. Sie hat unseren Arbeitern nicht nur Spitzenlöhne, vermögenswirksame Leistungen und Eigentum gebracht, sondern auch das Betriebsverfassungsgesetz und die Mitbestimmung. Nicht Gängelei und Fremdbestimmung durch Funktionäre, sondern persönliche Mitverantwortung in den Betrieben, das ist das Markenzeichen eines Modells, das der Europäische Gewerkschaftsbund jetzt auf ganz Europa übertragen sehen möchte.
Meine Damen und Herren, es ist unser Modell; es soll in Zukunft auch für unsere Landsleute in der DDR gelten. Wir sehen in diesem Modell einen Beitrag zur Produktivität und zur Effizienz der Unternehmen und damit auch der Volkswirtschaft. Aber es ist vor allem Ausdruck unseres Respekts vor der Würde des arbeitenden Menschen.
Meine Damen und Herren, unsere auf der Sozialen Marktwirtschaft beruhende wirtschaftliche Stärke hat es uns ermöglicht, der frei gewählten Regierung der DDR ein wirklich großzügiges Angebot zu machen, das seinen Niederschlag in dem Staatsvertrag findet, der jetzt dem Deutschen Bundestag zur Beratung vorliegt. Dieser Vertrag enthält das bisher einmalige Unterfangen, ein verrottetes und gescheitertes System sozialistischer Mißwirtschaft über Nacht in eine marktwirtschaftliche Ordnung zu überführen.
Die Währungsreform des Jahres 1948 war demgegenüber einfacher und nur in ihrer Kühnheit vergleichbar mit dem, was wir jetzt mit der Gründung einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion der beiden deutschen Staaten unternehmen. Denn diesmal sind die Erwartungen höher. Es soll einfach alles von Anfang an stimmen - was sicherlich nur begrenzt möglich sein kann - : die Einkommen, die Sozialsysteme, die Investitionsanreize, die Rechtssicherheit und die Stabilität der gemeinsamen Währung.
Das letzte, meine Freunde, meine Damen und Herren, ist das Wichtigste. Geldwertstabilität ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine soziale Errungenschaft. Dafür, daß sie erhalten bleibt, steht auch die unabhängige und mit Recht hochangesehene Deutsche Bundesbank.
({26})
Zwischen der Öffnung der Mauer und der Unterzeichnung des Staatsvertrages lagen nur sechs Monate und neun Tage, angefüllt mit politischer Arbeit, wie sie dichter, intensiver und erfolgreicher nicht hätte geleistet werden können. Wir standen unter Zeitdruck. Denn es stellte sich ja die Frage: Wie können wir verhindern, daß die Menschen die DDR verlassen, ohne daß sie die Grenze wieder zumachen? Wir mußten schnell handeln. Von Hektik in diesem Zusammenhang zu reden, Frau Matthäus-Maier, ist wirklich völlig unangebracht und absurd.
({27})
Wir sollten auch nicht vergessen, daß unsere Regierung, insbesondere der Bundeskanzler und der Außenminister, ständig vor der Aufgabe stand, unsere Verbündeten in der Europäischen Gemeinschaft und in der atlantischen Allianz, aber auch unsere großen Partner in Osteuropa über das zu informieren, was wir hier mit der deutschen Einheit erstreben und was das für sie bedeutet.
Es ist wirklich Übermenschliches geleistet worden. Das mit Hektik abzuwerten ist völlig unmöglich.
({28})
Ich möchte jedenfalls den Verhandlungsführern, den zuständigen Ressortministern und den Chefs der beiden deutschen Regierungen für diese ungewöhnliche Leistung danken.
({29})
Meine Damen und Herren, am 2. Dezember oder am 13. Januar wird zumindest der neue Bundestag gewählt. Meiner Meinung nach wäre es gut, wenn sich unsere Landsleute in der DDR an dieser Wahl beteiligen könnten.
({30})
Denn nur die staatliche Einheit, die damit vollzogen würde, gibt denen volle Sicherheit, die in der heutigen DDR als Unternehmer investieren oder als Arbeitnehmer oder Selbständige arbeiten wollen. Sie könnten dann ihr Aufbauwerk in der beruhigenden Gewißheit leisten, daß sie in einem vereinigten Deutschland arbeiten und daß sich die Lebensverhältnisse im östlichen Landesteil denen im wesentlichen Landesteil in kurzer Zeit angleichen würden.
Die Entscheidung hierüber liegt nicht bei uns, sondern bei der Volkskammer und der Regierung der DDR. Wir werden nicht unziemlich drängen, da wir den Arbeitsdruck kennen, der auch im Bereich der Gemeinden und der noch zu errichtenden Länder auf unseren Freunden in der DDR lastet. Wir sind aber der Meinung, daß jetzt die nationale Frage vorgeht und daß von der Entscheidung, die nach Art. 23 Grundgesetz in Ost-Berlin zu treffen ist, der Erfolg unserer gemeinsamen Politik für ganz Deutschland abhängt. Wir sind der Überzeugung, daß die staatliche Einheit Deutschlands unsere Schritte auf dem vor uns liegenden Weg beflügeln und zum baldigen Erfolg führen wird.
Lassen Sie mich in zwei Sätzen zusammenfassen, was Ziel und Weg unserer Politik für Deutschland sind. Aus der Solidarität der einen unteilbaren deutschen Nation heraus binden wir die getrennten Teile wieder aneinander. Ein Deutschland der Demokratie und ein Europa des Friedens und der Freiheit werden das Ergebnis sein.
Ich danke Ihnen.
({31})
Nun erteile ich dem Abgeordneten Hoss das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Aussicht auf die Wiedervereinigung hat noch vor Monaten bei der überwiegenden Mehrheit der Bürger der DDR und auch bei uns in der Bundesrepublik Begeisterung und Freude ausgelöst.
({0})
Die Bilder vom Brandenburger Tor und von all den
anderen Grenzübergängen sind uns noch in Erinnerung. Diese Bilder sind inzwischen der VerunsicheHoss
rung und sogar Ängsten gewichen: Wie geht es weiter? Die Bürger in der DDR haben Angst um ihre Arbeitsplätze und fürchten - obwohl sie möglichst schnell westlichen Lebensstandard wollen - die Risiken und die ungewohnten Arbeits- und Lebensabläufe der Marktwirtschaft.
({1})
Wir GRÜNEN gehen davon aus, daß diese Risiken abgemildert werden können. Abnehmen kann sie den Bürgern in der DDR aber niemand. Den Wiederaufbau der DDR müssen sie selbst zustande bringen.
Unsere Bürger in der Bundesrepublik haben auch Angst bekommen. Sie fürchten, daß sie für die Kosten der Vereinigung zahlen müssen, aber auch, daß es mehr sein wird, als sie heute ahnen. Die Politiker der Regierungsparteien stellen sich in ihre Wahlveranstaltungen und verkünden: Kostet nichts, kostet nichts. Wir erhöhen keine Beiträge, erheben keine neuen Steuern, und es wird auch keine inflationären Tendenzen geben.
({2})
Dabei weiß doch jeder: Wer ein neues Haus baut, braucht Geld, braucht Hypotheken, muß Zinsen zahlen.
Die Sozialdemokraten sprechen in diesem Konzert mit zwei Stimmen. Für die DDR fordern sie zu Recht die Abmilderung der schlimmsten Auswirkungen der Währungsunion, und sie fordern Nachbesserungen. Bei uns in der Bundesrepublik suggerieren sie aber, die Vereinigung brauche den Bürger nichts zu kosten,
({3})
und verlangen sogar noch Beitragssenkungen in der Sozialversicherung.
Um die Verwirrung komplett zu machen, sind die Sozialdemokraten in der DDR für den Staatsvertrag in der jetzt vorliegenden Form. Die Politiker der Regierung und auch der SPD schenken den Bürgern in diesem ganzen Prozeß keinen reinen Wein ein. Sie nehmen die Bürger nicht ernst, denken in dieser Situation mehr daran, Wählerstimmen zu behalten oder hinzuzugewinnen, als im offenen Dialog Klarheit zu schaffen.
({4})
Weil die Bürgerinnen und Bürger das spüren, wächst ihre Verunsicherung. Weil Sie von der Regierung und auch Sie von der SPD so kurz denken, gelingt es Ihnen nicht, die Vereinigung zu einem wirklichen Neuanfang zu machen. Neuanfang, das heißt nicht, auf einen wiedererstandenen Nationalstaat zu setzen, der unsere Nachbarn wieder in Unruhe versetzt, heißt nicht, die ökonomische Macht zu benutzen, um Europa zu dominieren, heißt nicht, in eine neue Konsumwelle zu flüchten, um sich vor der Auseinandersetzung über die gemeinsame und getrennte Geschichte beider deutscher Staaten zu drücken.
({5})
Es stimmt ja, daß wir mitten in Europa als große Wirtschaftsmacht die europäischen Märkte kontrollieren. Es stimmt, daß sich das eher noch verstärken wird, wenn aus 60 Millionen 77 Millionen Deutsche werden, die in einigen Jahren insgesamt über eine potente Qualifikations- und Produktionsstruktur verfügen werden. Ich frage: Warum soll es eigentlich unmöglich sein, die Wirtschaftskraft, die Ressourcen der neuen deutschen Republik für die großen heute vor uns liegenden Menschheitsaufgaben einzusetzen?
({6})
Das wäre ein anderes Deutschland. Warum soll es unmöglich sein, mit der Umweltzerstörung bei uns, dem verschwenderischen Energieverbrauch, der Vergiftung der Böden und des Wassers sofort aufzuhören? Warum soll es unmöglich sein, das ausbeuterische Verhältnis zur Dritten Welt aufzugeben und den Rüstungswahn zu stoppen?
({7})
Mit dem heute vorliegenden Staatsvertrag, den wir GRÜNEN ablehnen, beschreiten Sie von der Regierungskoalition einen anderen Weg. Sie haben ein anderes politisches Programm.
({8})
Sie unterstellen mit Ihren Paragraphen die Möglichkeit unbegrenzten Wachstums. Wenn Sie so, als hätten wir nichts dazugelernt, „Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen" allein zur Grundlage der Wirtschaftsunion machen, dann ist die Chance, ein neues Verhältnis von Ökologie und Ökonomie zu finden, vertan.
({9})
Ihnen geht es wieder nur darum, Emissionen hier und da zu reduzieren. Aber Produkte und Produktionsverfahren von vornherein zu planen, ökologisch zu gestalten, das haben Sie in Ihrem Staatsvertrag erst gar nicht vorgesehen.
Es stimmt schon, was ein Abgeordneter der Volkskammer gesagt hat: Solange im Staatsvertrag über das Branntweinmonopol mehr steht als über den Schutz der Umwelt, dann drückt das genau den Geist dieses Staatsvertrages aus.
({10})
Die Atomlobby hat sich durchgesetzt. Nach dem Vertrag sollen alle Atomkraftwerke in der DDR fünf, längstens zehn Jahre weiterlaufen. Selbst nach westdeutschem Atomrecht wären diese Reaktoren sofort abzustellen. Der Greifswalder Reaktor z. B. ist mindestens ebenso unsicher und gefährlich wie der von Tschernobyl.
({11})
Damit riskieren Sie, meine Damen und Herren von der Regierung und von der Koalition, wissentlich einen Super-GAU in Mitteleuropa. Neue Industrieanlagen, Mülldeponien oder Verbrennungsanlagen kön16688
nen in der DDR nach dem Staatsvertrag ohne Öffentlichkeitsbeteiligung eingerichtet werden.
({12})
Die Autolobby hat sich durchgesetzt. Der Gebrauchtwagenmarkt in der Bundesrepublik ist leergefegt. Die DDR nimmt die unökologischen Wagen auf. Es ist schon abzusehen, daß eine Straßenbauorgie folgen wird.
Die DDR als Gebrauchtwarenland, als Land für alles das, was für uns schon nicht mehr akzeptabel ist, ist das die Perspektive, die Sie den Menschen in der DDR mit dem Staatsvertrag anbieten?
Indem Grund und Boden im Staatsvertrag ohne alle Einschränkungen frei verkäuflich gemacht werden, wird jede sinnvolle Landschafts-, Regional- und Strukturplanung unmöglich.
Ich könnte noch viele andere Beispiele dieser Art aufzeigen. In dem Zielkonflikt von Wirtschaften und Schutz unserer langfristigen Lebenschancen entscheiden Sie sich wiederum für die kurzfristigen Wirtschaftserfolge. Sie scheuen die Auseinandersetzung mit den Bürgern der DDR und der Bundesrepublik, um dem selbstzerstörerischen Mechanismus des Wachstums beizukommen.
Die schnelle Mark, der Sprung in die Konsumgesellschaft und ökologischer Neuanfang gehen einfach nicht zusammen. Eine langsamere, besonnenere, umweltverträglichere Entwicklung ist der DDR-Bevölkerung nur zuzumuten, wenn auch hier in der Bundesrepublik ökologisch begründete Einschränkungen politisch von allen Kräften dieses Hauses durchgesetzt werden.
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Es gibt in Zukunft nur noch eine deutsche Republik in einem hoffentlich bald vereinigten Europa, für die ein ökologischer Pfad gefunden werden muß. Das ist ein ganz anderes Konzept, als im Staatsvertrag vorgesehen ist.
Ihr Konzept ist Anbau der DDR; unseres ist der Neubau einer deutschen Republik.
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Zu einem Neubau gehören auch Planung und vernünftige Arbeitsschritte. In der Hektik, mit der von Regierungsseite die Einigung betrieben wird, ist davon nichts zu erkennen. Von einer ernsthaften Beratung in den Ausschüssen des Bundestages und auch der Volkskammer kann doch gar keine Rede sein. Das werden Sie, die heute hier anwesenden Abgeordneten der Volkskammer dort oben auf der Zuschauertribüne, mir doch bestätigen müssen.
Auch der Bundesrat kann die in Art. 76 des Grundgesetzes bei Regierungsinitiativen zunächst vorgesehene Beratung der Länder und die Erarbeitung einer eigenen Stellungnahme für den Bundestag, bevor dieser mit seinen Beratungen beginnt, nicht ausschöpfen. Um Tempo zu machen, ist das Ratifizierungsgesetz gleichzeitig im Bundesrat als Regierungsinitiative und im Bundestag als CDU/FDP-Parteienvorschlag eingebracht worden. Am heutigen Verfassungstag umgehen damit Regierungs- und Koalitionsfraktionen die
Verfassung. Das steht am Anfang der neuen deutschen Republik.
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Ob die SPD mit ihrem Kanzlerkandidaten Lafontaine diesen Staatsvertrag wirklich aufhalten will, muß auch bezweifelt werden.
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Die Vorschläge zum Nachbessern sind nicht prinzipieller Natur. Die SPD will die Schwierigkeiten, die nach dem 2. Juli unbestritten eintreten werden, sozialer gestalten. Dagegen ist nichts einzuwenden, und Herr Kohl wird da gewiß noch mit sich handeln lassen. Aber dann muß die SPD zustimmen, sitzt mit im Boot und ist für alles mitverantwortlich.
Die Chance, den Neuanfang demokratisch und ökologisch mit uns anzugehen, sucht die SPD nicht. Mit dieser Position kann Oskar Lafontaine den für alle Reformkräfte in der DDR und hier bei uns so wichtigen Machtwechsel kaum bewerkstelligen. Dabei ist der Machtwechsel dringend nötig. Wie in Niedersachsen sind wir auch im Bund und in der neuen deutschen Republik bereit, ihn mit der SPD herbeizuführen.
Zwei bis vier Millionen Arbeitslose sind durch die Radikalkur der Währungsunion zu erwarten. Der Kirchenmann Konsistorialrat Stolpe hat in einem Interview vorgestern in der „Frankfurter Rundschau" vor gewaltsamen Auseinandersetzungen im Herbst in der DDR und einer neuen Ausreisewelle gewarnt. Nach meiner Überzeugung werden die Menschen in der DDR die besonderen Belastungen des Wiederaufbaus ihrer Städte und Dörfer, das Schaffen neuer Arbeitsplätze und die radikale kulturelle Wende nur dann zu ertragen bereit sein, wenn wir Bürger der Bundesrepublik sie dabei solidarisch unterstützen. Auch ökologisch überlegte Investitionen oder Kapitaltransfer allein würden da nicht ausreichen.
Neben den schon vorgesehenen Elementen der Rentenversicherung und der Arbeitsverwaltung gehört auch die Einführung einer ausreichenden Grundsicherung in der DDR zu den unverzichtbaren Voraussetzungen für sozialen Frieden.
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Grundsicherung heißt für mich, die gute alte Tradition der Gewerkschaftsbewegung - Selbsthilfe und genossenschaftliches Denken - neu zu beleben.
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Das ist gerade in der Krise wichtig. Wir sind für die DDR-Bürger in diesem Sinne mitverantwortlich. Deswegen müssen wir sogar bereit sein, für die Mindestrenten der alten Menschen in der DDR vorübergehend Beitragserhöhungen in Kauf zu nehmen.
({19})
Wir müssen auch bereit sein, vorübergehende Sonderabgaben zur Abmilderung der Folgen von Arbeitslosigkeit und für die Hilfe zur Selbsthilfe zu bezahlen. Damit meine ich auch nach Einkommen differenzierte Steuererhöhungen.
Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es genügt nicht, nur in Richtung der Regierung die Frage zu stellen „Was kostet das denn, und wer soll es bezahlen?' , sondern von Ihnen erwartet man, daß Sie sich über die Lage klar werden und auch Finanzierungsvorschläge machen, die die Solidarität der Bürger miteinbeziehen.
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Ohne direkte Solidarität der Menschen hier zu den Menschen in der DDR wird die Einheit nur für die gut, die sie als Geschäft betrachten. Es genügt nicht, den für alles sorgenden Staat verantwortlich zu machen. Das ist übrigens auch ein Wort an unsere Gewerkschaften, die sich bisher scheuen, mit ihren Mitgliedern über den Preis der Einheit und über echte Solidarität zu sprechen.
Wenn der Staatsvertrag am 2. Juli in Kraft tritt, gibt die DDR faktisch ihre Souveränität auf. Das für die Souveränität zentrale Budgetrecht liegt dann beim Bundesfinanzminister Waigel.
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Angesichts dieser Situation ist für uns klar, daß es gesamtdeutsche Wahlen schon bald geben wird und geben muß.
Aber eines ist für uns auch klar: Die gesamtdeutschen Wahlen können erst nach der Bildung der Länder in der DDR und nach den dortigen Landtagswahlen stattfinden.
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In diesem Bereich muß die DDR souverän entscheiden. Jede Erpressungspolitik verschärft nur die Schwierigkeiten. Wenn die Bundesregierung, nur weil Herr Kohl es nicht abwarten kann, möglichst schnell gesamtdeutscher Kanzler zu werden, die Bundestagswahlen nicht in dem verfassungsmäßig dafür vorgeschriebenen Zeitrahmen durchführt, werden wir die Beachtung der Verfassung vor dem Bundesverfassungsgericht einklagen.
Wie und wann sich der Bundestag auflöst, wann der Zeitpunkt der gesamtdeutschen Wahlen gekommen ist, kann der Bundestag in seiner eigenen Souveränität entscheiden, wie es auch die Volkskammer kann. Das ist keine Frage der Regierung, sondern allein eine Frage des Parlaments. Der Verfassungsgedanke ist uns in diesem Sinne ein zentrales Anliegen im Prozeß der Einigung. Wir wollen nicht weniger demokratische Kultur, sondern mehr.
Das Grundrecht muß fortentwickelt werden, anstatt es im deutsch-deutschen Einigungsprozeß zu schwächen. Was derzeit in Berlin mit den Sinti und Roma passiert, die aus Rumänien zu uns geflüchtet sind und abgewiesen werden, ist eine Sorte von Einheit, die wir nie und nimmer akzeptieren werden. Tausende Roma und Sinti wurden von den Nazis umgebracht, und wenn deren Nachfahren heute zu uns fliehen, haben wir eine besondere Verpflichtung, sie aufzunehmen. Wir wollen gerade nicht an die Traditionen anknüpfen, die an das alte Deutschland erinnern. Die Chance, neu anzufangen, müssen wir nutzen.
({23})
Das Wort hat der Abgeordnete Wolfgang Mischnick.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen aus noch beiden Teilen Deutschlands! Der Tag für diese Debatte ist bewußt gewählt worden: der Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes. In der Präambel dieses Grundgesetzes steht, daß wir aufgefordert sind, die Einheit zu vollenden. Dazu stehen wir. Wir haben nie den Gedanken gehabt, die Präambel zu streichen, und wir handeln jetzt nach dem, was uns die Präambel des Grundgesetzes aufgegeben hat. Das ist unsere Aufgabe und nichts anderes.
({0})
Jetzt wird davon gesprochen, es werde an der Verfassung vorbei gehandelt. Das kann doch wohl nicht wahr sein! Im Gegenteil! Wir verhandeln im Sinne der Verfassung und nach der Verfassung, wenn wir heute mit diesem Staatsvertrag den entscheidenden Schritt zur Einheit gehen werden.
({1})
Dies alles wird nur dadurch möglich, daß am 1. Juli die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft tritt. Für uns war das immer ein Dreiklang. Die Sozialunion mußte man nicht nachschieben; das war für uns selbstverständlich.
({2})
- Das war für uns selbstverständlich. Vorhin wurde so getan, als hätten wir sie hineinschieben müssen.
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Dies trifft nicht zu. Für uns war es immer ein Dreiklang, weil wir wissen, daß diese Voraussetzung für die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR gemeinsam wesentlich ist.
Mit Recht wurde eben darauf hingewiesen, daß die Entscheidungen über die Art des Zusammenschlusses nach Art. 23 in der DDR fallen und daß eine Länderneugliederung kommen muß. Dies haben wir nie bestritten. Im Gegenteil, wir haben immer gesagt: Schafft bald die Länder, damit wir bald nach Art. 23 zu einer Einheit werden können. - Die Entscheidung darüber fällt in der DDR, aber mich hat noch niemand gescholten, wenn ich sagte: Wir wünschen, wie ihr es wünscht, daß dies bald geschieht.
({4})
Ich habe heute mit einer gewissen Befriedigung festgestellt, daß die Meldungen, die ich gestern in Dresden las und hörte, offensichtlich so nicht zutreffen. Da hatte ich die Sorge, als würde die SPD eine Einheitsverhinderungspartei werden. Dies hätte diese Partei, die um Deutschland so viele Verdienste hat, nicht verdient. Heute spüre ich, daß offensichtlich die Kräfte, die merken, daß man in der Gefahr ist, in eine Sackgasse hineinzugeraten, doch noch vorhanden
sind. Entsinnen Sie sich daran, wie Sie in der Vergangenheit anderen geraten haben, nicht in eine Sackgasse zu geraten.
({5})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, dieser Tag ist natürlich ein Tag, an dem Emotion und nüchterner Verstand in Einklang gebracht werden müssen. Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, erinnern wir uns doch an den Abend des 9. November 1989 in diesem Haus, als wir die Nachricht von der Öffnung der Mauer bekamen und gemeinsam unsere Nationalhymne anstimmten. Von dem Gemeinsamen, was wir damals hatten, möchte ich nichts verloren gehen lassen, um Deutschlands willen, meine Freunde!
({6})
Ich habe oft den Eindruck, daß das, was uns bewegte, inzwischen durch Kleinkariertheit und Krämertum verlorengeht. Jetzt geht es um ganz Deutschland und nicht um Rechnereien bis zur letzten Stelle hinter dem Komma.
({7})
Viele von uns haben das Ende des Hitler-Regimes, die Teilung Deutschlands, den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 und den Mauerbau miterlebt. Wir stehen nun hier vor einem entscheidenden Schritt. Wie kann man da zögern, diesen Schritt zu gehen, damit der nächste so schnell als möglich kommen kann? Wer dies tut, versündigt sich an dem deutschen Volk, für das wir tätig sein wollen und für das wir gewählt sind.
({8})
Das mag für manchen von Ihnen zu emotional sein.
({9})
- Nein, meine liebe Kollegin, das ist nicht Pathos, sondern die Erinnerung eines Menschen, der die Entwicklung von 1945/46 miterlebt hat und der jetzt froh ist, mitgestalten zu können. Das ist doch ein Unterschied.
({10})
Das haben viele leider nicht verstanden. Entschuldigen Sie, wenn ich jetzt etwas emotionaler geworden bin. Wer dies aber selbst miterlebt hat, der wird es verstehen, und die Menschen, die dies miterlebt haben, werden es auch verstehen.
Ich habe in einer Zeitung gelesen, dies sei „eine Zeit der Wunder". Dem kann ich überhaupt nicht zustimmen. Wunder entstehen auf unerklärliche Weise. Das, was wir jetzt erleben, ist kein Wunder, sondern durch den harten Kampf der Menschen errungen worden, von den Menschen in Polen, in Ungarn, der CSFR und der DDR. Die Menschen haben dies möglich gemacht, nicht Wunder sind hier geschehen. Um dieser Menschen willen müssen wir Entscheidungen treffen, die in die Zukunft weisen und ihnen die Chance geben, so zu leben, wie es für uns selbstverständlich ist.
({11})
Es ist auch eine Wahrheit, die nicht vergessen werden
sollte, daß die Wege dorthin unterschiedlich sind und
daß die friedliche Revolution in der deutschen Geschichte nicht ohne die Entspannungspolitik möglich gewesen wäre, die wir über Jahrzehnte hin betrieben haben. Ich denke nicht ohne innere Bewegung an die Anfänge dieser Politik zurück. Tragisch ist, daß viele den Erfolg ihres mutigen Beginns nicht mehr erleben durften. Ich sage es: Ich denke in dieser Stunde an Herbert Wehner und daran, was dieser Mann für die Einheit Deutschlands getan hat, was leider viele schon wieder vergessen haben.
({12})
Wir Liberalen haben seit Anbeginn dies alles mitgestaltet. Wir Liberalen waren es, die diese Politik vor dem Scheitern bewahrt haben, als sich unsere politischen Weggefährten ins Reich politischer Illusionen flüchteten. Zu einer erfolgreichen Entspannungspolitik gehört nicht nur die große Vision eines demokratischen Europas, die wichtig war und zweifelsohne auch heute wichtig ist. Ohne die Einbettung in Europa wäre all das nicht möglich, was wir uns jetzt vorgenommen haben. Es gehörte und gehört zu einer erfolgreichen Entspannungs- und Abrüstungspolitik Realität, Augenmaß, Geduld und Durchstehvermögen.
Gestatten Sie mir jetzt, etwas zu zitieren, bei dem ich erst am Schluß sage, von wem es stammt. Es ist ein bißchen länger, aber ich glaube, wir sollten uns das zu Herzen nehmen:
Obwohl die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung des heute zerrissenen Deutschlands allgemein ist, besteht in vielen Kreisen unseres Volkes die Sorge, daß mit dem Zusammenschluß und den dann erforderlich werdenden großen wirtschaftlichen Anstrengungen eine unerträgliche Senkung des Lebensstandards verbunden sein würde und viele wirtschaftliche Existenzen, vor allem auch von Gewerbetreibenden, notleidend werden könnten. Es ist in jedem Fall deutlich zu erkennen, daß es dem Laien an Vorstellungsvermögen gebricht, die sich aus dem Zusammenschluß ergebenden wirtschaftlichen Konsequenzen rational abzuleiten, und so bleibt der Spekulation, um nicht zu sagen der dumpfen Furcht, Tür und Tor geöffnet. Ich möchte gleich vorausschicken, daß auch ich den Versuch für abwegig halten würde, die in solchem Fall sich vollziehende Entwicklung exakt vorher bestimmen und rechnerisch erfassen zu wollen. Ein solches planwirtschaftliches Unterfangen wäre sogar in höchstem Maße gefährlich, weil es in der verwaltungsmäßigen Handhabung des Zusammenschlusses die organische Entwicklung nur zu hemmen und die natürlichen Kräfte zu unterbinden geeignet wäre. Gleichwohl kann nicht geleugnet werden, daß die Vorstellung von einem so gearteten, vorgefaßten „Wiedereingliederungsplan" die Geister in weitem Umfang beherrscht. Ihnen allen ist eigen, daß sie in der Volkswirtschaft eine „Organisation" erblicken. Insbesondere geht ihnen jedes Gefühl, jede Einsicht auf die in einem freien Markt zum Ausgleich und Gleichgewicht hindrängenden Kräfte und die damit entfesselte Dynamik völlig ab. Statt dessen glaubt man wieMischnick
der einmal so viel wie möglich „organisieren" zu müssen, obwohl gerade damit Verzerrungen und Diskrepanzen nicht beseitigt, sondern womöglich noch vermehrt und verschärft werden würden.
Das ist ein Auszug aus dem Bulletin vom 12. September 1953, eine Rede von Ludwig Erhard.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, er hat damals genau das, was auch heute noch für uns gültig ist, vorausgesagt. Er hat damals vorausgesagt, was heute viele versuchen, nämlich über die Kosten der Einheit den Gedanken der Einheit zu verlieren, über Schwierigkeiten, die es bei der Umsetzung gibt, das Ziel aus dem Auge zu verlieren, ein bißchen noch organisieren zu wollen, den Abschied von der sozialistischen Planwirtschaft hinauszuzögern, weil es einem schwerfällt, das politische Gebetbuch, das man bisher hatte, völlig beiseite zu legen. Genau das sind die Punkte, um die es jetzt geht.
Mit diesem Staatsvertrag werden nicht alle Probleme gelöst - das wissen wir -, aber damit wird eine Grundlage geschaffen, um so bald wie möglich nach Art. 23 den Beitritt vollziehen, das gesamtdeutsche Parlament wählen und damit all das umsetzen zu können, was im Interesse von uns allen notwendig ist.
Wer immer von den Kosten redet, den höre ich selten sagen, daß wir heute pro Jahr um die 40 bis 50 Milliarden DM Teilungskosten haben, die wegfallen werden. Wenn man schon Riesenzahlen ins Gelände setzt, sollte man den Mut haben, dagegenzusetzen, was durch die Überwindung der Teilung nicht mehr von uns gezahlt werden muß, damit es für die Menschen draußen realistisch wird.
({14})
Die Dynamik unseres Wirtschaftswachstums, die solide Haushaltspolitik, das Festhalten daran, daß Steuersenkungen letztlich zu mehr Steuereinnahmen führen und daß nicht Steuererhöhungen eine Lösung der anstehenden Fragen bedeuten, das sind die Voraussetzungen, mit denen wir heute optimistisch - natürlich mit dem notwendigen Realismus - in diese Entscheidung hineingehen können.
Nun habe ich aus den verschiedenen Diskussionsbeiträgen nicht nur heute hier, sondern auch aus dem, was wir in dem Ausschuß Deutsche Einheit gehört haben, so manches Widersprüchliche erfahren. Es gibt doch keinen Zweifel daran, daß wir alle hier wissen, daß die Frage des Umweltschutzes, die Umweltunion, wie es genannt worden ist, ein ganz entscheidender Punkt für das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten ist. Wenn dann aber gesagt wird „Verursacherprinzip sofort im Staatsvertrag festhalten, sofort einführen", aber unmittelbar danach gefordert wird, es müsse etwas geschehen, damit Betriebe, die nicht überleben können, gestützt werden, dann ist das ein Widerspruch in sich.
({15}) Diesen Widerspruch müssen Sie selbst auflösen.
Kein Mensch will doch bewußt umweltschädigende Betriebe aufrechterhalten. Umgekehrt: Jedermann
weiß, daß es bestimmte Übergangsphasen geben wird, geben muß, um die Anpassung an unseren Standard zu erreichen. Mir ist es dann viel lieber, wenn so etwas geschieht, wie es mir von meinem Freunde Beckmann erzählt worden ist: daß aus einem stillgelegten Kraftwerk in Nordrhein-Westfalen für Transportkosten von 300 000 DM - so sagte er es - eine Filteranlage nach Zwickau gebracht, dort eingebaut worden ist und 11 000 t Ausstoß um 90 % senkt. Das ist praktische Umweltpolitik und nicht theoretisierendes Reden. Es geht uns darum, praktisches Handeln Schritt für Schritt umzusetzen.
({16})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier ist heute wieder eine Philippika gehalten worden, es gehe damm, nun endlich sicherzustellen, daß die unrechtmäßig erworbenen Vermögen der Blockparteien unter die Lupe genommen und entsprechend behandelt werden. Im Ausschuß Deutsche Einheit bestand völlige Übereinstimmung darüber.
({17})
Warum wird dann hier der Eindruck erweckt, als wären die einen etwas mehr dafür und die anderen weniger?
({18})
Was mich allerdings immer wieder wundert, obwohl ich das mehrfach angesprochen habe: Es fehlt immer der Zusatz, der für mich genauso wichtig ist: „und der gesellschaftlichen Organisationen".
({19})
Dies betrifft nicht nur die Parteien, sondern auch die gesellschaftlichen Organisationen. Ich füge hinzu: Wir waren uns einig, daß wir dies nicht im Detail feststellen, denn das kann nur die DDR. Haben Sie sowenig Vertrauen zu den gewählten Frauen und Männern der Volkskammer und der Regierung, daß sie dieses Problem nicht lösen? Wir haben das Vertrauen, daß sie genauso wie wir hier Ungerechtigkeiten, die entstehen können, auf keinen Fall wollen. Und darin wollen wir sie unterstützen.
({20})
Wenn Sie dieses Vertrauen nicht haben, dann müßten Sie um so schneller mit uns darin übereinstimmen, ein gesamtdeutsches Parlament zu wählen, damit es dann gemeinsam getan werden kann.
({21})
Aber eines von beiden kann nur richtig sein. Es sollte also nicht immer wieder aufgewärmt werden.
Meine Damen und Herren, natürlich kann ich mir auch vorstellen, daß in den Begleitgesetzen und bei der Umsetzung von Punkten das eine oder andere so oder so verbessert und weiterentwickelt werden kann. Entscheidend ist: Der Staatsvertrag muß am 1. Juli in
Kraft treten. Wenn er nicht am 1. Juli in Kraft tritt, ist das eine Täuschung der Menschen in der DDR.
({22})
Sie warten darauf. Wer dies verhindert, wer dies hinauszögert, sät neues Mißtrauen, schafft die Basis für die Kräfte, die heute in der DDR wieder unterwegs sind und versuchen, die Gesamtentwicklung zurückzudrehen.
Manche sagen: Wenn der Vertrag in Kraft tritt, dann gibt es Verwerfungen. Richtig! Natürlich gibt es Probleme. Darüber muß man mit den Menschen offen sprechen. Ich habe in Riesa den Stahlwerkern, mit denen ich diskutiert habe, klipp und klar gesagt: Massenstahlproduktion wird auf Dauer nicht mehr das Geschäft sein können, das es vielleicht einmal war. Man muß sich spezialisieren. Wir wollen nicht, daß ihr den Unsinn macht, den wir hier gemacht haben, nämlich über Jahre Milliarden in Arbed-Saarstahl hineinzustecken, statt diese Milliarden zu nutzen, um doppelt so viele neue Arbeitsplätze zu schaffen, wie es sie dort überhaupt gibt.
({23}) Und sie haben es verstanden.
Wenn in Oschatz ein junger Mann mit Recht davon sprach, er habe Sorge, daß er in seinem Bereich nicht mehr die entsprechende Beschäftigung hat, wenn ein anderer aufstand und sagte: Ich mit meinen 53 Jahren habe jetzt den Meister gemacht; ich werde mich selbständig machen, und die nächsten zwölf Jahre werde ich nutzen, endlich so zu arbeiten, wie ich will!, und wenn dem alle zustimmen, dann ist dies doch das, was wir brauchen: die Kräfte durch die Entscheidung über den Staatsvertrag freizusetzen, die Kräfte wirken zu lassen, die die Wirtschaft ankurbeln und den Mittelstand schaffen, und damit das Ganze finanzierbar zu machen. Dies ist möglich, wenn wir die Menschen gewähren lassen, ihre Eigeninitiative, ihren Geist und ihre Hände einzusetzen, wenn sie nicht mehr gegängelt werden, wie das bisher gewesen ist.
({24})
Meine Damen und Herren, natürlich weiß ich, daß es im Lohnbereich und im Rentenbereich Probleme gibt. Diese werden aber nicht dadurch gelöst, daß wir hier hervorragende Theorien aufstellen, sondern dadurch, daß wir so schnell wie möglich zum praktischen Handeln kommen. Es ist doch hochinteressant, daß in manchen Bereichen, wo Sorge über die Preisentwicklung bestand, entsprechende Veränderungen sichtbar werden, bevor die D-Mark eingeführt worden ist.
Natürlich habe ich kein Verständnis dafür - das sage ich genauso offen - , wenn z. B. Belegschaftsmitglieder einer Schuhfabrik erklären, der Handel müsse gezwungen werden, 60 % ihrer Produktion abzunehmen - obwohl die Produkte keiner mehr kaufen will - , und sie von gewerkschaftlicher Seite her Unterstützung für solche unsinnigen Parolen bekommen. Das führt nicht weiter. Hier muß man Mut haben: Die Produktion muß so sein, daß sie abnehmbar wird. Dafür die Voraussetzungen zu schaffen ist unsere Aufgabe.
Wenn hier gesagt wurde, es sei nichts getan worden, um etwa die Umschulung und Fortbildung zu forcieren, muß entgegnet werden: Das trifft so nicht zu. Gut, im staatlichen Bereich muß man die vertraglichen Vereinbarungen abwarten. Aber ich kenne eine ganze Menge Firmen bis hin zu freiberuflich Tätigen, die schon heute die Arbeit übernommen haben
- zum Teil in der Bundesrepublik, zum Teil drüben in der DDR - , ihre Arbeitnehmer auf neue Berufe vorzubereiten und ihnen die Chance zu geben, sich einzuarbeiten. Hier ist doch eine Entwicklung im Gange. Wollen Sie diese abstoppen, indem plötzlich der Zweifel entsteht, ob der Staatsvertrag am 1. Juli in Kraft tritt?
({25})
- Nein, ich stelle die Probleme gar nicht auf den Kopf.
({26})
- Lieber Herr Kollege Roth, ich nehme das gern zur Kenntnis. Wenn das zu der Taktik gehört, am Ende zuzustimmen und alles in Kraft zu setzen, dann kann ich das bis zu diesem Zeitpunkt sehr leicht ertragen.
Nur, vergessen Sie eines nicht: Die Unsicherheit bis zur letzten Entscheidung hilft nicht, den Menschen in der DDR Mut zu machen, sondern hilft den Miesmachern in der DDR und erweckt Mißtrauen, daß wir das nicht wollen.
({27})
- Ich bin sehr froh darüber, daß Sie sagen, wir könnten bis heute abend fertig werden; denn das zeigt erstens, daß Sie voll eingesehen haben, daß am Staatsvertrag nichts zu ändern ist, und zweitens, daß Sie wissen, daß bei den Begleitgesetzen die Möglichkeit der Umsetzung besteht.
({28})
Drittens. Wenn Sie dieser Meinung sind, dann bitte ich aber, nicht mehr von Hektik und davon zu reden, daß das alles zu schnell geht, sondern endlich einzusehen, daß das Tempo von den Menschen bestimmt ist, die bald Entscheidungen haben wollen und nicht nur ständig Reden hören wollen.
({29})
Meine Damen und Herren, warum wollen sie die Entscheidung haben? Weil die Unsicherheit über das eigene Schicksal, die berufliche Unsicherheit, überwunden werden muß. Vergessen Sie bitte eines nicht: Jeder, der davon spricht, daß der Prozeß sich verzögern könnte, sorgt natürlich dafür, daß die Koffer derjenigen gepackt bleiben, die wir als Fachkräfte in der DDR so nötig brauchen. Auch daran sollten wir denken.
Wenn ich dann höre, daß sogar ein Landsmann von mir, Herr von Bülow, davon spricht, den Zuzug auf fünf Jahre sperren zu wollen, dann kann ich nur sagen: Wenn man auf solche Ideen kommt, dann muß man doch völlig außerhalb der Realität leben. Dies
kann doch wohl nicht wahr sein. Wir sind froh, daß die Mauer weg ist. Nur um einer Schlagzeile willen solchen Unsinn in die Welt zu setzen, der natürlich drüben Unruhe stiftet, ist schlimm. Das scheinen manche zu wollen.
({30})
Meine Damen und Herren, es gäbe eine ganze Menge Einzelpunkte, über die man im Zuge der Beratungen sprechen wird und die hier anzusprechen wären. Frau Kollegin Matthäus-Maier, Sie scheinen einen Teil von dem, was Kollege Lambsdorff gesagt hat, überhört zu haben. Er hat nämlich damals, als es um die Frage der Betriebsschulden ging, gesagt, daß man mit Ausgleichsforderungen operieren kann. Er hat das nicht etwa abgelehnt, sondern im Gegenteil als eine Möglichkeit angesehen.
Richtig ist aber, daß die Bundesbank bei der Gesamtentscheidung aus grundsätzlichen Bedenken zu anderen Überlegungen gekommen ist, weil sie Sorge hatte, daß die D-Mark, wenn man bestimmte Sperren vorsieht, im internationalen Geschäft notleidend werden könne, weil man plötzlich den Eindruck hätte, die D-Mark sei gefährdet. Über den Weg kann man unterschiedlicher Meinung sein. Der heutige Weg ist in Absprache mit der Bundesbank gefunden worden.
Dies schließt ja nicht aus, daß das, was wir einmal als Nachbesserungsschein betrachtet haben - möglicherweise die Beträge, die nicht umgetauscht werden, also das, was bei einem Umtausch im Verhältnis von 1 : 2 übrigbleibt - , mittelfristig für Investitionen noch zur Verfügung steht. Daß das in der DDR von Kollegen in die Diskussion gebracht worden ist, verstehe ich völlig. Das muß man bei den weiteren Beratungen im Auge behalten. Aber das sind doch alles Dinge, die man heute nicht mit der Forderung auf Veränderung des Staatsvertrags in Verbindung bringen müßte.
Wir wissen, daß die Anschubfinanzierungen, die notwendig sind, eine ganze Menge Bewegung bringen können. Wir haben dafür gesorgt, daß dies eben nicht zu Lasten der Beitragszahler geht. Es wird manchmal so getan, als würden wir verschweigen, daß die Beitragszahler herangezogen werden müssen oder daß die Steuerzahler herangezogen werden müssen. Der Kollege Dreßler hat mit dem Hinweis, man könnte sogar die Beiträge senken, einen wichtigen Hinweis darauf gegeben, daß die Finanzlage in der Rentenversicherung so günstig ist, daß hier gar nichts passieren kann.
Daß wir nicht auf diesen Vorschlag eingehen - was uns gar nicht so leichtfällt -, hängt einfach damit zusammen, daß wir die Sicherheit, die wir uns mit der Rentenreform selbst geschaffen haben, nicht plötzlich wieder in Frage stellen, sondern über langfristige Entwicklungen beurteilen wollen.
({31})
- Liebe Frau Unruh, ich weiß ja, daß Sie immer etwas dazwischenzurufen haben, aber das wird von uns und von anderen nicht so ernst genommen.
({32})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es wird mit manchem Hinweis, man sei bereit, partielle Hilfe zu leisten, mit manchem Hinweis, Dinge am Leben zu erhalten, die nicht lebensfähig sind, Hoffnung erweckt, die in Wahrheit keine Hoffnung, sondern nur Illusion ist. Wer Hoffnungen erweckt, die in Wahrheit Illusionen sind, der verhindert notwendige Entscheidungen. Wer damit zu helfen glaubt, der schadet nur.
In diesen Bereich gehört eine Aufgabe, die wir gemeinsam noch zu erfüllen haben und die sehr schwierig ist. Ich spreche das Problem des Eigentums an, des Eigentums in den verschiedensten Formen.
Wir hätten es gern gesehen, wenn im Vertrag selbst oder im Begleittext diesbezüglich noch mehr Klarheit geschaffen worden wäre. Wir wissen, daß es in der DDR - in der Regierung, in der Volkskammer - noch unterschiedliche Meinungen gibt. Ich habe den Eindruck, hier ist ein Entwicklungsprozeß noch im Gange.
Aber seien wir uns über eines im klaren: Klare Verhältnisse im Bereich des Eigentums sind weitgehend die Voraussetzung für die Bereitschaft zu investieren.
({33})
Klare Verhältnisse im Bereich des Eigentums sind Voraussetzung für die Bereitschaft, auf Dauer an die Rechtsstaatlichkeit zu glauben, die für uns im Grundgesetz selbstverständlich ist. Klare Verhältnisse im Bereich des Eigentums sind notwendig, um vieles - vor allem in der DDR, aber auch an Bundesbürgern - begangenes Unrecht aufzuarbeiten. Ich bin mir der Schwierigkeit dieses Prozesses bewußt. Allein mit der Aufzählung der verschiedenen Jahre, in denen solche Prozesse in der DDR stattgefunden haben, würde ich die restliche Redezeit überschreiten, die ich noch habe. Aber es muß der klare Wille sichtbar werden: Rechtsstaatlichkeit im Sinne des Grundgesetzes bedeutet, daß in der Eigentumsfrage Rückgabe oder Entschädigungen unumstritten sein müssen und daß hier Rechtsstaatlichkeit vor alten ideologischen Vorstellungen über Eigentum Vorrang haben muß.
({34})
Man muß endlich mit der Idee Schluß machen, der Staat sei der bessere Eigentümer.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluß nur noch einmal kurz darauf hinweisen, daß die gesamte Entwicklung, die wir jetzt haben und die von den zuständigen Ministern und ihren Mitarbeitern in beiden deutschen Staaten in einer beispiellosen Einsatzbereitschaft geschaffen worden ist - ich möchte auch für meine Fraktion ausdrücklich für diese Arbeit danken - , ein entscheidender Schritt vorwärts ist, daß wir aber in dem Staatsvertrag nicht die Regelung der deutschen Frage sehen, sondern eine Durchgangsphase. Das alles war nur möglich, weil wir in Europa ein geachteter Partner
sind, weil wir die Fundamente für die Europäische Gemeinschaft mit gelegt haben, weil wir bereit sind, das „Haus Europa" zu schaffen. Wir haben dafür klare Vorstellungen, und wir haben sie noch genau so, wie sie früher waren. Wir wollen, daß die Integration der DDR in die Bundesrepublik Deutschland die Integration in Europa ist. Für uns ist die Einheit Deutschlands gleichzeitig das Verwirklichen der Einheit Europas, um damit einen Hort der Stabilität, der Kontinuität und der Friedenssicherung mitten in Europa zu schaffen.
({35})
Meine Damen und Herren, weil wir das wollen, weil das unsere Zielsetzung ist, wissen wir, daß wir manche gemeinsamen Anstrengungen noch vollbringen müssen. Wir wollen das eine Europa in Frieden, wir wollen das eine Europa in Freiheit. In diesem Europa wollen wir e i n Deutschland in voller Souveränität. Wir wollen in diesem Europa weiterhin voll mitarbeiten. Weil wir das wollen, wollen wir, daß die Wahl der Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen in der Deutschen Demokratischen Republik für ein gesamtdeutsches Parlament so schnell wie möglich erfolgt. Wir wollen das, weil wir e i n Volk sind.
({36})
Das Wort hat der Regierende Bürgermeister von Berlin.
Regierender Bürgermeister Momper ({0}): Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Berlin ist der Ort in Deutschland, an dem die Einheit am schnellsten vollzogen wird und an dem sie am nachhaltigsten das Leben der Menschen verändern wird. In Berlin ist der Wunsch nach der Einheit am stärksten, aber auch das Bewußtsein der Gefahren, die bestehen, wenn zwei so unterschiedliche Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme allzu unvorsichtig wieder zusammengefügt werden. Der künftige Oberbürgermeister Ost-Berlins, Tino Schwierzina, hat gesagt: „Wir wollen die Einheit so schnell wie möglich, aber auch so sorgsam und schonend, wie es für das Wohl der Menschen nötig ist."
({1})
Diese Aussage, meine Damen und Herren, sollte wieder zum Konsens zwischen den politischen Kräften in Deutschland werden.
Die deutsche Politik sollte sich wieder auf die drei Bedingungen zur Vollendung der deutschen Einheit besinnen. Das waren erstens die Verwirklichung von Freiheit und Demokratie im anderen Teil Deutschlands, zweitens die Angleichung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialsysteme und drittens die Einbettung der Einheit in den europäischen Einigungsprozeß und die Herstellung eines Einvernehmens mit unseren Nachbarn. Alle drei Bedingungen sind wichtig. Keine darf übergangen werden; alle drei müssen erfüllt sein. Denn das, was wir jetzt in Deutschland zu leisten haben, ist eine historische Aufgabe, die nicht nur alles taktische und politische Geschick von uns
Politikern erfordert, sondern auch Besonnenheit und Gefühl für die Verantwortung.
Die Wahlen am 18. März und am 6. Mai haben die DDR einen großen Schritt auf dem Weg zu einer demokratischen Gesellschaft vorangebracht. Aber die Demokratie in der DDR ist noch nicht stabil. Überall sitzen noch die alten Funktionäre der SED und ihrer Hilfsorganisationen auf ihren Posten, und sie beherrschen große Teile der Verwaltung, des öffentlichen Lebens und der Medien. Die Länder sind noch nicht gebildet, neue demokratische Verwaltungsstrukturen noch nicht aufgebaut. Die Stasi vergiftet das politische Klima und wirkt weiterhin im dunkeln.
Ein besonderer Skandal ist es in diesem Zusammenhang, daß die SED, der FDGB, die alten Blockparteien und die Hilfsorganisationen nach wie vor über ihr Vermögen verfügen
({2})
und jetzt sogar darangehen, es mit Riesenerlösen zu verkaufen. Man sehe sich doch nur an, über welche Werte die SED etwa in Ost-Berlin verfügt. Die PDS/ SED hat gerade ihren Berliner Verlag für Millionen von D-Mark an einen ausländischen Verleger verscherbelt.
({3})
Zu einem wirklichen demokratischen Neuanfang in der DDR muß es gehören, daß dieses zu Unrecht angehäufte Vermögen sofort wieder zurückgegeben wird und daß auch dieses Vermögen zum Wiederaufbau der Wirtschaft in der DDR beiträgt.
({4})
Die Menschen in der DDR wollen die endgültige Ablösung des alten und des uneffektiven Wirtschaftssystems. Sie wollen vor allen Dingen Geld verdienen, mit dem sie sich etwas kaufen und mit dem sie auch verreisen können. Die Menschen in der DDR sind bereit, den Sprung in die neue Zeit zu wagen.
Zur Umstellung der Währung gibt es keine Alternative. In Berlin ist die D-Mark jetzt schon de facto Zweitwährung geworden. In Berlin lassen sich die beiden Wirtschafts- und Währungssysteme nicht mehr lange trennen. In der DDR löst sich das alte System immer mehr auf. Die Produktivität sinkt, und zunehmend herrschen wirtschaftliche Anarchie und Wild-West-Methoden.
Der Ausverkauf der DDR findet nicht mit der Einführung der D-Mark statt, sondern er findet tatsächlich jetzt statt, indem volkseigenes Vermögen meistbietend verscherbelt wird, indem sich Spekulanten die Rosinen herauspicken und ehemalige SED-Funktionäre ihre Schäfchen ins Trockene bringen.
Die Arbeitnehmer, insbesondere die Frauen, geraten mehr und mehr in einen Zustand der Rechtlosigkeit. Betriebsleiter, die sich gestern noch Kommunisten nannten, laufen heute wie Manchester-Kapitalisten mit Entlassungslisten durch die Betriebe.
({5})
Regierender Bürgermeister Momper ({6})
Die DDR-Wirtschaft muß auf feste Füße gestellt werden. Es muß wieder Rechtssicherheit einkehren, und die Menschen müssen wieder auf eine sichere Zukunft bauen können.
({7})
Aus diesen Gründen duldet die Herstellung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion keinen Aufschub über den 2. Juli hinaus.
({8})
- Immer erst zu Ende reden lassen, und dann erbitte ich Ihren Beifall.
({9})
- Aber gleich haben Sie Gelegenheit. - Der Schlüssel für die Herstellung der Währungsunion am 2. Juli liegt aber bei der Bundesregierung. Die Bundesregierung ist jetzt aufgefordert, sicherzustellen - was ganz vernünftige Forderungen sind und das zu regeln durchaus noch vier Wochen Zeit ist -,
({10})
daß verbindlich vereinbart wird, daß das Vermögen der SED, ihrer Hilfsorganisationen und auch das der Blockparteien eingezogen wird. Die Bundesregierung kann sicherstellen, daß überlebensfähige Betriebe auch den Schutz und die Unterstützung zum Überleben erhalten. Die Bundesregierung kann sicherstellen, daß die Umweltunion gleichrangig neben die Wirtschafts- und Sozialunion tritt und das der weitere Weg zur deutschen Einheit im Konsens mit den Ländern und auch der Opposition im Bundestag verfolgt wird. Das ist die Aufgabe der Bundesregierung.
({11})
Ich möchte meine Kritik nicht verhehlen, daß die Bundesregierung den Prozeß der deutschen Einheit nicht stetig und sorgsam entwickelt hat, sondern den bestehenden Erwartungsdruck der Menschen in der DDR noch verstärkt hat. Die Bundesregierung hat den vollen Druck entfaltet, um am Ende die Einheit der Wirtschafts- und Währungssysteme in einem radikalen Schritt durchsetzen zu können. Das ist eine Politik mit hohem Risiko für die Zukunft. Ein Experiment, wie die vor uns liegende Umstellung des planwirtschaftlichen Systems auf die Marktwirtschaft ist in dieser Form nie zuvor gewagt worden. Jeder, der sagen würde, er überschaue die Folgen, der würde lügen, die Unwahrheit sagen. 17 Millionen Menschen in der DDR sind voller Hoffnung, wohl wahr! Aber sie sind auch voller Unsicherheit. Kaum einer dort weiß heute, was morgen mit ihm wird. Wir dürfen diese Ängste nicht mit Pathos und Rhetorik und auch nicht mit der Arroganz des reichen Onkels beiseite schieben.
({12})
Wir müssen den Menschen Sicherheit geben. Die berufstätigen Frauen in der DDR brauchen die Sicherheit, das die Kinderbetreuung in Qualität und Umfang auf dem jetzigen Niveau erhalten bleibt.
({13}) Die Frauen brauchen die Sicherheit, daß sie nicht zurück und an den Herd gedrängt werden, sondern daß die Möglichkeiten bleiben, Mutterschaft und Berufstätigkeit miteinander vereinbaren zu können.
({14}) Solide Sicherheiten fehlen doch bisher!
Die DDR darf nicht zum verlängerten Supermarkt der Bundesrepublik gemacht werden. Wir alle werden nichts davon haben, wenn es nicht gelingt, in der DDR leistungsfähige Produktionsstätten zu erhalten, die Betriebe zu sanieren und neue, konkurrenzfähige Produktionen aufzubauen. Wir wollen doch kein Armenhaus schaffen sondern wir wollen eine neue blühende Region im europäischen Park.
({15})
Nach den vorliegenden Regelungen werden den DDR-Betrieben keine ausreichenden Hilfen zum Strukturwandel eingeräumt, um sich auf den Markt einstellen zu können. Für eine Übergangszeit brauchen wir den Schutz von DDR-Produktionen, für eine Übergangszeit brauchen wir Hilfen für die überlebensfähigen Betriebe.
Herr Regierender Bürgermeister, entschuldigen Sie, wenn ich unterbreche. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster ({0}) zuzulassen? - Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Regierender Bürgermeister, halten Sie es für sehr glaubwürdig, wenn Sie auf der einen Seite beklagen, daß die Menschen in der DDR Ängste verspüren, und in der gleichen Rede diese Ängste befördern? Sollten Sie Ihre Haltung nicht einmal überdenken?
({0})
Regierender Bürgermeister Momper ({1}): Also, ich halte es auch für meine Aufgabe als Politiker, nicht arrogant über die Ängste und Sorgen von Menschen hinwegzugehen, sondern sie aufzunehmen,
({2})
sie zu formulieren und der Regierung zugleich zu sagen, wie ich es mir vorstelle, wie man den Sorgen der Menschen begegnen kann, wie man ihnen Sicherheit für die Zukunft geben kann.
Gestatten Sie eine weitere Frage? - Also, Herr Abgeordneter Gerster, der Regierende Bürgermeister möchte seine Rede zu Ende führen. Ich bitte um Verständnis; ich kann die Frage nicht zulassen.
({0})
- Bitte, fahren Sie fort.
Regierender Bürgermeister Momper ({1}): Meine Damen und Herren, Berlin ist die einzige Stadt der Bundesrepublik Deutschland, die direkt mit ei16696
Regierender Bürgermeister Momper ({2})
nem Teil der DDR vereinigt wird. Wir werden die Wiedervereinigung Berlins im Gleichklang mit dem deutschen Einigungsprozeß vollziehen. Wir können der staatlichen Einigung nicht vorauseilen; wir werden ihr aber auch nicht hinterherhinken.
Die Berlinerinnen und Berliner warten auf den Tag der Vereinigung Berlins, und die Berliner warten darauf, daß die Mauer in Berlin so schnell wie möglich fällt und vollständig abgerissen wird.
({3})
Und die Personenkontrollen in und um Berlin und auch in Deutschland müssen mit der Wirtschafts- und Währungsunion eingestellt werden. Wir wollen keine Ausweise mehr vorzeigen.
({4})
Wir Berlinerinnen und Berliner haben überhaupt kein Verständnis dafür, daß der Innenminister der DDR in diesen Fragen immer noch zögert. Die Bundesregierung ist aufgerufen, gegenüber der Regierung der DDR deutlich zu machen, daß sie auch den Wegfall der innerdeutschen Kontrollen zugunsten einer Einreiseunion haben will.
({5})
Meine Damen und Herren, Sorgen um die Zukunft haben nicht nur die DDR-Bürger, sondern auch die West-Berlinerinnen und die West-Berliner. Wir fühlen uns als Westdeutsche. Wir wollen den Lebensstandard behalten, den auch die Hamburger, die Münchner oder die Frankfurter haben.
({6})
- Die Kölner auch.
Berlin ist durch die Deutsche Einheit finanziell in dreifacher Weise belastet:
Es trägt erstens seinen Teil der Lasten für den Fonds Deutsche Einheit und leistet damit bis zur Vereinigung so viel wie alle anderen Länder auch.
Zweitens stimmt Berlin zu, daß die Berlin-Förderung langsam und schrittweise reduziert wird. Es muß klar sein, daß die Berlin-Förderung nur in dem Maße abgebaut wird, in dem die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Stadt steigt.
Drittens muß Berlin die Lasten für den Wiederaufbau Ost-Berlins mit übernehmen. Wir werden ein Land sein, und wir werden einen gemeinsamen Haushalt haben. Keine andere deutsche Stadt und kein Land ist in dieser Situation. In Ost-Berlin wird es geringere Steuereinnahmen, aber gewaltige Infrastrukturaufgaben geben.
Der Bundeskanzler hat versichert, daß er die Ausnahmesituation der Stadt anerkennt und daß deswegen die Bundeshilfe für Berlin notwendig bleibt. Ich baue auf dieses Wort des Bundeskanzlers.
Meine Damen und Herren, die dritte große Bedingung für die Herstellung der Einheit ist die Einbettung derselben in den europäischen Friedensprozeß und der Einklang mit unseren Nachbarn. Solange die Zwei-plus-Vier-Gespräche nicht in den wesentlichen Zügen abgeschlossen sind, kann es keine staatliche
Einheit und keine gesamtdeutschen Wahlen geben. Sobald aber die internationale Absicherung des Prozesses vollzogen ist, sollten wir keine Minute länger warten, um die Einheit auch politisch herzustellen.
({7})
Deutschland hat allen Grund, das Einvernehmen mit den Siegermächten und den Nachbarn zu suchen und sich in den europäischen Friedensprozeß einzufügen, denn was wir auch tun, wir tun es vor dem Hintergrund unserer Geschichte. Ich muß Ihnen sagen: Da macht es mich ganz unruhig, wenn bei einer solchen Debatte mit Bismarck-Zitaten gearbeitet wird.
({8})
Ich möchte keine falschen historischen Parallelen hergestellt wissen, denn es ist Bismarck gewesen, der das Deutsche Reich auf dem Scherbenhaufen von drei Kriegen gegen unsere Nachbarn errichtet hat.
({9})
Die Art und Weise, wie er mit den Gegnern im Innern umgegangen ist, und daß die Katholiken und die Sozialdemokraten gleichermaßen zu Reichsfeinden erklärt wurden, will ich hier nur erwähnen.
({10}) - Die Liberalen auch, jedenfalls der Freisinn.
Herr Regierender Bürgermeister, der Abgeordnete Waigel möchte eine Zwischenfrage dazu stellen. Wir wollen dem Hause diesen Genuß doch nicht entgehen lassen. - Herr Abgeordneter, bitte.
Herr Regierender Bürgermeister, ist es Ihrer Aufmerksamkeit während meiner Rede entgangen, daß ich mich mit meinem Zitat Bismarcks gegen die damalige Bismarcksche Politik ausgesprochen habe?
({0})
Regierender Bürgermeister Momper ({1}): Herr Kollege Waigel, aber schon die Assoziation, es könnte Parallelen geben, ist falsch.
({2})
- Meine Damen und Herren, ein Deutschland, das sich zu seiner Geschichte bekennt, kommt auch in historischen Momenten nicht mit falschen Zitationen. Es erinnert sich an die Lehren der Geschichte, und es will keine Angst bei anderen Völkern erzeugen.
({3})
Es war sicherlich auch für den Bundeskanzler, den Bundesinnenminister und für die Kollegen, die dort waren, eindrucksvoll, daß der Jüdische Weltkongreß Anfang Mai zum erstenmal wieder in Berlin getagt hat. Der Jüdische Weltkongreß hat klar zum Ausdruck gebracht, daß er keine Vorbehalte gegen ein wiedervereinigtes Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin hat, wenn dieses neue Deutschland ein demokratiRegierender Bürgermeister Momper ({4})
sches und ein freiheitliches Land ist, das sich seiner eigenen Geschichte und der Verpflichtungen für die Zukunft bewußt bleibt.
Der Zwei-plus-Vier-Prozeß wird die Ablösung der Siegerrechte für Deutschland als Ganzes und auch für Berlin bringen. Dann kann auch das realisiert werden, was alle Parlamente der Bundesrepublik Deutschland vier Jahrzehnte lang immer wieder beschlossen haben, nämlich daß Berlin wieder zur Hauptstadt eines vereinigten und eines freien Deutschland wird.
({5})
- Ich bedanke mich bei den Kolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen, die dem ihren besonderen Beifall gezollt haben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die 40 Jahre der Trennung unseres Landes haben Spuren bei den Menschen hinterlassen. 40 Jahre unterschiedliche kulturelle Erfahrung, unterschiedliche Bildungssysteme und unterschiedliche Gesellschaftsstruktur können nicht über Nacht überwunden werden. Wir Deutschen müssen uns wieder kennenlernen, und wir müssen uns wieder verstehen lernen. Wir müssen uns gegenseitig so akzeptieren, wie wir in 40 Jahren geworden sind. Der Stärkere darf den Schwächeren nicht überrollen.
Die deutsche Einheit ist auch für uns im Westen eine geistige und gesellschaftliche Herausforderung ersten Ranges. Wir werden zuallererst daran gemessen werden, ob wir den Prozeß zur deutschen Einheit sorgsam, mit Rücksicht auf unsere Nachbarn und mit Rücksicht auf die sozialen Interessen der Menschen in beiden deutschen Staaten, vollenden. Das ist die Aufgabe, die sich uns heute stellt.
Ich danke Ihnen.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Roth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute intensiv und strittig die Folgen, die die Währungs- und Wirtschaftsunion für die DDR hat. Wir schätzen beispielsweise die Dramatik der Lage unterschiedlich ein. In einer Frage aber - das will ich am Anfang ausdrücklich sagen - haben wir die gleiche Auffassung wie die Bundesregierung, nämlich in der Frage, wer für die Situation in der DDR jetzt und in der Zukunft, in den nächsten Jahren, eigentlich Verantwortung trägt.
({0})
Das sind nicht diejenigen, die sich jetzt in der neugewählten Volkskammer bemühen, die Probleme anzupacken.
({1})
Das sind auch nicht diejenigen, die hier in der Bundesrepublik Deutschland in Regierung und Opposition versuchen, die Probleme in den Griff zu bekommen. Es sind vielmehr diejenigen, die in vier Jahrzehnten eine Kommandowirtschaft aufgebaut und die DDR zerstört haben.
({2})
Meine Damen und Herren, ich sehe mit großem Unmut die Art und Weise, wie manche in der PDS der DDR hier Ursache und Wirkung verdrehen wollen.
({3})
Wirklichkeit ist, daß wir jetzt gemeinsam aufräumen.
Meine Damen und Herren, die Währungs- und Wirtschaftsunion ist das Kernstück des Staatsvertrages. Eine sofortige Währungsunion mit der DDR ist nach meiner Auffassung ein Experiment ohne Vorbild in der Wirtschaftsgeschichte. Die schlagartige Integration der DDR hat nicht ihresgleichen in früheren Zeitläufen. Wir können also insofern nicht mit fertigen Modellen und Vorbildern arbeiten.
Die Produktivität der Arbeitenden in der DDR beträgt zur Zeit etwa ein Drittel derjenigen der Bundesrepublik Deutschland, und trotzdem wird die DDR nach dem 2. Juli sofort in das Wettbewerbssystem der Bundesrepublik ohne Schutz einbezogen. Die Gefahr, daß durch den Kopfsprung der DDR in das eiskalte Wasser des internationalen Wettbewerbs auch viele Arbeitsplätze und Betriebe zerstört werden, die man retten und erneuern könnte, ist außerordentlich groß. So richtig es ist - dazu stehe ich - , daß es in der DDR ohne Marktwirtschaft nicht geht, schon gar nicht aufwärts geht, so richtig ist es auch, daß wir bisher niemals einen Integrationsprozeß in dieser Geschwindigkeit gehabt haben.
Nehmen wir, Herr Bundesfinanzminister Waigel, nur das Beispiel der Integration der Mittelmeerländer in die EG. Wir hatten Anpassungszeiten und Schutzmaßnahmen von - im Falle von Spanien - bis zu zehn Jahren. Insofern, meine Damen und Herren, sollten wir die Diskussion - ich sage das auch in Richtung auf Herrn Mischnick - beenden, als sei derjenige ein Miesmacher, der hier realistisch den Streß darstellt, der auf die DDR und auf die Menschen in der DDR zukommt. Das ist so.
({4})
Gegen diesen Streß muß man politische Maßnahmen ergreifen, so daß er erträglich ist.
({5})
Meine Damen und Herren, ich gebe zu, daß ich noch im November und Dezember 1989 die sofortige Währungs- und Wirtschaftsunion nicht für einen gangbaren Weg gehalten habe. Ich habe damals einen Vorschlag mit gestuften Wechselkursen gemacht. Sie wissen das; das wurde auch breit diskutiert. Ich habe die Diskussionen auch durchaus akzeptiert. Ich war also der Auffassung, eine ähnliche Strategie wie im Falle Spaniens wäre gangbar. Nachdem wir im Dezember und Januar viel in der DDR waren, habe ich feststellen können, daß die Option, jetzt keine Währungsunion zu machen, real nicht mehr bestand, und zwar aus folgendem Grund: Nachdem die Mauer und die übrigen Grenzen gefallen waren, wären die Be16698
nachteiligten in der DDR die einfachen Leute gewesen, die sich nicht an Spekulation und dem Ausnutzen von Wechselkursdifferenzen geübt hätten, sondern hart gearbeitet haben.
({6})
Das heißt, es gab keine Möglichkeit, die Währungsunion weiter hinauszuzögern. Ich stehe im übrigen auch dazu, daß ich den 2. Juli - allerdings habe ich nicht in den Kalender gesehen; ich dachte, es sei der 1. Juli - als erster genannt habe, denn ich wollte nicht, daß durch Geschäftemacherei und Spekulantentum reale Investitionen und Aktivitäten von seriösen Geschäftsleuten in der DDR noch weiter verzögert würden. Das heißt, das Ja zur Währungsunion bedeutete für mich gleichzeitig das Signal, daß jetzt langfristige Investitionen in der DDR begonnen werden können. Das ist die Entscheidung.
Ich komme noch einmal darauf zurück, Herr Mischnick, daß es für die Betriebe in der DDR eine Konkurrenzsituation geben wird, die ohne Anpassungs- und Strukturmaßnahmen nicht zu ertragen ist. Herr Mischnick, weil Sie so nebenbei die Situation von Arbed Saarstahl in den letzten 10, 15 Jahren erwähnt haben, will ich gerade in bezug auf diese Situation und im Vergleich zur DDR ein paar Worte dazu sagen. Arbed Saarstahl war nicht produktivitätsorientiert, war überbesetzt. Der saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine hat bei seinem Amtsantritt ein Unternehmen vorgefunden, das mit 13 500 Beschäftigten immer in den roten Zahlen war. Der saarländische Ministerpräsident hat zugestanden, daß die Beschäftigten bei Arbed Saarstahl auf 9 000, 9 500 abgebaut wurden. Aber er hat zusammen mit seinem Wirtschaftsminister Hoffmann gleichzeitig eine Beschäftigungsgesellschaft gegründet, und sie haben die 4 000 Beschäftigten aufgefangen, umgeschult und dann schrittweise in die Wirtschaft des Landes zurückgegliedert. Exakt das ist die Strategie, die wir verlangen. An dieser Stelle muß der Staatsvertrag ergänzt werden.
({7}) Genau dies ist auch in der DDR möglich.
Die optimistischste Schätzung, die es von einem Institut in der Bundesrepublik zur Zeit gibt, was die Arbeitslosigkeit betrifft, kommt vom DIW; die anderen schätzen in der Regel pessimistischer. Danach werden allein in der Landwirtschaft 250 000 Menschen entlassen, im Sektor Bergbau und Energie 100 000, im verarbeitenden Gewerbe 830 000, in anderen, kleineren Sektoren 140 000, und schließlich stehen im öffentlichen Sektor 310 000 Menschen zur Entlassung an. Das sind insgesamt 1,6 Millionen. Das DIW erwartet, daß durch die Neugründungen, von denen Sie auch gesprochen haben, etwa 600 000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Das heißt, wir haben eine Lücke von 1 Million.
In dieser Situation zu sagen: „Die Marktwirtschaft wird es schon automatisch richten" , ohne die Rückwirkungen zu beachten, halte ich für eine ganz gefährliche Politik. Gefährlich übrigens nicht nur für die Situation und die Bürger in der DDR, sondern gefährlich vor allem für die Bundesrepublik Deutschland. Es ist doch wohl logisch, daß Menschen, die Arbeitslosengeld in Höhe von 70 % ihres ehemaligen Einkommens bekommen werden und, wenn sie herüberkommen, zum Ausgleich ihrer Lebenshaltungskosten noch Sozialhilfe beanspruchen können, einen Drang zur Übersiedlung in die Bundesrepublik haben, wenn sie längerfristig arbeitslos sind. Das ist doch eine realistische Einschätzung und keine Angstmacherei, meine Damen und Herren.
({8})
Da bin ich nun der Meinung, es muß so viel wie möglich getan werden, um dort Arbeit zu finanzieren und nicht Arbeitslosigkeit zu bezahlen.
({9})
Für mich ist völlig unbegreiflich, daß Sie den Vorschlag in unserem Entwurf für den Staatsvertrag, der über die Ost-SPD eingespielt worden ist, nämlich absoluten Vorrang für Arbeitsbeschaffungs- und Umschulungsmaßnahmen einzuräumen, nicht in den Staatsvertrag aufgenommen haben. In diesem steht jetzt nur, daß derartige Maßnahmen eine Bedeutung hätten. Wir haben von einem klaren Vorrang gesprochen.
Meine Damen und Herren, das hätte dazu geführt, daß wir Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert hätten. Wieviel Hunderttausende, ja, Millionen Wohnungen in der DDR sind kaputt und zerstört! Warum nicht eine breite Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur Sanierung der Wohnungen? Warum nicht in größerem Umfang Umschulungs- und Qualifizierungsmaßnahmen vor Ort, so wie in der Betriebs- und Beschäftigungsgesellschaft, die damals im Saarland erfunden worden ist? Das ist unsere Alternative. Unsere Alternative ist nicht angst machen und Wegtauchen vor den Schwierigkeiten, sondern im Gegenteil.
({10})
Wenn wir im Staatsvertrag - es kann auch in einem Anhang stehen - an dieser Stelle eine Ergänzung oder eine Konkretisierung bekommen, ist das für mich persönlich ein Schritt hin zum Ja zum Staatsvertrag. Aber ohne dies geht es für mich nicht.
Meine Damen und Herren, in der DDR wird es nämlich, wenn wir es nicht so machen, viel, viel teurer, als Sie alle geplant haben.
({11})
Meine Damen und Herren, wir wissen doch, daß Arbeitslosigkeit das Teuerste überhaupt in einer Gesellschaft ist. Wir wissen auch, daß man in einer Gesellschaft wie der der DDR, wo es so viele ungelöste Probleme gibt und so viele Aufgaben auf die Lösung warten, den Weg der aktiven Beschäftigungspolitik gehen muß. Spielraum finanzieller Art haben wir.
Meine Meinung ist, nachdem Herr Waigel einmal in einer Rede angedeutet hat, daß er von der Unternehmensteuersenkung Abschied nehmen will, daß wir vor dem 2. Juli von der Koalition klipp und klar die Zusage haben müssen, daß dieses Geld nicht so verRoth
wendet wird, sondern für die Erneuerung der DDR mit eingesetzt wird. Das ist unser Ziel.
({12})
Herr Mischnick, weil da Zwischenrufe kommen, wissen Sie: Am Freitag hat Herr Waigel eine Presseverlautbarung zum Staatsvertrag gemacht
({13})
- oder machen lassen; bitte schön - , und er hat dort in bezug auf die Finanzierung des Fonds und andere Kapitalmarktbeanspruchungen festgestellt, er sehe das bei den 300 Milliarden DM, die am Kapitalmarkt zur Verfügung stünden, als völlig unproblematisch an; denn - jetzt kommt es - die Unternehmungen der Bundesrepublik Deutschland finanzierten sich inzwischen zu 80 % aus eigenen Mitteln.
Können Sie einem Menschen in der Bundesrepublik und in der DDR, der jetzt die Probleme sieht, erklären, warum wir Unternehmensteuersenkungen von 25 bis 30 Milliarden DM brauchen, wenn sie sich fast nur aus eigenen Mitteln finanzieren?
({14})
- Jetzt rufen Sie dazwischen: „Aus Gründen des Wettbewerbs mit den europäischen Ländern!" Die Bundesrepublik Deutschland hat einen Leistungsbilanzüberschuß, der inzwischen so groß geworden ist, daß Sie auf allen Konferenzen mit Finanzministern - oder Haussmann mit Wirtschaftsministern - gefragt werden: Was macht ihr denn, um endlich den Leistungbilanzüberschuß etwas zu kontrollieren? In dieser Situation sagen Sie: Wir müssen Unternehmensteuern senken, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft herzustellen.
({15})
Meine Damen und Herren, das ist nicht der Weg, den Sie mit uns gehen können. Sie müssen sich in Ihrer Wirtschafts- und Finanzpolitik korrigieren.
({16})
Ich glaube, erste Ansätze dazu gibt es auch.
Lassen Sie mich zum Schluß kommen. Wir haben die Möglichkeit, den Staatsvertrag und das Staatsvertragswerk insgesamt gemeinsam zu beschließen und dadurch den strukturellen Problemen der Veränderungen in Deutschland durchaus Rechnung zu tragen. Wir wollen den Staatsvertrag. Wir wollen auch den Währungsverbund. Wir wollen ferner die Wirtschafts- und Sozialunion. Wir wollen schließlich eine klare Erklärung zur Umweltunion. Wir wollen mit Ihnen in der DDR so viele alte Arbeitsplätze wie möglich modernisieren. Wir wollen, daß dort junge Unternehmer beginnen und auch solche von hier nach drüben gehen.
({17})
Wenn wir diesen Weg gehen wollen, dann brauchen
wir eine standfeste Brücke von der alten Kommandowirtschaft zu der neuen, sozial und ökologisch orientierten Marktwirtschaft in der DDR. Da machen wir mit. Nun aber ist es an der Zeit, die Versäumnisse des Staatsvertrags auszugleichen.
Vielen Dank.
({18})
Nun erteile ich das Wort dem Bundesminister für Wirtschaft, Herr Dr. Helmut Haussmann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit diesem Staatsvertrag gehen wir einen sehr großen Schritt auf die künftige deutsche Einheit zu. Nach der politischen Freiheit wird für die Menschen in der DDR nun auch die wirtschaftliche Freiheit ermöglicht. Am 1. Juli bekommen die Menschen in der DDR die Chance, sich mit einer großen Starthilfe aus der Bundesrepublik einen eigenen Wohlstand zu erarbeiten. Es gibt keinen Zweifel: Vom 1. Juli an wird ein marktwirtschaftlicher Ruck durch die DDR gehen. Mit der D-Mark im Rücken werden sich viele DDR-Betriebe mit modernen Maschinen, billigeren Rohstoffen und anderen Vorprodukten auf die Weltmärkte vorbereiten. Die Produktivität und damit auch die Renten sowie die Löhne werden schnell steigen. Es gibt auch keinen Zweifel in der internationalen Diskussion: Die Marktwirtschaft ist der schnellste, harte, aber auch ehrlichste Weg zu Wohlstand für alle. Es ist ein Irrtum, zu glauben: Was langsamer läuft, wird billiger.
Meine Damen und Herren, mit dem Staatsvertrag ist die wirtschaftliche Vereinigung der beiden deutschen Staaten längst nicht abgeschlossen. Am 1. Juli geht es für die Unternehmer und die Arbeitnehmer im Grunde erst richtig los; denn mit der D-Mark - daran herrscht kein Zweifel - kommt auch der internationale Wettbewerb in die DDR.
Meine Damen und Herren, es wäre ein großer Fehler, wenn wir in der DDR heute die Illusion wecken würden, als könne man von der sozialistischen Planwirtschaft bequem in eine sozialdemokratische Subventionsmentalität einmünden.
({0})
Nach groben Schätzungen der DDR selbst arbeiten heute gerade noch 30 % der Betriebe rentabel. Weitere 50 % können durch Sanierungsmaßnahmen wettbewerbsfähig gemacht werden. Herr Roth, die Marktwirtschaft ist nun einmal so: Erst der Wettbewerb wird letztlich zeigen, wie viele Betriebe am Markt eine Chance haben. Das können weder Sozialdemokraten noch andere vorher bestimmen.
({1}) Deshalb geben wir drei Antworten:
Erstens: Mittelstand. Das von uns angeregte ERP-Programm läuft enorm. Mehr als 12 000 kleine und mittlere Unternehmen entstehen derzeit in der DDR.
({2})
Meine Damen und Herren, wir setzen auf den Mittelstand in der DDR und nicht auf Milliardensubventio16700
nen für alte, nicht mehr wettbewerbsfähige Kombinate.
({3})
Zweitens. Die sanierungsfähigen Kombinate müssen auf den Wettbewerb vorbereitet werden. Für manchen Betrieb ist dies eine schmerzliche Roßkur. Es geht aber nicht anders; denn es macht keinen Sinn, wettbewerbsunfähige Betriebe gegen die Marktkräfte am Leben zu erhalten. Unser Kurs lautet deshalb: Anpassung ja, künstliches Erhalten nein.
({4})
Wenn die Diskussion von Herrn Waigel vorher auf Polen gebracht worden ist, so muß ich dazu folgendes sagen: Herr Balzerowicz vollzieht das schwierigste Anpassungsprogramm zur Marktwirtschaft in Europa. Dort gäbe es keinerlei Verständnis, wenn wir mit künstlichen Milliardensubventionen alte Kombinate am Leben erhalten würden, die den anderen osteuropäischen Staaten Arbeitsplätze kaputtmachen. Außerdem wird die Treuhandanstalt ermächtigt, zur Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen zugunsten sanierungsfähiger Betriebe - das ist ja Ihre Forderung - bereits dieses Jahr 7 Milliarden DM und im nächsten Jahr 10 Milliarden aufzunehmen.
({5})
Herr Minister, würden Sie die Güte haben, eine Zwischenfrage zuzulassen?
Ich habe keine Zeit. Ich bin nachher bereit. Ich war viermal im Wirtschaftsausschuß. Leider habe ich den Kollegen Roth dort nie angetroffen. Da hätten wir die Frage klären können.
({0})
Drittens. Eine wichtige und bisher von Ihnen nicht angesprochene Hilfe für die Beschäftigung ist der vereinbarte Vertrauensschutz für die bestehenden Verträge im RGW-Handel, meine Damen und Herren. Dazu stehen wir. Ich habe gerade bei meinem Besuch in Moskau erlebt, wie wichtig die Beibehaltung der Liefer- und Abnahmeverpflichtungen auch für den Reformprozeß in der UdSSR selbst ist.
Ich fasse zusammen. Die phantasielose Methode „viel hilft viel und noch mehr hilft noch mehr" hat uns schon früher nichts als Schulden eingebracht.
({1})
Die Zeche zahlen am Ende die Steuerzahler in der Bundesrepublik. Die Gleichung „mehr Geld gleich mehr wirtschaftliche Dynamik" geht auch in der DDR nicht auf. Marktwirtschaftliches Verhalten, Mut zum Wettbewerb und Bereitschaft zur Anpassung
({2}) lassen sich nicht kaufen. Die Forderungen der SPD addieren sich inzwischen auf zweistellige Milliardensummen,
({3})
ohne daß bisher ein neuer Finanzierungsvorschlag auf dem Tisch wäre.
Meine Damen und Herren, was wir heute für die DDR tun, ist viel. Das wird in der internationalen Diskussion sowohl von unseren EG-Partnern als auch von vielen osteuropäischen Partnern sehr kritisch gesehen. Aber wir bekennen uns dazu. Es geht auch nicht um künftige Notopfer, sondern es geht darum, daß wir in eine gemeinsame deutsch-deutsche Zukunft investieren. Die zu erwartenden Erträge in Gestalt von mehr Beschäftigung, mehr Umweltschutz und mehr Wohlstand rechtfertigen auch ungewöhnliche Finanzierungswege.
Meine Damen und Herren, ich möchte ein Wort von Karl Schiller zitieren:
Von unseren elektronischen Medien, den Klagemauern der Nation, wünsche ich mir, daß sie uns nach dem Tag X nicht nur täglich die Arbeitslosenziffern der DDR als Sondermeldung bringen, sondern auch die neuen Warenangebote, die Menschen auf dem Weg zu neuen Aktivitäten, die alten und hoffentlich bald erweiterten Werkstätten und Fabrikanlagen anschaulich darstellen.
Das wünsche ich mir auch von den Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein Armutszeugnis der Politik, daß bei der größten historischen Veränderung, die seit 1949 in Mitteleuropa stattfindet, kaum von Politik, statt dessen fast nur über Geld geredet wird. Es gibt keinen politischen Entwurf für diese neue deutsche Republik, weder für ihre innere Ausgestaltung noch für ihren Platz im gemeinsamen europäischen Haus. Statt dessen wird eine wirtschaftliche Transaktion abgewickelt und werden alle Zukunftsfragen vom Tisch gewischt. '
Am 9. November 1989 schien das Ende der bleiernen Zeit gekommen. Die Trägerinnen und Träger der friedlichen Revolution in der DDR machten sich daran, aus einer grauen Welt eine bunte und vielfältige zu machen. Das war eine historische Chance. Wir GRÜNEN haben lange dafür gekämpft, daß die DDR die Möglichkeit haben sollte, einen eigenen Weg zu gehen. Wir haben dafür gekämpft, weil wir uns dem Geist der Bewegung nahe fühlen, der vor allem Demokratie, Vielfalt, Gleichberechtigung für die Frauen,
Frieden, eine gesunde Umwelt und das Ende der Bevormundung wollte,
({0})
das Ende dieses so dumm machenden Einparteienstaates.
Wenn Sie letzte Woche einen Staatsvertrag unterzeichnet haben, der zum ersten die D-Mark und zum zweiten die ganze Logik unserer Wachstumsgesellschaft einführt, dann haben zwar Sie von der Regierungsbank zunächst gesiegt, aber es ist ein Pyrrhussieg.
({1})
Mit der Öffnung der Mauer haben Sie die Wachstumseuphorie wiederbelebt, so, als hätte es die Debatte über die Grenzen des Wachstums nie gegeben. Damit wird die Verdrängung wieder zur Basis der Politik.
({2})
Die unglaublichen ökologischen Schäden, die das marode Wirtschaftswesen der DDR hinterlassen hat, scheinen Ihnen die Chance zu geben, die ökologischen Schäden, die wir hier haben, vergessen zu machen.
({3})
Der ungebrochene Glaube an das Automobil als den Träger von Freiheit feiert Urständ, so, als stünden nicht viele Städte bei uns vor dem Verkehrsinfarkt und viele Menschen gleich dazu. Die Menschen, die immer deutlicher die Grenzen der Belastbarkeit auch des menschlichen Körpers zu spüren bekommen, sind aus dem Blickfeld geraten. Ich meine die Frauen und Männer und vor allem die Kinder, die unter Allergien, Rheuma oder seelischen Krankheiten leiden. Verdeckt ist damit die Debatte darüber, daß unsere Industriegesellschaft immer mehr Arbeit, immer mehr Anstrengung und auch immer mehr Geld aufbringen muß, um sowohl die Menschen als auch die Natur noch einigermaßen am Laufen zu halten.
Die Bürgerrechtsbewegungen, die Frauen, die Friedens- und die Ökologiegruppen in der DDR wußten um diese Debatten. Die Mütter und Väter der Revolutionen träumten zuallerletzt von dem, was bei uns so hochgehalten wird, von den Autos, den Videokameras, der sich immer schneller ändernden Mode, der rasanten Wachstumsspirale unserer Industriegesellschaft. Ich sage Ihnen noch einmal: Sie sind nicht dafür auf die Staße gegangen, damit sie jetzt am scheinbaren Konsumparadies des Westens teilhaben können.
({4})
Doch es wäre unredlich, in das Lamento einzustimmen, der böse Westen habe sich nun förmlich selbst über die DDR gestülpt. Nein, die Verlockungen, die unsere Welt anzubieten hat, haben zunächst den Geist der Revolution hinweggefegt und damit Ihnen und Ihrem „Modell Deutschland" die Tür aufgemacht. Aber daraus wird kein Traum von einem guten Leben. Daraus wird nur ein schnödes „Weiter so". Das halten wir für verhängnisvoll.
({5})
Dieser Gestus erinnert fatal an die 50er Jahre, meine Damen und Herren: die beginnende Freßwelle, der Nierentisch,
({6})
die Partygläser und Salzstangen, die zum Inbegriff der großen Verdrängungsleistung der Deutschen nach den dunklen Zeiten des Faschismus wurden. Die meisten von uns haben in ihren Elternhäusern erfahren, daß nach dem großen Zusammenbruch die Flucht in Aufbau und Konsum davor bewahrte, sich mit der Geschichte dieses Landes und der eigenen Verflochtenheit damit auseinanderzusetzen.
Wie wird die Auseinandersetzung mit den düsteren Seiten des Stasi-Staates verlaufen? Wird das große Wirtschaftswunder, das Sie jetzt für die DDR bereitzuhalten scheinen, noch einmal davor bewahren, Trauerarbeit zu leisten, und dazu dienen, über die Verdrängung zur Tagesordnung zu gehen?
({7})
Soll dieser Weg der Verdrängung nun gemeinsam zwischen Ost und West eingeschlagen werden, um der anderen großen Frage unserer Zeit auszuweichen, der nach der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und der der zukünftigen Generationen?
Meine Damen und Herren, wir GRÜNEN werden bei diesen Verdrängungsleistungen nicht mitmachen. Der Staatsvertrag kann nicht die Grundlage für einen wirklichen Gesellschaftsvertrag sein; denn er ist unter dem Ausschluß der Frauen nicht mehr machbar. Er ist ein Vertrag unter Staatsmännern und trägt deutlich deren männliche Handschrift. Der gewaltlose demokratische Aufbruch der DDR-Gesellschaft war ohne die aktive Teilnahme der Frauen nicht denkbar. Aber die Geschichte lehrt uns, daß die Partnerinnen im revolutionären Aufbruch in nachrevolutionären Zeiten wieder in die zweite Reihe verwiesen werden, dann nämlich, wenn es an das Staatmachen geht. Diese Erfahrung droht sich im Vereinigungsprozeß der beiden deutschen Staaten zu wiederholen.
Frauen aus Ost und West haben begonnen, sich zu treffen. Dabei gibt es eine große Fremdheit auf Grund der völlig verschiedenen Geschichte. Deutlich wird es schon in der Sprache. Den Begriff „Gleichberechtigung" haben die Frauen in der DDR über. Sie waren nach offizieller Staatsmeinung 40 Jahre lang gleichberechtigt. Diese Sorte Gleichberechtigung hatte ihnen die Erwerbsquote von 93 % beschert, die flächendeckende Kinderbetreuung, die oft sehr schlecht war, und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch innerhalb einer bestimmten Frist. Nichts genutzt hat sie für die Auflösung der alten Geschlechterrollen, für die Umverteilung der Arbeit in Haus und Familie und für die Umverteilung der Macht. Die Frauen in der DDR reden deshalb von der „Gleichstellung der Geschlechter" , wenn sie vorwärts denken. Wir wiederum in der Bundesrepublik haben uns in den letzten Jahren angewöhnt, von „wirklicher Gleichberechtigung" zu reden, wenn wir unsere Utopien formulieren. Formal gleichgestellt sind wir ja längst durch Art. 3 des Grundgesetzes. Es hat uns bisher nur wenig genutzt, weil dieser Artikel nicht umgesetzt wurde und wird.
Bei uns in der Bundesrepublik wird das Kindererziehen fast als Privatangelegenheit der Frauen betrachtet, für das sie eben auf anderes verzichten müssen - auf eigenständige Existenzsicherung, auf eine ausreichende Rente, auf einen befriedigenden Beruf, auf Einfluß im sogenannten öffentlichen Leben und in der Politik. Aber wenn es keinen Kindergartenplatz und keine Ganztagsschule gibt und das Einkommen für eine Kinderfrau nicht reicht, nutzt uns der ganze Art. 3 nichts.
Eines ist uns Frauen deutlich: Sowohl das Leben im Staatssozialismus Ost als auch das Modell Deutschland West hat den Frauen viel vorenthalten. Wir haben in diesem Hohen Hause schon oft belegt, daß die Armut in der Bundesrepublik in erster Linie weiblich ist. Der Export der weiblichen Armut in die DDR durch den Staatsvertrag ist vorprogrammiert.
({8})
Die Frauen werden die ersten sein, die die Rationalisierung in den Betrieben zu spüren bekommen, die auf Leistungen eines Sozialstaats angewiesen sind, der aber in der DDR noch gar nicht existiert.
Jetzt wäre eigentlich der Zeitpunkt, an dem Frauen in der Bundesrepublik und in der DDR das Resümee ihrer jeweils unterschiedlichen Erfahrungen in zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen und Kulturen ziehen könnten. Jetzt wäre die Zeit, Utopien auszutauschen und gemeinsam im produktiven Schwesternstreit die Vision eines selbstbestimmten Frauenlebens zu entwickeln. Das wäre Grundlage für einen wirklichen Staatsvertrag.
Ich erinnere zum Schluß an einen Slogan des Unabhängigen Frauenverbandes der DDR, der Frau Süssmuth offenbar so beeindruckt hat, daß sie ihn für eine eigene Veranstaltung schlicht geklaut hat: Ohne Frauen ist kein Staat zu machen. - Deswegen lehnen wir Ihren Staatsvertrag, ein Muster männlicher Verdrängungsleistung, ab.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Staatsvertrag ist ein gut ausgehandelter Vertrag; er braucht nicht weiter verhandelt und nicht ergänzt zu werden. Man muß sagen, ob man für oder gegen ihn ist. Diese Entscheidung kann Ihnen niemand ersparen.
({0})
Wir wissen, daß auch viele Sozialdemokraten in Verantwortung gegenüber Deutschland spüren, daß ein Nein ein Schlag in das Gesicht aller Deutschen und praktisch posthum noch der Ausschluß Kurt Schumachers aus Ihrer Partei wäre. Das wissen auch Sie ganz genau.
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Aber auch nach dieser Debatte ist die Haltung der SPD im Zwielicht, und die Frage bleibt, ob Sie zur Verantwortung überhaupt fähig sind.
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Vor zwei Tagen ist im Pressedienst der SPD unter der Verantwortung von Herrn Vogel ein Artikel erschienen.
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Darin wird gesagt: Staatsvertrag, das bedeutet die Politik der verbrannten Erde. Es wird auch von einem Raubzug gesprochen.
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Dann geht es wörtlich weiter:
„Mit allen Mitteln, die die Gewaltenteilung in der Bundesrepublik zur Verfügung stellt, muß der Plattmacher Kohl gestoppt werden, bevor er so viel soziales und politisches Unheil anrichten kann, wie es nicht einmal die deutsche Teilung hervorgebracht hat. "
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Das muß man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen! Hier wird in der Verantwortung der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gesagt: Dieser Staatsvertrag schafft mehr Unheil, als es in den letzten 40 Jahren durch die Teilung gab.
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Dies muß aus der Welt geschafft werden, wenn Sie auch nur die Spur einer Chance zur Zusammenarbeit haben wollen.
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Dann geht es weiter, alles unter der Verantwortung von Herrn Vogel:
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Jetzt muß endlich Schluß sein mit der deutschnationalen Besoffenheit,
({9}) aus der nichts Gutes kommen kann.
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Zusammenwachsen ist der Weg zur Einheit, nicht Zusammenschlagen.
Ja, das ist die SPD, meine Damen und Herren. Auf der einen Seite spüren Sie, was die Menschen in ganz Deutschland an Hoffnung mit diesem Staatsvertrag verbinden und daß die Fernsteuerung aus Saarbrükken Ihnen schwer schaden wird; aber auf der anderen Seite wird gegen diesen Staatsvertrag in einer Weise gehetzt, die wir nicht hinnehmen werden.
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Sie haben im Verlauf der Debatte auch mehrfach den Bundeskanzler angegriffen, von Hektik gesprochen und gesagt, er mache die deutsche Politik zu seiner Privatsache. Ich erinnere Sie an den ZehnRühe
Punkte-Plan vom 28. November. Damals haben Sie einen Tag lang allen zehn Punkten zugestimmt. Danach haben Sie die Zustimmung zurückgezogen, weil Sie gesagt haben, das sei eine künstliche Beschleunigung der deutschen Geschichte. Damals war zunächst eine Vertragsgemeinschaft, dann eine Konföderation und nach vielen Jahren die Föderation vorgesehen. Das ist nach Ihrer Meinung zu schnell gewesen. Die deutsche Geschichte hat sich schneller entwickelt, weil nicht zuletzt durch die Regierung Modrow
- etwa durch ihre Stasi-Pensionsgesetze - das Vertrauen in der DDR zusammengebrochen ist, wodurch sich die Flüchtlingsströme aus der DDR so entwickelt haben und von Ihnen politisch auch so ausgebeutet wurden, daß unsere Antwort die Währungsunion und die Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft sein mußte.
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Das hat den Verlauf der Dinge entschieden: der Wunsch der Menschen in der DDR, möglichst schnell eine sichere Zukunft in der DDR zu haben, Herr Roth!
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Die Währungsunion, die Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft werden kommen. Wer sich dagegenstellt, würde bereit sein, den Landsleuten in der DDR die Hoffnung auf eine Zukunft zu nehmen. Er trüge die Verantwortung für eine riesige Flüchtlingswelle. Wir werden Ihnen deshalb diese Entscheidung nicht ersparen. Sie müssen eine deutliche Entscheidung treffen. Ich bin ganz sicher, ein Nein zu diesem Staatsvertrag kann niemand verantworten.
Hier ist von den Rednern schon ausgeführt worden, daß hinsichtlich des Umweltschutzes und der Strukturveränderungen in der Wirtschaft längst Regelungen getroffen worden sind. Dazu brauchen keine zusätzlichen Vereinbarungen geschlossen werden.
Was Sie versuchen emotional in den Vordergrund zu stellen, ist die Frage des unrechtmäßig erworbenen Vermögens der Kommunisten, der SED/PDS, der Stasi und anderer. Ich war einer der ersten, der dies angesprochen hat. Wir haben gefordert, daß dieses unrechtmäßig erworbene Vermögen z. B. in einen Fonds für die Opfer des Stalinismus eingezahlt wird.
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Ich meine, das wäre auch die richtige Antwort an die Kommunisten in der DDR.
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- Seien Sie nicht so unruhig! - Aber eines muß ich Ihnen sagen - ({16})
Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche, Herr Abgeordneter Rühe. - Ich wäre dankbar, wenn Sie die Zwischenrufe nacheinander und nicht auf einmal bringen würden; dann wären Sie auch verständlich.
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Nun bitte ich, in Ruhe fortzufahren.
Wir haben im Staatsvertrag eine Regelung über unrechtmäßig erworbenes Vermögen getroffen. Jetzt liegt es an der Regierung der DDR, die Kriterien festzulegen, wo genau es sich um unrechtmäßig erworbenes Vermögen handelt. Ich habe keinen Zweifel, daß die Regierung der DDR handeln wird.
Eines kann ich Ihnen aber nicht ersparen, Herr Roth: Wenn Sie jetzt sehr emotional und völlig zu Recht gegen die Immobilien, Guthaben und das Vermögen der Kommunisten in der DDR Stellung nehmen, so haben sich Ihre führenden Politiker bis zum September letzten Jahres in Immobilien und an den Kaminen der SED noch sehr wohlgefühlt.
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- Damals war das noch kein Thema für Sie, Herr Vogel!
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Deswegen muß ich sagen, daß wir uns in dem Ziel einig sind: Diese Vermögen können nicht in D-Mark umgetauscht werden.
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- Ich verstehe ja, daß Sie nervös sind. - Diese Vermögen können nicht in DM umgetauscht werden, aber Sie sind wirklich die letzten, die sich nun in besonderer Weise darüber erheben können, angesichts Ihres jahrelangen Umgangs mit der kommunistischen Partei.
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Ein bißchen Raum sollten Sie schon noch lassen.
Darf ich noch einmal bitten, dem Redner die Chance zu geben, seine Sätze zu Ende zu sprechen. - Herr Abgeordneter Rühe, fahren Sie also fort.
Herr Roth, Sie haben zum Vertrag zwischen der SPD und der SED ja gesagt. Wer dann ein Nein zum Vertrag zwischen den beiden demokratischen deutschen Regierungen erwägt, begibt sich endgültig ins politische Abseits.
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Es wird darüber gerätselt, warum die Sozialdemokraten jetzt plötzlich eine solch kritische Haltung gegenüber dem Vertrag eingenommen haben.
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Wenn man sich etwa die Äußerungen von Frau Wieczorek-Zeul ansieht, die sagt, durch den Staatsvertrag werde in der DDR der Frühkapitalismus eingeführt, während wir dort die Gesetze der Bundesrepublik einführen wollen, dann sagt dies alles über ihr Bild von der Bundesrepublik. Hier aber zeigt sich die Enttäuschung derjenigen Sozialdemokraten, die eben nicht ein zweites Mal soziale Marktwirtschaft verwirklicht sehen wollen, die nicht die Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland in die DDR kopiert haben wollen, die vielmehr erneut ein Experiment mit dem demokratischen Sozialismus unternehmen wollten.
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Herr Vogel, wer sich so lange für die Vorteile der Zweistaatlichkeit eingesetzt hat,
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dem fällt es eben schwer, jetzt ein schnelles und deutliches Wort zur Wiedervereinigung zu sagen. Auch das ist der Grund für Ihren Meinungswechsel.
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Die Aufgabe, die wir vor uns haben, ist schwierig. Wir sollten nicht darüber streiten, ob das schwierig ist. Streiten müssen wir darüber, mit welcher Politik man die Schwierigkeiten auf dem Weg zur deutschen Einheit am besten überwinden kann.
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Ich muß Ihnen sagen: Die CDU hat nicht zufällig die ersten, schwierigen 20 Jahre der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bestimmt. Als es dann ziemlich normal war, haben die Leute gesagt: Jetzt geht es uns so gut, jetzt können sogar einmal der Herr Vogel und seine Kollegen regieren. Das ist 1969 gewesen. 1982 ist die Union wiedergewählt worden, eine Partei für schwierige Zeiten.
Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser Staatsvertrag das richtige Instrumentarium ist und daß wir die richtige Politik machen, um die Schwierigkeiten auf dem Weg zur deutschen Einheit zu überwinden. Sie stehen vor der Frage - das ist mein letzter Satz -,
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ob Sie es sich wirklich leisten können, nein zu dem zu sagen, was die SPD in der DDR durch ihren Finanzminister unterschrieben hat, nein zu dem zu sagen, was sich die Menschen in der DDR erhoffen.
Wir fordern Sie auf, ja zu diesem Staatsvertrag, ja zu einer Politik der Einigung Deutschlands zu sagen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Däubler-Gmelin.
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- Die letzten Minuten der Debatte geben mir Veranlassung, das Haus zu bitten, dem Tagesordnungspunkt gemäße Formen auf allen Seiten des Hauses zu wahren.
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann mich dem nur anschließen.
Herr Rühe, vom Temperament her würde es mich schon reizen, Ihnen jetzt so richtig zu kontern. Aber ich sage Ihnen: Das, was Sie gesagt haben, war so leicht durchschaubar und so unsinnig, daß die Menschen, die uns zusehen, sehr gut selbst wissen, in welche Ecke sie das stellen müssen. Und deswegen werde ich Ihnen nicht antworten.
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Deshalb, lieber Herr Rühe, darf ich Ihnen nur einen kleinen Hinweis geben. Das letzte Mal, als Herr Bohl hier so unsinnige Sätze von sich gab, hatten wir, eine Woche später, glaube ich, Wahlen in Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen. Die haben Sie dann auch prompt verloren.
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Sie sollten sich wirklich überlegen, ob Sie nicht über die Köpfe und die Interessen der Menschen hinwegreden.
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Ich halte es für gescheiter und auch für konstruktiver, gegen Schluß dieser ersten Beratung nochmals zu fragen: Wo sind wir uns einig, und wo gibt es bei all dem gravierende Unterschiede, was jetzt noch auf dem Weg zur deutschen Einheit vor uns steht? Ich möchte das deshalb betonen, weil wir auf Ihre Kooperation rechnen, während die Beratungen über diesen ersten Staatsvertrag laufen.
Wenn das richtig ist, was Sie auch heute pausenlos über staatspolitische Verantwortung und über die Notwendigkeit, die Unsicherheit der Menschen in der DDR zu beenden, gesagt haben, dann erwarten wir von Ihnen, Herr Rühe, nicht, daß Sie so reden, wie Sie das getan haben, sondern daß Sie mithelfen, unsere Forderungen zu prüfen. Dann werden Sie feststellen: Sie sind berechtigt. Dann sollten Sie mithelfen, daß sich die Regierungsfraktionen bewegen.
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Wo sind wir also einig? Wir sind uns einig bei dem Ja zur deutschen Einheit. Wir sind uns auch in der Beurteilung einig, daß dieser Wirtschafts-, Währungs- und Sozialvertrag ein erster wichtiger Schritt auf dem Weg zur deutschen Einheit ist. So steht es in seiner Präambel.
Wir streiten uns mit Ihnen darüber, was im Zusammenhang mit diesem ersten Staatsvertrag und im weiteren Verfahren geändert werden muß, damit aus diesem ersten gewichtigen Schritt auch ein richtiger Schritt wird, damit also die deutsche Einheit gelingen kann.
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Weil wir dies wollen, haben wir schon Ostern, als Ihre
ersten Pläne bekannt wurden, gesagt, daß wir ÄndeFrau Dr. Däubler-Gmelin
rungen fordern. Wir haben gesagt: Marktwirtschaft ohne ebenso starke sozialstaatliche Ordnung ist nicht möglich; sie liegt nicht im Interesse der Menschen. Wir stellen mit Befriedigung fest, daß sich in diesem Punkt bis heute vieles bewegt hat,
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gerade weil die Sozialdemokraten in Ost und West diese Änderungen bei Ihnen eingefordert haben, meine Damen und Herren von der Bundesregierung.
Die Sozialdemokraten sind in Ost und West das soziale Gewissen unseres Landes.
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Gerade weil wir dieses soziale Gewissen sind, stellen wir die Forderung nach Änderungen, über die heute geredet wird: erstens zum Umweltschutz. Mein Kollege Schäfer wird dazu noch etwas sagen. Deshalb bestehen wir zweitens darauf, daß Arbeitslosigkeit auch durch strukturpolitische Maßnahmen von vornherein gesenkt wird. Deshalb bestehen wir - drittens - aus Gerechtigkeitsgründen auch darauf, daß das Vermögen des Stasi und der SED zur Sanierung der DDR und zur Entschädigung der SED-Opfer herangezogen wird.
({7})
Wenn Sie sagen, Herr Rühe, Sie seien auch dafür, und wenn Sie sagen, Herr Mischnick - er ist augenblicklich nicht im Saal - , er hätte in der letzten Sitzung des Ausschusses Deutsche Einheit auch darauf hingewiesen, dann fragen wir Sie: Warum haben Sie das alles nicht gleich im Vertrag verankert? Sie hätten es auch durch ein Protokoll, durch einen Briefwechsel zusätzlich verankern können. Die Instrumente kennen Sie alle. Wir wollen das sicherstellen.
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Wenn Sie das mittragen, ist uns das recht. Wenn Ihre Kooperationsbereitschaft auch durch die neuen Mehrheiten im Bundesrat gefördert wird, dann soll uns das ebenfalls recht sein. Das ist gut für die Menschen, und es ist auch gut für die deutsche Einheit.
Einig sind wir uns, wie ich annehme, auch in einem anderen Punkt: Wir brauchen weitere Schritte hin zur staatlichen Einheit. Streiten tun wir uns wahrscheinlich mit Ihnen, wie diese Einheit aussehen soll. Wir stellen drei wichtige Forderungen: Wir wollen diese Einheit zügig, aber ohne verantwortungslosen Zeitdruck. Wir wollen die nächsten Schritte im breiten Zusammenwirken im Bundestag über Parteigrenzen hinweg unter Einbeziehung des Bundesrates in partnerschaftlichen Verhandlungen mit der DDR vereinbaren. Wir wollen, drittens, daß auch die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR zum Ergebnis dieses Einigungsprozesses Stellung nehmen können.
({9}) Diese drei Forderungen haben wir.
Zum Zeitdruck: Wir wollen die Einheit zügig, aber nicht unter verantwortungslosem Zeitdruck, habe ich gesagt, und unter parteitaktisch motiviertem Druck schon überhaupt nicht. Das gilt für den Beitritt der DDR, und das gilt für den Termin für die ersten gesamtdeutschen Wahlen. Der Hebel für beide - das wissen wir - liegt in der DDR. Aber wir sollten heute völlig klarstellen, daß wir von uns aus niemanden unter Druck setzen.
Herr Bundesfinanzminister, Ihren Hinweis auf die Schwierigkeiten der Sowjetunion - sie sollen ja auch Druck erzeugen; gestatten Sie mir, das zu sagen - halte ich nicht für besonders hilfreich. Das ist weder hilfreich für die Politik Gorbatschows, die wir brauchen und von der wir profitieren, noch helfen Sie damit den Menschen bei uns in Deutschland. Und bei der Verwirklichung der staatlichen Einheit helfen sie auch nicht.
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Auch Ihr parteitaktisches Lavieren mit dem Wahltermin hat großen Unmut hervorgerufen. Zu Recht. Vor der Niedersachsen-Wahl haben Sie, Herr Bundeskanzler, wie wir fanden, mit guten Gründen, den 2. Dezember 1990 als Termin für Bundestagswahlen betont. Es hat schon Erstaunen hervorgerufen, daß es nur der verlorenen Niedersachsen-Wahl bedurfte, um Sie plötzlich ganz anderen Sinnes werden zu lassen.
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So baut man die deutsche Einheit nicht.
Weil wir wollen, daß die deutsche Einheit ein Erfolg wird, wollen wir, daß sie auf einem breiten Fundament abgestützt wird. Deshalb wollen wir auch jetzt über die Gestaltung der deutschen Einheit reden, uns auch streitig mit Ihnen auseinandersetzen. Sie sollten eines nicht mißverstehen: Unser Ja zur Einheit bedeutet nicht das Ja zum Einigungsmodell des Bundeskanzlers oder zu den Einheitsvorstellungen der CDU/ CSU.
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Die sind uns zu eng, die sind uns zu parteipolitisch, und die sind uns zu konservativ.
Zum dritten Punkt. Wenn wir sagen, die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR soll gefragt werden, ob sie mit dem, was beim Einigungsprozeß herauskommt, auch einverstanden ist, dann hat das seinen Grund. Wenn die deutsche Einigung wirklich die historische Stunde bedeutet, von der wir immer reden - und ich halte sie dafür -,
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dann ist es schlicht ein Gebot des demokratischen Anstandes, die Männer und Frauen bei uns und in der DDR um ihre Meinung zu fragen, sie abstimmen zu lassen.
({14})
Deswegen fordern wir Sie auf: Sperren Sie sich doch nicht länger gegen diese Forderung.
Zügige Einheit ohne verantwortungslosen Zeitdruck,
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ein breites Fundament, Herr Kittelmann, und die Akzeptanz durch unsere Bevölkerung - alle drei Elemente brauchen wir; denn wir haben noch eine gewaltige Wegstrecke vor uns.
Sie wissen genauso gut wie ich, daß nach Abschluß des ersten Staatsvertrages eine Menge von Problemen zu bewältigen sind. Es hat sich eben in 40 Jahren Grundlegendes auseinanderentwickelt, nicht nur beim Geld, nicht nur in der Wirtschaft, sondern in allen wichtigen Bereichen des Lebens: im Bildungswesen, bei den Lebens- und Arbeitsbedingungen und auch - da hat die Kollegin Beck-Oberdorf doch recht - bei den Frauen und bei den Rechten der Frauen.
Wir sind uns sicherlich einig, daß es gut ist, daß die DDR von unseren Erfahrungen profitiert und viele unserer Regelungen übernimmt. Aber wir sagen auch: Wir wollen nicht mit der arroganten Haltung des wirtschaftlich Stärkeren und Reicheren der DDR einfach auch unsere anderen Regelungen überstülpen. Wer das anstrebte, der müßte mit unserem Widerspruch rechnen. Wir wollen, daß Erfahrungen ausgewertet werden. Wir wollen, daß Partnerschaft stattfindet. Wir wollen in das geeinte Deutschland übernehmen, was gut ist, was sich bewährt hat.
Seien Sie doch ehrlich: Jeder von uns weiß, daß es eine Menge gibt, worüber wir mit der DDR noch reden müssen, bevor die staatliche Einheit kommt. Ich will stichwortartig ein paar Punkte aufzählen. Was ist denn mit dem öffentlichen Dienstrecht in dem neuen, in dem geeinten Deutschland? Wir haben das Berufsbeamtentum. Das hat sich - jedenfalls grundsätzlich- bewährt. Die DDR hat kein Berufsbeamtentum. Wäre das nicht ein Grund, aus Anlaß des deutschen Einigungsprozesses die Diskussion über das einheitliche öffentliche Dienstrecht wiederaufzunehmen, die wir in der Bundesrepublik zu Anfang der 70er Jahre begonnen haben?
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Wie ist es denn mit den Frauen, die im Staatsvertrag nur an einer einzigen Stelle Erwähnung finden? Sind nicht auch Sie der Meinung, daß das für 52 % der Bevölkerung und für die Rechte und den Schutz, um den es geht, ein bißchen wenig ist? Wir sollten auch hier bald darüber reden, ob wir im geeinten, im neuen Deutschland das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft aufnehmen sollten und daß der Staat werdendes Leben durch soziale, durch gesellschaftspolitische Hilfsangebote schützen und zugleich die Einbildung, ja die Anmaßung aufgeben sollte, er könne werdendes Leben durch Strafrecht oder gar ausschließlich durch strafrechtliche Verbote schützen.
Es gibt noch viele weitere Punkte. Wir sollten uns die Zeit dafür nehmen. Das geht zügig, da wird nichts unsinnig verzögert.
Und noch etwas: Es ist heute viel über Kosten und Kleinkrämerei geklagt worden. Ich glaube, diese Vorwürfe liegen neben der Sache. Wir wissen: Deutsche Einheit ist nicht nur ein Gebot der Verfassung, sondern, Herr Mischnick, für sehr viele eine Herzenssache, gerade auch für Sozialdemokraten.
Ich hätte mich gefreut, Herr Bundesfinanzminister, wenn Sie in diesem Zusammenhang nicht nur tote Sozialdemokraten genannt hätten,
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sondern auch ausnahmsweise einmal lebende Sozialdemokraten. Wir alle haben nämlich Willy Brandts Entspannungspolitik, mit der er die Unions-Politik der rituellen Einheitsbeschwörungen ablöste, gerade deshalb unterstützt, weil sie Chancen für eine Einigung geboten hat.
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Wir begrüßen auch aus ganzem Herzen, daß die Menschen im letzten Herbst in der DDR auf die Straße gegangen sind und daß ihr Ruf „Wir sind das Volk" die Tore zur Einheit aufgestoßen hat.
Das ist so. Aber, meine Damen und Herren, die Menschen in Ost und West - das können Sie doch gar nicht leugnen - sind in den letzten 40 Jahren durch eine zweite Grunderfahrung geprägt worden: Die Nation vermittelt uns Gefühle der Zusammengehörigkeit, begründet durch Geschichte, Tradition, Sprache und Kultur. Aber jeder von uns weiß zugleich, daß der Nationalstaat heute keine der Probleme mehr lösen, daß er keine Antworten auf die Fragen mehr geben kann, die uns heute bedrängen.
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Diese Erfahrungen sind überall vorhanden, und sie sind eindeutig: Verteidigung kann im nationalen Rahmen nicht mehr gesichert werden und ist nur noch durch überstaatliche Verträge möglich. Wirtschaft ist längst international. Deshalb ist es auch kein Wunder, daß eine Umfrage unter westdeutschen Industriemanagern, die gestern bekannt wurde, zeigt, daß die den europäischen Binnenmarkt für noch wichtiger halten als die deutsche Einheit. Was die Umwelt angeht, so weiß heute jeder, daß sich Waldsterben und Smog von nationalen Grenzen nicht aufhalten lassen.
Es ist richtig - Jaspers hat das schon 1960 festgestellt - : Der Nationalstaat ist tot. Auch der deutsche Nationalstaat ist tot. Er ist auch tot, wenn wir uns jetzt auf den Weg zur deutsch-deutschen Einigung machen, wie wir das wollen.
Ich war Ihnen für Ihre Klarstellung zu Bismarck sehr dankbar, Herr Bundesfinanzminister. Bismarck und seine Zeit wollen wir nicht, Sie auch nicht. Gut. Ich könnte Ihnen noch ein paar Gründe dafür nennen: Bismarck hat nämlich nicht nur Sozialdemokraten einsperren lassen, er mochte auch keine Demokraten und Liberalen und die Katholiken auch nicht.
Auch wenn wir heute nach vorne schauen, sollten wir uns an das erinnern, was wir etwa vor einem Jahr, zum 40. Jubiläum unseres Grundgesetzes, gesagt haben. Ich selber habe damals darauf hingewiesen, daß gerade die jungen Menschen in unserem Land, daß unsere Kinder ein anderes, neues Lebensgefühl besitzen, das sich von dem früherer Generationen grundlegend unterscheidet. Sie sind anders aufgewachsen.
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Ihre Kleidung, ihre Lieder gleichen denen der jungen Leute in Ost und West - übrigens in der DDR und in Polen ebenso wie in Frankreich, in der Bundesrepublik und auch in England.
Ich habe damals darauf hingewiesen, daß viele der jungen Leute jenen historischen Themenwechsel längst vollzogen haben, der unsere Politik in der Zukunft prägen muß, wenn wir überleben wollen, auch wenn die Umstellung der Politik in Bonn bisweilen schwerer möglich erscheint, als es notwendig wäre. Die jungen Leute sind sich der globalen Gefahren deutlicher und schärfer bewußt, unter denen sie leben.
Wenn das so ist - und es ist so; ich beziehe ausdrücklich Ost und West ein - , dann ist es auch kein Wunder, daß es ihnen nicht reicht, wenn sie auf die Frage „Wie geht es weiter, und wie geht es weiter in Deutschland?" nur die Antwort „Deutsche Einheit" bekommen und sonst nichts. Dies ist auch der Grund, warum sie mit nationalem Pathos nichts mehr anfangen können.
({21})
Diese jungen Leute fragen ganz konkret: Wie sichern wir im geeinten Deutschland den Frieden mit unseren Nachbarn?
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Deshalb drängen wir auf Europa. Deshalb drängen wir auf die Aussöhnung mit Polen. Deshalb, Herr Bundeskanzler, fanden wir Ihre schwankende Haltung zur polnischen Westgrenze so unerträglich, um ein Lieblingswort von Ihnen zu verwenden.
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Die jungen Menschen fragen zum zweiten: Wie sichern wir im geeinten Deutschland mehr Demokratie? „Wir sind das Volk" : Das ist eine Feststellung, die nicht nur in der DDR gerne gehört wurde, die gilt auch bei uns. Deshalb sagen wir: Wir wollen die Beteiligung der Menschen an Entscheidungsprozessen in dem geeinten Deutschland stärken, und zwar im staatlichen Bereich und in der Wirtschaft.
Zum dritten fragen sie auch: Wie sichern wir die soziale Gerechtigkeit im geeinten Deutschland? Denn 2 Millionen Arbeitslose und noch mehr Menschen in Armut sind doch kein Ruhmesblatt und auch kein Vorbild. Unsere Antwort ist: Wir wollen das Sozialstaatsgebot, das Recht auf Arbeit ausbauen.
Als vierte und wichtigste Frage hören wir: Wie stellen wir sicher, daß das geeinte Deutschland in die Lage versetzt wird, an der Lösung der globalen Aufgaben und Probleme mitzuwirken, die in Zukunft immer drängender werden? Darauf müssen Sie, meine Damen und Herren, und wir Antworten finden, gerade weil wir die staatliche Einheit wollen.
Wir sind dazu bereit, die Diskussion, die Auseinandersetzung darüber schon heute mit Ihnen auf zunehmen. Ich sage Ihnen: Erst wenn alle drei Elemente vorliegen - Verständigung um die Inhalte, zügige Einheit, aber keine einseitige verantwortungslose Terminfestsetzung, und die Abstimmung der Bevölkerung in der Bundesrepublik und in der DDR zu den Ergebnissen des Einigungsprozesses - , befinden wir uns auf einem guten Weg. Dann kann die deutsche Einheit ein Erfolg werden. Daran arbeiten wir mit.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Unruh.
Herr Präsident! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Um es im vorhinein zu sagen: Auch wenn jetzt noch Protokolle oder Aktenvermerke oder sonst etwas dazukommen
- immer machen, immer machen - , muß nach diesem Staatsvertrag ganz schnell die Vereinigung erfolgen. Meine Hoffnung ist ein gesamtdeutsches Parlament, um dann mit Parlamentarierinnen und Parlamentariern alles das in die Wirklichkeit umzusetzen, was in diesen Verträgen, in diesen Gesetzen, in den Protokollen usw. steht.
Ich weiß gar nicht, worum Sie sich eigentlich streiten. Die SPD muß dagegen sein, sonst wäre es ja furchtbar, sonst hätte sie ja keine Wähler oder sonst etwas zu beruhigen. Sie betreibt eine gewisse Schaumschlägerei; das kann ich verstehen. Das machen Sie ja auch, wenn es Ihnen paßt. Daß die GRÜNEN einen absoluten Nein-Standpunkt beziehen, kann ich auch verstehen. Es ist das Recht der GRÜNEN, nach außen zu dokumentieren, wie sie sich vielleicht ein Gesamtdeutschland vorstellen.
Aber wenn ich von einem Abgeordneten der GRÜNEN höre, daß man Beiträge erhöhen sollte, dann bricht das natürlich für mich Grenzen der Zusammenarbeit im parlamentarischen Raum. Genau das ist der Punkt. Hier sind nicht die Wahlen wegen der Verunsicherung bezüglich Gesamtdeutschlands verloren worden.
({0})
Die Wahlen hier sind vielmehr wegen der großen sozialen Unsicherheit in der Bundesrepublik verloren worden.
Wir haben doch letztlich diese wahnsinnige Armut. Wir haben doch unsere Rentnerinnen und Rentner, die nur eine Rentenerhöhung von 3,1 % bekommen haben. Herr Mischnick, Ihre Rede war spitze.
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- Jetzt kommt allerdings das große Aber: Warum haben Sie nicht mehr für den sozialen Ausgleich in der Bundesrepublik Deutschland getan? Ich muß mir hier anhören: Berufsbeamtentum, Berufsbeamtentum. Ich breche bald zusammen. Nein, wir brauchen kein Berufsbeamtentum mit noch wahnsinnigeren Privilegien. Wir brauchen eine Ordnungspolitik in einem Gesamtdeutschland, in dem dann, glaube ich, wir Alten sehr gefragt sind.
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- Werden Sie erst einmal 65. Dann können Sie vielleicht mitreden.
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Ich meine, daß wir Alten - wir unverbogenen Alten - sehr wohl darüber mitreden können, wie wir
uns für unsere Kinder und Kindeskinder eine andere, blühende Zukunft vorstellen. Das hat etwas mit der sozialen Ordnung in der Alterssicherung zu tun. Das hat damit etwas zu tun, daß viele Tausende von Arbeitsplätzen geschaffen werden müssen, um in Zukunft wieder eine menschenwürdige, im ökologischen Bereich saubere Politik verfolgen zu können.
Es muß eine soziale Gesetzgebung erfolgen - es müssen ja alle Geld verdienen, damit sie leben können - , damit Massenarbeitslosigkeit anders als in der Bundesrepublik Deutschland aufgefangen wird. Wenn Sie als Familienvater mit drei Kindern arbeitslos würden und Ihre Schulden bei der Bank nicht mehr bezahlen könnten oder wenn Sie als Bauer Haus und Hof verlören, weil Sie nicht mehr wissen, wie Sie die Schulden bezahlen sollen, dann wäre auch Ihnen einsichtig, daß wir ein anderes Bankensystem, ein anderes Volksversicherungssystem, ein anderes Versichertensystem benötigen. Das haben Sie in Ihrem Kopf, verehrte CDU/CSU- und FDP-Freunde, nicht drin.
In einem gesamtdeutschen Parlament mit Parteien, die es heute noch gar nicht gibt, könnte ich mir vorstellen - dazu gehören auch die Grauen; das ist doch logo -, daß Grau Zukunft hat. Also, Freunde, ran und ein gesamtdeutsches Parlament schaffen.
Nun hat der Herr Abgeordnete Schäfer ({0}) das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! In der Bundesrepublik - auch in diesem Hause - wird seit vielen Jahren darüber gestritten, was sich in den westlichen Industriegesellschaften ändern muß, um den Weg in den ökologischen Zusammenbruch zu stoppen. Die Zeichen dafür, daß die 80er Jahre ein Jahrzehnt der globalen Umweltzerstörungen waren, sind unübersehbar: Waldsterben, Ozonloch, Klimagefahren.
Immer mehr Menschen wissen: Auch wir in den westlichen Industrienationen, auch wir in der Bundesrepublik Deutschland leben ökologisch über unsere Verhältnisse. Wir produzieren und konsumieren zum großen Teil zu Lasten der Natur. Wir produzieren und konsumieren zum großen Teil zu Lasten der nach uns kommenden Generationen.
Immer mehr Menschen - auch in diesem Bundestag - wissen, daß auch wir in den Industrienationen unsere Art des Wirtschaftens, unsere Art des Konsumierens grundlegend ändern müssen, ökologisch gestalten müssen, wenn wir unserer Verantwortung gegenüber den nach uns folgenden Generationen gerecht werden wollen. Um so bedrückender, um so bitterer ist es, daß ausgerechnet der Umweltschutz in dem vorliegenden Staatsvertrag, in der Vereinigungspolitik dieser Bundesregierung eine derart nachgeordnete Rolle spielt.
Die Bundesregierung unterliegt einem Trugschluß, wenn sie glaubt, es reiche aus, die Marktwirtschaft einfach auf die DDR zu übertragen, um zu erreichen, daß sich die ökologische Sanierung und der ökologische Umbau in der DDR quasi von alleine einstellen. In der langen und manchmal auch schmerzvollen Geschichte der Umweltpolitik in der Bundesrepublik
Deutschland hat es wirklich viele Jahre gedauert, bis begriffen wurde, daß Umweltschutz die unverzichtbare Grundlage unseres Wirtschaftens und kein Jobkiller ist.
Der Staatsvertragsentwurf fällt weit hinter den Grundsatz der Einheit und Gleichwertigkeit von Ökonomie und Ökologie zurück. Der Schutz unserer Umwelt ist in diesem Vertragswerk nicht Grundlage des Wirtschaftens. Vielmehr bekommt er eine zweitrangige Rolle zugewiesen, deren spezifische Ausgestaltung zudem noch in einem gesonderten Gesetz erst geklärt werden soll.
Allein durch den Druck von uns Sozialdemokraten in der Bundesrepublik und in der DDR konnten in der kurzen und hektischen Zeit der Diskussion des Vertrags gewisse Verbesserungen erzielt werden,
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damit der Umweltschutz nicht vollends unter die Räder gerät. In dem jetzt vorliegenden Art. 16 sind wenigstens einige richtige Grundsätze und Handlungsanforderungen zum Umweltschutz enthalten. Aber noch immer bleibt offen, wann und auf welchem Niveau die Sanierung der Altanlagen und Altlasten in der DDR - das ist das zentrale Problem des Umweltschutzes in der DDR - realisiert werden soll.
Während die Vereinbarungen zur Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion bereits in entsprechenden Gesetzen konkretisiert worden sind, ist dies für den Umweltschutz nicht der Fall. Was bislang dazu vorliegt - in dem Entwurf eines „Gesetzes zum Umweltschutz in der DDR", der auf Vorarbeiten des Bundesumweltministers zurückgeht - , ist nicht geeignet, unsere Befürchtungen, der Umweltschutz komme beim Vereinigungsprozeß unter die Räder, zu zerstreuen. In diesem Diskussionsentwurf atmet der Geist: Ökonomie rangiert eindeutig vor Ökologie, und dies angesichts einer weitgehend verheerenden Umweltsituation in der DDR.
40 Jahre Vernachlässigung von Umweltschutz in der DDR zusammen mit der Unterdrückung allen ökologischen Widerstandes und 40 Jahre Geheimhaltung aller ökologischen Daten in der DDR haben in einigen Regionen zu ökologischen Verwüstungen geführt, die man sich kaum vorstellen kann. Die DDR - dies auszusprechen, es zu erkennen und daraus die Schlußfolgerung zu ziehen - kann aus eigener Kraft dieses schreckliche ökologische Erbe des SED-Staates nicht bewältigen.
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Sie ist besonders bei der Sanierung der Umwelt auch auf unsere Hilfe angewiesen.
Im Vereinigungsprozeß trägt also die Bundesrepublik Deutschland Mitverantwortung auch für den ökologischen Aufbau und nicht nur für die Ökonomie. Wie sollen denn die gesundheitsbelastende Luftverschmutzung beendet, wie sollen die zerstörten Wälder, wie sollen die giftigen Böden in der DDR saniert und die abbruchreifen Kläranlagen und Kraftwerke ersetzt werden? Dafür reichen - Herr Töpfer, Sie wissen das - die vereinbarten Pilotprojekte nicht aus. Sie sind ein Tröpfchen auf den heißen Stein.
Schäfer ({2})
Die Bundesregierung hofft auf westliches Privatkapital, das in der DDR für Arbeitsplätze und bei Neuanlagen für die Einhaltung unserer Umweltstandards sorgen soll. Jeder weiß jedoch, meine Damen und Herren, daß das private Kapital dort und dann ausbleibt, wo es um die Kosten der Umweltsanierung, also der Altanlagen und der Altlasten, geht.
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Die teilweise geradezu euphorischen Ankündigungen von Investitionen bundesdeutscher Unternehmen in der DDR am Anfang dieses Jahres und vor der Wahl zur Volkskammer am 18. März sind doch mit Ausnahme des Handels und der Finanzdienstleistungen einer kühl kalkulierten Zurückhaltung eines Großteils der Unternehmen gewichen. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen ist das nachvollziehbar; denn die unübersehbaren Umweltaltlasten, die auf vielen Industriestandorten in der DDR liegen, bedeuten nun einmal unkalkulierbare Kosten, solange hier keine klaren Regelungen getroffen sind. Sie lähmen die Investitionsbereitschaft vieler Unternehmen.
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Die zerstörte Umwelt ist ein erstrangiges Investitionshemmnis. Wer will, daß die DDR auch ökonomisch schnell auf die Beine kommt, der muß den ökologischen Aufbau mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zum gleichrangigen Ziel erklären,
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weil erst mit der Umweltsanierung ein entscheidender Hemmschuh für die notwendigen Investitionen gerade in den Wirtschaftsbereichen, in denen durch privates Kapital der ökonomische Aufbau in der DDR bewältigt werden soll, wegfällt.
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Die Industrieunternehmen in der Bundesrepublik wünschen die Freistellung der Investoren bei bestehenden Altanlagen von einer Haftung für alle Spätfolgen, die aus vergifteten Böden und anderen Problemen an den jeweiligen Standorten entstehen können. Dazu in aller Kürze zwei Anmerkungen:
Erstens. Ich unterstreiche noch einmal: Das Problem der Altanlagensanierung und der Altlasten zeigt, wie sehr der wirtschaftliche Aufbau der DDR davon abhängt, daß Klarheit über die ökologischen Voraussetzungen besteht. Eine verbindliche Finanzregelung zur Sanierung der Altanlagen ist eine entscheidende Voraussetzung für private Investitionen gerade in den Wirtschaftsbereichen, in denen Investitionen durch privates Kapital von außen für einen wirtschaftlichen Aufschwung in der DDR unerläßlich sind. Es ist deshalb auch ökonomisch unverantwortlich - ich unterstreiche dies noch einmal - , nicht zusammen mit der Wirtschaftsunion gleichzeitig die Umweltunion zu vereinbaren.
Zweitens. Sowohl beim ökonomischen als auch beim ökologischen Aufbau ist die Solidarität aller gefordert, wenn DDR und Bundesrepublik Deutschland ohne Verwerfungen gut zusammenwachsen sollen.
Die deutsch-deutsche Einigung würde unvollständig bleiben, wenn der Umweltschutz auf der Strecke bliebe.
Auf diese Fragen, meine Damen und Herren, gibt der Staatsvertrag keine Antwort; genau um diese Fragen drückt sich die Bundesregierung - ich sage: bewußt - herum.
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Wo ist denn nur, Herr Rüttgers, der Umriß für ein Programm „Arbeit um Umwelt" in dem Vertragswerk, mit dem auch die drohende Arbeitslosigkeit in der DDR durch Investitionen in den Umweltschutz gemildert werden kann?
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Wo sind denn zumindest die Anzeichen im Vertragswerk, mit Investitionen in den Umweltschutz gleichzeitig Arbeitsplätze zu schaffen, der Strukturproblematik, daß Arbeitsplätze in der DDR durch den ökonomischen Umbau wegfallen, zu begegnen und die Umwelt zu sanieren? In weiten Bereichen des Vertragswerks Fehlanzeige!
Wir haben gehofft, meine Damen und Herren, daß sich die falsche Feststellung „Umweltschutz kontra Arbeitsplätze" endgültig überlebt hätte. Nun ist zu befürchten, daß mit dem Staatsvertrag genau diese verheerende falsche Fragestellung neu belebt wird.
Für uns Sozialdemokraten bleibt unverzichtbar: Die Umweltunion muß gleichzeitig mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion in Kraft treten. Zwischen Ökonomie und Ökologie muß Gleichwertigkeit und Gleichrangigkeit herrschen - nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch in der DDR.
Im Vertragswerk sind deshalb folgende Prinzipien festzuschreiben:
Erstens. Wie bei den drei Bereichen Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion müßten auch für die Umweltunion die Rechtsvorschriften, die gleichzeitig mit dem Staatsvertrag in Kraft treten sollten, im Vertragswerk selbst genannt werden. Umwelt-Dumping - beispielsweise im Straßenverkehr nach dem Muster: „hier bei uns der Drei-Wege-Kat" und in der DDR die Technik von vorgestern - ist für uns nicht akzeptabel.
({9})
Zweitens. Im Vertragswerk ist ein Weg aufzuzeigen, wie das Problem der Altanlagen und der Altlasten zu lösen ist.
Drittens. Im Vertragswerk ist Vorsorge zu treffen, daß die DDR nicht zum schmutzigen Hinterhof eines vereinten Deutschland wird. Investitionsentscheidungen sind ohne Umweltrabatte zu realisieren.
({10})
Die Grenzen der Umweltbelastung sind in vielen Regionen der DDR bereits überschritten.
Viertens. Die im Staatsvertrag vorgesehene FünfJahres-Frist für die Fortgeltung des Genehmigungsrechts der DDR für die DDR-Kernkraftwerke lehnen wir ab. Alle Experten stimmen darin überein - vor den Volkskammerwahlen am 18. März galt das auch
Schafer ({11})
für den amtierenden Bundesumweltminister - , daß sich das Kernkraftwerk Greifswald in einem maroden Zustand befindet. Eine fünfjährige Galgenfrist für solche Schrottreaktoren ist auch nicht mit dem Hinweis auf die prekäre Energieversorgungslage in der DDR zu rechtfertigen.
({12})
Das Kernkraftwerk Greifswald muß unverzüglich stillgelegt werden. Niemand kann, wenn er es mit dem Grundsatz „Sicherheit hat Vorrang" ernst meint, Mitverantwortung für die Folgen für die Bürger in der DDR, aber auch für die Bürger in der Bundesrepublik übernehmen, die sich möglicherweise aus der maroden Sicherheitstechnik in der DDR, was die Kernkraftwerke angeht, ergeben.
({13})
Fünftens. Schließlich ist sicherzustellen, daß die ökologischen Fehlentwicklungen, die sich bei uns in der Bundesrepublik Deutschland in den 50er und 60er Jahren vollzogen haben, nun nicht der DDR übergestülpt werden. Ich will nur ein Beispiel nennen. Die Zentralverwaltung der Energiewirtschaft der DDR sollte nun nicht durch die Übernahme monopolistischer Energieversorgungsstrukturen nach Bundesvorbild ersetzt werden.
({14})
Wir Sozialdemokraten wollen ein geeintes Deutschland auf der Grundlage einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. Wir wissen, daß wir auch in der Bundesrepublik Deutschland noch weit von dem Ziel einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft entfernt sind. Wir werden nicht zulassen - das wird bei den Gesprächen zwischen den Fraktionen, zwischen den Parteien ein wichtiges Kriterium für unsere Entscheidung sein - , daß die Ökologie im Vereinigungsprozeß unter die Räder kommt.
({15})
- Auch wenn Sie es nicht begreifen wollen, Herr Kittelmann: Ökonomie und Ökologie bilden - dies ist eine Erkenntnis der letzten Jahre - angesichts der drohenden Klimakatastrophe, des Waldsterbens, der Müllberge, der Gewässerverschmutzung eine unzertrennbare Einheit. Ökonomisch ist nur vernünftig, was ökologisch verantwortbar ist. Dies gilt nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern dies muß auch und gerade für den Vereinigungsprozeß, für das Zusammenwachsen beider Staaten, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland, gelten.
({16})
Der Staatsvertrag setzt in seiner jetzt vorliegenden Fassung umweltpolitisch die falschen Signale.
({17})
Noch ist es möglich, die Umweltunion gleichrangig
mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion im
Vertragswerk festzuschreiben, statt sie, wie bislang
geschehen, nur als Handlungsziel unter „ferner liefen" im Staatsvertrag zu notieren.
Dafür und für weitere umweltpolitische Verbesserungen werden wir im Interesse der Menschen und der Umwelt in der DDR und bei uns kämpfen. Wir werden dafür kämpfen, daß ein geeintes Deutschland auch eine ökologische Perspektive bietet und daß durch die Verbesserung der ökologischen Situation den Menschen in der DDR auch eine ökologiche Perspektive zum Bleiben und zum Arbeiten in der DDR gegeben wird.
({18})
Für uns Sozialdemokraten gehört der ökologische Umbau der Industriegesellschaft auf die Tagesordnung - bei uns in der Bundesrepublik, selbstverständlich in der DDR und insbesondere auch während des Einigungsprozesses, während der Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands.
({19})
Nun hat die Abgeordnete Frau Vennegerts das Wort.
({0})
Unverschämtheiten sind wir ja von der CDU gewöhnt.
Ich wäre wirklich dankbar, wenn derartige Bemerkungen bei einer solchen Debatte unterbleiben könnten.
({0})
Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort.
Danke, Herr Präsident.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ihre Bemerkungen, Herr Kollege von der CDU, fallen auf Sie selber zurück und sind unverschämt.
({0})
Der zweite Nachtragshaushalt soll als Begleithaushalt zum Staatsvertrag vor allen Dingen die Frage beantworten: Was ist die Bundesregierung für die Einheit zu zahlen bereit, und wer soll zahlen? Glaubt man den regierungsamtlich verbreiteten Beruhigungspillen, dann sollen konsequente Einsparungen in den Haushalten der Gebietskörperschaften, vermehrte Steuereinnahmen auf Grund der guten Konjunktur sowie die Anhebung der Staatsverschuldung zur Finanzierung der deutschen Einheit ausreichen.
Steuererhöhungen werden von Kanzler Kohl und auch von Minister Waigel ausdrücklich ausgeschlossen. Für mich erhebt sich nur die Frage: Wie lange noch?
({1})
- Frau Matthäus-Maier hat heute ähnlich gesprochen. Ich bin darüber sehr erstaunt, weil wir der Meinung sind, daß die Besserverdienenden in unserer Gesellschaft eine Solidarabgabe für die DDR leisten müssen.
({2})
Die Bundesregierung, auch Minister Waigel, sprach in diesem Zusammenhang von Umschichtungen im Haushalt. Herr Minister, wo sind Ihre Umschichtungen? Ich hätte Ihnen einige Vorschläge zu machen, z. B. Einsparungen beim Verteidigungsetat, beim Atomprogramm oder bei der Weltraumforschung. Dort können Sie sparen. Es gehört schon ein besonderes Maß an Dreistigkeit dazu, nunmehr den zweiten Nachtragshaushalt für 1990 vorzulegen, ohne auch nur im Ansatz im Verteidigungsbereich zu kürzen. Sie sagen es doch immer; dann fangen Sie endlich damit an.
({3})
Mit diesem Nachtragshaushalt liegt tatsächlich nach wie vor der höchste Verteidigungshaushalt in der Geschichte der Bundesrepublik vor. Das ist einfach so. Sie sprechen vom Finanzplan. Dort gibt es möglicherweise Kürzungen, aber im Rahmen des laufenden Haushalts ist es der höchste Verteidigungsetat aller Zeiten.
({4})
Auf der Ausgabenseite des Nachtragshaushalts werden als Finanzzuweisungen an die Rentenversicherung der DDR ganze 750 Millionen DM und zur Anschubfinanzierung der Arbeitslosenversicherung der DDR 2 Milliarden DM veranschlagt. Bei einer Million Arbeitslosen in der DDR in diesem Jahr - davon spricht sogar Herr Pöhl - macht das lediglich 250 DM pro Monat pro Arbeitslosen für das laufende Jahr aus.
({5})
Das ist ein wirklichkeitsfremdes und peinliches Angebot, denke ich. Wo sind die Mittel für mögliche Beschäftigungsprogramme und für die Sicherung von Ausbildungsplätzen?
Für den Umweltbereich ist auf der Ausgabenseite des Nachtragshaushalts eine Null eingesetzt. Obwohl die durch den Raubbau an der Natur ausgelösten Schäden an Mensch und Umwelt hinlänglich bekannt sind, stellt die Bundesregierung nicht einmal die notwendigsten Mittel für ein ökologisches Sanierungsprogramm in der DDR bereit. Auch dazu haben wir, die GRÜNEN, konkrete und voll durchfinanzierte Programme zur raschen Umweltverbesserung vorgelegt.
Während Minister Töpfer von der gesamtdeutschen Verantwortungsgemeinschaft im Umweltbereich daherredet, setzt die Bundesregierung durch ihre Haushaltspolitik Zeichen. Darin kommt die Umwelt nicht vor. Man muß sich doch einmal anschauen, welche Probleme in der DDR im Umweltbereich tatsächlich vorhanden sind. Davon reden Sie ja auch. Ich nenne nur Kanalisationssysteme und Kläranlagen. Wer soll die denn bezahlen? Für die Finanzierung kommt doch nur die öffentliche Hand in Frage. Die bundesdeutschen Privatunternehmen werden diese Aufgabe mit Sicherheit nicht übernehmen.
Der Entwurf für einen Staatsvertrag enthält einige Bestimmungen, wonach sich die DDR verpflichtet, das volkseigene Vermögen vorrangig zur Sanierung des Staatshaushaltes zu verwenden. Konkret bedeutet dies, daß die Folgen der schnellen Währungsunion wie Massenarbeitslosigkeit, Sozialhilfe, Subventionen für gefährdete Betriebe etc. vornehmlich durch Verkauf des volkseigenen Vermögens finanziert werden sollen. Faktisch läuft dies auf einen echten Ausverkauf der DDR hinaus, auch wenn Sie das immer wieder leugnen.
Der Finanzminister der DDR, Romberg, Mitglied der DDR-SPD, hat nicht nur diese Regelung, sondern den gesamten Staatsvertrag richtig charakterisiert, wenn er sagt: Wir haben am 9. November die Souveränität gewonnen und geben sie am 2. Juli wieder ab.
({6})
Fragt sich nur, warum er und die DDR-SPD diesen Kurs dann mitmachen.
({7})
Dieser Nachtragshaushalt offenbart, daß die Kosten der deutschen Einheit vornehmlich den DDR-Bürgern und -Bürgerinnen aufgeladen werden sollen. Der Bundesregierung kann und konnte es mit der deutschen Einheit nicht schnell genug gehen. Alle Maßnahmen wurden, besonders im DDR-Wahlkampf, als finanzierbar dargestellt. Die schnelle Währungsunion wurde mit Hilfe der SPD zum Wundermittel erklärt. Heute geht dieser Prozeß angeblich auch der SPD zu schnell. Frau Matthäus-Maier hat mit Recht das Erstgeburtsrecht für die schnelle Währungsunion.
Jetzt will die Bundesregierung die Einheit so billig wie möglich. Die Finanzierung ist total unseriös. Statt daß Verteidigungsausgaben gestrichen werden, wird die Staatsverschuldung durch die Hintertür über die Kreditfonds erhöht. Allgemeine Steuererhöhungen, die vor allen Dingen die Schwächeren in unserer Gesellschaft treffen, sind vorprogrammiert. Dieser Nachtragshaushalt ist erbärmlich und beschämend hinsichtlich der dringend benötigten Hilfen für die DDR. Er ist ein Armutszeugnis eines der reichsten Länder der Welt.
Das Bündnis 90 hat zur heutigen Debatte u. a. erklärt:
Der Staatsvertrag bricht das Verfassungsversprechen, das sich alle Bewegungen und Parteien des Runden Tisches am 7. Dezember 1989 und am 12. März 1990 gegeben haben.
Dem ist nichts hinzuzufügen. - Das bedauern wir sehr.
({8})
Bevor ich als letztem Redner dem Abgeordneten Wüppesahl das Wort gebe, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß wir
Vizepräsident Cronenberg
gleich noch einige Abstimmungen vorzunehmen haben, u. a. das Bundeswahlgesetz betreffend. Ich wäre dankbar, wenn Sie dies bei Ihren Entscheidungen berücksichtigen würden.
Herr Abgeordneter Wüppesahl, Sie haben das Wort.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Trotz des unangenehmen Vorgeplänkels - natürlich - auch: Sehr geehrter Herr Präsident!
Wer von uns Abgeordneten im Deutschen Bundestag hat dieses Ratifizierungsgesetz eigentlich gelesen?
({0})
- Ich sehe ganz wenige Handzeichen.
({1})
Ich taxiere einmal: Es sind so 15 bis 20 Abgeordnete,
({2})
die dieses Gesetz, über 400 Seiten stark, in den wenigen Tagen, die es uns vorliegt, gelesen haben.
({3})
Es ist auch noch eine andere Frage, ob man es, selbst wenn man es gelesen hat, im Hinblick auf das, was alles an komplizierten Folgen durch dieses Gesetz ausgelöst wird, und zwar nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik, verstanden hat.
({4})
Da ist dann nicht die Frage „Einheit, ja oder nein?", über die es künstlich zugespitzt zwischen CDU/CSU, FDP und SPD hin und hergeht, sondern die Frage der Verantwortung gegenüber der Sache und den Menschen und damit letztlich auch gegenüber der deutschen Einheit.
Lothar de Maizière hat hier - ich hatte das bereits einmal gesagt - mitpokern müssen, ohne ein gutes Blatt in der Hand gehalten zu haben. „Mitpokern" ist eigentlich sehr geschönt ausgedrückt, weil er ohne Kenntnis der Spielregeln hat mitmischen müssen. Hinzu kommt - so behaupte ich - : Die wenigsten Kollegen in der Volkskammer der DDR sind Politikprofis. Die meisten politisch gestandenen Kräfte gibt es noch in der PDS. So, wie z. B. der Wahltermin für gesamtdeutsche Wahlen nicht in Ost-Berlin entschieden wird, sondern, trotz noch gegeneinander stehender Statements in dieser Frage, in Bonn, ist es auch in vielen Sachfragen dieses Vertragsentwurfs so gewesen, daß aus Bonn eingeflüstert worden ist, was die DDR-Verhandlungsdelegation letztlich mitzutragen hatte.
({5}) - Sie sagen „klar" , Herr Roth.
({6})
Aber dies ist natürlich kein Verhältnis zu einem souveränen Staat, wie die DDR es zumindest zur Zeit noch auf dem Papier sein sollte.
({7})
Was dadurch viel deutlicher wird: Geld ist eine sehr wirkungsvolle Waffe; das wissen Sie als finanzpolitischer Sprecher ja nur zu gut. Das sehen wir nicht nur in bezug auf die Dritte Welt; das konnten wir auch im Umgang mit dem letzten bißchen Souveränität der DDR erleben.
Der Bundesregierung als - so sagt es das Bundesverfassungsgericht, und so ist es auch tatsächlich, wie wir jetzt bei den Verhandlungen erlebt haben - Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches ist es gelungen, einen Krieg gegen einen anderen Staat zu gewinnen, ohne auch nur einen Schuß abzugeben. Der Staatsvertrag in seiner jetzigen Fassung läßt da keinen Zweifel. Die Arroganz des Geldes der Reichen hat in der Manier von Räumkommandos die DDR von hinderlichen Gesetzen leergefegt und übernimmt sie.
({8})
Jetzt wird die DDR ökonomisch geschliffen, wie es in der Sprache der Militaristen heißt. Es wird rationalisiert; es werden Arbeitskräfte entlassen und ganze Industrien geschlossen. Es werden gleichzeitig keine Schutzregeln in dieses Ratifizierungsgesetz eingebaut, etwa für ein Bundeskartellamt - so etwas ist einfach nicht vorgesehen - oder für einen Bundesbeauftragten für den Datenschutz für das Gebiet der DDR. Es gibt auch keine Regelungen in diesem Gesetzeswerk, wie z. B. die auf einen Schlag gültigen 25 Gesetze in den Behörden und in den Amtsstuben der DDR administrativ umgesetzt werden sollen.
Es ist auch nicht geklärt, wie die Aufteilung des Volksvermögens aussieht, welche Werke - bei uns haben die meisten Kommunen z. B. Stadtwerke für Gas, Wasser etc. - in der DDR in das Eigentum der Kommunen übergeführt werden - in die Länder kann noch gar nichts überführt werden, weil das Vertragswerk vor der Schaffung der fünf DDR-Länder in Kraft treten soll - und welches Vermögen in das Eigentum des Bundes übergeführt wird.
Das sind völlig ungeklärte Fragen, die letztlich darauf hinauslaufen werden, daß in Bonn darüber entschieden werden kann, in welchem Umfang privatisiert wird und welche Gebietskörperschaftsebene welches Vermögen erhalten darf.
In der Frage des PDS-Vermögens und des Vermögens der Blockparteien hat sich heute eine Doppelbödigkeit durch die ganze Debatte gezogen. Weshalb gibt es keine klare Regelung im Ratifizierungsgesetz? Weshalb wird hier von den Vertretern der Koalition
gesagt „Haben Sie doch Zutrauen in die Regierung der DDR" ? Dieses Zutrauen habe ich nicht.
({9})
Wir haben doch erlebt, wie Herr Diestel mit dem Ministerium für Staatssicherheit agiert hat.
({10})
Für mich ist völlig klar, daß sich die CDU, mit in der Regierung der DDR befindlich, in eigener Sache sehr schwer tun wird, ihr zu Unrecht angestammtes Vermögen aus der SED-Zeit wieder zu sozialisieren. - Das ist nicht nur doppelbödig; ich denke, es ist Heuchelei, was Sie der Öffentlichkeit und uns hier vermitteln möchten.
({11})
Wir werden eine wachsende Armut unter den Rentnern, den zukünftigen Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern erleben. Hinzukommen werden Steuererhöhungen in der Bundesrepublik. Meine Vorrednerin hat das als erste heute genauso deutlich formuliert.
Im Herbst wird es einen Aufstand geben; das ist doch völlig klar. Ab dem 2. Juli werden Betriebe in der DDR zusammenbrechen, und wir werden zwischen 2 und 3 Millionen Arbeitslose haben, wie selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung prognostiziert hat.
Wir werden also im Herbst einen dritten Nachtragshaushalt bekommen, der die heute vorgelegten Zahlen im zweiten Nachtragshaushalt um etliches übersteigen wird, auch wenn das heute niemand offen sagen will.
Dieser vorschnelle Anschluß der DDR führt zum sozialen Kollaps. Der eitle Wunsch Herrn Kohls, als Einheizkanzler - nicht mit ts, sondern mit z geschrieben - , in die Geschichte einzugehen und entsprechenden sozialen und rechtlichen Flurschaden anzurichten, ist die Ursache dafür. Mit ein bißchen mehr Zeit kann man diesen ganzen Vorgang seriöser und sachgerechter gestalten.
({12})
- Sie haben es erkannt, Herr Kollege. Ich danke Ihnen.
({13})
Eine Parität zwischen der Bundesrepublik und der DDR in der Besetzung aller Gremien, z. B. des Zentralbankrates, ist erforderlich. Sie hätte auch sicherstellen können, daß die Belange der Länder der DDR effektiv berücksichtigt werden.
({14})
Die fünf DDR-Länder müßten beispielsweise jeweils zwei Stimmen haben, damit ein Verhältnis von 10 zu 10 Stimmen im Zentralbankrat der Deutschen Bundesbank gegeben wäre. Nur so wäre eine Gleichgewichtigkeit zwischen BRD und DDR, wie verbal immer vermittelt, gewährleistet.
Bei der Besetzung dieses Gremiums wurde nicht die Besetzung des gemeinsamen Regierungsausschusses als Vorbild genommen. auch da wollte man eigentlich keine Parität. Das hätte aber zu sehr nach Anschluß, nach Annexion, ausgesehen. Also legte man - kosmetisch - Parität auf.
Bei einem Gremium wie dem der vorläufigen Verwaltungsstelle zugeordneten Gremium braucht man sich nicht mehr um Kosmetik zu sorgen. Da meint man Tacheles reden und die Würgehalsbänder anziehen zu können!
Was bleibt der DDR, den drohenden kompletten Untergang vor Augen, anderes übrig, als sich für ein bißchen weniger Untergang zu entscheiden?
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der von der Bundesregierung in beratender bis erduldender Anwesenheit der DDR-Verhandlungskommission ausgearbeitete Staatsvertrag hat verfassungsändernden Charakter; natürlich nur insoweit, als es die Verfassung der DDR betrifft. Mehr noch: Art. 2 Abs. 2 des Gesetzentwurfs ist ein Freibrief dafür, Artikel aus der Verfassung der DDR zu streichen, wie es der Bundesregierung gefällt; denn das Parlament wird nach Inkraftsetzen des Staatsvertrages nicht mehr beteiligt. Insofern ist es falsch, von einer nicht vorhandenen Verfassungsunion zu sprechen. Sie wird staatsvertraglich als verordnete Grundgesetzübernahme unter Preisgabe der Verfassung der DDR diktiert.
Mit dem Staatsvertrag wurde eine Überverfassung geschaffen, wie sie in der Geschichte einmalig ist. Der DDR wird en bloc eine Vielzahl von Gesetzesänderungen verordnet, deren Auswirkungen unbekannt sind. Für die Bundesrepublik wird quasi grundgesetzlich die Soziale Marktwirtschaft - freie Preise, freie Arbeit, freies Kapital - neu definiert.
({15})
Einen bitteren Vorgeschmack auf das, was nach der Ratifizierung des Staatsvertrags auf die Bürger der DDR zukommt, gibt die Entwicklung im Bereich der Printmedien in der DDR. Die großen Verlagshäuser in der Bundesrepublik haben schon jetzt den Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt fest in ihrer Hand. Der Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt in der DDR ist nach wie vor monopolisiert, jetzt jedoch unter westdeutscher Regie. Wer nach „Marktwirtschaft" schreit, der kann nicht „monopolkapitalistische Wirtschaftsordnung" , sondern muß diversifizierte Betriebseinheiten meinen. Der vielzitierte, aber wenig angewendete Art. 14 Abs. 2 des Grundgesetzes wird gänzlich Makulatur. Die grundgesetzliche Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums ist durch den Staatsvertrag abgeschafft!
Der Staatsvertrag wird einen Flächenbrand entfachen; zumindest in der DDR. Das weiß auch die Bundesregierung. Nicht umsonst versucht sie, ihren Historienkanzler durch frühzeitige gesamtdeutsche Wahlen über die Runden zu retten. Ohne eine neue Verfassung gewinnt der Staatsvertrag den Charakter einer Quasi-Verfassung und ist somit an den Standards des bundesdeutschen Grundgesetzes zu messen, zumindest was die Sozialpolitik angeht.
Die Abwehrversuche der SPD, Nachbesserungen im Anhang - womöglich handschriftlich - festzuhalten, sind hilflos und kraftlos. Das wird auch von den Koalitionssprechern zu Recht deutlich gemacht. Diese Maßnahmen und Forderungen sind nichts anderes als Wahlkampftaktik und der Trieb zur Macht. Wieder einmal konnte die SPD ihrer Rolle als Oppositionskraft nicht gerecht werden.
({16})
Mir bleibt - letzter Satz - nur die Hoffnung, daß zumindest die wahltaktische Rechnung der Bundesregierung nicht aufgeht. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren. Ich freue mich auf das nächste gemeinsame Gespräch mit Ihnen.
({17})
Bevor wir weitermachen, möchte ich Sie, Herr Abgeordneter Dr. Rüttgers, bitten, unparlamentarische Bemerkungen wie zu Beginn des letzten Debattenbeitrags zu unterlassen.
Nun darf ich dem Haus mitteilen, daß interfraktionell vorgeschlagen worden ist, den Gesetzentwurf in der Drucksache 11/7171 zur federführenden Beratung an den Ausschuß Deutsche Einheit und zur Mitberatung an die übrigen in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Außerdem sollen die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/7150 und 11/7185 ebenfalls an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse überwiesen werden. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen worden.
Der federführende Ausschuß Deutsche Einheit soll seine Beratungen am 15. Juni 1990 abschließen. Die mitberatenden Fachausschüsse sind gebeten worden, ihre Stellungnahmen gegenüber dem federführenden Ausschuß Deutsche Einheit bis zum 11. Juni 1990 vorzulegen. Ich gehe davon aus, daß die Fristverkürzung auf Grund dieses Zeitplans die Zustimmung des Hauses findet. Ist diese Annahme richtig? - Dann ist auch das so beschlossen.
Die notwendigen Sondersitzungen der Ausschüsse werden auf Antrag nach § 60 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung - so hat das Präsidium beschlossen - großzügig genehmigt. Die abschließende Beratung soll im Plenum am 21. Juni 1990 stattfinden.
Ich rufe nunmehr Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Überweisung im vereinfachten Verfahren
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Abbau von Hemmnissen bei Investitionen in der Deutschen Demokratischen Republik und Berlin ({0}) ({1})
- Drucksache 11/7207 Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({2})
Ausschuß für Wirtschaft
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ich nehme an, das Haus ist damit einverstanden. - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe nun Punkt 3 der Tagesordnung auf: Beratungen ohne Aussprache
a) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 11/7072 -
aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3})
- Drucksache 11/7176 -
Berichterstatter: Abgeordnete Krey Dr. Nöbel
Dr. Hirsch
Such
bb) Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung
- Drucksache 11/7211 Berichterstatter: Abgeordnete .. .
({4})
b) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
- Drucksache 11/6790 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({5})
- Drucksache 11/7176 Berichterstatter: Abgeordnete Krey Dr. Nöbel
Dr. Hirsch
Such
({6})
Wir kommen zunächst zur Einzelberatung und Abstimmung über den von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen! - Enthaltungen? - Dann sind bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN und des Abg. Wüppesahl die aufgerufenen Vorschriften in zweiter Beratung angenommen.
Wir treten in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem
Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht,
Vizepräsident Cronenberg
den bitte ich, sich vom Platz zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann ist das Gesetz mit der gleichen Mehrheit wie in der zweiten Lesung angenommen worden.
Meine Damen und Herren, ich stelle fest, daß auch die Fraktion der SPD diesem Gesetzentwurf zugestimmt hat. Damit kann ich davon ausgehen, daß der Entwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6790 eines Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes seine Erledigung gefunden hat. - Das ist offensichtlich der Fall.
Meine Damen und Herren, anschließend teile ich Ihnen folgendes mit: Interfraktionell ist vereinbart worden, den Antrag der Fraktion der SPD „Garantie der polnischen Westgrenze" auf Drucksache 11/6237 und den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens" auf Drucksache 11/6250, die beide in der 188. Sitzung dem Auswärtigen Ausschuß zur federführenden Beratung und dem Rechtsausschuß sowie dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zur Mitberatung überwiesen wurden, nunmehr dem Ausschuß Deutsche Einheit zur federführenden Beratung und dem Auswärtigen Ausschuß lediglich zur Mitberatung zu überweisen.
Weiterhin besteht Einvernehmen darüber, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN „Volksabstimmung zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten ..." auf Drucksache 11/6719, der in der 207. Sitzung dem Rechtsausschuß zur federführenden und dem Innenausschuß sowie dem Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zur Mitberatung überwiesen worden ist, nunmehr dem Ausschuß Deutsche Einheit zur Federführung und dem Rechtsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Auch hier gehe ich davon aus, daß das Haus mit diesen sinnvollen Vorschlägen einverstanden ist. - Das ist der Fall.
Dann kann ich die Sitzung schließen und die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 30. Mai 1990, 13 Uhr einberufen.