Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 4/25/1990

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Die Themen der Kabinettssitzung, die der Herr Chef des Bundeskanzleramts mitgeteilt hat, sind den Fraktionen bekannt. Thema der Kabinettssitzung waren auch die EG- Agrarpreis-Verhandlungen in Brüssel. Zu dieser Thematik findet heute nachmittag eine Aktuelle Stunde statt. Ich mache also darauf aufmerksam, daß nach unseren Vereinbarungen während der Befragung keine Themen angesprochen werden sollen, die Gegenstand eines Tagesordnungspunktes der laufenden Sitzungswoche sind. Die Bundesregierung hat mitgeteilt, daß der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Seehofer, berichtet. Er hat das Wort.

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe heute in Vertretung von Bundesminister Blüm, der sich in wichtigen Gesprächen wegen der deutsch-deutschen Einheit und der Sozialunion befindet, dem Kabinett einen Bericht zum bisherigen Vollzug des Gesundheits-Reformgesetzes erstattet. Dieses Gesetz ist seit 15 Monaten in Kraft, und der Vollzug des Gesetzes ist auf drei Jahre ausgelegt, so daß es sich heute nur um einen Zwischenbericht handeln konnte. Die Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung im Jahr 1989 sieht so aus, daß im Vergleich mit dem Jahr 1988 die Ausgaben um 4,5 Milliarden DM zurückgegangen sind. Das heißt, daß zum ersten Mal in der Geschichte der gesetzlichen Krankenversicherung erreicht wurde, daß das Ausgabenniveau, bezogen auf das Vorjahr, zurückgegangen ist. Bei allen bisherigen Kostendämpfungsbemühungen Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre ist es jeweils nur gelungen, den weiteren Ausgabenanstieg zu dämpfen. Zu diesen 4,5 Milliarden DM Minderausgaben kommen 4,9 Milliarden DM Überschuß aus Beitragsmehreinnahmen auf Grund der guten Konjunktur, so daß die gesetzliche Krankenversicherung am Ende des Jahres 1989 einen Überschuß von 9,4 Milliarden DM zu verzeichnen hatte. Dies schlägt sich natürlich in der Beitragsentwicklung nieder. Wir sind Anfang 1989 mit einem durchschnittlichen Beitragssatz in der gesetzlichen Krankenversicherung von 12,9 °A. gestartet. Wir erwarten im Laufe dieses Jahres einen durchschnittlichen Beitragssatz von etwa 12,5 %. Wir hätten ohne Gesundheitsreform 1991 einen durchschnittlichen Beitragssatz von 14,5 % erreicht, nachdem wir in all den letzten Jahren eine jährliche Beitragssteigerung von 0,4 bis 0,5 % hatten. Bezogen auf die Beitragsbelastung insgesamt - Arbeitgeber und Arbeitnehmer - , wurden durch die Gesundheitsreform, bezogen auf 1989 und 1990, knapp 18 Milliarden DM Beitragsmehrbelastungen vermieden. Bezogen auf den Durchschnittsverdiener heißt dies jährlich eine Entlastung um 300 DM. Soweit zu den Zahlen. Zur Qualität der Versorgung können wir feststellen, daß sich in der qualitativen Ausstattung des Gesundheitswesens überhaupt nichts zum Nachteil verändert hat. Im Gegenteil, es wird nach wie vor hochwertige Medizin, Spitzenmedizin für jedermann ohne Ansehen des Standes und ohne Ansehen des Einkommens zu sozialverträglichen Beiträgen und Preisen angeboten. Das war der wesentliche Inhalt meines Berichts für das Kabinett.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Danke schön, Herr Parlamentarischer Staatssekretär. Ich habe Fragen dazu vorliegen. Zuerst der Herr Kollege Dreßler.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung. Ich weiß nicht, an wen diese Frage zu stellen ist: ob an das Präsidium des Deutschen Bundestages oder an die Bundesregierung selber. Es ist vielmehr auch eine Feststellung. Mich bewegt der Gedanke, ob das, was wir heute hier erleben, der neue Stil der Bundesregierung zu dem Institut „Befragung der Bundesregierung" ist, ({0}) wenn nicht stimmberechtigte Angehörige des Kabinetts das, was die Befragung der Bundesregierung ausmacht, neuerdings dem Deutschen Bundestag gegenüber verantworten. Wo immer das auch zu klären ist: Es ist, denke ich, einer Klärung wert, weil sich das Institut, das hier gerade abläuft, ansonsten selbst in Frage stellt. Nun zur Sache: Herr Parlamentarischer Staatssekretär, es dürfte ja wohl unstrittig sein, daß jede eventuelle Entlastung der Beitragszahler nach der Systematik des sogenannten Gesundheits-Reformgesetzes gleichzeitig eine höhere Belastung von Patienten, von chronisch Kranken und Rentnern ist. Ich frage Sie deshalb: Hat das Bundeskabinett - in Ihrer Anwesenheit oder sogar durch Ihren Bericht, wie Sie berichtet haben - in diesem Zusammenhang schon einmal die Idee bewegt, daß diese inakzeptablen Belastungen von Kranken, insbesondere chronisch Kranken, eine Würdigung erfahren müßten, z. B. im Sinne einer Kompensation? Und wenn dies eine Rolle gespielt hat: Können Sie uns mitteilen, wie sich diese Würdigung des Kabinetts hinsichtlich der Mehrbelastung von Kranken und chronisch Kranken dargestellt hat?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege Dreßler, erlauben Sie mir zur ersten Bemerkung die Anmerkung: Minister Blüm befindet sich in wichtigen Gesprächen wegen der Sozialunion. Ich nehme an, daß auch Sie ein Interesse daran haben, daß diese Gespräche zu einem Ergebnis geführt werden, das auch Ihnen die Zustimmung zu diesem Staatsvertrag, Abteilung Soziales, ermöglicht. Das zweite: Ich habe dem Kabinett natürlich auch zur sozialen Dimension, zur Sozialverträglichkeit des Gesundheits-Reformgesetzes berichtet. Natürlich ist es so, daß eine Gesundheitsreform auch Versicherte betrifft; das möchte ich überhaupt nicht bestreiten. Nur, wir haben, wie Sie wissen, in der Diskussion und bei der Verabschiedung des Gesetzes größten Wert darauf gelegt, daß alle Beteiligten ihren Beitrag zur Konsolidierung des Gesundheitswesens leisten. Deshalb müssen Sie sehen, daß auf der anderen Seite natürlich auch Leistungserbringer von diesen Einsparmaßnahmen erfaßt sind. Ich möchte Ihnen einige Beispiele nennen: Es ist dieser Regierung gelungen, z. B. die Arzneimittelpreise zum Purzeln zu bringen, wie es in der 40jährigen Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher nicht der Fall war. Zweitens. Jeder Umsatzrückgang bei den einzelnen Leistungssektoren, Zahnersatz, Bestattungs- und Sterbegeld oder auch Fahrtkosten, führt natürlich automatisch auch zu Umsatz- und damit Einkommenseinbußen bei den Leistungserbringern. Jede Veranstaltung, jedes Gespräch mit den Leistungserbringern wird Ihnen das sehr klar und schnell bestätigen. Drittens. Die Versicherten sind ja auch von der Beitragsentlastung berührt, und zwar alle Versicherten. Ich sagte Ihnen die Größenordnung: 18 Milliarden DM in zwei Jahren müssen die Versicherten nicht aufbringen. Das ist gerade für kinderreiche Familien eine sehr starke Entlastung. Viertens. Wir bleiben bei unserer Feststellung, daß den Versicherten keine Mark genommen wird - und damit auch nicht den Kranken - , sondern daß die eingesparten Beträge wieder für neue Leistungen verwendet werden, z. B. 1 Milliarde DM für die Gesundheitsvorsorge oder insgesamt 5 Milliarden für die Pflegehilfe im Endstadium. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine kleine Nachfrage ist jeweils gestattet, jedenfalls noch zu diesem Zeitpunkt.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Diese kleine Nachfrage, Herr Präsident, hat folgenden Wortlaut: Es fällt auf, daß die präzisen Fragen zu dem Kapitel „chronisch Kranke und Kranke" im Zusammenhang mit der Interdependenzwirkung dieses Gesetzes, von der ich sprach, dann, wenn sie hinterfragt wird, grundsätzlich unbeantwortet bleiben, wie auch jetzt gerade in diesem Falle. Ich will deshalb noch einmal nachfragen, Herr Parlamentarischer Staatssekretär, ob die aus dieser Wirkung resultierende zusätzliche inakzeptable Belastung für Kranke, insonderheit für chronisch Kranke - das war meine Frage - , im Bundeskabinett eine Würdigung erfahren hat, und wenn ja, mit welcher Kompensations-Zielsetzung.

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege Dreßler, Ihre Schlußfolgerung ist einfach falsch. Zusätzlich zu den Punkten bezüglich der sozialen Verträglichkeit möchte ich noch anführen, daß wir im Gesetz eine Härteklausel eingebaut haben, die erstmalig und einmalig in der Sozialgeschichte ist, nämlich eine Härteklausel mit zwei wesentlichen Säulen. Die eine besteht darin, daß bis zu einem bestimmten Einkommen - wenn ich es recht im Kopf habe: etwa 1 250 DM - eine Befreiung von Zuzahlungen besteht. Dies gab es bisher nicht. Das war Satzungskompetenz der Krankenkassen. Wir haben es bundeseinheitlich im Gesetz geregelt. Wir haben darüber hinaus für die dann noch notwendigen Selbstbeteiligungen die sogenannte Überforderungsklausel, die bis zur Beitragsbemessungsgrenze vorsieht, daß nur 2 % des Einkommens für Selbstbeteiligungen aufgewandt werden müssen. Diese Überforderungsklausel ist auch erstmalig und einmalig in der Sozialgeschichte ({0}) und stellt in bestimmten Fällen gerade chronisch Kranke besser als nach dem alten Recht, in dem es diese Überforderungsklausel nicht gab. Nehmen Sie Parl. Staatssekretär Seehof er z. B. die Fahrtkosten. Da gab es bisher eine Eigenbeteiligung ohne einen Überforderungsschutz nach oben. Heute haben wir einen Überforderungsschutz mit 2%. Ich weiß aus der Diskussion mit Versicherten, daß dies sehr dankbar angenommen wird, nachdem es am Anfang einige bürokratische Hemmnisse im Vollzug dieser Überforderungsklausel gab.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Fuchtel ist der nächste, der eine Frage stellen will. Bitte.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, nachdem der Kollege Dreßler aus Nordrhein-Westfalen kommt, möchte ich Sie fragen, in welchem Umfang die Regelungen des GRG in das Beihilferecht des Landes Nordrhein-Westfalen übernommen wurden und mit welcher Begründung.

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Kollege, ich bin Ihnen für diese sehr sachleitende Frage dankbar. Es ist in der Tat so, daß die wesentlichen Elemente des Gesundheits-Reformgesetzes in das Beihilferecht des öffentlichen Dienstes übernommen wurden. Das war auch eine Forderung der SPD-Fraktion während der Beratung. Es ist in der Tat interessant, die Einlassungen der SPD-Fraktion zu diesem Gesetz mit den Begründungen zu den Beihilfevorschriften in Nordrhein-Westfalen zu vergleichen. Hier im Parlament wurde gesagt: Die Festbeträge sind eine ökonomische und sozialpolitische Mißgeburt. In den Begründungen zu den Beihilfebestimmungen steht, daß der Beihilfeberechtigte von dieser Konzeption Vorteile hat, da es zu erheblichen Preissenkungen bei den Medikamenten kommt. Beim Zahnersatz wurde angekündigt: untauglich, völlig unwirksam. In den Beihilferichtlinien steht: Um hier zu einem kostenbewußten Verhalten anzuregen, muß an einer Eigenbeteiligung festgehalten werden. Ich fasse zusammen: Das, was hier bekämpft wurde, wurde mit der gleichen Begründung in die Beihilferichtlinien des Landes Nordrhein-Westfalen übernommen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie wollen nachfragen. Bitte schön.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Könnte es auch sein, daß der Kollege Dreßler mit anderen Behauptungen, die er immer wieder aufstellt, falsch liegt, beispielsweise als er in der Debatte am 18. Januar 1990 sagte, die Bundesregierung habe zum 1. Januar 1990 Beitragssatzsenkungen in Höhe von 0,7 Prozentpunkten versprochen, in Wirklichkeit sei aber nur eine Senkung um 0,15 Prozentpunkte erreicht worden?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Die Vermutung bei solchen Äußerungen, daß sie falsch sind, ist immer sehr stark. Diese Vermutung hat sich auch zur Gewißheit verdichtet; denn Kollege Dreßler ging von einem Beitragssatz aus, der einmal prognostiziert wurde, nämlich 13,4 %, der aber Gott sei Dank nie erreicht wurde. Wir hatten das Ziel, von diesen 13,4 °A, auf 12,7 % herunterzukommen. Wir sind jetzt bei 12,8 % und werden 12,5 % erreichen, wie ich bereits ausgeführt habe.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Der Abgeordnete Heyenn ist der nächste, der eine Frage stellen will.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn das eben Gegenstand der Kabinettsbesprechung war, Herr Kollege Seehofer, dann war ja wohl auch Gegenstand der Kabinettsbesprechung, daß zu dem Zeitpunkt, zu dem der Kollege Dreßler diese Äußerung getan hat, sich der Beitragsrückgang nur auf 0,15 % und nicht auf die versprochenen 0,7 % belief. Können Sie das bestätigen? Zweite Frage. Aus der von Ihnen angezogenen Stellungnahme der nordrhein-westfälischen Landesregierung haben Sie nur einen Teil vorgelesen. Sind Sie bereit, auch noch den Teil vorzulesen, der sich mit der Kritik am Gesundheits-Refomgesetz befaßt? Stimmen Sie mir zu, daß, wenn man für die in der gesetzlichen Kankenversicherung versicherten Arbeiter und Angestellten derart gravierende Verschlechterungen einführt, diese dann auch in den Beihilferegelungen Platz greifen lassen muß, weil sich sonst die Rechtspositionen von Arbeitern und Angestellten auf der einen Seite und von Beamten auf der anderen Seite weiter auseinanderentwickeln würden?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Zur zweiten Fragen: Herr Kollege Heyenn, es ist überhaupt nicht entscheidend, was an Verbalnoten ausgetauscht wird, sondern entscheidend ist, was tatsächlich getan wird. Die nordrhein-westfälische Regierung hat zwar in großen, blumigen und auch emotionalen Worten die Gesundheitsreform kritisiert, sie aber genau mit der gleichen Begründung dann im eigenen Bereich angewandt und sie sogar noch gepriesen. Ich stelle gar nicht fest, daß sie nur allein die Instrumente übernommen hat, sondern daß sie in der Begründung für die Übernahme der Instrumente diese Instrumente sogar noch gepriesen hat. Zur ersten Bemerkung: Bei diesen Äußerungen vom Kollegen Dreßler war alles falsch, was man zugrunde legen kann. Der Ausgangspunkt von 13,4 war falsch - das sagte ich bereits - , und es war zweitens die Annahme falsch, daß wir zugesagt hätten, dieser Effekt würde bereits nach einem Jahr eintreten. Wir haben immer gesagt, das Umsetzen des GesundheitsReformgesetzes wird auf drei Jahre angelegt, und wir haben dieses Ziel, das wir angekündigt haben, 12,7 %, bereits erreicht. Ich nehme an, daß wir sogar noch unter diesen Betrag kommen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die nächste Frage kommt vom Abgeordneten Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, darüber, daß die SPD bei der Beratung des Gesundheits-Reformgesetzes dieses Gesetz vollkommen falsch eingeschätzt hat, wollen wir vielleicht mit Nachsicht hinweggehen, aber daß am 18. Januar, als sich die Erfolge schon deutlich abzeichneten, der Herr Kollege Dreßler für die SPD weiterhin falsche Behauptungen aufstellte, das hat mich veranlaßt -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Lieber Herr Kollege Scharrenbroich, ich habe in der ersten Runde nicht genügend beachtet, daß wir hier keinen Dreiecksverkehr machen. Insofern wäre ich dankbar, wenn Sie die Bundesregierung befragen.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Dann frage ich die Bundesregierung direkt, nachdem ich mir die Berner-kung von Herrn Dreßler vom 18. Januar noch einmal herausgeschrieben habe, was sie von folgenden Bemerkungen des Herrn Kollegen Dreßler hält: Erstens. Die Festbeträge seien ein verhängnisvolles Konzept. Zweitens. Allenfalls 50 % des Arzneimittelmarktes seien überhaupt mit Festbeträgen erfaßbar, ({0}) und drittens, die Pharmaindustrie habe durch Preiserhöhungen 50 % der Einsparungen wieder hereingeholt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Problem ist, daß wir hier eine Regierungsbefragung machen, und ich bin nicht ganz sicher, ob sich die Regierung heute über dieses Thema, nach dem Sie fragen, unterhalten hat. Aber ich muß dem Staatssekretär die Möglichkeit geben, Sie zu korrigieren oder richtig zu antworten. ({0})

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Herr Präsident, es wird Sie nicht überraschen, daß ich mich im Kabinett natürlich auch mit den SPD-Argumenten zur Gesundheitsreform auseinandergesetzt habe. Ich schätze den Kollegen Dreßler mit seinem Sachwissen und auch mit seiner rhetorischen Kraft sehr. Schwach ist bei ihm die Lernfähigkeit ausgeprägt, daß er einfach im letzten Jahr die tatsächlichen Ergebnisse nicht zur Kenntnis nehmen wollte. ({0}) Ich warte z. B., Herr Präsident, heute trotz mehrmaliger Anmahnung auf die konkrete Namensnennung all der Fälle, die er anonym in der politischen Diskussion hier im Parlament vorgetragen hat. ({1}) Seit einem Jahr warte ich auf die konkrete Namensnennung, damit wir diesen Menschen helfen können. Die Namen sind bis heute nicht genannt worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die nächste Frage kommt von der Abgeordneten Frau Weiler. ({0}) - Lassen Sie es mich so machen: Ich gebe Ihnen noch eine zweite Zusatzfrage. Bei allen anderen kann ich nur noch eine Frage zulassen. Sonst schaffen wir es nicht.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Zusatzfrage: Kann man also feststellen, daß die Pharmaindustrie jetzt sehr wohl einen großen Beitrag zur Senkung der Kosten im Gesundheitswesen erbringt?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Diese Feststellung kann man uneingeschränkt treffen. Wir haben im Moment 43 Wirkstoffe mit einem Arzneimittelumsatz von 4,7 Milliarden DM festbetragsfähig beschlossen, Einsparvolumen brutto 825 Millionen DM, d. h. 40 % des angepeilten Bruttoeinsparvolumens sind bereits erreicht, obwohl die drei Jahre noch nicht um sind. In diesem Zusammenhang ist am bemerkenswertesten, daß die Versicherten im Zusammenhang mit den Festbeträgen in Höhe von 325 Millionen DM bei der Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln entlastet wurden, weil festbetragsfähige Arzneimittel nicht zuzahlungspflichtig sind. Auch dies ist erst- und einmalig in der deutschen Sozialgeschichte so. Wir wissen, daß die Versicherten in die Arztpraxen gehen und die Ärzte darum bitten, ihnen ein festbetragsfähiges Arzneimittel zu verschreiben. Die Einschätzung der Opposition war ursprünglich ganz anders. Sie ging nämlich davon aus, daß die Patienten die sogenannte Billigarznei nicht in Anspruch nehmen würden. Genau das Gegenteil ist in der Praxis eingetreten. Es handelt sich nämlich nicht um Billigarzneimittel, sondern um identische, gleichwertige Wirkstoffe, nur zu niedrigeren Preisen. Die deutsche Ärzteschaft hat hinsichtlich des Arzneimittelverbrauchs festgestellt: Nichts ist schlechter geworden, alles ist nur billiger geworden. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es folgt eine Frage der Abgeordneten Frau Weiler.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde jetzt natürlich gern Stellung dazu nehmen und sagen, daß die SPD selbstverständlich nicht gegen preiswertere Medikamente und Arzneimittel war, aber meine Frage geht in eine andere Richtung, und ich weiß, daß die Formalien hier eingehalten werden müssen. Sie haben soeben erwähnt, daß ein Ansatzpunkt im sogenannten GRG die Vorsorge, die ausgebaut werden sollte, gewesen sei. Nun wissen wir alle, daß z. B. die ambulanten Badekuren zu einem der wichtigsten Bereiche zählen, in dem die Menschen, die Bürger auf Grund eigener Entscheidung mit eigenem Geld vorsorgen können. In Ihrem Jubelbericht zu den bisherigen Erfahrungen mit dem GRG, den Sie hier soeben abgegeben haben, haben Sie, denke ich, wohl vergessen, daß im Bereich ambulanter Badekuren sehr wohl gravierende und massive Einschnitte die Folge waren. Ich würde gern einmal Ihre Meinung dazu hören. Zum einen machen viel weniger Menschen eine ambulante Badekur, was generell sicherlich auch Konsequenzen im Bereich der Gesundheitsvorsorge haben wird, und zum zweiten müßte Ihnen auch bekannt sein, daß gerade die Kur- und Heilbäder in der Bundesrepublik auf Grund dieser Einschränkung große Verluste zu erleiden haben. Indem ich mir Ihren Jubelbericht noch einmal vor Augen führe, möchte ich von Ihnen gerne einmal wissen: Heißt das eigentlich, daß Sie nicht bereit sind, sich die berechtigten Forderungen der Heilbäder - speziell z. B. des Hessischen Kurbäderverbandes - anzuhören und dort eventuell Veränderungen herbeizuführen?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Der gesamte Kurbereich ist heute gegliedert und sauber im Gesetz fixiert. Das war vorher nicht der Fall. Ich nehme z. B. die Müttergenesungskuren heraus, auf die ja ein Rechtsanspruch besteht und die bisher nicht in dieser Breite im Gesetz verankert waren. Wir haben den Zuschuß bei den ambulanten Badekuren für Übernachtung und Verpflegung auf 15 DM reduziert, weil wir der Auffassung waren, daß alle Bereiche unseres Gesundheitswesens zu den Bemühungen um Kostendämpfung beitragen sollten. Das ist dort in einem sehr verträglichen Ausmaß geschehen. Wir haben die gleiche Erfahrung wie Sie in Ihrer Regierungszeit 1980/81 gemacht, nämlich daß auf Grund der öffentlichen Diskussion im ersten Jahr nach einer solchen Sparbemühung manche Irritation entsteht, daß unmittelbar anschließend ein spürbarer Rückgang erfolgt, daß sich die Szene sodann jedoch wieder sehr schnell normalisiert, und davon gehen wir aus. Frau Weiler, wir bitten Sie, in der Öffentlichkeit entsprechende Aussagen zum Stellenwert der Kuren zu machen. Wir tun dies, damit die Bevölkerung über die tatsächlichen Leistungen im Kurbereich auch richtig informiert und nicht irritiert oder gar mit Ängsten und Befürchtungen konfrontiert wird. Ich gehe davon aus, daß sich diese Dinge im Laufe der Zeit wieder normalisieren. Wir bleiben dabei: Die Kur hat einen hohen Stellenwert.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Louven ist der nächste Fragesteller.

Julius Louven (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001378, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, die Krankenkassen senken derzeit bundesweit ihre Beiträge. Die Innungskrankenkasse meines Wahlkreises hat die Beiträge nach einer Reduzierung um 0,9 % im vorigen Jahr jetzt noch einmal um 0,6 %, also insgesamt um 1,5 % gesenkt. Nun wird von der SPD immer wieder behauptet, daß wegen der neuen Leistungen im Pflegebereich und wegen der zusätzlichen Kosten im Krankenhausbereich - Stichwort: Pflegenotstand - im nächsten Jahr wieder höhere Beiträge notwendig würden. Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Beitragsentwicklung für das Jahr 1991?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Im nächsten Jahr wird es eine neue Leistung geben, die Pflegehilfe mit den Abschnitten Pflegegeld in Höhe von 400 DM monatlich oder wahlweise 25 Pflegeeinsätzen im Monat. Wir veranschlagen dafür insgesamt ein Ausgabevolumen von 5 Milliarden DM. Diese im Jahre 1991 anfallenden Kosten in Höhe von 5 Milliarden DM sind allein durch den von mir geschilderten Überschuß im Jahre 1989 gedeckt. Es wird also mit Sicherheit wegen der Pflegehilfe 1991 zu keinen Beitragserhöhungen kommen. Wir gehen davon aus, daß punktuell und regional sogar die Möglichkeit zu weiteren Beitragssenkungen besteht.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die nächste Frage kommt vom Abgeordneten Reimann. Bitte haben Sie Verständnis, daß wir dann diesen Komplex abschließen. Denn wir haben noch drei weitere Großkomplexe und nur eine begrenzte Zeit. Ich hoffe, Sie sind einverstanden.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, es dürfte unstrittig sein, daß die Ausgabensenkung von 4,5 Milliarden DM auf die Selbstbeteiligung zurückzuführen ist, die die Versicherten, die Kranken eingebracht haben. Nun will ich in diesem Zusammenhang nicht fragen: Warum haben Sie es überhaupt gemacht, wenn Sie eh 4,9 Milliarden DM Überschüsse haben? Sie hätten sich die ganze Selbstbeteiligungsdiskussion und die Reform ersparen können. Was ich Sie fragen möchte, ist: Welche Erfahrungen haben Sie mit der Härteklausel gemacht? Können Sie Zahlen nennen, welche Beträge auf Grund der Härteklausel an chronisch Kranke oder Dauerkranke und dergleichen mehr zurückgezahlt wurden bzw. wie hoch die Einsparung oder Nichteinsparung gewesen wäre, wenn die Härteklausel nicht existierte?

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Zur ersten Feststellung wiederhole ich: Es ist falsch, den Einsparbetrag von 4 1/2 Milliarden DM ausschließlich als durch die Selbstbeteiligung verursacht einzustufen. ({0}) Herr Kollege Reimann, wenn die Leistungen für Zahnersatz um 46 % zurückgegangen sind, dann hat das natürlich Auswirkungen auf den Umsatz und damit auch auf die Einnahmen und das Einkommen der Zahnärzte. Wenn bei den Sehhilfen die Ausgaben um 43 % zurückgegangen sind, kann das bedeuten, daß der Versicherte überhaupt nicht zusätzlich belastet ist, weil er etwas zum Festbetrag bekommt, sich aber wirtschaftlicher und kostenbewußter verhält; und das führt zu Umsatzrückgängen bei den Optikern. ({1}) Das gleiche gilt für die Transportkosten. Das gleiche gilt für den Kurbereich, den wir hier schon behandelt haben. Es ist also unzulässig, die Einsparung so einseitig zuzuordnen. Zur Erfahrung mit der Härtefallklausel. Uns liegen im Moment noch keine konkreten Zahlen vor. ({2}) Aber man kann folgende Feststellung treffen. Es gab am Anfang, weil es ein Neuland ist, rechtlich auch nicht ganz einfach, und weil manche Krankenkassen gewisse Umsetzungsschwierigkeiten hatten, Verunsicherungen bei den Versicherten. Das räume ich ein. Mittlerweile hat sich die Härtefallklausel eingespielt. Sie ist ein von den Versicherten gut angenommenes Instrument. Die sind sehr, sehr zufrieden. Die Information in der Bevölkerung ist vorhanden. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die letzte Frage zu diesem Themenbereich hat Frau Dempwolf.

Gertrud Dempwolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, sicher hängt es mit der Merk- und Lernfähigkeit der Opposition zusammen, daß sie immer noch, auch heute, und immer wieder behauptet, die Gesundheitsreform belaste einseitig die Versicherten, die Kranken und besonders die chronisch Kranken, und die bisherigen Einsparungen seien allein auf Kosten der Versicherten gegangen. Sie sagt ferner, in Wirklichkeit habe es keine Einsparungen gegeben, ({0}) sondern nur eine Verlagerung der Kosten von den Krankenkassen auf die Versicherten. Wie steht die Bundesregierung zu dieser Behauptung der sozialen Ungerechtigkeit zur Gesundheitsreform? ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Nun hat der Staatssekretär die Möglichkeit zu antworten. Ich erlaube mir festzustellen, daß das hier ein Thema für eine Aktuelle Stunde gewesen wäre ({0}) und nicht unmittelbar für eine Regierungsbefragung. Aber bitte schön, Herr Staatssekretär.

Horst Seehofer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002140

Frau Kollegin Dempwolf, die Gesundheitsreform ist sozial ausgewogen gestaltet. Die Belastungen und Entlastungen sind auf alle Beteiligten im Gesundheitswesen angemessen verteilt. Auch die Versicherten sind betroffen, aber alle Leistungserbringer ebenso. Ich sagte gerade und fixiere es nochmals: Jeder Umsatzrückgang bedeutet automatisch auch Betroffenheit bei den Leistungserbringern. Soweit die Versicherten Ersparnisse erbracht haben, werden sie ihnen durch Beitragssenkungen zurückgegeben. Beiträge sind aus meiner Sicht übrigens die unsozialste Form der Selbstbeteiligung, weil man sich überhaupt nicht entziehen kann und weil gerade die kinderreichen Familien besonders davon betroffen sind. Darüber hinaus geben wir für neue Leistungen zugunsten der Versicherten, für wirklich notwendige und wichtige neue sozialpolitische Aufgaben insgesamt 6 Milliarden DM aus: für die Gesundheitsvorsorge und für die Pflege. Ich meine, das sind zwei sozialpolitische Themen, bei denen wir trotz eines qualitativ hochstehenden Gesundheitswesens eigentlich noch Nachholbedarf hatten. Ich bin sehr froh, daß das Parlament uns dazu ermächtigt hat, neue Wege zu beschreiten.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Zu dem Thema Direktwahl und volles Stimmrecht für die Berliner Bundestagsabgeordneten, mit dem sich das Kabinett ebenfalls beschäftigt hat, liegen mir drei Fragen vor. Ich rufe sie als nächste Gruppe auf. Zuerst hat der Kollege Wartenberg die Möglichkeit zu einer Frage.

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In welcher Form hat sich heute das Kabinett damit beschäftigt? Hat das Kabinett einen Gesetzentwurf beschlossen, nachdem die drei Westalliierten grünes Licht für die Direktwahl gegeben haben? In welchem Zeitplan gedenkt die Bundesregierung das jetzt im Interesse der Berlinerinnen und Berliner umzusetzen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Innenminister, bitte schön.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Wartenberg, ich habe das Kabinett darüber unterrichtet, daß nach der Mitteilung des Senators für Inneres von Berlin das an sich wünschenswerte Einvernehmen zwischen dem Senat von Berlin und den Berliner Landesverbänden der im Bundestag vertretenen Parteien über die Wahlkreiseinteilung noch nicht vorliegt. Sie wissen, daß in Berlin zwei Modelle der Wahlkreiseinteilung diskutiert werden. Ein Modell, das vom Senat von Berlin favorisiert wird, hat den Vorzug, daß Bezirksgrenzen eingehalten werden. Es hat aber den Nachteil, daß die Wahlkreise zum Teil mehr als 25 % von der durchschnittlichen Bevölkerungszahl von Bundestagswahlkreisen abweichen, was angesichts der Vorschrift des § 3 des Bundeswahlgesetzes bei einer Wahlkreisneueinteilung, Herr Kollege Hirsch, auf erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken stößt. Das andere Modell hält zwar diese Grenze ein, hat aber den Nachteil, daß Bezirksgrenzen überschritten werden. Nun ist die Vorschrift des § 3 Abs. 2 Nr. 5 des Bundeswahlgesetzes nicht so streng wie die der Gleichheit der Stimmen. Im übrigen hat das Kabinett den Bundesinnenminister beauftragt, den Berliner Senat zu bitten, das Einvernehmen über die Frage der Wahlkreiseinteilung mit den Berliner Landesverbänden der Parteien kurzfristig herbeizuführen. Sobald die Antwort des Berliner Senats mit dem erforderlichen Einvernehmen vorliegt, ist die Bundesregierung darauf vorbereitet, einen Gesetzentwurf zu beschließen. Für den Fall, daß ein solches Einvernehmen in Berlin nicht zu erzielen sein sollte, neigt die Bundesregierung nach den heutigen Beratungen dazu, dem Deutschen Bundestag beide Alternativen vorzulegen, weil die Bundesregierung ungern eine Entscheidung treffen möchte, über die der Senat von Berlin das erforderliche und normalerweise in allen Ländern auch herbeigeführte Einvernehmen bisher nicht herbeiführen konnte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kalisch ist der nächste Fragesteller.

Joachim Kalisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, ich würde auch gerne etwas zur Wahlkreiseinteilung sagen. Aber mich bewegt eine andere Frage. Das, was bisher vorliegt, weist nichts darüber aus, daß mit der Direktwahl auch das volle Stimmrecht für die Berliner Abgeordneten gegeben wäre. Das bedürfte wohl noch sehr vieler anderer Änderungen von Vorschriften. Ich meine - ich frage Sie, ob Sie meine Ansicht teilen - , daß es sozusagen eine Verhöhnung oder eine Irreführung der Bevölkerung wäre, wenn sie die Abgeordneten direkt wählt und dann andererseits diese Abgeordneten kein volles Stimmrecht haben.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Kalisch, ich teile Ihre Meinung, daß die direkte Wahl der Abgeordneten als Konsequenz auch das volle Stimmrecht der Berliner Abgeordneten beinhalten sollte. Ich unterstelle allerdings, daß alle diejenigen, die sich wie der Senat von Berlin, wie die Berliner Parteien und wie die Bundesregierung für die Direktwahl der Berliner Abgeordneten einsetzen, auch davon ausgehen, daß dann das volle Stimmrecht der Berliner Abgeordneten im Bundestag gegeben sein wird. Dies muß nicht in der Novellierung des Bundeswahlgesetzes geregelt werden. Die Novellierung des Bundeswahlgesetzes ist vordringlich. Wenn wir am 2. Dezember 1990 Bundestagswahlen haben, muß es rechtzeitig geregelt werden. Nur, die Frage der Wahlkreiseinteilung sollte einvernehmlich zwischen den betroffenen Parteien geregelt und nicht durch Mehrheiten entschieden werden. Schon gar nicht möchte die Bundesregierung eine Entscheidung treffen, über die man in Berlin kein Einvernehmen herbeigeführt hat. Aber ich sage noch einmal: Die Konsequenz wird auch sein - deswegen sind ja die Alliierten damit befaßt worden, und sie haben zugestimmt - , daß die direkt zu wählenden Berliner Abgeordneten im Deutschen Bundestag und in der Konsequenz auch das Land Berlin im Bundesrat das volle Stimmrecht haben werden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der an sich für die Regierungsbefragung vorgesehenen Zeit. Ich verlängere die Zeit für die Befragung um zehn Minuten; das geht, wie Sie wissen, auf Kosten der Fragestunde. Ich muß aber die Zeit für die Berlin-Fragen, die noch anstehen, sehr beschränken; denn wir haben noch zwei Gebiete, zu denen Fragen gestellt werden. Herr Abgeordneter Lüder ist als nächster an der Reihe.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Bundesminister, wir haben vorhin bei der Erörterung der Gesundheitsreform gesehen, daß die Bundesregierung in der Lage ist, sich für einen guten Zweck mit Engagement und Härte, Schnelligkeit und Tempo einzusetzen. ({0}) Deswegen frage ich, ob Sie bereit sind, uns mit dem gleichen Engagement zu sagen, wo die Unterschiede zum im Hause bereits befindlichen Gesetzentwurf liegen und ob wir diesen mit Ausnahme der Wahlkreisfragen so verabschieden könnten. Wir könnten das dann in der nächsten Woche regeln, wenn sich die Berliner über die Wahlkreiseinteilung einig sind, und im Innenausschuß darüber einen Beschluß herbeiführen; denn der Wahltermin könnte ja schon der 2. Dezember 1990 sein.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Lüder, zu Engagement und Härte würde ich noch Klugheit und einige andere Eigenschaften hinzufügen. ({0}) Ich habe Ihre Frage aber schon beantwortet, wenn ich darauf aufmerksam machen darf. Denn ich habe auf die Frage des Kollegen Wartenberg die beiden Modelle, die in Berlin diskutiert werden, in ihren Vor- und Nachteilen angesprochen: das eine Modell, das sich an die Bezirksgrenzen hält, sich aber über die verfassungsrechtliche Richtlinie hinwegsetzt, daß die Abweichung vom Bevölkerungsdurchschnitt eines Wahlkreises die Obergrenze von 25 % nicht überschreiten sollte. ({1}) - Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorbereitet. Es gibt nur das Problem, daß es bei der Wahlkreiseinteilung zwei Modelle gibt. Aus dem, was ich Ihnen vorgetragen habe, ist, glaube ich, unmißverständlich klargeworden, daß die Bundesregierung jedenfalls heute keine Entscheidung treffen möchte, da es in Berlin ein Einvernehmen bisher nicht gegeben hat. Ich will hinzufügen, daß mir der Berliner Innensenator am 6. März 1990 geschrieben hat, daß man es insbesondere wegen der Eilbedürftigkeit der Gesetzesänderungen nicht für möglich halte, in dieser Frage von hier aus einen Konsens herbeizuführen. Aber vielleicht wurden in Berlin seit dem 6. März bei dieser wichtigen Frage die Bemühungen auch mit Engagement fortgesetzt, so daß vielleicht jetzt das Einvernehmen in Berlin zu erreichen ist. Ich weise noch einmal darauf hin - da Sie Berliner Abgeordneter sind, werden Sie das verstehen - : Wir haben bei den Wahlkreiseinteilungen seit 1949 mit gutem Grund immer darauf geachtet, daß wir in jedem Bundesland das Einvernehmen aller im Bundestag vertretenen Parteien herstellen. Das müßte auch in Berlin, wo jetzt erstmals eine Wahlkreiseinteilung stattfindet, möglich sein. In den anderen zehn Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland war es seit 1949 jeweils möglich.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Hirsch hat noch eine Frage.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, wir haben gelegentlich - ich erinnere mich mindestens an einen Fall - im Plenum auch streitig über Wahlkreisgrenzen abstimmen müssen, weil es eben nicht anders ging. Da man nicht ausschließen kann, daß tatsächlich am 2. Dezember 1990 Wahlen stattfinden, frage ich Sie: Haben Sie einen Zeitplan, wann spätestens die erste Lesung im Deutschen Bundestag stattfinden muß, um den Berlinern die Teilnahme an der Wahl einschließ16108 lich der dann notwendigen Kandidatenaufstellungen zu ermöglichen? ({0})

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Herr Kollege Hirsch, Sie wissen, daß dieses Gesetz nicht der Zustimmung des Bundesrats bedarf. Um es einfach zu sagen: Es würde reichen, wenn wir es vor der Sommerpause im Bundestag verabschiedeten, um das Ziel, das wir offensichtlich alle gemeinsam verfolgen, nämlich die Teilnahme an der Bundestagswahl am 2. Dezember 1990, zu erreichen. Wir haben auf die Zustimmung der Alliierten gewartet; sie ist uns gestern übermittelt worden. Ich bin heute mit einem fertigen Gesetzentwurf als Tischvorlage ins Kabinett gegangen, der in der Frage der Wahlkreiseinteilung allerdings zwei Alternativen vorsieht. Das Kabinett hat beschlossen, es sollte, nachdem die Zustimmung der Alliierten vorliegt, noch einmal der Versuch unternommen werden, dieses Einvernehmen in Berlin herbeizuführen, das jedenfalls in aller Regel seit 1949 in den zehn Bundesländern, in denen nach Wahlkreisen gewählt wird, immer hergestellt worden ist. Das muß auch in Berlin möglich sein. Wir sollten den Berliner Senat und auch die Berliner Parteien aus der Verantwortung, ein solches Einvernehmen zu erzielen, nicht zu leicht entlassen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Mahlo zu der letzten Frage zu diesem Bereich.

Dr. Dietrich Mahlo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001408, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bundesminister, wie Sie wissen, kann das Bundesverfassungsgericht zur Zeit in Berlin nicht Recht sprechen. Wie ist es hinsichtlich der Direktwahl der Berliner Abgeordneten in Berlin in dem Falle, daß eine Anfechtung erfolgte? Haben wir hier einen rechtsfreien Raum oder besteht Hoffnung, daß diese Lücke bis zur Bundestagswahl geschlossen wird?

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Wir haben die Frage der Wahlprüfung, letztinstanzlich durch das Bundesverfassungsgericht, bei den Überlegungen, die Direktwahl der Berliner Abgeordneten zu verwirklichen, von Anfang an mitbedacht. Ich denke, wir werden bis zur Bundestagswahl am 2. Dezember 1990 in der Lage sein, Regelungen sicherzustellen, die bei der besonderen Problematik der Nichtzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Berlin dennoch eine einheitliche Wahlprüfung ermöglichen werden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich habe eine Frage des Abgeordneten Gansel zu einem anderen Thema. Bitte schön, Herr Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vor etwa einem Jahr ist die Regierung in einer der ersten Regierungsbefragungen gefragt worden, ob sie eine Strafverfolgungsermächtigung erteilen könnte, damit dem Verdacht des Bruchs des deutsch-indischen Geheimschutzabkommens im Zusammenhang mit der Lieferung von U-Boot-Plänen nach Südafrika nachgegangen werden könnte. Die Bundesregierung hat das damals mit der Begründung abgelehnt, dadurch könnte die Rüstungskooperation mit NATO-Partnern erschwert werden. Nun hat die Staatsanwaltschaft Kiel einen erneuten Antrag auf Strafverfolgungsermächtigung bei der Bundesregierung gestellt. Ihnen ist bekannt, daß es Verdachtsmomente dafür gibt, daß das U-Boot-Geschäft genau über die Rüstungskooperation mit NATO-Partnern fortgesetzt werden sollte. Sie wissen, es gibt auch neues Beweismaterial, Belastungsmaterial dafür, daß Geheimnisverrat zuungunsten Indiens begangen worden sein könnte. Es gibt Proteste der indischen Regierung. ({0}) Ich frage deshalb die Bundesregierung in Anbetracht des Umstandes, daß eine Verjährung droht, ({1}) ob sie sich heute mit dem Thema befaßt hat und ob das Bundeswirtschaftsministerium die Ermächtigung erteilen wird, damit die Kieler Staatsanwaltschaft endlich ordentliche Ermittlungen aufnehmen kann.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Riedl, Sie antworten für das Wirtschaftsministerium.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, die Entscheidung des Herrn Bundesministers für Wirtschaft steht unmittelbar bevor. Ich komme soeben aus dem Haushaltsausschuß. Ich bin im Augenblick, Herr Abgeordneter, überfragt, ob der Herr Minister diese Entscheidung schon getroffen hat. Aber Sie können auch angesichts der Verjährungsproblematik davon ausgehen, daß die Entscheidung heute oder morgen getroffen wird. Ich werde Sie jedenfalls unmittelbar nach getroffener Entscheidung informieren. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine Zusatzfrage.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mich interessiert natürlich, ob diese Entscheidung der Bundesregierung positiv oder negativ ausfallen wird, und zwar positiv in dem Sinne, daß die Staatsanwaltschaft endlich die Möglichkeit erhält, den Verdachtsmomenten wegen Bruchs des Geheimschutzabkommens nachzugehen.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, was Sie interessiert, brauchen Sie alternativ gar nicht zu erfragen; das weiß ich seit langem. Aber wie der Minister entscheidet, weiß ich nicht. Auch mich interessiert dies allerdings. Ich werde es Ihnen mitteilen, sobald ich es weiß.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, wir haben zu einem weiteren Fragenbereich etwas über eine Minute Zeit. Frau Dr. Segall hatte sich dazu zuerst gemeldet. Bitte schön.

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Minister, das Bundeskabinett hat heute auch die 17. Verordnung zum Bundes-Immissionsschutzgesetz verabschiedet. Mich interessieren speziell die Möglichkeiten, die sich für die Müllverbrennung nicht nur in reinen MüllverbrenFrau Dr. Segall nungsanlagen, sondern auch in anderen Anlagen ergeben. Das Land Hessen ist ja eines der Länder, die einen Müllnotstand zu verzeichnen haben. Ich hätte Sie gerne gefragt, welche Veränderungen diese neue Verordnung bringt. Bringt sie überhaupt Veränderungen? Welche bringt sie? Wie hat es sich vorher verhalten? Welche Möglichkeiten bestehen heute?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Abgeordnete, es ist richtig, daß wir heute auch die 17. Verordnung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz verabschiedet haben. In dieser Verordnung werden Anforderungen an Anlagen für die Verbrennung von Abfällen festgelegt, zum erstenmal z. B. ein Grenzwert für Dioxine mit 0,1 Nanogramm. Das ist ein Zehntel eines Milliardstel Grammes, ein Wert, der weltweit von niemandem über- oder unterboten wird. Diese Verordnung gilt grundsätzlich überall, wo Abfälle verbrannt werden. Dabei haben wir zwei Teilbereiche. Seit der letzten Änderung des Abfallgesetzes in dieser Legislaturperiode durch dieses Hohe Haus können Abfälle auch in solchen Anlagen verbrannt werden, die nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigt werden. Für die Abfallverbrennung bedürfen diese Anlagen aber einer eigenständigen Genehmigung. Durch die Änderung des Abfallgesetzes ist also nicht eine einzige zusätzliche Verbrennungsanlage automatisch genehmigt. Es kann eine solche Genehmigung beantragt werden, und dann muß sie voll und ganz den neuen Grenzwerten gerecht werden, die heute in dieser Verordnung festgelegt worden sind. Ich gehe davon aus, daß auch der Bundesrat dieser Verordnung zustimmen wird.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die Abgeordnete Frau Hensel hat sich dazu gemeldet. Bitte schön.

Karitas Dagmar Hensel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000872, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister Töpfer, mich interessieren vor allem die Anlagen, die bisher nicht für die Abfallverbrennung vorgesehen waren und in denen künftig Abfälle verbrannt werden können. Liegen Ihnen, noch bevor Abfälle verbrannt werden, schon Untersuchungen über Emissionen und Immissionen dieser Anlagen vor, und wie sehen die Ergebnisse aus?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Abgeordnete, ich darf noch einmal unterstreichen: Wenn in einer Anlage, die nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz genehmigt ist, demnächst Abfälle verbrannt werden sollen, muß dies in einem neuen Genehmigungsverfahren für diese Anlage genehmigt werden. Das heißt, wir müssen dazu die Emissionsprognose und die Immissionsprognose haben, und es ist ein öffentliches Verfahren, also unter Beteiligung der Öffentlichkeit. Von daher gesehen kann nirgends eine zusätzliche Verbrennungsanlage für Abfälle ihren Betrieb aufnehmen, es sei denn, wir kennen die Emissionen und wissen genau, daß die Grenzwerte, die jetzt - ich glaube, es wird von niemand bestritten, daß sie beispielhaft sind - festgelegt worden sind, eingehalten werden. Ich freue mich, daß diese Regelung, die nichts mit der 17. BImSchV zu tun hat, über die Parteigrenzen hinweg auch im Bundesrat akzeptiert worden ist. Es ist zu unterstreichen, daß etwa auch das Land Nordrhein-Westfalen eine solche Änderung als notwendig und sinnvoll angesehen und mitgetragen hat, weil sie nicht zu einem Weniger, sondern zu einem Mehr an Umweltschutz in solchen Anlagen beiträgt. Ich möchte noch einmal unterstreichen: Es gibt keinerlei Automatik hinsichtlich der Verbrennung von Abfällen in anderen Anlagen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die Abgeordnete Frau Garbe hat dazu eine weitere Frage. ({0}) - Wir sind bereits an der Zeitgrenze. Ich bin schon großzügig. Es tut mir leid.

Charlotte Garbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, wie ist das denn nun? Wir wissen, daß in Zementwerken schon seit längerer Zeit PCB-haltige Abfälle verbrannt werden. Haben diese Zementwerke bisher illegal gearbeitet?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Nein, Frau Abgeordnete Garbe, sie haben natürlich in gar keiner Weise illegal gearbeitet; sie haben eine Genehmigung nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Mit Ihrer Frage machen Sie nur deutlich, daß wir mit dieser Verordnung offenbar genau das erreichen, was von anderen und auch von Ihnen bestritten wird, nämlich einen deutlichen Zuwachs an Vorsorge in der Luftreinhaltung. Die 17. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes ist ein entscheidender Meilenstein für eine weitere Verminderung der Schadstoffbelastungen in dem gesamten Bereich der Luftreinhaltung, insbesondere der Dioxine. Ich kann hinzufügen, daß wir die beiden anderen Pfade, bei denen wir ebenfalls Dioxinprobleme sehen, genauso abgeschottet haben: einmal durch die, wie Sie wissen, PCP-Verordnung und zweitens durch die Verordnung über die sogenannten Scavenger, also die Additive im Benzin, die wir ebenfalls im Abstimmungsverfahren der Bundesregierung haben. Wir wollen nicht nur auf einem Weg vorangehen, sondern insgesamt. Ich kann Ihnen die Wirkungen konkret nennen. Nach Abschätzung von Professor Hagenmaier in Tübingen geht von Müllverbrennungsanlagen eine Dioxinemission von gegenwärtig etwa 400 Gramm pro Jahr aus. Durch diese Verordnung wird eine Reduzierung auf insgesamt 4 bis 5 g vorgenommen, also auf ein Hundertstel dessen, was vorher war. Wir sollten deutlich machen, daß dies ein wirklicher Meilenstein in der Weiterentwicklung der Luftreinhaltepolitik ist.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Harries ist der nächste.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, im Zusammenhang mit der beschlossenen Änderung des § 4 des Abfallgesetzes wird in der Öffentlichkeit auch behauptet, daß zum einen die Öffentlichkeitsbeteiligung eingeschränkt oder aufgehoben sei, daß die Kontrolle der Abfälle durch die Länder unterhöhlt und beseitigt sei und daß auch materiell bei der Prüfung der Genehmigung eine Aufweichung erfolgt sei. Wie beurteilen Sie das?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Abgeordneter, zu allen drei Dingen kann ich sehr nachhaltig sagen, daß sie nicht zutreffen. Erstens. Die Öffentlichkeitsbeteiligung ist voll und ganz gewährleistet. Sie muß in einem Genehmigungsverfahren, also auch bei jeder Änderung des Brennstoffs, durchgeführt werden. Zweitens. Bezüglich der Zuständigkeiten der Länder: Das Abfallgesetz gilt, etwa § 6, ohne jede Abstriche weiter. Das bedeutet, daß die Länder nach wie vor in der Lage sind, verbindliche Abfallentsorgungspläne aufzustellen. Daß heißt, wenn sie in eine bestimmte Anlage keine Abfälle wie etwa Klärschlämme hineinlassen wollen, können sie das in ihrem Abfallentsorgungsplan eindeutig fixieren. Es gibt keine Bescheidsnotwendigkeit in diesem Zusammenhang. Drittens. Es werden exakt diese weltweit schärfsten Emissionsgrenzwerte auch dort mit zur Grundlage gemacht. Um auch das deutlich zu sagen: Auf Grund einer Teilstrombetrachtung darf auch nur der entsprechende Teil des sonst gültigen Grenzwertes erreicht werden. Das heißt, wenn ein Abfall etwa nur 25 % der zu verbrennenden Menge ausmacht, darf auch nur ein Viertel von 0,1 Nanogramm erreicht werden. Ich glaube, man kann bei allen drei Punkten festhalten, daß sie eine drastische Verschärfung im Bereich der Luftreinhaltung darstellen. Wir sind lange dafür unter dem Gesichtspunkt kritisiert worden, daß man einen solchen harten Grenzwert möglicherweise technisch überhaupt nicht einhalten könne oder daß die Mengen so gering seien, daß sie meßtechnisch nicht mehr nachweisbar seien. Alle diese Dinge sind abgearbeitet und jetzt positiv beantwortbar. Ich glaube - um es noch einmal festzuhalten - , diese Besorgnisse sind gänzlich unbegründet.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich konnte mit der Zeit so großzügig sein - die trotzdem nicht ausgereicht hat, um allen die Fragemöglichkeit zu geben - , weil es für die Fragestunde eine ganze Reihe von Fragen gibt, die schriftlich beantwortet werden sollen, und wir deshalb ein bißchen Zeit gewonnen haben. Die für die Befragung der Bundesregierung vorgesehene Zeit ist nämlich längst abgelaufen. Ich beende die Befragung. Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 11/6944 Die einzige zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr vorliegende Frage, die Frage 1 des Abgeordneten Dr. Daniels ({0}), soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Das gleiche gilt für die Fragen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Die Fragen 2 und 3 des Abgeordneten von Schmude werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Auch für die Frage aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers der Finanzen gilt dies, weil die Frage 4 des Abgeordneten Stiegler schriftlich beantwortet werden soll. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Hier ist es so, daß die Fragen 5 und 6 des Abgeordneten Dr. Rose, 7 und 8 der Abgeordneten Frau Flinner sowie 9 und 10 des Abgeodneten Kreuzeder deshalb nicht mündlich beantwortet werden, weil auf Grund von Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien schriftliche Beantwortung vorgesehen ist. Wir haben nämlich etwas auf der Tagesordnung, was zu diesem Themenbereich gehört. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 13 des Abgeordneten Austermann soll schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt. Nun kommen wir zu dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit. Herr Staatssekretär Chory steht uns zu Beantwortung zur Verfügung. Die Abgeordnete Frau Ganseforth bittet, ihre Fragen 14 und 15 schriftlich zu beantworten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 16 des Abgeordneten Kastning auf: Warum wird die sogenannte Dritte-Söhne-Regelung gemäß § 12 Abs. 4 Satz 1 Wehrpflichtgesetz und die damit neuerdings verbundene Möglichkeit, auf Antrag vorzeitig aus dem Grundwehrdienst entlassen zu werden, nicht auf Ersatzdienstleistende angewendet?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, die Regelung, daß, um die Belastungen besonders für kinderreiche Familien zu mindern, dritte und weitere Söhne einer Familie auf Antrag nicht zur Ableistung des Zivildienstes bzw. des Wehrdienstes einberufen werden, wenn zwei Söhne bereits vollen Grundwehr- oder Zivildienst geleistet haben, ist in vollem Umfang für Zivildienstpflichtige übernommen worden. Freiwillige, die sich für zehn Jahre als Helfer im Zivilschutz oder Katastrophenschutz verpflichtet haben, werden bei der Drei-Söhne-Regelung nicht berücksichtigt. Der Dienst als Helfer im Zivil- oder Katastrophenschutz ist keine Erfüllung der Wehrpflicht und bedeutet im Verhältnis zum Grundwehr- oder Zivildienst keine vergleichbare Belastung der Familie. Der in der Regel am Wochenende zu leistende Dienst beeinträchtigt weder die Ausbildung noch die berufliche Entwicklung des Freiwilligen. Allerdings haben nach einem Rundschreiben des Bundesministers des Innern vom 15. März 1990 freiwillige Helfer, die sich zur Zeit der Aufhebung der Drei-Söhne-Regelung, also von August 1988 bis DeStaatssekretär Chory zember 1989, zum zehnjährigen Dienst im Zivil- und Katastrophenschutz verpflichtet haben, aus Billigkeitsgründen die Möglichkeit, diese Verpflichtung auf Grund der Wiedereinführung der Drei-Söhne-Regelung aufzulösen, wenn zwei Söhne bereits vollen Grundwehr- oder Zivildienst geleistet haben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Kastning zu einer Zusatzfrage, bitte schön.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, muß man nicht davon ausgehen, daß, auch wenn es eine freiwillige Verpflichtung ist, dieses materiell mit einer Art Ersatzdienst gleichzusetzen ist - ich benutze den Begriff bewußt - , weil eben nicht gleichzeitig oder im nachhinein Wehrdienst geleistet werden muß?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich habe versucht, den hinter der Regelung stehenden Grund darzulegen: Die Belastung vor allem kinderreicher Familien soll in Grenzen gehalten werden. Diese Belastung ist sicher gegeben, wenn bereits zwei Söhne Wehr- oder Zivildienst geleistet haben, die Zeit über also in vollem Umfang in Anspruch genommen wurden. Das ist aber nicht in gleicher Weise gegeben, wenn sich einer dieser Söhne bereitfindet, sich für 10 Jahre zum Zivil- und Katastrophenschutz zu verpflichten. Dies ist eine Regelung, die übrigens auch der Sicherstellung des Zivil- und Katastrophenschutzes dient, die also auch mit Blick darauf getroffen worden ist.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine weitere Zusatzfrage, Herr Kastning, bitte schön.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daß ich mit dieser Antwort nicht zufrieden bin, können Sie sich denken. Außerdem ist mir aus der Praxis bekannt, daß dieser Dienst nicht nur an Wochenenden geleistet wird, sondern regelmäßig auch an Wochentagsabenden. Ich frage aber in bezug auf das Rundschreiben vom März dieses Jahres: Was heißt Billigkeitsgründe? Muß jemand, der befreit werden will, Gründe bestimmter Qualität anführen oder genügt die Äußerung des Wunsches, aus diesem Dienst vorzeitig entlassen zu werden?

Not found (Staatssekretär:in)

Der Begriff Billigkeitsgründe bezieht sich darauf, daß diejenigen Söhne, die sich in der Zeit verpflichtet haben, in der die Drei-SöhneRegelung nicht galt, die Möglicheit haben, ihre Verpflichtung für den Zivil- und Katastrophenschutz aufzuheben, weil sie diese Verpflichtung unter einer Voraussetzung, die nicht mehr gilt, übernommen haben. Söhne, die sich in diesem Zeitraum verpflichtet haben, können ihre Verpflichtung also auflösen, wenn zwei Brüder Zivil- oder Wehrdienst geleistet haben. Es müssen sozusagen keine zusätzlichen Billigkeitsgründe hinzukommen. Die Regelung ist vielmehr aus Billigkeitsgründen so getroffen worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Kastning auf: Sieht die Bundesregierung eine Möglichkeit, Ersatzdienstleistende künftig in die Dritte-Söhne-Regelung einzubeziehen, da ihr Dienst - wenngleich auch durch freiwillige eigene Entscheidung - „Ersatz"-Dienst anstelle des Wehrdienstes ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, wie bereits in der Antwort auf die vorherige Frage dargelegt, gilt die Drei-Söhne-Regelung auch für Zivildienstpflichtige. Die Bundesregierung sieht aus den genannten Gründen keine Möglichkeit, Freiwillige, die sich für zehn Jahre als Helfer im Zivil- oder Katastrophenschutz verpflichtet haben, bei dieser Regelung zu berücksichtigen. Entscheidend ist, daß dieser Dienst keine dem Grundwehr- oder Zivildienst vergleichbare Belastung für die Familie bedeutet, wie ich soeben schon dargelegt habe.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kastning, eine weitere Zusatzfrage.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Abgesehen davon, daß ich glaube, daß ein Widerspruch zwischen den Antworten zu den Fragen 16 und 17 besteht, die Sie eben gegeben haben, frage ich: Ist die Bundesregierung in der Lage, sicherzustellen, daß bei einer nachträglichen Befreiung von der zehnjährigen Verpflichtung aus Billigkeitsgründen die örtlichen Behörden gleich entscheiden?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, durch ein Rundschreiben des Bundesinnenministers an die Behörden in den Ländern soll das gewährleistet werden und wird gewährleistet.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Weitere Zustzfrage.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Auf Grund konkreter Fälle bezweifle ich das. Jetzt frage ich noch etwas anderes - ich weiß nicht, ob die Pflicht zur Antwort besteht, Herr Präsident, aber ich stelle die Frage einmal - : Ist die Bundesregierung bereit, darüber nachzudenken - falls es zu Wehrdienstverkürzungen in Zukunft kommt - , auch die Dauer der freiwilligen Verpflichtung zum Katastrophendienst zu verkürzen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Dieser Zusammenhang ist herbeigesucht, würde ich sagen. Aber wenn der Staatssekretär antworten will, bitte schön.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, diese Frage ist noch nicht geprüft worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Opel möchte eine Zusatzfrage stellen. Bitte.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wenn beispielsweise drei Söhne wehrdienstpflichtig sind und der erste Sohn eine freiwillige Verpflichtigung, wie Sie es formuliert haben, für den Katastrophendienst auf zehn Jahre eingeht, ist es dann auch dem dritten Sohn nach der Dritte-Söhne-Regelung möglich, seinen Wehrdienst nicht anzutreten?

Not found (Staatssekretär:in)

Nein. Voraussetzung ist, daß zwei Söhne Grundwehr- oder Zivildienst geleistet haben. In diesem Sinne gilt die Übernahme der Verpflichtung im Zivil- und Katastrophenschutz nicht wie der Grundwehr- oder Zivildienst. Ich hatte vorhin dargelegt: Die Belastung für die Familie ist dann eben nicht in der gleichen Weise gegeben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich rufe die Frage 18 des Abgeordneten Bindig auf, die noch zum gleichen Themenbereich gehört: Kann die sogenannte Dritte-Söhne-Regelung bei der Heranziehung zum Wehr- bzw. Zivildienst auch dann angewandt werden, wenn einer der Anzurechnenden einen sogenannten anderen Dienst im Ausland nach § 14 b Zivildienstgesetz leistet, und, wenn nein, wie wird eine solche Einschränkung gerechtfertigt, da ein solcher Dienstleistender ({0}) in vielen anderen Fällen ({1}) wie ein normaler Zivildienstleistender behandelt wird?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich beantworte Ihre Frage mit Ja.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Zusatzfrage, Herr Bindig.

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Kann ich mich dann auf Ihr Ergebnis berufen, an das Bundesamt für Zivildienst in einem konkreten Fall wenden und sagen, daß hier die DreiSöhne-Regelung auch greifen kann?

Not found (Staatssekretär:in)

Ja. Das Bundesamt für den Zivildienst ist aber auch darüber informiert. Die Regelung der Gleichstellung ist meines Wissens im März getroffen worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Noch eine weitere Frage? - Bitte schön, Herr Bindig!

Rudolf Bindig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mehr die Information, daß die Ablehnung des entsprechenden Falles erst vor vierzehn Tagen erfolgt ist! Aber ich werde mich dann darauf berufen.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich schalte mich auch gern ein, wenn da ein Fall falsch gelaufen ist.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Dann kommen wir zur Frage 19 des Abgeordneten Dreßler: Teilt die Bundesregierung die vom Parlamentarischen Staatssekretär Vogt in seiner Rede zum Rentenanpassungsgesetz 1990 am 28. März 1990 vertretene Auffassung, im Gegensatz zur Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland sei eher der Sozialfürsorgesatz von 290 M in der DDR als Armut zu bezeichnen, obwohl zum gegebenen Zeitpunkt unter Berücksichtigung des hochsubventionierten Preisniveaus in der Grundversorgung mit dem Sozialfürsorgesatz in der DDR ein relativ höherer Lebensstandard gewährleistet ist als mit dem Sozialhilferegelsatz von 425 DM in der Bundesrepublik Deutschland und den hiesigen Preisen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ein Vergleich zwischen den Regelsätzen nach dem Bundessozialhilfegesetz und nach der Sozialfürsorgeverordnung der DDR zeigt folgendes Bild: Regelsatz für einen Alleinstehenden in der Bundesrepublik Deutschland 425 DM, in der DDR 300 Mark; Regelsatz für ein Ehepaar in der Bundesrepublik Deutschland 765 DM, in der DDR 500 Mark; durchschnittliche Regelsätze für ein Ehepaar mit zwei Kindern in der Bundesrepublik Deutschland 1 360 DM, in der DDR 620 Mark zuzüglich Kindergeld 860 bis 900 Mark. Der Abstand zwischen der Kaufkraft der genannten Beträge dürfte zwar geringer sein, als die Zahlen ausweisen, zu berücksichtigen ist aber auch, daß in dem Regelsatz nach dem BSHG der Anteil für die Ernährung, die in der DDR besonders hoch subventioniert ist, unter 50 % liegt. Zur Bewertung von Lebensverhältnissen gehören im übrigen die Qualität öffentlicher Einrichtungen und Dienste, Einkaufsmöglichkeiten, Wohnqualität und vieles andere mehr. Die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR sind für den in der Frage angestellten Zahlenvergleich zu unterschiedlich.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dreßler, Zusatzfrage.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, meine Frage legte eine Aussage eines Ihrer Kollegen hier im Deutschen Bundestag zugrunde. Darauf sind Sie jetzt nicht eingegangen. Deshalb frage ich Sie noch einmal, ob die hier im Deutschen Bundestag von einem Ihrer Kollegen vertretene Auffassung, die faktisch bedeutete, in der DDR gebe es Armut, in der Bundesrepublik nicht, von der Bundesregierung so geteilt wird.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich habe die Aussage des Kollegen Vogt nicht so verstanden, als ob es dort Armut gäbe und hier nicht. Ich glaube, daß der Hinweis auf die 290 Mark - inzwischen ist der Satz auf 300 Mark erhöht - als Regelsatz für einen Haushaltsvorstand vor dem Hintergrund auch der Kriterien zu sehen ist, die für die Bewertung von Lebensverhältnissen maßgebend sind; ich habe solche eben genannt. Die Gesamtlebenslage in der DDR - und das gilt auch für Sozialfürsorgeempfänger dort - ist sicher schlechter als bei uns. In diesem Sinne habe ich die Aussage von Herrn Vogt, 290 Mark bedeuten Armut, nach dem Zusammenhang der Ausführungen verstanden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dreßler, zweite Zusatzfrage!

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wie bewerten Sie unter Berücksichtigung Ihrer gerade gegebenen Antwort denn dann die im Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes vertretene Auffassung, in der Mitte der Gesellschaft - also unserer Gesellschaft in der Bundesrepublik - bestehe eine immer stärker werdende Tendenz, Armut zu verdrängen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich will darauf gern antworten. Es ist nur die nächste Frage des Herrn Abgeordneten Jaunich.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Er ist aber nicht da, und Sie müssen diese Frage schriftlich beantworten. Es ist auch erlaubt, so zu fragen.

Not found (Staatssekretär:in)

Gut, ich will die Frage selbstverständlich gern beantworten. Diese Auffassung wird von der Bundesregierung nicht geteilt. Ihr widerspricht vor allem der hohe Rang, den die soziale Sicherheit für alle Bevölkerungsschichten und AltersStaatssekretär Chory gruppen im Bewußtsein aller gesellschaftlicher Gruppen in der Bundesrepublik Deutschland einnimmt. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Heyenn möchte dazu eine Zusatzfrage stellen.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, die oberdeutsche Provinz der Karmeliter - ein Orden also - aus Bamberg hat uns als SPD im März dieses Jahres geschrieben: Eine neue soziale Armut ist entstanden, von der nicht wenige alte Menschen - unsere Klöster erhielten sogar schon Lebensmittelanfragen von Rentnern -, aber auch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, Ausländer und andere Gruppen betroffen sind. Das Wirtschaftswachstum wird einseitig gepriesen, und es entsteht der Eindruck, daß die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer werden. Vor dem Hintergrund solcher Aussagen, deren es viele in dieser Republik gibt, müßten Sie doch eigentlich bereit sein - das frage ich Sie -, Ihre Aussage zu überdenken. Welche Anstrengungen sind Sie im übrigen bereit zu unternehmen, um die Armutssituation in der Bundesrepublik entscheidend zu bekämpfen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter! Niemand bestreitet - die Bundesregierung selbstverständlich auch nicht - , daß es auch in der Bundesrepublik Armut gibt. Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren sehr viel getan, um mit sozialpolitischen Leistungen die Lebenslage solcher Menschen entscheidend zu verbessern, ({0}) die ein geringes Einkommen haben. Ich kann hier das Wohngeld, das Kindergeld und selbst die Steuerreform nennen, die dazu geführt hat, daß etwa 500 000 Bezieher niedriger Einkommen keine Steuern mehr bezahlen. ({1}) - Herr Abgeordneter, ein wichtiger Grund dafür, daß die Ausgaben der Sozialhilfe steigen, ist auch der hohe Ausländeranteil, der seinerseits wiederum damit zusammenhängt, ({2}) daß sehr viele Asylbewerber aus wirtschaftlichen Gründen in die Bundesrepublik Deutschland kommen. Von den 1,6 Millionen Empfängern laufender Hilfe zum Lebensunterhalt, die es Ende 1988 gab, waren 350 000 Ausländer. Der Anteil betrug 21,5 %, während der Ausländeranteil an der Bevölkerung bei 7,5 % lag. Das ist ein wesentlicher Grund für das Ansteigen der Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine weitere Zusatzfrage stellt der Abgeordnete Schreiner.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ab welchem Einkommen beginnt denn nach Auffassung der Bundesregierung die Armutsgrenze? Oder andersherum gefragt: Wieviel braucht nach Auffassung der Bundesregierung ein Mensch in der Bundesrepublik, um ein einigermaßen menschenwürdiges Leben gestalten zu können? Und ich frage zusätzlich, ob Sie die Auffassung des Bundesvorsitzenden der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft, Herrn Fink, in seinem Buch „Kultur des Helfens" teilen, in dem er schreibt, daß es harte Tendenzen zu einer Zweidrittelgesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland in dem Sinne gibt, daß zwei Drittel der Menschen einer Erwerbstätigkeit nachgehen können und ein Drittel im Armutsbereich lebt?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich kenne das Buch von Herrn Fink nicht ({0}) - vielen Dank! - , aber ich könnte diese Auffassung nicht teilen. Was die Frage betrifft, ab wann Armut beginnt, so muß ich darauf hinweisen, daß dieses Problem meines Erachtens nicht lösbar ist, da es keinen allgemeingültigen Armutsbegriff gibt. Armut kann verschiedene Gründe haben und kann in verschiedenen Lebenssituationen bestehen, zum Beispiel Obdachlosigkeit und dergleichen. Nicht geeignet ist jedenfalls nach Meinung dieser Bundesregierung und - wie ich hinzufüge - aller früheren Bundesregierungen die Sozialhilfeschwelle als Meßlatte für Armut. Die Sozialhilfe soll ja gerade den sozialkulturellen Mindestbedarf sichern. ({1}) Nähme man diese als Meßlatte, würde man zu dem absurden Ergebnis kommen, daß jede Verbesserung der Sozialhilfe oder jede Nichtanrechnungsregelung, wie wir sie z. B. beim Erziehungsgeld haben, den Umfang der Armut erweitern würde.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Schmidt ({0}) hat eine Zusatzfrage.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär! Ich gehe davon aus, daß sich das zuständige Ministerium mit dem Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes befaßt hat und daß es dazu Stellung nehmen kann. Ich frage Sie deshalb, ob Sie die Auffassung des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes teilen, daß 6 Millionen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland unterhalb der Armutsschwelle leben, und welche Maßnahmen Sie ergriffen haben und zu ergreifen gedenken, um diese skandalöse Zahl zu reduzieren, und wie Sie es beurteilen, daß die Zahl der Menschen, die in der Bundesrepublik in Armut leben - einschließlich der Sozialhilfeempfänger - , in den letzten Jahren dramatisch gestiegen ist.

Not found (Staatssekretär:in)

Frau Abgeordnete, die Bundesregierung teilt die von Ihnen zitierte Auffassung in dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nicht. Ich habe bereits einige Zahlen in dem Zusammenhang genannt. Auch wenn ich daran festhalte, daß die Sozialhilfeschwelle nicht mit dem Begriff der Armut gleichzusetzen ist, möchte ich noch einmal erwähnen, daß die Zahl derjenigen, die laufend Hilfe zum Lebensunterhalt beziehen, bei 1,6 Millionen liegt. Hierbei ist hinzuzufügen, daß viele von ihnen nur ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten. Bei denjenigen, die Hilfe in besonderen Lebenslagen bekommen, ist nicht allgemeine wirtschaftliche Not der Auslöser für die Sozialhilfe, sondern der Umstand, daß sie in einer besonderen Lebenslage - z. B. Krankheit, Behinderung oder Pflegebedürftigkeit - sind. Damit diese Personen diese erhöhten Belastungen nicht tragen müssen, greift die Sozialhilfe, wie Sie wissen, ein, auch wenn das Einkommen unter Umständen erheblich über den Beträgen liegt, die die Hilfe zum Lebensunterhalt auslösen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Weiler hat die nächste Zusatzfrage.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Habe ich eine oder zwei Fragen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Eine.

Barbara Weiler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002450, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut - Sie haben eben gesagt, die Bundesregierung hätte mehrere Maßnahmen zum Abbau der Armut ergriffen. Unter anderem haben Sie auch die Steuerreform angeführt. Ist Ihnen eigentlich klar, daß Sie sehr leicht eine der wichtigsten Veränderungen hätten machen können, indem Sie die sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse aufgehoben hätten?

Not found (Staatssekretär:in)

Frau Abgeordnete, ich weiß nicht, ob das wirklich ein probates Mittel für diesen Zweck wäre. Ich kenne natürlich sehr wohl die Problematik der sozialversicherungsfreien Beschäftigungsverhältnisse. Auf der anderen Seite gibt es aber auch einen erheblichen Bedarf für solche kurzfristigen Tätigkeiten. Dies gilt nicht immer nur bei denjenigen, die alleine auf dieses Geld angewiesen sind. In dem Zusammenhang sehe ich - in bezug auf die Armut - weniger Probleme. Probleme können sich in diesem Zusammenhang insoweit ergeben, als dann keine Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden. Ich möchte auf die Regelung im Steuerrecht hinweisen, nach der die Anerkennung der Aufwendungen für die Beschäftigung von Helfern im Haushalt - wenn zwei Kinder oder ein Pflegebedürftiger da sind - daran gekoppelt ist, daß es sich um ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis handelt. Das ist eine Maßnahme in der Richtung, die Sie hier angesprochen haben. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Opel hat noch eine Zusatzfrage.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben einerseits betont, daß sich die Bundesregierung mit dem Armutsbegriff beschäftigt habe. Zum anderen haben Sie gesagt, Sie könnten die Zahlen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes nicht bestätigen. Sie haben weiterhin auch gesagt, daß es nach Meinung der Bundesregierung in der Bundesrepublik Armut gebe. Wenn dies alles zutrifft, müßten Sie ja eine Abschätzung geben können, wie hoch nach Meinung der Bundesregierung die Armut in der Bundesrepublik Deutschland ist; d. h. wieviele Menschen davon betroffen sind, ob das nun zwei oder zehn Millionen sind. Ich würde gerne von Ihnen die Zahl derer hören, die nach Ihrer Auffassung unter der Armutsgrenze in der Bundesrepublik Deutschland leben.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich habe schon gesagt, eine solche Zahl würde eine Definition des Begriffes Armut voraussetzen. Es gibt, nach Meinung der Bundesregierung - das hat sie auch eingehend in der Antwort auf eine Große Anfrage dargelegt - keinen allgemeingültigen Begriff der Armut, sondern es gibt bestimmte Erscheinungsformen der Armut. Wenn es aber keinen allgemeingültigen Begriff der Armut gibt, dann gibt es auch keine Möglichkeit, hier absolute Zahlen zu nennen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Reimann hat die letzte Zusatzfrage. ({0}) Meine Damen und Herren, wir haben - ausgehend von einer Frage, die einen Vergleich zwischen zwei Systemen in sich hatte - nun diesen ganzen Teil schon behandelt, der eigentlich bei den Fragen des Abgeordneten Heyenn zu diskutieren ist. Ich hoffe auf Ihre Bereitschaft, da nicht noch einmal eine solche Vielzahl von Fragen anzuschließen. Die Fragen 20 und 21 des Abgeordneten Jaunich werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Ich rufe nun die Frage 22 des Abgeordneten Heyenn auf: Beabsichtigt die Bundesregierung, Schritte zu einer entsprechenden Armutsberichterstattung in der Bundesrepublik Deutschland einzuleiten, wie sie seit langem nicht nur von den USA und Großbritannien, sondern inzwischen auch in Frankreich und in der Schweiz vorgenommen wird?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung beabsichtigt dies nicht. Sie hält eine Armutsberichterstattung schon deshalb für wenig zweckmäßig, weil der Begiff „Armut" nicht allgemeingültig definiert werden kann. Über die Entwicklung der sozialen Verhältnisse, insbesondere über die Auswirkungen der sozialpolitischen Maßnahmen, unterrichten im übrigen Berichte wie Rentenanpassungsberichte, Wohn- und Mietenberichte, Sozialberichte. Darauf ist bereits in der Antwort auf die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN zu „Armut und Sozialhilfe in der Bundesrepublik Deutschland" vom August 1986 hingewiesen worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Zusatzfrage, Herr Heyenn.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie kritisieren den Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Wäre es dann nicht doch überlegenswert, auch wenn man sich über die Definition von Armut im Lauf eines solchen Prozesses noch unterhalten müßte, einen Armutsbericht anzustreben, schon um andere Berichte zu diesem Thema an den Aussagen, die vielleicht teilweise auf Berichten des Statistischen Bundesamtes basieren, messen zu können; und wäre ein solcher Bericht nicht auch Grundlage für eine Bekämpfung der sozialen Not in unserem Land, die ausweislich der steigenden Ausgaben für Sozialhilfe noch immer im Wachsen begriffen ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich glaube, daß z. B. durch die von mir soeben als Beispiele genannten Berichte bestimmte Lebenslagen viel intensiver erforscht werden können, auch derjenigen, die in schlechteren Verhältnissen leben. Wenn es etwa um die Wohnlage oder um die Situation der Rentner geht, ist es, denke ich, hilfreicher, wenn der jeweilige Bereich sowohl im Hinblick auf die Situation als auch vor allem im Hinblick auf die getroffenen oder zu treffenden Maßnahmen untersucht wird, als wenn man hier einen allgemeinen Bericht machen würde, der schon daran scheitert, daß man sich bei der Definitionsfrage aufhält und das dann zu Diskussionen führt, die in der Sache, meine ich, wenig weiterhelfen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben eine weitere Zusatzfrage.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wenn ich Ihnen sage, daß alle von Ihnen genannten Berichte, z. B. der Rentenanpassungsbericht, nur Teilaspekte enthalten, die auf die Gesamtsituation der betroffenen Menschen überhaupt nicht eingehen, wären Sie dann bereit, Ihre Aussage noch einmal zu überdenken; und was könnte Ihres Erachtens für Länder wie die USA, Großbritannien, Frankreich und die Schweiz der Grund sein, solche Armutsberichte in regelmäßigen Abständen vorzulegen?

Not found (Staatssekretär:in)

Um mit dem letzten anzufangen: Die Gründe dafür, warum die von Ihnen genannten Länder jeweils Armutsberichte vorlegen, kenne ich im einzelnen nicht. ({0}) Ich möchte aber in dem Zusammenhang z. B. darauf hinweisen, daß wir in den USA, ein ganz anderes System der sozialen Sicherheit haben, das viel mehr zersplittert ist, und daß auch in Frankreich sehr andere Regelungen gelten, wenn ich etwa an den Bereich der Sozialhilfe denke. Aber den ersten Punkt, den Sie genannt haben, könnte ich eigentlich nicht bestätigen, weil doch in den Berichten - in den Wohn- und Mietenberichten und auch im Rentenanpassungsbericht - sehr wohl etwas darüber gesagt wird, wie die Situation der Menschen ist. Und wo das nicht geschieht oder wo das ergänzungsbedürftig ist, gibt es immer wieder ergänzende Forschungen, die es z. B. auch zur Kumulation von Renten mit anderen Einkunftsarten gegeben hat, oder auch Berichte, die vor einigen Jahren von unserem Ministerium z. B. zu Armut und Obdachlosigkeit in Auftrag gegeben wurden, also Berichte auf Grund von Forschungsaufträgen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Mein Versuch der Eindämmung ist jetzt schon gescheitert. Aber Sie sind sicher mit mir einverstanden, wenn ich den vier Kollegen, die sich zu Zusatzfragen zu Wort gemeldet haben, das Wort erteile und die Zusatzfragen darauf beschränke. Die erste Zusatzfrage stellt Frau Schmidt.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben jetzt und auch auf die vorhergegangenen Fragen laufend gesagt, es gebe keine Definition von Armut. Vielleicht ist Ihnen bekannt, daß die Vereinten Nationen auch für Industriestaaten eine Definition des Armutsbegriffs haben. Es würde mich interessieren, ob nicht vor dem Hintergrund, daß es in anderen westlichen Ländern offensichtlich möglich ist, den Begriff der Armut zu definieren, die Bundesregierung bereit ist, sich noch einmal mit diesem Thema auseinanderzusetzen, und ob es Sie in diesem Zusammenhang nicht zum Nachdenken bringt, daß wir in den letzten Jahren einen dramatischen Anstieg der Zahl von Sozialhilfeempfängern, die Sie ja hoffentlich nicht als reich bezeichnen werden, haben, und daß es doch wichtig wäre, auf die Gründe zu kommen, und uns ein Armutsbericht dabei helfen könnte.

Not found (Staatssekretär:in)

Frau Abgeordnete, mit der Frage, ob es sinnvoll ist, eine Armutsberichterstattung zu machen oder nicht, hat sich die Bundesregierung schon sehr eingehend beschäftigt. Sie hat dazu auch in der von mir bereits zitierten Antwort auf eine Große Anfrage Stellung genommen. Gegenüber dem damaligen Stand hat sich in der Bewertung dieser Frage nichts geändert.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Dreßler ist als nächster dran.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, könnte es sein, daß Ihre beharrliche Weigerung, die Sie für die Bundesregierung hier zum Ausdruck bringen, sich mit einem Armutsbericht nicht auseinanderzusetzen, daran liegt, daß die Erfahrungen der Sozialverbände der Bundesrepublik - der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband besteht ja, wie Sie wissen, nicht nur aus einem Verband, sondern aus vielen Verbänden, die diese Dinge vor Ort regeln - anders sind, als die Bundesregierung sie wahrhaben will? Könnte es sein, daß dies hinter Ihrer beharrlichen Weigerung steckt, einen Armutsbericht vorzulegen und damit in dieser Gesellschaft zu sensibilisieren?

Not found (Staatssekretär:in)

Nein. Die Tatsache, daß man über einen bestimmten Komplex keinen umfassenden Bericht machen will, sich aber wohl, wie ich hier an mehreren Punkten darlegen konnte, mit Aspekten dieses Bereichs beschäftigt, kann nicht den Schluß herbeiführen, daß man die Existenz dieses Themas leugnet. Das habe ich nicht getan, und das tut die Bundesregierung auch nicht.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Opel hat die nächste Zusatzfrage.

Dipl. - Ing. Manfred Opel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001652, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben einerseits eingeräumt, daß es in der Bundesrepublik Armut gebe. Zum anderen haben Sie gesagt, das könne man nicht definieren. Ich sehe darin einen logischen Widerspruch. Und wenn Sie, Herr Staatssekretär, sagen, weil die Definition von Armut nicht möglich sei, könne man auch keinen Armutsbericht machen: Läßt dies den Schluß zu, Herr Staatssekretär, daß der Armutsbericht der vier genannten Länder, insbesondere der Schweiz, die ein ähnliches Sozialsystem wie die Bundesrepublik Deutschland hat, unseriös ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich maße mir kein Urteil über die Berichte an, die in den anderen Ländern erstattet worden sind. Ich möchte nur, Herr Abgeordneter, meinerseits Sie vielleicht noch einmal dafür sensibilisieren: Man kann sich mit einem Thema, das sehr unterschiedliche Aspekte hat - und das ist eigentlich die Position der Bundesregierung - , vielleicht besser beschäftigen, wenn man diese unterschiedlichen Aspekte jeweils für sich betrachtet. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Schreiner ist der letzte mit einer Zusatzfrage zu der Ausgangsfrage des Abgeordneten Heyenn.

Ottmar Schreiner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002073, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nachdem Sie soeben erneut gesagt haben, es gebe zwar bestimmte Erscheinungsformen, aber keine Definition von Armut, frage ich Sie, wie Sie denn ganz persönlich und als Mitglied der Bundesregierung bestimmte Erscheinungsformen des Lebens als Armut begreifen wollen, ohne eine Definition von Armut zu haben. Und ich frage Sie zudem, ob die Bundesregierung nicht möglicherweise den ehemaligen Generalsekretär der CDU, Herrn Geißler, als Ratgeber für Definitionsfragen in Anspruch nehmen könnte, da Herr Geißler die neue Armut bereits in den 70er Jahren entdeckt hat.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, ich kenne den damaligen Bericht von Herrn Geißler. Er hat sich an der Sozialhilfeschwelle orientiert; die Bundesregierung - das habe ich soeben gesagt, und darin stimmt sie mit früheren Bundesregierungen überein - tut das nicht. Ich bin natürlich in der Lage, den Begriff „Armut" für mich im Einzelfall anzuwenden. Auch wenn ich keine allgemeingültige Definition habe, würde ich beispielsweise einen Fall von Obdachlosigkeit sehr wohl darunter fassen. Ich würde übrigens auch Menschen darunter fassen, deren Situation nicht oder vielleicht nicht einmal in erster Linie von Dingen aus dem wirtschaftlichen Bereich gekennzeichnet ist, und natürlich diejenigen, die über keine Mittel verfügen, erst recht. Aber es gibt auch arme Menschen, um die man sich kümmern muß, bei denen andere Gesichtspunkte eine Rolle spielen oder vielleicht sogar wichtiger sind. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich rufe die Frage 23 des Abgeordneten Heyenn auf: Kann die Bundesregierung die im Armutsbericht des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes getroffene Feststellung bestätigen, Armut und Arbeitslosigkeit stellten eine Verschwendung volkswirtschaftlicher Ressourcen dar, und welche Konsequenzen gedenkt sie daraus insbesondere aus der Angabe, allein die Arbeitslosigkeit habe 1987 Kosten in Höhe von 59 Milliarden DM an entgangenen Steuer- und Beitragseinnahmen verursacht, bezüglich einer Weiterentwicklung des Arbeitsförderungsgesetzes zu ziehen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, die Bundesregierung hält eine auf fiskalische Einnahmen-und Ausgabenströme reduzierte Betrachtung der Arbeitslosigkeit nicht für sachgerecht. Arbeitslosigkeit ist das Ergebnis eines komplexen Bündels von Einflüssen, in dem z. B. fehlende oder nicht gefragte berufliche Qualifizierung, alters- oder gesundheitsbedingte Vermittlungsbeschränkungen, nicht hinreichend ausgeprägte berufliche Flexibilität und regionale Mobilität der Arbeitnehmer ebenso eine Rolle spielen wie Höhe und Struktur der Löhne und weltwirtschaftliche Einflüsse. Im übrigen weisen auch Autoren, die die durch die Arbeitslosigkeit entstehenden gesamtfiskalischen Einnahmenverluste und Ausgabensteigerungen im Rahmen bestimmter Modellannahmen zu berechnen versuchen, darauf hin, daß in der Gesamtzahl der Arbeitslosen ein in seiner Höhe zwar nicht bezifferbarer Sockel friktioneller und struktureller Arbeitslosigkeit enthalten ist, der sich einer derartigen Betrachtung gänzlich entzieht. Diese Art der Arbeitslosigkeit kann z. B. einen gesamtwirtschaftlich durchaus positiven Wechsel des Arbeitsplatzes oder eine berufliche Umorientierung beinhalten. Im übrigen haben sich die Ausgaben für die aktive Arbeitsmarktpolitik zwischen 1982 und 1989 von 6,9 Milliarden DM auf 15,7 Milliarden DM erhöht. Zu dieser Politik der Qualifizierung von Arbeitslosen und durch Arbeitslosigkeit Bedrohten wie auch der Förderung von Flexibilität und Mobilität gibt es nach Auffassung der Bundesregierung keine Alternative. Sie hat neben dem wirtschaftlichen Aufschwung dazu beigetragen, daß die Zahl der Arbeitsplätze zwischen 1982 und 1989 um 1,5 Millionen angewachsen ist und daß erstmals seit 1980 im Jahre 1989 die Zahl der Langzeitarbeitslosen zurückgegangen ist, und zwar gegenüber 1988 um 93 400.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Heyenn, Zusatzfrage.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meinen Sie nicht auch, Herr Staatssekretär, daß es selbstverständlich ist, daß die Mittel für die Maßnahmen auf dem Arbeitsmarkt steigen, wenn - wie unter dieser Regierung - seit 1982 die Arbeitslosenzahlen gestiegen sind? Können Sie bestätigen, daß trotz der gestiegenen Zahl der Arbeitsplätze - ich will das gar nicht bestreiten - die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden nur geringfügig angestiegen ist? Meinen Sie nicht, daß wir Programme zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit brauchen? Meinen Sie nicht, daß wir eine soziale Grundsicherung für die Arbeitslosen benötigen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Abgeordneter, meines Wissens läuft zur Zeit noch - und zwar mit gutem Erfolg - ein Programm für Langzeitarbeitslose mit einem Finanzvolumen von 1,75 Milliarden DM. Ich meine, daß diesen und anderen Arbeitslosen am besten geholfen wird, wenn es gelingt, die Zahl der Arbeitsplätze weiter zu steigern. Natürlich ist es schwierig, wenn dies, obwohl in so kurzer Zeit so viele Arbeitsplätze hinzukommen, doch nicht dazu führt - und zwar aus Gründen, die ich hier nicht weiter zu erläutern brauche - , daß die Zahl der Arbeitslosen wesentlich abnimmt, eben weil mehr Zugang zum Beschäftigungssystem erfolgt und in den letzten Jahren vor allem auch Übersiedler und Aussiedler hinzugekommen sind.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Letzte Zusatzfrage.

Günther Heyenn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000897, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Teilen Sie meine Auffassung, Herr Staatssekretär, daß die geringen Anstrengungen der Bundesregierung zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit weit hinter den Vorstellungen der evangelischen und der katholischen Kirche in der Bundesrepublik und auch weit hinter den Vorstellungen der Opposition zurückbleiben? Könnten Sie mir zugeben, daß Ihre für die Bundesregierung ausgesprochene Weigerung, einen Armutsbericht zu erstellen, und ihre Argumentation hierzu auch eine Art Armutsbericht darstellen?

Not found (Staatssekretär:in)

Nein.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Wir sind damit am Ende des Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen. Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit braucht nicht aufgerufen zu werden, weil die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Stahl ({0}) auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden sollen - die Antworten werden als Anlagen abgedruckt - und die Fragen 26 und 27 der Abgeordneten Frau Wollny entsprechend Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien für die Fragestunde schriftlich beantwortet werden. Auch diese Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Auch der Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation braucht nicht aufgerufen zu werden, weil die Frage 28 des Abgeordneten Antretter und die Fragen 29 und 30 des Abgeordneten Meyer zu Bentrup auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden sollen. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit kommen wir zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Jahn hat lange genug warten müssen; jetzt ist er an der Reihe. Ich rufe die Frage 55 des Abgeordneten Dr. Pick auf: Ist die Bundesregierung bereit, angesichts der Tatsache, daß Mieterhöhungen im Geschäftsraumbereich eine wesentliche Ursache für die Verdrängung kleiner Einzelhandels-, Handwerks- und Dienstleistungsbetriebe aus den Innenstädten darstellen, Mieterhöhungen bei Neuabschlüssen von Mietverträgen gesetzlich zu begrenzen? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pick, Ihre Annahme, daß Mieterhöhungen eine wesentliche Ursache für die Verdrängung kleiner Betriebe aus den Innenstädten darstellen, möchte ich zunächst etwas relativieren. Sie kennen das Gutachten - das geht aus Ihrer Frage hervor - : Zu hohe Mietkosten stehen unter den maßgeblichen Gründen für einen Standortwechsel von Mietbetrieben mit 10 % erst an vierter Stelle. Mehr als die Hälfte der Unternehmen wechseln demgegenüber aus Interesse an einer Standortverbesserung oder an einer Erweiterung des Betriebs. Mit einer gesetzlichen Begrenzung der Mieterhöhungen bei Neuabschlüssen könnte im übrigen die Verdrängung von kleinen Betrieben, soweit sie durch die Miethöhe bedingt ist, nicht aufgehalten werden. Verschiedene Untersuchungen der letzten Zeit haben ergeben, daß kleine und mittlere Betriebe, bezogen etwa auf ihren Umsatz oder ihre Wirtschaftskraft, weitaus stärkere relative Mietbelastungen haben als Großbetriebe. Dies liegt zum einen Teil daran, daß der Mietzins pro Quadratmeter bei kleinen Einheiten im Durchschnitt höher ist als bei größeren Objekten. Aber auch die absolute Miethöhe für gleichartige Objekte ist bei kleinen Unternehmen häufig höher als bei großen, z. B. bei Handelsketten und Filialunternehmen. Diese können bei den Mietpreisverhandlungen mit dem Vermieter die mit dem Großunternehmen verbundene Sicherheit preismindernd in die Waagschale werfen. Die Erfahrung lehrt außerdem: Werden die Vermieter gesetzlich daran gehindert, den von Interessenten gebotenen Preis anzunehmen, dann läuft der Wettbewerb unter mehreren Interessenten am Mietpreis vorbei, und zwar über sonstige Zahlungen oder Vergünstigungen. Erfahrungen und Überlegungen dieser Art haben schon in den 70er Jahren die Bundesregierung dazu bestimmt, trotz der schon damals vorhanden gewesenen Verdrängung kleinerer Geschäftsraummieter von gesetzlichen Mietpreisbegrenzungen abzusehen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Pick, eine Zusatzfrage.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, spricht denn die Entwicklung, die Sie eben ansprachen, die sich aber in den letzten Jahren wohl verstärkt zu Lasten alteingesessener, insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen vor allen Dingen in Ballungsgebieten breitgemacht hat, nicht dafür, daß man auch von seiten der Bundesregierung darüber nachdenkt, inwiefern man diesem Verdrängungswettbewerb, der ja stattfindet, einen Riegel vorschieben oder zumindest ein kleines Hindernis bereiten könnte?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Sie greifen damit der Frage vor, die Herr Kollege Müntefering für heute gestellt hat. ({0}) Da Herr Kollege Müntefering, soweit ich es erkennen kann -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Er hat um schriftliche Beantwortung gebeten.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Entschuldigung, Herr Präsident, das konnte ich nicht wissen. Dann möchte ich die Frage auch beantworten. Der bessere Schutz der Geschäftsraummieter kann nach Auffassung der Bundesregierung in einer Verlängerung der Kündigungsfristen bei Geschäftsraum-mieten bestehen. Die Bundesregierung prüft zur Zeit diese Möglichkeit, und zwar auf der Grundlage des Gutachtens des Instituts für Stadtforschung und Strukturpolitik. Die Dringlichkeit einer solchen Regelung sowie deren Vor- und Nachteile sind allerdings fachlich und politisch umstritten. Eine solche Regelung ist beispielsweise noch von keinem der maßgeblichen Spitzenverbände der Gewerberaummieter entschieden befürwortet, geschweige denn als dringlich anerkannt worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben eine weitere Zusatzfrage.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen die Untersuchung des Deutschen Mieterbundes zur Frage der Geschäftsraummietenentwicklung bekannt, die offensichtlich den Ergebnissen, die Sie aus den Untersuchungen ziehen, widerspricht? Denn dort sind nach meiner Kenntnis die Probleme der Höhe der Miete bzw. des vernachlässigten Kündigungsschutzes an erster Stelle für Schwierigkeiten bei der Standortsicherung genannt worden.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pick, das Gutachten und die Stellungnahme sind der Bundesregierung selbstverständlich bekannt. Aber ich sage noch einmal: Dieses Gutachten, das ja Grundlage Ihrer Fragestellung war, soll nach Auffassung der Bundesregierung unverzüglich veröffentlicht werden. Dann soll es auch öffentlich diskutiert werden, und die Bundesregierung wird dann in die Prüfung eintreten, ob und inwieweit Handlungszwang besteht.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Dann rufe ich die Frage 56 des Abgeordneten Dr. Pick auf: Ist die Bundesregierung bereit, einen gewerblichen Mietpreisspiegel einzuführen und die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß Mietpreiserhöhungen für Gewerberäume künftig nur noch im Rahmen der orts- und branchenüblichen Mietentwicklung zulässig sind? Bitte schön, Herr Staatssekretär.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Dr. Pick, die Bundesregierung hat wie - wenn ich das anmerken darf - auch schon frühere Bundesregierungen aus guten Gründen davon abgesehen, die Einführung von Mietspiegeln für Wohnraum zwingend vorzuschreiben. Bei Geschäftsräumen wäre das Datenmaterial, das zur Erstellung der Mietspiegel erhoben werden müßte, wegen der Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten noch vielfältiger als bei Wohnraum. Als weiteres Hindernis erweist sich das Bestreben vieler Geschäftsleute, die Miethöhe als einen die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens bestimmenden Faktor nicht ohne Sicherung der Geheimhaltung zu offenbaren. Es wäre somit nach Auffassung der Bundesregierung nicht vertretbar, den Gemeinden oder sonstigen Organisationen wie auch den Geschäftsraummietern die Erstellung von gewerblichen Mietpreisspiegeln und die Lieferung von Daten für diese Mietspiegel zur Pflicht zu machen. Es bestehen jedoch überhaupt keine rechtlichen Hindernisse dagegen, daß auf freiwilliger Basis Übersichten über die gängigen Geschäftsraummieten erstellt und an Interessenten weitergegeben werden. Wegen der starken Differenzierung der Mietpreise nach Lage, Größe, Beschaffenheit, Ausstattung, Nutzungsart und sonstigen Vertragsbedingungen wäre es auch mit zumutbarem gesetzgeberischem Aufwand nicht möglich, eine orts- und branchenübliche Mietentwicklung zum Maßstab der Mietpreiserhöhungen zu machen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Pick, Zusatzfrage.

Prof. Dr. Eckhart Pick (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001715, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat sich die von Ihnen in Auftrag gegebene Untersuchung, deren Ergebnisse ich nicht kenne, auch auf die Frage bezogen, ob man mit dieser Art der Veröffentlichung der Mietpreisentwicklung ein gewisses Steuerungsinstrument schaffen könnte?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Das Gutachten ist gerade vorgelegt worden. Es umfaßt rund 200 Seiten. Ich gehe davon aus, daß diese Frage mit behandelt worden ist. Die Bundesregierung wird Ihre Fragestellung jedoch auch unabhängig davon mit in den Entscheidungsprozeß einbeziehen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Keine weitere Zusatzfrage. Die Fragen 57 und 58 des Herrn Abgeordneten Müntefering sollen auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich danke dem Staatssekretär für die Beantwortung der Fragen. Nach neuestem Stand sollen alle zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft eingereichten Fragen - das sind die Fragen 59 und 60 des Herrn Abgeordneten Pfuhl, 61 und 62 des Herrn Abgeordneten Scherrer und Frage 63 des Herrn Abgeordneten Dr. Daniels ({0}) - auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Es tut mir leid, Herr Dr. Riedl, daß Sie gewartet haben, aber dies ist eine Entscheidung der letzten Minuten, die eine Einsparung von fünf Minuten in unserem Zeitplan bringt. Damit ist Punkt 1 der Tagesordnung - Fragestunde - abgeschlossen. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vizepräsident Westphal Verbesserung der Berufsförderung für Soldaten auf Zeit - Drucksache 11/6769 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß ({1}) Innenausschuß Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 10. November 1989 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Förderung und den gegenseitigen Schutz von Kapitalanlagen - Drucksachen 11/6741, 11/6907 ({2}) Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft ({3}) Auswärtiger Ausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes - Drucksache 11/6940 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({4}) Rechtsausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung - Drucksache 11/6939 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ({5}) Rechtsausschuß e) Erste Beratung des von den Abgeordneten Marschewski, Seesing, Dr. Wittmann, Dr. Stark ({6}), Eylmann, Dr. Hüsch, Hörster, Helmrich, Geis und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie den Abgeordneten Kleinert ({7}), Funke, Irmer und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes - § 201 StGB - ({8}) - Drucksache 11/6714 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({9}) Innenausschuß f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Rock, Frau Teubner, Weiss ({10}) und der Fraktion DIE GRÜNEN Erhalt der DB-Strecke Euskirchen-Bad Münstereifel - Drucksache 11/6507 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr g) Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Berichtspflicht der Bundesregierung über die Vereinten Nationen - Drucksache 11/6550 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({11}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit h) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Berichtspflicht der Bundesregierung über die Vereinten Nationen - Drucksache 11/6604 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({12}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit i) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über vorhandene private Initiativen, die im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des 2. Weltkrieges ergriffen wurden - Drucksache 11/6286 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß j) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen - Drucksache 11/6287 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({13}) Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß k) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament Entschließung zu Steuerfragen - Drucksache 11/5792 -Überweisungsvorschlag : Finanzausschuß ({14}) Auswärtiger Ausschuß Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie einverstanden? - Ich stelle dies fest. Die Überweisungen sind so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 4 der Tagesordnung auf: Beratungen ohne Aussprache a) Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Zusatzprotokoll Nr. 4 vom 25. April 1989 zu der am 17. Oktober 1868 in Mannheim unterzeichneten Revidierten Rheinschiffahrtsakte - Drucksache 11/6035 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Verkehr ({15}) - Drucksache 11/6624 Berichterstatter: Abgeordneter Bohlsen ({16}) Vizepräsident Westphal b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschießen, für die Berufe des Rechtsanwalts und des Patentanwalts - Drucksache 11/6154 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({17}) - Drucksache 11/6721 Berichterstatter: Abgeordnete Eylmann Wiefelspütz ({18}) c) Beratung der Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses ({19}) zu dem Antrag der Faktion der SPD Einhaltung des ABM-Vertrages - Drucksachen 11/15, 11/3015 Berichterstatter: Abgeordnete Lamers Voigt ({20}) Dr. Feldmann Dr. Lippelt ({21}) d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({22}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Ersten Richtlinie 73/239/EWG und der Zweiten Richtlinie des Rates 88/357/ EWG zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung ({23}) und zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs sowie zur Änderung der Richtlinie 73/239/EWG, insbesondere bezüglich der KraftfahrzeugHaftpflichtversicherung - Drucksachen 11/4081 Nr. 2.1, 11/6641 - Berichterstatter: Abgeordnete Hörster Stiegler e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({24}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({25}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({26}) Nr. 986/68 zur Festlegung der Grundregeln für die Gewährung von Beihilfen für Magermilch und Magermilchpulver für Futterzwecke - Drucksachen 11/5722 Nr. 2.8, 11/6732 - Berichterstatter: Abgeordneter Kalb f) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({27}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Regelung tierseuchenrechtlicher Fragen bei der Vermarktung von Nagetieren in der Gemeinschaft - Drucksachen 11/6125 Nr. 6, 11/6739 - Berichterstatter: Abgeordneter Oostergetelo g) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Rechtsausschusses ({28}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine dreizehnte Richtlinie des Rates auf dem Gebiet des Gesellschaftsrechts über Übernahmeangebote - Drucksachen 11/4337 Nr. 1, 11/4338, 11/6612 Berichterstatter: Abgeordnete Eylmann Stiegler Wir kommen zuerst zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 4 a, und zwar über den von der Bundesregierung eingebrachten Vertragsgesetzentwurf über die in Mannheim unterzeichnete revidierte Rheinschiffahrtsakte. Das sind die Drucksachen 11/6035 und 11/6624. Ich rufe den Gesetzentwurf mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann stelle ich fest, daß dieses Gesetz einstimmig angenommen worden ist. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über Tagesordnungspunkt 4 b, und zwar zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome für die Berufe des Rechtsanwalts und des Patentanwalts. Das sind die Drucksachen 11/6154 und 11/6721. Ich rufe die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir treten nun in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen ist dieser Gesetzentwurf angenommen worden. Punkt 4 c der Tagesordnung. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksache 11/3015 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/15 abzulehnen, weil er durch die inzwischen Vizepräsident Westphal erfolgten politischen Entwicklungen überholt ist. Es handelt sich dabei um die Einhaltung des ABM-Vertrags. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist abgelehnt. Wir kommen zu Punkt 4 d der Tagesordnung. Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/6641 ab. Es handelt sich dabei um die Richtlinie zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Direktversicherung, Erleichterung des freien Dienstleistungsverkehrs und Änderung der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung in der Fraktion der SPD und bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Punkt 4 e der Tagesordnung. Wir stimmen nunmehr über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/6732 ab. Es handelt sich hierbei um die Richtlinie für die Gewährung von Beihilfen von Magermilch und Magermilchpulver für Futterzwecke. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen. Punkt 4 f der Tagesordnung. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/6739 ab. Hier geht es um die Verordnung des Rates zur Regelung tierseuchenrechtlicher Fragen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden. Der Landwirtschaftsminister hat zugestimmt. Jetzt kommt Punkt 4 g der Tagesordnung. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses auf Drucksache 11/6612. Das ist die Richtlinie des Rates auf dem Gebiete des Gesellschaftsrechts zu Übernahmeangeboten. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen worden. Jetzt sind wir am Ende dieser Prozedur. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 zur Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde Aktuelle Lage der Landwirtschaft Preissenkungspolitik der EG-Kommission im Agrarsektor Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP haben gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Susset.

Egon Susset (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, weil die Landwirtschaftsminister in Brüssel die im März 1990 ergebnislos abgebrochenen Beratungen über das Agrarpreispaket wieder aufnehmen. Dies ist nun der fünfte Anlauf. Bisher beharrte die EG-Kommission jedoch noch auf ihrer eingefahrenen Linie perspektivloser Preissenkungspolitik, besonders bei Getreide. Das mußte zum Protest der Bauern führen. Er entlädt sich heute anläßlich der Wiederaufnahme der Beratungen in Demonstrationen in ganz Europa. Die Landwirte wollen hier die Öffentlichkeit auf die Verantwortung der EG-Kommission für den Preisdruck und die bitteren Folgen aufmerksam machen, und dies zu Recht. In einer Art Ablenkungsmanöver spricht die EG-Kommission bisher immer von einem Einfrieren der wichtigsten Garantiepreise. Tatsächlich verfolgt sie jedoch gerade bei Getreide unerbittlich ihren bisherigen Kurs, die Preise weiter zu senken. Allein bei Getreide summiert sich das rechnerisch auf rund 4 %. Dies ist, gelinde gesagt, eine Provokation und eine wenig perspektivvolle Politik. Darauf hat Bundesminister Kiechle zusammen mit einigen anderen EG-Mitgliedstaaten immer wieder hingewiesen. Erst in der vierten Verhandlungsrunde ließ die EG- Kommission einen gewissen, allerdings völlig unzureichenden Verhandlungsspielraum bei Zahlungsfristen und monatlichen Zuschlägen erkennen. Jetzt läuft die fünfte Runde an. Da muß die EG- Kommission endlich von ihrem hohen Roß herunterkommen. Es ist höchste Zeit für einen konstruktiven Verhandlungsvorschlag. Minister Kiechle hat unsere uneingeschränkte Unterstützung in seinem unermüdlichen Einsatz im Interesse der Landwirtschaft. Unser Ziel ist ein Ausgleich für die anstehende Getreidepreissenkung. Meine Damen und Herren, auch wenn jetzt aus einer bestimmten politischen Richtung immer wieder das Gegenteil behauptet wird, hatte die Bundesregierung 1988 keine Chance, die Produktionsschwellen bei Getreide zu verhindern. Was die Bundesregierung damals tun konnte, hat sie getan. Aber ergänzend zu den Produktionsschwellen konnte unser Konzept der Mengenbegrenzung in Brüssel bisher nicht durchgesetzt werden. Deshalb ist hier schärfste Kritik angebracht. ({0}) Hier ist alles versäumt worden. Die EG-Kommission hat es nicht geschafft, den Stabilisatorenbeschluß in seiner Gesamtheit, d. h. einschließlich mengenbegrenzender und absatzfördernder Maßnahmen, umzusetzen. Für uns ist es jetzt entscheidend, die EG-Kommission darauf hinzuweisen, daß sie endlich auch in der Frage der Absatzförderung aktiv werden muß. Stichworte sind Getreideeinsatz im Mischfutter, nachwachsende Rohstoffe und Lösung des Substitutenproblems. ({1}) Realistische Lösungsansätze sind hier längst überfällig. Nur so kann der Weg für eine durchgreifende Marktentlastung bei pflanzlichen Produkten geebnet werden. Das Instrument der Mengensteuerung muß nachdrücklicher und konsequenter als bisher in der ganzen EG durchgeführt werden. ({2}) Hier haben die EG-Kommission und die Mitgliedstaaten eine große Verantwortung. Unverzichtbar ist nämlich eine breit angelegte Drosselung der Produktion im ganzen EG-Raum. Die Anpassungslasten müssen gleichmäßiger verteilt werden. Die CDU/CSU-Fraktion weiß, daß es Minister Ignaz Kiechle schwer haben wird, bei den Preisverhandlungen Schaden von der Landwirtschaft abzuwenden. Wir wollen ihn jedoch durch diese Aktuelle Stunde heute dabei unterstützen. Ich weiß, er hat auch die volle Unterstützung des Bundeskanzlers, und damit - so meine ich - hat er auch die Vollmacht, in Brüssel zu sagen: Bis hierher und nicht weiter. Ich danke schön. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Vor wenigen Wochen wurde uns der Agrarbericht präsentiert, und es wurden die Erfolge der Regierung gefeiert. ({0}) Aber es muß doch etwas daran sein, wenn in diesen Tagen die Bauern und die Bäuerinnen von Flensburg bis Konstanz protestieren. Sie sagen, die Agrarpolitik der EG und der Bundesrepublik sei gescheitert. Ich finde, es ist durchaus berechtigt, die Bilanz als negativ zu bezeichnen. Viele bäuerliche Betriebe haben ihre Existenz aufgeben müssen oder sind in Existenznot geraten. Schlimmer noch: Die Jugend ist nicht mehr bereit, auf dem Lande zu bleiben, und sieht keine Zukunftsperspektive. Zu lange schon wird von der Substanz gelebt. Wir Sozialdemokraten sind davon überzeugt, daß eine differenzierte agrarstrukturelle und agrarwirtschaftliche Wirklichkeit uns dazu zwingt, ein angemessenes Gesamtkonzept zu verlangen. Dieses muß Markt- und Preispolitik, Strukturpolitik, Einkommenspolitik, Umwelt- und Agrarsozialpolitik zielgerichtet unter Berücksichtigung regionaler Elemente abstimmen. Die Regierung und ihre Parteien haben dieses Konzept nicht. Der erst jüngst vorgelegte Entwurf eines Vierten Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes, ein Umverteilungsmodell von unten nach oben, ist ein beredtes Zeugnis dafür. ({1}) Oder schauen Sie sich die ungerechte Verteilung der Milchquoten und das Hickhack bei der Herauskaufaktion an. Herr Susset, Sie beklagen die anstehenden Preissenkungen und schieben der EG-Kommission die Schuld zu. ({2}) Ich könnte es mir als Oppositionspolitiker ganz einfach machen: Ich könnte das Stabilisatorenkonzept in Grund und Boden verdammen. Dabei könnte ich mich vor allem auf die Ziehväter dieses Konzepts vom Februar 1988, auf den Bundeskanzler und den Bundesminister, berufen. ({3}) Ihre Mitschuld an diesem Konzept könnte ich weidlich ausschlachten. Ich tue es nicht. Nicht alles, was Kiechle gemacht hat, war falsch; aber man muß fragen - Sie sind nun acht Jahre an der Regierung - : Wer hat Sie eigentlich an einer erfolgreichen Agrarpolitik gehindert? ({4}) - Erzählen Sie es doch. Hat der Landwirtschaftsminister - dem Kanzler traue ich diese Sachkompetenz nicht zu - nicht gewußt, was er beschlossen hat? Frage: Werden Sie die obligatorische Durchführung von Maßnahmen z. B. bei der Flächenstillegung, die Ihnen nicht gelungen ist, durchsetzen, um wirkliche Hilfe zu erreichen? Wir haben Preissenkungen von insgesamt 12 % in drei Jahren. Sie fordern, die Mitverantwortungsabgabe abzuschaffen. Dies hätten Sie schon damals bei den Stabilisatoren tun müssen. Die Zeche zahlen jetzt wir, die deutschen Bauern. In diesem Zusammenhang fordern wir von der Bundesregierung endlich Maßnahmen, die Verwendung von mehr Getreide im Futtertrog zu fördern. Dies wäre eine wirkliche Hilfe. Wenn Sie die bäuerliche Landwirtschaft wirklich stärken wollen, dann frage ich Sie: Warum haben Sie es nicht im Strukturgesetz getan? Statt dessen fördern Sie die quasi-industrielle Agrarproduktion und haben den Bauern Geld vorenthalten. ({5}) - Wenn das falsch ist, Herr Kollege, dann frage ich Sie, damit die deutschen Bauern das wissen: Sind 2,1 Millionen Hähnchen im Gesamtbetrieb oder 360 Kühe oder 12 750 Mastschweine bäuerlich? Dieses fördern Sie und nehmen das Geld den Bauern weg. Ein weiteres Beispiel ist die Verweigerung der Bundesregierung zur Einführung der direkten Einkommenshilfen. Der Bundesminister hat es beschlossen - EWG-Verordnung Nr. 768/89. Das ist gut so. Aber warum führen Sie es nicht durch? Warum werden Sie durch Ihre Scheuklappen daran gehindert, wirklich zu helfen, wo es möglich ist? Wir - ich meine uns gemeinsam - können doch nicht durch Nichtstun zulassen, daß nun auch gut strukturierte bäuerliche Betriebe vor die Hunde gehen. Gerade im Interesse des Umweltschutzes und im wohlverstandenen gesamtgesellschaftlichen Interesse ist Handeln jetzt nötig. Die Bauern können nicht von Phrasen leben, sondern brauchen Hilfe. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sinn und Zweck der heutigen Aktuellen Stunde ist es, die berechtigten Sorgen und Nöte der schwer um ihre Existenz ringenden deutschen Getreidebauern hier aufzunehmen und uns als Politiker vor unsere Bauern zu stellen. Die radikale Preisdruckpolitik der EG-Kommission, die zur Existenzvernichtung für viele Getreidebauern führen wird, darf so nicht weitergeführt werden und wird von uns nicht mehr hingenommen. Kurz vor Ostern sind die Preisverhandlungen in Brüssel gescheitert. Ich meine, das war ganz gut so; denn ein vernünftiges Ergebnis wäre damals sowieso nicht herausgekommen. Die Einsicht, daß hier wirklich etwas geschehen muß, war einfach noch nicht vorhanden. Ich hoffe, daß während der österlichen Auferstehungszeit auch den hartgesottensten Preissenkungsstrategen in der EG die Erleuchtung gekommen ist, daß die Grenze erreicht ist und es so nicht weitergehen kann. ({0}) Um der Erleuchtung bei den Verantwortlichen auf die Sprünge zu helfen, habe ich für meine FDP-Fraktion diese Aktuelle Stunde beantragt. Ich freue mich, daß dabei die CDU/CSU voll mitmacht. Vertreter der betroffenen Bauern sind heute hier anwesend. Sie haben ein Recht darauf, zu erfahren, was wir tun wollen, wie wir ihre bedrohliche Situation verbessern können. Man muß sich einmal in die Lage dieser Bauern versetzen, die durch die Entwicklung bei den Getreidepreisen in den letzten Jahren eingetreten ist. Während im Wirtschaftsjahr 1983/84 noch ca. 53 DM je Dezitonne beim Weizen erzielt wurden, sind es jetzt nur noch rund 36 DM. Das ist eine Differenz von 17 DM und ein Preisverfall von rund 31 %. Stellen Sie sich einmal vor, welche Folgen das in anderen Wirtschaftsbereichen hätte! ({1}) Es ist diesen Betrieben einfach nicht mehr möglich, durch weitere Rationalisierung die Kosten zu senken. Das bedeutet im Klartext: Die Substanz selbst gut strukturierter Betriebe mit 70 bis 120 ha Ackerfläche wird aufgezehrt, und gesunde Existenzen werden vernichtet. Dies hat mit geordnetem Strukturwandel überhaupt nichts mehr zu tun. ({2}) Eine solche Existenzvernichtungspolitik können und werden wir nicht mehr hinnehmen. Deshalb habe ich große Sympathie für die Bauern, die am heutigen Tage zwischen Schottland und Sizilien, zwischen Flensburg und Füssen gegen die phantasielose Preissenkungspolitik der EG-Kommission protestieren. Es ist nun allerdings auch an uns, das Steuer herumzuwerfen und dafür zu sorgen, daß die betroffenen Bauern wieder eine Perspektive haben. Deshalb fordere ich im Namen meiner Fraktion die Bundesregierung und auch unseren Bundeslandwirtschaftsminister auf, mit allem Nachdruck in Brüssel dahin zu verhandeln, daß keine weiteren Preissenkungen zugelassen werden und daß das Steuer herumgeworfen wird. Da, Herr Minister, haben Sie die volle Unterstützung meiner Fraktion. ({3}) Folgende Eckpunkte sollten in Brüssel verhandelt werden: Zunächst nenne ich die Streichung der 3%igen Basismitverantwortungsabgabe unserer Bauern; denn sie haben ihre Verantwortung bereits wahrgenommen, haben die Produktion durch Flächenstillegung zurückgeführt. Wir haben das ja schon vor einigen Wochen hier im Bundestag gemeinsam gefordert. Die Ankaufspreise für Getreide sollten von 94 auf mindestens 97 % des Interventionspreises wieder angehoben werden. Die Zahlungsziele sollten von jetzt 100 bis 120 Tage auf höchstens 30 Tage verkürzt werden. Minister Kiechle sollte unnachgiebig und zur Not auch drastisch die Kommission an den Geist des vom Europäischen Rat vom Februar 1988 beschlossenen Stabilisatorenkonzeptes erinnern. Dieses wurde verabredet, um den Getreidemarkt ins Gleichgewicht zu bringen. Ein Gleichgewicht kann sich aber nicht einstellen, wie man an den fortlaufend steigenden Produktionsmengen sieht, weil die flankierenden Maßnahmen nicht oder nur halbherzig durchgeführt werden. ({4}) Wir müssen die nachwachsenden Rohstoffe entsprechend fördern. Wir werden und müssen das Extensivierungsprogramm vernünftig, attraktiv und praktikabel gestalten. Wir müssen, wenn die GATT- Verhandlungen zu der Forderung „Mehr Getreide ins Futter! " nicht langen, auch bereit sein, anzuerkennen, daß es eine obligatorische Flächenstillegung geben wird. Es kann nicht angehen, daß nur die deutsche Landwirtschaft Flächen stillegt, alle anderen aber weiter produzieren. ({5}) 45 % der Gesamtfläche, 230 000 ha, sind in der Bundesrepublik stillgelegt, in Frankreich 16 000. Wir müssen auch bereit sein, vorübergehend gezielt Einkommenshilfen zu geben, damit unsere Bauern einen gewissen Ausgleich für die Preissenkung erhalten, bis die Politik in Brüssel so gestaltet wird, daß die Produktionsmengen dem Markt angepaßt werden, damit wieder eine vernünftige Preispolitik - das heißt: wieder eine vernünftige Preisanhebung - im Getreidebau möglich ist. Ich kann Ihnen sagen: Die FDP wird unsere Getreidebauern nicht im Stich lassen. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Jetzt kommt der Dialekt von der anderen Seite der Republik. Herr Kreuzeder hat das Wort.

Matthias Kreuzeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001213, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU hat eine Aktuelle Stunde mit dem Titel „Preissenkungspolitik der EG-Kommission im Agrarsektor" beantragt. Allein der Titel ist eine bodenlose Frechheit. Er soll nur von den Machenschaften Ihrer Politik ablenken; denn sie sind inzwischen erkannt. Sie brauchen ja nur einmal vor die Tür zu gehen und sich die Traktoren anzugucken. Es ist ein vergeblicher Versuch, uns vorzumachen, daß irgend jemand, nur nicht Sie, an der Misere schuld ist. ({0}) Selbst die Treuesten der Treuen, die Bauernverbandsfunktionäre auf Kreis- und Ortsebene, laufen Sturm ({1}) gegen eine Agrarmafia, die sie auch noch 40 Jahre lang gewählt haben. Ich hoffe, es ist das letzte Mal. Sie haben recht, denn die Aktuelle Stunde gilt Ihnen, gilt Kiechle und Kohl. Ihre eigene Politik ist das Dilemma, nicht die Politik der EG-Kommission. Stabilisatorenregelung, Flächenstillegung, Milchkontingentierung, alle diese Zwangsmaßnahmen wurden von Kiechle mit Ihrer Unterstützung bei der EG durchgesetzt und durchgezogen, teilweise sogar unter deutscher Ratspräsidentschaft. ({2}) Sie haben sich für Ihre Politik feiern lassen, haben sie als der Weisheit letzten Schluß angepriesen. Das Gegenteil ist der Fall. Sie sind am Ende. Die Preise sinken, die Höfe sterben, die Umweltbelastung steigt, und Sie merken langsam, aber sicher - ({3}) - Ja, das weiß ich. Unverschämtheiten hört die CDU nicht gern. ({4}) Aber wenn man auf dem absteigenden Ast sitzt, wird man hellhörig. - Da die Systematik Ihrer Politik für die Landwirtschaft und natürlich auch für Sie geradezu tödlich ist, was Ihre politische Präsenz anbelangt: Warum wollen Sie nicht eine Umkehr, warum wollen Sie nicht eine völlig neue soziale, umweltverträgliche Politik für die Landwirtschaft machen? Unterstützen Sie unsere Forderungen, daß erstens ein Konzept flächendeckender Extensivierung für die gesamte Landbewirtschaftung die einzig sinnvolle und effektive Maßnahme zur Beseitigung der Überschüsse ist, ({5}) daß zweitens die Flächenstillegungsprogramme sofort aufgehoben und die laufenden Programme für die nachwachsenden Rohstoffe unter allen Umständen eingestellt werden, daß drittens Agrarpreissenkungen verhindert und die von Ihnen beschlossenen Stabilisatoren abgeschafft werden und daß viertens das Einkommen der kleinen und mittleren Getreidebaubetriebe ({6}) durch Einführung gestaffelter Preise - mit hohem Preis für eine umweltverträglich erzeugte Grundmenge pro Betrieb - gesichert wird. Denn es kann doch wohl nicht wahr sein, daß die USA, die Sie hinsichtlich der Stabilisatoren bei den GATT-Verhandlungen immer angeführt haben, ihre Flächenstilllegungsprogramme zurücknehmen und Sie weiterhin durchs Land ziehen und ganz naiv die Wirksamkeit dieses Schwachsinns verkünden. ({7}) Wenn die Preise für Weizen in den letzten sieben Jahren von 55 DM je Doppelzentner auf 36 DM gesunken sind, d. h. auf das Niveau vor 1980, die Nahrungsmittelpreise aber um 21 % gestiegen sind, dann muß an Ihrer Politik irgend etwas faul sein. Wenn Sie sich für so eine Politik dann auch noch feiern lassen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, daß die Bauern die CDU- Zentrale besetzen. ({8}) Wenn Sie so weitermachen, dann teile ich die Meinung des Kollegen Bredehorn, daß auch 80-HektarBetriebe keine Chance mehr haben zu überleben. ({9}) Der sogenannte leistungsstarke Betrieb wird in absehbarer Zeit - es gibt schon Zahlen aus Schleswig-Holstein - 400 und mehr Hektar haben und vorweisen müssen, um überhaupt überleben zu können. Bei einer langfristigen Weiterentwicklung Ihrer Politik des Strukturwandels sind Sie im Jahr 2025 als Bauernvertreter zumindest statistisch arbeitslos, weil es keine Bauern mehr gibt. ({10}) Unterstützen Sie jedoch uns und unsere Forderungen, ({11}) dann haben die Bauernfamilien wieder eine Chance und können nicht mehr als Mülldeponie der Chemie- und Agrarindustrie benutzt werden, denn zu solchen Mülldeponien für die Großkopferten, für die Aufsichtsräte von Bayer und Co. haben Sie die Landwirtschaft mit Ihrer Politik gemacht. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eigen.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Jan Oostergetelo, wieder einmal der Klassenkampf, als wenn mit dieser Art des Vortrages das Schicksal auch nur ein klein wenig verändert werden könnte. Die negative Brüsseler Politik, die wir leider nicht haben verhindern können, das muß man ja zugeben - ({0}) - Nein, wir haben sie nicht verhindern können. In vielen Phasen hat Minister Kiechle eben nicht zugestimmt. Herr Opel, Sie müssen sich erst einmal informieren, bevor Sie debattieren wollen. Auch die Opposition, Kollege Oostergetelo, darf Vorschläge, darf gute Vorschläge machen. Das wird Kollege Müller nachher sicherlich noch tun; ich hoffe das. ({1}) Herr Kreuzeder, Ihre Haßtiraden brauche ich nicht zu kommentieren; wir kennen sie. Sie sind wirklich ohne jeden Sachinhalt. Mir tut das wirklich leid, denn ich möchte gern mit Ihnen vernünftig diskutieren können. Es geht leider nicht. ({2}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, seitdem Kommissar Andriessen 1983 das Landwirtschaftsressort übernommen hat - und jetzt ist er Außen-Kommissar, was auch nicht gerade von Nutzen ist - und auch jetzt unter dem Agrarkommissar MacSharry, hat mit Hilfe der Mehrheit des Ministerrates - das muß man zugeben - in Brüssel eine Politik stattgefunden, die zunehmend Preissenkungen ohne Sinn und Verstand gebracht hat. Es ist eine falsche, eine unsoziale und eine dumme Politik, ({3}) die in Brüssel betrieben wird. Wenn die Kommission direkte Preissenkungen nicht hat durchsetzen können, weil das z. B. Ignaz Kiechle bei den Verhandlungen hat verhindern können, ({4}) dann hat sie Wege gesucht, um durch die Hintertür mittels verschiedener Maßnahmen wie Ausschreibungsverfahren bei der Intervention, Zahlungsziel, Ankaufspreissenkung, Senkung der Höchstfeuchtigkeit, Verminderung der Verwertungsprämien etc. die Preissenkungen doch noch durchzuführen. Das heißt, sie hat sich dann letztlich doch durchgesetzt. ({5}) Das tollste Stück dieser Politik ist die Einführung der Mitverantwortungsabgabe für Getreide und Milch. Hier wird von den Bauern eine Sondersteuer für die Europäische Gemeinschaft verlangt, die meiner Meinung nach überhaupt nicht durch die Verträge von Rom abgedeckt ist. Wir klagen jedenfalls gegen diese Abgabe vor dem EuGH. Auch die Stabilisatoren-Gesetze vom 12. Februar 1988, im Ansatz richtig, mit denen man eine Mengenbegrenzung bei Getreide durchführen wollte, ({6}) sind von der Kommission absichtlich torpediert worden - ich betone: absichtlich -, damit sie ihre Preissenkungspolitik fortsetzen kann. ({7}) Ich halte dies für einen Skandal. Ich bin der Meinung, daß der nächste Gipfel in Europa der Kommission eine Rüge erteilen oder andere Konsequenzen ziehen sollte. ({8}) Zwei Jahre lang hat die Kommission die Flächenstillegung europaweit nicht durchgesetzt, nichts für die Beschränkung der Getreidesubstitute getan, nichts für eine verstärkte Getreideverfütterung getan, nichts für die Förderung nachwachsender Rohstoffe getan. Das ist der wirkliche Skandal in Brüssel. Was im GATT auf uns zukommt, ist noch schlimmer. Ich muß mich kurz fassen: Im GATT kommt auf uns zu, daß möglicherweise Teile der Abschöpfung durch Zölle ersetzt werden. Das ist für die Europäische Gemeinschaft tödlich. Was ist zu tun? Erstens. Es gibt Möglichkeiten, die 3%ige Preissenkung, insgesamt vielleicht 4 1/2- oder 5%ige Preissenkung, die von der Kommission vorgesehen ist, durch verschiedene Maßnahmen zu verhindern - MVA, Zahlungsziel, Ankaufspreis. Die holländische Kommission hat sogar herausgefunden, daß man eine 9%ige Preiserhöhung durchführen könnte. ({9}) Mittelfristig muß der Preis um 15 bis 25 % angehoben werden, weil sonst die deutschen und europäischen Bauern nicht mehr leben können; denn wir müssen in Europa wirtschaften, nicht irgendwo in der Welt. Wir müssen unter europäischen Kosten wirtschaften. Wir wollen eine bäuerliche Struktur der Landwirtschaft. Wir wollen unter Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen für unser gesamtes Volk wirtschaften. Das dient den Menschen der gesamten Welt, das dient auch unserer Volkswirtschaft. Es gibt überhaupt keinen vernünftigen Grund, die Politik der Kommission der Europäischen Gemeinschaft fortzusetzen. ({10}) Ganz wichtig wäre, daß man endlich die nachwachsenden Rohstoffe stärker fördert. Die Mittel in Brüssel sind vorhanden. Es fehlt nur der politische Wille in Brüssel, um diese Förderung tatsächlich effizient zu machen. Ich bin mir darüber im klaren, Ignaz Kiechle allein wird auch nicht bei allerbestem Willen gemeinsam mit seinem Staatssekretär Kittel die Dinge ausreichend beeinflussen können. Deswegen freue ich mich, daß sich Bundeskanzler Kohl schon persönlich eingeschaltet hat. ({11}) Es ist eine Sache des gesamten Kabinetts, meine Herren von der FDP, daß Kiechle hier die richtige Rückenstärkung bekommt, um eine bessere Politik in Brüssel durchzusetzen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter!

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich komme zum Schluß, Herr Präsident.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das müssen Sie.

Karl Eigen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000455, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Seit Wochen demonstrieren unsere Bauern überall in Deutschland, überall in Europa heute. Dies ist ernst zu nehmen. Das ist kein intellektuelles Spiel. Es geht um das Schicksal unserer bäuerlichen Familien, um das Schicksal ihrer Höfe. Ich hoffe, daß dies in allen Teilen unseres Hohen Hauses verstanden wird. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ewen.

Carl Ewen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000504, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als ich den Kollegen Bredehorn und Eigen zuhörte, habe ich mir spontan aufgeschrieben: Die Worte höre ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Das hängt damit zusammen, daß in diesem Hause schon oft debattiert worden ist und auch das, was Sie verlangt haben, schon oft gesagt worden ist. Nur habe ich bisher nicht merken können, daß Sie auch Maßnahmen ergriffen haben, um dies durchsetzen zu können. ({0}) Wenn ich hier heute als erster Nichtlandwirt spreche - nachher kommen ja noch andere -, dann tue ich das auch aus Solidarität mit den Frauen, Männern und Kindern auf den Höfen, die heute in großer Sorge um die Zukunft leben. ({1}) Seit Wochen demonstrieren Landwirte an der deutsch-niederländischen und an der deutsch-dänischen Grenze gegen die Preissenkungspolitik der EG. Wer regelmäßig seit vielen Jahren die Entwicklung auf den Höfen beobachtet, weiß, daß es zwischenzeitlich immer wieder Phasen gegeben hat, in denen junge Landwirte keine Chance gesehen haben, für sich und ihre Familien ein ausreichendes Einkommen zu erwirtschaften. ({2}) Gerade die tüchtigsten, die am besten ausgebildeten Landwirte haben danach getrachtet, neue Wege zu beschreiten. Ein Weg war, Qualitätsweizen auf den Marschböden des Küstengebiets zu produzieren. Sowohl die Erntemengen als auch die Qualität der Erzeugnisse waren gut und ließen bis 1985 Gewinne zu. Seit 1986 sinken die Preise: Wurden noch 1986 40,96 DM erlöst, so sind es jetzt mittlerweile 35,60 DM, unter Berücksichtigung der Basismitverantwortungsabgabe sogar nur noch 34,36 DM, wie mir der Landvolkverband mitgeteilt hat. Unter diesen Bedingungen ist eine Erzeugung kostendeckend nicht mehr möglich. ({3}) Wir muten doch wohl niemandem in unserer Gesellschaft zu, zu Bedingungen zu produzieren, bei denen nicht einmal die Selbstkosten gedeckt werden. Von daher haben wir es hier mit einer Berufsgruppe zu tun, die auch durch staatliche Maßnahmen, durch EG- Maßnahmen in die Situation kommt, daß nicht mehr individuelle Tüchtigkeit gilt, sondern der Wettbewerb über Subventionen, und dem müssen wir widerstehen. Wer die Verluste einmal ausrechnet, der stellt fest, daß die Produktionskosten, wenn ein Betrieb pacht- und schuldenfrei ist, bei 38,50 DM pro Dezitonne liegen. Einen solchen Betrieb gibt es aber nicht. Wenn die Bodenpreise im Keller sind und damit die Kreditfähigkeit eingeschränkt ist, auf der anderen Seite für Zwischenkredite bis zur Ernte 11,5 % Zinsen verlangt werden, dann ist für jeden Laien erkennbar, daß unter diesen Umständen nicht gewirtschaftet werden kann. Dieser Substanzverzehr führt zur Vernichtung bäuerlicher Existenzen. Schätzungen machen deutlich, daß wir damit rechnen müssen, daß in den nächsten zehn Jahren mehr als 50 % der Betriebe aufgeben werden müssen. Wer danach fragt, ob nicht ein Nebenerwerb eingerichtet werden kann, der stellt schnell fest, daß gewerbliche Arbeitsplätze in den Küstengebieten kaum angeboten werden können. ({4}) Wer im Fremdenverkehr einen Ausweg sieht, der muß wissen, daß erst einmal die Investitionsmittel vorhanden sein müssen, um überhaupt umsteigen zu können. Bei der jetzigen Situation fehlt es auch daran. Notwendig ist, daß die Bundesregierung ein Soforthilfeprogramm für spezialisierte Getreidebauregionen einführt. Als Abgrenzungskriterien wären etwa der Marktfruchtspezialbetrieb mit extensiver Fruchtfolge ohne Hackfrüchte bzw. das sogenannte Tide-Einzugsgebiet gemäß der Lastenausgleichsgesetzregelung vorstellbar; denn wir müssen den Anschluß finden, bis andere Maßnahmen, die hier heute verlangt worden sind, überhaupt greifen können. ({5}) - Da ziehen wir mit. Ich habe hier heute für mich und für meine Fraktion zu reden. Ich glaube, das ist eindeutig. ({6}) Ohne Soforthilfe können wir nicht überleben. Die Bauern wären nicht hier, wenn die Not nicht so groß wäre, wie sie ist. Lassen Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, im Parlament und in der Regierung, nicht einen ganzen Berufsstand vor die Hunde gehen. Wir brauchen eine neue Agrarpolitik. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heinrich.

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Die Situation hat mein Kollege Bredehorn sehr gut beschrieben und sehr eindrucksvoll hier dargebracht. Ich möchte ein paar Zahlen nennen, die zu dieser Situation geführt haben. Wir haben im vergangenen Jahr 36 Millionen Tonnen Getreide mehr produziert, als über den Verbrauch, über Nahrungsmittel oder über den Futtertrog abzusetzen war. Zur Zeit liegen noch 13 Millionen Tonnen Getreide in den Lägern. Die Ernteschätzung für 1990 beläuft sich auf 170 Millionen Tonnen. Was das heißt, kann jeder, der hier im Raum ist, ermessen. ({0}) Produktionsreserven sind noch in sehr starkem Umfang in Frankreich, insbesondere aber in Spanien vorhanden. Dort hat man bei weitem noch nicht die Produktionsintensität erreicht, die wir haben. Verbrauchssteigerung: 0,5 %, Produktionssteigerung: 2 bis 3 % - das ist der Hintergrund, vor dem wir heute diskutieren. Gleichzeitig wurden produktionsmindernde Maßnahmen im Rahmen des sogenannten Stabilisatorenpakets in Brüssel beschlossen, aber nicht durchgeführt, meine Damen und Herren. Die Solidarität unter den europäischen Staaten ist sehr schlecht. ({1}) Wenn ein Beschluß, der im Europäischen Rat gefaßt worden ist, von den nationalen Regierungen nicht befolgt und nicht ausgeführt wird, dann kann ich nur von einer sehr schlechten Solidarität sprechen. Ich füge dies hinzu. Das Beispiel Frankreich macht es deutlich: Frankreich nimmt so gut wie nicht an der Flächenstillegung teil ({2}) und hat bei Getreide einen Selbstversorgungsgrad von 233 %. ({3}) Meine Damen und Herren, so sieht es doch in Wirklichkeit aus. Die Beschlüsse des Rates werden nicht befolgt. Ich möchte diese Gelegenheit heute wahrnehmen, Minister Kiechle den Rücken zu stärken, um es ihm im Rat in Brüssel zu ermöglichen, sich zum ersten mit einer vernünftigen Preisgestaltung durchzusetzen. Zum zweiten aber kann der Rat seiner Verantwortung in der Zukunft nur gerecht werden, wenn das gesamte Stabilisatorenkonzept in allen Staaten angewendet wird. Herr Minister Kiechle, ich fordere Sie hier nachdrücklich auf : ({4}) Nehmen Sie nichts zurück, sondern versuchen Sie, so hart wie möglich zu verhandeln. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ein Maßnahmenpaket haben wir ja auf den Tisch gelegt. Das Marktgleichgewicht ist eine der zentralen Fragen im Getreidesektor. Das Beispiel Milch zeigt uns doch, daß mit einem Marktgleichgewicht eine erfolgreiche Politik und eine erfolgreiche Preispolitik gestaltet werden kann. ({5}) Die Mengen müssen reduziert werden, wenn das Marktgleichgewicht nicht erreicht ist. Hier sind Flächenstillegungen und Extensivierung erforderlich. Hier muß das Getreide in den Futtertrog umgelenkt werden. ({6}) Die Industrierohstoffe und die nachwachsenden Rohstoffe müssen eine stärkere Bedeutung bekommen. Die Kommission muß mit dazu verhelfen, daß hier endlich ein Durchbruch stattfinden kann. Das ist das Konzept, das wir verfolgen. Ich bin auch von seiten meiner Fraktion nicht bereit, zu akzeptieren, daß wir in der Bundesrepublik andauernd nur bezahlen sollen. Wir bezahlen einmal die Hauptlast der Marktordnungskosten von 6,5 Milliarden DM, die der Getreidemarkt erfordert. Wir bezahlen natürlich auch über Flächenstillegungen und Extensivierung einen großen Beitrag, weit mehr als andere. Jetzt zum Schluß werden wir wohl auf Grund der Tatsache, daß andere Staaten sich nicht so verhalten wie die Bundesrepublik Deutschland und daß unsere Betriebe vor dem Existenzruin stehen, auch noch direkte Einkommensübertragungen finanzieren müssen, um die schlimmsten Folgen zu verhindern, meine Kolleginnen und Kollegen. ({7}) Das ist keine Politik, die wir auf Dauer mitmachen. Das können wir auf Dauer, auch vor dem Steuerzahler, überhaupt nicht mehr vertreten. Zum Schluß lassen Sie mich noch ein Wort zu den GATT-Verhandlungen sagen. Unsere Verhandlungsposition im GATT - uns muß sehr viel daran gelegen sein, daß sie möglichst gut ist - ist natürlich nur gut, wenn wir ein schlüssiges Konzept für eine Mengen16128 reduzierung vorlegen können, das auch durchgeführt worden ist. Das ist doch das Entscheidende. Preissenkungen in den GATT-Verhandlungen vorzulegen läßt unsere Verhandlungspartner kalt. So etwas bewegt überhaupt nichts. Hier muß vielmehr eine vollzogene Mengenreduzierung und damit eine Reduzierung der Exporterstattung vorgewiesen werden. Dann haben wir auch im GATT eine entsprechende Chance, unsere berechtigten Interessen besser durchzusetzen. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat noch einmal Herr Abgeordneter Kreuzeder.

Matthias Kreuzeder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001213, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Hier wird so getan, als wäre die Flächenstillegung so unabdingbar wie der Sonnenaufgang. Könnte es sein, daß die anderen Mitgliedstaaten gemerkt haben, daß Flächenstillegung nichts bringt? Könnte es sein, daß sie ein bißchen weiter als über ihre eigene Haustür hinaus denken, daß sie sehen, daß die Weltbevölkerung explodiert, daß täglich 40 000 Kinder verhungern und daß Flächenstillegung ein Schwachsinn ist? Könnte das sein? ({0}) Das zweite Märchen ist das von den nachwachsenden Rohstoffen. Kennen Sie die Studien über nachwachsende Rohstoffe, die besagen, daß die Energiebilanz, nach allen Schattierungen hin ausgerechnet, negativ ist, daß die Energie, die hineingesteckt wird, aus anderen Bereichen gewonnen wird, wo sie umweltschädlich ist? Die dritte Märchenerzählung Ihrer Fraktion, betrifft die Hofnachfolger, die es nicht gibt, die aber, gäbe es sie, den Strukturwandel bewirken könnten. Kennen Sie junge Menschen, Frau oder Mann, die 70 Stunden pro Woche arbeiten wollen für eine Entschädigung, die unter dem Sozialhilfesatz liegt? Ändern Sie Ihre Politik, damit man in der Landwirtschaft wieder von der Arbeit leben kann, von einer natürlichen Arbeit, die die Umwelt verträgt. Dann brauchen wir diesen ganzen Schwachsinn nicht, den Sie mit der EG-Kommission hier durchgezogen haben. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Michels.

Meinolf Michels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001502, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Kreuzeder, wenn Sie die Rede, die Sie heute hier gehalten haben, vor den Landwirten in Schleswig-Holstein oder in Niedersachsen halten würden, dann würden Sie merken, was diese von dieser Art Ihrer Betrachtung wirklich halten. ({0}) - Sie würden es dann schon merken. Meine Damen und Herren, wenn Landwirte in dieser Jahreszeit mit ihren Schleppern für Tage ihre Höfe verlassen und hierherfahren, um letztlich darauf hinzuweisen, wie es um ihre Existenz bestellt ist, dann ist das nicht etwas, was man so nebenbei macht. Das ist vielmehr Ausdruck einer ganz ernsten und ernstzunehmenden Situation. Diese Situation hat ihre Ursachen, die heute hier schon in Kürze dargestellt wurden. Man muß wissen, daß die Einkommen der getreideanbauenden Landwirte - vom Preis her gesehen - während der letzten sechs Jahre um ca. 30 % zurückgegangen sind. 30 % ! Stellen wir uns einmal vor, daß in den übrigen Einkommensbereichen bei den Löhnen und Gehältern Rückgänge in dieser Größenordnung zu verschmerzen wären. Es geht auch nicht nur um die Frage der Struktur. Wenn es nur die wäre, wie jahrelang immer wieder betont wurde, dann würden sich Betriebe mit entsprechend optimaler Ausstattung an Bodengüte und Größe heute nicht in solchen Schwierigkeiten befinden. Nein, es geht einzig und allein um die unserer Meinung nach falsche Verhaltensweise der Kommission. Die Stabilisatoren haben zwei Aspekte. Der eine Aspekt betrifft zunächst die Mengenbegrenzung; dafür sind verschiedene Bereiche aufgeführt; sie wurden hier auch angesprochen. Die Kommission hat in Wirklichkeit nichts, aber auch gar nichts getan, um diese Forderung kontrolliert für alle Länder in die Tat umzusetzen. Außer in der Bundesrepublik ist bei Flächenstillegungen kaum etwas gelaufen. Auf der anderen Seite gibt es sehr kluge Leute, die uns auch oft ermahnen wollen, indem sie sagen, wir müßten mit dem großen Weltmarkt leben, und wir wollten dies ja auch, weil wir davon leben. Vor wenigen Wochen kam aus derselben Ecke entsprechendes Angstgeschrei, und zwar deshalb, weil zu viele japanische Autos auf den europäischen Markt kommen würden. Dabei wird mit unterschiedlicher Elle gemessen. Meine Damen und Herren, wir würden in Europa mit überschüssigem Getreide überhaupt kein Problem haben, wenn wir nicht die gleiche Menge an Substituten hier bei uns hereinnehmen müßten. Wir haben 30 Millionen Tonnen Getreide zuviel, und gleichzeitig kommen 30 Millionen Tonnen Ersatzfutter oder Substitute hier in den europäischen Häfen an. Hier eröffnet sich eine gute Möglichkeit. Man müßte bei der Verfütterung auf Substitute mehr und mehr verzichten und Getreide in die Futtertröge hineinbringen. Der industrielle Bedarf wird oft als überhaupt noch nicht entsprechend rechnerisch vergleichbar hingestellt. Meine Damen und Herren, der Ölpreis wird nicht von uns festgesetzt, sondern von den Ölscheichs in den entsprechenden Ländern. Wenn diese den Ölhahn zudrehen und der Preis nach oben geht, dann werden alle darauf warten, daß wir endlich Ersatzenergie zur Verfügung stellen. Deshalb ist ein Schritt, der merklich eine Beimischung zur Folge hat, längst überfällig. Dieser muß in ganz Europa getan werden. Lassen Sie mich noch etwas zum GATT sagen. Wenn Amerika hier mit großen Mengen auf unseren Markt will, dann frage ich mich: Können wir auch auf den amerikanischen Markt? Das können wir nicht. ({1}) Deshalb sollten die GATT-Verhandlungen auch unter diesem Aspekt gesehen werden. Ein Land, welches mehr produziert, als es selbst gebrauchen kann, kann nicht noch unbegrenzt zusätzliche Mengen aufnehmen. Dies führt zu Störungen, die letztendlich insgesamt von der Bevölkerung nicht verkraftet werden können. Schönen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Pfuhl.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich gefragt, was Sie geritten hat, heute diese Aktuelle Stunde vom Zaune zu brechen, da Sie doch genau wissen, daß Sie im Glashaus sitzen, Herr Kollege Susset. Aber anscheinend sind Ihnen die Demonstrationen da draußen doch an die Nieren gegangen, und Sie meinten, Sie könnten sich bei einer so schlecht besuchten Plenarsitzung hier über all die Dinge hinwegsetzen und sich für das entschuldigen, was Sie in der Agrarpolitik in der letzten Zeit kaputtgemacht haben. ({0}) Meine Damen und Herren, ich habe mich gewundert, als ich hörte, daß der Kollege Eigen den bösen Buben wieder bei der EG-Kommission sucht und darauf hinweist, ({1}) was die Bundesregierung alles an Positivem wolle. Im übrigen, Herr Kollege Eigen: Wenn die Kommission und vor allem die deutschen Kommissionsmitglieder nicht dem entsprechen, was Sie wollen, dann sorgen Sie dafür, daß sie abberufen werden. Das ist das Problem. ({2}) Sie können hier nicht auf der einen Seite die Kommission anklagen und auf der anderen Seite selbst keine personalpolitischen Entscheidungen fällen, die darauf gerichtet sind, der Agrarpolitik zu helfen. Das ist das eine. Meine Damen und Herren: Ich meine, diese Debatte, die Sie heute hier führen, hat eine Alibifunktion. ({3}) Wenn ich sehe, wie wenige von Ihnen trotz der Tatsache, was draußen vorgeht, anwesend sind, dann frage ich mich: Entspricht die allgemeine Politik der Fraktionen dieser Koalition dem, was Sie hier zur Agrarpolitik vortragen? Ich bezweifle dies. ({4}) Fest steht eines, meine Damen und Herren: Der Getreidemarkt ist nicht in Ordnung. Ein hoher Selbstversorgungsgrad und der weiter anhaltende technische Fortschritt werden uns noch länger beschäftigen. Es zeigt sich immer deutlicher, daß das Gesamtpaket, das 1988 unter deutscher Präsidentschaft, unter Bundeskanzler Kohl und Minister Kiechle verabschiedet wurde, der Agrarsituation nicht gerecht geworden ist. ({5}) Dies haben wir Ihnen vor zwei Jahren gesagt. ({6}) Sie haben es ja nicht geglaubt. ({7}) Während das Stabilisatorenkonzept mit automatischen Preissenkungen beim Vorliegen bestimmter Bedingungen greift, wirken die sogenannten flankierenden mengenbegrenzenden Maßnahmen nicht. ({8}) Die Flächenstillegung und die Extensivierung werden in den meisten Mitgliedstaaten nach wie vor nur schleppend angewendet. ({9}) Ich gebe zu - das haben wir immer beklagt -, daß wir wieder die Preußen waren, die hundertprozentig ihre Pflicht erfüllt haben, während auf der anderen Seite die Kommission nicht dafür gesorgt hat, daß es auch in den anderen Ländern durchgeführt wurde. ({10}) Aber auch Herr Bangemann und der andere deutsche Kommissar haben nicht dafür gesorgt, daß hier gleiche Verhältnisse in der EG geschaffen wurden. ({11}) - Eigen [CDU/CSU]: Wie heißt denn der?) - Schmidbauer, wenn ich nicht irre, Herr Kollege. Schmidbauer heißt er. Er kommt aus Bayern und scheint von der CSU zu sein. ({12}) - Ja. Es ist nicht nur Herr Bangemann. Ich weiß, ich weiß. ({13}) - Auf dem einen Fuß „Bangemann" hören Sie schlecht. ({14}) - Heißt der nicht Schmidbauer? ({15}) - Sehen Sie, so schlimm ist das; man weiß noch nicht einmal, wie die Brüder alle heißen. ({16}) Der Anbau nachwachsender Rohstoffe, den auch Herr Michels soeben gefordert hat, ist kein Allheilmittel. ({17}) Ökonomische und ökologische Bedingungen werden bisher nicht ausreichend erfüllt. Gesundreden in diesem Bereich und das Aufbauen von Hoffnungen, wie von der Regierung unternommen, helfen uns nicht weiter. ({18}) Ich glaube, die diesjährigen Preisverhandlungen zeigen, daß die Beschlüsse, auch die in diesem Jahr zu fassenden Beschlüsse, keinen langen Bestand haben werden. Von Februar 1988 bis April 1990 ist eine sehr kurze Zeitspanne, gut zwei Jahre. Und dann schauen Sie sich einmal an, was für akrobatische Verrenkungen Sie heute machen müssen, ({19}) mit denen Sie die Beschlüsse von damals, die ja von Ihnen, vom Bundeskanzler und von Minister Kiechle, mitgefaßt wurden, heute revidieren wollen. ({20}) Das zeugt nicht von konzeptionellem Vorgehen, wirklich nicht. Nein, ich muß Ihnen sagen: Wir müssen versuchen, eine bessere, eine andere Politik zu machen. Die jetzige Politik hilft unseren Familienbetrieben nicht. ({21}) Ich befürchte, daß wir auch im nächsten oder im übernächsten Jahr wieder einen Reparaturdienst machen müssen, wenn jetzt eine Lösung herauskommt, die wieder nicht Fleisch und nicht Fisch ist. ({22}) Ich denke auch an folgendes: Ich habe heute mittag mit Kollegen aus dem irischen Parlament zu tun gehabt, die mir berichtet haben, wie schlecht es auch ihren Getreidebauern dort drüben geht, während den Milchbauern im Augenblick bei den steigenden Milchpreisen in Irland etwas mehr Luft gegeben ist. ({23}) Wie lange? Da möchte ich zweifeln. Es wird nicht allzulange dauern. Denn unsere Situation wird auch dort negativ zu Buche schlagen. ({24}) Man könnte noch vieles dazu sagen. Nur eines muß ich hier noch einmal deutlich machen. Wenn wir z. B. an die Milchquoten und die Regelungen und an das, was da gelaufen ist, denken, müssen wir feststellen, daß nicht ohne Grund die Bäuerinnen und Bauern in einigen Ländern verärgert sind, weil die Aktionen, etwa in Bayern, sehr schleppend begonnen haben und sie nicht zum Zuge gekommen sind. Nicht ohne Grund sind die Bauern in einigen Ländern deswegen verärgert; so auch in Rheinland-Pfalz, einem CDU- Land. Ich bin der Meinung, hier muß die Verwaltung, hier muß die Bundesregierung dafür sorgen, daß Maßnahmen, wenn sie schon zum Schutz z. B. der Milchbauern getroffen werden, in der ganzen Bundesrepublik gleichermaßen greifen müssen und nicht auf Grund des Windhundverfahrens einseitig nur in dem einen oder anderen Land greifen dürfen. Meine Redezeit ist um. Ich bedaure das außerordentlich. Bis zum nächsten Mal! ({25})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Pfuhl, für den Fall, daß der von Ihnen Angesprochene auf dem einen Fuß nicht gut hört: Vielleicht kann er auf dem anderen besser sehen! ({0}) Jetzt hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Wort. ({1})

Ignaz Kiechle (Minister:in)

Politiker ID: 11001091

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, es ist der Situation angemessen, ({0}) ruhig, seriös, aber auch mit einigen Vorschlägen hinsichtlich dessen zu sprechen, was im Konzert der jeweiligen jährlichen Beschlüsse zu tun ist, die ja unter Zwölfen und mit Zwölfen plus Kommission getroffen werden müssen und nicht mit Hurra und Krach und Sprüchen erreicht werden können. ({1}) Jetzt, heute nachmittag, beginnt die nächste Runde. Unsere Bauern demonstrieren - ich sage dazu, ich habe Verständnis dafür - , und sie demonstrieren gegen die Vorschläge der Kommission; das wollen wir einmal festhalten. ({2}) Ich bemühe mich jetzt - übrigens mit anderen Kollegen zusammen - , diese Vorschläge der Kommission zu revidieren oder zu korrigieren. Leider ist es so, daß sie, die Kommission - sie ist mit ziemlich viel Vollmachten ausgestattet, weil sie nämlich das Monopol des Vorschlagrechts besitzt und nur einstimmig korrigiert werden kann ({3}) - sicher hat sie dafür auch entsprechende Verantwortung - , mit ihren Vollmachten bis jetzt unbeirrt an ihrem Preissenkungskurs festhält, den sie damals in ihrem Weißbuch schon festgelegt hat. Unsere aktuelle Forderungen, die sich auf diese Runde bezieht, ist dagegen die, daß die im Stabilisatorenbeschluß von 1988 verankerte 3%ige Senkung der Interventionspreise dann, wenn 160 Millionen t europäische Getreidequote überschritten werden, an anderer Stelle ausgeglichen wird. Außerdem darf es nicht zu einer zusätzlichen Belastung der deutschen Getreideerzeuger und Bauern durch den Restabbau des deutschen Währungsabstands bei Getreide kommen. ({4}) Bis jetzt sind die Kommission und die Präsidentschaft - sie spielen hier ja jeweils zusammen - unseren Forderungen nur teilweise entgegengekommen. Wir werden also hart verhandeln müssen, und genau das werden wir auch tun. ({5}) Dabei ist es ärgerlich - es ist hier schon verschiedentlich angeklungen -, daß das Maßnahmenbündel, das ja den Stabilisatorenbeschluß, das Stabilisatorenkonzept, eigentlich ausmacht, von verbesserter Finanzierung - das wäre ja sonst auch in den Marktordnungen durch Zusammenbruch der Zahlungsfähigkeit zum Ausdruck gekommen - bis hin zu den hier genannten vier Punkten, bisher leider nicht ausgewogen greift. ({6}) Wir haben auf Freiwilligkeit gesetzt, weil eine andere, nämlich eine Zwangsmaßnahme, damals nicht durchsetzbar war. Wir haben die Ermächtigung zur Preissenkung in Höhe von 7,5 % pro Jahr auf 3 reduziert und auch sonst Verschiedenes gemacht. Aber es war eben so, daß wir heute feststellen müssen: Nicht in allen Ländern wird die Freiwilligkeit gleich praktiziert, akzeptiert - oder wie Sie wollen. Und ich mache der Kommission durchaus den Vorwurf, daß sie dafür nicht sorgt. ({7}) Sie ist sonst mit Androhung von Klagen oder Einleitung von bestimmten Verfahren schnell bei der Hand. Hier jedoch sieht sie immer nur zu und sagt: Ja, wir machen schon. Bis jetzt ist nicht viel geschehen. So wird z. B. die Flächenstillegung bisher nur in Großbritannien, Italien, Spanien und bei uns praktiziert, ({8}) wobei wir die meisten Flächen stillgelegt haben - übrigens nichts Nachteiliges, im Gegensatz zu all diesen Bemerkungen hier. In diesem Bereich haben wir wenigstens teilweise etwas erreicht. Nichts aber haben wir bei der Verfütterung von Getreide zusätzlich in den Futtermittelmischungen erreicht, und bei den nachwachsenden Rohstoffen haben wir bis jetzt nur sehr zögerliche Reaktionen, obwohl die Kommission durchaus mehr tun könnte. ({9}) Zu den Substituten kann ich jetzt nichts sagen, weil das in den Gatt-Verhandlungen zu regeln ist. Wir dürfen natürlich trotzdem nicht übersehen, meine Damen und Herren - und darin liegt das Problem -, daß in der Gemeinschaft eben nach wie vor mehr Getreide produziert als verbraucht wird. Das sind heute gegenüber dem vorhandenen Verbrauch immerhin 121 % an Produktion. Selbst wenn kein einziges Substitut hereinkäme - was zur Zeit eigentlich nicht machbar ist -, ({10}) dann wären es immer noch mehr als 100 %. Selbst wir Deutsche produzieren heute 106 %, gemessen am vorhandenen Verbrauch. ({11}) Das sind also - das ist heute schon gesagt worden - rund 30 Millionen t. Das muß weg, und das kann nur weg mit Hilfe der Marktordnungen. Das ist immerhin etwas, was wir nicht gefährden dürfen, jedenfalls nicht im Grundsatz. Diese Produktionssteigerung aber darf auch nicht weitergehen; denn sonst haben wir - heute sind es immerhin fast 10 Milliarden DM Getreidemarktkosten für ganz Europa - in wenigen Jahren noch wesentlich höhere. Dadurch wird der Druck auf die Preise ständig mehr vorprogrammiert. Ich hätte längst versucht, eine Akzeptanz für kräftigere Maßnahmen - ich will noch nicht sagen: für obligatorische - durchzusetzen. Man könnte die Mitgliedstaaten stärker einspannen, man könnte die einzelnen Bauern stärker einbinden, man kann auch das Angebot - das ist wohl das, was wir am ehesten erreichen können - zur Herausnahme von Flächen aus der Produktion - auf Zeit übrigens; das ist später wieder reversibel - erhöhen. All dies wären durchaus solche Maßnahmen. Aber man braucht dafür Mehrheiten, mindestens auch die Unterstützung der Kommission, oder Einstimmigkeit. Das ist leider nicht so schnell und so leicht herstellbar. Es gibt überzeugendere Regelungen. Ich meine, die müssen jetzt auch kommen. Es kann nicht beim Konzept der ständigen Interventionspreissenkungen bleiben. Ich erwarte von der Kommission schon so viel politisches Denken, daß sie von ihrem heutigen alleinigen Haushaltsdenken endlich zu flexiblem Gestaltungsdenken übergeht. Das bedeutet: Entweder machen alle Mitgliedstaaten freiwillig bei Flächenstillegung und Extensivierung in einem vergleichbaren Umfang mit, damit man diese Schwelle einhalten kann, oder wir lockern die Kollektivhaftung des Stabilisatorenkonzepts. ({12}) Das möchte ich hier heute deutlich sagen. Ich weiß, daß das für diese Preisrunde nicht mehr geht; da kann ich nur reparieren. Aber im nächsten Jahr können wir nicht vor derselben Situation stehen. Entweder gelten alle Teile des Stabilisatorenkonzepts, oder das belastende Element der alleinigen Preissenkung wird auch ausgesetzt. ({13}) Darauf aufbauend müssen wir für die Zukunft ein etwas besseres Mengenregulierungskonzept entwikkeln. Das ist unsere Leitlinie für das nächste Jahr. Das ist auch eine Perspektive, von der ich meine, daß, wenn wir sie für die kommende Zeit auf den Weg bringen, unsere Bauern erkennen, daß wir uns für sie nicht mit Sprüchen und Sprücheklopfen einsetzen, sondern daß wir sehr wohl für sie kämpfen. Ich versichere noch einmal: Ich weiß wohl, wie schwer es in den nächsten Tagen - und ich fürchte: auch in den Nächten - sein wird, zu verhandeln und vor allem diese Konzeption der Kommission jetzt langsam zu drehen. Ich werde jede Möglichkeit nutzen, um dieses Ziel zu erreichen. Ich bin dankbar dafür, daß mich die Mehrheit im Deutschen Bundestag, im Bundesrat und im Europäischen Parlament auch unterstützt. ({14}) Ich bin ganz besonders dem Herrn Bundeskanzler und dem Bundeskabinett dankbar, die mir heute gesagt haben, daß ich mit voller Rückendeckung in dieser Richtung verhandeln darf. ({15}) Meine Damen und Herren, ich weiß, daß es eine schwierige Entwicklung ist. Sie hat viele Gründe. Ich will - das ist auch eine Zeitfrage - nicht mehr auf das eingehen, was Diskussionsredner hier gesagt haben. Ich denke, die Öffentlichkeit wird sehr wohl erkennen, was Stammtischsprüche und was Bemühungen sind, jemandem, nämlich unseren Getreidebauern, zu helfen. ({16}) - Lassen Sie die Bauern doch ruhig selbst entscheiden. Ich weiß, Sie sind eine besonders charmante Dame. Sie werden das sicherlich in der richtigen Form zum Tragen bringen können. Ihnen, Herr Kreuzeder, muß ich nur noch eines sagen. ({17}) Sie stellen sich hier hin und polemisieren gegen die Stillegung der Produktion auf der Fläche. Sie tun auch gleich so, als ob die nie wieder rückgängig gemacht werden könnte, was ja überhaupt nicht wahr ist. Ihnen müßte ja eigentlich der Grundgedanke der Brache, den Ihre Urgroßväter einmal, ohne unterstützt zu werden, durchgeführt haben, ({18}) nicht so fremd sein, daß Sie sich hier hinstellen und von „Schwachsinn" reden. Ich möchte nur sagen: Darüber, wer hier Schwachsinn redet, lassen wir ruhig die Bauern selbst entscheiden. ({19})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Müller ({0}).

Rudolf Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001565, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe dieser Debatte jetzt sehr aufmerksam zugehört und muß sagen: Wenn ich das werte, was vor allem von der Seite der CDU/CSU gesagt worden ist, verstehe ich, daß die Landwirte Angst haben, ({0}) nämlich Angst, daß die Politik, wie sie bisher betrieben worden ist, weitergeführt wird, daß es weitergeht mit den Preissenkungen. Das geht gegen ihre Existenz. Das wissen wir. Selbst der beste Bauernhof wird das nicht aushalten, wenn 1990 wiederum eine solche Preissenkung auf dem Getreidesektor kommt. ({1}) Wir haben auch nichts davon gehört, daß sie etwas an flankierenden Hilfen erwarten könnten. Sie fühlen sich natürlich von der Bundesregierung im Stich gelassen, deswegen demonstrieren sie auch, und das ist ihr gutes Recht. Die Zukunftsangst treibt die Bauern auf die Straße. ({2}) Die CDU/CSU fürchtet jetzt natürlich, daß sich dieser Unmut der Bauern bei den zukünftigen Wahlen niederschlagen könnte. Das ist mit ein entscheidender Grund für diese Aktuelle Stunde heute; ({3}) deswegen auch der Versuch, die Unzufriedenheit der Bauern auf die EG zu verlagern und den Schwarzen Peter Brüssel zuzuschieben. ({4}) Das war doch heute, ganz kurz gesagt, der Inhalt aller Ihrer Reden, ({5}) nach dem Motto: Wir würden ja gern hier in der Bundesrepublik etwas ändern, wenn uns die bösen Brüsselianer nur ließen. Darüber, daß Sie zwei Kommissare dort sitzen haben, fiel auch kein Wort. ({6}) Sie tun so, als müßten wir uns dem Brüsseler Diktat beugen, Sie tun so, als wären Sie nirgendwo dabei gewesen, als wären Sie hier eine untergeordnete Stelle von Brüssel und hätten selber nichts damit zu tun gehabt. ({7}) Ich füge hinzu: Es ist unverantwortlich, daß man hier so handelt, weil man nämlich die EG bei uns noch mehr in Mißkredit bringt und weil die EG-Verdrossenheit zunimmt. ({8}) Müller ({9}) Es ist aber auch deswegen falsch, weil in Brüssel heute nichts geschieht, was nicht von der Bundesregierung mit beschlossen wurde oder zumindest vorgeschlagen worden ist. ({10}) Wenn Sie nachlesen, was der Deutsche Bauernverband in seiner Dokumentation zur jetzigen Demonstration der Bauern sagt, dann sehen Sie, daß das auch mit darin steht. ({11}) Garantiemengen, Stabilisatoren, Flächenstillegung, das kommt doch alles mit von Ihnen. ({12}) Wir haben Sie doch gewarnt. Wir haben doch vorausgesagt, was hier kommen wird. Wenn Sie heute sagen, die demonstrieren gegen die Vorschläge von Brüssel, dann ist das, was heute von Brüssel aus geschieht, nichts anderes als eine Folge der Maßnahmen, die Sie mit unterstützt haben. ({13}) Ich füge hinzu: Eine gute Bundesregierung, Herr Kollege Eigen, sollte vorher die Folgen bedenken, die so eine Maßnahme mit sich bringt. ({14}) Wir haben Ihnen die Folgen immer aufgezeichnet. Leider haben Sie sie nicht zur Kenntnis genommen. Die Folgen sind: Unsere Landwirte haben bei der Flächenstillegung Marktanteile verloren und müssen jetzt die Preissenkungen, einschließlich Mitverantwortungsabgabe, noch mit bezahlen. ({15}) Vieles, was die Lage der Landwirte hätte verbessern können, ist in Brüssel von Ihnen mit verspielt worden, vom Währungsausgleich über die Milchquotenregelung bis zur Flächenstillegung. ({16}) Wenn ich dann heute höre, das sei eine Provokation, das könne nicht mehr so hingenommen werden, oder Sie wollten Vorschläge von uns, so muß ich sagen: Zu allen Punkten haben wir Ihnen Vorschläge gemacht. Nur haben Sie sie leider nicht übernommen. ({17}) Den Bauern ginge es heute besser, wenn Sie einiges davon berücksichtigt hätten. ({18}) Deswegen hören Sie auf, anderen die Schuld anzulasten! Sie sind für die Misere in der Landwirtschaft mitverantwortlich, und zwar die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien. ({19})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Bayha.

Richard Bayha (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000120, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn ich Mitglied der Opposition wäre und Pfuhl oder Müller hieße, ({0}) dann würde ich wahrscheinlich auch heute, ein paar Tage vor Wahlen, den Versuch unternehmen, der hiesigen Regierung die Schuld für alles zuzuschieben. ({1}) Daß dies falsch ist, wissen beide Herren natürlich ganz genau, denn die wahre Adresse ist in der Tat Brüssel. Es sind ja zwölf Länder, die agrarpolitisch mitreden, und es sind nicht nur zwei Kommissare. Wie die Abstimmungsverhältnisse, die Meinungsbildung, die Willensbildung in der Kommission sind, das wissen Sie beide natürlich auch genauso wie ich. Deshalb möchte ich versuchen, mich sachlich an die Adresse der Kommission in Brüssel zu wenden, und dies in einigen wenigen Punkten: Erster Punkt. Mittel- und langfristig hat die bäuerliche Landwirtschaft in der Europäischen Gemeinschaft in einer ansonsten marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftswelt nur eine Zukunft, wenn die Agrarpolitik wieder stärker als bisher an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ausgerichtet wird. Zu diesen Prinzipien gehört in dem ganz konkreten Fall, über den wir heute diskutieren, aber nicht nur Preisdruck, sondern auch Preisschutz, und zwar ganz besonders dann, wenn der Weltmarkt in diesem Bereich durch Dumping-Preise weitgehend verfälscht ist. Zweiter Punkt. Die Herstellung des Gleichgewichts auf den EG-Agrarmärkten ist vor dem Hintergrund gesättigter Binnen- und Außenmärkte und kurzfristig kaum gegebener Absatzchancen im Non-food-Bereich - das müssen wir leider zur Kenntnis nehmen - nur über den Abbau von Produktionskapazitäten möglich. Ich wünsche mir sehr, daß diese Erkenntnis, die eigentlich ganz simpel ist und die wir von diesem Hause aus und die unsere Regierung der Kommission seit Jahren zu vermitteln versucht, in Brüssel auch endlich einmal Platz greift. Dritter Punkt. Die rückläufigen Preise der letzten Jahre haben nicht zu einer Verringerung der Überschüsse geführt. Dies ist nicht nur auf anhaltende Produktivitätszuwächse, sondern auch darauf zurückzuführen, daß es einer Reihe von Ländern mit schwächeren Währungen möglich war, ihre nationalen Preise durch Anpassung der grünen Paritäten kräftig anzuheben. ({2}) Auf Grund der extremen Strukturdisparität und der daraus resultierenden Einkommensunterschiede innerhalb der EG ist aus sozialen Gründen die Herstellung des Marktgleichgewichts über eine noch so restriktive Preispolitik, wie sie in den vergangenen Jahren von Brüssel betrieben wurde, politisch kurz- und mittelfristig nicht möglich, insbesondere nicht in den Hartwährungsländern. ({3}) - Ja. Vierter Punkt. Auch eine weitere Quotierung in anderen Produktionsbereichen löst die Probleme nicht, sondern verschärft sie. Die vorrangige Herstellung des Marktgleichgewichts setzt damit aber kurz- und mittelfristig einen subventionierten Kapazitätsabbau voraus. Es ist eigentlich bedauerlich, daß diese Komponente des Beschlusses, der am 12. Februar 1988 unter großem Einsatz auch unseres Bundeskanzlers herbeigeführt wurde, von Brüssel bisher schlicht mißachtet wurde. ({4}) Ich sage, an die Brüsseler gerichtet, auch klipp und klar: Die Kommission muß in bezug auf diese Punkte jetzt endlich einmal eine Bilanz vorlegen. Es kann kein seitens der Bundesrepublik weiteres Ja zu einseitigen Belastungen geben. ({5}) Fünfter Punkt. Wenn es darum geht, in diesem Sinne in der EG in den nächsten Jahren auf Vertragsbasis Ackerflächen aus der Produktion zu nehmen, kann dies nicht auf das Gebiet der Bundesrepublik beschränkt bleiben. Entsprechende Quoten sind auf alle EG-Mitgliedsländer gleichermaßen zu verteilen. Ansonsten müssen diese Maßnahmen natürlich auch ökologisch und ökonomisch sinnvoll sein, und sie müssen auch dem Naturschutz Rechnung tragen. Sechster Punkt. Dieser innergemeinschaftliche Kapazitätsabbau hätte, wenn er vorgenommen würde, auch eine wesentliche Entlastung der Weltagrarmärkte zur Folge. In den GATT-Verhandlungen ist deshalb sicherzustellen, daß diese Entlastungswirkung am Weltmarkt nicht durch subventionierte Exporte anderer Nationen unterlaufen wird, sondern von einem gleichzeitigen Protektionsabbau in diesen Ländern begleitet wird. Nur so, meine Damen und Herren, kann die Erhaltung einer bäuerlich strukturierten Landwirtschaft in der EG gewährleistet werden. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist zu Ende. Ich möchte noch einige Mitteilungen machen. Dies ist die erste Gelegenheit, dem Bundeskanzler nachträglich zum Geburtstag zu gratulieren. Er hat am 3. April seinen 60. Geburtstag gehabt. Ich glaube, ich darf in Ihrer aller Namen für das ganze Haus nachträglich herzlich gratulieren. ({0}) Frau Kollegin Augustin hat am 24. April ebenfalls ihren 60. Geburtstag gehabt. Auch ihr gelten die besten Wünsche des Hauses. ({1}) Jetzt wird es amtlicher. Aus dem Vermittlungsausschuß nach Art. 77 Abs. 2 des Grundgesetzes ist der ehemalige Kollege Dr. Kreile als ordentliches Mitglied ausgeschieden. Die CDU/CSU-Fraktion schlägt Herrn Abgeordneten Scheu, der bisher stellvertretendes Mitglied war, nunmehr als ordentliches Mitglied und Herrn Abgeordneten Kraus als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß vor. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch. Damit sind die Kollegen Scheu als ordentliches Mitglied und Kraus als stellvertretendes Mitglied im Vermittlungsausschuß bestimmt. Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist die verbundene Tagesordnung umgestellt bzw. ergänzt worden. Die Einzelheiten sind Ihnen mit einer amtlichen Mitteilung am 24. April 1990 bekanntgemacht worden. Die Zusatzpunkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt: 1. Aktuelle Stunde: Aktuelle Lage der Landwirtschaft - Preissenkungspolitik der EG-Kommission im Agrarsektor 2. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Vertrag vom 1. Dezember 1987 über die wasserwirtschaftliche Zusammenarbeit im Einzugsgebiet der Donau - Drucksache 11/6943 -3. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu militärischen Flugübungen über bewohntem Gebiet Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe nun Punkt 13 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige ({2}) - Drucksache 11/4528 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({3}) - Drucksache 11/6949 Berichterstatter: Abgeordnete Funke Dr. Langner Dr. Stark ({4}) Dr. de With ({5}) b) Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({6}) zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. de With, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein ({7}), Dr. Pick, Reschke, Schmidt ({8}), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Vizepräsident Westphal Beistand und mehr Rechte für geistig behinderte und psychisch kranke Menschen - Drucksachen 11/669, 11/6949 Berichterstatter: Abgeordnete Geis Dr. de With Hierzu liegen Änderungs- und Entschließungsanträge der Fraktion der SPD, der Fraktion der GRÜNEN sowie der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP auf den Drucksachen 11/6962 bis 11/6966, 11/6969 und 11/6973, 11/6975 sowie 11/6983 vor. Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der beiden Vorlagen 90 Minuten vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stark ({9}).

Dr. Anton Stark (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002217, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Was wir hier heute unter dem Namen „Betreuungsgesetz" verabschieden, ist eines der wichtigsten und bedeutendsten rechtspolitischen Vorhaben - meines Erachtens nicht nur dieser Legislaturperiode, sondern der letzten acht Jahre, also der Zeit, in der diese Koalition die Regierung bildet. Von dem Betreuungsgesetz, das die bisherigen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches, des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit und anderer Gesetze über die Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft für volljährige Mitbürger, die psychisch krank oder körperlich oder seelisch behindert sind, völlig neu regelt, werden schon heute Hunderttausende von Mitbürgern betroffen. Auf Grund des steigenden durchschnittlichen Lebensalters werden es in Zukunft noch mehr sein. Die Bedeutung des Gesetzes kommt schließlich auch dadurch zum Ausdruck, daß theoretisch jeder Bürger von diesem Gesetz betroffen werden kann. Erkannt ist dies zwar in der Fachwelt und unter den Betroffenen, aber, wie wir auch an der Teilnahme an der heutigen Plenarsitzung sehen, noch nicht von allen Abgeordneten und nicht von der sogenannten Öffentlichkeit. Das sollte uns aber nicht daran hindern, dieses wichtige Gesetz zu beraten und zu verabschieden. Der Kern der bisherigen Vorschriften über Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft stammt aus dem 19. Jahrhundert, das bisherige Entmündigungsrecht im wesentlichen aus dem Jahre 1877. Begriffe, Sprache, materieller Inhalt und auch die verfahrensrechtlichen Regelungen auf diesem Rechtsgebiet entsprechen nicht mehr dem Menschenbild des Grundgesetzes, dem gewandelten Selbstbewußtsein der psychisch kranken oder altersbehinderten Mitbürger und auch nicht mehr dem Bewußtsein unserer Gesellschaft, die heute erfreulicherweise eine andere Einstellung zum psychisch kranken oder körperlich, geistig oder seelisch behinderten Mitbürger hat als noch vor vierzig, fünfzig, sechzig oder hundert Jahren. Wir wissen und anerkennen heute, daß auch der behinderte oder altersgeschwächte Mensch eine eigene Würde im Sinne des Art. 1 unseres Grundgesetzes hat. Bei der Neuregelung des Vormundschaftsrechts muß die Menschenwürde der Betroffenen sowohl was die Sprache wie was den materiellen Inhalt wie was die verfahrensrechtlichen Regelungen für die notwendigen Entscheidungen, die in diesem Zusammenhang nach wie vor getroffen werden müssen, betrifft, gewahrt werden. Der behinderte Mitbürger soll in Zukunft nicht mehr lediglich als Objekt staatlicher Fürsorge, Verwaltung oder leider manchmal auch Verwahrung angesehen werden dürfen, was in vielen Fällen zur Abgrenzung, Ausgrenzung und Isolation des behinderten und älteren Menschen geführt hat. Auch der behinderte Mensch muß in seiner Menschenwürde ernst genommen, und sein verbliebener Wille und seine noch vorhandenen Fähigkeiten müssen - trotz aller Erkrankung oder Behinderung - statt übergangen oder gar ausgeschaltet, besonders geachtet und gefördert werden. Aus diesem Grund wird mit dem neuen Gesetz die bisherige Entmündigung, die mit einem automatischen Verlust der Geschäftsfähigkeit des Behinderten verbunden war, völlig abgeschafft. Die Entmündigung und bis vor nicht allzu langer Zeit ihre Verkündung - man höre und staune - in einem Amtsblatt - oft war das Amtsblatt mit dem Heimatblatt verbunden - führten zu einer unnötigen Diskriminierung und Stigmatisierung der Betroffenen. Diskriminierende Begriffe wie „der zu Entmündigende", „Mündel", „Pflegling" - oft für 80- oder 85jährige Menschen - gibt es in Zukunft nicht mehr. Wie sieht nun die Neuregelung aus? Kernpunkt der Neuregelung ist die Einführung des flexiblen Rechtsinstituts Betreuung, das an die Stelle der bisherigen Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft tritt. Über den Namen haben wir uns in den Beratungen, auch in der Anhörung, lange unterhalten. „Betreuung", „Sachwalterschaft" - „Sachwalter" heißt es bei den Österreichern - oder „Beistand" standen zur Wahl. Ich selbst und viele andere haben zu der Wortwahl „Beistand" sehr geneigt, weil es, was den Betreuer, also den aktiven Teil betrifft, in diesem Rechtsverhältnis eine sehr gute Bezeichnung wäre, die zum Ausdruck brächte, daß den hilfsbedürftigen Menschen beigestanden würde. Aber was den passiven Teil, nämlich den zu Betreuenden, betrifft, gibt es keine entsprechende gute Bezeichnung. Da kam man auf „Beistandsberechtigter" und „Beistandsempfänger". Die Schweizer haben gar „Besachwalteter" gesagt. ({0}) Da haben wir uns also doch nach langer Überlegung entschieden, es bei den Begriffen zu belassen, wie sie das Gesetz ursprünglich vorgeschlagen hat. In dem Wort „Betreuung" kommt auf der einen Seite klar zum Ausdruck, daß Schluß sein muß mit der reinen anonymen Verwaltung von Vermögen, die zum Teil in Hunderten von Fällen von einem gemacht wurde, der dann den zu Betreuenden manchmal sogar nie gesehen hat. Andererseits kommt auch eine gewisse treu16136 Dr. Stark ({1}) händerische Wahrnehmung der Interessen des Betreuten zum Ausdruck. ({2}) Über den Namen kann man streiten. Wir haben uns nach reiflicher Überlegung für den Namen „Betreuung" entschieden. Also, das Rechtsinstitut heißt Betreuung; derjenige, der hilfsbedürftigen Menschen hilft, heißt Betreuer, und der Hilfsbedürftige heißt der Betreute. Mit der Anordnung der Betreuung ist in Zukunft nicht mehr automatisch der Verlust der Geschäftsfähigkeit des Betreuten verbunden. Das halten wir für ganz wichtig. Nur zur Abwehr einer erheblichen Gefahr für die Person oder das Vermögen des zu Betreuenden kann gerichtlich angeordnet werden, daß der Betreute zu einer Willenserklärung, die den Aufgabenkreis des Betreuers betrifft, dessen Einwilligung bedarf. Auch die Ehefähigkeit, die Testierfähigkeit und das Wahlrecht des Betreuten werden durch die Anordnung einer Betreuung im Gegensatz zu anderen Rechtsordnungen nicht berührt. In Österreich war z. B. das Wahlrecht abgesprochen, wenn die Sachwalterschaft angeordnet war, wobei dann erst eine Gerichtsentscheidung dem Betreuten das Wahlrecht wieder gegeben hat. Im Mittelpunkt der Betreuung steht die Sorge für die Person des Betroffenen. An die Stelle anonymer Vermögensverwaltung - ich habe das schon vorgetragen - , wie es bisher bei Vormundschaft und Pflegschaft häufig üblich war, tritt die persönliche Betreuung. Vor allen anderen Möglichkeiten ist die Betreuung einer natürlichen Person zu übertragen. Bei der Auswahl des Betreuers ist primär den Wünschen des Betreuten, hilfsweise seinen sonstigen persönlichen Bindungen Rechnung zu tragen. Erst wenn die Betreuung durch eine natürliche Person nicht gewährleistet ist, eröffnet der Gesetzentwurf hilfsweise die Möglichkeit, einen anerkannten Betreuungsverein zum Betreuer zu bestellen. Wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind, kann als letztes eine Behörde zum Betreuer bestellt werden, wobei dann der Betreuerverein und die Behörde wiederum eine natürliche Person, eine bestimmte Person als Betreuer für den Betreuten benennen. In diesem Zusammenhang ist etwas Neues eingeführt worden, das von großer Bedeutung sein kann, nämlich die Möglichkeit, eine sogenannte Altersvorsorgevollmacht auszustellen, schon jetzt als Alterstestament bezeichnet. Es war bisher eine große Ungereimtheit, daß verbindliche Verfügungen zwar für den Todesfall, aber nicht für die alters- oder krankheitsbedingte Hilflosigkeit getroffen werden konnten. Vielen älteren Mitbürgern kann damit zumindest ein Teil der Angst vor dem Nachlassen ihrer geistigen Fähigkeiten genommen werden, weil sie in gesunden Tagen vorausschauend im Vollbesitz ihrer Kräfte festlegen können, wer im Falle alters- oder krankheitsbedingter Gebrechlichkeit als Betreuer bestellt und nach welchen Grundsätzen für seine Person und sein Vermögen gesorgt werden soll. Sowohl bei der Anordnung einer Betreuung als auch bei Eingriffen in die Rechte des Betreuten gilt streng der Erforderlichkeitsgrundsatz; das ist eine ganz wichtige Vorschrift. Nur soweit der Betreute tatsächlich der Unterstützung bedarf, darf eine Betreuung angeordnet werden. Wir wollen kein Volk von Betreuten, wo überall schnell und ohne Not Betreuungen angeordnet werden. Nur soweit erforderlich, darf eine Betreuung angeordnet werden, und nur soweit erforderlich, darf die Rechtsfähigkeit des Betreuten eingeschränkt werden. Es gibt graduelle Abstufungen, da behinderte und ältere Menschen durchaus manches noch können und manches nicht mehr können; darauf muß abgehoben werden. Das individuelle Betreuungsbedürfnis ist deshalb entscheidend. Die verbliebenen Fähigkeiten des Betreuten sind zu berücksichtigen. Ganz wichtig: Die Betreuungsanordnung gilt nicht mehr für ewig - wie das bisher zum Teil der Fall war - , sondern muß spätestens alle fünf Jahre überprüft werden. Das heißt nicht, daß sie nicht auch früher überprüft werden kann und muß, wenn dazu ein Anlaß, ein Antrag oder eine Anregung erfolgt. Zur Stärkung der persönlichen Rechte des Betreuten regelt der Gesetzentwurf konkret wichtige Bereiche der Personensorge. Hier sind vor allem Maßnahmen zu nennen, die sich auf die Gesundheit des Betreuten und hier vor allem auf lebensgefährliche Krankheitsbehandlungen beziehen. Ganz wichtig und von größter Bedeutung sind die gesetzlichen Regelungen, welche Eingriffe in die persönliche Freiheit des Betreuten im Zusammenhang mit einer Unterbringung in einer Kranken- oder sonstigen Anstalt betreffen. Hierdurch wird dem Mißbrauch bei Unterbringungen und einer menschenunwürdigen Behandlung der Untergebrachten durch mechanische Vorrichtungen, Medikamente und anderes ein Riegel vorgeschoben. In dem Gesetz wird erstmalig auch die diffizile und schwierige Frage einer Sterilisation von volljährigen, aber dauernd einwilligungsunfähigen geistig Behinderten in einer sehr behutsamen und mit allen Rechtsstaatsgarantien versehenen Form geregelt. Über diese Frage hat der Rechtsausschuß sehr sensibel und lange diskutiert. Von der Lösung, die wir gefunden haben, ist niemand begeistert, aber sie war notwendig. Wir haben uns bemüht, die Sterilisation aus der Grauzone herauszubringen. Im einzelnen wird dazu wie auch zu anderen Fragen des Gesetzes, auf die ich aus zeitlichen Gründen nicht eingehen kann, mein Kollege Dr. Langner Stellung nehmen. Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, ob das Grundanliegen dieses neuen Gesetzes, nämlich die menschenwürdigere Behandlung von psychisch Kranken und Behinderten, verwirklicht werden kann und ob es die Hoffnungen erfüllen kann, welche die Betroffenen damit verbinden, hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, genügend geeignete und ausreichend motivierte Mitbürger zu finden, die bereit sind, sich als Betreuer von behinderten und älteren Menschen zur Verfügung zu stellen. Der Gesetzentwurf versucht durch verschiedene neue Regelungen, wie z. B. die Einführung eines Aufwendungsersatzes für ehrenamtliche Betreuer, die Dr. Stark ({3}) Vergütung und Aufwandsentschädigung für hauptberufliche Betreuer sowie die Übernahme der Kosten einer Haftpflichtversicherung für alle Betreuer, gewisse Anreize für die Gewinnung geeigneter Betreuerpersonen zu schaffen. Leider mußten wir diese Anreize mit Rücksicht auf die erforderliche Zustimmung des Bundesrates etwas zurücknehmen. Andererseits haben die Ländervertreter während der Beratung des Gesetzes in Aussicht gestellt, daß sie die Betreuervereine finanziell fördern wollen. Insgesamt bin ich persönlich der Überzeugung, daß, wenn sich das Gesetz bewährt, seine finanzielle Ausstattung noch gesteigert werden wird. Mit dem neuen Betreuungsgesetz wird ein lange Zeit vernachlässigtes Rechtsgebiet, von dem viele, vor allem ältere Menschen, betroffen sind, dem Geist unserer Verfassung angepaßt. Die Betroffenen und ihre Angehörigen haben lange darauf gewartet. Die Regierungskoalition hat stets versichert, daß sie das neue Betreuungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode verwirklichen will. ({4}) Dieses Versprechen lösen wir heute ein. Bevor ich zum Schluß meiner Rede komme, möchte ich dem Herrn Bundesjustizminister und seinen für dieses Gesetz zuständigen Mitarbeitern, den Herren Wolf und Kiermeier und anderen, für die hervorragende Vorarbeit zu diesem Gesetz und auch die hervorragende Zusammenarbeit bei der Beratung im Rechtsausschuß danken. Ich muß offen gestehen: Ich habe in den 25 Jahren, in denen ich im Rechtsausschuß tätig sein durfte, noch niemals erlebt, daß ein Gesetz so gründlich vorbereitet, der Öffentlichkeit vorgestellt, mit den Betroffenen diskutiert, durch Anhörungen geklärt und durch eine gründliche Beratung im Rechtsausschuß verabschiedet werden konnte. Dafür herzlichen Dank! Mein Dank gilt aber auch den Kolleginnen und Kollegen der Opposition im Rechtsausschuß, ganz besonders den Kollegen der SPD-Fraktion - Herr de With, hören Sie einmal zu - , die durch ihre sachliche und konstruktive Art der Beratung dazu beigetragen haben, daß wir dieses wichtige Gesetz heute verabschieden können. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Bürgerliche Gesetzbuch hat seit seinem Bestehen, seit dem 1. Januar 1900, bis zum 31. Dezember 1989 genau 92 Änderungsgesetze erfahren. Mitgezählt sind dabei die Änderungen auf Grund Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Etwa zwei Drittel dieser Änderungen entfielen auf die Zeit nach 1945. Das nun schon ehrwürdige Bürgerliche Gesetzbuch hat seine Gestalt und sein Gesicht im wesentlichen erhalten. Es hat in der Tat nur wenige wirklich einschneidende Veränderungen gegeben. Diese sind fast alle in der Zeit nach 1945 erfolgt. Aber der Charakter des BGB - das wird zuwenig gesehen - hat sich in zwei Grundlinien deutlich gewandelt. Sie gehen auf das veränderte Menschenbild des Grundgesetzes zurück. Da ist einmal das Bekenntnis zum sozialen Rechtsstaat. Es wird nicht mehr von der formalen Gleichheit der Vertragspartner ausgegangen. Dazu sind die beiden Mietrechtsänderungsgesetze von 1971 und 1974 zu nennen. Dazu zählen das Gesetz über die allgemeinen Geschäftsbedingungen - ich füge hinzu: noch außerhalb des BGB - aus dem Jahre 1976 und das Reisevertragsgesetz aus dem Jahre 1979. Das schon vor Inkrafttreten des BGB von Otto von Gierke vermißte - ich zitiere - „sozialistische Öl" - er sprach, um es genau zu sagen, von dem „erforderlichen Tropfen sozialistischen Öles" - findet sich hier. Da ist auf der anderen Seite die Wertigkeit des Menschen, die jedem innewohnende Würde und das Prinzip der Gleichheit. Damit wird die zweite Änderungslinie des BGB deutlich: das Gleichberechtigungsgesetz aus dem Jahre 1957, das Familienrechtsänderungsgesetz von 1961, das unverwechselbar mit Gustav Heinemann verknüpfte Gesetz über die rechtliche Stellung nichtehelicher Kinder aus dem Jahre 1969, während der Großen Koalition, und das Eherechtsänderungsgesetz aus dem Jahre 1976. Das hier zur zweiten und dritten Lesung anstehende Betreuungsgesetz setzt diese Linie fort. Der geistig und körperlich behinderte Erwachsene behält auch im Rechtsverkehr seine Würde und erhält dazu den möglichen staatlichen Beistand. Das tragen wir Sozialdemokraten nicht nur mit. Es ist unser Anliegen. Ich darf mich bei Herrn Kollegen Stark dafür bedanken, daß er unsere Mitarbeit erwähnt hat, wie ich überhaupt sage: Wir alle haben im Ausschuß auf dieses vom Grundgesetz vorgegebene Ziel hin konstruktiv zusammengearbeitet. Es war schließlich unser Antrag - ich darf auf ihn verweisen -, „Beistand und mehr Rechte für geistig behinderte und psychisch kranke Menschen" vom 6. August 1987, der am Anfang stand und im Kern dann mit dem Gesetzentwurf der Bundesregierung im wesentlichen - bis auf einen Punkt, auf den ich noch zu sprechen komme - voll identisch ist. Wir Sozialdemokraten stehen damit in der Kontinuität der Reformen des Nichtehelichenrechts und des Eherechts. Die wesentlichen Kriterien des Betreuungsgesetzes lassen sich von unserer Warte aus - jeder sieht die Perspektive etwas anders - in folgenden sieben Punkten zusammenfassen. Erstens. Die von vielen wirklich als Makel empfundene Entmündigung wird es nicht mehr geben. Damit entfällt auch die Entmündigung wegen Geisteskrankheit, die einen Menschen rechtlich auf die Stufe eines unter Siebenjährigen herabgedrückt hat. Aus diesem selben Grund wird es das Brandmal der öffentlichen Bekanntmachung der Beschränkung der Geschäftsfähigkeit wegen Verschwendung, Trunksucht oder Rauschgiftsucht nicht mehr geben, worauf Herr Kollege Stark schon hingewiesen hat. Zweitens. Mit dem Wegfall der Entmündigung werden parallel dazu die jetzt erforderliche Vormundschaft und dazu die Zwangspflegschaft gestrichen, Einrichtungen, die als Kuratel unserer Tage angesehen werden. Dabei darf angemerkt werden, daß die Rechtsprechung schon durch die überwiegende Anwendung der Gebrechlichkeitspflegschaft versucht hat, das Entwürdigende der Entmündigung und Vormundschaft wegzudrücken. Dies war im Kern zwar im Geist des Grundgesetzes, aber lag - Gott sei Dank, sage ich - neben dem Geist des BGB. Drittens. An die Stelle der Vormundschaft und der Gebrechlichkeitspflegschaft tritt die Betreuung, aber nur dann, wenn sie unbedingt nötig ist, weil sonstige Hilfen nicht ausreichen. Ich glaube, dies sollten wir alle mehr betonen. Sie muß auf eng begrenzte Wirkungskreise beschränkt werden. Sicher kann sie natürlich auch auf alle Lebensbereiche ausgedehnt werden, wenn dies nach sorgfältiger Prüfung erforderlich erscheint. Vierter Punkt. Die Anordnung der Betreuung hat nicht den Wegfall der Geschäftsfähigkeit oder deren Beschränkung zur Folge. Allerdings kann das Gericht einen sogenannten Einwilligungsvorbehalt anordnen. Dieser kann sich jedoch nicht auf Willenserklärungen erstrecken, die auf Eingehung einer Ehe und das Abfassen eines Testaments gerichtet sind. Außerdem gibt es hier noch einige andere Vorbehalte. Es wird auch nicht mehr das Wort gültig sein, das bis heute im Umlauf ist: einmal entmündigt, immer entmündigt, oder anders herum gesagt: einmal betreut, immer betreut, denn - auch darauf ist schon hingewiesen worden - die Anordnung der Betreuung gilt nur höchstens fünf Jahre. Soll sie weitergelten, muß neu entschieden werden. Fünftens. Die Genehmigung des Vormundschaftsgerichts ist vom Betreuer für einschneidende ärztliche Eingriffe - über die wir lange debattiert haben - , für Unterbringung und unterbringungsähnliche Maßnahmen, z. B. mittels Medikamente oder mechanischer Vorrichtungen, einzuholen. Auch für die Kündigung des Mietverhältnisses bedarf es der Genehmigung. Der Betreute soll nicht so ohne weiteres aus seiner angestammten und vertrauten Umgebung herausgerissen werden können. Sechstens. Besondere Sicherheitskautelen sind für den Fall der Sterilisation vorgesehen. Eine Zwangssterilisation wird es ebensowenig geben wie die Sterilisation Minderjähriger. Für Erwachsene ist die Sterilisation auf schwere Notlagen eng begrenzt. Siebtens. Das Doppelverfahren nach der Zivilprozeßordnung und dem Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit wird zugunsten eines einheitlichen Verfahrens abgeschafft. Den Betreuten wird eine umfängliche Verfahrensbeteiligung gesichert. Eine „Über-den-Kopf-Entscheidung" wird es nicht mehr geben. Sie wird der Vergangenheit angehören. Natürlich, meine sehr verehrten Damen und Herren, waren wir Sozialdemokraten nicht mit allen einzelnen Vorschlägen aus dem Lager der Regierungskoalition oder der Bundesregierung einverstanden. Da gab es selbstredend bei dem Wust von Paragraphen - es war ja ein Buch, zwei Zentimeter dick - eine ganze Reihe kontroverser Abstimmungen, Kontroversen allerdings - das sei hier erwähnt - , die in erster Linie dadurch entstanden waren, daß die Länder über den Bundesrat erkennen ließen, daß sie andernfalls ihre Zustimmung nicht geben könnten. Es sei eingeräumt, das vorliegende Gesetz kostet die Länder Geld, Geld in Form besserer Dotationen für die Betreuer und für die Einrichtung von mehr Richterplanstellen. Mancher Kompromiß wäre nicht geschlossen worden - so ehrlich sollten wir sein - ohne das Wissen, daß die Länder dieses Gesetz zum Scheitern bringen können. Allerdings, sie müssen es auch exekutieren. Bedauerlich ist, daß sich die Regierungskoalition nicht unserem Petitum anschließen konnte, das Wort „Betreuer" durch „Beistand" zu ersetzen. Der Begriff „Betreuer" beinhaltet nun einmal eine Haltung des Von-oben-Herab, des Auf-die-Schulter-Klopfens. Da steckt ein Stück Gutsherrlichkeit drin. ({0}) Dem kann schwerlich mit dem Argument begegnet werden, das Wort „Beistand" kenne eine Passivform nicht. Es wäre immerhin möglich gewesen, vom „Beistandsberechtigten" zu sprechen. Aber - das räume ich ein - die Mehrheit im Rechtsausschuß hat nun einmal anders entschieden. Nicht hinnehmbar ist jedoch für uns Sozialdemokraten, daß bei den Übergangsregelungen für die Prüfung von Altfällen, man höre und staune: bis zu 15 Jahren bzw. sogar bis zu 20 Jahren minus einen Tag eingeräumt werden. ({1}) Das ist des Guten zuviel. Deswegen wiederholen wir in der zweiten Lesung unseren bereits im Rechtsausschuß gestellten Antrag auf entsprechende Änderung zu Art. 9 § 2 des Gesetzentwurfes. Derart lange Fristen sind auch unter dem Gesichtspunkt besonderer Belastungen der Vormundschaftsgerichte nicht mehr akzeptabel. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie sollten sich einen Ruck geben und hier mit uns stimmen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß, wenn wir hier die Übergangszeit etwa auf die Hälfte herabsetzten, der Bundesrat dadurch bewogen werden könnte, seine Zustimmung zu versagen. Niemand würde es begreifen. Ebenso bringen wir unsere von den Koalitionsfraktionen abgelehnten Anträge zu den Berichtspflichten der Bundesregierung in zwei Bereichen erneut ein. Erstens. Durch die Beratung ist offenkundig geworden, daß Voraussetzungen und Folgen der Geschäftsunfähigkeit überdacht und neu geregelt werden müssen. Hierzu solle die Bundesregierung den Bundestag zum 1. April nächsten Jahres unterrichten. Wir verlangen nicht, daß die Bundesregierung hierzu schon fertige Konzepte offenbart. Aber die Richtung müßte deutlich werden. Denn geschieht dies nicht, fürchte ich, daß die Reform, die ansteht und notwendig ist, auf den Sankt-Nimmerleins-Tag vertagt werden könnte. Zweitens. Ebenso deutlich ist geworden, daß das materielle Recht der Unterbringung Minderjähriger neu zu regeln ist, nachdem wir entsprechende Bestimmungen für die Erwachsenen gefunden haben. Auch hierzu sollte die Bundesregierung zum 1. April nächsten Jahres berichten. Hinzu kommt, daß dabei der ganze Bereich der Vormundschaft über Minderjährige überdacht werden sollte. Es geht nicht an, daß auf die Dauer hier eine Disparität zwischen der Regelung für Erwachsene und der Regelung für Minderjährige besteht. Wir Sozialdemokraten hatten im Rechtsausschuß schließlich vorgeschlagen, daß die Bundesregierung alle vier Jahre einen Bericht über die Erfahrungen mit den neuen Bestimmungen zur Sterilisation vorlegen möge. Das war von CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Sie haben sich inzwischen eines Besseren belehren lassen und unseren Antrag als Auftrag an die Bundesregierung in etwa übernommen, der nunmehr - und das ist gut so - von CDU/CSU, FDP und SPD gemeinsam getragen wird. Kein Bereich war schließlich - das sage ich hier sehr dezidiert - umfänglicher und sorgfältiger sowie zugleich in dem Bewußtsein debattiert worden, daß wohl niemand in der Lage sei, Regelungen zu finden, die jede Unzulänglichkeit und jeden Mißbrauch ausschließen. Um so mehr war und ist es gerechtfertigt, dieses Thema in der öffentlichen Diskussion zu halten. Vielleicht lassen sich schon aus den ersten vier Jahren Verbesserungsvorschläge ableiten. Das bringt mich dazu, noch einmal die wesentlichen Grundüberlegungen meiner Fraktion zur Sterilisation zu nennen: Neben dem Verbot der Sterilisation Minderjähriger und dem Verbot der unfreiwilligen Sterilisation von volljährigen, geistig behinderten Menschen - das ist die Grundlage - hatten wir in unserem Antrag die Sterilisation nur zur Abwehr einer lebensbedrohlichen Gefahr als möglich und damit als erlaubt angesehen. Die Debatte auf dem Juristentag 1988 in Mainz, das Ergebnis des sehr ausführlichen Anhörungsverfahrens - wir haben uns dazu einen ganzen Tag Zeit genommen - und letztlich die Erfahrungen in der Schweiz haben uns dazu bewogen, die Sterilisation auch dann zuzulassen - und jetzt nehme ich den Gesetzestext zu Hilfe - , wenn „infolge dieser Schwangerschaft ... die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren zu erwarten wäre, die nicht auf zumutbare Weise abgewendet werden könnte". Dazu gibt es eine sehr wesentliche Ergänzung: Als „schwerwiegende Gefahr" für den seelischen Gesundheitszustand der Schwangeren gilt dabei auch die Gefahr eines schweren und nachhaltigen Leides, die ihr drohen würde, weil vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen, die mit ihrer Trennung vom Kind verbunden wären, gegen sie ergriffen werden müßten. Wenn man genau hinhört und sich vergegenwärtigt, was das bedeutet, dann wird klar, wie gewichtig dieser Eingriff ist. Bliebe es nur bei der Sterilisation im Fall des Vorliegens der Indikation der Lebensgefahr, könnte ein Mehr an Abtreibungen kaum ausgeschlossen werden. Zum anderen könnte es aber auch geschehen - um das einmal so zu formulieren; und ich hoffe, ich werde nicht mißverstanden - , daß die Zahl der Einwilligungsfähigen wüchse. Das heißt mit anderen Worten, es könnte damit eine neue Plattform und eine neue Grauzone geschaffen werden. Es ist aber gerade die schon bereits bestehende Grauzone, die wir uns zu beseitigen, auf jeden Fall aber einzuschränken anschicken. Es sei in diesem Zusammenhang nicht verschwiegen, daß durch eine Aussage im Anhörungsverfahren zunächst der Eindruck entstanden war, als ob in der Schweiz ein gesetzliches Verbot der Sterilisation bestünde. Unsere Nachschau in Zürich hat jedoch ergeben, daß nur entsprechende medizinische Richtlinien gelten, d. h. Bestimmungen nicht gesetzlicher Art, an die niemand wirklich gebunden ist und die nicht durchgesetzt werden können. Aber auch - und das ist das Frappante gewesen - unter diesen Richtlinien ist es in der Schweiz Praxis, daß Sterilisationen einwilligungsunfähiger Erwachsener bei einer bloßen Leibes- oder Leidensgefahr vorgenommen werden und dies niemand zu ändern beabsichtigt, auch nach dem ausdrücklichen Hinweis eines der Väter dieser Richtlinien. Wird den Behinderten das Recht auf Sexualität zugestanden - das ist noch nicht bei allen als selbstverständlich angesehen - , dann sollte auf der anderen Seite auch verständlich sein, daß dann die Notlagenindikation gelten soll, die auch sonst gilt. Hier sollte es keine unterschiedlichen Regelungen irgendwelcher Art geben. Es gilt das, was auch die anderen anzuwenden pflegen. Eine Notlagenindikation ist allerdings nicht annehmbar - und darauf legen wir Wert - im Interesse der Allgemeinheit, im Interesse von Verwandten. Da taucht die Frage auf: „Wer bekommt dann das Kind? Wer nimmt es? Wer erklärt sich bereit?" - im Interesse auch des ungezeugten Kindes und auch dann, wenn die bloße abstrakte Möglichkeit einer Schwangerschaft besteht? Das heißt mit anderen Worten: Eine vorsorgliche Sterilisierung ist ausgeschlossen. Es muß sich um die konkrete und ernstliche Annahme handeln, daß ohne Sterilisation eine Schwangerschaft zu erwarten ist und das zu einer nicht behebbaren Notlage führt. Zur Verdeutlichung der Absage einer Sterilisation im Interesse des ungezeugten Kindes darf ich auf die sehr sorgfältige Abwägung und Formulierung des Regierungsentwurfs verweisen, wo es heißt: Kinder Behinderter sind in der überwiegenden Zahl der Fälle nicht selbst behindert. Wegen der Möglichkeit, daß sie aber im Einzelfall behindert zur Welt kommen können, wurde mitunter erwogen, die Sterilisation „zum Wohl" solcher Kinder zuzulassen. Solche Erwägungen, denen der Entwurf ebenfalls eine klare Absage erteilt, gehen davon aus, daß es ein „Wohl" ungezeugter „Kinder" gebe, das darin bestehe, niemals zu existieren. Ein solches „Wohl" kann nicht anerkannt werden. Der Staat darf sich nicht anmaßen, die Nichtexistenz behinderten Lebens höher zu bewerten als menschliches - und sei es auch behindertes - Leben. Dem ist nichts hinzuzufügen. Ich nehme dieses Zitat zum Anlaß, dem Anonymus oder der Anonyma als Formulierer dieses Passus Dank zu sagen, wie überhaupt Dank denen gebührt, die dieses Gesetz mit der Begründung ausformuliert haben. Es ist eigentlich immer so - ich glaube, ich darf das sagen, weil ich auch einmal auf der anderen Seite saß -, daß sich die politischen Leitungen nicht ungern das zu eigen machen, was die anonymen Beamtinnen und Beamten entwickelt und ausgearbeitet haben. Hier ist zuvörderst Herrn Kiermeier zu danken, der hier in zweiter Reihe sitzt ({2}) und der mit Sicherheit nicht nur mit vollem Herzen dabei war, sondern sein Herzblut in diese Begründung hineingeschrieben hat. Wir Deutschen sind auf Grund der Vorkommnisse in der Hitlerzeit gebrannte Kinder. Noch immer warten viele Zwangssterilisierte auf eine angemessene Entschädigung. Daraus wird vielleicht verständlich, unter welcher Belastung wir bei der Regelung dieser Materie standen und noch immer stehen. Das soll bitte nicht als Entschuldigung verstanden werden! Im Grunde eine ähnliche Abwägung war bei der Regelung zu § 218 vorzunehmen, und dieses Haus hat sich ja zweimal in großen Debatten damit beschäftigt; eine entsprechende Debatte wird bei der Normierung im gentechnischen Bereich und wohl schon beim Embryonenschutzgesetz auf uns zukommen. Nur ein Selbstgerechter wird sagen, er habe die allein richtige Entscheidung getroffen. Hier geht es nicht allein - um es auf einen kurzen Nenner zu bringen - um die Abwägung zwischen Lust und Leid. Es geht letztlich um die Frage: Begrenzte Öffnung durch eine präzise umschriebene Sterilisationsindikation mit der Möglichkeit der Beschränkung von Grauzonen oder Verbot mit der Öffnung einer Grauzone und unbegrenzten möglichen fatalen Folgen? Das ist das Gegensatzpaar und nichts anders. Für die meisten Zuhörerinnen und Zuhörer mag dieser Gesetzentwurf nicht aktuell sein; für die Betroffenen ist er immer aktuell, und die Zahl der Betroffenen ist nicht gering - schon heute nicht - , und sie steigt unaufhörlich. Ich darf hierzu ein paar Zahlen nennen, damit es plastischer wird: Standen 1971 noch 169 085 Personen unter Vormundschaft oder Pflegschaft, so sind es jetzt schon etwa 250 000, also eine Viertelmillion. Waren zu Anfang 1980 noch circa 30 000 entmündigte Personen über 60 Jahre alt, so sind es zu Anfang 1985 bereits 40 000. Die Zahl der Senioren und Hochbetagten wächst progressiv. Von 1900 bis 1986 ist die Zahl der 65jährigen und älteren um 340 %, der 75jährigen und älteren um 580 % und der 85jährigen und älteren um 1 280 % gestiegen. Schon aus diesem Grunde ist die Reform notwendig. Sie ist aber auch zwingend erforderlich zur Schaffung einer einheitlichen Rechtspraxis. So betrug die Entmündigungsquote, auf 100 000 Einwohner gerechnet, in Schleswig-Holstein 10,2 % und in Hessen nur 1,3 %. Selbst wenn es alle diese Zahlen nicht gäbe, müßten wir uns doch zur Reform entschließen, denn unsere Zeit verträgt kein Menschenbild, das die behinderten Mitmenschen in Wort und Tat bevormundet und damit als Gruppe ausgrenzt. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das heute zu beschließende Betreuungsgesetz kann wohl ohne Übertreibung als eines der wichtigsten Gesetze dieser Legislaturperiode bezeichnet werden. Es handelt sich um die grundlegende Reform des alten Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts für Volljährige. Für die heute zu beschließenden Verbesserungen sind nicht nur die von Herrn Dr. de With genannten 250 000 Menschen als bisher Entmündigte und der Gebrechlichkeitspflegschaft Unterworfene betroffen, sondern auch deren Angehörige, die Vormünder, Pfleger, Sozialarbeiter und Gerichte. Das alte Vormundschafts- und Pflegschaftsrecht, das in seinen Grundzügen aus dem letzten Jahrhundert stammt, hat sich auf Grund der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen und der rechtlichen Veränderungen überlebt. Auffassungen und Einstellungen der Gesellschaft gegenüber körperlich, geistig oder seelisch Behinderten und psychisch Kranken haben sich gravierend verändert. Das geschriebene Recht muß sich diesen geänderten Auffassungen angleichen, hat aber auch gleichzeitig eine Leitschnur zu sein für gewünschte gesellschaftliche Entwicklungen. Ein solches Gesetzeswerk ist vor allem für diejenigen so notwendig, die sich in ihren eigenen Angelegenheiten nicht helfen können, die keine Lobby haben. Hier sind wir als Parlamentarier ganz besonders gefordert, uns zum Sprecher derjenigen zu machen, die sonst keine oder nur eine geringe Unterstützung aus der Gesellschaft heraus haben. Es geht schließlich darum, daß die Grundrechte und die Achtung der Menschenwürde vor allem für unsere älteren Mitbürger verwirklicht werden. Ich bin daher dem Bundesjustizminister und seinen Mitarbeitern sehr dankbar, daß dieses Betreuungsgesetz noch in dieser Legislaturperiode nach gründlicher Beratung verabschiedet werden kann. Ich weiß, wie sehr der Bundesjustizminister dieses Gesetz zu seiner Herzensangelegenheit gemacht hat. Die Verabschiedung dieses Gesetzes wird auch stets mit seinem Namen eng verbunden bleiben. ({0}) Dieser Gesetzentwurf ist in den Beratungen im Bundesrat und auch in den Ausschüssen nicht unerheblich verändert worden. Wesentliche Veränderungen wurden vom Bundesrat mit dem Ziel eingebracht, die ursprünglich vorgesehene finanzielle Mehrbelastung der Länder von rund 200 Millionen DM zu drücken. Ich sage offen, daß ich es begrüßt hätte, wenn die finanziellen Anreize für die Übernahme von BetreuFunke ungen besser ausgestaltet wären, als dies jetzt durch die Interventionen des Bundesrates der Fall ist. Aber ich glaube, daß der gefundene Kompromiß mit einer Belastung der Länder von rund 120 Millionen DM für alle Seiten tragbar ist, insbesondere wenn man die wesentlichen materiellen Veränderungen des Gesetzeswerkes sieht. So ist die Betreuung am individuellen Bedürfnis der Betroffenen ausgerichtet und berücksichtigt die verbliebenen Fähigkeiten des betroffenen Bürgers. Es wird nicht mehr die Entrechtung und nicht mehr das Fallbeil der Entmündigung geben. Die Betreuung hat keine Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit des Betreuten. Zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für die Person und das Vermögen des Betreuten kann jedoch ein Einwilligungsvorbehalt durch den Betreuer gerichtlich angeordnet werden. Die Personensorge für den Betreuten ist erheblich verstärkt worden. Wichtig erscheint mir vor allem, daß die Betreuung grundsätzlich einer geeigneten natürlichen Person zu übertragen ist und daß bei der Auswahl des Betreuers auf die Wünsche des Betreuten Rücksicht genommen werden soll. Hilfsweise besteht auch die Möglichkeit, einen anerkannten Betreuungsverein zum Betreuer zu bestellen. Nur wenn auch dies nicht mehr möglich ist, wird die zuständige Behörde zum Betreuer bestellt. Damit ist praktisch die alte Amtsvormundschaft durch Angestellte einer Behörde - ein Angestellter hatte manchmal bis zu 400 Personen als Vormund zu betreuen - abgeschafft worden. Auch die bisher vernachlässigte Personensorge wird gestärkt. Nunmehr werden die Voraussetzungen für eine fremdbestimmte Heilbehandlung, einen ärztlichen Eingriff und für eine Unterbringung bzw. für unterbringungsähnliche Maßnahmen gesetzlich geregelt. Mit dieser Regelung ist den Betreuern eine klare gesetzliche Regelung zur Hand gegeben, an der sie sich besser als im bisherigen Recht orientieren können. Erstmalig sind auch für die Einwilligung des Betreuers zu ärztlichen Eingriffen, z. B. zu einer Sterilisation, besonders enge aber auch klare rechtliche Voraussetzungen aufgestellt worden. Dieser Punkt ist natürlich im Ausschuß als Einzelvorschrift ganz besonders intensiv beraten worden. Hierbei handelt es sich um eine ganz besonders wichtige sensible Frage, bei der ethische, religiöse und medizinische Fragen, aber auch unsere eigenen geschichtlichen Erfahrungen einzubeziehen waren. Dabei ist bereits heute zu berücksichtigen, daß auf Grund mangelnder gesetzlicher Grundlagen - das ist ja schon mehrfach erwähnt worden - eine medizinische und auch rechtliche Grauzone besteht. Diese Grauzone wird durch den neugeschaffenen § 1905 BGB aufgehoben. Danach ist eine Sterilisation gegen den Willen des Betroffenen unzulässig. Eine Sterilisation Minderjähriger ist generell verboten. Eine Sterilisation ist nur zulässig, wenn der Eintritt einer Schwangerschaft zu erwarten ist und durch eine Schwangerschaft ganz erhebliche Notlagen einzutreten drohen. Wir können diese Regelung als Liberale mittragen. Um jedoch auch die rechtstatsächlichen Entwicklungen auf Grund dieser neuen Regelung beobachten zu können, werden wir den Antrag der SPD, der ja etwas verändert worden ist, mittragen, wonach die Bundesregierung einen entsprechenden Bericht erstmals im Jahr 1995 vornehmen soll. ({1}) - 1995! ({2}) - Bis zum 1. Januar 1995. Na gut, wir brauchen uns darüber nicht zu streiten. Wir begrüßen weiterhin, daß bei der Bestellung des Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts der Zeitpunkt festzulegen ist, zu dem das Gericht über die Aufhebung oder Verlängerung der Maßnahme zu entscheiden hat, und daß diese Frist längstens fünf Jahre betragen darf. Damit ist sichergestellt, daß die Betreuung einer regelmäßigen Überwachung im Interesse des Betreuten unterliegt. Schließlich wird Schluß gemacht mit der gespaltenen Zuständigkeit des Prozeßgerichts und des Vormundschaftsgerichts, die nun generell beim Vormundschaftsgericht konzentriert wird. Dem dient auch das jetzt gefundene einheitliche Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Dabei ist die Rechtsstellung des Betroffenen im Verfahren erheblich verbessert worden. Abschließend schließe ich mich meinen Vorrednern insoweit an, als ich dem Minister und seinen Mitarbeitern, insbesondere Herrn Dr. Wolf und Herrn Kiermeier, für die hervorragende Vorarbeit danke. Den Bundesländern danke ich für die gezeigte Kompromißbereitschaft, damit dieses wichtige Gesetz noch in dieser Legislaturperiode im Bundesgesetzblatt erscheinen kann. Ich möchte aber auch meinen Kollegen im Rechtsausschuß, die sich mit diesen Fragen beschäftigt haben, für die kollegiale Zusammenarbeit ganz herzlich danken. Insbesondere möchte ich Herrn Dr. Stark, der ja heute nach über 25jähriger Parlamentsarbeit eine seiner letzten bedeutenden Reden gehalten hat, für seine Zusammenarbeit danken. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister Engelhard hatte sich mit diesem Stück Arbeit ein Jahrhundertwerk vorgenommen. Ich möchte Ihnen, Herr Minister, und Ihrem Haus zugestehen, daß Sie mit Fleiß, Gründlichkeit, Ideenreichtum und besten Schutzabsichten ans Werk gegangen sind. Ich glaube, das war nötig und ist nach wie vor nötig. Denn in dem Bereich, über den wir heute reden, gibt es nach wie vor ungeheure Mißstände, tiefe Erniedrigung und sehr großen Bedarf, der Menschenwürde zum Durchbruch zu verhelfen und für Beistand zu sorgen. Bisher war es so, daß leider kostengünstige Verwaltung, nicht aber der Schutz der Betroffenen im Vordergrund stand. Das zu ändern, sind Sie angetreten, Herr Minister. Leider muß ich sagen, daß hinsichtlich der von Ihnen entworfenen und im ursprünglichen Regierungsentwurf noch wiederzufindenden fortschrittlichen Ideen in den Beratungen der Ausschüsse paradoxerweise letztlich die GRÜNEN und in einigen Punkten auch die SPD die Anwältinnen und Anwälte des ursprünglichen Regierungsentwurfs waren. So haben wir in der Schlußabstimmung in zwölf Fällen die ursprüngliche Regierungsvorlage zum Antrag erhoben, um diese fortschrittlichen Kernstücke, die auch den Kernstücken Ihres ursprünglichen Vorhabens entsprachen, zu erhalten und ihnen zum Durchbruch zu verhelfen. Sie sind aber dem Kosten-Nutzen-Denken und vor allem dem Druck der Länderbank und dem Mangel an Bereitschaft der Bundesregierung zum Opfer gefallen, hier selber in Vorleistung zu treten und einiges finanziell zu tun. Zum Opfer gefallen sind in diesen langen und gründlichen Beratungen so wichtige Ideen wie - ich will nur einige nennen - der umfassende Versicherungsschutz für Betreuerinnen und Betreuer, eine nennenswerte Vergütung der berufsmäßig Betreuenden, eine nennenswerte Aufwandsentschädigung der ehrenamtlich Betreuenden, die Einzigartigkeit der Übernahme der Betreuung durch natürliche Personen und eben nicht durch Ämter oder Vereine - diese Idee ist schon im Regierungsentwurf sehr bald gestrichen worden - , der Ausschluß unerfahrener Richterinnen und Richter und die Beendigung des Betreuungsverhältnisses nach einer bestimmten Frist. Herr de With hat ja bereits von diesen skandalös langen möglichen Übergangszeiten gesprochen, die unseres Erachtens nicht hinnehmbar sind. So ist es also leider Gottes gewesen. Ich habe schon einmal gesagt: Wir haben beim Beschluß in zwölf Fällen noch die alte Regierungsvorlage hochgehalten. Darüber hinaus haben wir selber mit viel Ideen in Zusammenarbeit mit den Psychiatrie- und Behindertenbewegungen weitergehende Vorschläge entwikkelt und in die Beratungen eingebracht. Sie liegen auch in Anträgen vor. Sie sind natürlich vor allem aus Kostengründen nicht angenommen worden. Wir stehen hier also nicht vor einem Jahrhundertwerk, sondern, ich möchte sagen, vor einem geplünderten Werk, das seiner besten Ideen aus fiskalischen Gesichtspunkten beraubt worden ist und in Zukunft von den Bundesländern weiter ausgetrocknet werden kann. 200 Millionen DM waren vorgesehen, 80 Millionen davon sind bereits dem Rotstift zum Opfer gefallen. Dabei waren die 200 Millionen schon lächerlich wenig, weil allein die Richterinnen und Richter - man hätte etliche neu einstellen müssen - Mehrkosten in Höhe von Milliarden DM erfordert hätten. Ohne eine Stärkung der richterlichen Arbeit, ohne zusätzliche Planstellen, verstärkte Fortbildung und genügend Zeit sind die den Richtern und Richterinnen zuwachsende Verantwortung und Verpflichtung nicht zu leisten. Das haben uns auch die Erfahrungen aus Österreich plastisch vor Augen geführt. Und unter Streß greifen Richterinnen und Richter zum Weg der zeitsparendsten Erledigung. Es wird ihnen wohl auch nichts anderes übrig bleiben. Damit sind Kernstücke der Reform - ich habe das schon einmal gesagt - verloren gegangen. Ich frage, was vom Jahrhundertwerk bleiben soll oder auch bleiben wird - wir müssen ja erst einmal abwarten, was herauskommt, wenn die Länder das Gesetz umsetzen - , wenn die materiellen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Es war schon immer so, daß die gute Absicht allein, ohne finanzielle Absicherung, der Feind des Guten war. Das kann ich nicht gut finden. Ich bedaure das zutiefst und erinnere auch an die Erfahrungen, die wir mit einem anderen Jahrhundertwerk gemacht haben: der Strafvollzugsgesetzreform von 1977. Da haben wir ja nun auch etliche schlechte Erfahrungen gerade mit dem Kostensektor gemacht. ({0}) Wir GRÜNE haben in den Beratungen in 17 Punkten unsere eigenen Vorschläge dargelegt, auf die wir uns nach gründlichen Beratungen - wir haben auch eigene Anhörungen durchgeführt, an denen zum Teil dankenswerterweise auch Herr Kiermeier und Herr Wolf mit teilgenommen haben, wo wir auch Rücksprache nehmen konnten - verständigt haben. Sie können sie nun in unseren Entschließungsanträgen, in den Änderungsanträgen nachlesen. Ich will nur die wichtigsten nennen. Wir hätten gern - genau wie die SPD - den Begriff „Beistand" gehabt. Das ist abgelehnt worden. Für uns sind die Gegenargumente nicht stichhaltig, aber da mußten wir uns eben der Mehrheit beugen. Ein weiterer Punkt war, daß die Postkontrolle bei Beistandsberechtigten unserer Auffassung nach unzulässig und verboten sein muß. Ferner sind wir der Meinung, daß der Gesetzentwurf keine konsequente Regelung zur Geschäftsunfähigkeit enthält. Wir haben uns für ein Anfechtungsrecht für die Betroffenen statt einer dauerhaften Geschäftsunfähigkeit eingesetzt. Wir haben vorgeschlagen, daß nur natürliche Personen als Beistände bestimmt werden können, weil wir der Meinung sind, daß nur sie das persönliche Verhältnis aufbauen können, das auch dem Gesetzentwurf sehr wichtig ist. Wir haben uns dafür eingesetzt, daß es keinerlei Zwang, weder fiskalischen noch anderen Zwang, zur Übernahme einer Beistandsschaft geben soll. Und wir wollten die Möglichkeit der Gründung von Beistandsvereinen nur den Beistandspersonen ermöglichen: daß die das aus eigener Initiative machen können, daß es aber nicht möglich sein soll, diese Beistandsvereine von vornherein „von oben" zu gründen. Ein weiterer Punkt war, daß der Gesetzentwurf die Selbstbestimmung bei Heilbehandlung unseres Erachtens nicht deutlich genug hervorhebt. Das muß unserer Meinung nach korrigiert werden. Wir schlagen außerdem die Einschaltung des Vormundschaftsgerichtes bei einer länger dauernden Behandlung mit Psychopharmaka vor. Schließlich haben wir uns in unseren Anträgen dafür eingesetzt, daß die Beistandsberechtigten nach Inkrafttreten des Gesetzes über ihre Rechte informiert werden müssen. Das ist unabdingbar, weil sie die Rechte sonst nicht geltend machen können. Die Übergangsfristen dürfen keine besonderen Härten erzeugen. Wir werden Ihren Antrag, Herr de With, unterstützen. Wir haben zwar einen eigenen, der etwas weitergeht, aber wir werden selbstverständlich auch Ihren unterstützen, weil hier alles besser ist als das, was im Gesetzentwurf vorgeschlagen ist. Es ist unerträglich, daß solche langen Übergangsfristen möglich werden können. Und wir wollten selbstverständlich eine Kostenbeteiligung des Bundes haben, um die Kernstücke der Reform finanziell überhaupt zu ermöglichen. Für uns war das Allerwichtigste an dem Gesetz die Forderung: es darf keine Sterilisation und keinen Schwangerschaftsabbruch ohne die Einwilligung der betroffenen Person geben! Das ist hier leider nicht eingehalten worden. Es gibt die Möglichkeit der Sterilisation ohne Einwilligung der Betroffenen, mit Ersatzeinwilligung. Wir sehen das als einen Eingriff in ein höchstpersönliches Grundrecht an, in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Wir setzen uns für die Unteilbarkeit der Grundrechte für alle Personen ein und sind der Meinung: Wenn es hier Schwierigkeiten gibt - hier wurden die Grauzone im Bereich Sterilisation einerseits sowie das Recht geistig Behinderter auf sexuelle Entfaltung andererseits angesprochen - dann darf man weder eine solche Grauzone durch den Eingriff in höchstpersönliche Grundrechte beseitigen wollen, noch das Recht auf gelebte Sexualität erst durch einen Eingriff in die Grundrechte ermöglichen wollen. Wir setzen uns dafür ein, daß diese Grauzone beseitigt wird, daß dieses Recht auf sexuelle Entfaltung gelebt werden kann: durch mehr sozialpolitische Maßnahmen, durch mehr Betreuung, durch mehr Angebot an Hilfe und durch das Angebot von Verhütungsmitteln im Einzelfall. Wenn es ausnahmsweise bei geistig behinderten Menschen wirklich einmal zur Geburt eines Kindes kommt, sollte helfend unter die Arme gegriffen werden. Wir lehnen es aber zutiefst ab, im Vorfeld durch Sterilisation ohne Einwilligung mit einem technokratischen Instrument die Probleme lösen zu wollen. Wir sind der Meinung, daß die Erfahrungen in der Schweiz nicht geeignet sind, von diesen Vorgaben abzugehen. Ich bedaure, daß die SPD nicht bei dem geblieben ist, was sie damals in ihrem ursprünglichen Antrag vorsah. Bei unserer Reise in die Schweiz ist herausgekommen, daß dort zwar nach dem Gesetz ({1}) - nach der Verfassung, nach den Grundrechten - das als Eingriff - ({2}) - Wir können uns gern noch einmal die Unterlagen ansehen, Herr de With. Es ist so, daß die Sterilisation ohne Einwilligung als Eingriff in höchstpersönliche Grundrechte gewertet wird, die Praxis aber eine andere ist. Ich beklage das. Für mich ist das aber kein Grund, von unserer Argumentation abzugehen. Unsere Berichterstatterreise hat nämlich ergeben, daß auch in der Schweiz die notwendigen sozialen Angebote einfach fehlen. Durch die Erfahrungen in der Schweiz ist für mich als Konsequenz erneut bestätigt worden: Hier muß erheblich mehr getan werden. Hier sind sozialpolitische Maßnahmen gefordert, und das kostet Geld; da muß man ehrlich sein. Dafür stehen wir ein; das ist unser Vorschlag. Wir teilen nicht die Auffassung, daß es der Bundesregierung - trotz aller Mühe, hier Mißbräuche möglichst auszuschließen - mit dieser grundsätzlichen Ermöglichung der Sterilisation ohne Einwilligung gelungen ist, Mißbrauchsmöglichkeiten einen Riegel vorzuschieben. Ich bezweifle das sehr stark. Schon heute ist ein erheblicher Druck auf geistig behinderte und lernbehinderte Frauen zu beobachten, und zwar deshalb, weil natürlich die Verwandten solcher geistig behinderten Menschen und auch die Einrichtungen finanziell und auch sonst sozial so schlecht abgesichert sind, daß sie unter sehr großem Druck sind. Dann ist ihnen die Krücke einer Sterilisation lieber als gar nichts. Hier muß geholfen werden. Man darf die Leute aber nicht in ihrer Überlastung mit so einer Krücke abspeisen, so daß ihnen in ihrer Not nichts anderes mehr einfällt und sie dann darauf zurückgreifen. Durch Formulierungen im Gesetzestext wird unseres Erachtens dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet, wenn es denn gewünscht werden sollte. Ich will hier nur einige Begriffe anführen. Begriffe wie „Einwilligungsfähigkeit", „Wille des Betreuten", „auf Dauer einwilligungsunfähig", „Gefahr für den seelischen Gesundheitszustand" sind alles Begriffe, die wie Kaugummi ausdehnbar sind. Sie sind nicht geeignet, tatsächlich dem Mißbrauch einen Riegel vorzuschieben. Zum Schluß möchte ich noch sagen, daß wir die Absicht des Gesetzgebers unterstützt und durch eigene Vorschläge erhärtet haben. Wir können dem nun vorliegenden Gesetzentwurf aber nicht zustimmen, weil es erstens ein geplündertes Werk ist, dem die materiellen Grundlagen fehlen, um die Kernpunkte durchzusetzen, weil er zweitens eine Legalisierung der Sterilisation ohne Einwilligung beinhaltet und weil in ihm drittens unerträglich lange Übergangszeiten enthalten sind. Ich bitte Sie deshalb, unseren Anträgen zuzustimmen. Danke schön. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Langner.

Dr. Manfred Langner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001288, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Frau Nikkels, in einer Debatte, in der alle Redner allen danken, will ich durchaus nicht anstehen, auch Ihnen für das Engagement, mit dem Sie an den Beratungen teilgenommen haben, zu danken. Aber wenn Sie heute hier den Eindruck zu erwecken versuchen, bei diesen Debatten sei nur ein Torso herausgekommen und Sie seien die einzige übriggebliebene Anwältin des guten Werks gewesen, so ist das natürlich völlig unrichtig. Gerade die Beratungen im Rechtsausschuß haben das Gesetz doch entscheidend verändert. Kann es denn überhaupt so falsch sein, wenn man in Kostenfragen auch einmal auf die hört, die heute hier leider nicht anwesend sind, die das bezahlen sollen? Das ist eigentlich ein gesunder Grundsatz. Schließlich ist es doch so, daß insbesondere die Verfahrensvorschriften durch unsere Änderungen im Rechtsausschuß wesentlich verbessert worden sind. Dieses neue Betreuungsrecht - das hat die Debatte heute sehr deutlich gemacht - setzt Maßstäbe im Umgang unserer Gesellschaft mit den geistig behinderten und altersgebrechlichen Menschen. Dabei sind Wagnis und Chance zu sehen. Das Wagnis besteht insbesondere darin, daß die gänzliche Abschaffung der Entmündigung ein tradiertes Rechtsinstrument beseitigt. Aber vielen Juristen und auch manchen Laien wird es umwälzender erscheinen, als es in der Rechtswirklichkeit ist. Entmündigungen werden auch heute nur noch selten angeordnet; sie wurden weitgehend durch die sogenannte Zwangspflegschaft verdrängt, einem Rechtsinstitut, das im Wege verfassungskonformer Auslegung des Pflegschaftsrechts entwickelt wurde und im Gegensatz zur Entmündigung eben keine Auswirkungen auf die Geschäftsfähigkeit hat. Das neue Betreuungsgesetz knüpft an diese richterliche Rechtsfortbildung an. Das Rechtsinstitut der Betreuung ist daher ein geringerer rechtspolitischer Einschnitt -dennoch ein notwendiger -, als es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Chance ist dieses neue Betreuungsgesetz in mehrfacher Hinsicht. Geistig behinderte Erwachsene und altersgebrechliche Menschen werden besser als bisher in die Lage versetzt, ja dazu ermuntert, ihr Leben, soweit es irgend möglich ist, selbst eigenverantwortlich zu gestalten. Das Betreuungsgesetz wertet die Personensorge gegenüber der Vermögenssorge entscheidend auf. Soll ein bestimmter risikobehafteter ärztlicher Eingriff erfolgen? Soll ein altersgebrechlicher Mensch in ein Heim eingewiesen und seine Wohnung aufgelöst werden? Soll eine Sterilisation, die beispielsweise ein eheliches oder eheähnliches Zusammenleben geistig Behinderter ermöglicht, durchgeführt werden? Diese Entscheidungen sind doch für die Menschen, die nicht die volle Einsichtsfähigkeit zum Handeln besitzen, noch wichtiger als die Vermögenssorge oder die Stellvertretung bei einem Rechtsgeschäft. Dabei sind natürlich - das wurde in der Debatte deutlich - sensible und ethisch äußerst schwierige Materien zu regeln. Leitend war das Menschenbild des Grundgesetzes, das dort verankerte Bekenntnis zur Menschenwürde und zum sozialen Rechtsstaat. Das neue Betreuungsrecht ist der Versuch, auch geistig behinderten und altersgebrechlichen Menschen ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen. Die im Gesetzgebungsverfahren, aber auch in der Öffentlichkeit am meisten diskutierte Vorschrift dieses umfassenden Gesetzgebungswerks war und ist - auch in der heutigen Debatte - die Frage der Sterilisation einwilligungsunfähiger Personen. Ich hatte den Eindruck, daß man sich dieses Themas sehr behutsam angenommen hat. Eine klare gesetzliche Entscheidung in diesem Bereich ist längst überfällig. Das geltende Recht läßt hier Eltern, Ärzte, Vormünder und Pfleger mit ihren Sorgen allein, ja drängt sie gelegentlich in die Illegalität, weil sie mit dem strafrechtlichen Vorwurf einer gefährlichen Körperverletzung konfrontiert werden. Das neue Betreuungsgesetz schafft die rechtsstaatlich gebotene Klarheit. Die Sterilisation einwilligungsunfähiger Behinderter wird unter streng begrenzten Voraussetzungen und strikter vormundschaftsgerichtlicher Kontrolle für zulässig erklärt. Dies gilt nur für Volljährige. Die Sterilisation Minderjähriger ist ausnahmslos verboten. Wir glauben, daß diese restriktive Lösung zu einer ganz wesentlichen Einschränkung der heutigen Sterilisationspraxis führen wird. Die heute noch vielfach anzutreffende Sterilisation für alle Fälle ist künftig unzulässig. Andererseits würde sich bei dem anderen Extrem, nämlich einem Totalverbot der Sterilisation, der Schwangerschaftsabbruch an einer geistig behinderten Frau zu einer Art Ersatzform für die Sterilisation entwickeln. Auch die Wegnahme eines Kindes ist zu bedenken.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?

Dr. Manfred Langner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001288, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Selbstverständlich.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Abgeordneter Langner, sind Sie nicht mit mir der Meinung - das haben wir auch im Ausschuß so beraten - , daß es damit nicht dazu gegriffen wird, sinnvoll ist, von vornherein auch ein Verbot von Abtreibung ohne Einwilligung vorzusehen und statt dessen, wie ich hier schon ausgeführt habe, soziale Hilfen anzubieten?

Dr. Manfred Langner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001288, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Erstens gelten die Abtreibungsregelungen des Strafgesetzbuchs auch in diesem Bereich uneingeschränkt. Zweitens. Mit sozialen Hilfen können Sie auch das Problem des Leides nicht lösen, das bei einer Mutter, einem Vater entsteht, wenn Sie geistig behinderten Menschen etwa das Kind wegnehmen müssen, weil die Mutter oder der Vater nicht in der Lage ist, es aufzuziehen. Hier soll, wie gesagt, jetzt rechtsstaatliche Klarheit geschaffen werden. Es wäre eine fatale Konsequenz, wenn viele Eltern oder Betreuer jegliche geschlechtliche Beziehungen der Behinderten unterbinden würden, etwa aus Furcht vor einer ungewollten und nicht verantwortbaren Schwangerschaft. Bei einem Totalverbot bestünde nicht zuletzt die Gefahr - ich glaube, das klang auch bei Ihnen, Herr de With, an - , daß die Sterilisation weiterhin in einer Grauzone stattfände, etwa auch auf dem Weg, daß nicht einsichtsfähige Behinderte zu einsichtsfähigen und damit einwilligungsfähigen Personen manipuliert würden. Diese Konsequenzen eines Totalverbotes sind nicht tragbar. Ich begrüße es, daß neben den Koalitionsfraktionen im Rechtsausschuß auch die sozialdemokratischen Kollegen der im Betreuungsgesetz vorgesehenen Sterilisationsregelung zugestimmt haben. Bei dieser schwierigen ethischen Problematik ist mir der gefundene breite politische Konsens besonders wichtig. Die Koalitionsfraktionen haben daher auch gemeinsam mit der SPD einen Entschließungsantrag eingebracht, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, alle vier Jahre über die praktischen Auswirkungen der im Betreuungsgesetz enthaltenen Sterilisationsregelungen zu berichten. So bedeutsam diese Problematik ist, so stellt sie doch nur einen Ausschnitt von dem dar, was in dem Gesetz geregelt wird. Einige wenige Punkte seien ergänzend erwähnt. Ich nenne zunächst die Neuregelung des Verfahrens. Zukünftig wird über die Anordnung wie auch über die Betreuerbestellung in einem einheitlichen Verfahren der Freiwilligen Gerichtsbarkeit entschieden, wobei die Vormundschaftsgerichte allein zuständig sind. Hierbei werden die Betroffenen weitaus stärker als bisher an dem Entscheidungsprozeß beteiligt. Persönliche Anhörung und Begutachtung sind Eckpfeiler des Verfahrens. Auf Grund vieler Anregungen des Bundesrates und aus der richterlichen Praxis in den Anhörungen wurde das Verfahrensrecht im Rechtsausschuß in einigen Punkten gegenüber dem Gesetzentwurf verändert; ich meine, es wurde verbessert. Es wird noch mehr zwischen den unterschiedlichen Gruppen betreuungsbedürftiger Personen unterschieden und eine einzelfallbezogene Flexibilität im Verfahren und bei der Entscheidung ermöglicht. Das Verfahrensrecht wurde insgesamt vereinfacht, ohne rechtsstaatliche Abstriche in Kauf zu nehmen. Das Hauptziel war, relativ unkomplizierte, schnelle und für den Bürger verständliche Verfahren zu erreichen. Ich nenne einen anderen Punkt. Bei der Durchforstung des Vormundschafts- und Pflegschaftsrechts haben wir über den Gesetzentwurf hinaus noch einen antiquierten Vorschriftenkomplex geändert: die Mündelgeldvorschriften des Bürgerlichen Rechts. Bisher können Mündelgelder ohne gerichtliche Erlaubnis nur bei inländischen öffentlichen Kassen angelegt werden. Seit der Errichtung von Einlagesicherungssystemen der Banken ist auch bei diesen voller Einlegerschutz gewährleistet. Zukünftig können Mündelgelder daher bei allen Kreditinstituten, die einer für die Anlage ausreichenden Sicherungseinrichtung angehören, angelegt werden. Meine Damen und Herren, die Regierungskoalition hat ihr Wort gehalten, nämlich in dieser Wahlperiode dafür zu sorgen, daß ein zeitgemäßes Betreuungsgesetz verabschiedet wird. Das beste Betreuungsgesetz nutzt indes nichts, wenn sich nicht mehr Bürger als bisher bereitfinden, geistig behinderten und altersgebrechlichen Menschen zur Seite zu stehen. Als flankierende Maßnahme ist daher eine breit angelegte Informationskampagne der Bundesregierung vor Inkrafttreten des Gesetzes im Jahre 1992 erforderlich. Der Justizminister hat bereits entsprechende Aktivitäten zugesagt. Es muß von uns allen verdeutlicht werden, wie wichtig die Mithilfe in diesem Bereich ist. Jeder, der eine Betreuungsaufgabe übernimmt, leistet einen nicht zu überschätzenden Beitrag für ein menschliches Gesicht unserer Gesellschaft. Schönen Dank. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Unruh.

Gertrud Unruh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002358, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Volksvertreterinnen und Volksvertreter! Selbstverständlich stimme ich allen Änderungsanträgen und allen Entschließungsanträgen gerne zusätzlich zu. Ich freue mich aber gleichzeitig, daß nach hundert Jahren endlich etwas in unsere Gesellschaft hineinkommt, was im wesentlichen gebrechlichen alten Menschen dienlich ist. Traurig ist für unsere Gesellschaft natürlich, was ich heute so habe hören müssen: daß man nicht längst den Punkt „Die Würde des Menschen ist unantastbar" geregelt hat, daß es darüber 1990 werden mußte. Ich kann Ihnen eines sagen: Sehr wahrscheinlich würden Sie ohne den Einsatz des Seniorenschutzbundes „Graue Panther", der seit 1975 auf die Straße gehen mußte, um für die Würde alter, hilfloser Menschen zu streiten, immer noch ruhig hier sitzen, es juristisch abtasten und vergessen, wofür Sie als Volksvertreter und Volksvertreterinnen eigentlich da sind. Erschütterndes passiert bis heute. Es ist ja nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen. Es finden Menschenrechtsverletzungen statt. In die Dritte Welt, in die DDR oder sonstwo hinein können Sie groß tönen. Aber was passiert bei uns noch hinter verschlossenen Türen? Da haben wir „Grauen Panther" jetzt Gott sei Dank einen Ansatzpunkt, um letzlich auch mit Vormundschaftsrichtern und -richterinnen noch viel härter umzugehen, die uns aber dann gern folgen. Ich richte meinen schweren Vorwurf genauso an unsere Kirchen. Ich richte meinen schweren Vorwurf als Gründerin des Seniorenschutzbundes „Graue Panther" genauso an die Wohlfahrtsverbände, genauso an den VdK, genauso an die Altenorganisation Reichsbund und und und. Warum wird geschwiegen, geschwiegen und nochmals geschwiegen im Bewußtsein dessen, daß es so etwas gibt? Unmöglich ist, Herr Justizminister, Altfälle zehn bis zwanzig Jahre auf den Rost zu legen. Soll ich Ihnen wieder einmal etwas vorlesen, etwa das, was ein 72jähriger Mann hat erleben müssen, der lediglich eine Kreislaufschwäche bekommen hat und sich dann entrechtet in einer Alterspsychiatrie wiederfindet? Wir haben uns für ihn eingesetzt. Es tut doch sonst niemand. Gehen Sie doch einmal zu einer Parteidienststelle, gehen Sie doch einmal zum Geschäftsführer eines Wohlfahrtsverbandes, gehen Sie doch einmal zu irgendeinem Kirchenfürsten und sagen ihm: Junge, jetzt mußt du dich dafür aktiv einsetzen. Nein, da ist nach wie vor die dicke Grauzone. Man sagt: Das geht nicht, die Gesetze stehen dagegen. Wir haben diesem 72 Jahre alten Herrn helfen können. Er wollte in seine Wohnung zurück. Sie war gar nicht mehr da. Das ist erst jetzt, im April 1990, passiert. Obwohl die Vormundschaftsgerichte wissen, daß etwas ganz anderes kommt, denken sie gar nicht daran. Es ist ja viel, viel besser, die Renten einzuziehen, das Vermögen einzuziehen und dann mit alten, gebrechlichen Menschen das zu machen, womit man noch viel Geld verdienen kann. Ich persönlich bin erst einmal froh, daß wir vom Seniorenschutzbund „Graue Panther" an der Möglichkeiten des aktiven Eingreifens kriegen, damit wir dann vielleicht auf politischer Ebene - das, liebe Frau Nickels, sehe ich etwas anders; ich will ja diese Regierung weg haben - neue Ansätze in diesem Hohen Hause finden, um das, was Sie auch alle wollen, gemeinschaftlich durchzusetzen. Ich danke Ihnen, Herr Justizminister, daß Sie diesen ersten Schritt gewagt haben. Die Länder sperren sich zwar. Aber das sind genau die, die sich in Grund und Boden schämen müssen. Denken Sie einmal daran, was die für die Geheimdienste ausgeben. Und dann sperren sie sich, 200 Millionen DM auszugeben, um Menschenrechtsverletzungen abzuwehren oder mehr Richter einzustellen. Dagegen werden natürlich mehr Rüstungsleute eingestellt. Man macht Rüstungsverträge, wo Milliarden hinausgeschmissen werden. Aber Menschenrechtsverletzungen in diesem unserem Lande abzustellen soll an 200 Millionen DM scheitern? Wir werden ein Schild schreiben: Schande für Deutschland - Altersrechtlosigkeit und Altersarmut. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister der Justiz, Herr Engelhard.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die heutige Debatte und die anschließenden Abstimmungen und ihr Ergebnis können als ein Markstein in der Rechtspolitik dieser Legislaturperiode bezeichnet werden. Wer sich mit den Problemen der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige beschäftigt hat, wer die Debatten im Rechtsausschuß verfolgt hat und die Dinge kennt, der wird dieses Urteil bestätigen. Nach dem geltenden Recht ist sehr schnell zu der Möglichkeit der Entmündigung oder der Zwangspflegschaft gegriffen worden. Unnötig, kleinlich und oft auch viel zu lange werden Menschen in ihren Rechten beschränkt. Das neue Betreuungsrecht geht darauf aus, die Rechtsstellung dieser Menschen grundsätzlich zu verbessern und zu stärken. Die Betroffenen sind eine viertel Million Menschen in diesem Lande. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, daß es bei der erfreulich steigenden Lebenserwartung in der Bundesrepublik Deutschland immer mehr ältere Menschen sind, die zu Betroffenen werden. Hier hat das Bürgerliche Gesetzbuch an rechtlichem Instrumentarium in der Tat wenig anzubieten gewußt, weil es in einer ganz anderen Zeit entstanden ist. Wir hatten auch bereits im Kaiserreich eine saubere Statistik. Diese hat in den Jahren 1891 bis 1900 für das Deutsche Reich, wenn man die damals sehr hohe Säuglingssterblichkeit herausrechnete, ausgewiesen, daß die Lebenserwartung für Männer bei knapp 52 Jahren und für Frauen bei knapp 54 Jahren lag. Mit unserem geltenden Recht hat man die Probleme für eine ganz andere Situation wohl noch anzupacken gewußt. Heute ist dies nicht mehr möglich. Wir bedürfen dringend eines neuen Rechts. Der Kreis der mittelbar Betroffenen besteht aus all den Angehörigen, den Betreuungspersonen, den Ärzten, Pflegerinnen und Pflegern in Krankenhäusern, in Anstalten und in Altenheimen. Alles zusammen genommen ist es ein nicht unbeträchtlicher Teil unserer Bevölkerung. Wer nun darauf angewiesen ist - das sind natürlich die meisten Bürgerinnen und Bürger -, Rechtspolitik ausschließlich über die Medien zu verfolgen, der könnte zu der Auffassung kommen, daß das, was wir heute beraten und verabschieden, so besonders bedeutsam und wichtig ja eigentlich nicht sein könne. Warum diese Auffassung? Ganz einfach deswegen, weil es an harten Auseinandersetzungen gefehlt hat, weil sich alle Gutwilligen zusammengefunden haben, um etwas Wichtiges zu tun und gemeinsam auf den Weg zu bringen, gemeinsam durchzusetzen und schließlich zu einem gemeinsamen guten Ende zu bringen. Aber häufig wird leider die Bedeutung einer Sache in der Öffentlichkeit nach der Dauer und der Lautstärke des öffentlichen Feldgeschreis bewertet. Dies führt zu grundsätzlich falschen Ergebnissen. Wir haben mit diesem Recht Dinge auf den Weg gebracht, die über den Tag hinaus ihre Bedeutung haben werden. Man kann ja einmal die Frage stellen, warum über die Jahre und Jahrzehnte in dem großen und weiten Bereich des Familienrechts zwar Wichtiges und Richtiges getan wurde, warum man sich aber immer mit der Generation der Kinder - wichtig und richtig - und mit der Generation der Eltern - gewiß auch wichtig und richtig - beschäftigt hat. Aber der Generation der Großeltern oder, wo es sie noch gibt, der Urgroßeltern und ihren Problemen hat man kaum Aufmerksamkeit zugewandt. Wir haben begonnen, dies zu ändern. Es ist gelungen, in dieser Legislaturperiode etwas auf den Weg zu bringen, das in seiner Bedeutung überhaupt nicht unterschätzt werden darf. Wir haben nach einer sehr gewissenhaften Vorarbeit die Dinge angepackt. Ich möchte an dieser Stelle allen, die in diesem Hause daran mitgearbeitet haben, herzlich danken, voran den Mitgliedern des Rechtsausschusses, speziell den Berichterstattern. Was hier innerhalb einer sehr kurzen Zeit geleistet wurde, ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Es ist gelungen, gegen Ende einer Legislaturperiode trotz einer Fülle von Problemen, die noch zu bewältigen sind, wahr zu machen, was versprochen worden ist. Mir ist zugesichert worden: Der Rechtsausschuß wird, so knapp die Zeit auch sein mag, diese Aufgabe in jedem Falle vor Abschluß der Legislaturperiode zu bewältigen wissen. Dafür, daß dies gelungen ist und daß wir wahr machen konnten, was wir nach draußen versprochen haben, möchte ich mich an dieser Stelle sehr herzlich bedanken. ({0}) Wir haben uns, der Problematik wohl bewußt, auch nicht gescheut, die schwierigen Fragen der Sterilisation in einer ungemein restriktiven, die Dinge neu regelnden Weise in diese Gesetzgebung einzubeziehen. Ich erkenne mit Genugtuung besonders an, daß die Kolleginnen und Kollegen der SPD dies erkannt und dafür ihre Unterstützung gegeben haben. Daß nun die Fraktion der GRÜNEN, die zunächst den gesamten Gesetzentwurf mit besonders lautem und begeistertem Hurra begrüßt hat, dem Entwurf nach den Beratungen mit großer Zurückhaltung begegnet und vielleicht sogar zu einer Ablehnung insgesamt kommen wird, bedaure ich. Aber auch damit werden wir existieren können. ({1}) Ich meine, wir sollten bei den entscheidenden Abstimmungen ein klares Zeichen setzen, ein Ja zu einem Vorhaben sagen, das dieser Rechtspolitik und jedem der daran mitgearbeitet hat, Ehre macht und bei denen, die betroffen sind und die dringend auf die Lösung dieser Probleme warten, Dank auslöst. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Betreuungsgesetzes, Drucksachen 11/4528 und 11/6949. Ich rufe Art. 1 auf. Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/6962 und 11/6963 vor. Die Fraktion DIE GRÜNEN verlangt, daß über den Änderungsantrag auf Drucksache 11/6962 namentlich abgestimmt wird. Ich eröffne die Abstimmung. - Sind alle Stimmkarten abgegeben worden? Meine Damen und Herren, ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung. *) ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir können die Beratungen fortsetzen. Ich bitte die Kolleginnen und Kollegen, Platz zu nehmen, damit wir mit der Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6963 fortfahren können. Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für den Änderungsantrag der GRÜNEN auf Drucksache 11/6963? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Ich rufe nunmehr die Art. 2 bis 4 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann sind die aufgerufenen Vorschriften mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen. *) Ergebnis Seite 16148 A Ich rufe Art. 5 auf. Auch hierzu liegt uns ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6966 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Ich lasse nunmehr über den Art. 5 des Gesetzes in der Ausschußfassung abstimmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Art. 5 mit den Stimmen der SPD, der Frau Abgeordneten Unruh, der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Ich rufe nunmehr die Art. 6 und 7 in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann sind die Art. 6 und 7 bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN mit der gleichen Mehrheit angenommen worden. Ich rufe nunmehr den Art. 8 auf. Auch hier liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6964 vor. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, CDU/ CSU und FDP abgelehnt worden. Ich lasse nunmehr über den Art. 8 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Dann ist der Art. 8 mit den Stimmen der SPD, der Frau Abgeordneten Unruh, der CDU/CSU und der FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Wir kommen nunmehr zu Art. 9 in der Ausschußfassung. Hierzu liegen uns Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN sowie ein Änderungsantrag der SPD vor. Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN, der Ihnen auf der Drucksache 11/6965 vorliegt? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Ich lasse nunmehr über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6973 abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/6973 mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Wir stimmen nunmehr über den Art. 9 in der Ausschußfassung ab. Wer stimmt dem Art. 9 in der Ausschußfassung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Art. 9 mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der Abgeordneten Frau Unruh angenommen worden, wobei die GRÜNEN dagegengestimmt haben und die SPD sich enthalten hat. Ich rufe Art. 10 in der Ausschußfassung auf. Wer für diesen Art. 10 in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen! - Damit ist der Art. 10 einstimmig angenommen. Vizepräsident Cronenberg Dann rufe ich den Art. 11 auf. Wer für diesen Art. 11 ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP, der SPD und der Stimme der Abgeordneten Frau Unruh ist dieser Artikel bei Enthaltungen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Ich kann Ihnen jetzt das Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben. Es handelte sich um den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6962. Abgegebene Stimmen: 328. Mit Ja haben 27 Abgeordnete gestimmt. Mit Nein haben 229 Abgeordnete gestimmt. Zwei Abgeordnete haben sich enthalten. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 327; davon ja: 27 nein: 298 enthalten: 2 Ja SPD Duve DIE GRÜNEN Frau Beck-Oberdorf Frau Beer Dr. Daniels ({0}) Frau Eid Frau Garbe Häfner Frau Hensel Hüser Kleinert ({1}) Dr. Knabe Frau Kottwitz Dr. Lippelt ({2}) Dr. Mechtersheimer Meneses Vogl Frau Oesterle-Schwerin Frau Rock Frau Saibold Frau Schilling Stratmann Such Frau Teubner Frau Trenz Frau Vennegerts Weiss ({3}) Fraktionslos Frau Unruh Nein CDU/CSU Frau Augustin Bauer Bayha Dr. Becker ({4}) Biehle Dr. Blens Böhm ({5}) Börnsen ({6}) Dr. Bötsch Bohl Carstens ({7}) Carstensen ({8}) Clemens Dr. Czaja Dr. Daniels ({9}) Dewitz Dörflinger Dr. Dollinger Echternach Ehrbar Engelsberger Dr. Faltlhauser Feilcke Dr. Fell Fellner Fischer ({10}) Francke ({11}) Dr. Friedrich Ganz ({12}) Frau Geiger Geis Gerstein Gerster ({13}) Glos Dr. Göhner Gröbl Günther Dr. Häfele Harries Hauser ({14}) Hauser ({15}) Frau Dr. Hellwig Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker Frau Hoffmann ({16}) Dr. Hornhues Hornung Frau Hürland-Büning Graf Huyn Dr. Hüsch Jäger Dr. Jahn ({17}) Dr. Jobst Jung ({18}) Kalisch Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Keller Klein ({19}) Dr. Köhler ({20}) Kossendey Kraus Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({21}) Lamers Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann Lenzer Link ({22}) Linsmeier Dr. Lippold ({23}) Louven Lowack Lummer Maaß Magin Marschewski Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Neumann ({24}) Dr. Olderog Oswald Pfeffermann Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Repnik Frau Rönsch ({25}) Frau Roitzsch ({26}) Rossmanith Dr. Rüttgers Ruf Sauer ({27}) Sauter ({28}) Frau Schätzle Scharrenbroich Scheu Schmidbauer Frau Schmidt ({29}) Freiherr von Schorlemer Schreiber Dr. Schulte ({30}) Dr. Schwörer Seesing Spilker Dr. Sprung Dr. Stark ({31}) Dr. Stavenhagen Dr. Stercken Susset Tillmann Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({32}) Vogt ({33}) Dr. Vondran Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff Werner ({34}) Frau Will-Feld Wilz Wimmer ({35}) Frau Dr. Wisniewski Wissmann Dr. Wittmann Würzbach Zeitlmann Zierer Dr. Zimmermann Zink SPD Frau Adler Antretter Bachmaier Bahr Becker ({36}) Frau Becker-Inglau Bernrath Dr. Böhme ({37}) Börnsen ({38}) Brück Büchler ({39}) Buschfort Catenhusen Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Diller Egert Dr. Emmerlich Frau Faße Frau Fuchs ({40}) Gansel Gilges Dr. Glotz Graf Großmann Grunenberg Haack ({41}) Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Häuser Heistermann Hiller ({42}) Huonker Jahn ({43}) Jaunich Dr. Jens Jung ({44}) Frau Kastner Kastning Kirschner Kißlinger Kolbow Koschnick Kretkowski Dr. Kübler Lambinus Lennartz Leonhart Frau Luuk Müller ({45}) Müller ({46}) Nagel Nehm Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Dr. Nöbel Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel Dr. Osswald Paterna Dr. Penner Peter ({47}) Dr. Pick Vizepräsident Cronenberg Porzner Poß Purps Frau Renger Reuschenbach Reuter Rixe Roth Schäfer ({48}) Schluckebier Schmidt ({49}) Schmidt ({50}) Schreiner Frau Schulte ({51}) Frau Seuster Sieler ({52}) Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling Stiegler Stobbe Frau Dr. Timm Vahlberg Verheugen Voigt ({53}) Vosen Wartenberg ({54}) Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal Frau Weyel Dr. Wieczorek Frau Wieczorek-Zeul Dr. de With Wittich Zumkley FDP Baum Beckmann Cronenberg ({55}) Eimer ({56}) Engelhard Dr. Feldmann Frau Folz-Steinacker Funke Gallus Gattermann Gries Grüner Frau Dr. Hamm-Brücher Heinrich Dr. Hoyer Kleinert ({57}) Kohn Dr.-Ing. Laermann Lüder Mischnick Neuhausen Nolting Paintner Richter Rind Ronneburger Schäfer ({58}) Frau Dr. Segall Dr. Solms Dr. Thomae Timm Frau Walz Dr. Weng ({59}) Wolfgramm ({60}) Frau Würfel Enthalten SPD Conradi DIE GRÜNEN Frau Flinner Damit ist der Änderungsantrag abgelehnt. Wir können nunmehr über den Art. 1 in der Ausschußfassung sowie über Einleitung und Überschrift des Entwurfs eines Betreuungsgesetzes abstimmen. Wer stimmt für den Art. 1, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Entwurf mit den Stimmen der CDU/ CSU, FDP, SPD und der Stimme von Frau Unruh gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen. Wir haben zu Tagesordnungspunkt 13, Betreuungsgesetz, noch eine schriftliche Erklärung des Abgeordneten Seesing vorliegen. Ich gebe dem Haus das nur bekannt; sie kann zu Protokoll gegeben werden. *) Der Abgeordnete Seesing ist damit einverstanden. Dann treten wir nunmehr in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, bitte ich, sich zu erheben. Wer stimmt dagegen? - Enthaltun- *) Anlage 3 gen? - Das Gesetz ist mit den Stimmen der CDU/ CSU, FDP, SPD und der Stimme der Abgeordneten Frau Unruh gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden. Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/6975 vor. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden. Wir kommen nunmehr - Tagesordnungspunkt 13 b - zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses. Sie liegt Ihnen auf Drucksache 11/6949 vor. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/669 für erledigt zu erklären. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung des Ausschusses? - Wer stimmt dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung des Ausschusses mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP, SPD und der Stimme der Abgeordneten Frau Unruh gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Offensichtlich liegen noch zwei weitere Entschließungsanträge zur Abstimmung vor. Zunächst einmal lasse ich über den Entschließungsantrag der CDU/ CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/6983 abstimmen. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich stelle fest, daß dieser Entschließungsantrag einstimmig angenommen worden ist. Nunmehr haben wir noch einen Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf der Drucksache 11/6969 vorliegen. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU, FDP und SPD abgelehnt. Ich hoffe nunmehr, daß wir alle in Zusammenhang mit diesem Gesetz stehenden Entschließungsanträge und Änderungsanträge abgewickelt haben und ich den Tagesordnungspunkt abschließen kann. Das ist offensichtlich der Fall. Dann rufe ich Tagesordnungspunkt 14 auf: a) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({61}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN Beendigung der Arbeiten am Endlager Gorleben - Drucksachen 11/511, 11/6967 - b) Beratung des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({62}) gemäß § 62 Abs. 2 der Geschäftsordnung zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Wollny und der Fraktion DIE GRÜNEN Atommüllendlager „Schacht Konrad" in Salzgitter-Bleckenstedt - Drucksachen 11/2002, 11/6968 - Vizepräsident Cronenberg c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Wollny, Dr. Daniels ({63}), Frau Flinner, Frau Garbe, Frau Hensel, Frau Teubner, Brauer, Dr. Knabe, Hoss und der Fraktion DIE GRÜNEN Vier Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl - Drucksache 11/6852 - d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({64}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zur Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Hauff, Schäfer ({65}), Lennartz, Frau Dr. Hartenstein, Bachmaier, Frau Blunck, Duve, Fischer ({66}), Jansen, Kiehm, Kühbacher, Frau Dr. Martiny, Menzel, Müller ({67}), Reimann, Reuter, Stahl ({68}), Egert, Frau Conrad, Frau Dr. Götte, Dr. Schöfberger, Ibrügger, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Tschernobyl und die Folgen - Ein Jahr danach - Drucksachen 11/139, 11/775, 11/2102 ({69}), 11/5177 Berichterstatter: Abgeordnete Harries Reuter Frau Wollny Der Ältestenrat hat eine gemeinsame Beratung vorgeschlagen, und zwar mit einem Beitrag von zehn Minuten pro Fraktion. Ich frage das Haus, ob es mit diesem Verfahrensvorschlag einverstanden ist. - Das ist der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen und die Debatte eröffnen. Zunächst hat der Abgeordnete Dr. Daniels das Wort.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 26. April 1986 passierte die bisher größte Reaktorkatastrophe in der Geschichte der Menschheit. Juri Tscherbak, mittlerweile Mitglied des Obersten Sowjets in der UdSSR, spricht, wenn er im fünften Jahr nach Tschernobyl die Folgen des Unfalls zu beschreiben versucht, von einer Atomkriegszone mitten in Europa. Mindestens drei sowjetische Republiken - die Ukraine, Weißrußland sowie Rußland - sind hoch verstrahlt. Eine Fläche von über 10 000 km2 in der UdSSR ist unbewohnbar und kann nicht mehr genutzt werden. Die Bevölkerung wurde viel zu spät evakuiert. Minimale Maßnahmen konnten nicht ergriffen werden, da die sowjetischen und internationalen Behörden die Menschen im unklaren ließen. Sie vertuschten das Ausmaß der Strahlenverseuchung und wiegelten Strahlenfolgen für Mensch und Umwelt ab. Das geschieht auch heute noch. Das Ausmaß der Schäden kommt auf Druck der betroffenen Bevölkerung langsam an die Öffentlichkeit. Für viele Menschen kommt jede Hilfe zu spät. Für weitere Umsiedlungsmaßnahmen, die 270 000 Menschen betreffen werden, entstehen nach Aussagen von Wissenschaftlern vor Ort Kosten in Höhe von 57 Milliarden Rubel. Dennoch wird das Land nicht wieder bewohnbar. Das Ausmaß der Folgen der Reaktorkatastrophe zeichnete sich kaum im Ansatz ab, als Tschernobyl wieder ans Netz ging, so, als wäre nichts geschehen und die Katastrophe bewältigt. Auch die Internationale Atomenergiebehörde äußerte keine Bedenken. Die Wiederinbetriebnahme war in hohem Maße unverantwortlich. Und wie uns kürzlich bestätigt wurde, ist die Lage vor Ort äußerst dramatisch. Im vergangenen Jahr mußte dreißigmal abgeschaltet werden. Wissenschaftlerinnen in Moskau fordern die umgehende Stillegung der Atomanlage, ehe es zu spät ist. Der Ruf nach Ausstieg aus der Atomenenergienutzung wird auch in der UdSSR immer lauter. Strahlenschutz für Mensch und Umwelt ernstgenommen kann nur bedeuten, entscheidende Schritte zur Strahlenminimierung vorzunehmen, und nicht, die Anpassung an zunehmende Strahlenbelastung zu rechtfertigen. Genauso schließt mehr Reaktorsicherheitstechnik, auch wenn sie aus der Bundesrepublik kommt, keinen Atomunfall aus. Sie wissen das genausogut wie wir. Krankheit und Leid unter den von der radioaktiven Verseuchung betroffenen Menschen nehmen ständig zu. Im weißrussischen Bezirk Gomel hat sich die Anzahl der Blutkrebserkrankungen bei Kindern von monatlich weniger als zwei im Jahre 1986 auf rund 800 im vergangenen Jahr erhöht. Man sprach von „Tschernobyl-Aids" und suchte nach Auswegen aus ausweglosen Situationen. Radioaktive Verseuchung von Mensch und Umwelt bringt den schleichenden, aber sicheren Tod. Es gibt kein Entrinnen. Tschernobyl zeigt, daß keine Regierung der Welt ein solches menschliches Leid verantworten kann und keine Gesellschaft in der Lage ist, solche Kosten zu tragen. Würde es den Menschen in der Bundesrepublik anders gehen, wenn es hier zu einem GAU käme? Ich wage dies zu bezweifeln. Der Verweis auf unterschiedliche Wirtschaftssysteme hat nichts damit zu tun, daß wir uns mit der Atomenergienutzung in eine Sackgasse hineinmanövriert haben. Morgen schon kann ein vergleichbarer Unfall in der Bundesrepublik geschehen. Wenn die Katastrophe da ist, dann gibt es keinen Ausweg mehr. Eine Gesellschaft, die dieses Risiko für nicht verantwortbar hält, muß auf Atomanlagen und Atomwaffen verzichten. Wir fordern die Bundesregierung und die Sozialdemokratie auf, endlich den Atomkurs zu verlassen. Wir fordern sie auf, eine Vorreiterrolle einzunehmen bei der Weiterentwicklung ökologisch verträglicher Technologien zum ausschließlich friedlichen Nutzen aller Menschen. Der Ausstieg ist möglich und muß endlich von den Altparteien auch gewollt werden. Schlimmstenfalls gehen bei einer solchen Umstellung die Lichter in einigen Büros der RWE aus. Ich frage Sie: Ist das nicht leichter zu ertragen als ein schleichender Strahlentod von Hunderttausenden von Menschen? Die Berichte aus der Sowjetunion lassen uns dieser Tage vergessen, daß Strahlenfolgen von Tschernobyl auch in der Bundesrepublik zu beobachten sind. Nach heutiger Bewertung des Strahlenkrebsrisikos müssen Dr. Daniels ({0}) wir mit mehr als 7 000 zusätzlichen Krebstoten in den nächsten 50 Jahren rechnen. Die Bundesregierung nimmt dies zur Kenntnis, doch wo bleiben die Konsequenzen? Die Bundesregierung spielt Russisches Roulette. Sie nimmt den Tod und die zunehmende Strahlenverseuchung von Mensch und Umwelt mit dem Hinweis in Kauf, es gebe keine ausreichenden Beweise. Ich bitte Sie, sich die Berichte aus der UdSSR noch einmal zu vergegenwärtigen. Tod und Krankheit - ist das nicht Beweis genug? Die Bundesregierung steht genauso in der Verantwortung wie die anderen Mitgliedstaaten der IAEA und die Regierung der Sowjetunion, und trotzdem beteiligen sie sich weiter an dem Schrecken ohne Ende. Tschernobyl ist nach Hiroshima und Nagasaki für die internationalen Wissenschaftler zum zweiten großen Forschungsgebiet und Freiland-Laboratorium erklärt worden. Wir fordern die Bundesregierung auf, ihrer Mitverantwortung Rechnung zu tragen und sich an einer internationalen Hilfsaktion für die betroffenen Menschen in den verseuchten Regionen zu beteiligen. Aus Tschernobyl werden auch in der Bundesrepublik keine Lehren gezogen. Die Verantwortungslosigkeit setzt sich fort. Man spielt weiter mit den Folgen unlösbarer Probleme, indem weiter Atommüll produziert wird. Im März hatte die Bundesregierung durch die Unterzeichnung der Verträge zur Wiederaufarbeitung in La Hague und Sellafield der weiteren schleichenden Katastrophe Tür und Tor geöffnet. Der Export dieser Gefahren ins Ausland soll hierzulande beruhigen. Verantwortungslos bleibt die Sache trotzdem. Und der Zwang zur Realisierung der Endlagerprojekte Gorleben und Konrad wächst - Projekte, die nachgewiesenermaßen ungeeignet sind. In Gorleben will man durch die Inbetriebnahme des Zwischenlagers und den Bau einer Pilot-Konditionierungsanlage das Endlager de facto erzwingen. Alle Fakten sprechen gegen diesen Salzstock. Es existiert kein Mehrbarrierensystem, kein Nachweis der Langzeitsicherheit. Der Bergrutsch und der Unfall im Schacht 1987 haben alle Befürchtungen bestätigt. Konsequenzen wurden aber bisher daraus nicht gezogen. Seit 14 Jahren wird versucht, Schacht Konrad endlagertauglich zu rechnen. Trotzdem läßt sich die Langzeitsicherheit nicht nachweisen. Schacht Konrad ist nachgewiesenermaßen ungeeignet. Aber auch der Versuch, durch Nichtberücksichtigung wesentlicher Faktoren wie der Frage der Transporte schneller voranzukommen, erweist sich jetzt als Trugschluß. Gerade jüngst wurde bekannt, daß die Bevölkerung beim Abtransport der radioaktiven Frachten einer Strahlenbelastung von 40 mrem und mehr pro Jahr ausgesetzt sein wird. Damit werden die Grenzwerte der Strahlenschutzverordnung überschritten. Da nützt es nichts, wenn jetzt diese Studie unter Verschluß gehalten wird. Es müssen endlich Konsequenzen gezogen werden. Wir haben vor zwei bzw. drei Jahren unsere Anträge auf Abbruch der Arbeiten am Endlager Gorleben und auf Abbruch des Planfeststellungsverfahrens Schacht Konrad hier eingebracht, weil wir der Überzeugung sind, daß aus den erdrückenden Fakten endlich Folgerungen gezogen werden müssen. Doch bis heute ist eine Entscheidung über unsere Anträge verhindert worden, weil man da Farbe bekennen müßte. Es würde sich zeigen, welche Partei weiterhin betonköpfig mit Lügen den Fetisch gesicherter Entsorgung aufrechterhalten will. Fakt ist, daß vom federführenden Umweltausschuß hier heute kein schriftlicher Zwischenbericht vorliegt. Ist das Schlamperei oder Absicht? Es ist Absicht! Wir haben die Beratung seit geraumer Zeit angemahnt, und jetzt mußten wir uns der Geschäftsordnung bedienen, damit endlich Bewegung in die Angelegenheit kommt. Hinter dieser Blockadepolitik steckt die neuerliche Anlehnung zwischen den alten Atomparteien CDU, FDP und SPD. Im Konsensverfahren wollen Sie der Atomenergie eine Zukunft bauen. Die Entsorgungsfrage ist desolat und die Akzeptanz in der Bevölkerung auf einem derartigen Tiefpunkt, daß man nun gemeinsam mit voller Kraft voraus die Entsorgungsprojekte politisch durchsetzen will. Diese Gemeinsamkeit wird seit Monaten in der Bund-Länder-Kommission und einem eigens eingerichteten Staatssekretärsausschuß verhandelt. Wir wissen, daß die SPD mitzieht, daß sie diesen Konsens will. Im Prinzip sind die Würfel gefallen. Die Mehrheit der SPD-regierten Länder wollen mit CDU und FDP gemeinsame Sache machen. Hinter diesem ganzen Geschiebe stehen natürlich auch wahltaktische Gründe. Vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen soll die Entsorgung kein Thema sein. Zwischen CDU, FDP und SPD ist diesbezüglich eine Friedenspflicht vereinbart worden. ({1}) Die Bundes-SPD kann jetzt nicht unsere Anträge unterstützen und später die Projekte in Gorleben und der Anlage Konrad politisch mittragen. Das würde nach Wortbruch aussehen. Sie kann sich aber auch nicht gegen unsere Anträge stellen, denn dann würde sie ihren Kollegen, insbesondere in Niedersachsen, in den Rücken fallen, da im Wahlkampf mit der Ablehnung der Projekte Gorleben und Schacht Konrad auf Stimmenfang gegangen wird. Fürwahr ein Dilemma! Liebe Kollegen von der SPD, entscheiden Sie sich mit uns für eine Zukunft ohne Atomkraft und ohne Angst vor Radioaktivität. ({2}) Meine Damen und Herren! Präsident Gorbatschow erklärte bei seinem Besuch in Tschernobyl: „Wir alle sind Geiseln der Atomindustrie." Wir sind allerdings nur solange Geiseln, wie wir politisch die Atomindustrie fordern und unterstützen. Nur durch einen klaren politischen Beschluß zum Ausstieg aus der Atomenergie können wir uns von dieser Geißel befreien. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Harries.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Fraktion der GRÜNEN beantragt den Stopp der Erkundungsarbeiten in Gorleben und das Verfahrensende für das in Planung befindliche Lager Konrad in Salzgitter. Sie beschwört darüber hinaus einmal wieder die Katastrophe von Tschernobyl. ({0}) Der Antrag der SPD, der sich auf einen „Stopp" von Tiefflügen über Kernkraftwerken bezieht, hat sich inhaltlich durch eingeleitete und beschlossene Maßnahmen erledigt. Vor dem Hintergrund der bestehenden Aufgaben und Probleme - ich nenne die Energieversorgung für die Welt in den nächsten Jahrzehnten, ich nenne die Debatte und die Gefahren, die mit der Klimadebatte und der Klimakatastrophe zusammenhängen - sind die Grünen nicht mehr aktuell. Sie stehen umweltpolitisch und energiepolitisch im Abseits. Die Fraktionen der Regierungskoalition sagen demgegenüber weiterhin ja zur friedlichen Nutzung der Kernenergie und damit auch untrennbar verbunden ja zur Vorbereitung und Sicherstellung einer korrekten Entsorgung. Meine Damen und Herren, national und international werden die Probleme, die ich eben kurz angedeutet habe, verstärkt diskutiert. CO2-Emissionen und Klimaveränderungen sind Probleme, mit denen man sich befassen muß. Dabei ist es interessant, meine Damen und Herren, festzustellen, wie sich hier die Stimmen aus dem Ausland, insbesondere aus den Industrieländern, geändert haben. Die Sowjetunion - das wissen Sie, das wissen wir alle - hat trotz der wachsenden Probleme durch den GAU-Fall in Tschernobyl nicht den Ausstieg aus der Kernenergie beschlossen, sondern man setzt weiterhin auf Kernenergie in der Sowjetunion. In Schweden bemüht man sich seit kurzem, unter Gesichtswahrung endlich von den früher gefaßten falschen Beschlüssen loszukommen, und man ist dringend darauf angewiesen, weiterhin ja zur Kernenergie zu sagen. In den USA ist in den letzten Jahren kein neues Kernkraftwerk gebaut worden, es ist aber auch keines geschlossen worden. Inzwischen haben 49 Nobelpreisträger und 700 Mitglieder der Amerikanischen Akademie der Wissenschaft auf die Notwendigkeit eines Umschwungs in der energiepolitischen Debatte der Vereinigten Staaten hingewiesen. Sie haben Präsident Bush aufgefordert, zu einem entschlossenen Kampf gegen den Treibhauseffekt aufzurufen. Sie haben sich für ein neues Kernenergieprogramm ausgesprochen, dieses aber an die klare Bedingung geknüpft, die Entsorgung zu regeln. Interessant ist, daß zu den Unterzeichnern dieser Resolution auch der bekannte Kernenergiegegner - Sie wissen das - Amory Lovins gehört. ({1}) Professor Meyer-Abich, Kronzeuge der SPD-Bundestagsfraktion, hat vor kurzem - ich zitiere die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" - ausdrücklich davor gewarnt, aus der Kernenergie wegen der geschilderten Probleme auszusteigen, ({2}) und hat sich gegen die Verbrennung von fossiler Energie in diesem Umfang gewandt. Professor Barthelt aus der Bundesrepublik hat - auch das ist bekannt - auf die dringende Notwendigkeit einer kohlendioxydfreien Energiequelle hingewiesen. Ich zitiere einen weiteren Fachmann auf diesem Gebiet, den Vorstandsvorsitzenden der VDEW Frankfurt, Professor Heidinger. ({3}) Er hat eine Energiekultur empfohlen. Sie wissen, was das ist. Das ist eine Mixtur von Maßnahmen, die erforderlich sind, um die anstehenden und die zu erwartenden Probleme zu regeln. Diese Mischung von Maßnahmen besteht auch aus dem Sparen, ({4}) dem verstärkten Einsparen. Da haben wir einen breiten Konsens. Die Industrie leistet dabei auf diesem Gebiet schon lange Vorbildliches. Hier sind weitere Möglichkeiten im privaten Bereich, also von uns allen, wahrzunehmen. Zu dem Mixtum dieser Energiekultur gehört neben dem Sparen die verstärkte Ausweisung von Forschungsmitteln, um im konventionellen Bereich der ja weiterhin zu habenden und vorhandenen Kraftwerke den CO2-Ausstoß zu verringern. Hier gibt es Ansätze. Sie müssen mit Sicherheit erweitert werden. Die verstärkte Nutzung regenerativer Energiequellen haben wir hier wiederholt diskutiert. Darauf ist überhaupt nicht zu verzichten. ({5}) Die Maßnahmen sind zu verstärken. Nur, es ist hier eine dritte Maßnahme neben den anderen zu erkennen. Zu dieser Energiekultur gehören schließlich das Bekenntnis zur Kernenergie und deren Nutzung. Unverzichtbar ist dabei, daß das Restrisiko weiterhin minimiert wird, daß bestehende Risiken abgebaut werden, daß die Technik ständig verbessert wird, daß internationale Sicherheitsabsprachen ausgedehnt und intensiviert werden und daß die Sicherstellung der Entsorgung eingeleitet wird. Aus diesem Grund müssen und werden wir trotz Tschernobyl an Gorleben und an Konrad festhalten. Wie ist der Sachstand beider Verfahren? Sie wissen, daß bei Salzgitter das ausgedehnte Erzbergwerk Konrad liegt. Seit 1976 wurden umfangreiche Erkundungsarbeiten im Hinblick auf die Einlagerung von geringfügig wärmeentwickelnden radioaktiven Abfällen durchgeführt. Das atomrechtliche Planfeststellungsverfahren läuft. Es ist zur Zeit unterbrochen. Aber es wird noch im Sommer dieses Jahres aufgenommen. Es ist zu erwarten, daß der PlanfestHarries stellungsbeschluß für Konrad im Jahre 1991 ergeht. Das würde einen Einlagerungsbeginn für 1994 ermöglichen. Die zügige Einrichtung des Schachtes Konrad ist geboten, um die bereits vorhandenen und die künftig noch anfallenden radioaktiven Abfälle, die nicht stark wärmeentwickelnd sind, in Konrad endzulagern. Ich kann Ihnen, Herr Dr. Daniels, auch hier nur recht geben. Ich bedaure wie Sie, daß die SPD für die niedersächsische Landtagswahl keine klare Aussage macht. Sie drückt sich wieder einmal darum herum. ({6}) Sie sagt zu Konrad nein, ohne Roß und Reiter zu nennen, wo denn dieses Endlager eingerichtet werden soll. In diesem Zusammenhang ist der Beschluß der Ministerpräsidenten mit dem Auftrag an die Staatssekretäre interessant, zu versuchen, in diesem wichtigen Punkt der Entsorgung einen Konsens zu erreichen. Gorleben ist möglicherweise ein geeignetes Endlager; die Untersuchungen sind aber noch nicht abgeschlossen. Der Salzstock bietet sich nach wissenschaftlicher Erkenntnis für diese Untersuchung an. Die bergrechtlichen Arbeiten laufen; sie werden noch Jahre dauern. Nach dem vorgesehenen Zeitplan, in dem wir uns befinden, kann man damit rechnen, daß das atomrechtliche Genehmigungsverfahren 1999, also in neun Jahren - ein langer Zeitraum - , eingeleitet werden kann, um bei einem positiven Ausgang für das Bergrecht und für das atomrechtliche Verfahren im Jahre 2008 zu einer Aussage zu kommen. Meine Damen und Herren, Sie beschwören immer wieder Tschernobyl. Tschernobyl übersehen und vergessen wir nicht. Nur ziehen wir andere und richtige Schlüsse aus der Katastrophe von Tschernobyl. Diese Schlüsse sind, daß die internationalen Absprachen, die die Bundesregierung nach Tschernobyl beantragt und eingeleitet hat, intensiviert und ausgedehnt werden, daß Meßdaten ausgetauscht werden und daß man weltweit versucht, zu einem gleich hohen Level zu kommen. Es wäre unverantwortlich, daß gerade die Bundesrepublik Deutschland mit einem anerkanntermaßen hohen Level bei der Vorhaltung der Kernkraftwerke vor dem Hintergrund der dargestellten Probleme und der gezeigten Aufgaben hier einen falschen Schritt in den Ausstieg tut. ({7}) Professor Heidinger sprach von einer Energiekultur. Ich kann nur wieder einmal an eine politische Kultur unter uns insofern erinnern, als wir uns gemeinsam um Sachlichkeit, um Verantwortungsbewußtsein und um einen Konsens bei diesem wichtigen Problem bemühen wollen. Ich bedanke mich. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Schütz, bevor ich Ihnen das Wort erteile, möchte ich Sie bitten, nach Ihrem Beitrag einmal darüber nachzudenken, ob der Zwischenruf „Dummes Zeug!" mit einer stilvollen Debatte vereinbar ist. ({0}) So, nun haben Sie das Wort.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Harries darf das auch einmal sagen. - Meine Damen und Herren, die Lehre, die wir aus Tschernobyl eigentlich gezogen haben sollten, haben viele - das beweist der Debattenbeitrag von Herrn Harries - schon wieder vergessen. ({0}) Vor allen Dingen sagen diejenigen, die immer gesagt haben, die Atomenergie sei eine Übergangsenergie - und das waren ja Sie in Ihrer Fraktion, Herr Harries - , jetzt: Die Atomenergie ist eigentlich die Energie, in die wir einsteigen wollen. Sie haben durch die CO2- und Klima-Diskussion eine völlige Kehrtwendung zur unangefochtenen Akzeptanz der Nutzung von Atomenergie gemacht; das haben Sie jetzt gerade wieder bewiesen. ({1}) In der Entscheidung, meine Damen und Herren, zwischen Szylla und Charybdis lenken Sie das Schiff auf eine Seite, statt dieses Schiff mittendurch zu lenken. Weder zur einen noch zur anderen Seite dürfen Sie gehen. Das, was Sie gerade gesagt haben, Herr Harries, ist schon verwunderlich. Es ist erstaunlich, daß die Sowjetunion für Sie an dieser Stelle ein Beispiel ist. An anderen Stellen ist sie das für Sie nie gewesen. Ob die Sicherheitskultur der Sowjetunion in Atomanlagen von Ihnen hier überhaupt herangezogen werden sollte, wage ich doch zu bezweifeln. Aber ich will auf eine Stelle eingehen. Sie haben gesagt, unser Mann, der für uns die Ausstiegsdiskussion mitinitiiert hat, nämlich Meyer-Abich, habe jetzt plötzlich eine andere Position eingenommen. Das ist mitnichten der Fall. Wenn Sie sein Interview nach der Kieler Diskussion gelesen haben, dann haben Sie festgestellt, daß er da noch einmal sehr deutlich gesagt hat, daß er die Forderung nach einem Sofortausstieg, so wie sie von den GRÜNEN erhoben werde, zurückgewiesen habe. Er ist genau auf unsere Nürnberger Position noch einmal eingegangen. Das sollten Sie hier zur Kenntnis nehmen und nicht etwas Falsches behaupten. Und wenn Sie die USA zitieren, meine Damen und Herren, dann muß man doch gerade jetzt feststellen, daß die USA im Zusammenhang mit der Klimadiskussion überhaupt keine Sparpotentiale mobilisieren wollen. Sie geben sogar noch den Prüfungsauftrag, ob denn das mit der Klimadiskussion überhaupt stimme und ob man den Wissenschaften Glauben schenken solle. Das kann doch auch Ihre Lehre aus Tschernobyl nicht sein, meine Damen und Herren! ({2}) - Wir reden über Tschernobyl und die Folgen. Deswegen - so will ich an dieser Stelle noch einmal antworten - meine ich, meine Damen und Herren: Man kann die CO2-Problematik hier nicht mit der Atomproblematik erschlagen, wir können nicht Satan mit Luzifer austreiben. ({3}) Ich will mich in meinem Debattenbeitrag darauf beschränken, noch einmal kurz auf die wesentlichen Gründe für unser Nürnberger Ausstiegsszenario einzugehen. Wir haben unser Ausstiegsszenario vor allen Dingen durch zehn Punkte begründet. Davon will ich einige noch einmal nennen. Unsere Sicherheitsbedenken haben sich durch die Vorfälle vor allem in Biblis, aber auch in Sellafield und jetzt auch in Greifswald eher erhöht als gemindert. Es ist schon ein Wahnsinn, daß in Biblis etwa das Signal für die Öffnung eines Ventils nicht als ein solches Signal gewertet wurde, sondern eher als ein Fehler in der Schaltung angesehen wurde. ({4}) Die Beziehung Mensch-Maschine bleibt offensichtlich immer fehlerhaft, und der Mensch reagiert fehlerhaft auf die Signale der Technik. Der erschreckend niedrige Sicherheitsstandard in Greifswald hat unsere Bedenken hinsichtlich der Anlagen im ehemaligen Ostblock deutlich erhöht. Sie haben selber die Sowjetunion als Beispiel genommen. Wir werden das nicht annehmen. Es gilt nach wir vor die Feststellung, daß es in der Kernenergie keine absolute Sicherheit gibt. Die Gefahrenpotentiale eines Reaktorunfalls wurden durch das Schreckensgemälde, das der „Spiegel" diese Woche wieder gezeichnet hat, eine weiteres Mal deutlich. Der Unterschied zu den Schreckensgemälden etwa in der Kunstgeschichte entsteht bei den „Spiegel"-Redakteuren dadurch, daß sie nicht wie Hieronymus Bosch in ihre Phantasie tauchten, um diese Bilder zu zeichnen, sondern daß sie akribisch die Fakten und Daten der für Jahrhunderte verseuchten und verstrahlten Natur und Umwelt in der weiten Umgebung von Tschernobyl darlegten. Es ist jetzt immer noch müßig, die Zahl der Toten in Tschernobyl anzugeben. Es ist noch heute ungenau, die Zahl der Strahlungskranken anzugeben und die hochgerechnete Zahl der Krebsfälle anzugeben, weil sich diese Zahlen immer noch dramatisch nach oben verändern. Nach dem Tschernobyl-Unfall entstanden riesige Gebiete von verstrahlter und verseuchter Erde, die nach der aktuellen Quelle des „Spiegel" mit 2 000 Quadratkilometern in der Russischen Föderation, mit 1 500 Quadratkilometern in der Ukraine und mit 7 000 Quadratkilometern in Belorußland angegeben worden sind. Sie haben das sicherlich alle nachgelesen. Diese Fläche, meine Damen und Herren, auf die Bundesrepublik übertragen, ergibt die Ausradierung eines Landstrichs von der vierfachen Größe des Saarlands. ({5}) Aus den Gebieten der Sowjetunion mußten bisher über 150 000 Menschen evakuiert werden. Wenn ich das Saarland hinsichtlich der Bevölkerungszahl als Maßstab nehme, müßten bei Übertragung dieser Fläche auf die Bundesrepublik mehr als 4 Millionen Menschen ihren Wohnsitz verlassen. Bei entsprechendem Vorlauf in dichter besiedelten Gebieten, z. B. im Ruhrgebiet, wäre diese Zahl entsprechend höher. Die ökonomischen Folgen für die Volkswirtschaft, die in der Sowjetunion mit etwa 120 Milliarden geschätzt wurden, will ich hier überhaupt nicht mehr rechnen, weil das hinsichtlich der anderen Bedrohung gar nicht mehr so ins Gewicht fällt. Welche Argumente für den Ausstieg braucht man angesichts dieser Sicherheitslage und angesichts der Realisierung dieser Gefahren eigentlich noch für eine Ausstiegsentscheidung? ({6}) Vielleicht ist es das sich immer mehr durchsetzende Argument der Neubewertung der Niedrigstrahlung. Wir haben bei der Diskussion zur Novellierung der Strahlenschutzverordnung und beim Strahlenschutzvorsorgegesetz immer wieder auf die Tatsache hingewiesen, daß es keine unschädliche Strahlendosis gibt und daß jede zusätzliche Dosis das Krebsrisiko erhöht. Das stimmt immer noch, und deshalb bleiben wir auch dabei. Schließlich bleibt das bisher weltweit vollkommen ungelöste Problem der Entsorgung atomarer Abfälle. Diese Situation wurde häufig in das Bild von dem gestarteten Jumbo gekleidet, für den noch nirgends Landebahnen angelegt wurden. Dieser Jumbo muß immer noch fliegen. Er kann immer noch nicht landen. Für die Lösung des Problems der Entsorgung gilt natürlich zuerst und vor allem: Je eher wir die Schaffung von neuem und zusätzlichem atomaren Abfall durch die Produktionseinstellung stoppen, desto erfolgreicher können unsere Bemühungen um die Bewältigung des Abfallproblems sein. ({7}) Wir halten am Entsorgungsweg der direkten Endlagerung fest. Der Weg über die Wiederaufarbeitung ist ein Weg in den Plutoniumstaat mit allen seinen Gefahren für die Sicherheit und mit allen gesellschaftlichen Problemen der Überwachung. Wir halten die Plutoniumproduktion wegen der lebensgefährdenden Risiken und des für unseren Staat völlig unangemessenen Überwachungserfordernisses für verfassungswidrig. Dies haben wir auch durch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht zum Ausdruck gebracht. Konsequenterweise fordern wir deshalb die Kündigung aller Verträge mit den Wiederaufarbeitungsanlagen in La Hague und Sellafield. Nach dem Tod von Wackersdorf muß es den Tod auch dieser Verträge geben; mindestens das. Es gibt, meine Damen und Herren von der CDU und den GRÜNEN, mit uns keinen Konsens, der darauf hinausläuft, zunächst Übereinstimmung zu einem Endlager für schwach radioaktive und mittel radioaktive Abfälle herbeizuführen und erst dann über die übrigen Bestandteile eines Entsorgungsweges zu befinden. ({8}) - Diese Aufteilung wollen wir nicht. Die jetzt fehlende Entsorgungskonzeption kann nicht nach der Salamitaktik abgebaut werden. Weil beispielsweise diese Gesamtentsorgungskonzeption fehlt, heißt dies für uns jetzt: Stopp für Schacht Konrad. Nicht einmal die Prüfung eines Teilkonzepts halten wir für möglich. Zu Recht hat auch die niedersächsische Landesregierung den Stopp des Planfeststellungsverfahrens beschlossen. Wir wollen, meine Damen und Herren, die Festschreibung der Absicht und die Realisierungsschritte der Bundesregierung in die Prüfung alternativer Standorte und alternativer Endlagermedien zum Salz. Bisher hatten die Bundesregierung und die Länder hier keinen zusätzlichen Schritt getan. Es gibt keine Untersuchung alternativer Medien, keinen Schritt zur Prüfung alternativer Standorte. Wir können uns nicht darauf einlassen, daß möglicherweise in anderen Staaten derartige Überlegungen und Untersuchungen angestellt werden. Ergebnisse gibt es übrigens bisher überhaupt noch nirgends. Das Entsorgungsproblem ist national zu lösen, es sei denn, der Ausstieg aus der Atomenergie würde europa- oder weltweit betrieben. Erst dann sind auch andere Ansätze denkbar. Da derartige alternative Medien- und Standortuntersuchungen bisher nicht vorgenommen worden sind, heißt dies nach wie vor für uns auch Stopp für Gorleben. Ich will meine und insbesondere die Skepsis meiner Landespartei für die Salzlagerung in Gorleben nicht noch einmal hier wieder vortragen; wir haben das häufiger getan. Es bleibt das Problem des fehlenden Mehr-Barrieren-Prinzips, ({9}) es bleibt das Problem der wasserführenden Schichten im Salz, und es bleibt überhaupt die Problematik des Salzes bestehen. „Salt is out" haben die Amerikaner gesagt, und ich sehe das genauso. ({10}) Für die Lösung auch der nationalen Konflikte zur Entsorgung in Niedersachsen gilt auch, daß die Festschreibung und der Weg des Ausstiegs aus der Kernenergie eine wesentliche Akzeptanzvoraussetzung zu einem Gesamtentsorgungskonzept sind. Die Grundsätze der Regierungschefs aus Bund und Ländern zur Entsorgung müssen neu gefaßt werden. Sie müssen dabei über eine direkte Endlagerung nachdenken, Sie müssen über die Vorstellung alternativer Medien und Standorte und über einen Weg zum Ausstieg nachdenken, und dies müssen zwingende Teile eines Entsorgungsgrundsatzes sein. Ich danke Ihnen. ({11})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich der Abgeordneten Frau Dr. Segall das Wort.

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Es ist ja ganz lustig, wir hätten hier beinahe eine Geschäftsordnungsdebatte gekriegt. Aber die Frage, warum eigentlich diese Anträge, speziell die der GRÜNEN, bis heute im Ausschuß noch nicht zu einer Beschlußfassung geführt haben - das ist hier vorhin schon ganz gut angedeutet worden - , läßt sich dadurch beantworten, daß hier der niedersächsische Landtagswahlkampf ganz offensichtlich fröhliche Urständ feiert. Aber nochmal ganz kurz zu der Geschichte: Der eine Antrag der GRÜNEN zu Gorleben stammt bereits aus dem Juni 1987. Wir haben eine Anhörung durchgeführt. Der aktuelle Sachstand gibt eigentlich überhaupt keinen Anlaß für eine erneute Debatte jetzt heute und hier. In Gorleben sind wir im Schacht 1 jetzt endlich planmäßig an der oberen Salzkante angekommen, und die ganze Frage, ob er geeignet oder nicht geeignet ist, kann sich überhaupt erst stellen, wenn wir in den Salzstock hineinkommen. Das nur so nebenbei. Da wird ein zweiter Schacht gebohrt - das sind nur Vorbohrungen - , und sämtliche Aktivitäten bis heute sind durch das Bergrecht gedeckt. Sie sind außerdem nur wissenschaftliche Untersuchungen und durch die Rechtsprechung höchstrichterlich bestätigt. Atomrechtliche Fragen spielen hierbei zur Zeit überhaupt noch keine Rolle. Schacht Konrad, das ist ein Antrag von den GRÜNEN aus dem März 1988. Bei dem Lager im Schacht Konrad wird es sich niemals darum handeln, daß da hochradioaktive Abfälle hineinkommen sollen. Diese Falschmeldung muß man hier ja wohl auch mal richtigstellen. Es geht hier z. B. um Dinge wie Klinikmüll usw., und dafür ist diese Anlage durchaus geeignet. Es gibt keine neuen Erkenntnisse, die dem widersprechen. Auch von der Landesregierung ist in dem Sinne kein Stopp verordnet worden, sondern man hat das Planfeststellungsverfahren nochmal ausgeweitet. ({0}) - Weil das Bundesamt für Strahlenschutz den einen Plan noch einmal überarbeitet und der in Kürze an das Ministerium nach Hannover geht. Das wird alles laufen. Seien Sie unbesorgt! Aber die Entsorgungsdebatte hat hier eigentlich immer nur den einen Sinn, daß die Kernenergiediskussion aufgerollt werden soll, und zwar zugegebenermaßen an dem noch schwächsten Glied der gesamten Kernenergienutzung, nämlich der Entsorgung. Aber man sollte sich doch mal eines überlegen: Wenn Sie die Betriebszeiten der Kernkraftwerke, die wir auf der Welt haben, zusammenzählen, dann kommen Sie auf inzwischen sage und schreibe 5 000 Jahre. Das ist eine Zahl, die Sie sich wirklich einmal auf der Zunge zergehen lassen sollten. ({1}) In diesen 5 000 Jahren haben wir einen wirklich dramatischen Unfall gehabt; das ist Tschernobyl. Das lag nicht an der Technik, sondern an Sicherheitsstandards, wie wir sie hier nie und nimmer tolerieren würden und wie sie weltweit - außer in Rußland - auch nicht toleriert werden. Außerdem war noch menschliches Versagen - um nicht zu sagen: Risikospiele, die dort betrieben worden sind - mitursächlich. Ich will das Elend in Rußland jetzt gar nicht verharmlosen - darum geht es gar nicht - , aber es kann wohl auch nicht so sein, wie Sie es hier immer vorexerzieren, indem Sie diesen Unfall ausschlachten, und zwar eigentlich immer nur aus dem einen Grund, Ängste zu schüren. Ich muß sagen: Ihr Pamphlet - ich kann es nicht anders bezeichnen - „Vier Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl", in dem Sie der Bundesregierung Zynismus, Ignoranz, Willkür und Hilflosigkeit vorwerfen, ({2}) ist ja wohl unglaublich. Das kann man eher auf die Zahlenbeispiele, die Sie dort aufführen, beziehen, denn wenn Sie dort mit Zahlenbeispielen nachzuweisen versuchen, daß die natürliche Belastung durch Radioaktivität zu vernachlässigen, die durch den Reaktorunfall verursachte Strahlenbelastung hingegen riesengroß gewesen sei, dann arbeiten Sie mit absolut falschen Zahlen und Argumenten. Das ist einfach unglaublich. Ich will nur eines sagen - ich will es einmal anders herum wenden - : Eine Schachtel Zigaretten entwikkelt so viel Polonium, daß der Raucher, der davon beeinflußt wird, so viel Strahlung abbekommt, wie eine Person hier in Deutschland insgesamt von dem Reaktorunfall in Tschernobyl abbekommen hat. ({3}) In der EG sterben in jedem Jahr 450 000 Menschen auf Grund des Zigarettenkonsums. ({4}) - Aber nein! Es geht einfach darum, daß Sie ganz bewußt mit Zahlen operieren, bei denen sich der Laie überhaupt keine Vorstellungen darüber machen kann, welche Bedeutung sie haben. ({5}) Das darf man hier ja wohl noch einmal zurechtrükken! ({6}) Ich will ein Element Ihres Antrags durchaus unterstreichen. Das ist die Aufforderung, die Bundesregierung möge über neue Erkenntnisse informieren. Das ist insoweit okay. Aber wie üblich erschöpft sich diese Aufforderung eben nicht in dem Begehren nach Information, sondern Sie fordern zusätzlich zum Handeln auf. Dann kommt wieder die altbekannte Aufforderung, daß die Grenzwerteregelung in der EG verbessert werden soll. Sodann kommt wieder die Forderung nach einem Verbot der Wiederaufbereitung einschließlich des Widerrufs der Verträge mit COGEMA und BNFL. Die Zielrichtung ist natürlich das Aus für die Kernenergie. Bitte nehmen Sie doch endlich einmal die Aussagen von Wissenschaftlern zur Kenntnis. Die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre", die sich im wesentlichen mit den Problemen des Treibhauseffekts befaßt, hat Studien vergeben. Wenn Sie sich die Ergebnisse dieser Studien, die jetzt vorliegen, angucken, dann werden Sie eindeutig feststellen, daß ein volkswirtschaftlich verantwortlicher Rückzug aus den fossilen Brennstoffen - sei es zum Zwecke der Reduzierung der CO2-Emissionen oder sei es auch nur zum Zwecke der Schonung der Ressourcen, die immerhin die Basis der gesamten Petrochemie bedeuten - nur unter Beibehaltung, wenn nicht gar bei einem Ausbau der Kernenergie möglich ist. Weder Energiesparen noch alternative Energien sind zum Nulltarif zu haben. Sie sind weder ökonomisch noch energetisch zum Nulltarif zu haben. Das müßte auch einmal in Ihre Köpfe hineingehen. ({7}) Das einzige, worüber man eigentlich noch diskutieren könnte, sind Fragen der Reaktorlinien. Die Diskussion über die Reaktorlinien werden wir in den nächsten Jahren ganz sicherlich führen müssen. Die Fragen der Entsorgung stellen sich auch immer wieder; das ist selbstverständlich. Dabei geht es um Fragen nach der Sicherheit. Hierbei muß man die Strahlung, die entsteht, das anfallende Plutonium und das anfallende Volumen, das entsorgt werden muß, bedenken. Man sollte sich diese drei Faktoren erst einmal genau angucken, bevor man eine Entscheidung für eine direkte Endlagerung oder für die Wiederaufbereitung fällt. Bei beiden Alternativen verbleibt immer ein Rest, der gelagert werden muß. Wir stellen uns dieser Aufgabe und kneifen nicht. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Damit sind wir am Ende der Debatte. Der Ältestenrat schlägt Ihnen die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/6852 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Darf ich davon ausgehen, daß das Haus damit einverstanden ist? - Das ist so. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit auf Drucksache 11/5177 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2102 ({0}) abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Dann ist die Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Ich rufe nun Punkt 12 der Tagesordnung auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Vogel ({1}), Frau Geiger, Dr. Stercken, LumVizepräsident Cronenberg mer, Carstensen ({2}), Dr. Pohlmeier, Dr. Müller, Sauter ({3}) und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Feldmann, Hoppe, Irmer, Nolting, Ronneburger und der Fraktion der FDP Entwicklung in Rumänien - Drucksache 11/6574 Meine Damen und Herren, hier gibt Ihnen der Ältestenrat die Empfehlung für eine Debattenzeit von 30 Minuten. - Wenn sich kein Widerspruch ergibt, dann darf ich dies als beschlossen feststellen und der Abgeordneten Frau Geiger das Wort erteilen.

Michaela Geiger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000649, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über aller verständlichen Freude über die deutsch-deutsche Einigung und über diese Entwicklung sollten wir andere Länder in Ost- und Mitteleuropa nicht vergessen. Es gab schließlich auch friedliche Revolutionen z. B. in Ungarn, in Polen oder in der Tschechoslowakei. All diese Länder brauchen und verdienen unsere Hilfe. Sie alle - das sollten wir uns überlegen - haben keinen wohlhabenden Vetter im Westen. Aber sie alle haben Ängste, wie es in Zukunft weitergeht, vor allem was die wirtschaftliche Entwicklung angeht. In Rumänien war die Lage vor dem Sturz Ceausescus noch desolater als in anderen mittel- und osteuropäischen Staaten. Die Bevölkerung hat gehungert und gefroren. Es war ein Unterdrückungsmechanismus mit Hilfe der Securitate entwickelt worden, der das Leben schier unerträglich machte. Unsere Hilfsangebote wurden zurückgewiesen. Hilfskonvois konnten nicht ins Land fahren. Immer mehr Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben haben das Land verlassen, und wir haben viel Geld an das CeausescuRegime dafür bezahlen müssen. Kinder, Behinderte und Alte haben unter unvorstellbaren Bedingungen in Heimen gelebt. Die Revolution in Rumänien kam später als in den anderen Staaten. Sie kam erst im Dezember 1989. Sie war blutiger, und sie war auch verlustreicher. Das rumänische Volk hat unter großen Opfern den Conducator und seinen Clan gestürzt. Er und seine Frau wurden zum Tode verurteilt und sofort hingerichtet. Die Todesstrafe ist heute allerdings abgeschafft, so wie auch weitere hundert Gesetze aus der Ceausescu-Zeit ausgesetzt wurden. Letzte Woche war ich zu einem Besuch in Bukarest. Die wirtschaftliche Lage in Rumänien ist katastrophal. Lange Schlangen vor den Geschäften zeugen davon, auch ein heruntergekommenes Straßenbild, das völlig im Gegensatz zu den wirklich übergeschnappten Prachtbauten Ceausescus steht. Trotzdem scheint mir das Bild nicht so düster zu sein, wie es manchmal gezeichnet wird. Auch in Rumänien gibt es jetzt eine sehr starke Bewegung hin zu einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie. Daß nicht alles reibungslos abläuft, sollte nach einer 25jährigen Schreckensherrschaft nicht verwundern. Auch in der DDR sitzen noch heute Stasi-Leute auf ihren alten Plätzen. Viele Rumänen glauben offenbar, daß Demokratie völlige Freiheit von allen Regelungen bedeutet. Das merkt man zuallererst im Straßenverkehr, wo es inzwischen sehr viel mehr Tote als früher gibt. Das merkt man, wenn ständig neue Demonstrationen stattfinden, teilweise aus nichtigem Anlaß, teilweise durchaus begründet. Es herrscht auch immer noch ein Klima der gegenseitigen Verdächtigungen vor. Eine Partei schwärzt die andere an. Jeder vermutet bei den anderen die früheren kommunistischen Betonköpfe. Eine genaue Einschätzung der politischen Lage ist sehr schwierig, denn die Rumänen haben in ihrem demokratischen Überschwang mehr als 70 neue Parteien gegründet. Die Übergangsregierung stellt die Front der nationalen Rettung. Sie pauschal als die alten Kommunisten im neuen Gewande zu betiteln, scheint mir der Sachlage nicht gerecht zu werden. Alle meine Gesprächspartner in der Regierung, z. B. Premierminister, Außenminister, Parlamentspräsident, und auch der nach Meinung vieler Rumänen vorbelastete Staatspräsident Iliescu bekannten sich eindeutig zu einer pluralistischen Demokratie und zur Marktwirtschaft. Allerdings ist die Front eine schillernde Gruppierung, und es gibt viele Strömungen. Wir fanden sowohl vorbelastete Leute als auch sehr viele junge, unbelastete Leute, Akademiker und Professoren. Ich kann hier nur der Hoffnung und der Forderung Ausdruck verleihen, daß die Front ihr Versprechen wahrmacht und allen anderen Parteien die gleichen Chancen einräumt, die sie für sich selbst in Anspruch nimmt. Sorgen machen uns allerdings das Anwachsen und die Aktivitäten der nationalistischen Bewegung „Vatra Romaneasca". Die meisten neuen Parteien betonen, sie gäben den Minderheiten neue Rechte, sie holten auch gerne die Deutschen ins Land zurück oder hielten zumindest die, die noch da seien. Aber diese nationalistische Bewegung tritt offen gegen die Minderheiten ein, vor allem gegen die Zigeuner und die Ungarn. Ich hoffe sehr, daß die junge Demokratie mit dieser Herausforderung fertig wird und daß sie es auch wirklich schafft, neue Rechte für die Minderheiten durchzusetzen. Die Rumänen aller Parteien und Gruppierungen und auch die Vertreter der Regierung haben uns und unsere westlichen Partner aufgefordert, Delegationen zur Wahl zu schicken. Dies ist in unserem Antrag enthalten. Wir sollten dies vom Bundestag aus tun. Das ist wichtig, um einen gesicherten und demokratischen Wahlablauf zu gewährleisten. Die Entsendung sollte am besten schon zwei oder drei Tage vor der Wahl erfolgen. ({0}) Dankbar wurde in Rumänien immer wieder vermerkt - diesem Dank möchte ich mich ausdrücklich anschließen - , wie viele Bürger aus unseren Wahlkreisen, wie viele Verbände, wie viele Vereine selbstlos gesammelt und gespendet haben und auf eigene Kosten nach Rumänien gefahren sind und dort gehol16158 fen haben. Ich hoffe, daß dies jetzt nicht abreißt, sondern daß dies auch weitergeht. Dank gebührt auch den Mitarbeitern der deutschen Botschaft, die durch die Hunderte von Visa-Anträgen, die sie jeden Tag abwickeln müssen, wirklich sehr stark belastet sind. ({1}) Ich hoffe, daß die Belastungen, die durch die deutsche Einigung auf unsere Bürger und unsere Wirtschaft zukommen könnten, nicht dazu führen, daß uns überhaupt nichts mehr für unsere Nachbarn in Rumänien, in der Tschechoslowakei und anderswo übrigbleibt. Ich denke weniger an direkte Zuschüsse. Ich denke an Joint-ventures, ich denke an konkrete Hilfen und Zusammenarbeit von Firmen. Wir können allerdings nicht alles allein auf unsere Schultern packen; wir wären sonst überfordert. Hier ist die gesamte EG gefordert; hier sind auch die Amerikaner gefordert. Ich hoffe, daß sie alle mithelfen können und daß es nicht zuletzt gelingt, auch Behinderten, Alten und Kindern in Rumänien ein menschenwürdiges Leben zu verschaffen. Die rumänische Regierung fordern wir auf - damit möchte ich schließen - , mit den Demokratisierungsbestrebungen fortzufahren und die alten und verbrecherischen Kräfte endgültig, und zwar durch rechtsstaatliche Justizverfahren, auszuschalten. Dann wird das Vertrauen im eigenen Lande und auch im Ausland wachsen, und dann wird dieses leidgeprüfte Land einer besseren Zukunft entgegensehen können. Ich danke Ihnen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor genau einem Monat war ich mit einer Delegation der SPD-Bundestagsfraktion in Rumänien. Unsere Gesprächspartner waren der amtierende Staatspräsident Iliescu, die neugegründete Sozialdemokratische Partei, die Gewerkschaftsbewegung, die Nationale Christlich-Demokratische Bauernpartei, die Nationalliberale Partei, die ökologische Bewegung und die Republikanische Partei. Wenn ich nun von Frau Geiger höre, daß es 70 Parteien gibt, dann haben wir nur einen ganz winzigen Bruchteil derer sprechen können. Außerdem haben wir natürlich mit unserer Botschaft gesprochen, der ich an dieser Stelle ganz herzlich danken möchte, mit dem Deutschen Forum als Vertretung der Siebenbürger Sachsen in Hermannstadt und mit der Kommission für Minderheiten und Menschenrechte in Kronstadt. Ihr gehören Vertreter der deutschen, der jüdischen, der ungarischen und der Sinti- und Roma-Minderheiten an. In die Zeit unserer Reise fielen die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Ungarn und Rumänien in Tirgu Mures, die leider durch schlimme, brutale Szenen gekennzeichnet waren, die über die Fernsehschirme um die Welt gingen. Die Unerbittlichkeit dieser Auseinandersetzung hatte übrigens eine außerordentlich negative Wirkung auf den Bleibewunsch der deutschen Bevölkerung, die in ihrer Mehrheit erklärt hat, daß sie unter diesen Bedingungen, wenn Nationalitätenkonflikte auf diese brutale Weise ausgetragen würden, nicht bereit seien zu bleiben. Ich möchte beim Problem der Siebenbürger Sachsen und der Banater Schwaben einen Augenblick verweilen. Nach meiner Einschätzung werden die allermeisten aussiedeln. Ich schätze, daß etwa 10 %, also höchstens 20 000, bleiben wollen. Diese Menschen müssen wir stützen, und ihnen müssen wir alle Hilfen zukommen lassen. Den anderen aber, den etwa 200 000, müssen wir Vertrauensschutz gewähren. Das heißt, daß wir ihnen auch nach der von uns beantragten Beendigung des Bundesvertriebenengesetzes für eine gewisse Zeit, die noch festzulegen ist, die Anerkennung als Aussiedler nicht verweigern. Das kann allerdings nach meiner Vorstellung nicht für Zeit und Ewigkeit gelten. Wir haben das den Deutschen auch ganz offen gesagt. Es hat mich sehr beelendet, daß Dörfer zerfallen und unwiederbringliche Kunstwerke vergehen. Dazu gehören die Kirchenburgen in Siebenbürgen, die kunsthistorisch auf dieser Welt wohl einmalig sind. Der rumänische Staat, der nach der Revolution vor einem schier nicht zu bewältigenden Berg von Aufgaben steht, darf mit dieser Aufgabe nicht allein gelassen werden. Ich bitte für die SPD-Bundestagsfraktion die anderen Fraktionen dieses Hauses, die Bundesregierung und das Auswärtige Amt um ein Hilfsprogramm zur Erhaltung dieser einmaligen Kultur. Dieses wäre eine vornehme, aber dennoch nur eine Randaufgabe. Die humanitär herausforderndste Aufgabe für uns und die westliche Welt ist aber die sofortige Beseitigung des unsäglichen Elends der behinderten Kinder in den Vernichtungseinrichtungen. ({0}) Cighid ist zum grausigen Symbol dafür geworden. Ich danke den Redakteurinnen und Redakteuren des „Spiegel", des „Stern" und des Fernsehens für die schonungslose und das Herz zerreißende Berichterstattung. Wer den hilflosesten der Menschen, den behinderten Kindern, so etwas antut, muß geächtet werden. Wer sich aber anschickt zu helfen, dem muß mit allen Mitteln geholfen werden. Ich habe dem amtierenden Staatspräsidenten Iliescu am 27. März folgendes geschrieben: Mich und meine Kollegen, die wir in der vergangenen Woche Ihr Land besucht haben und auch Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit Ihnen hatten, hat der Bericht über Cighid sehr erschüttert. Er ist das Dokument der menschenverachtenden Politik des Ceausescu-Regimes. ... Selektion, Isolation als Disziplinarmaßnahme, medizinische Unter- bzw. Nichtversorgung, Erfrieren- und Verhungernlassen von Kindern ist der niederträchtigste Ausdruck einer unmenschFrau Hämmerle lichen Politik, die sich unter denen, die sich nicht wehren können, ihre Opfer sucht. Meine Kollegen und ich fordern Sie dringend auf, persönlich alles zu tun, um das Leben der Kinder in Cighid und anderen Einrichtungen dieser Art zu sichern, Dieses haben wir Iliescu geschrieben. Ich danke den Presseorganen, der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie, den Wohlfahrtsverbänden, den Kirchen, den Frauen aus allen Fraktionen dieses Hauses und allen anderen, die helfen wollen, für ihren Einsatz. Ich bitte alle Fraktionen des Deutschen Bundestages, über die allgemeinen Erklärungen im Antrag hinaus konkrete Hilfe zu leisten. Ich stelle mir z. B. vor, Herr Staatsminister, daß die Bundesregierung folgendes ermöglichen könnte: Unterstützung beim Bewohnbarmachen der Häuser und eine kindgerechte Ausstattung, einen zeitlich begrenzten Einsatz von Ärzten und Psychiatern und einen Einsatz von Heilpädagogen. Rumänien war lange Zeit der dunkle Keller Europas. Das Ceausescu-Regime entwickelte sich in den 80er Jahren zunehmend zu einer kommunistischen Terrororganisation mit faschistischen Strukturen. Gleichzeitig erfreute es sich jedoch weiter einer außenpolitischen Vorzugsbehandlung durch den demokratischen Westen, womit das Regime stabilisiert wurde. Die rumänische Bevölkerung wurde zusätzlich entmutigt, sich gegen dieses Regime aufzulehnen. Terrorherrschaft und Isolationsgefühl der Bevölkerung erklären, warum Rumänien - Frau Kollegin Geiger hat das ausgeführt - das einzige osteuropäische Land war, in dem es zu einem blutigen Umsturz kam. Alle europäischen Staaten haben eine besondere moralische Pflicht, aktive und umfassende Hilfen für eine Demokratisierung Rumäniens zu leisten. Es besteht die Gefahr - auch das haben Sie schon ausgeführt -, daß ein Scheitern des Demokratisierungsversuchs zu chaotischen Zuständen führt, die im Zusammenhang mit Nationalitätenkonflikten den gesamten südosteuropäischen Raum erfassen können. Die Strukturen des alten Regimes sind offensichtlich moralisch zerstört. Es gab jedoch in der Zeit des alten Regimes wenig Möglichkeiten, eine Opposition zu organisieren, die dann zu einem frühzeitig anerkannten Träger der Demokratisierung werden konnte. Für den wirtschaftlichen Aufbau müssen Investitionsprogramme auf den Weg gebracht werden. Wir empfehlen hierfür das Engagement der Europäischen Gemeinschaft; private Unternehmer sollten folgen. Die naheliegenden Schwerpunkte wirtschaftlicher Betätigung in Rumänien sind sicherlich Landwirtschaft und zunächst einmal auch die Förderung des Tourismus. Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, die politische Lage in Rumänien ist wenige Monate nach der Revolution noch sehr unübersichtlich. Das Land ist voll von Gerüchten, Mißtrauen und Angst. Ich begrüße es deshalb, wenn der Deutsche Bundestag erklärt, daß er eine Delegation zur Beobachtung der Wahlen am 20. Mai nach Rumänien entsenden wird. Es ist auch gut, wenn der Deutsche Bundestag erklärt, daß seine fortdauernde Bereitschaft zu Hilfsmaßnahmen, insbesondere auch beim wirtschaftlichen Aufbau Rumäniens, in Zusammenarbeit mit der Europäischen Gemeinschaft besteht. Lassen Sie uns darüber hinaus alles in unserer Macht Stehende tun, die Demokratie in Rumänien zu festigen. Deutschland weiß, was Diktatur heißt und welches die Folgen sind. Deutschland hat dies alles auch nur durch die Hilfe befreundeter und hilfsbereiter Völker schließlich überwinden können. Helfen wir nun dem rumänischen Volk aus Angst und schlimmster Unterdrückung auf seinem schweren Weg zu Freiheit, Menschenwürde und Demokratie. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.

Ulrich Irmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000996, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich darüber, daß hier zwischen den Fraktionen offensichtlich große Einigkeit zum Thema Rumänien besteht. Das ist insbesondere deshalb gut, weil wir als Deutsche gegenüber Rumänien doch eine spezifische Verantwortung tragen - wie auch gegenüber den anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks, die sich von der stalinistischen Tyrannei befreien konnten. Wir sollten an die Geschichte denken und uns immer wieder vor Augen halten, daß es schließlich der Hitler-Krieg gewesen ist, der überhaupt zu diesen Zuständen geführt hat. Daraus leitet sich unmittelbar ab, daß wir nicht nur gegenüber unseren Landsleuten in der DDR - was selbstverständlich ist - Verantwortung tragen, sondern auch gegenüber all den anderen Ländern, die nur infolge des Krieges unter das kommunistische Joch geraten sind. In Rumänien kommt hinzu, daß es dort traditionell eine deutsche Minderheit gab und heute noch immer gibt, die unter besonders schwierigen Verhältnissen lebt, wobei man allerdings nicht vergessen darf, daß es auch andere Minderheiten in Rumänien - ich denke an die Ungarn, die schon erwähnt worden sind, an die Zigeuner und andere - gibt, daß aber auch das rumänische Volk insgesamt am schwersten von allen gelitten hat, die der Unterdrückung ausgesetzt waren. ({0}) Rumänien war in der Vergangenheit oft ein Sonderfall. Frau Kollegin Hämmerle hat erwähnt, daß Ceausescu früher oft hofiert wurde. Dies war ein Fehler. Er hat das dadurch erreicht, daß er einen von Moskau scheinbar unabhängigen Kurs zu steuern versuchte und sich bei der Invasion in die Tschechoslowakei nicht beteiligt hat. Dies hat ihm einen zeitweise guten Ruf eingetragen. Das Erwachen war nachher um so schlimmer. Rumänien wurde das schlimmste Bollwerk des Stalinismus. Auch dies war anders als in anderen Ländern, wo durch die Annäherung, den KSZE-Prozeß doch manches zum Positiven hin in Gang geraten war. Auch das Ende der Diktatur war in Rumänien anders als in den übrigen Staaten. Es war schrecklich. Ich glaube, daß sich Rumänien und die Revolutionäre in Rumänien keinen Gefallen damit getan haben, daß sie den Diktator und seine Frau in einem nicht ordnungsgemäßen Verfahren zum Tode verurteilt und exekutiert haben. Dies wirft einen bedauerlichen Schatten auf den Neubeginn; denn auch dies war nicht in Ordnung. Es wäre besser gewesen, man hätte mit einem rechtsstaatlichen Versuch begonnen, statt der blutigen Diktatur ein blutiges Ende zu setzen. Meine Damen und Herren, die Lage in Rumänien ist nach wie vor außerordentlich kritisch. Alles, was von den beiden Kolleginnen hierzu gesagt worden ist, kann ich unterstreichen. Ich hoffe, liebe Frau Kollegin Geiger, daß Sie mit Ihrem gedämpften Optimismus recht haben. Es wird außerordentlich schwierig sein, die desolate wirtschaftliche Lage einigermaßen in den Griff zu bekommen. Hier wird die Hilfe der Bundesrepublik Deutschland, der internationalen Staatengemeinschaft und insbesondere der Europäischen Gemeinschaft gefordert sein. Was mir mehr Sorge macht, sind die Zustände, die wir beobachten müssen, wenn es um die Behandlung der Minderheiten geht. Die blutigen Auseinandersetzungen zwischen Rumänen und Ungarn konnten einem, gerade im Hinblick auf die soeben überwundene Vergangenheit, Schauer über den Rücken jagen. Was in den letzten Tagen wieder an Meldungen aus Bukarest über Demonstrationen kommt, bei denen geknüppelt wird, bei denen Blut fließt und bei denen von beiden Seiten Gewalt angewendet wird, ist nicht dazu angetan, einen sehr hoffnungsfroh zu stimmen. Auch gewisse Aktionen der derzeitigen Regierung lassen nichts Gutes ahnen. Ich möchte deshalb noch einmal unterstreichen, wie wichtig es ist, daß nicht nur der Deutsche Bundestag, sondern auch andere europäische Parlamente Wahlbeobachter an Ort und Stelle senden, die die Aufgabe haben, den Leuten in Rumänien das Gefühl zu geben: Ihr seid nicht allein bei eurem Versuch, die Demokratie wiederherzustellen, und ihr braucht keine Angst zu haben, an die Wahlurne zu gehen und dort das zu wählen, was ihr für richtig und für eure Zukunft für notwendig haltet. Ich möchte an die derzeitige Führung in Rumänien appellieren: Zieht endlich einen Schlußstrich unter die blutige und unter die schlimme Vergangenheit. Tut alles, damit Rumänien in den Kreis der kultivierten und zivilisierten europäischen Länder zurückkehren kann und daß dies bald geschehen kann. - Denn eines ist sicher: In dem Europa, in dem demokratischen und friedlichen Europa, das wir bauen wollen, muß auch Rumänien seinen Platz haben. Ich danke Ihnen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Dr. Lippelt das Wort.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Tat, wir sind uns, glaube ich, in der Tendenz über alle Parteien hinweg sehr einig. Auch wir finden es gut, daß die Koalitionsparteien diesen Antrag eingebracht haben, weil er uns Gelegenheit zu dieser Debatte gibt. Daß er in der Tat sehr dürftig ist, so daß wir nun gemeinsam an den Inhalten ein bißchen weiterarbeiten müssen, werden Sie selber einräumen. Ich denke, es sind drei Bilder, die uns vor Augen stehen, wenn wir an Rumänien denken. Das erste Bild - darüber haben wir alle gesprochen - ist das von dem furchtbaren System der Kinder-KZs. Soviel ich weiß, sind bis jetzt 24 solcher Verwahranstalten, Verhungeranstalten und Verkrüppelungsanstalten bekanntgeworden. Wir haben auch schon einige Fotos von Verantwortlichen gesehen und deren Sprüche gehört, daß man in diesem System doch nichts habe machen können. Natürlich deutet, wenn wir darüber sprechen, ein Finger auf uns zurück, denn Euthanasie war das alles dann immer doch noch nicht - so sagen sie es ja auch -, so schrecklich das auch ist. Natürlich haben wir denen zu danken, die spontan nach Rumänien gefahren sind - viele kamen aus unserem Land, aber auch aus anderen Ländern - , den Journalisten, den Helfern, den Ärzten. ({0}) Das zweite Bild, das uns vor Augen steht, ist das auch schon erwähnte Bild von dem Minderheitenpogrom in Tirgu Mures. Eines wird dabei sehr deutlich. Der Aufstand gegen Ceausescu war nationalitätenübergreifend. Ein ungarischer Pfarrer war das Symbol des Widerstandes, aber wie kurz war diese Phase, wie schnell wurden die chauvinistischen Vorurteile wieder geschürt, gipfelnd in dem, daß man sich, wie ich gehört habe, im Volk nun erzählt, Ceausescu sei ja ein Zigeuner, was habe man deshalb mit ihm zu tun? Diese Minderheitenvorurteile werden natürlich geschürt. Man muß sie in Verbindung mit dem Umstand bringen, daß der Bruch nicht gelungen ist und daß, wenn ich es recht sehe, 36 000 SecuritateAgenten nach wie vor im Amte und bis heute nur etwa 3 000 entlassen sind. Der Bruch mit dem Unrechtsregime ist nicht geschehen. Insofern ist die Vermutung wohl nicht von der Hand zu weisen, daß diese Vorurteile sehr geschürt werden. Zudem muß man sich das Manifest der „Vatra Romaneasca" ansehen. Man liest, daß die Vereinigung nun auch noch Partei wird und daß die Anhängerschaft dieser Bewegung, wenn die Meldungen richtig sind, nun schon in die Millionen geht. Ich darf zur Verdeutlichung mit Genehmigung des Präsidenten aus Ziffer 9 des Manifestes zitieren: Der Verband vertritt auch die Idee, daß wir die einzigen Besitzer unserer Heimat sind, in dem Sinne, daß die Existenz und die Aktivität der nationalen Minderheiten in Rumänien auf jedem Gebiet unter ständiger Kontrolle sein soll. In Ziffer 10 heißt es: Der Verband möchte, soweit möglich, die frühere Securitate verteidigen, weil im Sinne des vorigen Punktes kompetente Leute notwendig sind, die im Geist der bedingungslosen Treue für ein bestimmtes Ziel erzogen wurden. Dr. Lippelt ({1}) Ich zitiere noch einen Satz aus Ziffer 16: Die Deutschen haben wir zum Teil bereits weggejagt. Aber es gibt noch viele andere, die wir nicht brauchen können. Tut alles, damit wir sie loswerden. Ceausescu hat nicht lange genug gelebt. Angesichts dieser Formulierungen wissen wir, was da auf uns zukommt oder was überhaupt auf Europa zukommt. Dahinter stecken zwei Strukturprobleme, ein langfristiges - auch das wurde erwähnt -, das der Entwicklung von der langen türkischen Besetzung - die Ungarn haben sich dagegen schon im 16. Jahrhundert wehren können - in eine kurze Phase Monarchie, in den Faschismus Antonescus und der „Eisernen Garde" hinein in den Stalinismus, mit dem Element, das Sie erwähnten. Wo ist Demokratie jemals eingeübt worden in Rumänien? Das kurzfristige Strukturproblem: Iliescu trat an als Übergangsregierung und versprach, eben nur die Wahlen durchzuführen. Inzwischen hat er eine Partei gegründet und hat seine Mitbewerber mehr oder weniger an die Seite gedrückt. Die Frage ist, ob nicht wirklich nur ein Clan gestürzt worden ist. Das macht uns große Sorge. Herr Präsident, wenn ich das letzte noch sagen darf: Es gibt natürlich auch ein paar Hoffnungszeichen, so etwa das Manifest der Gesellschaft „Timisoara" mit dem schönen Satz: „Wir sind der Überzeugung, daß das rumänische Volk nicht dazu bestimmt ist, Rechte zu erteilen, sondern dazu, die Rechte der Minderheiten zu respektieren." Auch der Aufstand der Studenten, die sich jetzt wieder melden und die ja, wenn man so will, eine der wenigen demokratisierenden Kräfte sind, ist sehr hoffnungsvoll. Auf die Frage, was wir denn tun könnten, kann ich nur sagen: alles, damit Europa dem Ideal der offenen Gesellschaft verpflichtet wird. Es sollte so schnell wie möglich eine Minderheiten-Charta des Europarates geben. Auch hier bei uns sollten wir aufpassen, daß wir nicht im Zuge der Vereinigung eine nationalere Gesellschaft werden, als wir sein dürfen, wenn wir Europa gegenüber eine offene Gesellschaft sein wollen. Nur mit solchen Ideen und solchen Vorstellungen kann man diesem abhelfen. Ich denke, daran müssen wir arbeiten, auch hier bei uns. Das Problemfeld hat seltsamerweise auch immer wieder Berührungspunkte mit uns. Ich bedanke mich. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Staatsminister Schäfer.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unmittelbar nach dem Sturz des Regimes Ceausescu in Rumänien hat der „Rat zur nationalen Rettung", der seinerzeit die Regierungsverantwortung übernommen hatte, als Grundlinien der künftigen Politik die Respektierung der Menschenrechte, die bürgerlichen Freiheitsrechte, Demokratisierung, Einführung der Marktwirtschaft und die Öffnung nach Europa festgeschrieben. Die Bundesregierung hat schon zu einem frühen Zeitpunkt durch den Besuch des Bundesaußenministers am 15./16. Januar dieses Jahres ihre Unterstützung für diese neue Zielsetzung deutlich gemacht. Sie war deshalb auch sofort bereit, Rumänien umfangreiche humanitäre Hilfe zu leisten. Meine Damen und Herren, wir sollten uns immer wieder klarmachen: Diese Hilfe beläuft sich auf ca. 73 Millionen DM. Wir liegen damit weit an der Spitze aller Länder, die Rumänien bisher geholfen haben. Auch das sei hier im Deutschen Bundestag noch einmal deutlich gesagt. Hinzu kommen beeindruckende Hilfeleistungen der deutschen Kirchen und Wohlfahrtsverbände und die vielfältigen Initiativen von privater Seite, wie sie auch schon im Falle Polen erinnerlich sind. Die neue Führung in Bukarest hat sich von Anfang an bemüht, die Lasten, welche das Ceausescu-Regime dem Land und seinen Bürgern aufgeladen hatte, abzubauen und parallel dazu die Entwicklung der Demokratie voranzutreiben. Dazu wurde im Februar ein Übergangsparlament geschaffen, der „Rat der nationalen Einheit", in dem auch die neu gegründeten Oppositionsparteien vertreten sind. Diese Institution hat seither eine Reihe wichtiger Gesetze, darunter auch das Wahlgesetz, verabschiedet. In Anbetracht des schweren Erbes, das Sie hier alle sehr deutlich beschworen haben, das die rumänische Übergangsregierung vom alten Regime übernehmen mußte, gestaltet sich dieser Demokratisierungsprozeß natürlich schwierig. Erst allmählich kommt das ganze Ausmaß der katastrophalen Lage des Landes an die Öffentlichkeit. Hier ist, Frau Kollegin Hämmerle, von Ihnen und anderen Rednern zu Recht auf die erschütternden Zustände in den rumänischen Kinderheimen hingewiesen worden. Wir sind alle gleichermaßen betroffen von den entsetzlichen Berichten über das Leiden der Kinder. Die Bundesregierung ist deshalb auch mit psychiatrischen und karitativen Organisationen in Verbindung getreten, um mitzuhelfen, dieses furchtbare Leid zu mildern. Vor dem Hintergrund einer zerrütteten Wirtschaft und fehlender demokratischer Traditionen wird der Reformprozeß immer wieder durch Rückschläge beeinträchtigt; auch darauf ist hingewiesen worden. Auch der wirtschaftliche Wiederaufbau wird Jahre in Anspruch nehmen und das Land vor sehr schwere soziale Probleme stellen. Die unter Ceausescu verfolgte Politik der rigorosen Rückzahlung der Auslandsschulden war ja mit ein entscheidender Grund dafür, daß der rumänischen Volkswirtschaft so schwere Schäden zugefügt worden sind. Diese Politik hatte nämlich eine sehr starke Importdrosselung, damit einen Verzicht auf die dringend erforderlichen Investitionen zur Modernisierung der Industrie und Landwirtschaft und dadurch schwere Mängel bei der Versorgung der Bevölkerung zur Folge. Die jetzt wieder in Gang gekommene Zusammenarbeit zwischen Rumänien und der Europäischen Gemeinschaft wird zum Wiederaufbau der rumänischen Volkswirtschaft beitragen. Es ist vollkommen klar, Frau Kollegin Hämmerle, daß wir darauf drängen, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft bei ihren Bemühungen, Osteuropa und Mitteleuropa zu helfen, gemeinsam operieren. Es geht nicht nur um bilaterale Hilfeleistungen seitens der Bundesrepublik. Gefahren drohen - Herr Lippelt, da sind wir völlig einer Meinung - dieser ganzen Entwicklung auch durch extremistische Gruppierungen. Rumänische nationalistische Kräfte haben wesentlich zum Wiederaufflammen des ungarisch-rumänischen Nationalitätenkonfliktes vor wenigen Wochen beigetragen. Die rumänische Regierung hat angesichts des jüngsten Konflikts erneut versichert, daß sie die Minderheitenrechte gewährleisten werde. Sie hat nach den Unruhen von Tirgu Mures dazu beigetragen, den Dialog zwischen den beteiligten Bevölkerungsgruppen wieder in Gang zu bringen - auch wenn dieser Nationalitätenkonflikt, dem historische Ursachen zugrunde liegen, von einer gesicherten Lösung noch weit entfernt ist. Unser besonderes Augenmerk, meine Damen und Herren, gilt der deutschen Minderheit. Der Bundesregierung sind nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes keine Diskriminierungen gegenüber den Deutschen in Rumänien bekanntgeworden. Im Gegenteil: Die Anliegen der deutschen Minderheit werden von der rumänischen Regierung wohlwollend aufgenommen. Ein Teil der deutschen Minderheit will einen Neuanfang in Rumänien versuchen. Es ist der kleinere Teil, das ist uns bewußt. Eine große Zahl allerdings - dies kann nicht verschwiegen werden - will in die Bundesrepublik übersiedeln. Die Bundesregierung ist bemüht, zur Sicherung der kulturellen Identität der Deutschen beizutragen. Wir haben deshalb im Einvernehmen mit der rumänischen Regierung ein beeindruckendes kulturelles Soforthilfeprogramm für die Rumäniendeutschen ausgearbeitet. Dieses Programm sieht u. a. materielle Unterstützung für die deutschen Schulen, Zeitungen und Theater, die Schaffung von deutschen Kulturzentren in Hermannstadt und Temeschburg sowie die Errichtung von Schüler- und Altersheimen vor. Es soll dazu beitragen, den Deutschen eine neue Perspektive zum Abwarten und, wie wir hoffen, letztlich zum Verbleiben im Lande - als Alternative zur Aussiedlung - zu geben. Dieses Programm ist angelaufen. Meine Damen und Herren, ich darf mit Ihnen meiner Freude darüber Ausdruck verleihen, daß die rumänische Regierung im Gegensatz zu anderen Ländern - wir haben heute eines im Ausschuß erwähnt - alle KSZE-Teilnehmerstaaten zur Entsendung von Beobachtern zu den Wahlen am 20. Mai eingeladen hat. Daß der Deutsche Bundestag auch bei dieser Wahl wieder vertreten sein wird, Frau Kollegin Geiger, wird von uns sehr begrüßt. Ich glaube, daß zu erwarten steht, daß trotz der Vielzahl der Parteien nach dem 20. Mai eine Zäsur eintritt, daß eine Koalitionsregierung aus den wichtigsten Parteien zustande kommen muß, um dann die schwierigen Probleme des Landes in Angriff zu nehmen. Die Bundesregierung wird Rumänien dabei helfen. Ich bedanke mich für die Geschlossenheit, mit der der Deutsche Bundestag bereit ist, diesem Land in Zukunft zu helfen. Vielen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Der Abgeordnete Dr. Lippelt will eine Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgeben.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte mein Erstaunen zum Ausdruck bringen. Ich habe auf der Grundlage eines Antrags der Regierungskoalition gesprochen und sehe jetzt, daß ein neugefaßter Antrag der Regierungskoalition plus SPD vorliegt. Ich erlebe zum wiederholten Male, daß die GRÜNEN nicht befaßt werden, wenn zwischen der größeren Oppositionspartei und den Koalitionsparteien ein Antrag neu ausgemauschelt wird. ({0}) Ich habe zur gleichen Zeit erlebt, daß es bei einem Antrag zum Thema „Siam" genau umgekehrt gelaufen war: Sämtliche vier Parteien hatten sich verständigt. Die GRÜNEN sind herausgekegelt worden, weil es der CDU nicht gepaßt hat. Wenn das die Gemeinsamkeit in diesem Hause ist, daß mit den GRÜNEN in Geschäftsordnungsdingen beliebig verfahren werden kann, dann muß ich das hier einmal deutlich zur Sprache bringen. In solchen Punkten besteht zu Gemeinsamkeit wirklich jeder Anlaß, und ich verstehe nicht, daß meine Fraktion entweder herausgehalten wird oder gewissermaßen bei einer Neuformulierung nicht mitbefaßt wird. Ich finde, das ist kein guter Stil. ({1}) Ich muß das erwähnen, weil wir deswegen jetzt dem Antrag natürlich nicht zustimmen werden, obwohl wir inhaltlich völlig damit übereinstimmen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich muß mich dann korrigieren, Herr Dr. Lippelt, es war wohl ein Kurzbeitrag, wie er nach unserer neuen Geschäftsordnung möglich ist, kein Beitrag nach § 31. Im übrigen, Herr Dr. Lippelt, das mit dem „Mauscheln" würde ich wohl besser überhört haben. ({0}) Ich lasse nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP auf Drucksache 11/6574 ({1}), dem Sie noch nicht beigetreten sind, ({2}) abstimmen. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Vizepräsident Cronenberg Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({3}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Gemeinsames Programm von Bund und Ländern zur Fortsetzung der Öffnungspolitik an den Hochschulen zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP Gemeinsames Hochschulsonderprogramm von Bund und Ländern zur Erweiterung der Ausbildungskapazität in besonders belasteten Studiengängen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Großen Anfrage der Abgeordneten Kuhlwein, Dr. Penner, Odendahl, Dr. Böhme ({4}), Kastning, Dr. Niehuis, Rixe, Weisskirchen ({5}), Bernrath, Ganseforth, Dr. Hauchler, Schmidt ({6}), Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Entwicklungsstand und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 11/4141, 11/4223, 11/2211, 11/2603, 11/3588, 11/6114 Berichterstatter: Abgeordnete Daweke Kuhlwein Wetzel Dazu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6979 vor. Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Dann ist dies beschlossen. Ich kann also die Aussprache eröffnen. Zunächst hat der Abgeordnete Graf von Waldburg-Zeil das Wort.

Alois Waldburg-Zeil (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002413, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eigentlich wollte ich jetzt das Hohelied eines gemeinsamen Antrags anstimmen. Uns ist aber ein ähnliches Schicksal wie gerade eben widerfahren. ({0}) Wir, alle vier Fraktionen, haben nämlich im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft einen wunderschönen gemeinsamen Antrag unterschrieben, und die Berichterstatter haben ihn vorgelegt. Nun sehe ich zu meiner großen Verblüffung, daß ein langer und ausführlicher Zusatzantrag der SPD vorliegt. Meine sehr verehrten Damen und Herren, in diesem Antrag steht eine Menge vernünftiger Dinge. In diesem Antrag stehen z. B. Dinge, die die Bundesregierung bereits aufgegriffen hat. In diesem Antrag stehen Dinge, die wir in dem anderen Antrag bereits angesprochen hatten; sie sind etwas vertieft worden. Es sind einige Schwerpunkte so gesetzt, daß man noch einmal darüber beraten müßte; aber genau die Zeit, darüber zu beraten, haben wir nicht. Ich bitte deshalb um Verständnis dafür, liebe Frau Kollegin Odendahl, daß wir einfach unter geschäftsordnerischen Gesichtspunkten diesen Antrag jetzt, in der Kürze vorgelegt, ablehnen müssen. Ich glaube, daß wir trotzdem gemeinsam dann dem bisher verfaßten Antrag werden zustimmen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich würde gern in drei Schritten vorgehen: die bundespolitischen Initiativen ansprechen, die, wie es im Bericht heißt, die ursprünglichen Vorlagen überholt haben; die Punkte ansprechen, bei denen sich die Fraktionen einig waren, daß mit dem vereinbarten gemeinsamen Hochschulprogramm die Probleme im Hochschulbereich noch keineswegs gelöst seien, sondern weiter verfolgt werden müßten; schließlich einige Schwerpunkte nennen, bei denen, wenn auch aus verschiedener Sicht, eine gewisse Gemeinsamkeit unübersehbar ist. Als im Wintersemester 1988/89 deutlich wurde, daß die Zahl der Studierenden weit über dem prognostizierten Korridor mit 1,5 Millionen lag, die Zahl der Studienanfänger die 250 000er Marke überschritten hatte, das Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Personal und Studierendenzahl sich weiter verschlechterte, die Überbelegung der Studienplätze noch unerträglicher geworden war - bei den Universitäten 180 %, bei den Fachhochschulen 216 % -, der - wenn Sie mir als Waldbesitzer dies zu sagen gestatten - Altersaufbau der Professoren immer unorganischer wurde, der Numerus clausus sich weiter auszudehnen drohte und die Wohnungsnot der Studierenden entsprechend den gestiegenen Zahlen immer schlimmer wurde, ergriff die Bundesregierung die Initiative mit dem ersten Sonderprogramm zur Verbesserung der Studiensituation in den besonders belasteten Fächern. ({1}) Die einleitenden Gespräche der Regierungschefs des Bundes und der Länder zu hochschulpolitischen Fragen führten am 10. März 1989 zur Unterzeichnung einer Vereinbarung. Dieses erste Hochschul-Sonderprogramm hat einen finanziellen Umfang von 2,1 Milliarden DM, die sich Bund und Länder je zur Hälfte teilen. Die Laufzeit beträgt sieben Jahre. Der Bundesbildungsminister hat stets betont, daß dieses erste Programm nur als Einstieg für eine verstärkte Förderung der Hochschulen verstanden werden dürfe. Ein zweites Sonderprogramm ist in Vorbereitung. Es wird etwa sechs Milliarden DM ausmachen. ({2}) Obwohl die Regierungschefs von Bund und Ländern bei ihrer Konferenz am 21. Dezember 1989 noch nicht zu einem Abschluß kamen - was in einer förderalistischen Gemeinschaft überhaupt kein Malheur ist -, ({3}) wurde das Programm zur Förderung von GraduiertenKollegs unterzeichnet. Die Mittel für die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft wurden erhöht. Die Bund-Länder-Vereinba16164 rung zur Förderung des studentischen Wohnungsbaues ist in Kraft getreten. Was den Ausbau der Hochschulen anlangt, sind die Bundesmittel, die nach dem Hochschulbauförderungsgesetz im Jahre 1981 mit knapp 800 Millionen DM ihren niedrigsten Stand erreicht hatten, zunächst wieder auf eine Milliarde DM, für 1990 auf 1,1 Milliarden DM und ab 1991 auf 1,3 Milliarden DM angehoben. Bei den Fachhochschulen wurde ein besonderer Förderungsschwerpunkt angesetzt. Zusätzlich sollen hier 50 000 neue Studienplätze geschaffen werden. Die Förderung der Forschung an den Fachhochschulen soll ab 1991 einen besonderen Schwerpunkt bilden. Und schließlich hat die 12. BAföG-Novelle eine wesentliche Verbesserung für die Studierenden erbracht. Wir haben hier im Plenum gerade erst darüber diskutiert. Die Beschlußempfehlung begrüßt all dies. Die Bundesregierung wird aber zusätzlich aufgefordert, dem Deutschen Bundestag noch in dieser Legislaturperiode einen Bericht über die hochpolitischen Ziele und Erfolge vorzulegen. Von der künftigen Struktur des Hochschulsystems über die Perspektiven der Studienreform, die Entwicklung der Studienneigungen und Studienfachentscheidungen insbesondere auch bei Frauen, die Rahmenplanung für den Hochschulneubau, die Gemeinschaftsaufgabe „Bildungsplanung und Forschungsförderung", die Forschungsförderung aus EG-Forschungsprogrammen, die Verbesserung der Kooperation zwischen Hochschulen, Wirtschaft und Gesellschaft, die Wahrnehmung ökologischer Aufgaben, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Entwicklung der Auslandsbeziehungen, die des Europäischen Binnenmarktes im Hinblick auf die Hochschulen und die Möglichkeit der Novellierung des Hochschulrahmengesetzes bis zur Lage der Wohnraumversorgung für Studierende, jeweils unter Berücksichtigung der besonderen Aspekte der Fachhochschulen, auf all diese Gebiete sollte der Bericht der Bundesregierung eingehen. Darüber hinaus sollte die Bundesregierung aufgefordert werden, Fachhochschulen besonders zu fördern, wobei in zehn Punkten - Studienplätze, anwendungsbezogene Forschung, Hochschullehrernachwuchs, Einstellung zusätzlicher Mitarbeiter, Einbeziehung der Fachhochschulstudenten in alle Begabtenförderungswerke, Frauenförderung, Geräteausstattung, Praxisbezug und Zugangsvoraussetzungen, Anteil an EG-Programmen und besondere Promotionsregelungen - angesprochen werden. Lassen Sie mich zum Abschluß aber aus den Beratungen - wenn auch sehr willkürlich - noch ein paar Schwerpunkte herausgreifen: A. Es stellt sich die Frage, wie viele Studenten man eigentlich verkraften kann. Man kann an dieses Problem von zwei in der Realität nicht existierenden idealtypischen Positionen herangehen. Die eine geht von einer unabänderlichen Zahl von Begabungen aus, der die Bildungsangebote entsprechen müßten. Die andere sieht Abschlüsse als Privilegien an, die möglichst jedem zugänglich gemacht werden sollten. Dazwischen nähern sich die Einsichten, daß die Begabungsreserven, von denen man früher so gerne sprach, größer sind als angenommen und daß ein wirklich freiheitliches Bildungswesen - vorausgesetzt, Studienberechtigungen beruhen auf einer gleichen objektiven Voraussetzung - all denen, die diese Abschlüsse erreichen, auch Angebote zur Verfügung stellen muß. Gleichzeitig wird aber deutlich, daß Studienberechtigung als Massenerscheinung etwas anderes ist, als die alte „universitas scientiarum". In der großen Breite nähert sich das Studium einem normalen Ausbildungsgang, während nur ein kleiner Teil auf Dauer in Forschung und Lehre verbleibt. B. Wenn Studium und wissenschaftliche Laufbahnen Männern und Frauen gleichermaßen offenstehen sollen, könnte man „das Student" - eine Neutral-form, die es nicht gibt - an herrschende Studienbedingungen anpassen. Man kann aber auch, wenn es dem Propheten schwerfällt, zum Berg zu kommen, den Berg zum Propheten kommen lassen und neue Formen, insbesondere des Fernstudiums, der neuen Medien und der offenen Universität für unterschiedliche Lebenssituationen von Männern und Frauen anbieten. C. Der EG-europäische Einigungsprozeß und der durch die deutsche Einigung ausgelöste europäische Ausweitungsprozeßlassen alle Träume von Einheitsund Gesamtuniversitäten welken. Die Angebotsvielfalt unterschiedlicher Traditionsströme wird nicht zum Fluch, sondern zum Reichtum der neuen Einheit werden. Nur diese Vielfalt vermag die Steigerungsprozesse zu bewältigen, die in dieser Entwicklung liegen. Damit rundet sich das Bild. Ein Entschließungsantrag aus vielfältigen Perspektiven führt dazu, eine ursprünglich zur Überlast geführte Diskussion zu neuen Ufern reicher Entfaltungsmöglichkeiten zu führen. Ich danke Ihnen. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Odendahl. ({0})

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren, insbesondere Herr Kollege Weng! Das ist nicht „die mit dem Zusatzantrag". Ich bedaure es außerordentlich, daß wir auf Grund einer Verschiebung der Tagesordnung heute in der Situation sind, daß nicht der Berichterstatter, Eckart Kuhlwein, der mit der Enquete-Kommission in Berlin ist, nun die hochschulpolitischen Gedanken hier vortragen kann. Im Grunde genommen sind wir - das habe ich den Ausführungen von Graf Waldburg entnommen - in der Einschätzung dessen, was nötig ist, gar nicht auseinander. Der Deutsche Bundestag berät heute über eine Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft, die auf Anträge meiner Fraktion und der Koalition zum ersten Sonderprogramm und auf die Große Anfrage meiner Fraktion zum Entwicklungsstand und den Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland zurückgeht. Wir haben uns im Ausschuß auf einen gemeinsamen Text verständigt, der unter II die Bundesregierung zu einem umfassenden Bericht über ihre hochschulpolitischen Ziele auffordert und unter III konkrete Forderungen zur Weiterentwicklung der Fachhochschulen enthält. Die SPD-Fraktion hat dem Wunsch nach einem weiteren Bericht der Bundesregierung nicht gerade mit überströmender Begeisterung zugestimmt. Wir hätten uns einen konkreten Auftrag zum Handeln gewünscht; dies um so mehr, als der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft seit dem Herbst des vergangenen Jahres mit einem zweiten Sonderprogramm für die Hochschulen hausieren geht, das sich immer mehr - gestatten Sie mir, den Eindruck weiterzugeben - zu einer Fata Morgana entwickelt. Ich gebe zu, daß ein weiterer Regierungsbericht zur Hochschulpolitik nicht schaden kann. Es könnte sogar nützlich sein, daß sich die Bundesregierung selbst einmal darüber Klarheit verschafft, was sie in welchem Bereich selbst tun will und welche Vorschläge sie den Ländern machen will. Wir hätten dann - wenn wir mehr gemacht hätten - wenigstens sagen können, daß das Parlament diesmal auch eigene inhaltliche Vorstellungen zur Gestaltung eines solchen Programms beigetragen hat. Sie haben den inzwischen schon plattgetretenen Gipfel lange genug als Trostpflaster verwendet mit der Ankündigung, wenn der Kanzler ihn erst erklommen habe, seien die Hochschulen gerettet. Bei der ganzen Gipfelstürmerei haben Sie nur vergessen, die von der Bundesregierung vorgesehenen Leistungen, konkret beziffert, in den Rucksack zu packen. Sie können nicht erwarten, daß Ihnen dabei die Länder vorangehen. Bisher haben Sie keine Gelegenheit versäumt, den Ländern in vielen Bereichen ständig mehr Lasten aufzubürden, einmal ganz abgesehen davon, daß Sie das jetzt bei der Finanzierung der deutschen Einheit in grandioser Weise fortzusetzen gedenken. Wir wollen Ihnen deshalb heute die Chance geben - darum auch dieser Änderungsantrag - , in einem zusätzlichen Kapitel IV ein Strukturprogramm zur Sicherung und Entwicklung von Forschung und Lehre an den Hochschulen zu fordern, das mehr beinhaltet als das kurzfristige Stopfen von Löchern. Die Hochschulen werden nicht damit beruhigt werden können, daß der deutsch-deutsche Einigungsprozeß neue Fragen für die Strukturen des Hochschulwesens und seine Finanzierung aufgeworfen habe. Schon heute läßt sich absehen, daß der Einigungsprozeß auch zusätzliche Herausforderungen für die Hochschulen in der Bundesrepublik bedeutet: Nachfrage nach Studienplätzen durch Bewerberinnen und Bewerber aus der DDR, Schaffung von Ergänzungsstudiengängen für DDR-Akademiker, personelle Hilfen beim Aus- und Umbau der Studienangebote in der DDR. Wir sehen nun mit Sorge, daß der Bund einen beträchtlichen Teil der Kosten der deutsch-deutschen Einigung den Ländern aufhalsen möchte. Wenn wir von den Ländern zu Recht verstärkte Anstrengungen im Bereich der Hochschulpolitik erwarten, müssen sie dafür auch die finanziellen Möglichkeiten erhalten. Der notwendige Ausbau unseres Hochschulsystems darf nicht - darin sollten sich alle Bildungspolitiker einig sein - dem Finanzbedarf für die deutsche Einheit geopfert werden. Im Gegenteil: Die Einigung wird ökonomisch, politisch, sozial und ökologisch nur dann gelingen, wenn gleichzeitig genügend in Bildung, Ausbildung und Wissenschaft investiert wird. Wir werden es in den nächsten Jahren mit einem wachsenden Anteil von jungen Menschen zu tun haben, die studieren wollen. Dies entspricht ganz offensichtlich auch dem Bedarf des Arbeitsmarktes. Auf rund 800 000 Studienplätzen studieren zur Zeit in der Bundesrepublik 1,5 Millionen junger Menschen. Die in den 70er Jahren vereinbarte Überlast wird zur Dauerlast, weil alle Prognosen uns sagen, daß wir wenigstens bis zum Jahr 2010 in der Bundesrepublik allein mit über 1 Million Studierenden rechnen dürfen. Gleichzeitig hat sich das Betreuungsverhältnis zwischen Stellen für wissenschaftliches Personal und Studierenden seit den 70er Jahren erheblich verschlechtert. Die Studien- und Lehrbedingungen haben sich seit den 70er Jahren wieder auf den Zustand zurückentwickelt, der zehn Jahre zuvor die Warnung vor einer „Bildungskatastrophe" aufkommen ließ. Viele durch die Hochschulreform erreichte qualitative Verbesserungen in Studium, Lehre und Forschung sind im zurückliegenden Jahrzehnt nicht zuletzt infolge der Verschlechterung der Personalausstattung verlorengegangen. Wir sind deshalb der Meinung, daß das erste Sonderprogramm für die nächsten Jahre um zusätzliche Finanzierungsprogramme ergänzt werden muß, die bessere Qualifizierungsmöglichkeiten für den Nachwuchs schaffen, die Personalentwicklung an den Hochschulen verstetigen, der Lehre an den Hochschulen neue Impulse geben und den Anteil von Wissenschaftlerinnen - auch darin sind wir uns einig - an den Hochschulen erhöhen. Gleichzeitig fordern wir eine weitere Aufstockung der Mittel für den Hochschulbau nach der Gemeinschaftsaufgabe. Auch darüber ist Einigkeit erzielt worden. Es kann hier aber nicht nur um die Quantitäten gehen. Wir glauben, daß es an der Zeit ist, das Hochschulrahmengesetz wieder zu einem Instrument der Hochschulreform zu machen. Wir halten eine Novellierung für erforderlich, die verstärkte Anreize zur Studienreform, zur Zusammenarbeit zwischen den Fächern, Fachbereichen und Hochschulen, auch von Universitäten und von Fachhochschulen, zur Frauenförderung, zur Frauenforschung und zur Öffnung der Hochschulen gegenüber der Gesellschaft bietet. Wir sind froh darüber, daß es heute gelingt, gemeinsam etwas zur Bedeutung und zur Weiterentwicklung der Fachhochschulen zu sagen. Das betrifft besonders die Bevorzugung beim Hochschulbau nach der Gemeinschaftsaufgabe, die Förderung der anwendungsbezogenen Forschung und Entwicklung durch ein besonderes Programm, die Sicherung des Hochschullehrernachwuchses, die Unterstützung bei der Frauenförderung, die Promotionsmöglichkeiten an Universitäten und die einheitliche Festlegung der Studienzeit auf die in Europa geforderten vier Jahre unter Einbe16166 ziehung von integrierten Praxissemestern. Wir hätten manches gern deutlicher gehabt, haben uns aber im Interesse der Sache hier auf Kompromisse eingelassen. Alles, was wir an Herausforderungen an die künftige Hochschulpolitik feststellen, ruft nach einer Wiederaufnahme einer bundesweiten Bildungsrahmenplanung. Das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten und die zunehmende Bedeutung der europäischen Bildungspolitik machen eine schnelle und verläßliche Orientierung und Abstimmung zwischen den Ländern und insbesondere zwischen Bund und Ländern dringend erforderlich. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, in der Bund-LänderKommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung die Initiative dazu zu ergreifen. In der Bildungspolitik, meine Damen und Herren, gibt es eine lange Tradition: Es scheitern die Forderungen der Bildungspolitiker oft am Veto der Finanzpolitiker. Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern wird dadurch oft zum Schlupfloch, um unterlassene notwendige Maßnahmen zu kaschieren. Im Interesse der Studierenden, die im kommenden Wintersemester an die Hochschulen drängen und endlich auf eine klar konzipierte Hochschulpolitik von Bund und Ländern warten, sollten wir heute die Chance wahrnehmen, daß wir uns wenigstens als Bildungspolitiker in diesem Hause auf klare politische Aussagen verständigen. Ich bitte Sie deshalb darum, auch unserem Änderungsantrag als wichtiger Ergänzung der Ausschußempfehlung zuzustimmen. Lassen Sie mich noch einmal auf die Rolle der Fachhochschulen für die Hochschulpolitik zurückkommen. Die Fachhochschulen haben sich in den 20 Jahren ihres Bestehens sehr gut bewährt und sind ein wichtiger Teil des Hochschulsystems geworden. Die Öffnung der Hochschulen und insbesondere der Fachhochschulen entspricht zur Zeit jedoch nicht dem Wunsch junger Menschen nach mehr Bildung und Kompetenz. Aufgabe der Politik ist es also, die Hochschulen in die Lage zu versetzen, einen wachsenden Anteil junger Menschen unter normalen Bedingungen und auf Dauer qualifiziert auszubilden. Hierzu gehört natürlich auch ein verstärktes Engagement des Bundes bei der Finanzierung im Bereich Hochschulen und Forschung. Besonders akut ist der quantitative Bedarf der Fachhochschulen. Diese sind in der Vergangenheit schlichtweg zu kurz gekommen. Die Fachhochschulen sind besonders betroffen vom Mangel bei der Versorgung mit Hochschullehrerstellen und beim wissenschaftlichen Mittelbau. Fachhochschulspezifische Forschung und Entwicklung ist nur schwer möglich. Und auch das Ansehen, das sich in Bezahlung niederschlägt, ist bei den Fachhochschullehrern und den wenigen Fachhochschullehrerinnen der Leistung bestimmt nicht angemessen. Eine andere Frage, die bei den Fachhochschulen immer mehr an Bedeutung gewinnt, ist die Heranbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Bisher können Absolventinnen und Absolventen von Fachhochschulen nur promovieren, wenn sie ein Universitätsstudium absolvieren, also anhängen. Auf Außenstehende wirkt es geradezu lächerlich, wenn man erfährt, daß ein mit dem Diplom abgeschlossenes Fachhochschulstudium allerhöchstens dem Grundstudium an Universitäten entsprechen soll. Andererseits spricht das Gesetz von einer Gleichstellung von Hochschulen, d. h. von Universitäten und Fachhochschulen. Eine stärkere Durchlässigkeit zwischen den Hochschulen und eine der Gleichwertigkeit entsprechende Anerkennung von Fachhochschulabschlüssen sind deshalb dringend geboten. Beides, die Heranbildung des eigenen Nachwuchses wie die verstärkte Forschungstätigkeit, könnte man z. B. durch Promotionsstipendien für wissenschaftliche Weiterqualifizierung von Fachhochschulabsolventen kombinieren. Wie weit das von mir Vorgetragene durchgeführt werden kann, hängt zunächst von finanzieller Unterstützung durch Bund und Länder ab. Es hängt aber auch von der Bereitschaft der Hochschulen ab, strukturelle und inhaltliche Reformen durchzuführen. Die Fachhochschulen sollten ihre Attraktivität auch für das Zusammenwachsen Europas, für den europäischen Binnenmarkt und ebenso zur Unterstützung des Reformprozesses in der DDR und für das Zusammenwachsen beider deutscher Staaten erhalten. ({0}) Hierzu ist nicht allein der Ausbau, den ich oben erwähnt habe, ein wichtiger Schritt. Ich kann mir gut vorstellen, daß die Studienangebote an Fachhochschulen unter Berücksichtigung der zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen an verantwortliche und vielseitige Ausbildung um fächerübergreifende Lerninhalte erweitert werden. Das bedeutet nicht ein „Aufpfropfen" von anderen Inhalten, sondern es sollte eine Beschäftigung mit Inhalten, die keinen unmittelbaren Zusammenhang mit der wissenschaftlichen Berufsvorbereitung besitzen, integriert werden. Für viele Bereiche wird hierzu eine enge Kooperation nicht nur mit anderen Fachbereichen, sondern auch mit anderen Hochschulen, Universitäten oder Fachhochschulen nötig sein. Meine Damen und Herren, der Reformprozeß in der DDR kann und muß jetzt durch den Ausbau von Bildungskapazitäten in der DDR qualitativ-inhaltlich und quantitativ schnell unterstützt werden. Dieser Ausbau kann aber nicht sofort den akuten Bedarf dekken, der durch Defizite im bisherigen Bildungssystem der DDR entstanden ist. In den Hochschulen der DDR gibt es wegen der bisher einseitigen Ausrichtung von Forschung und Lehre auf den Marxismus-Leninismus und wegen der besonderen Struktur der Wirtschafts- und Rechtssysteme erhebliche qualitative Defizite in den Wirtschaftswissenschaften, in der Rechtswissenschaft, aber auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Für Natur- und Technikwissenschaften ist die Situation etwas differenzierter zu sehen. Dabei ist die zahlenmäßige Relation von Lehrenden zu Lernenden günstiger als in den Hochschulen in der Bundesrepublik. Dies wird sich aber sehr schnell ändern, wenn die bisher in der DDR - meist aus politischen Gründen - geübte Reglementierung des Hochschulzugangs aufgehoben ist. Besonders großen BeFrau Odendahl darf an Unterstützung wird es bei einem Umbau des Wirtschaftssystems in Richtung Marktwirtschaft und für die Modernisierung der Volkswirtschaft im Bereich der Weiterbildung geben. Die Fachhochschulen mit ihrer anwendungsbezogenen Orientierung sind hier ein sehr gut geeigneter Kooperationspartner zur Unterstützung des Reformprozesses in der DDR. Ich spreche auch noch an, daß es zusätzlich gelingen muß, auch Mittel aus Programmen der Europäischen Gemeinschaft für die DDR und die Kooperation mit der DDR bereitzustellen. Dann können Defizite schneller abgebaut werden. Meine Damen und Herren, um hochschulpolitische Maßnahmen im Sinne der dargelegten Reform von Hochschulen zu erleichtern, liegt nun mit der Beschlußempfehlung auch ein Katalog von Maßnahmen für eine Studien- und Strukturreform an Fachhochschulen vor. Wenn diese vorgeschlagenen Maßnahmen sowie das ergänzend von uns vorgeschlagene Hochschul- Strukturprogramm innerhalb der nächsten Jahre durchgeführt werden können, besteht berechtigte Hoffnung, daß die Fachhochschulen ihre Attraktivität behalten können und daß Normalität im gesamten Hochschulbereich wieder eintritt. Ich möchte Sie noch einmal bitten, auch unseren Änderungsantrag mit in Ihre Überlegungen einzubeziehen und ihm in allen Teilen zuzustimmen. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun erteile ich dem Abgeordneten Friedrich Neuhausen das Wort.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bleibe bei meinem ursprünglichen Redetext, wenigstens fragmentarisch. Die vorliegende Beschlußempfehlung zur Hochschulpolitik des Bundes ist im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft einvernehmlich verabschiedet worden. Ich setze den Akzent jetzt ein wenig niedriger, als ich es ursprünglich vorhatte. Es handelte sich um die Zusammenfassung verschiedener Vorlagen im Interesse einer zukunftsgerichteten Hochschulpolitik. Das begrüße ich auch jetzt noch ausdrücklich. Ich bedanke mich bei den Mitberichterstattern dafür. Das gilt allerdings nicht, liebe Frau Odendahl, für den heute eingebrachten Änderungsantrag der SPD; aber davon später. Die Beschlußempfehlung begrüßt noch einmal das gemeinsame Hochschulsonderprogramm des Bundes und der Länder, das bereits eine beachtliche Erweiterung der Zahl der Studienplätze in besonders belasteten Studiengängen ermöglichte und dem es zu verdanken ist, daß im Universitätsstudiengang Betriebswirtschaftslehre der Numerus clausus zum Wintersemester 1990/91 entfällt. Im zweiten Teil wird die Bundesregierung - das wurde schon ausführlich dargestellt - zu einem Bericht über ihre weiteren hochschulpolitischen Zielsetzungen aufgefordert. In 13 Punkten werden wichtige Einzelfragen, die von der künftigen Struktur des Hochschulsystems insgesamt bis zur Situation der Wohnraumversorgung für Studierende reichen, behandelt. Berichtet werden soll über Stand und Perspektiven der Studienreform, aber eben nicht nur quantitativ, über die Entwicklung der Studierneigung und die Situation von Frauen an Hochschulen überhaupt, auch über die Beseitigung der für Wissenschaftlerinnen bestehenden Nachteile, über die Rahmenplanung für den Hochschulbau und die Gemeinschaftsaufgabe Bildungsplanung und Forschungsförderung. Es ist also nicht so unbekannt, was jetzt in Ihrem Antrag steht. Angesprochen wird die Förderung der Forschung im Hochschulbereich, die Weiterentwicklung der Kooperation zwischen Hochschulen, Wirtschaft und Gesellschaft, die Berücksichtigung ökologischer Aufgaben in Ausbildung, Forschung und Weiterbildung, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, die Entwicklung der Auslandsbeziehungen der Hochschulen und die Bedeutung des europäischen Binnenmarktes für den Hochschulbereich. Das ist ein doch sehr umfassender programmatischer Entwurf, wenn denn die Antworten unseren Fragen und Vorstellungen entsprechen. - Gesondert soll dabei jeweils auf die speziellen Aspekte der Fachhochschulen eingegangen werden. Damit sind Themen und Fragen angesprochen, die aktuell und perspektivisch bedeutsam sind, Fragen, in denen die Bundesregierung ja bereits wichtige Initiativen eingeleitet hat und von deren Beantwortung wir uns eine Beratungs- und Entscheidungsgrundlage auch zur weiteren Unterstützung dieser Politik erhoffen. Im dritten Teil der Beschlußvorlage ist unmittelbar von der Förderung und Weiterentwicklung der Fachhochschulen die Rede, etwa die Förderung nach neuen Studienplätzen über frühere Planungen hinaus, die Förderung der anwendungsbezogenen Forschung und Entwicklung an Fachhochschulen durch ein besonderes Programm des Bundes und der Länder, und damit werden wiederum entsprechende Initiativen und Planungen der Bundesregierung unterstützt. Wichtig - es wurde erwähnt - ist auch das Thema des Verhältnisses zwischen den gegenwärtigen Personalstrukturregelungen und der notwendigen Sicherung des Fachhochschullehrernachwuchses und, was dazugehört, mindestens ebenso wichtig ist eben die Erhöhung der Attraktivität der Fachhochschulen für diesen Nachwuchs. Ich erspare mir, das zu wiederholen, was die Vorredner ja mindestens in der Diagnose übereinstimmend gesagt haben: In allen diesen Punkten bedarf es aber auch der Zusammenarbeit mit den Ländern, die für einen großen Teil der angeschnittenen Themen mindestens, um es vorsichtig zu sagen, mit zuständig sind und die wir - ebenso zurückhaltend gesagt - mit dem vorliegenden Beschluß zu einer der Wichtigkeit dieser Aufgaben angemessenen Kooperation auffordern. Meine Damen und Herren, es wird Sie nicht verwundern, wenn ich feststelle: Die Bundesregierung und vor allem Bundesminister Möllemann ist hochschulpolitisch auf einem guten Wege. Das zeigt sich schon deutlich, wenn wir die vorliegende gemeinsame Drucksache mit den bereits erwähnten inzwischen getroffenen Entscheidungen, den eingeleiteten Initiativen oder weitergehenden Planungen vergleichen. Durch diese Beschlußempfehlung erhält sie da16168 für eine wichtige parlamentarische Unterstützung. Stichworte: etwa die Vereinbarung zum Studentenwohnraumbau, zu den Graduiertenkollegs, zur Erhöhung der Mittel für die DFG und für den Hochschulbau und die von der FDP bald erwartete Vereinbarung über das sogenannten Möllemann-Zwei-Programm. ({0}) Jetzt liegt uns der uns bisher nicht bekannte Änderungsantrag der SPD vor. Eine seriöse Behandlung, liebe Frau Odendahl, verbietet uns so und heute, wie von Ihnen gewünscht, die Zustimmung. Es sind Punkte darin erwähnt, die in der Beschlußempfehlung schon enthalten sind, andere, deren Zielsetzung wir teilen. Wieder andere sind bereits beschlossen, wie die Erhöhung der Forschungsmittel für DFG und MaxPlanck-Gesellschaft. Das vorgeschlagene Strukturprogramm nimmt die Initiativen des MöllemannZwei-Programms auf, zu dem, wie ich höre, die vom Kanzler und den Ministerpräsidenten eingesetzte Arbeitsgruppe ihre Arbeit abgeschlossen hat. Eingehender Beratungsbedarf besteht auch bei den Vorschlägen zum HRG und zur Bildungsrahmenplanung. Deswegen sage ich: Als Diskussionsbeitrag hat dieser Antrag durchaus seinen Wert; pauschal zustimmungsfähig ist er aus den genannten Gründen so und heute nicht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär. - Oh, Entschuldigung, zunächst hat der Abgeordnete Wetzel das Wort. ({0}) - Ihren Optimismus in Gottes und des Wählers Ohr!

Dietrich Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002492, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Das war übrigens eine Bemerkung, die Ihnen nicht zusteht, Herr Präsident. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich kann Ihnen nicht widersprechen. ({0})

Dietrich Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002492, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Alle Fraktionen dieses Hauses tragen die Ihnen vorliegende Beschlußempfehlung, und als derjenige, der die Ehre hat, diesem Ausschuß vorzusitzen, bedanke ich mich ausdrücklich für die Zusammenarbeit, die diese Beschlußempfehlung ermöglicht hat. In dieser Empfehlung wird die Bundesregierung aufgefordert, zu berichten, welche hochschulpolitischen Ziele sie sich setzt und mit welchen Maßnahmen sie im Rahmen ihrer Zuständigkeit diese Ziele durchzusetzen gedenkt. So schön, so gut. Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen uns hier nicht - diesen Anklang hatte insbesondere der Beitrag des Kollegen Neuhausen - in ein Wolkenkuckucksheim einnisten. Die aktuellen Probleme und Sorgen der Hochschulen, als da sind Überlastung, studentsiche Wohnungsnot, Frauendiskriminierung, mangelhafte Nachwuchsförderung und vieles andere mehr, sind hinreichend und seit langem bekannt. Was die Hochschulpolitik dieser Bundesregierung angeht, stehen wir weniger vor einem Informationsdefizit, sondern wir stehen in erster Linie vor einem Handlungsdefizit. Ich hätte jetzt gern den Herrn Minister angesprochen. Ich nehme an, er hat sehr triftige Gründe, einer Parlamentsdebatte, die sein Ressort betrifft, fernzubleiben. So frage ich den Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Lammert: Wo bleibt das angekündigte zweite Sonderprogramm, von dem dauernd die Rede ist? Zu welchen Ergebnissen ist die von den Regierungschefs eingesetzte Arbeitsgruppe eigentlich gekommen? Am 6. April sagte Minister Möllemann, die Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe lägen bereits vor. Warum halten dann die Regierungschefs der Länder - das war jedenfalls bis Ende letzter Woche der Fall - diese Ergebnisse nicht in der Hand? Wo sind sie geblieben? Wann endlich kommt der für den 29. März angekündigte und dann abgesagte Bildungsgipfel, also das Treffen des Bundeskanzlers mit den Regierungschefs der Länder, zustande? Bei all diesen Fragen ist Minister Möllemann in letzter Zeit merkwürdig schweigsam. ({0}) Deshalb verlangen wir Auskunft. Vor wenigen Tagen hat Minister Möllemann auf dem Bonner Symposium „Bildung 2000" folgendes ausgeführt - ich darf ihn zitieren - : Aber ich wage eine Prognose: Noch im Wintersemester 1990/91 wird dieses Programm, - also das zweite Sonderprogramm das eine Laufzeit von zehn Jahren haben soll, anlaufen. Noch im Wintersemester! Das Finanzvolumen soll deutlich über dem ersten liegen. Nach den Vorstellungen - so Minister Möllemann - kostet es 6 Milliarden DM. Meine Damen und Herren, erst schieben die Regierungschefs die Abfassung dieses zweiten Sonderprogramms über ein halbes Jahr vor sich her, dann kommen die Ergebnisse der Arbeitgruppe aus irgendwelchen Gründen nicht bei den Landesregierungen an, und trotz dieser systematischen Verschleppung kündigen Sie - Herr Minister Möllemann - an, daß dieses Programm bereits im nächsten Wintersemester anlaufen werde. Ich sage: Bei dem von der Bundesregierung und bei dem von Minister Möllemann eingeschlagenen Tempo dürften wir schon froh sein, wenn dieses Programm bis zum Wintersemester überhaupt verabschiedet ist. Aber von Anlaufen kann mit Sicherheit nicht die Rede sein, und das angesichts der Tatsache, daß gerade in diesen Wochen in allen Bundesländern das Sommersemester begonnen hat. Die Nachrichten - auch wenn sie durch die deutsch-deutschen Themen weitgehend aus den Medien verdrängt werden - sind verheerend: restlos überfüllte Hörsäle und Seminare, Kampf um die allerletzten Studentenbuden, schon kriminell zu nennende Praktiken bei der Buchbeschaffung in den Bibliotheken, und unsere Fachhochschulen - seit Jahren die Stiefkinder der Hochschulpolitik - tragen wieder einmal die Hauptlast. So sieht die aktuelle Lage an den Hochschulen aus. Trotz dieser Lage können sich Bund und Länder noch nicht einmal auf ein Minimalprogramm zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses einigen, denn um mehr als um ein Minimalprogramm geht es hier ohnehin nicht. Wir GRÜNEN haben die Sonderprogramme, die Herr Möllemann immer so gerne ankündigt, von Anfang an als unzureichend kritisiert. Das erste Sonderprogramm hat die Ausbildungskapazität der Hochschulen bislang gerade einmal um 12 250 Studienplätze erweitert. Es fehlen aber 600 000 bis 700 000 Studienplätze. Das zweite Sonderprogramm soll 10 000 neue Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaffen, verteilt über zehn Jahre wohlgemerkt. Den Hochschulen fehlen jedoch aktuell zwischen - je nach Berechnungsweise - 20 000 bis 40 000 neue Stellen für ausgebildetes wissenschaftliches Personal. Meine Damen und Herren, wenn wir jetzt die letzten Meldungen bezüglich der Teilung der Kosten, die die Deutschlandpolitik verursachen wird, und wenn wir den letzten Monatsbericht der Deutschen Bundesbank hinzunehmen, wonach in den letzten Jahren in den Ländern auf Kosten der Bildungspolitik zum Abbau der vorhandenen Defizite eh systematisch gespart wurde, dann wage ich - leider, muß ich sagen - die Prognose, daß wir in den kommenden Monaten und Jahren nicht genügend Mittel aufbringen werden, um die katastrophale Lage an den Hochschulen auch nur im Ansatz beheben zu können. Das ist das Problem, vor dem wir stehen. Deswegen wäre der Minister gut beraten und aufgefordert, daran zu denken: Eine schlechte Ausbildung der heute studierenden Generation ist ein denkbar schlechtes Fundament für den neu entstehenden deutschen Bundesstaat. Danke schön. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun hat wirklich der Parlamentarische Staatssekretär Herr Dr. Lammert das Wort.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt ausdrücklich die vom Fachausschuß vorgelegte Beschlußempfehlung. Diese Beschlußempfehlung hat das große Verdienst, verschiedene in den vergangenen Monaten sowohl von der Regierungskoalition wie auch von der SPD vorgelegte Anträge zu diversen Aspekten des Hochschulwesens auf den Stand der inzwischen erreichten Überlegungen und Beschlußfassungen zu bringen, und den großen Vorzug, dies einmütig zu tun. Damit wird deutlich, daß in der grundlegenden Einschätzung des Handlungsbedarfs unter den Bildungspolitikern in allen Fraktionen ein hohes Maß an Übereinstimmung besteht. Der überraschend heute zusätzlich vorgelegte Änderungsantrag der SPD - ({0}) - „Änderungsantrag" steht darüber, Frau Kollegin. Ich bitte um Nachsicht. Aber ich wollte gerade sagen, daß dieser Änderungs- und/oder Ergänzungsantrag den großen Vorzug hat, diese Einmütigkeit ganz offensichtlich nicht gefährden zu können und auch nicht zu sollen. Aus der Sicht der Bundesregierung ist diese Ergänzung verzichtbar, weil zum einen in diesem Änderungs- und Ergänzungsantrag Forderungen erhoben werden, die längst vereinbart sind, oder da, wo es solche Vereinbarungen noch nicht gibt, sie durch die Forderungen auch nicht ersetzt werden können. Ich will an dieser Stelle gern der Anfrage des Kollegen Wetzel Rechnung tragen und darauf hinweisen, daß in der Tat die vom Bildungsgipfel der Ministerpräsidenten und dem Bundeskanzler am 21. Dezember des vergangenen Jahres eingesetzte Arbeitsgruppe in der Zwischenzeit ihre Arbeit erfolgreich abgeschlossen und den Ministerpräsidenten der federführenden Bundesländer und dem Bundeskanzler vor wenigen Tagen ihren zusammenfassenden Bericht mit einem Entwurf beschlußreifer Empfehlungen für den nächsten Gipfel zugesandt hat. Ich behaupte nicht, daß damit das Problem gelöst sei. Ich will damit nur deutlich machen, daß es in den vergangenen Wochen und Monaten in der Tat das zügige und erfolgreiche Bemühen um die Umsetzung der Anliegen gegeben hat, die dankenswerterweise auch in dieser Beschlußempfehlung aus gutem Grunde noch einmal aufgelistet werden. Denn wir haben, wenn wir das im Hinblick auf die ursprünglich dieser Beschlußempfehlung zugrunde liegenden Anträge betrachten, die Situation, daß das, was in diesen zum Teil vor vielen Monaten angeregten Anträgen und Überlegungen zum Ausdruck gekommen ist, zum einen Teil in der Zwischenzeit überholt ist, wir aber ganz gewiß nicht sagen können, daß mit den in der Zwischenzeit ergriffenen Initiativen und Entschlüssen der Problembereich erledigt sei. ({1}) Deswegen begrüßt die Bundesregierung ausdrücklich die in dieser Beschlußempfehlung zum Ausdruck gekommene Erwartung, daß die Bundesregierung einen zusammenfassenden Bericht darüber geben sollte, wie sie selber die Entwicklung im Hochschulbereich einschätzt und welche Schwerpunkte mit den dargestellten Akzenten in den nächsten Monaten und Jahren geregelt werden müssen. Meine Damen und Herren, wir haben eine Reihe von Herausforderungen: die - übersehbare - Entwicklung der Studentenzahlen, die weiter zunehmende und viel zu hohe durchschnittliche Studienzeit, die schlechter gewordene Betreuungsrelation, die überdurchschnittlich hohe Pensionierungsquote auf Grund des Altersaufbaus der Hochschullehrer. Verehrter Herr Kollege Waldburg, die Übereinstimmung geht hier weit über die Fraktionen hinaus. Nachdem Sie vorhin die Entwicklung beim Altersaufbau der Hochschullehrer aus der Perspektive der Waldbesitzer kommentiert haben, freue ich mich ganz besonders, jetzt auch aus der Perspektive der Nicht16170 Deutscher Bundestag - 1 i. Wahlperiode Parl. Staatssekretär Dr. Lammert waldbesitzer die völlige Übereinstimmung in der Einschätzung dieses Sachverhalts hier zu Protokoll geben zu können. Ich frage mich, ob es angesichts solcher Mehrheiten, Herr Kollege Wetzel, überhaupt noch ernsthaft Grund für den Skeptizismus gibt, den Sie hier vorhin haben deutlich werden lassen. Wir haben hier eine Reihe von Herausforderungen gemeinsam zu lösen. Neue sind dazugekommen, die zum Zeitpunkt der Antragstellung noch für niemanden absehbar waren und die selbstverständlich eingearbeitet werden müssen, einschließlich der natürlich besonders schwierigen Finanzierungsfrage und der damit verbundenen ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Bund und Ländern, wer hier welchen Anteil der Finanzierung bei solchen zusätzlichen Aktivitäten übernehmen kann. Die Bundesregierung sieht in dem absehbaren gemeinsamen Beschluß des Bundestages heute eine willkommene Unterstützung für diese weiterhin erforderlichen und notwendigen Bemühungen und wird sich mit Nachdruck ({2}) - mit Entschiedenheit, um dem besonderen Wunsche meines Parlamentarischen Geschäftsführers Rechnung zu tragen - , also mit Freude, Entschiedenheit und Genugtuung, dieser Berichtspflicht unterziehen, aber eben nicht im Sinne der Erstellung eines weiteren Berichts, der dann auf sich beruhen bleiben könnte, sondern im Sinne einer Intensivierung der Bemühungen um die Erledigung der Herausforderungen, die in dieser Debatte zu Recht mit Nachdruck und erfreulicherweise so übereinstimmend dargestellt worden sind. Ich bedanke mich. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, jetzt kommen wir zur Abstimmung, zunächst über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/6979, der, wenn ich es richtig begriffen habe, als Ergänzungsantrag betrachtet wird. Wer für diesen Änderungsantrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Dann ist der Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 11/6114. Wer für diese Beschlußempfehlung ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 6 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsche Stiftung Umwelt" - Drucksache 11/6931 -Überweisungsvorschlag : Haushaltsausschuß ({0}) Ausschuß für Wirtschaft Auschuß für innerdeutsche Beziehungen Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von einer Stunde vor. - Das Haus scheint damit einverstanden zu sein, so daß ich das als beschlossen feststellen und dem Parlamentarischen Staatssekretär Carstens das Wort erteilen darf.

Manfred Carstens (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000322

Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Die Umweltpolitik der Bundesregierung in den vergangenen Jahren war und ist zweifellos erfolgreicher und effektiver als die der gesamten SPD-Regierungszeit vorher. Auf dem Weg zu dem Ziel, unsere Umwelt den nachfolgenden Generationen in einem guten Zustand zu übergeben, bedeutet die Errichtung der Deutschen Stiftung Umwelt einen weiteren wichtigen Meilenstein. Mit den Erträgen aus einem Vermögen von 2,5 Milliarden DM soll die Stiftung zu Lösungen in einem Problembereich beitragen, der für die Zukunft der Menschheit große Bedeutung hat. Der Vorschlag von Bundesfinanzminister Dr. Waigel zur Errichtung der Stiftung ist Teil der konsequenten Umsetzung unseres politischen Ziels, den Staat auf den Kern seiner Aufgaben zurückzuführen, und ist nur denkbar, weil die Bundesfinanzen in Ordnung sind. ({0}) Seit dem Regierungswechsel 1982 hat die Koalition konsequent die Privatisierung von Staatseigentum an Wirtschaftsunternehmen betrieben. Die Bilanz dieser Privatisierungspolitik werden wir noch in diesem Sommer vorlegen. ({1}) Hierzu zählt auch die Privatisierung des SalzgitterKonzerns im letzten Jahr. ({2}) Diese Unternehmensgruppe mit ihren zahlreichen Problemen beschäftigte die Kollegen im Haushaltsausschuß seit vielen Jahren, und zwar nicht durch die Veranschlagung von Dividenden auf der Einnahmenseite, sondern durch die immer wieder notwendige Bereitstellung von Kapitalzuführungen auf der Ausgabenseite des Haushalts. Allein im Geschäftsjahr 1982/1983 mußte der Salzgitter-Konzern einen Verlust von 712 Millionen DM ausweisen. ({3}) Im Zusammenwirken des Eigentümers Bund mit Vorstand, Aufsichtsrat und Arbeitnehmervertretern wurde ein neues Konzernkonzept erarbeitet und Schritt für Schritt verwirklicht. Dieses Konzept hat in einem günstigen konjunkturellen Umfeld in wenigen Jahren zum Erfolg geführt, bis hin zur Aufnahme der Dividendenzahlung für das Geschäftsjahr 1988/ 1989. ({4}) Allen Beteiligten an diesem Ergebnis danke ich für ihre konstruktive Mitarbeit, meine Damen und Herren. ({5}) Der Eigentümer Bund hat den Prozeß der Umstrukturierung engagiert unterstützt. Aus allgemeinen Haushaltsmitteln wurden dem Unternehmen in den Jahren 1983 bis 1988 1,3 Milliarden DM zugeführt, und damit wurden die zahlreichen Konzernbetriebe von Schleswig-Holstein bis Bayern gestärkt. Somit haben die Steuerzahler in allen Regionen der Bundesrepublik dazu beigetragen, den Salzgitter-Konzern privatisierungsfähig zu machen. Er konnte 1989 interessanterweise mit dem früheren Staatskonzern - ich wiederhole: mit dem früheren Staatskonzern! - Preussag AG in einen Verbund geführt werden, der beide Bereiche auf dem Weltmarkt noch wettbewerbsfähiger macht als zuvor. Die Privatisierung der Salzgitter AG trägt dazu bei, daß die Arbeitsplätze des Unternehmens meines Erachtens jetzt sicherer sind als vor der Privatisierung. Es kommt hinzu: Aus einem Standortnachteil ist in den letzten Monaten ein Standortvorteil geworden. Das Werk liegt nun sozusagen wieder mitten in Deutschland, Gott sei Dank. ({6}) In den Jahren nach 1982 war es notwendig, alle Erlöse aus den Verkäufen von Bundesbeteiligungen für die Verminderung der Nettokreditaufnahme im Haushalt zu verwenden. Nach sieben Jahren erfolgreicher Finanz- und Wirtschaftspolitik ist es jetzt möglich gewesen, von dieser Linie einmal abzuweichen. Zum zweitenmal nach 30 Jahren wird aus dem Verkauf bundeseigener Aktien eine Stiftung errichtet. Neben die größte europäische Stiftung, die Volkswagenstiftung, tritt in einer ähnlichen Größenordnung die Deutsche Stiftung Umwelt. ({7}) Sie soll sich in ihrer Arbeitsweise an dem bewährten und erfolgreichen Vorbild der Volkswagenstiftung orientieren und in selbstverantwortlicher und flexibler Arbeitsweise das Instrumentarium auf dem Gebiet der Umweltbewahrung und Umweltverbesserung ergänzen. Das Aufgabengebiet der Stiftung soll nicht die Grundlagenforschung sein, die bereits auf vielfältige Weise gefördert wird. Die Stiftung wird vielmehr in den bisher nicht von staatlichen Programmen abgedeckten Räumen wirken. Eines der wichtigsten Ziele ist, die mittleren und kleineren Unternehmen in die Lage zu versetzen, künftig noch mehr als bisher zur Lösung von Umweltproblemen beizutragen. Die mittleren und kleinen Unternehmen sind ein wesentliches Element unserer Sozialen Marktwirtschaft. Sie sind bereits sehr sensibel für das Umweltthema geworden, und ihre großen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Innovationen müssen noch stärker als bisher gefordert, gefördert und angeregt werden. ({8}) In den integrierten Entsorgungskonzepten müssen die Gewichte noch mehr in Richtung Vermeidung von Abfällen soweit wie möglich und stoffliche Verwertung soviel wie möglich verschoben werden. Die aktuelle Diskussion über Verpackungsmüll und knapper werdende Deponiemöglichkeiten in unserem dicht-besiedelten Land verdeutlicht das Problem. Die Stiftung kann dazu beitragen, für kleine und mittlere Unternehmen das Einstiegsrisiko bei neuen Technologien im Umweltbereich zu mindern. Damit wird nicht nur zu Lösung von Umweltproblemen beigetragen, sondern auch die Wettbewerbsfähigkeit der mittelständischen Wirtschaft gestärkt. Ein weiterer Aufgabenbereich der Stiftung, der durch die aktuelle Entwicklung besonderes Gewicht erhält, wird die Förderung innerdeutscher Kooperationsprojekte in der Anwendung von Umwelttechnik sein. Auch wird sie sich an Modellvorhaben zur Bewahrung und Sicherung national wertvoller Kulturgüter im Hinblick auf schädliche Umwelteinflüsse beteiligen können. Ein bedeutsamer Förderbereich der Stiftung wird schließlich der Austausch und die Vermittlung von Wissen über die Umwelt bis hin zur Vergabe eines Umweltpreises sein. Bei der Bedeutung einer Einrichtung vom Rang der Deutschen Stiftung Umwelt ist es verständlich, daß sich zahlreiche Städte aus dem gesamten Bundesgebiet darum bemüht haben, Sitz der Stiftung zu werden. Nach dem Willen der Bundesregierung soll Niedersachsen das Heimatland der Stiftung werden - das ist zwischenzeitlich auf Kabinettsebene beschlossen und ist auch allgemein bekannt -; denn Niedersachsen war in der Nachkriegszeit das Schwerpunktland des industriellen Beteiligungsbesitzes des Bundes und auch des Salzgitter-Konzerns. Bei der Wahl des Standortes in diesem Bundesland werden wir dem Vorschlag der Landesregierung Niedersachsen besonderes Gewicht beimessen. Dabei werden neben strukturpolitischen Gesichtspunkten die Faktoren, die aus der Sicht der Stiftung für ihre Funktionsfähigkeit wesentlich sind, zu berücksichtigen sein. Dies sind die Nähe zu wissenschaftlichen Einrichtungen, die Verkehrslage und die Attraktivität für die benötigten hochqualifizierten Mitarbeiter. Für die Standortentscheidung müssen also objektive, nicht emotionale Gründe den Ausschlag geben. Dies sollten alle bedenken, die sich mit verständlichem Engagement für den einen oder anderen Standort einsetzen oder eingesetzt haben. Meine Damen und Herren, mit dem Entwurf des Gesetzes über die Errichtung der Deutschen Stiftung Umwelt haben wir ein Vorhaben auf den Weg der parlamentarischen Beratung gebracht, von dem für den Umweltschutz nach meiner festen Überzeugung wirklich nennenswerte, positive Langzeitwirkungen ausgehen können und ausgehen werden. Herzlichen Dank. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Ganseforth.

Prof. Monika Ganseforth (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000630, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung will eine Umweltstiftung einrichten. ({0}) Gut so, wird man denken; ({1}) denn die Erfolge der Bundesregierung auf dem Gebiet des Umweltschutzes sind eher mager. ({2}) Es gibt noch viel zu tun, also richten wir eine Stiftung ein und vergeben einen jährlichen Umweltpreis, scheint das Motto der Bundesregierung zu sein. ({3}) Die Stiftung soll unter besonderer Berücksichtigung kleiner und mittlerer Unternehmen Forschung, Entwicklung und Innovation im Bereich der umwelt- und gesundheitsfreundlichen Verfahren fördern. ({4}) Endlich, muß man sagen; denn der Forschungsminister beschränkt sich im wesentlichen auf Grundlagenforschung - Kernfusion und Weltraumforschung -, und darauf ist er noch stolz. Endlich erkennt die Bundesregierung diese Einseitigkeit der Forschung und will hier gegensteuern. Wenn das Ziel, Klein- und Mittelbetriebe besonders zu berücksichtigen, endlich einmal in die Tat umgesetzt wird und das nicht nur eine plakative Aussage bleibt, so ist das nur zu begrüßen. Daß die Stiftung Umweltmaßnahmen fördern soll, die sich auch auf Kooperationsprojekte auf dem Gebiet der DDR erstrecken, das kommt immer an. ({5}) Auffällig ist die Eile, mit der das Gesetz zur Gründung der Stiftung auf den Weg gebracht wird. Vielleicht hat das ja auch etwas mit den Wahlen in Niedersachsen im Mai oder mit den Bundestagswahlen im Dezember zu tun. ({6}) Ich kann verstehen, daß die Bundesregierung und die niedersächsische Landesregierung ganz gerne Aktivitäten im Umweltbereich vorweisen möchten, auch als Ersatz für fehlende tatsächliche Erfolge. Einen Vorgeschmack darauf haben wir soeben in dem Beitrag von Staatssekretär Carstens bekommen. ({7}) Es roch sehr nach Weihrauch. Warnen müssen wir allerdings vor der Gefahr, daß die Stiftungsgelder benutzt werden, um Mittel im Haushalt einzusparen, um den Umwelthaushalt zu entlasten. Das darf nicht passieren! Es dürfen keine Aufgaben hin zur Stiftung verlagert werden! Wir werden das kritisch beobachten. ({8}) Es gibt jedoch einen Punkt, der noch bedenklicher ist. Immerhin soll der Stiftung der Erlös aus dem Verkauf der Salzgitter AG in Höhe von 2,5 Milliarden DM übertragen werden, ein schöner Brocken. Wer kontrolliert die Vergabe der Mittel? Welchen Einfluß haben Regierung und Parlament darauf? ({9}) Die Ausgestaltung der Stiftung bleibt der Regelung durch eine Satzung vorbehalten ({10}) Zum Beispiel über die Verfassung der Stiftung, die Zusammensetzung ihrer Organe, das Verfahren zum Einsatz der Fördermittel, die Konkretisierung des Auftrags und die Vorschriften über den Verwendungsnachweis und Rechnungslegung erfahren wir nichts. ({11}) Die Mitwirkung des Gesetzgebers bei der Erstellung der Satzung ist dabei nicht vorgesehen. Der Einfluß der Bundesregierung wird sich vermutlich darauf beschränken, die Kuratoriumsmitglieder zu benennen, und auf die Befugnis, sie aus wichtigem Grund gegebenenfalls abzuberufen. Zwar soll sich die Stiftung gegenüber den Empfängern der Mittel ein Prüfungsrecht vorbehalten; aber das bleibt dann nur bei der Stiftung und nicht beim Parlament und der Regierung. Ein Erhebungsrecht des Bundesrechnungshofes gegenüber den Empfängern ist nicht vorgesehen. Damit ist keine ausreichende Kontrolle der Vergabe der öffentlichen Mittel - immerhin in beträchtlicher Größenordnung - gewährleistet. Der Bundesrechnungshof hatte als Abhilfe vorgeschlagen, die Förderzwecke durch eine Stiftung des öffentlichen Rechts wahrnehmen zu lassen. Dann wäre eine ausreichende Kontrolle möglich. Dies hieße also, eine Stiftung des öffentlichen Rechts statt einer des privaten Rechts einzurichten. Hier hätten wir einmal die Chance, nicht erst im nachhinein auf Mißbräuche und Fehler zu reagieren, die passieren können, sondern bereits im Vorfeld eine entsprechende Kontrolle zu gewährleisten. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung sieht jedoch die Errichtung einer Stiftung des privaten Rechts vor. Die Stiftung selbst wird danach die Verwendung der Mittel prüfen. Das heißt auf deutsch: Das Geschäftsführungsorgan ist gleichzeitig das Kontrollorgan. ({12}) Ohne zusätzliche stichprobenartige Kontrolle durch ein unabhängiges Organ, nämlich z. B. den Bundesrechnungshof, ist das ein Unding. Nur eine Stiftung des öffentlichen Rechts könnte die nach dem Haushaltsrecht nötige Kontrolle der Vergabe von Steuermitteln in dieser Größenordnung gewährleisten. ({13}) - Da wenden Sie sich an den Bundesrechnungshof. Die Bundesregierung beruft sich nun darauf - das hat Herr Staatssekretär Carstens hier sehr deutlich gemacht - , daß die VW-Stiftung das Vorbild für die geplante Stiftung ist. Dabei ist aber zu bedenken: Die VW-Stiftung hat überwiegend Mittel an Hochschulen zu vergeben, und diese Hochschulen sind ihrerseits wieder der Prüfung des Landesrechnungshofs unterstellt. Dagegen ist der Stiftungszweck hier, gerade nicht in Institutionen zu gehen, sondern Klein- und Mittelbetriebe bei der Förderung besonders zu berücksichtigen. Wo ist da die Kontrollmöglichkeit? ({14}) Der zweite Punkt. Wenn man sich die VW-Stiftung als Vorbild nimmt, muß man wissen: Die VW-Stiftung hat bereits 1964 das Prüfungsrecht des Landes- und Bundesrechnungshofs als verfassungs- und rechtswidrig bestritten. Es hat dazu einen Rechtsstreit gegeben, der 1986 durch Bundesverwaltungsurteil beendet wurde, in dem das Kuratorium der VW-Stiftung unterlag. Wenn man jetzt denkt, daß sich das Kuratorium dann an dieses Urteil gehalten hat, so irrt man sich, denn das war nicht das Ende. Ein halbes Jahr später, im Januar 1987, als der Landesrechnungshof die Prüfung ankündigte, erhob die Stiftung erneut Klage, diesmal vor dem Verwaltungsgericht. Die Stiftung hat beantragt, dem Landesrechnungshof zu untersagen, Berichte, Stellungnahmen sowie sonstige Äußerungen anderen Einrichtungen oder Dienststellen zur Kenntnis zu geben. Was sind die anderen Einrichtungen? Das sind die Landesregierung und das Landesparlament. So sieht also die Kontrollmöglichkeit aus. Ich denke, spätestens an dieser Stelle ist klar, daß sich die Stiftung des privaten Rechts nach dem Vorbild der VW-Stiftung nicht bewährt hat und erfolgreich ist, wie Herr Carstens gesagt hat, sondern nicht akzeptabel ist. Zusammengefaßt: Wir brauchen ein Kuratorium, das pluralistisch zusammengesetzt ist, mit Vertretern und Vertreterinnen beispielsweise auch von Umweltverbänden und Gewerkschaften, die Stiftung darf nicht zur Entlastung des Haushalts mißbraucht werden, und schließlich brauchen wir eine ausreichende Kontrolle der Mittelvergabe. Schönen Dank. ({15})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laufs.

Prof. Dr. Paul Laufs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001293, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Gesetz zur Errichtung der „Deutschen Stiftung Umwelt" wird ein bedeutendes Werk zur Förderung des Umweltschutzes eingerichtet. Die Stiftung wird unser umweltpolitisches Ordnungsrecht ergänzen, indem sie mit finanziellen Anreizen zu einem neuen, umweltfreundlichen Denken und Wirtschaften anregt und ermutigt. Für die Idee und die Grundsatzentscheidung, den ganzen Veräußerungsgewinn aus der Privatisierung der Salzgitter AG nicht einfach dem Bundeshaushalt zuzuführen, sondern zum Grundstock einer Umweltstiftung zu machen, möchte ich der Bundesregierung, ganz besonders dem Bundesfinanzminister Dr. Waigel, den respektvollen Dank meiner Fraktion sagen. Das ist politische Gestaltung, die Format hat. ({0}) Unserem Gesetzentwurf liegt die Überzeugung zugrunde, daß zur umweltgerechten Umgestaltung von Produktion und Erzeugnissen zuerst und vordringlich die Kräfte des Marktes freigesetzt und unterstützt werden müssen. Besonders innovativ und kreativ ist die mittelständische Wirtschaft; das wollen wir nutzen. Es gehört zu den sozialistischen Irreführungen auch durch die Linkspublizistik unseres Landes, daß Marktwirtschaft gleichbedeutend sei mit Ausbeutung der Natur, mit Zerstörung und Verschmutzung der Umwelt. Sozialistische Planwirtschaft dagegen sei ökologisch fürsorglicher und bedeute Solidarität auch mit der Natur. Soweit die Theorie in der Vergangenheit. ({1}) Inzwischen wird uns aber in der Praxis überall, wo der Sozialismus herrscht und real existiert, das ungeheure Ausmaß der Verwüstungen in der Natur und der Umweltvernichtung bekannt. ({2}) Dies bestärkt uns in der Feststellung: Nur eine leistungsfähige, flexible und kreative, also freie Wirtschaft ist in der Lage, auch die Umweltprobleme zu meistern. ({3}) Deshalb wollen wir mehr Markt, nicht mehr Staat. Wir wollen die ökologische und soziale Marktwirtschaft ausbauen. Was soll die Stiftung leisten? ({4}) Sie soll Vorhaben zum Schutz der Umwelt, insbesondere in der mittelständischen Wirtschaft und in der Regel außerhalb staatlicher Programme, fördern. Als wir mit unseren Überlegungen zur Schaffung einer Deutschen Stiftung Umwelt begannen, konnten wir die Schnelligkeit der Veränderungen in der DDR noch nicht absehen. Gleichwohl trägt der Gesetzentwurf bereits der zunehmenden Bedeutung der deutschdeutschen Beziehungen auf dem Gebiet des Umweltschutzes Rechnung. Er sieht ausdrücklich die Förderung von innerdeutschen Kooperationsprojekten in der Anwendung von Umwelttechnik vor. Meine Damen und Herren, der Gesetzentwurf folgt diesen Grundentscheidungen: Erstens. Die Stiftung ist praxisorientiert. Gefördert werden kann, was die Umwelt direkt und praktisch schützt, also Belastungen behebt, vermeidet oder mindert. Wir wollen kein neues Instrument der Grundlagenforschung. ({5}) Zweitens. Die Stiftung soll dort tätig werden, wo der Staat nicht mit seinen Programmen fördert. Gewisse Überschneidungen werden sich natürlich nicht ver16174 meiden lassen. Die Mittelvergabe soll aber unabhängig von der aktuellen Politik sein. Es soll neben dem Bundeshaushalt kein Schattenetat zur Feinabstimmung der Regierungspolitik entstehen. Drittens. Die Stiftung soll insbesondere dort fördern, wo kleine und mittlere Unternehmen den Umweltschutz voranbringen. Meine Damen und Herren, wir erörtern zur Zeit leidenschaftlich die ernsten globalen Umweltaspekte, die Veränderungen des Weltklimas und der Ozonschicht oder die Verschmutzung der Weltmeere. Man sollte dabei nicht übersehen, daß unzählig viele Verursacher dazu beitragen. Es gibt keine Lösung der Umweltprobleme im großen ohne wirksame Abhilfe im kleinen. ({6}) Unser umweltpolitisches Ordnungsrecht hat überwiegend Abwehrcharakter und orientiert sich rückwärts gewandt am erreichten Stand der Technik. Dies ist nicht genug. Wir brauchen zukunftsgerichtete neue Techniken, neue Verfahren, neue umweltfreundliche Produkte. Seien es die Vermeidung, Verringerung oder Verwertung von Abfällen oder das energiesparende Wohnen, die Nutzung regenerativer Ressourcen, umweltfreundlicherer Lacke und Farben oder neue Diagnosesysteme zur Überprüfung und Wartung der Umwelttechnik, um nur ein paar Stichwörter zu geben; hier bietet sich ein weites, chancenreiches Feld für Erfindungen und Markteinführungen durch mittelständische Unternehmen. Die Deutsche Stiftung Umwelt wird die schwierige Aufgabe zu lösen haben, eine große Zahl von Vorschlägen zur Verbesserung des Umweltschutzes mit praktischem und wissenschaftlich fundiertem Sachverstand zu bewerten und zu bescheiden. Unser Wunsch ist, daß dies effizient und sparsam organisiert wird. Der Vorstand der Stiftung, das Kuratorium, ist entsprechend zu besetzen. Der Deutsche Bundestag sollte im Kuratorium vertreten sein. Ich meine aber, daß drei Mitglieder aus dem Parlament ausreichen. Über das Nominierungsverfahren ist noch nicht entschieden worden. Dies muß sorgfältig beraten werden. Die Zusammensetzung und die Aufgaben des Kuratoriums sowie die Grundsätze der Verwaltung und Vertretung der Stiftung werden in der Satzung geregelt. Zur Standortfrage ist zu bemerken, daß die Deutsche Stiftung Umwelt ihren Sitz in Niedersachsen haben sollte. Das ist unbestritten. Der Herr Staatssekretär hat das hier auch dargestellt. Die niedersächsische Landesregierung wird bei seiner Festlegung ein gewichtiges Wort mitsprechen. Frau Kollegin Ganseforth, wenn es irgendwo nach Wahlkampf riecht, dann in den Presseerklärungen und Einlassungen der SPD zur Standortfrage. ({7}) Die Bestimmungen der Satzung im einzelnen müssen vor der Verabschiedung des Gesetzes dem Parlament vorliegen. Gesetz und Satzung sind eine Einheit, die wir auch in den Beratungen so sehen wollen. Wir werden die Beratungen zügig abwickeln, damit die Deutsche Stiftung Umwelt schon im Herbst mit ihrer Arbeit beginnen kann. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Dr. Knabe.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Freundinnen bei den GRÜNEN! Deutsche Stiftung Umweltschutz, wirklich für die Umwelt? 2,5 Milliarden DM für die Umwelt, ist das nicht eine großartige Sache, was die Bundesregierung vorhat? ({0}) Müssen nicht alle Umweltschützer über diesen Vorsatz begeistert sein? ({1}) Tatsächlich sind zweieinhalb Milliarden DM für Umweltbelange weit besser angelegt als für Rüstung, Straßenbau oder andere Formen der Umweltzerstörung. Trotzdem: Politisch wache Bürger dürfen sich mit dem Etikett „Umwelt" nicht zufrieden geben, sondern müssen schon genauer hinschauen; denn schließlich handelt es sich nicht um Gelder aus des Märchens Füllhorn, sondern um Bundesvermögen, um Geld, was der Allgemeinheit gehört - keine willkürliche Verfügungsmasse der Regierung. Vorab ein Wort zur Herkunft des Geldes. Es stammt aus dem Verkauf der Bundesanteile des SalzgitterKonzerns an die Preussag. Aber Salzgitter ist ja nur die Fortsetzung der ehemaligen Reichswerke Hermann Göring, mit deren Hilfe ein wichtiger Teil der Aufrüstung des Dritten Reiches bewerkstelligt wurde - der Werke, die Eisen und Stahl für andere Rüstungsbetriebe im Zweiten Weltkrieg produzierten. Aber genau in diesen Werken schufteten Tausende von Zwangsarbeitern, deren letzte Überlebende bis heute keine Entschädigung aus der Werkskasse erhalten haben. Vorstand und Bundesfinanzminister haben das erneut abgelehnt, weil es keine gesetzliche Grundlage gäbe. Hätten die hohen Herren einmal selbst Zwangsarbeit leisten müssen, wäre die Antwort sicher anders ausgefallen. ({2}) Die GRÜNEN sehen das anders. Wir sagen: Als allererstes muß aus dem Erlös diese alte Schuld abgetragen werden. Das geht allen anderen Verwendungszwecken vor. ({3}) Wir brauchen keine Sorge zu haben, daß die gesamte Summe verbraucht wird. Zu viele der ehemaligen Häftlinge sind schon gestorben. Wir GRÜNEN werden diesen Punkt aber in jedem Fall in die Ausschußberatungen einbringen. Ein anderer Punkt: Das Geld kommt aus Salzgitter. Man sollte also sehr genau überlegen, ob man die Stiftung nicht auch dorthin legt. Doch jetzt zum Stiftungszweck: Die Stiftung soll Vorhaben zum Schutz der Umwelt unter besonderer Berücksichtigung der mittelständischen Wirtschaft fördern, wobei man bei dieser Regierung nicht weiß, ob ein mittelständischer Betrieb bei Daimler-Benz anfängt oder aufhört. ({4}) - Ach, Sie merken das sogar. - Nein, zwischen den großen Konzernen und den mittelständischen Betrieben bestehen erhebliche Konkurrenzunterschiede. Eine Stützung kleinerer Einheiten wird von den GRÜNEN begrüßt. Sonst flossen die Milliarden ja insbesondere über Rüstungsprojekte in die Kasse der Großen. So weit, so gut. Doch kann man die Konkurrenznachteile mit den Zinsen des Stiftungsvermögens ausgleichen? Müssen da nicht andere Steuerungsinstrumente eingesetzt werden oder zunächst Wettbewerbsvorteile der Großen beseitigt werden? Kommen wir zu den einzelnen Aufgaben. Das klingt zunächst ganz gut: Forschung, Entwicklung und Innovation im Bereich umwelt- und gesundheitsfreundlicher Verfahren und Produkte - wieder mit dem Hinweis auf kleine und mittlere Unternehmen einschließlich innerdeutscher Kooperationsprojekte. Damit könnte man schon etwas Vernünftiges machen, obwohl die Angabe reichlich vage bleibt. Sie müßte nach Ansicht der GRÜNEN deutlich präzisiert werden. Denn nach den Erfahrungen mit der Bundesregierung genügt es nicht, wenn sie Umweltstiftung sagt und Wirtschaftsförderung meint und praktiziert. Nein, hier müssen klare Kriterien her. Eine umweltverträgliche Umgestaltung der mittelständischen Wirtschaft wäre ein lohnendes Ziel. Vielleicht noch zwei konkrete Beispiele. Wir GRÜNEN hielten die Produktlinienanalyse für ein wichtiges Instrument. Was ist das? Allzu selten wissen Verbraucher und Politiker, wie ein Produkt hergestellt wird, welche Rohstoffe eingesetzt werden, wo und wie die Rohstoffe gewonnen werden und welche Folgen für die Umwelt mit der Produktion und dem Verbrauch oder der Ablagerung als Müll verbunden sind. Und doch benutzen wir dieses Produkt - sagen wir: einen WC-Reiniger - täglich oder dulden seine Benutzung. Hier kann die Produktlinienanalyse Abhilfe schaffen. Sie analysiert alle Umweltfolgen einer Produktion, von der Gewinnung der Rohstoffe und der dabei benötigten Energie bis zum Gebrauch des Produkts und seines Verbleibs nach Abschluß der Nutzung. Die Ergebnisse dieser Produktlinienanalyse bilden wichtige Entscheidungsgrundlagen und können Verhaltensänderungen in Produktion und Verbrauch auslösen. Wir GRÜNEN plädieren dafür, im Rahmen der geplanten Umweltstiftung exemplarische Produktlinienanalysen durchzuführen. Hierbei kann man durchaus solche herausgreifen, bei denen in der mittelständischen Wirtschaft Eingriffsmöglichkeiten bestehen. Ein zweites Beispiel ist die Landwirtschaft. Auch hier bestehen durchaus Möglichkeiten, durch alternative Anbau- und Wirtschaftsmethoden weniger Schadstoffe in die Umgebung zu bringen oder sogar - wie beim Biogas - noch zusätzlich Energie aus anfallender Gülle und organischen Abfällen zu gewinnen. Ich sagte, die Aufgabenbeschreibung sei etwas vage. Das fordert die Neugier heraus, wie denn die Einhaltung der Aufgaben der zweckentsprechenden Mittelverwendung gewährleistet und kontrolliert werden soll. Was sich die Bundesregierung - insbesondere ihr Finanzminister - hier geleistet hat, spottet jeder Beschreibung. Selbst der Bundesrechnungshof sieht sich genötigt, seitenweise schwerwiegende Bedenken zu formulieren, die Frau Ganseforth dankenswerterweise schon vorgetragen hat. Wir GRÜNEN schließen uns dieser Kritik an. Es ist untragbar, daß weder der Bundestag noch die Bundesregierung irgendwelchen direkten Einfluß auf die Vergabeziele nehmen können und daß der Rechnungshof nicht beim Empfänger nachprüfen kann, ob denn das Geld auch zweckentsprechend verwendet wurde. Sehr geehrter Herr Staatssekretär Carstens, genügt eine Quittung der Firma Knarr & Co. über 100 000 DM für die Entwicklung eines neuen Thermostaten, ohne daß man kontrollieren kann, wie das Geld verwendet wurde? Die Entwicklung kann ja auch mißlingen, so daß der Erfolgsnachweis per Fertigprodukt nicht vorgeschrieben werden kann. Also, auch wir sind dafür, eine Stiftung öffentlichen Rechts zu erhalten. Wir teilen die Kritik an der Zusammensetzung des Kuratoriums und fordern die Beteiligung der Umweltverbände an der Aufstellung von Satzung und Vergabekriterien. Diese Verbände haben zum Segen für die ganze Bevölkerung schon an vielen Punkten einer oft hilflosen und personalmäßig völlig unterbesetzten Umweltverwaltung - ein schreckliches Wort! Wie kann man die Umwelt verwalten? - beigestanden oder sie korrigiert und kritisiert. Ihr Beitrag im Kuratorium ist unentbehrlich. Wir wollen Umweltschutz und keinen Selbstbedienungsladen, nicht einmal für den Mittelstand. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Weng.

Dr. Wolfgang Weng (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002479, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon in ihrem Programm zur Landtagswahl 1984 hatte die FDP Baden-Württemberg unter dem Stichwort „Privatisierung zur Schaffung von Stiftungskapital" gefordert, die ordnungspolitisch gewünschte Entflechtung von Staat und Wirtschaft im Sinne marktwirtschaftlicher Selbständigkeit der Unternehmen dadurch zu ergänzen, daß die Veräußerungserlöse auch gemeinnützigen Stiftungen zugewendet werden sollten. Der Bundesvorstand unserer Partei hatte einen ähnlichen Beschluß im Oktober 1986 gefaßt, nachdem der Bundesfachausschuß Bildung und Wissenschaft einen dahingehenden Antrag formuliert hatte. ({0}) So werden Sie nicht überrascht sein, daß die FDP- Fraktion im Deutschen Bundestag nicht nur die Privatisierung der Salzgitter AG gutgeheißen hat, sondern auch ausdrücklich den Vorschlag des Bundesfinanzministers begrüßt hat, den Erlös der Veräußerungen als Stiftungskapital einzusetzen. Es ist schon ein lusti16176 Dr. Weng ({1}) ger Zufall, daß gerade heute die finanzpolitische Sprecherin der SPD in einem Interview im „Express" gefordert hat, in der DDR sollten alle Staatsbetriebe privatisiert werden. Hier bei uns hat die SPD seinerzeit alles versucht, die Privatisierung des Salzgitter-Konzerns zu verhindern. ({2}) Aber vielleicht, meine Damen und Herren, ist dafür die SPD in der DDR der Meinung, daß hier im Westen privatisiert werden soll; das müßte man noch klären. ({3}) - Das ist nicht primitiv. Ich habe an sich „Heiterkeit" erwartet. Aber man sieht schon, daß der Humor bei den Damen und Herren hier besonders fehlt. ({4}) Die FDP-Fraktion, meine Damen und Herren, hatte auch sofort den von Finanzminister Waigel genannten Stiftungszweck begrüßt, nämlich unter besonderer Berücksichtigung der mittelständischen Wirtschaft insbesondere die Forschung und Entwicklung von umwelt- und gesundheitsfreundlichen Produkten und Produktionsverfahren zu fördern. Wir halten es weiterhin für gut, daß das Konzept einer einzigen Stiftung erhalten geblieben ist. Wenn der Gesetzentwurf der Bundesregierung jetzt beim Stiftungszweck eine etwas größere Breite aufzeigt, finden wir dies ausdrücklich richtig. ({5}) - Vielen Dank, Herr Kollege Nolting! ({6}) - Auch das! Wenn ich an das denke, was nachher von Ihnen kommt, ist es besser, jetzt freundlich zu Ihnen zu sein. ({7}) Die ursprüngliche Idee wurde im Zuge der deutschdeutschen Entwicklung ergänzt durch innerdeutsche Kooperationsprojekte in der Anwendung von Umwelttechnik vorwiegend durch mittelständische Unternehmen. Jeder, der sich die Situation im Umweltbereich gerade in der DDR ansieht, weiß, wie wichtig dieses Ziel ist. Gerade auch mit Blick auf die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion und die Umstellung der DDR-Wirtschaft auf mittelständische Betriebe als wesentliche Träger einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur ist eine solche Kooperation einschließlich Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen von allergrößter Bedeutung. Hierbei kann der Staat viel weniger helfen als eine privatrechtliche Stiftung. ({8}) Ich will ausdrücklich darauf hinweisen - es freut mich auch, daß der Gegensatz hier in der Debatte bewußt herausgearbeitet wird -, daß die FDP-Fraktion die Stiftung des privaten Rechts anderen Möglichkeiten vorzieht. ({9}) - Die Stiftung soll, Herr Kollege Knabe, in der Lage sein, mit größtmöglicher Flexibilität und auch mit abwechselnder Schwerpunktbildung außerhalb des strengen Haushaltsrechts tätig zu sein. Gerade auf Grund dieses politischen Willens trägt die Klage des Rechnungshofs nicht. Der Rechnungshof sieht das natürlich aus seiner Sicht, was er da geschrieben hat. Aber er sieht es aus der Sicht dessen, der gern über möglichst vieles die Kontrolle hätte. ({10}) Wir wollen die Stiftung privaten Rechts, wir wollen die Flexibilität, und wir werden - das führe ich noch aus - in der Satzung natürlich auch entsprechende Grundlagen legen. ({11}) Wir wollen ausdrücklich nicht, daß die Stiftung nachher dazu dient, daß die Wünsche, die im öffentlichen Haushaltsverfahren unerfüllt geblieben sind, dann über eine Stiftung noch erfüllt werden. Ausdrücklich wollen wir keinen Schattenhaushalt, sondern eine möglichst freie Einrichtung. ({12}) Daß der Innenminister mit seinem Bemühen Erfolg hatte, auch die Bewahrung und Sicherung national wertvoller Kulturgüter im Hinblick auf schädliche Umwelteinflüsse als Stiftungszweck anzufügen, ist mit der Einschränkung hinzunehmen, daß hier nur Modellvorhaben gefördert werden können. Ich sage ausdrücklich: Wir wollen nicht den ursprünglichen Stiftungsgedanken aufgeben, und im wesenlichen Gebäude sanieren, sollte nicht die Aufgabe der Stiftung sein. Andererseits zeigt gerade die deutschdeutsche Entwicklung - mit Blick auf die katastrophale Situation bei vielen erhaltungswürdigen Bauwerken in der DDR - , daß für eine gewisse Zeit eine solche Hilfestellung bei Modellvorhaben wünschenswert ist. Ganz ausdrücklich zufrieden ist unsere Fraktion damit, daß es gelungen ist, auch den Austausch von Wissen über die Umwelt zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und anderen Stellen sowie die Wissensvermittlung in den Stiftungszweck einzuführen. ({13}) Ich bin der Überzeugung, daß in diesem Bereich künftig ein Schwerpunkt liegen wird, denn vieles von dem, was heute noch an negativen Umweltauswirkungen neu eingerichtet wird, ist auf Mangel an Wissen zurückzuführen. Meine Damen und Herren, man ist immer wieder überrascht, wie lange auch bei politisch Verantwortlichen in den Gebietskörperschaften die Bewußtseinsbildung in Umweltfragen manchmal dauert. Ich hoffe sehr, daß gerade auch die Umweltverbände mit der Unterstützung durch diese Stiftung noch breiter aufklärend wirksam werden. Meine Damen und Herren! Meine Fraktion sieht die angekündigte Satzung insoweit als einen Teil des GeDr. Weng ({14}) setzes an, als es bei der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes eine fertige Satzung geben muß. Die muß hier vorliegen und muß Bestandteil des Gesetzes sein. Ich weiß, daß die Überlegungen bezüglich der Zusammensetzung des Kuratoriums der Stiftung im Vorfeld innerhalb der Koalition kontrovers diskutiert werden. Die zuletzt entwickelte Überlegung, ein Kuratorium aus 14 Mitgliedern berufen zu lassen, von denen sieben aus dem politischen Raum und sieben aus Wirtschaft und Wissenschaft kommen, scheint mir plausibel zu sein. Ich bin auch der Meinung, daß vier Mitglieder aus verschiedenen Ministerien neben drei Bundestagsabgeordneten eine vernünftige Konzeption sind. ({15}) Gerade in Kenntnis der vielfältigen Interessen halte ich die Idee des Finanzministeriums, Mitglieder des Haushaltsausschusses und hierbei kraft Amtes den Vorsitzenden ebenso wie den Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses zu berücksichtigen, für richtig. Bei den übrigen Mitgliedern müssen wir voraussetzen, daß ohne unsinniges Proporzdenken qualifizierte und engagierte Frauen und Männer aus den genannten Fachbereichen von der Bundesregierung berufen werden. Dazu können die von Ihnen Genannten durchaus alle gehören, aber nicht im Sinne irgendwelcher institutionellen Festlegungen, sondern das muß sich an der Person, an der Qualität der Personen orientieren. ({16}) Meine Damen und Herren! Die Ergebnisse der Wirtschafts- und Haushaltspolitik der Koalition geben dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit der Schaffung einer solchen gemeinnützigen Einrichtung. Vor allem die sehr gute Haushaltslage des vergangenen Jahres machte es uns leicht, auf Haushaltseinnahmen zur Verbesserung der Finanzsituation im Bundeshaushalt einmalig zu verzichten. Die FDP-Fraktion ist der Überzeugung, daß die Koalition eine abgerundete Maßnahme politisch vernünftigen Handelns auf den Weg gebracht hat. Wir werden an der weiteren Beratung des Gesetzentwurfs in den Ausschüssen mit ausdrücklich positiver Tendenz mitwirken. Vielen Dank. ({17})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Schmidt ({0}).

Wilhelm Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002022, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte zunächst ein wenig zurückblenden auf die Debatte, die wir hier im Hohen Hause im Zusammenhang mit der Privatisierung der Salzgitter AG gehabt haben. Sie erinnern sich alle daran, und Herr Staatssekretär Carstens und alle anderen Redner vorher haben ebenfalls ein wenig darauf zurückgeblendet. Am 29. November 1989 haben wir uns hier massiv darüber auseinandergesetzt, daß diese Verkaufsaktion, diese Privatisierung der Salzgitter AG mit all ihren Tochtergesellschaften, ein zu hoher Preis, insbesondere für den Konzern und die Region mindestens mittel- und langfristig gesehen, sein dürfte. Nicht nur der Ausverkauf der Stadt Salzgitter mit Wohnungen und unbebautem Grundbesitz wurde damit eingeleitet, sondern darüber hinaus auch eine neue Rationalisierungswelle, von der auch mittlerweile in der Konzernverwaltung in Salzgitter viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfaßt sind, weil sie inzwischen zur Konzernzentrale nach Hannover mehr oder weniger gedrängt werden. Daß die Überführung des Verkaufserlöses von rund 2,5 Milliarden DM in eine Umweltstiftung kurz vor der damaligen Privatisierungsentscheidung aus dem Hut gezaubert wurde, habe ich als Augenwischerei und Ablenkungsmanöver bezeichnet. Die detaillierte Begründung ist nachzulesen. Unter all diesen damals dubiosen Umständen gingen alle Beteiligten - so auch der CDU-Kollege Sauer schon in der damaligen Debatte und nach ihm eine ganze Reihe von CDU- Landes-Spitzenpolitikern in Niedersachsen - sicher zu Recht davon aus, daß der Standort dieser Stiftung gewissermaßen als Ausgleichsakt nicht nur allgemein Niedersachsen, sondern speziell nur Salzgitter sein dürfte. Dem machte im März 1990 - also nur gut drei Monate nach der massiven öffentlichen und örtlichen Auseinandersetzung - die mit der Vorlage eines Standortvorschlags vom Bundesfinanzminister beauftragte Landesregierung einen dicken Strich durch die Rechnung. Sie entschied sich in ihrer Kabinettssitzung vom 27. März dieses Jahres geradezu sensationell für Osnabrück. Ich sage das deswegen hier so deutlich und mit Nachdruck, weil alle Redner der Koalitionsfraktionen bisher so getan haben, als wenn diese Standortvorentscheidung nicht längst auf dem Tisch liegen würde. Dies ist ein Faktum, mit dem die Osnabrücker, maßlos überrascht, selbst nicht gerechnet hatten, wie ihre Stellungnahmen in der Öffentlichkeit bewiesen haben. Wenn diese Empfehlung Bestand haben sollte, meine Damen und Herren, dann sage ich schon jetzt und hier: Damit wird die durch die Konzernprivatisierung eingeleitete zweite Demontage der Salzgitter AG nach dem Kriege konsequent von der Bundes- und der Landesregierung fortgesetzt. ({0}) - Das ist „Fakt", und ich werde das auch noch weiter begründen. Nun ist aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion ebenso wie aus der Sicht der politisch Verantwortlichen in der Stadt Salzgitter und in der Region Braunschweig mit der Einbringung des Stiftungserrichtungsgesetzes der Zeitpunkt gekommen, auch dem Parlament mit aller Deutlichkeit klarzumachen, daß Salzgitter der Standort der Stiftung sein muß. Dabei ist - wie ich gleich ausführen werde - die ursprünglich vorrangige Ausgleichsfunktion für die zu erwartenden Folgen der Salzgitterprivatisierung längst nicht mehr das einzige Argument für die Stahlstadt. Für die Gründung einer rechtsfähigen Stiftung bürgerlichen Rechts gibt es natürlich zahlreiche Vorbilder, nicht zuletzt die zwar effektive, aber doch wenig Schmidt ({1}) kontrollierbare VW-Stiftung. Übrigens gibt es auch schon eine Stiftung mit ähnlichem Namen, nämlich die „Deutsche Umweltstiftung", was die Dinge übrigens in der Sache nicht unkomplizierter sein läßt. Wichtig für die Standortuntersuchung ist jedoch vor allem der vorgesehene Stiftungszweck. Er ist hier mehrfach beschrieben worden. Ich kann das deswegen sehr kurz machen. Er wird im § 2 des Gesetzentwurfs relativ kurz beschrieben. ({2}) - Ja, das könnte man durchaus sagen. Ich würde jedoch eine gewisse leichte Umweltorientierung hinzufügen. Das sollte man der Stiftung durchaus zubilligen. Das sage ich jedenfalls unter Berücksichtigung des bisher geschriebenen. ({3}) Ziele sind die Entwicklung neuer umwelt- und gesundheitsfreundlicher Verfahren und Produkte, ein Wissensaustausch über Umweltfragen, innerdeutsche Kooperationsprojekte zur Anwendung von Umwelttechnik, die Sicherung wertvoller Kulturgüter vor schädigenden Umwelteinflüssen und die Herausgabe eines Umweltpreises. Dies alles soll unter besonderer Berücksichtigung der mittelständischen Wirtschaft stattfinden, meine Damen und Herren. In Antworten auf mehrere Anfragen zu den Kriterien der Standortbestimmung hat die Bundesregierung sehr frühzeitig und eindeutig mir gegenüber erklärt, daß die verkehrsmäßige Lage und die Nähe zu wissenschaftlichen Institutionen, speziell der Umweltforschung, sowie enge Verbindungen zur DDR und die Nähe zu Unternehmen mit Umwelttechnik-Angeboten sehr stark zu berücksichtigen sind. Diese Aspekte werden von Osnabrück in keiner oder nur in sehr unzureichender Weise erfüllt. Gemeinsam mit der Region an der noch vorhandenen Grenze zur DDR macht sich die SPD-Bundestagsfraktion eindeutig für den Standort Salzgitter stark und wird dies auch in den kommenden Ausschußberatungen und in der zweiten und dritten Lesung tun. ({4}) - Darauf werde ich gleich zurückkommen. Das brauchen wir gar nicht. Dabei spielt eine Rolle, daß die Stadt Salzgitter als mindestens ebenso strukturschwach wie Osnabrück angesehen werden kann und die SPD ausdrücklich erklärt, daß die Entscheidung über die Ansiedlung einer Stiftung - und mag sie noch so finanzstark sein - nicht zur Strukturhilfe verkommen darf. Für derartige Zwecke müssen Sondermittel eingesetzt werden. ({5}) Salzgitter ist nun einmal ein regional abgesicherter Bewerber. Die durchaus ebenfalls als Stiftungsstandort geeignete Stadt Braunschweig hat auf eine Bewerbung ausdrücklich verzichtet. In einem ausführlichen Gutachten, das die Stadt Salzgitter im März 1990 in Zusammenarbeit mit dem renommierten Eduard-Pestel-Institut für Systemforschung in Hannover erarbeitet und vorgelegt hat - übrigens einem Institut, das wahrlich nicht der politischen Nähe zu der Mehrheit in der Stadtverwaltung und im Rat der Stadt verdächtigt werden könnte -, sind die positiven Aspekte für den Standort im Umfeld der Forschungs- und Wirtschaftszentren Hannover, Braunschweig, Hildesheim, Clausthal-Zellerfeld, Göttingen und Wolfenbüttel sowie die Nähe und die besonderen Kontake zur DDR beschrieben. Ich will es an dieser Stelle kurz machen, weil ich glaube, daß dies auch in den Ausschußberatungen und dann in der zweiten und dritten Lesung noch einmal eine besondere Rolle spielen könnte, wenn die Landesregierung von Niedersachsen und die Bundesregierung nicht vom jetzigen Standortvorschlag abrücken werden. Es ist also die verkehrsmäßige Lage. Es ist die Nähe zu den wissenschaftlichen Instituten mit Umweltorientierung. Es sind die Verbindung und die Nähe zur DDR; übrigens auch die des Salzgitter-Konzerns, der ja in sehr enger Kooperation schon seit vielen, vielen Jahren mit verschiedenen Betrieben in der DDR steht, und zwar nicht nur im Stahlbereich, sondern auch im Waggonbau und in vielen anderen Sektoren. Es ist übrigens auch so, daß sehr viele mittelständische Unternehmen im Stadtgebiet diese Kooperation seit längerer Zeit pflegen und die Partnerschaft mit der Stadt Gotha, die die Stadt Salzgitter pflegt, ebenfalls bereits seit vielen Jahren besteht. Es ist so, daß sich nicht nur die Töchter der Salzgitter AG sehr intensiv mit Einrichtungen der Umwelttechnik auseinandersetzen - ich erinnere nur an die Noell AG - , sondern daß dies auch viele andere Unternehmen, gerade auch die mittelständischen, tun. Hinzugefügt werden müssen gerade in diesem Zusammenhang auch die in der Nähe anwesenden Bundesanstalten wie die Physikalisch-Technische Bundesanstalt, die Biologische Bundesanstalt, die Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft, die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, die Deutsche Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt. Sie sehen, es gibt eine ganze Palette von Einrichtungen, die in Braunschweig und Umgebung, also auch im Einzugsbereich Salzgitters, beheimatet sind. Es sind im übrigen gerade auch auf dem Arbeitsmarkt im tertiären Bereich durchaus vernünftige Perspektiven vorhanden, so daß man auch die Besetzung der Stiftung mit Arbeitskräften ohne ganz große Probleme realisieren kann. Ich will hinzufügen: Was den Stiftungszweck der Bewahrung von Kulturgütern betrifft, haben wir gerade in Hannover, Braunschweig und Göttingen sowie in Hildesheim spezielle Institute dafür, die ebenfalls angebunden sein könnten. Auch die Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel kann in diesem Zusammenhang genannt werden. ({6}) Für den Fall, daß sich die Regierung und die Koalitionsfraktionen in Bonn vor einer Standort-Entscheidung im Gesetzgebungsverfahren drücken wollen, weise ich bereits hier vorsorglich darauf hin, daß ich die Festlegung des Standorts einer durch Gesetz erSchmidt ({7}) richteten Stiftung auch notwendigerweise als durch Gesetz zu bestimmend ansehe. Diese Auffassung wird übrigens durch ein Gutachten des Tübinger Rechtsprofessors Püttner erhärtet, der hierfür ebenfalls einen Gesetzesvorbehalt erkennt. ({8}) - Ich würde das gar nicht so leichtfertig und so sarkastisch sagen, lieber Kollege. Hier wird wirklich ernsthaft versucht, die Argumente auf den Tisch zu tun, damit wir dann auch eine Sachentscheidung treffen können. Bei Ihnen scheint das ja offensichtlich alles schon gelaufen zu sein. ({9}) Nicht nur die einstimmig gefaßten Resolutionen des Rates der Stadt Salzgitter vom Februar und April 1990 drücken die Stimmung der Menschen in der immer wieder benachteiligten Stadt aus. ({10}) - Die GRÜNEN nicht. Ich revidiere mich insoweit. ({11}) Wer die Verbindung zu den anstehenden Entscheidungen über die Schachtanlage Konrad herstellt, wird schnell erkennen, daß durch diesen Zusammenhang unnötigerweise eine sehr ungute Stimmungslage erzeugt worden ist. Salzgitter ist die wesentliche Quelle des Stiftungsvermögens. Das hat auch die Vertreter der CDU/FDP- Landesregierung über Monate eindeutige Erklärungen zugunsten des Stiftungsstandorts Salzgitter abgeben lassen. ({12}) Mit Worten wie „Salzgitter sollte endgültig als Sitz der Umweltstiftung festgelegt werden" - so der CDU-Fraktionsvorsitzende Gansäuer im Landtag - wurde bis in die letzten Wochen hinein vielfach der Eindruck erweckt, als wäre eine andere Entscheidung überhaupt nicht möglich. Und dann kam Ende März der schon beschriebene „Hammer" , den die Landesregierung über die Stadt herunterpoltern ließ. Das ist krasser Vertrauensbruch, an dem sich die Bundesregierung und die Mehrheit dieses Hauses nicht beteiligen dürfen. Für die SPD-Bundestagsfraktion kündige ich schon jetzt harte Bandagen in den anstehenden Ausschußberatungen und auch in der zweiten und dritten Lesung an. ({13}) Dabei werden nicht nur die Frage des Stiftungsstandortes, sondern daneben auch die von meiner Kollegin Ganseforth bereits erwähnten Kriterien für die Zusammensetzung des Kuratoriums und die Frage der Kontrolle eine Rolle spielen. Ich denke, damit werden wir uns sehr intensiv auseinanderzusetzen haben. Ich persönlich freue mich darauf; denn ich bin auch gespannt, wie die CDU/ CSU und die FDP ({14}) weiter agieren werden. ({15})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Strube.

Hans Gerd Strube (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002277, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Haushälter der CDU/CSU-Fraktion sind stolz darauf, ({0}) daß es gemeinsam mit dem Bundesminister der Finanzen gelungen ist, gegen den erbitterten Widerstand der SPD im Herbst 1989 die Weichen für die „Deutsche Stiftung Umwelt" auf Grün zu stellen. ({1}) Wäre es nach den Wünschen der Opposition gegangen, dann wäre der Salzgitter-Konzern nicht privatisiert worden. An die Errichtung einer Stiftung wäre dann heute nicht zu denken. ({2}) Die „Deutsche Stiftung Umwelt" ist also eine Idee der Koalitionsfraktionen. Wir werden sie nunmehr gemeinsam mit der Bundesregierung zum Wohle der Umwelt umsetzen. Lassen Sie mich - meinen Kollegen Dr. Laufs ergänzend - noch drei Punkte vertiefen, die mir bei der Diskussion über die Errichtung der Stiftung besonders wichtig erscheinen: erstens der finanzielle Rahmen, zweitens die Errichtung einer Stiftung für ganz Deutschland, drittens die Standortfrage. In manchen Köpfen kursieren über die finanziellen Möglichkeiten der Stiftung falsche Vorstellungen. ({3}) Es wäre natürlich ein Fehler, wenn sich in der öffentlichen Meinung der Eindruck verfestigen würde, daß der Stiftung jährlich 2,5 Milliarden DM zur Verfügung stünden. ({4}) Diese Summe ist der Privatisierungserlös; er stellt das Stiftungsvermögen dar. Jährlich verfügt werden kann nur über die Erlöse aus diesem Vermögen. Läge der Ertrag bei 6 bis 7 %, dann stünden Jahr für Jahr 150 Millionen DM bereit. ({5}) Das ist eine beachtliche Summe, aber angesichts der Weite des vorgesehenen Arbeitsfeldes der Stiftung begrenzt. ({6}) Lassen Sie mich zum Vergleich anfügen: Damit erreicht die „Deutsche Stiftung Umwelt" eine ähnliche Größenordnung wie die Stiftung Volkswagenwerk. Da die Mittel begrenzt sind, darf die Stiftung nicht dazu verwendet werden, bereits bestehende staatliche Programme zu ersetzen. Sie muß ergänzen, sie muß Zusätzliches tun. Die Abgrenzung zwischen staatlicher Aufgabe und Aufgabe der Stiftung wird nicht immer leicht sein. Das ist eine schwierige Aufgabe, die auf das zu schaffende Kuratorium zukommt. Es müssen deshalb Persönlichkeiten sein, die in dieses Kuratorium berufen werden. Ein Zugriff des Staates - sei es die Exekutive, sei es die Legislative - muß von vornherein verhindert werden. ({7}) Die Stiftung muß unabhängig arbeiten können. Das bedeutet nicht, daß das Parlament und die Bundesregierung nicht zu beteiligen sind. Ein Schlüssel könnte sein: drei Mitglieder aus dem Parlament - dabei wäre u. a. an den Vorsitzenden des Haushaltsausschusses sowie an den des Rechnungsprüfungsausschusses zu denken - , vier Mitglieder der Regierung und sieben weitere Persönlichkeiten, die diesem Anspruch gerecht werden könnten. ({8}) Die „Deutsche Stiftung Umwelt" muß eine Stiftung für ganz Deutschland werden. Es ist deshalb besonders zu begrüßen, daß innerdeutsche Kooperationsprojekte in der Anwendung von Umwelttechnik, vorwiegend durch mittelständische Unternehmen, einschließlich Aus- und Weiterbildung in die Aufzählung der Aufgaben ausdrücklich mit aufgenommen sind. Aber auch hier muß von vornherein klar sein, daß die dringend notwendigen Umweltschutzinvestitionen im anderen Teil Deutschlands nicht durch die Stiftung finanziert werden können. Auch in ganz Deutschland gilt nach wie vor der Grundsatz: Wer den Umweltschaden verursacht, muß ihn auch beseitigen. Der Schwerpunkt der Stiftungsaufgabe in der DDR muß deshalb in der Aus- und Weiterbildung liegen. Für mich ist unverständlich - für die Opposition aber scheinbar von hohem politischen Stellenwert - die Frage des Standorts der Stiftung. Es ist bezeichnend für die SPD, daß sie sich an dieser Randfrage so sehr erhitzt. Man mag es als Indiz dafür deuten, wie wichtig ihr die eigentliche Aufgabe der Stiftung ist. ({9}) Wenn dies der einzige Beitrag zum Thema Umweltstiftung seitens der SPD ist, dann ist dies sehr dürftig. Die immer wieder in den Raum gestellte Behauptung, der Haushaltsausschuß habe sich auf einen Standort festgelegt, ist nicht richtig. Unwidersprochen blieb im Haushaltsausschuß im Rahmen der Privatisierungsdiskussion im Herbst des vergangenen Jahres, daß der Sitz der Stiftung in Niedersachsen sein sollte. Dazu stehen wir. Das Land Niedersachsen hat als Standort die Stadt Osnabrück benannt. Ich kann der Bundesregierung nur empfehlen, diesem Vorschlag zu folgen; es scheint eine sehr fundierte Empfehlung zu sein. Eines ist klar: Das Parlament entscheidet nicht über den Standort. Dieser wird in der Satzung festgelegt. Die Erstellung der Satzung obliegt der Exekutive. Natürlich werden sich die Vorstellungen des Parlaments in der Satzung wiederfinden. Ich bitte deshalb die Bundesregierung, rechtzeitig vor der zweiten und dritten Lesung zumindest den federführenden Ausschuß über den Inhalt der Satzung zu informieren. Wir sollten zügig beraten, damit die Stiftung ihre Arbeit bald aufnehmen kann. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Sauer ({0}).

Helmut Sauer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001921, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als Abgeordneter aus der durch den Verkauf der Salzgitter AG betroffenen Region begrüße ich, daß mit dem Verkaufserlös die „Deutsche Stiftung Umwelt" geschaffen wird. Bei der Verkaufsaktion war man jedoch örtlichen Widerständen auch mit dem Hinweis auf diese geplante Stiftung entgegengetreten. ({0}) Dabei spielte vor Ort die Hoffnung, ja ich sage: das Vertrauen eine Rolle, man werde die Stiftung dort ansiedeln, wo ihr Vermögen erarbeitet worden ist. ({1}) Kollege Staatssekretär Carstens sagte vorhin, daß nach dem Willen der Bundesregierung Niedersachsen das Heimatland der Stiftung werden soll. Aber der Bundesminister der Finanzen, lieber Manfred, erklärte wörtlich in der 608. Sitzung des Bundesrates am 21. Dezember 1989 - ich zitiere - : „Ich meine aber", - so Waigel - „daß diese Region ein Anrecht darauf hat, daß sich dort auch der Sitz der Stiftung befindet." ({2}) Region heißt jedoch nicht 200 Kilometer entfernt. ({3}) Gegen die Empfehlung der Landesregierung und mit Osnabrück legen der Rat der Stadt Salzgitter und die örtliche SPD, CDU und FDP schärfsten Protest ein, aber ebenso einstimmig der CDU-Landesverband Braunschweig mit den Kreisverbänden Braunschweig, Peine, Salzgitter, Wolfenbüttel, Goslar und Helmstedt. ({4}) - Da kommen Sie nicht mit; da spielen die GRÜNEN bei uns gar keine Rolle. Gerade in dem Gebiet, wo Schacht Asse und Schacht Konrad liegen, spielen Sie keine Rolle. Der Kollege Schmidt hat auf das gute und umfangreiche Studienpapier des Eduard-Pestel-Instituts hingewiesen. Es wäre wirklich gut, wenn alle betroffenen Ausschüsse es lesen würden, weil alle dort angeführten klassischen Standortfaktoren für Salzgitter sprechen. Sauer ({5}) Meine Damen und Herren, der Kranz der Institute und Universitäten um Salzgitter herum, auch - worauf Manfred Carstens hinwies - die Mittellage im innerdeutschen Bereich bis hin zu den Einrichtungen der DDR in Magdeburg, Leipzig, Dresden, Merseburg und Köthen - um die Institute dort einmal auf zuzählen - sprechen für Salzgitter. ({6}) Ich bin der Auffassung, daß alle objektiven, sachlichen Kriterien für Salzgitter sprechen. Fundierte Gründe für Osnabrück müßten wirklich einmal auf den Tisch gelegt werden. Die von Bonn zu entscheidende Standortfrage ist darüber hinaus - dies muß die Bundesregierung bitte schön bedenken - auch eine Frage der Gerechtigkeit und des gerechten Ausgleichs. Die Arbeitnehmerschaft hat die Demontage des Salzgitter-Konzerns, dieses einst von den Nationalsozialisten geschaffenen Staatsunternehmens verhindert und durch Schwerstarbeit in Salzgitter das Stiftungsvermögen in erster Linie erarbeitet. Ich bin der Landesregierung und auch Bonn für viel Gutes dankbar, was nach Salzgitter geflossen ist. Aber ich bitte, die meines Erachtens sachfremde Empfehlung von Niedersachsen für die an der holländischen Grenze gelegene Stadt Osnabrück zurückzuweisen. Ich fordere die Bundesregierung auf, nach den Aussagen des Bundesfinanzministers vor dem Bundesrat den Sitz der Stiftung dorthin zu legen, wo das Vermögen erarbeitet worden ist: in die Region, d. h. konkret nach Salzgitter. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt Überweisung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung auf Drucksache 11/6931 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 153 zu Petitionen - Drucksache 11/6616 Es geht hierbei um Vergünstigungen für Heizungs- und Warmwasseranlagen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6980 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Bulmahn.

Dr. h. c. Edelgard Bulmahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Der Petent bittet die Bundesregierung und das Parlament in der vorliegenden Petition, Maßnahmen zu ergreifen, die das Ziel haben, private Investitionen zur Energieeinsparung zu fördern. Ich nenne als Stichworte nur Waldsterben, Tschernobyl, Ozonloch, Treibhauseffekt. Diese Stichworte machen deutlich, daß die Folgen unseres gegenwärtigen Energieversorgungssystems nicht mehr zu verantworten sind. Die Bedrohlichkeit dieser Folgen muß nicht mehr durch jahrelange wissenschaftliche Untersuchungen nachgewiesen werden. Sie ist erwiesen. Eine Fortdauer der bisherigen Energiepolitik führt unweigerlich in die Katastrophe. Sie führt zur Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auf der Erde. Ein „Weiter so" können wir uns deshalb nicht mehr leisten. Aus Verantwortung für unsere Kinder und Enkelkinder müssen wir dem Raubbau an der Natur ein Ende setzen, müssen wir unser Energiesystem auf eine neue Basis stellen. ({0}) Die Einsparung von Energie, die rationelle Energieverwendung ist die billigste, sicherste, produktivste, und zugleich am schnellsten zu verwirklichende Energiealternative. Wenn die Kohlendioxidemissionen, wie in Toronto vereinbart, bis zum Jahre 2005 weltweit um 20 % und, wie in der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre" diskutiert, in der Bundeserepublik gar um 30 % gesenkt werden sollen, dann müssen wir die Energieeffizienz erheblich steigern. Rund 80 To des gesamten Energieverbrauchs der Privathaushalte in der Bundesrepublik wurden 1985 für die Beheizung der Wohnungen verwandt. Der Energieverbrauch im Bereich der Raumheizung bildet also ein ganz wesentliches Potential für die Senkung des Energieverbrauchs, für Energieeinsparungen. Genau an dieser Stelle setzt das Anliegen des Petenten ein, über dessen Petition wir hier zu befinden haben. Der Petent setzt sich mit seiner Petition für steuerliche Anreize zur Förderung von privaten Investitionen zur Energieeinsparung ein. Als Mieter hat er in seiner Wohnung auf eigene Kosten einen energiesparenden, umweltfreundlichen Thermoblock für die Zentralheizung einbauen lassen. Hätte er diese Investition als Vermieter vorgenommen, so hätte er diese nach § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung steuermindernd geltend machen können. Als Wohnungsmieter hat er hingegen keinen Anspruch auf Steuerminderung, da nach geltender Rechtsauffassung Aufwendungen für die angemietete Wohnung als Kosten der privaten Lebensführung anzusehen sind, die einkommensteuerrechtlich nicht berücksichtigt werden können. Formal und im Rahmen der Steuersystematik betrachtet, mag diese Auffassung zutreffend sein, von der Sache her ist sie nicht gerechtfertigt. Es ist doch absurd, wenn dringend notwendige Maßnahmen und Investitionen zur Energieeinsparung deshalb nicht gefördert werden und damit unterbleiben, weil diese unsere Steuersystematik durcheinanderbringen. Was ist das für eine Politik, die einen Bestandsschutz für althergebrachte Steuersystematiken gibt, dafür aber die Umwelt der Zerstörung preisgibt? Der Mieter hat kein Interesse an der Vornahme von Energiesparinvestitionen, weil dies für ihn höhere Kosten mit sich bringt, als wenn er diese unterläßt. Dem Vermieter ist es eigentlich egal; denn die Kosten für den Energieverbrauch hat nicht er, sondern der Mieter zu tragen. Künstliche Hürden aufzubauen, statt sie zu beseitigen, ist ein Armutszeichen für unsere politische Gestaltungsfähigkeit. Was eigentlich müssen die Bürgerinnen und Bürger von der Politik halten, wenn sie in der Stellungnahme des Bundesministers der Finanzen zu dieser Petition folgendes lesen müssen: Läßt ein Mieter ... den Einbau eines Thermo-blocks für die Zentralheizung auf eigene Kosten durchführen, führt dies beim Vermieter zu steuerpflichtigen Mieteinnahmen in Höhe der Aufwendungen. Aus Vereinfachungsgründen brauchen die vom Mieter getragenen Aufwendungen vom Vermieter nicht als Einnnahme erfaßt zu werden, da ihnen in gleicher Höhe Werbungskosten gegenüberstehen. Was soll ein Bürger mit diesem Amtsdeutsch eigentlich anfangen? Muß er sich nicht auf den Arm genommen fühlen, wenn ihm mitgeteilt wird, seine Aufwendungen führten zu erhöhten Mieteinnahmen beim Vermieter, so daß dieser, nicht aber er selbst die Aufwendungen als Werbungskosten geltend machen könne? Im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches ist diese Argumentation sicherlich korrekt, aber dem Anliegen des Petenten wird sie nicht gerecht. Das Anliegen des Petenten kann man mit solch einer Argumentation nicht vom Tisch wischen. Es geht nicht an, einerseits immer wieder zu betonen - wie dies auch von Ihrer Seite getan wird - , wie wichtig Maßnahmen zur Energieeinsparung seien, und sich andererseits, wenn es darum geht, entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, hinter formalrechtlichen Regelungen zu verstecken. So verspielen Sie Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Politik. Statt kreativ nach Alternativen zu suchen, zu überlegen, mit welchen Maßnahmen die Durchführung von Energiesparmaßnahmen durch private Investitionen gefördert werden kann, will die Bundesregierung die steuerliche Förderung nach § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung zum 31. Dezember 1990 sogar völlig einstellen. Wie der Bundesminister der Finanzen in seiner Stellungnahme ausführt, „hat sich in der Bevölkerung das Bewußtsein für die Notwendigkeit energiesparenden Verhaltens vestärkt, so daß eine weitere Förderung ... entbehrlich ist". Konsequente Energieeinsparungsstrategien setzen sich aber nicht von allein oder aus bloßer Einsicht in die Notwendigkeit durch. Energiesparinvestitionen setzen sich nur dann durch, wenn sie sich nicht nur volkswirtschaftlich, sondern auch individuell rechnen. Die Vornahme solcher Investitionen muß letztendlich billiger kommen als der unbeschwerte Verbrauch von Energie. Die Umwelt darf nicht länger als Gratisgut betrachtet werden. Sie muß einen Preis haben. Das ist ohne lenkende Eingriffe, ohne marktwirtschaftliche Signale des Staates nicht zu erreichen. Der bloße Appell an das Verantwortungsbewußtsein der Bürger reicht hierzu nicht aus. Meine Fraktion beantragt deshalb, die vorliegende Petition der Bundesregierung zur Erwägung zu überweisen und sie den Fraktionen des Deutschen Bundestages zur Kenntnis zu geben. Wenn dem Anliegen nicht über § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung entsprochen werden kann, so sollte die Bundesregierung auf anderem Wege nach Möglichkeiten der Abhilfe suchen. Wenn Sie, meine Herren und Damen, wirklich für ein Umsteuern in der Energiepolitik sind, dann werden Sie niemandem klarmachen können, warum Sie sich diesem Antrag meiner Fraktion nicht anschließen können. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000739, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei der vorliegenden Petition geht es darum, daß der Petent in seiner Mietwohnung einen Thermoblock für die Zentralheizung hat einbauen lassen. Nun beschwert er sich darüber, daß er für diese Aufwendungen nicht die Vergünstigungen des § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung in Anspruch nehmen kann. Der Petitionsausschuß hat sich mit der Angelegenheit befaßt. Er meint, daß solche Mieteraufwendungen nicht steuermindernd berücksichtigt werden können. Das gilt auch für den Einbau von Einrichtungen im Sinne der von Ihnen schon zitierten Vergünstigungsvorschrift des § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung, also auch für den Einbau eines Thermoblocks für die Zentralheizung, der zweifelsohne zu jenen Einrichtungen gehört, die grundsätzlich steuerbegünstigt sind, nämlich wenn sie der Eigentümer - wohlgemerkt: der Eigentümer - , also im Regelfall der Vermieter einbaut. Nach der Systematik unseres Steuerrechts - die wollen Sie gar nicht gelten lassen; aber sie hat schon gute Gründe - kann grundsätzlich derjenige Aufwendungen als Betriebsausgaben oder Werbungskosten geltend machen, der Einnahmen aus einer der sieben Einkunftsarten bezieht, also z. B. aus Vermietung und Verpachtung. ({0}) Aufwendungen des Mieters für seine Wohnung gehören hingegen zu den Kosten der privaten Lebensführung. Nun könnte sich ein Mieter darauf berufen, daß der Einbau moderner Heizungsanlagen auch für den Eigentümer einer selbst genutzten Wohnung im eigenen Haus steuerbegünstigt ist, obwohl der Nutzungswert der eigenen Wohnung ab dem Veranlagungszeitraum 1987 grundsätzlich nicht mehr besteuert wird, weil der Gesetzgeber die sogenannte Privatgutlösung eingeführt hat. Das ist nach meiner Ansicht aber kein geeigneter Berufungsfall; denn selbstverständlich war es aus Gründen des Vertrauensschutzes erforderlich, beim Übergang von der früheren NutDr. Grünewald zungswertbesteuerung zur Privatgutlösung die betroffenen Eigentümer für eine Übergangszeit zu schonen, ihnen also für eine gewisse Zeit den Abzug der genannten Aufwendungen weiterhin zu gestatten. Das wurde deshalb im Einkommensteuergesetz in der Weise geregelt, daß die Kosten für den Einbau moderner Heizungsanlagen in einer zu eigenen Wohnzwekken genutzten Wohnung im eigenen Haus begünstigt sind, wenn sie vor dem 1. Januar 1992 aufgewendet werden. Würde man den Einbau von modernen Heizungsanlagen oder Teilen davon durch Mieter begünstigen, so wäre dies auch ein Fall der Steuerungerechtigkeit und keineswegs nur ein Problem der Steuersystematik, wie es eben hieß. Es würde nämlich zu folgendem führen: Nimmt der Vermieter den Einbau selber vor, könnte er ihn mieterhöhend berücksichtigen. Beide Mieter hätten also die gleichen Kosten zu tragen. Aber nur der Mieter würde begünstigt werden, der den Einbau selbst vornimmt. Das kann ja wohl nicht gerecht sein. Bei diesem Vergleich kann nicht eingewandt werden, daß eine entsprechende Mieterhöhung gar nicht zulässig sei. Denn die Mieterhöhung ist sowohl im sozialen Wohnungsbau, nämlich nach der 2. Berechnungsverordnung, wie auch im frei finanzierten Wohnungsbau, nämlich nach § 541b BGB, sehr wohl zulässig. Im übrigen würde eine Steuerbegünstigung für den Mietereinbau im geltenden System des Einkommensteuerrechts zu einer doppelten Berücksichtigung von Aufwendungen führen, was ja wohl auch nicht gerecht sein kann. Denn neben der Berücksichtigung beim Mieter würden die Aufwendungen nach dem Einkommensteuersystem auch beim Vermieter steuerlich erfaßt. Sie sind nämlich beim Vermieter einerseits eine zusätzliche Einnahme in Form eines Sachbezuges nach § 8 des Einkommensteuergesetzes, und andererseits stellen sie einen Erhaltungsaufwand dar, d. h. sie sind steuerlich absetzbare Werbungskosten. Auch aus diesem Grunde kann ich mir eine sinnvolle gesetzliche Regelung für eine Begünstigung des Mietereinbaus gar nicht vorstellen. Schließlich muß die Forderung nach einer steuerlichen Begünstigung energieeinsparender Einbauten durch den Mieter auch im Gesamtzusammenhang gesehen werden. Das Angebot an energiesparenden Maßnahmen im Sinne des § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung ist im Laufe der Jahre so reichhaltig geworden - gerade und nicht zuletzt auf Grund der steuerlichen Förderung - , daß sich diese heute in der Regel auch ohne eine steuerliche Vergünstigung rechnen. Hinzu kommt, daß die Steuergesetze des vergangenen Jahres, zuletzt das Wohnungsbauförderungsgesetz, Abschreibungsverbesserungen gebracht haben. Eine erweiterte Förderung könnte auf der einen Seite zu ganz ungerechtfertigten Mitnahmeeffekten führen und auf der anderen Seite diejenigen von einer Förderung ausschließen, die nicht zuletzt als Folge der durch den Einkommensteuerreformtarif 1990 eingetretenen starken steuerlichen Entlastung überhaupt keine Einkommensteuer mehr zu zahlen haben. Immerhin fallen durch die Anhebung des Grundfreibetrages seit dem 1. Januar rund 500 000 Bürger und Bürgerinnen zusätzlich aus jedweder Steuerpflicht heraus. ({1}) Nach alledem sieht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Notwendigkeit, die Förderung nach § 82 a EStDV entweder in zeitlicher oder auch in materieller Hinsicht weiter auszubauen. ({2}) Auch der Hinweis auf die Beratungen der Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre", wie es in dem Ergänzungsantrag heißt, geben für Ihre Argumentation, soweit mir die Unterlagen bekannt sind, nichts her. ({3}) Weil das so ist, werden wir den Antrag ablehnen und bei dem Vorschlag des Petitionsausschusses verbleiben, ({4}) das Petitionsverfahren endgültig abzuschließen. Danke schön. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Parlamente sollten die Interessenvertretungen von Bürgerinnen und Bürgern sein und nicht deren Vorgesetzte. In diesem Sinne, denke ich, sind Petitionen nicht eine Belastung für das Parlament, auch wenn es vielleicht manchmal so aussieht und wenn auch das Interesse nicht immer sehr groß ist, besonders wenn die Debatte darüber zu dieser abendlichen Stunde stattfindet. Wir stellen auch fest, daß Petitionen immer wieder berechtigte Sorgen und Wünsche beinhalten und insbesondere auf Lücken und Unzulänglichkeiten hinweisen. Genau um eine solche Unzulänglichkeit und Lücke, denke ich, handelt es sich bei dieser Petition, über die wir hier diskutieren. Steuersystematisch und steuerrechtlich mag es nach der vorherrschenden Meinung im hier vorliegenden Fall durchaus richtig sein, wenn wir feststellen - das ist hier ja mehrfach genannt worden - , daß Aufwendungen für energiesparende Einrichtungen deshalb nicht vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden dürfen, weil sie eben nicht mit dem Ziel der Einkommenserzielung erfolgen. Ich muß mir allerdings hier bei diesem Fall die Frage stellen, ob diese Beschränkung auch dann angemessen und zumutbar ist, wenn es sich um Steuerbestimmungen handelt, die eben eindeutig eine Lenkungswirkung haben. Meines Erachtens dürfte es un16184 strittig sein, daß die Steuervergünstigung nach § 82 der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung eben nicht für Investitionen mit Gewinnerzielungsabsicht, sondern mit der Absicht der Energieeinsparung geschaffen wurden. Damit verliert, denke ich, eine unterschiedliche Behandlung von Vermietern und Mietern ihre Berechtigung. Nun will ich jetzt nicht einfach grundsätzlich die Ausweitung dieses § 82 auf Mieter fordern. Denn diese Bestimmung - das ist hier auch schon genannt worden - ist mit der Regierungsmehrheit im Zuge der Steuerreform mit Wirkung zum 31. Dezember 1991 abgeschafft worden. Ich denke, es handelt sich hier um einen der vielen bedenklichen Bestandteile dieses Gesetzeswerks. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe - auch das ist hier schon genannt worden, und es ist auch in der Begründung des Antrages erwähnt worden - mutet die Begründung, die der Finanzminister für die Abschaffung des § 82 aufgeführt hat, daß nämlich wegen des verstärkten Bewußtseins der Bevölkerung für die Notwendigkeit energiesparenden Verhaltens eine weitere Förderung entbehrlich sei, merkwürdig an. Ich denke, diese Argumentation ist angesichts der Tatsachen sehr weltfremd, wenn nicht sogar gefährlich. ({0}) Neben steuerlichen Absetzungsregelungen wie der des § 82 möchte ich allerdings auch einen zweiten Grund nicht außer acht lassen. Derartige Vergünstigungen sind bekanntlich in ihrer Höhe stets von den Einkommensverhältnissen der Betroffenen abhängig, allerdings in umgekehrter Wirkung. In dem vorliegenden Fall erhielte ein Bundestagsabgeordneter, der sich diesen Thermoblock in seine Mietwohnung einbauen ließe, einen Zuschuß von 1 500 DM, und ein Bundestagsbeamter aus dem mittleren Dienst bekäme nur 600 DM. Ich denke, das sind Gründe, warum man diese Vorgehensweise nicht gutheißen kann. Auch das Drittel, das überhaupt nicht einkommensteuerpflichtig ist, ginge leer aus. Von daher sind wir prinzipiell gegen solche Abschreibungsmöglichkeiten. Wir sehen allerdings die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Anreizen gerade zum energiesparenden Verhalten. Diese müssen durch Regelungen verfolgt werden, die verteilungspolitisch neutral sind. Das sind entweder direkte Subventionen, die ohne Ansehen der Person und des Einkommens gleich hoch sind, oder eben Umweltabgaben auf den Energieverbrauch und erst recht auf Energieverschwendung, wie dies ja bei vielen Wohnungsheizungen noch geschieht. Anregungen und Anträge über die entsprechenden Verfahren sind hier oft vorgetragen worden. Auch unsere Fraktion hat entsprechende Anträge eingebracht. Ich möchte hier nur den Antrag zum Energiesparprogramm für den Wärmemarkt in Erinnerung rufen, der genau diesen Punkt betrifft, oder unsere Anträge zur Primärenergiesteuer für fossile Brennstoffe. Ich denke, es wird auch Zeit, daß die Bundesregierung hier endlich ihre Phase des Nichtstuns überwindet und den doch vernehmbaren Ankündigungen, die wenigstens aus ihren Reihen kommen, auch Taten folgen läßt. Von daher ist es für uns nur folgerichtig, daß wir die Beschlußempfehlung, das Petitionsverfahren abzuschließen, für kurzsichtig halten und dem natürlich nicht zustimmen werden. Die Zustimmung zu dem Änderungsantrag der SPD ist, denke ich, das Mindeste, was hier heute für dieses Anliegen getan werden kann. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.

Günther Friedrich Nolting (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001622, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Sitzung am 7. März 1990 hat der Petitionsausschuß mit Mehrheit empfohlen, das vorliegende Petitionsverfahren abzuschließen. Die SPD- Fraktion macht heute von ihrem geschäftsordnungsmäßigen Recht Gebrauch, zu dieser Petition eine Debatte zu verlangen. Allerdings habe ich, Frau Bulmahn, Zweifel, ob es sinnvoll ist, dieses Thema heute noch einmal zu diskutieren. Wir haben uns im Ausschuß mehrfach und vor allen Dingen ausführlich mit dem Problem auseinandergesetzt, ob ein Mieter die Kosten für den Einbau einer energiesparenden und umweltfreundlichen Heizung von der Einkommensteuer absetzen kann, ob § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung einen Hintergrund für den Einbau von energiesparenden Heizgeräten darstellt und wie steuerliche Anreize zum Energiesparen geschaffen werden können. Der Kollege Dr. Grünewald ist ausführlich auf diese Problematik eingegangen. Ich will deshalb hier nur zwei Punkte kurz aufzeigen: Erstens. Es sind nur solche Aufwendungen als Werbungskosten absetzbar, die im Zusammenhang mit steuerpflichtigen Einnahmen entstehen. Dies kann bei Mietwohnungskosten nicht der Fall sein. Außerdem - darauf möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich hinweisen - würden anderenfalls die Kosten zweimal absetzbar sein, nämlich beim Mieter und Vermieter, bei dem die Maßnahme des Mieters als steuerpflichtige Mieteinnahme berechnet wird. Zweitens. Auf eine weitere steuerliche Förderung kann verzichtet werden, weil die energiesparenden Maßnahmen häufig bereits in sich selbst wirtschaftlich sind und weil außerdem das Bewußtsein der Menschen in unserem Land so weit entwickelt ist, daß sie selber durch umweltfreundliches Verhalten bereit sind, eventuelle finanzielle Nachteile kurzfristig in Kauf zu nehmen. Frau Bulmahn, wir glauben, daß wir dem Bürger ein entsprechendes Vertrauen schenken können. Dieses Vertrauen ist offensichtlich bei der SPD-Fraktion nicht vorhanden. Die Frage der steuerlichen Anreize für energiesparende Heizgeräte ist damit beantwortet. Die bisherigen Fördermaßnahmen laufen deshalb zum 31. Dezember 1991 aus und sollen nicht verlängert werden. Es wäre deswegen heute unsinnig, die Förderungsmöglichkeiten weiter auszudehnen. Frau Bulmahn, ich glaube, Sie wissen das auch ganz genau. Hier heute zu sagen: Liebe Bundesregierung, nun suche du einmal nach Alternativen, das ist, glaube ich, etwas zu einfach. ({0}) Unter diesen Umständen bitte ich Sie, der vorliegenden Beschlußempfehlung zuzustimmen, weil eine Änderung des Einkommensteuergesetzes aus oben genannten Gründen nicht zum Tragen kommt. Vielen Dank. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Abstimmungen, und zwar zuerst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6980. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6616 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0}) Sammelübersicht 155 zu Petitionen - Drucksache 11/6618 Es handelt sich um die Einrichtung von Kontrollstellen gemäß § 111 der Strafprozeßordnung. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6959 vor. Es wird vorgeschlagen, eine Debattenzeit von 20 Minuten vorzusehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Es ist so beschlossen. Dann hat der Abgeordnete Such das Wort.

Manfred Such (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002284, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Petentin, die Internationale Liga für Menschenrechte, sowie knapp 300 Bürgerinnen und Bürger fordern die Streichung des § 111 der Strafprozeßordnung. Ich möchte Sie bitten, diesem dringenden Anliegen entgegen der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu folgen. Die fragliche Vorschrift gestattet die Einrichtung von Kontrollstellen auf öffentlichen Straßen und Plätzen, wo Bürger und Bürgerinnen angehalten, durchsucht und ihre Personalien überprüft und gespeichert werden können. Vorausgesetzt wird, daß auf Grund bestimmter Anhaltspunkte begründet angenommen werden kann, daß mit der Kontrollstelle gerade am konkreten Ort und zur konkreten Zeit Täter, Täterinnen oder Beweismittel zur Aufklärung bestimmter schwerer Straftaten ergriffen werden können. - Soweit die graue Theorie, und das ist wirklich nur graue Theorie. In der Praxis ist dieses 1978 allein zur Fahndung nach Schwerkriminellen geschaffene Instrument jedoch völlig wirkungslos. Sehr zurückhaltend geschätzt, sind seither bundesweit nämlich über 2 000 Kontrollstellen eingerichtet und dort niemals - ich wiederhole: niemals - Täter oder Täterinnen ergriffen oder gerichtsfeste Beweismittel sichergestellt worden. Auch die Fraktion der CDU/CSU sollte sich das anhören. Ich glaube, daß Ihnen das noch gar nicht bewußt geworden ist, Herr Bohl. Der Staatssekretär im Bundesjustizministerium Dr. Jahn hat diesen Befund jüngst lapidar kommentiert, das Instrument habe sich als nicht übermäßig effizient erwiesen, um das allein zulässige Ziel der Strafverfolgung zu erreichen. Erreicht wird statt dessen aber folgendes: Direkt vor Veranstaltungen, am 7. Mai 1988 einer Veranstaltung des AStA in Köln zur Politik der Weltbank, am 27. Mai 1988 einer Veranstaltung der Jungdemokraten in Köln zum gleichen Thema und vor einem Info-Büro für eine friedliche Blockade in Mutlangen, das am 20. September 1988 eingerichtet wurde, wurden polizeiliche Kontrollstellen eingerichtet. Alle ein- und ausgehenden Besucher und Besucherinnen wurden kontrolliert und durchsucht, meine Damen und Herren. Begründung: Fahndung nach RAF-Terroristen und -Terroristinnen wegen Jahre zurückliegender Anschläge. Nach diesem Muster sind in den letzten Jahren sehr häufig bundesweit monatelang Freibriefe erteilt worden, politisch Verdächtige zu kontrollieren. Die Fahndungszwecke wurden nur vorgeschoben. Der BGH rügte Ende 1988, diese polizeiliche Ausnutzung pauschaler Genehmigung sei mit dem Gesetzeswerk nicht zu vereinbaren. Demgegenüber haben auch danach Bundesinnenministerium und Bundesanwaltschaft noch ausdrücklich gerechtfertigt, daß der § 111 der StPO zur Verunsicherung der Szene noch häufiger benutzt werde, also entgegen dem Gesetz generalpräventiv. Auch in der Praxis zeigt sich keine Änderung. Der BGH genehmigte zur Fahndung nach der IRA für den November letzten Jahres wiederum sehr pauschale Kontrollstellen in mehreren Bundesländern, wo diverse unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger angehalten und kontrolliert wurden. Es handelt sich bei § 111 der StPO also um eine Vorschrift, die ihren eigentlichen Zweck nie erreicht hat und lediglich und offenbar mißbraucht wird. Dies ist geradezu beispielhaft für die Fülle der sogenannten Terroristen-Gesetze, wie z. B. §129 a StGB, deren Streichung wir insgesamt fordern und hier demnächst zu behandeln haben. Ich fordere Sie auf, unserer Aufgabe als Gesetzgeber und Gesetzgeberin gerecht zu werden und die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses abzulehnen, also die Streichung des § 111 StPO zu veranlassen. Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Zeitlmann.

Wolfgang Zeitlmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002588, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Petition der Liga für Menschen16186 Deutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 2 Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 25. April 1990 rechte verlangt die Streichung des § 111 StPO. Diese Bestimmung erlaubt die Einrichtung von Kontrollstellen auf öffentlichen Straßen durch die Polizei nach vorheriger richterlicher Anordnung. An diesen Kontrollstellen muß sich jeder Bürger ausweisen und kann durchsucht werden. Das Gesetz nennt mehrere Voraussetzungen: erstens begründeter Verdacht schwerer Straftaten mit Bildung terroristischer Vereinigungen, deren Zweck oder Tätigkeit darauf gerichtet ist, Mord, Totschlag, Völkermord, erpresserischen Menschenraub etc. sowie schweren Raub mit Schußwaffen zu begehen, ({0}) zweitens Aussicht auf Ergreifung der Täter oder Sicherstellung von Beweisen. Jedenfalls steht fest, daß diese Norm keine allgemeine Polizeikontrolle zuläßt. Die geschilderte Praxis, vielleicht auch Ausuferungen, rechtfertigen noch nicht, eine gesetzliche Norm aufzuheben. Ich bin sogar der Meinung, § 111 StPO ist weiterhin nötig. ({1}) Darüber hinaus sollte man einmal überlegen, ob man nicht im Zusammenhang mit organisierter Kriminalität und insbesondere Drogenkriminalität eine Erweiterung des § 111 StPO vornimmt. ({2}) - Gut, da sind wir wieder anderer Meinung. ({3}) Deliktsbezogene Ermittlungsansätze können bei organisierter Kriminalität nicht greifen, weil Anzeigen nach der Natur der Delikte gerade bei Rauschgiftdelikten nicht erstattet werden und weil Zeugen aus Angst vor Repressalien nicht zur Verfügung stehen. Dies ist meine persönliche Meinung. Ich jedenfalls kann einer Aufhebung des § 111 StPO auf gar keinen Fall zustimmen. ({4}) Deswegen waren wir der Meinung, die Petition abzuschließen. Herzlichen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Peter.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir haben in der zur Rede stehenden Petition wieder einmal ein Musterbeispiel dafür, wie die Bundesregierung und bei der Abfassung des Berichts auch das Petitionsbüro mit einer Petition umgehen. Die Petenten - sie sind genannt worden - wollen Streichung des § 111 der Strafprozeßordnung, weil ihrer Meinung nach die Praxis der Intention des Gesetzgebers im Jahre 1978 davongelaufen ist. Sie sind der Meinung, durch die veränderte Praxis seien die Tatbestände, ein Verdacht müsse durch schlüssiges Tatsachenmaterial bereits ein gewisses Maß an Konkretisierung erreicht haben oder es müsse Anlaß für die Annahme bestehen, daß der mit der Kontrollstelleneinrichtung bezweckte Erfolg in der in Aussicht genommenen Zeit und am vorgesehenen Ort eintritt, oder das Ziel, die Aussicht auf Ergreifung der Täter bzw. die Sicherstellung von Beweisen, müsse mit einiger Wahrscheinlichkeit eintreten, nicht mehr erkennbar und damit auch für den nüchternen Betrachter nicht mehr nachvollziehbar seien. Der Ausschußbericht, basierend auf der Stellungnahme des Bundesministeriums der Justiz - wir haben es eben auch bei dem Kollegen Zeitlmann gehört, ich gestehe zu: mit einer gewissen Einschränkung - tut nichts anderes, als die ursprünglichen Intentionen des Gesetzgebers zu wiederholen. Es erfolgt kein Hinweis auf die mehrfach im Bundestag eingestandene Erfolglosigkeit der Anwendung des § 111 StPO. Es gibt auch keinen Hinweis und kein Eingehen auf den Beschluß des Bundesgerichtshofs vom 30. September 1988, der dem Bundesanwalt und dem Ermittlungsrichter Maßlosigkeit bei der Anwendung des § 111 der Strafprozeßordnung attestiert hat, geschweige denn ein Eingehen auf die bedenkenswerten Argumente der Petenten. Eine seriöse Auseinandersetzung mit der Petition hätte deutlich gemacht: Die heutige Praxis entspricht nicht den Intentionen des Gesetzgebers. Die Erwartungen im Hinblick auf Ringfahndung, die ja mit der Einrichtung dieses Paragraphen verknüpft waren, sind enttäuscht worden. Die Unverhältnismäßigkeiten der Anwendung sind vielfach belegbar, sowohl in Hinsicht auf die Dauer als auch die räumliche Begrenzung der Einrichtung von Kontrollstellen. Hinzu kommt, daß durch die vielfachen und ständigen Verschärfungen des § 129a des Strafgesetzbuches und durch die Auslegung dieser Vorschrift durch die Bundesanwaltschaft die Hürden für die Einrichtung einer Kontrollstelle herabgesetzt worden sind. Hinzu kommt, daß in vielen Interviews und Stellungnahmen von Vertretern der Bundesanwaltschaft, auch von Politikern der Regierungsparteien, rechtsstaatlich bedenkliche Kategorien wie die „Verunsicherung der Szene" die Absichten des Gesetzgebers ins Gegenteil verkehren. Das alles bedeutet im Ergebnis: Die Praxis des § 111 kann mit der Petentin als rechtsstaatlich bedenklich bewertet werden. Allerdings meint die SPD-Fraktion, die Herauslösung der Forderung der Petentin, den § 111 ersatzlos zu streichen, wird der Komplexität des Problems nicht in dem Maße gerecht, wie wir es gerne hätten. Wir meinen - und das haben wir auch im Ausschuß beantrag - , es müßte für „Erwägung" eingetreten werden, um zu erreichen, daß überprüft wird, in welcher Weise der Tatbestand umformuliert und die Praxis geändert werden muß. Es müßte erreicht werden, daß die gesamte Gesetzgebung im Zusammenhang mit der Terrorismusbekämpfung im Lichte der Erfahrungen, im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit, Verhältnismäßigkeit, Zweckmäßigkeit überprüft werde; es komme also auf eine Gesamtüberprüfung an. Wir haben dann im Wege des Kompromißangebots eines Votums „Überweisung als Material" versucht, in dieser sensiblen Frage ein Stück weiterzukommen, Peter ({0}) tatsächlich zu einer Überprüfung des Gesamtkomplexes im dargestellten Sinne zu gelangen. Das wurde aber abgelehnt. Es war ein Abstimmungsfall. Das führt zu der Schlußfolgerung ({1}) - es tut mir leid, Herr Kollege, ich bin am Ende -, daß wir der Intention Berücksichtigung für die ersatzlose Streichung nicht zustimmen werden, daß wir aber auch der Sammelübersicht nicht zustimmen können. Dort werden wir uns der Stimme enthalten. Ich bitte Sie, meine Damen und Herren von den Regierungsparteien, zumindest in der Auseinandersetzung mit der Petition doch ein Stück weiterzugehen, als es der Bundesjustizminister gemacht hat. Danke schön. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Funke.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die ersatzlose Streichung des § 111 StPO wird verlangt. Die Mehrheit des Petitionsausschusses hat diesen Antrag abgelehnt, wie ich meine, zu Recht. Bereits ein Blick ins Gesetz zeigt, wie wichtig auch heute noch der § 111 StPO ist. Weil manchmal ein Blick ins Gesetz besser ist, als wissenschaftliche Ausführungen zu machen, möchte ich diesen § 111 StPO zitieren, auch um aufzuzeigen, um welche Fälle es sich handelt. § 111 StPO lautet: Begründen bestimmte Tatsachen den Verdacht, daß eine Straftat nach § 129 a des Strafgesetzbuches, eine der in dieser Vorschrift bezeichneten Straftaten oder eine Straftat nach § 250 Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuches begangen worden ist, so können auf öffentlichen Straßen und Plätzen und an anderen öffentlich zugänglichen Orten Kontrollstellen eingerichtet werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, daß diese Maßnahme zur Ergreifung des Täters oder zur Sicherstellung von Beweismitteln führen kann, die der Aufklärung der Straftat dienen können. ({0}) - So ist es. Es geht um das Gesetz und nicht um die einzelne Anwendung durch die Staatsanwaltschaft, Herr Kollege. An einer Kontrollstelle ist jedermann verpflichtet, seine Identität feststellen und sich sowie mitgeführte Sachen durchsuchen zu lassen. Die Anordnung, eine Kontrollstelle einzurichten, trifft der Richter; die Staatsanwaltschaft und ihre Hilfsbeamten ... sind hierzu befugt, wenn Gefahr im Verzug ist. ({1}) Es handelt sich also um Kontrollstellen, die der Aufklärung terroristischer Akte, aber auch Delikte wie räuberische Erpressung dienen sollen. Die feigen Angriffe der RAF, zuletzt auf den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Herrn Alfred Herrhausen, aber auch die räuberischen Geiselnahmen der vergangenen Monate machen deutlich, daß wir diesen Paragraphen als Rechtsgrundlage nach wie vor benötigen. ({2}) Gerade ist die Nachricht gekommen, daß auf den Bundeskanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, ein Angriff verübt worden ist. Ich glaube, Herr Peter, Sie werden sich unter dem Eindruck dieses aktuellen Ereignisses vielleicht noch einmal überlegen, ob es tatsächlich weise ist, auf den § 111 StPO zu verzichten. ({3}) Ich hoffe, daß dieser Paragraph auch mit dazu beitragen kann, diese Tat aufzuklären; denn ob es ein Einzeltäter ist oder nicht, wird man erst dann feststellen können, wenn die Vernehmungen erfolgt sind. Ich wünsche wenigstens von dieser Stelle Herrn Oskar Lafontaine gute Besserung. ({4}) § 111 Abs. 2 macht darüber hinaus deutlich, daß unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten solche Maßnahmen nur bei Gefahr im Verzug erfolgen können. Im übrigen kommt es bei der Einrichtung von Kontrollstellen darauf an, wann und wie sie eingerichtet werden. Die Ausführung der Gesetze ist aber keine Frage des Bundesgesetzgebers, also des Bundespetitionsausschusses, sondern das ist eine Angelegenheit der Länder. Da müßte sich der Petent schon an die jeweiligen Landespetitionsausschüsse wenden. Das hat er hier nicht getan, sondern er hat die ersatzlose Streichung des § 111 StPO verlangt. Dazu sind wir nicht bereit. Deswegen werden wir diesen Antrag ablehnen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich möchte auch noch einmal für das ganze Haus wiederholen, daß wir Oskar Lafontaine gute Besserung wünschen und vielleicht auch gleich hinzufügen: Wir hoffen, daß das nicht ein Anfang neuer Fanatisierung in der politischen Auseinandersetzung ist. Schönen Dank. ({0}) Meine Damen und Herren, wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6959. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist abgelehnt. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/6618 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einigen Enthaltungen ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Vizepräsidentin Renger Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Aufnahmegesetzes - Drucksachen 11/6910, 11/6948 Überweisungsvorschlag : Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler - Drucksache 11/6937 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Interfraktionell ist vereinbart worden, die Beiträge zu diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. *) ({3}) Meine Damen und Herren, ich sehe dazu keinen Widerspruch. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung der Vorlagen auf den Drucksachen 11/6910, 11/6937 und 11/6948 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. - Auch damit ist das Haus einverstanden. Dann, meine Damen und Herren, sind wir am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 26. April, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.