Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:
Befragung der Bundesregierung
In der heutigen Kabinettsitzung sind folgende Themen beraten worden: Normalisierung des Zuzugs von Übersiedlern aus der DDR und Berlin ({0}); Modifizierung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler; Achtes Gesetz zur Änderung des Wohngeldgesetzes.
Mir ist gemeldet worden, daß Herr Bundesminister Dr. Schäuble zuerst das Wort zu ergreifen wünscht. - Bitte schön, Sie haben das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Bundesregierung hat sich heute erneut mit den Problemen beschäftigt, die der Zuzug von Übersiedlern aus der DDR und Berlin ({0}) in der DDR und in der Bundesrepublik verursacht. Wir haben uns auch mit den Fragen einer Modifizierung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler beschäftigt.
Das Bundeskabinett hat beschlossen, daß die Bundesregierung erwartet, daß die ersten freien Wahlen in der DDR am 18. März 1990, also am kommenden Sonntag, zu einer Stabilisierung der Verhältnisse in der DDR führen. Die von uns angestrebte Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft mit sozialer Absicherung als erster Schritt zur Vollendung der deutschen Einheit wird die Lebensverhältnisse für die Deutschen in der DDR in kurzer Zeit verbessern und schrittweise zu einer Angleichung an die Bundesrepublik führen. Mit diesen besseren Perspektiven können die Bewohner der DDR veranlaßt werden, in der DDR zu bleiben und am Neuanfang mitzuwirken. Eine solche Entwicklung wird dazu führen, daß die Notwendigkeit für ein förmliches Aufnahmeverfahren entfallen wird. Dabei bleibt das Recht auf Freizügigkeit für alle Deutschen unberührt. Da das Aufnahmeverfahren gesetzlich geregelt ist, ist der Bundesinnenminister gebeten worden, die erforderlichen Gesetzesänderungen vorzubereiten.
Ich will daran erinnern, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, daß ich am 17. Januar an dieser Stelle aus der Kabinettsitzung berichtet habe, daß die
Bundesregierung der Auffassung ist, daß der Zustrom von Übersiedlern für beide Teile Deutschlands ein wachsendes Problem ist, daß wir das Aufnahmeverfahren aber so lange brauchen, wie die Übersiedlerzahlen so hoch sind wie derzeit, wobei wir hoffen, daß die Zahl der Übersiedler bald zurückgehen wird. Wir gehen davon aus, daß wir das Aufnahmeverfahren abschaffen können, sobald die Voraussetzungen entfallen sind.
Die Bundesregierung hat mit diesem Beschluß erneut bestätigt, daß wir Mauern aus Beton nicht durch Mauern aus Paragraphen ersetzen werden. Niemand weiß ganz genau und ganz sicher, wie die Entwicklung nach dem 18. März, nach dem kommenden Sonntag, sein wird. Deshalb bin ich gebeten worden, die Vorbereitungen für gesetzliche Änderungen jetzt zu ergreifen, ohne daß wir uns jetzt auf einen Termin für die Abschaffung des Aufnahmeverfahrens festlegen können.
Ich will in diesem Zusammenhang auch noch ergänzend darauf hinweisen, daß mit dem Aufnahmeverfahren an materiellen Leistungen zusammenhängen: 200 DM Bergrüßungsgeld und ein Einrichtungsdarlehen von 4 000 DM, das um 4 % zinsverbilligt wird und zwei Jahre tilgungsfrei ist. Das sind die materiellen Leistungen, die mit dem Aufnahmeverfahren zusammenhängen. Mehr ist es nicht.
Ich will zur Unterscheidung darauf hinweisen, daß wir uns im Kabinettausschuß Deutsche Einheit - darüber haben wir auch die Fraktion unterrichtet - darauf vorbereiten, in welchen Schritten wir die deutsche Einheit auch in Richtung auf eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialgemeinschaft herbeiführen können, wobei es im Zuge dieser Schritte auch zu einer Angleichung der sozialen Sicherungssysteme in beiden Teilen Deutschlands kommen wird.
In der Frage der Verfahren zur Aufnahme von Aussiedlern hat das Bundeskabinett ebenfalls bestätigt, was ich am 17. Januar dem Hohen Hause als Absicht vorgetragen habe. Ich habe damals schon vorgetragen, daß die Bundesregierung den Bundesländern vorschlagen wird, daß wir die Aufnahme der Aussiedler von dem vorherigen Durchlaufen eines Aufnahmeverfahrens im Heimatland abhängig machen. Wir haben darüber in einer Bund-Länder-Kommission seit dem 26. Januar ein grundsätzliches Einvernehmen er15544
zielt, und wir haben heute beschlossen, daß die Bundesregierung bereit bleibt, weiterhin deutsche Aussiedler aus den Gebieten aufzunehmen, in denen sie bis jetzt ein besonderes Kriegsfolgeschicksal zu tragen haben.
Dies setzt im Interesse der Betroffenen und der einheimischen Bevölkerung ein geordnetes und effizientes Aufnahmeverfahren voraus. Deshalb ist das bisherige Verfahren auf gesetzlicher Grundlage als Aufnahmeverfahren so auszugestalten, daß es von allen Aussiedlern vom Herkunftsgebiet aus obligatorisch beim Bundesverwaltungsamt zu durchlaufen ist. Die Länder sind mit Entscheidungsbefugnis, insbesondere auch in den Fragen der Staatsangehörigkeit, in das Verfahren einzubeziehen. Das für die Aussiedlereigenschaft wichtige Kriterium des Kriegsfolgeschicksals - häufig „Vertreibungsdruck" genannt - ist den geänderten Verhältnissen in den Herkunftsgebieten anzupassen, was wir fortlaufend entsprechend der Entwicklung in den Herkunftsländern mit den Bundesländern, die dafür ja die primäre Zuständigkeit haben, abstimmen werden.
Der Bundesinnenminister ist heute durch den Beschluß des Kabinetts beauftragt worden, die notwendigen Gesetzesänderungen für dieses obligatorische D-1-Verfahren und auch die sonst erforderlichen Maßnahmen einzuleiten.
Danke schön. - Das Wort zu diesen Themenkomplexen hat Frau Abgeordnete Hämmerle.
Herr Minister, ich gehe davon aus, daß Sie sich erinnern, daß am 15. Februar dieses Haus über zwei SPD-Anträge beraten hat, die das Ziel hatten, das Notaufnahmeverfahren abzuschaffen und das Bundesvertriebenengesetz zu ändern. In jener Debatte haben Sie uns das Schüren von Neid und Mißgunst vorgeworfen. Aus dem Munde von Herrn Rühe war zu jenem Zeitpunkt auch die Rede davon, wir seien der Spaltpilz der Nation.
Ich frage Sie, was Sie veranlaßt hat, Ihrerseits drei Wochen nach dieser Debatte Vorschläge im Kabinett einzubringen und zu beraten, die den Inhalt unserer Anträge im wesentlichen wiedergeben, und ich frage Sie des weiteren, ob Sie bereit sind, diese polemischen Aussagen, die ich eben zitiert habe, zurückzunehmen.
Herr Bundesminister, bitte!
Frau Kollegin Hämmerle, ich habe das Protokoll der Sitzung dieses Hohen Hauses vom 17. Januar hier, selbstverständlich auch das von der Debatte am 15. Februar. Ich habe damals das gesagt, was ich heute noch einmal vorgetragen habe. Die Bundesregierung hat diese Entscheidung heute ausdrücklich bestätigt. Es kann überhaupt keine Rede davon sein, daß wir die Position vom Januar heute verändert haben.
Ich habe in der Debatte am 15. Februar u. a. ausgeführt, daß Sie mit Ihren Anträgen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern suggerieren, es würde sich irgend etwas an der Wanderungsbewegung von Ausund Übersiedlern ändern, wenn wir diesen Anträgen nachkämen. Dieser Auffassung bin ich noch heute. Der Zustrom von Übersiedlern ist eine Folge der Verhältnisse in der DDR und der mangelnden Zuversicht der Menschen in der DDR auf Besserung in der DDR. Er ist nicht eine Folge des Aufnahmeverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland. Deswegen antwortet das Aufnahmeverfahren auf die tatsächliche Lage in der DDR. Der Eindruck, mit einer Beseitigung des Aufnahmeverfahrens zum jetzigen Zeitpunkt würde sich an den Problemen irgend etwas ändern, war am 15. Februar falsch, und er ist auch heute falsch. Deswegen tut es mir leid: Erstens habe ich mich nicht polemisch geäußert, und zweitens kann ich es nicht zurücknehmen, weil meine Auffassung in der Sache völlig unverändert ist.
Frau Hämmerle, Sie haben eine Nachfrage.
Herr Minister, da die Zeit kurz ist, möchte ich Sie nun etwas anderes fragen.
Sie sprechen von einer Modifizierung des Aufnahmeverfahrens für Aussiedler. Denken Sie vielleicht in drei Wochen auch daran - wie in dem jetzigen Fall des Notaufnahmegesetzes -, den SPD-Antrag „Änderung oder Beendigung des Bundesvertriebenengesetzes" zu übernehmen?
Frau Kollegin Hämmerle, es tut mir furchtbar leid; man sollte auch in Frageform nicht völlig falsche Behauptungen hineinpacken. Deshalb muß ich zunächst das, was in Ihrer Frage wahrheitswidrig unterstellt wird, richtigstellen.
Ich habe gesagt, die Bundesregierung hat die Erwartung, daß nach dem 18. März mit der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialgemeinschaft als erstem Schritt zur deutschen Einheit eine rasche Besserung der Verhältnisse in der DDR entstehen kann, daß eine solche Entwicklung die Bewohner der DDR veranlassen kann, in der DDR zu bleiben - was wir seit langem hoffen; das sage ich seit eineinhalb Jahren von dieser Stelle aus - und daß eine solche Entwicklung, wenn sie eintritt, dazu führt, daß die Notwendigkeit für ein förmliches Aufnahmeverfahren entfallen kann. Das ist überhaupt nichts anderes. Dabei muß es auch bleiben. Ich betone noch einmal: Das Recht auf Freizügigkeit für alle Deutschen bleibt unberührt.
Was das Aufnahmeverfahren für Aussiedler betrifft, so will ich Sie darauf hinweisen, daß ich auch schon am 17. Januar hier wörtlich gesagt habe - ich darf zitieren, Frau Präsidentin - :
Wir beabsichtigen allerdings, die aussiedlerbezogenen Leistungen in Zukunft an die Voraussetzung zu knüpfen, daß von den Aussiedlern vor der Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland das D-1-Verfahren durchlaufen worden ist, weil wir denken, daß es im Interesse der Aussiedler selbst ist, wenn wir beim Zuzug in die Bundesrepublik Deutschland zu einer größeren Ordnung kommen . . .
Sie sehen, wir haben unsere Position in den letzten
drei Wochen nicht geändert, und wir werden sie in
den nächsten drei Wochen nicht ändern. Die Menschen in Deutschland können sich darauf verlassen, daß die Bundesregierung bei ihren Zusagen bleibt.
({0})
Zu einer Frage Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Bundesminister, gerade weil ich begrüße, was Sie an Beschlüssen gefaßt haben und eben noch einmal klargelegt haben über die sogenannten Anreize für Übersiedler - man könnte ergänzen, daß im Gegensatz zur Meinung mancher Leute ein Lebensunterhaltssatz von 4,30 DM pro Tag zum Leben für einen Familienangehörigen eines nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehenden Aussiedlers kein Anreiz ist -, frage ich Sie: Habe ich Sie richtig verstanden, daß die Bundesregierung zwar einerseits mit ihrer Politik fortsetzt, die Verhältnisse in der DDR so zu ändern, daß der Übersiedlungsdruck entfällt, daß aber andererseits, solange Übersiedler kommen, die Freizügigkeit im Bundesgebiet durch Aufnahmegesetz eingeschränkt bleibt und wir die Kommunen nicht allein lassen mit der Betreuung derer, die hier Obdach suchen?
Herr Kollege Lüder, zunächst bin ich Ihnen dankbar dafür, daß Sie noch einmal betonen - ich glaube, das ist wirklich notwendig und richtig - , daß es nicht materielle Leistungen in der Bundesrepublik Deutschland für Übersiedler sind, die die Menschen veranlassen, ihre Heimat zu verlassen.
Zweitens. Wir haben mit dem Aufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland die Möglichkeit, Übersiedler auf die Länder zu verteilen, weil wir andernfalls die Länder bei einer zu großen Konzentration auf einzelne Länder dabei allein ließen, mit dieser Belastung fertig zu werden. Der Deutsche Bundestag hat mit Zustimmung des Bundesrates im vergangenen Jahr ein Gesetz geschaffen, daß es den Ländern ermöglicht, Aus- und Übersiedler, die nicht oder noch nicht selbst für eine Wohnung oder für einen Arbeitsplatz sorgen können, auf die Städte und Gemeinden ihres Landes zu verteilen. Insofern wird die Freizügigkeit für Aus- und Übersiedler marginal berührt, aber sie wird im Kern nicht betroffen. Diese Verteilungsmöglichkeit haben die Länder; sie ist auch notwendig. Im übrigen bleibt die Freizügigkeit für alle Deutschen erhalten.
Bitte, eine weitere Frage!
Darf ich den Beschluß, den Sie vorgelesen haben, so verstehen, daß die Bundesregierung auch keinen sozialen Druck zur Einschränkung der Freizügigkeit auszuüben beabsichtigt, wie er in manchen Bundesratsinitiativen angelegt zu sein scheint?
Die Bundesregierung beabsichtigt nicht, wie ich gesagt habe, einen solchen Druck auszuüben. Wir werden Mauern aus Beton nicht durch Mauern aus Paragraphen ersetzen. Unsere Politik zielt darauf ab, so rasch und so wirkungsvoll wie irgend möglich - das hängt von den Entscheidungsträgern in der DDR nach dem
18. März ab - , die Lebensverhältnisse für die Deutschen in der DDR zu verbessern, weil das für die Menschen im geteilten Deutschland hüben und drüben der bessere Weg ist.
Zu diesem Komplex zuerst Herr Abgeordneter Werner, dann Herr Hirsch.
Herr Bundesminister, ich möchte Sie in bezug auf den Vertreibungsdruck fragen, ob Sie auch vor dem Hintergrund der Generationenfolge, der Dritt- und Viertgeneration, und der Frage des indirekten Vertreibungsdrucks Überlegungen angestellt haben; denn dies ist nach meiner Auffassung insbesondere in Verbindung mit einer Beschleunigung des D-1-Verfahrens zu sehen. Haben Sie auch in puncto Beschleunigung des Verfahrens daran gedacht, daß, wenn man es jetzt zur Vorbedingung macht, daß in jedem Fall der Antrag auch im Herkunftsland gestellt werden muß, die entsprechenden Botschaften und Konsulate sowohl personell als auch sächlich in entsprechender Weise aufgestockt werden müßten?
Ich bitte Sie aber auch um eine Antwort zu der ersten Frage; denn es könnte hier der Eindruck aufkommen, daß bestimmte Stichtage und Termine, wie sie auch schon in diesem Hause diskutiert worden sind, vielleicht plötzlich im Kabinett auch erörtert worden sind.
Wir haben solche Erörterungen heute im Kabinett nicht angestellt, Herr Kollege Werner. Ich will aber ergänzend darauf hinweisen, daß das Staatsangehörigkeitsrecht im Vollzug Ländersache ist, daß das Bundesverwaltungsamt, soweit es tätig wird, nur für die Länder tätig werden kann, weswegen in unserem Beschluß, den ich Ihnen vorgetragen habe, ausdrücklich für das beim Bundesverwaltungsamt durchzuführende D-1-Verfahren erklärt wird: Die Länder sind mit Entscheidungsbefugnis, insbesondere auch in den Fragen der Staatsangehörigkeit, in das Verfahren einzubeziehen, weil niemandem geholfen wäre, wenn wir eine vorläufige Entscheidung durch das Bundesverwaltungsamt hätten, die das letztlich zuständige Bundesland dann im endgültigen Verfahren nicht bestätigen würde.
Dies gilt auch für die Frage des Vertreibungsdrucks oder Kriegsfolgeschicksals, von dem ich gesagt habe, daß wir diese Fragen im Einvernehmen mit den Ländern entsprechend der Entwicklung in den Herkunftsstaaten fortlaufend anpassen werden.
Ich denke, zur Bewältigung der Probleme, die sich durch die Zuwanderung von Aus- und Übersiedlern für die Bundesrepublik Deutschland als Ganzes, für Bund, Länder und Gemeinden, stellen, die zunehmend größer werden, ist es um so notwendiger, ein Einvernehmen zwischen Bund und Ländern auch in der Zukunft zu erhalten, auch bei unterschiedlichen, zum Teil parteipolitisch motivierten Ausgangspositionen.
Was die notwendigen Stellen im Bereich des Auswärtigen Amtes anbetrifft, haben wir schon bei der Beschlußfassung im Januar, von der ich berichtet und auf die ich Bezug genommen habe, ausdrücklich fest15546
gelegt, daß diese Stellen im Haushalt des Auswärtigen Amtes geschaffen werden müssen. Sie sind im Nachtragshaushalt für 1990 enthalten.
Herr Werner, Sie haben noch eine Zusatzfrage.
Darf ich zum Komplex Übersiedler, weil er auch angesprochen worden ist, noch eine Nachfrage stellen? - Wir können davon ausgehen, daß sich in der Tat die Überlegungen der Bundesregierung dann konkretisieren lassen, auch im Bereich der gesetzlichen Veränderung hier, wenn wir die Einheit im Bereich der Wirtschaft und der Währung und damit auch weitestgehend im Bereich des Arbeitsrechts zwischen der Bundesrepublik Deutschland auf der einen Seite und der DDR auf der anderen Seite haben? Hintergrund meiner Frage ist, daß wir vermeiden müssen, auf einmal mit einem Staatsangehörigkeitsrecht unterschiedlicher Qualität zu operieren.
Was das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland und den Menschen, die in diesen beiden Staaten wohnen, anbetrifft, glaube ich nicht, daß wir jemals unterschiedliche Staatsangehörigkeiten hab en werden, Herr Kollege Werner, weil diese Bundesregierung allen Anzeichen widerstanden hat, eine eigene Staatsangehörigkeit der DDR anzuerkennen.
Sie haben mich richtig verstanden, wenn Sie mich, als ich den Beschluß des Kabinetts zitiert habe - das will ich wiederholen - , dahin gehend verstehen, daß wir, sobald in der DDR eine Stabilisierung eingetreten ist, d. h. die Menschen drüben hoffentlich möglichst unmittelbar nach den ersten freien Wahlen am 18. März feste Zuversicht auf eine Besserung der Situation haben und der Übersiedlerstrom zurückgeht, das Übernahmeverfahren nicht mehr brauchen. Wenn wir es nicht mehr brauchen, dann wollen wir es auch sofort abschaffen. Dazu soll ich jetzt schon die gesetzlichen Vorbereitungen treffen, um dann unmittelbar handeln zu können. Wann es sein wird, kann hier niemand entscheiden. Es wird sich in der DDR entscheiden.
Herr Menzel, ich darf Sie fragen, ob sich Ihre Fage auf diese beiden Komplexe oder auf das Wohngeld bezieht.
({0})
- Wenn Sie eine Sekunde warten würden! Dann noch einmal Herr Hirsch.
Herr Minister Schäuble, man hört von wahlkämpfenden Landespolitikern unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, die ich hier nicht weiter aufzuzählen brauche, immer wieder die Behauptung, man könnte durch die Aufhebung des Notaufnahmegesetzes Milliarden DM sparen, die man besser in der DDR ausgeben könnte. Haben denn solche Überlegungen irgendeine Rolle gespielt? Kann man das quantifizieren, und können Sie uns zu diesen Behauptungen etwas sagen?
Die Bundesregierung ist nicht der Auffassung, daß auf diesem
Weg Milliarden DM oder auch nur vergleichbar kleinere Beträge einzusparen seien. Art. 11 unseres Grundgesetzes gilt, d. h. es herrscht Freizügigkeit. Ein Deutscher, der aus welchen Gründen auch immer seine Wohnung wo auch immer, ob in München oder Hamburg, aufgegeben hat und an einem anderen Ort ist und dort keine Wohnung hat, ist nicht nur sozialhilfeberechtigt, wenn er keine eigenen Mittel für den Lebensunterhalt hat, sondern er ist als Obdachloser auch unterzubringen.
Im übrigen sind die Verhältnisse in den meisten Obdachlosenheimen in den Städten der Bundesrepublik Deutschland im Durchschnitt nicht schlechter als die in den Turnhallen, in denen viele Übersiedler zur Zeit untergebracht sind.
Es geht nicht um Sparmaßnahmen; es ist hier auch nichts einzusparen. Es ist richtig, daß es um so besser für alle Beteiligten ist, je schneller die Hilfe in der DDR wirken kann. Aber die Voraussetzungen dafür müssen in der DDR geschaffen werden. Wir hoffen gemeinsam, daß die ersten freien Wahlen am 18. März die Weichen für eine rasche, wirkungsvolle Hilfe in der DDR stellen werden.
({0})
Frau Beck-Oberdorf, Sie haben zu diesem Komplex noch eine Frage?
Zum Bereich Fremdrentenrecht. Auch das gehört ja zum Thema Aus- und Übersiedler.
Ja.
: Herr Minister, heute war der Presse zu entnehmen, daß die Bundesregierung daran denkt, nach dem 18. März das Fremdrentenrecht auslaufen zu lassen. Es wurde auch gesagt, daß die Rentner und Rentnerinnen aus der DDR dann mit Einbußen zu rechnen hätten. Bedeutet das, daß Sie daran denken, einen Umtauschkurs von 1 : 1 anzurechnen, wenn dann die Währungsunion da ist? Würden Sie sich bitte dazu äußern?
Wenn es auch schwierig ist: Falls es geht, kurz.
Frau Präsidentin, ich kann es ganz kurz machen. Es handelt sich ja um eine Berichterstattung aus der Kabinettssitzung. Wir haben uns mit diesen Fragen heute im Kabinett nicht beschäftigt. Wir haben allerdings den Unterschied, den ich hier vorgetragen habe, noch einmal ausdrücklich klargestellt. Wir reden jetzt von dem, was wir in der Bundesrepublik Deutschland einseitig zu entscheiden haben, z. B. über das Aufnahmeverfahren, bei dem wir der Meinung sind, es antwortet auf die tatsächliche Lage des Zustroms von Übersiedlern und damit auf die Verhältnisse in der DDR.
Eine völlig andere, davon getrennte Frage, die wir heute auch nicht behandelt haben - deswegen wird die Antwort kurz bleiben können und müssen - , ist, welche Schritte im einzelnen zur Herstellung der
Wirtschafts-, Währungs- und Sozialgemeinschaft als notwendige erste Stufen zur Vollendung der deutschen Einheit getan werden müssen. Eine Entscheidung darüber können wir hier nicht einseitig treffen, sondern dies müssen wir mit den am 18. März zu wählenden demokratisch legitimierten Vertretern der DDR besprechen. Dann müssen wir gemeinsam die notwendigen Schritte möglichst rasch in die Tat umsetzen.
Eine Frage zum Wohngeld, Herr Abgeordneter Menzel.
Auf der Tagesordnung des Kabinetts stand heute ein Entwurf zur Novellierung des Wohngeldgesetzes. Ich frage die Regierung: Wird dieser Entwurf den Forderungen der SPD, die sich ja schon in der Beratung befinden, a) hinsichtlich der Pauschalierung des Wohngeldes für Sozialhilfeempfänger und b) hinsichtlich einer generellen Anhebung des Wohngeldes und einer strukturellen Verbesserung voll Rechnung tragen?
({0})
Herr Kollege, die Bundesregierung hat schon bei der Vorlage des Wohngeld- und Mietenberichts kundgetan, daß eine Anpassung des Wohngeldes zum 1. Oktober 1990 erfolgen soll. Der Gesetzentwurf dazu wurde heute im Kabinett beschlossen. Er enthält zwei wesentliche Punkte, einmal die Anpassung des Wohngeldes an die Einkommens- und Mietenentwicklung der Jahre seit der letzten Wohngeldanpassung und als zweites die Pauschalierung, d. h. eine Vereinfachung der Wohngeldauszahlung für Sozialhilfeempfänger. Letzteres ist in meinem Hause schon vor längerer Zeit erarbeitet worden. Der von der SPD zu dieser Frage vorgelegte Gesetzentwurf ist - das wissen Sie - von dem vorliegenden Entwurf, der in meinem Haus erarbeitet wurde, wortwörtlich abgeschrieben.
Die Anpassung des Wohngeldes beträgt durchschnittlich 14 %. Sie trägt damit der Mietenentwicklung in den letzten vier Jahren voll Rechnung. Es wird so angepaßt, daß auch der Entwicklung in den Städten mit überdurchschnittlichem Mietenanstieg Rechnung getragen wird, und zwar dergestalt, daß in den Städten und Gemeinden der Mietenstufen IV, V und VI eine überdurchschnittliche Erhöhung des Wohngeldes erfolgt.
Sie haben eine Nachfrage, Herr Kollege Menzel.
Wenn ich das richtig verstanden habe, gehen Sie, Frau Minister, von einer durchschnittlichen Mieterhöhung von 14 % aus, d. h. Sie fangen mit der Wohngeldnovelle nicht die galoppierende Mietenentwicklung auf, von der es in bezug auf die Neuvermietungen im Wohngeldbericht sogar heißt, daß die Mietsteigerungen bis zu 20 % betragen und daß dabei in der Regel die Obergrenzen des Wohngeldes überschritten werden, d. h. nicht mehr durch Wohngeld abgedeckt werden. Das bedeutet,
daß Ihre Vorlage heute schon hinter der Mietenentwicklung herhinkt.
Die durchschnittliche Anpassung des Wohngeldes orientiert sich an der durchschnittlichen Mietenerhöhung der letzten Jahre. Sie lag sogar in der Fortschreibung bis zum 1. Oktober 1990, d. h. bis zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Novelle, bei weniger als 14 %, nämlich bei gut 12 %. Dadurch, daß wir in den Städten und Gemeinden, in denen das Mietenniveau entsprechend stärker gestiegen ist, eine überdurchschnittliche Anpassung vornehmen, tragen wir der Mietenentwicklung auch in diesen Orten Rechnung. Im übrigen - das wissen Sie - sind etwa 40 % der Wohngeldempfänger Mieter von Sozialwohnungen, die auf jeden Fall deutlich unter den Höchstgrenzen liegen.
Wir kommen zu anderen aktuellen Fragen.
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Penner erbeten.
Bundesminister Norbert Blüm hat Oskar Lafontaine als Erfüllungsgehilfen der SED und Zwillingsbruder von Gysi bezeichnet. Hat das Bundeskabinett heute darüber beraten, daß der Bundeskanzler als Zwillingsbruder von Herrn Schnur und Erfüllungsgehilfe der Stasi bezeichnet werden muß, nachdem sich Schnur zu seiner Mitarbeit im Staatssicherheitsdienst bekannt hat?
({0})
Wen darf ich bitten, dazu zu antworten? - Den Vertreter des Bundeskanzleramts. Bitte, Herr Staatsminister, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, erstens hat sich das Bundeskabinett heute nicht mit Herrn Schnur befaßt. Zweitens muß ich Ihre Formulierung mit großem Nachdruck und mit großer Entschiedenheit zurückweisen. Das ist eine unglaubliche Unterstellung.
({0})
- Ich habe das zu kritisieren, was Sie, Herr Kollege, hier vorgetragen haben. Mit den Tätigkeiten von Herrn Schnur haben wir uns heute nicht befaßt.
Eine Nachfrage, bitte schön.
Darf ich aus Ihrer Kritik entnehmen,
({0})
daß Sie auch die Bemerkungen von Herrn Blüm in bezug auf Herrn Lafontaine, die ich nicht kommentiert habe, kritisieren?
Herr Kollege, ich persönlich wäre immer vorsichtig, irgend jemanden als Zwillingsbruder von irgend jemandem zu bezeichnen.
({0})
Frau Dr. Hamm-Brücher, bitte sehr, Sie haben das Wort.
Ich möchte die Bundesregierung fragen, ob sie nicht auch große Sorgen hat, daß derlei persönliche Diffamierungen - von wem auch immer sie stammen und gegen wen auch immer sie gerichtet sind - unsere Landsleute in der DDR ungeheuer verunsichern und sie nicht gerade für die Form unserer Demokratie, wie sie im Wahlkampf praktiziert wird, einnehmen?
({0})
- Von allen Beteiligten. Ich frage für uns alle.
Herr Dr. Stavenhagen.
Frau Kollegin, die Bundesregierung hat sich in der Tat heute nicht mit dem Wahlkampf in der DDR befaßt.
({0})
Aber ich will darauf hinweisen, daß Anschuldigungen und Verdächtigungen über frühere Verwicklungen mit der Stasi interessanterweise immer nur einen ganz bestimmten Teil der Repräsentanten der DDR betreffen und andere Teile interessanterweise in solchen Verdächtigungen nicht vorkommen. Auch dies sollte uns sehr zu denken geben und zu Sorge Anlaß geben.
({1})
Frau Dr. Hamm-Brücher, Sie haben eine weitere Frage.
Herr Staatsminister Stavenhagen, Sie haben meine Frage nicht genau verstanden.
({0})
Die Frage der persönlichen Diffamierung ist ja nur ein Teil der Entartungen im DDR-Wahlkampf. Aber ich meinte die unsachliche polemische Auseinandersetzung generell. Ich frage mich, ob es für unsere Landsleute dort drüben ein überzeugender Eintritt in eine freiheitliche Demokratie ist, wie es von unseren Vertretern aus da drüben zugeht.
Frau Kollegin, die Bundesregierung kann nicht Zensor von Wahlkämpfern sein. Ich kann Ihnen nur sagen: Was Ihnen dort gelegentlich entgegenschallt und mit welchen Methoden dort versucht wird, Bürger, die zum ersten Mal die Chance haben, frei von ihrem
Wahlrecht Gebrauch zu machen, zu verwirren, ist eine ganz schlimme Sache und sicher nicht der Wahl am kommenden Sonntag zuträglich. Ich hoffe sehr, daß die letzten Tage vor der Wahl uns von weiteren solchen Versuchen verschonen.
Eine weitere Frage, Herr Abgeordneter Stobbe.
Aus welchem Grund hat das Bundeskabinett heute erneut nicht über eine Änderung des Bundeswahlgesetzes beraten, auf dessen Übernahme nach Berlin wir warten, damit am 2. Dezember auch in Berlin ({0}) direkt zum Deutschen Bundestag gewählt werden kann? Und bis zu welchem Zeitpunkt muß das Bundeswahlgesetz spätestens geändert sein, damit sich die wahlberechtigte Bevölkerung von Berlin ({1}) direkt an den Wahlen zum Deutschen Bundestag beteiligen kann?
Herr Dr. Schäuble.
Herr Kollege Stobbe, Sie wissen, daß wir eine solche Änderung des Bundeswahlgesetzes mit den für Berlin verantwortlichen Mächten konsultieren müssen. Die drei alliierten Schutzmächte haben in den Konsultationen darauf Wert gelegt, daß vor einem Abschluß der Konsultationen irgendwelche gesetzgeberischen Initiativen nicht ergriffen werden. Die Konsultationen sind nach der Kenntnis des für das Wahlgesetz zuständigen Bundesinnenministers nicht abgeschlossen. Deswegen ergreifen wir so lange auch keine Initiative.
Sie wissen - das sage ich nun außerhalb meiner unmittelbaren Zuständigkeit, aber wir brauchen ja nicht so darum herumzureden -, daß bei der Frage natürlich auch eine Rolle spielt, ob drei oder vier Mächte in dieser Frage zu konsultieren sind. Ich habe diese Frage auch mit dem Regierenden Bürgermeister von Berlin mehrfach erörtert. Es gibt im Hinblick auf aktuelle Entwicklungen in Deutschland als Ganzem natürlich eine Reihe von Gesichtspunkten, die es nahelegen, diese spezifische Frage nicht zu einem ausgesprochenen Kontroverspunkt mit der vierten für Deutschland und Berlin als Ganzes zuständigen Macht werden zu lassen. Deswegen kann ich Ihnen die Frage, bis wann eine Initiative ergriffen wird, nicht beantworten. Sie wissen selber, und ich weiß, daß die Zeit für eine noch zum vorgesehenen Wahltermin am 2. Dezember 1990 wirksame Änderung des Wahlgesetzes sehr knapp ist, weil wir, glaube ich, sechs Monate vor der Wahl das Gesetz verabschiedet haben müßten.
Herr Abgeordneter Stobbe, Sie haben noch eine weitere Frage.
Herr Bundesminister, mir sind die Prozeduren sehr wohl bekannt. Aber ich möchte noch einmal nachfragen. Die Drei Mächte haben ja wohl gegenüber der Bundesregierung und auch gegenüber dem Senat von Berlin ihre Zustimmung im Grundsatz bereits erteilt. Worauf führen Sie denn jetzt die politischen Hindernisse zurück, die sich offenbar aufgeStobbe
baut haben und die es unmöglich machen, diesen Gesetzentwurf im Bundeskabinett zu beschließen?
({0})
Was den Bundesinnenminister betrifft, darf ich sagen: Ich weiß sehr wohl, daß sie grundsätzlich Sympathie für das Anliegen geäußert haben. Aber sie haben noch nicht zugestimmt, sondern sie haben nach den mir vorliegenden Unterrichtungen ausdrücklich gesagt, vor einem Abschluß der Konsultation, der nicht erreicht sei, bäten sie keine Initiative zu ergreifen. Daran halte ich mich als Bundesinnenminister im Interesse von Deutschland als Ganzem und insbesondere im Interesse von Berlin.
Zu dieser Frage Herr Kollege Heimann, bitte.
Herr Bundesminister Schäuble, auch ich möchte zu diesem Thema einige Fragen an Sie richten. Sind Sie der Meinung, daß es ganz und gar unerträglich wäre, wenn in allen Teilen Deutschlands direkt zu einem nationalen Parlament gewählt werden würde und nur in einem Teil Berlins - nicht einmal in ganz Berlin - dies nicht der Fall wäre? Und sind Sie deshalb der Auffassung, daß in jedem Fall sichergestellt werden muß, daß auch die wahlberechtigte Bevölkerung von Berlin ({0}) sich an den nächsten Bundestagswahlen direkt beteiligen kann?
Herr Bundesminister.
Herr Kollege, der Bundeskanzler hat auf eine entsprechende Frage des Regierenden Bürgermeisters von Berlin bereits im Dezember vergangenen Jahres ja ausdrücklich gesagt, daß auch die Bundesregierung daran interessiert ist und wünscht, daß die Berliner unmittelbar und direkt an den Wahlen zum Deutschen Bundestag beteiligt werden können. Aber dies muß sich ohne Schäden für Berlin und Deutschland vollziehen. Deswegen waren wir uns auch einig - auch zwischen der Bundesregierung und dem Senat von Berlin -, daß das natürlich mit den für Berlin verantwortlichen Mächten abschließend konsultiert sein muß. Da dies nicht abgeschlossen ist, würde ich meinen, der Schaden oder die Gefahr für Berlin wären noch größer, wenn wir dagegen verstießen.
Wenn ich mir noch eine Bemerkung erlauben darf. Sie haben gefragt, wie das denn in einer Zeit sei, an der möglicherweise alle in Deutschland an Direktwahlen beteiligt sind und ausgerechnet Berlin nicht. Ich hoffe ja, daß wir nach dem 18. März bald zu einer Einheit der beiden Staaten in Deutschland kommen. Dann werden wir ja vielleicht nicht sogleich in einer gemeinsamen Wahl Abgeordnete für ein gesamtdeutsches Parlament wählen; aber wir werden je nachdem, welchen verfassungsrechtlichen Weg wir gehen, beispielsweise möglicherweise eine Zuwahl haben, und es wäre ja in einem solchen Fall denkbar, daß auch Berlin ({0}) in einen solchen Prozeß einer Zuwahl oder Nachwahl - wie immer Sie das untechnisch nennen wollen - einbezogen würde.
Also unerträglich, ganz und gar unerträglich erscheinen mir die Risiken eines geordneten Konsultationsverfahrens für Berlin nicht. Das Gegenteil allerdings erschiene mir als unverträgliches Risiko.
Ich habe die Aussprachezeit um einige Minuten verlängert. Bitte, Herr Abgeordneter Kalisch, dazu noch.
Herr Minister, Sie haben eigentlich die Antwort schon weitgehend gegeben. Wir haben uns ja das direkte Wahlrecht in Berlin gewünscht. Aber glaubt die Bundesregierung nicht, daß im Hinblick auf die neue Situation - der Wunsch stammt ja aus alter Zeit - unnötig der Eindruck erweckt werden könnte, daß durch die Novelle zum Bundeswahlgesetz die Teilung Berlins in diesem Wahlgesetz geradezu festgeschrieb en würde?
({0})
Herr Kollege Kalisch, die Bundesregierung ist der Meinung, daß die Frage der Beteiligung der Berliner an der unmittelbaren Wahl des Bundestages durch die hoffnungsvoll stimmende Entwicklung in Deutschland ein Stück weit an Brisanz verloren hat. Sie ist allerdings nicht der Meinung, daß eine Beteiligung der Berliner an einer Wahl des Bundestages am 2. Dezember, wenn die Voraussetzungen einer Konsultation mit den Alliierten voll erfüllt wären, die deutsche Teilung in irgendeiner Weise festschreiben würde. Das ist nicht die Auffassung der Bundesregierung; auch nicht der vorherigen.
Die allerletzte Frage, Herr Abgeordneter Lüder.
Herr Bundesminister, zu Ihrer vorletzten Antwort hinsichtlich der Nachwahl aus Berlin ({0}): Hat die Bundesregierung einmal geprüft, ob dieses Verfahren rechtlich möglich wäre oder ob nicht der Vertreter der Republikaner, der ja auf jeden Fall im Deutschen Bundestag wäre, auch wenn die Republikaner unter 5 To blieben, nach den geltenden Wahlverfahren im Klageverfahren erfolgreich durchsetzen könnte, hier im Bundestag zu bleiben, bis ordentlich neu gewählt wird?
Herr Kollege Lüder, wir haben diese Prüfung nicht abgeschlossen. Wir prüfen auch diese Fragen. Aber bei der tatsächlichen Situation, daß wir möglicherweise - worauf ja die Frage des Kollegen Stobbe abgezielt hat - in eine Verspannung der Termine um wenige Wochen oder Monate kommen könnten, schiene mir durchaus vorstellbar, daß man vor der nächsten Wahl, wenn sie denn im Berliner Abgeordnetenhaus getroffen werden müßte, entsprechende Vorkehrungen treffen könnte, um einen solchen Anspruch von durch das Berliner Abgeordnetenhaus gewählten Mitgliedern des Deutschen Bundestags zu begrenzen. Aber ich kann Ihnen dazu eine verantwortliche abschließende Antwort im Augenblick noch nicht geben.
Damit ist die Befragung der Bundesregierung beendet. Ich danke den Damen und Herren der Bundesregierung.
Ich rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf:
Fragestunde
- Drucksache 11/6626 Aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen soll die Frage 1 des Abgeordneten Lüder schriftlich beantwortet werden. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr ist die Frage 4 des Abgeordneten Hinsken zurückgezogen worden.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Gröbl steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 5 des Abgeordneten Hiller ({0}) auf:
Wie steht die Bundesregierung zu den Bemühungen in der DDR, die Mülltransporte in die DDR so schnell wie möglich, aber in jedem Fall noch in diesem Jahr zu beenden?
Bitte schön, Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.
Herr Kollege, die Bundesregierung hat für diesbezügliche Bemühungen der Bevölkerung in der DDR großes Verständnis. Sie hält jedoch gerade im Zusammenhang mit dem Zusammenwachsen beider deutscher Staaten eine differenzierte Betrachtung für geboten. Dies gilt insbesondere für die Entsorgungsprobleme des Landes Berlin, das weitgehend auf eine Entsorgung der Abfälle im Umland angewiesen ist.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hiller.
Herr Staatssekretär, hat die Bundesregierung - ich denke insbesondere auch an die Mülldeponie Schönberg - bei den deutsch-deutschen Umweltgesprächen diese Thematik mit der DDR besprochen, und welche Ergebnisse sind dabei herausgekommen?
Sie wissen, daß diese ganze Thematik im Zuständigkeitsbereich der Länder liegt, weshalb auch den Ländern die Verhandlungen mit der DDR in dieser Frage obliegen.
Keine weitere Zusatzfrage. - Dann rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten Hiller ({0}) auf:
Welche Abfall-Konzeption hat die Bundesregierung für den Fall, daß die DDR keine Mülltransporte aus der Bundesrepublik Deutschland in die DDR mehr zuläßt, und in welcher Weise ist die Bundesregierung gegenüber den Ländern vorstellig geworden?
Die Erarbeitung entsprechender Konzeptionen ist Aufgabe der für die Abfallentsorgungsplanung zuständigen Länder. Erforderlichenfalls müssen sie zur Schaffung von Übergangsregelungen zusammenarbeiten.
Die Bundesregierung hat die Länder frühzeitig darauf hingewiesen, daß mit einer Einschränkung der Abfalltransporte in die DDR gerechnet werden muß, und die Dringlichkeit einer entsprechenden Vorsorgeplanung betont.
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Hiller.
Herr Staatssekretär, haben bei diesen Gesprächen auch die von der DDR bestellten Gutachten eine Rolle gespielt, und ist die Bundesregierung jetzt endlich bereit, diese Gutachten, die Sie ja haben, zu veröffentlichen?
Dieses Thema war schon einmal Gegenstand einer Fragestunde. Ich habe darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung nicht in der Lage ist, die von der DDR gewünschte Vertraulichkeit dieser Gutachten von sich aus zu brechen.
({0})
Frau Abgeordnete Beer.
Herr Staatssekretär, ist angesichts der aktuellen Gefahren, die insbesondere von der Mülldeponie Schönberg ausgehen - ich spreche da z. B. die Grundwassergefahr in Lübeck an -, nicht zu erwarten, daß die Bundesregierung nicht nur auf die Länder und deren Aufgaben verweist, sondern selber eine Begehung der Mülldeponie Schönberg vornimmt, um sich zu überzeugen - ich habe das getan - , daß tatsächlich Sickerwasser aus den Gruben in Grundwasserquellen gelangen kann, und ist es nicht trotz der Geheimhaltung der Vermerke, über die eben schon gesprochen wurde, nicht Pflicht der Bundsregierung, diese schnellstmöglich auch der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Frau Kollegin, der Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein hat sich vor Ort über die Qualität der Deponie Schönberg erkundigt und hat sich hierüber in der Öffentlichkeit geäußert. Dies habe ich aus ähnlichem Anlaß hier bereits am 14. September 1989 ausgeführt. Das direkt betroffene Land Schleswig-Holstein ist also in vollem Umfang über die Qualität dieser Deponie informiert.
({0})
Nur eine, Frau Kollegin; Sie hatten schon eine. Sie hatten sich nur zur zweiten Frage gemeldet; es tut mir leid.
Herr Abgeordneter Dr. Emmerlich.
Herr Staatssekretär, treffen Informationen, daß die Regierung der DDR den Wunsch nach Vertraulichkeit aufgegeben hat und die Informationen über das Gutachten freigegeben hat, nicht zu?
Mir ist davon nichts bekannt, Herr Kollege. Wenn die Vertraulichkeit aufgeParl. Staatssekretär Gröbl
geben wird, wird Ihnen die Bundesregierung selbstverständlich dieses Gutachten zur Einsicht geben.
Herr Lippelt dazu, bitte schön.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß bei einer Begehung, wie sie in Schönberg auch stattgefunden hat, normalerweise die Stellen, wo die Sickerwässer ausgehen - ich glaube, das ist auch diesmal der Fall gewesen - , nicht begangen werden? Es werden andere Stellen begangen.
Ich darf doch davon ausgehen, daß sich der Kollege Heydemann vor Ort ausführlich und intensiv umgesehen hat, um sich über die Qualität dieser Deponie einen Eindruck zu verschaffen.
Noch eine Zusatzfrage, bitte, Herr Abgeordneter Hiller.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß der Umweltminister des Landes Schleswig-Holstein eine negative Meinung zum Müllexport hat und daß das Land Schleswig-Holstein das einzige Land ist, das keinen Müll nach Schönberg verbringt?
Mir ist bekannt, daß Schleswig-Holstein nach Bayern und Rheinland-Pfalz das dritte Land ist seit 1989, das keinen Müll mehr in die DDR exportiert.
Danke sehr, Herr Staatssekretär.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung auf. Die Frage 2 des Abgeordneten Stiegler wird schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Wir kommen zur Frage 3 des Abgeordneten Grünbeck:
Wie hoch sind nach Kenntnis der Bundesregierung die von bundesdeutschen Arbeitgebern über die gesetzlichen und tarifvertraglich vereinbarten Leistungen hinaus an ihre Mitarbeiter gezahlten freiwilligen Leistungen zu beziffern, und wie war die Entwicklung dieser Leistungen in den vergangenen Jahren?
Herr Kollege, amtliche Daten über die Höhe der Personalnebenkosten der Betriebe ergeben sich aus der Arbeitskostenerhebung des Statistischen Bundesamtes. Sie wurden zuletzt für das Jahr 1984 veröffentlicht. Die Ergebnisse der Erhebung für das Jahr 1988 werden erst in den nächsten Wochen zur Verfügung stehen.
Die über die gesetzlich oder tarifvertraglich vereinbarten Leistungen hinaus auf Grund einer Betriebsvereinbarung oder freiwillig gezahlten Leistungen der Betriebe lassen sich von den tariflich verursachten Kosten nur sehr ungenau trennen, da viele Aufwendungen gleichzeitig auf tariflichen und/oder betrieblichen oder freiwilligen Regelungen beruhen. Eine zusätzliche Unterteilung der Erhebung nach diesen Kriterien würde zu einer Erschwerung und weiteren Belastung der Arbeitgeber für statistische Zwecke führen.
Versucht man an Hand des vorhandenen Materials eine grobe Abschätzung, so ergibt sich, daß für Betriebe mit zehn und mehr Arbeitnehmern die Kosten für betrieblich vereinbarte oder freiwillig gezahlte Leistungen je Arbeitnehmer im produzierenden Gewerbe von rund 1 600 DM im Jahr 1978 über rund 2 150 DM im Jahr 1981 auf rund 3 130 DM im Jahr 1984, im Groß- und Einzelhandel, Bank- und Versicherungsgewerbe von rund 1 850 DM im Jahr 1978 über rund 2 090 DM im Jahr 1981 auf rund 2 640 DM im Jahr 1984 gestiegen sind. Das sind etwa 11 bis 12 der gesamten Personalnebenkosten.
Zu beachten ist bei der Interpretation dieser Daten, daß von den gesamten Beträgen über drei Viertel auf Aufwendungen für die betriebliche Altersversorgung entfallen.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Grünbeck.
Herr Staatssekretär, würden Sie meine Auffassung teilen, daß die Unternehmen nach diesen Zahlen eine hohe soziale Verpflichtung gegenüber ihren Mitarbeitern eingehen, und würden Sie nicht dafür plädieren, daß man in die Statistik außer den tarifvertraglichen und gesetzlichen Verpflichtungen die Betriebsvereinbarungen über die freiwilligen Leistungen mit einbeziehen muß?
Herr Kollege, auf den ersten Teil Ihrer Frage würde ich mit Ja antworten.
Was den zweiten Teil angeht, so müßte das geprüft werden. Wir scheuen eigentlich davor zurück, den Betrieben weitere administrative Aufgaben zu übertragen. Aber wir können diese Anregung sicherlich prüfen.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, würden Sie meine Meinung vertreten, daß das keine zusätzlichen administrativen Belastungen für die Unternehmen sind, sondern eine Summe der freiwilligen Leistungen ist, die auf Betriebsvereinbarung beruhen, wenn ich beispielsweise auch einmal an das ganze Feld der Vergütung für Verbesserungsvorschläge und ähnliche Dinge denke, die ja alles freiwillige zusätzliche Leistungen darstellen?
Aber, Herr Kollege, um zwischen Sonderleistungen auf Grund von Tarifverträgen und Sonderleistungen, die auf freiwilliger Basis - im Betrieb vereinbart - gezahlt werden, genau zu trennen, müßte man auch noch immer unterscheiden, ob nicht eine Leistung auf zwei Rechtsgrundlagen beruht oder nur auf einer. Diese Unterscheidung dann noch vorzunehmen würde im Betrieb wirklich zu einem Verwaltungsaufwand führen, der aus meiner Sicht nicht angemessen ist.
Es ist richtig, daß die Betriebe sehr viele Sonderleistungen für ihre Arbeitnehmer erbringen. Wir sehen in diesem Teil der Sozialpolitik, im betrieblichen Teil
der Sozialpolitik ja auch ein wesentliches Element der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik.
Danke sehr, Herr Staatssekretär. Damit ist der Bereich Ihrer Fragen beendet.
Wir kommen nunmehr zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation.
Die Fragen 7 und 8 des Abgeordneten Stahl ({0}) werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn steht zur Beantwortung der Fragen zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 9 des Herrn Abgeordneten Antretter auf:
Ist die Bundesregierung der Auffassung, daß diejenigen Personen, die wegen der Blockade von Pershing II-Raketenstützpunkten angeklagt sind, angesichts der Entwicklung in Osteuropa auch auf sicherheitspolitischem Gebiet noch weiterhin strafrechtlich verfolgt werden sollen?
Herr Kollege Antretter, für die Strafverfolgung sind die Justizbehörden der Länder zuständig. Es ist Sache der unabhängigen Gerichte, zu beurteilen, ob Sitzblockaden oder ähnliche Verhaltensformen unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalles strafbar sind.
Herr Staatssekretär, unterstellt, daß Sie eine eigene Meinung zu diesem Problem haben: Können Sie sich denn nicht vorstellen, daß angesichts der gegenwärtigen Entspannungs- und Abrüstungsphase die Verhältnismäßigkeit der Mittel nicht mehr gegeben ist, wenn Menschen gerichtlich verfolgt werden, die genau diesen Zustand, in dem wir uns derzeit befinden, nämlich im Zustand der Entspannung und Abrüstung, angestrebt haben?
Herr Kollege Antretter, alle Fälle, in denen es sich um die Bestrafung wegen Nötigung nach § 240 des Strafgesetzbuchs handelt, sind Einzelfälle und laufende Verfahren, die von den unabhängigen Gerichten beurteilt werden. Die Bundesregierung kann in laufende Verfahren, und zwar aus verfassungsrechtlichen Gründen, nicht eingreifen.
Zweite Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Antretter.
Herr Staatssekretär Jahn, wie beurteilen Sie diesen Tatbestand angesichts der Tatsache, daß Teilnehmer an anderen Blockaden, etwa an der der Brenner-Autobahn, gerichtlich keineswegs verfolgt und - wenn ich mich richtig erinnere - sogar von hoher und höchster staatlicher Seite ermuntert, motiviert und unterstützt wurden?
Herr Kollege Antretter, die Bundesregierung hat das geltende Recht und die geltende Rechtslage stets als sachgerecht angesehen. Sie beabsichtigt keine Änderung des Gewaltbegriffs in § 240 des Strafgesetzbuchs und auch keine
strafrechtlichen Sonderregelungen für Blockadeaktionen.
Ich rufe die Frage 10 des Herrn Abgeordneten Antretter auf:
Ist die Bundesregierung bereit, ein Amnestiegesetz in das Gesetzgebungsverfahren einzubringen, um die Folgen bereits ausgesprochener Verurteilungen wegen Blockade eines Raketenstützpunktes zu beseitigen und die weitere strafrechtliche Verfolgung von noch nicht rechtskräftig verurteilten Personen zu beenden?
Herr Kollege Antretter, die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage des Abgeordneten Häfner und der Fraktion DIE GRÜNEN in der Drucksache 11/5422 vom 20. Oktober 1989 bereits dargelegt, daß sie keinen Anlaß für ein Straffreiheitsgesetz sieht. Die Bundesregierung hat weiterhin keinen Anlaß, zu zweifeln, daß das Instrumentarium, das unser Strafrecht und Strafverfahrensrecht zur Verfügung stellen, jedem Einzelfall gerecht zu werden, auch tatsächlich genutzt wird. Die Mittel, die das geltende Recht zur Verfügung stellt, rechtfertigen die bisherige restriktive Staatspraxis bei Straffreiheitsgesetzen in der Bundesrepublik Deutschland.
Herr Staatssekretär Jahn, sind Sie der Meinung, daß diese Auffassung auch in die veränderte politische Landschaft unserer Tage paßt?
Ich bejahe diese Auffassung. Wenn Sie einmal verfolgen, wann und unter welchen Voraussetzungen wir in der Bundesrepublik Deutschland Straffreiheitsgesetze hatten, dann stellen Sie fest, daß es insgesamt - wenn ich es richtig sehe - nur vier sind, nämlich einmal das Straffreiheitsgesetz aus dem Jahre 1949. Dort wurde ein Schlußstrich unter außergewöhnliche Verhältnisse gezogen, welche die Not des Krieges und der ersten Nachkriegszeit mit sich brachte. Entsprechend war das Straffreiheitsgesetz 1954 konzipiert. Ich empfehle Ihnen, sich auch die Straffreiheitsgesetze von 1968 und 1970 anzusehen. Es waren jeweils außergewöhnliche Fälle.
Haben Sie noch eine Zusatzfrage?
Ja. - Sind Sie bereit, diese Beurteilung und Bewertung der rechtlichen Situation künftig auch bei Blockaden, die nicht vor militärischen Einrichtungen, sondern z. B. auf der von mir angesprochenen Brenner-Autobahn stattfanden, zugrunde zu legen?
Sie werden verstehen, daß ich nicht zum Einzelfall Stellung nehmen kann. Aber Blockade ist Blockade und muß von den unabhängigen Gerichten nach dem geltenden Recht abgeurteilt werden.
Ich darf wiederholen, was die Bundesregierung in der Beantwortung der Kleinen Anfrage vom 20. Oktober 1989 ausgeführt hat. Darin heißt es:
Die Bundesregierung hat stets die Meinung vertreten, Blockadeaktionen stellten strafwürdiges
und strafbares Unrecht dar, und zwar unabhänParl. Staatssekretär Dr. Jahn
gig davon, wer sie veranstaltet oder gutheißt und welchem Ziel sie dienen.
Im übrigen hat das auch der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 5. Mai 1988 zum Ausdruck gebracht, wonach die Fernziele von Blockade und Blockierern bei der Prüfung der Frage der Rechtswidrigkeit außer acht zu bleiben haben.
Zusatzfrage, Herr Dr. Lippelt.
Herr Staatssekretär, können Sie sich erinnern, ob seinerzeit die Bundesregierung den bayerischen Ministerpräsidenten auf diese Meinung hingewiesen und ihn darauf aufmerksam gemacht hat, daß sein Verhalten zur Brenner-Blockade nicht der Meinung der Bundesregierung entspricht?
Ich weiß nicht,ob wir eine Äußerung getan haben. Aber ich habe soeben zur Rechtslage, Herr Kollege, Stellung genommen.
Wenn noch einmal das Straffreiheitsgesetz angesprochen worden ist, dann möchte ich noch sagen dürfen: Nicht nur das Rechtsstaatsprinzip, sondern auch der Gleichheitsgrundsatz setzen einem Straffreiheitsgesetz enge Grenzen. Bei einer Amnestie muß erwartet werden können, daß Straftaten, für die Straffreiheit gewährt wird, für die Zukunft weitgehend unterbleiben. Dies ist nach unseren Erfahrungen jedoch nicht zu erwarten.
Danke sehr, Herr Staatssekretär.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Wimmer steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Frage 11 des Abgeordneten Büchner ({0}), die Frage 12 des Abgeordneten Dr. Kübler und die Frage 13 des Abgeordneten Amling werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 14 des Herrn Abgeordneten Porzner auf:
Treffen Berichte in den Nürnberger Nachrichten vom 7. März 1990 zu, daß die US-Armee beabsichtigt, nach den bayerischen Kommunalwahlen am 18. März 1990 das UH-1-Helikopter Bataillon zusätzlich zu den bereits stationierten Apache-Hubschraubern wieder zu stationieren, und ist die Bundesregierung der Meinung, daß die übergroße Konzentration von Truppen und militärischen Einrichtungen in Ansbach dadurch noch zusätzlich verstärkt werden muß?
Herr Kollege Porzner, die Presseberichte treffen nicht zu. Richtig ist:
Erstens. In Ansbach sind auf dem US-Heeresflugplatz Katterbach seit 1974 US-Kampfhubschrauber stationiert. Es war dies zunächst der Typ AH-1 - nicht UH-1 - mit der Spezialbezeichnung Cobra. Seit der US-Heeresreform von 1986 sind die Kampfhubschrauber in zwei Bataillonen organisiert.
Zweitens. Die in Deutschland stationierten US-Heeresfliegerverbände werden gegenwärtig vom AH-1 Cobra auf das Nachfolgemodell AH-64 Apache umgestellt.
Drittens. Eines der beiden Bataillone in Katterbach ist bereits mit dem neuen Typ AH-64 Apache ausgerüstet.
Viertens. Das zweite Bataillon ist zur Zeit in der Umstellung. Die AH-1 Cobra sind bereits aus Katterbach abgezogen. Die Soldaten dieses Bataillons werden in Fort Hood in den Vereinigten Staaten auf den Typ AH-64 Apache umgeschult und sollen im Laufe der nächsten Monate mit dem neuen Gerät wieder in Katterbach eintreffen.
Wenn diese Einzelheiten jetzt allen klar sind, haben Sie die nächste Zusatzfrage, Herr Kollege.
Wird es danach mehr Hubschrauber geben als vor der Umstellung, und werden in diesem Zusammenhang auch mehr amerikanische Soldaten da sein, Herr Staatssekretär?
Es werden, Herr Kollege Porzner, keine zusätzlichen Hubschrauber in Katterbach stationiert. Seit 1979 befanden sich 42 AH-1, also die Cobra, auf dem Flugplatz. Nach der Umstellung wird sich die Zahl der Kampfhubschrauber um sechs verringert haben, da ein AH-64-Apache-Bataillon über drei Kampfhubschrauber weniger verfügt als ein AH-1-Cobra-Bataillon, also über 18 statt über 21.
Keine weitere Zusatzfrage.
Dann rufe ich die Frage 15 des Herrn Abgeordneten Porzner auf:
Darf ein General der US-Armee durch bewußte Zurückstellung von Informationen über die geplante Stationierung eines zusätzlichen Bataillons von Kampfhubschraubern Einfluß auf die Kommunalwahl nehmen, und was wird die Bundesregierung dagegen unternehmen?
Herr Kollege Porzner, an Spekulationen über interne Überlegungen der US-Streitkräfte, wann die Rückkehr der zur Zeit in Fort Hood in den Vereinigten Staaten übenden Soldaten des zweiten Ansbacher Kampfhubschrauberbataillons vollzogen wird, beteiligt sich die Bundesregierung nicht. Die Umstellung der beiden Bataillone von AH-1 Cobra auf AH-64 Apache ist mit den zuständigen Bundesressorts abgestimmt. Damit hat die amerikanische Seite ihre Verpflichtungen gegenüber der Bundesregierung erfüllt.
Es kann auch keine Rede davon sein, daß Informationen unterdrückt würden. Den zu Ihrer ersten Frage dargestellten Sachverhalt hat das Bundesministerium der Verteidigung ausführlich bereits am 28. August 1989 gegenüber einer Ansbacher Bürgerinitiative und später auch gegenüber Bundestagsabgeordneten dargestellt. Er war auch Gegenstand eines Schreibens, das ich Ihnen am 19. Dezember 1989 habe zukommen lassen können.
15554 Deutscher Bundestag - 11 Wahlperiode
Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Porzner.
Herr Staatssekretär, würden Sie sich bitte darüber informieren, welchen Brief General Griffith an seine vorgesetzte Behörde geschrieben hat und in welch massiver Form er mit dem Inhalt dieses Briefes, den Sie dann kennenlernen werden, auf Innenpolitik und Wahlausgänge Einfluß nehmen will?
Herr Kollege Porzner, Sie wissen, daß wir auf den internen Schriftverkehr der in der Bundesrepublik Deutschland stationierten befreundeten Streitkräfte keinen Zugriff haben. Wir können uns aus unserem Amt heraus nicht in den Besitz oder die Kenntnis dieser Dinge setzen.
Eine weitere Zusatzfrage.
Ich kenne die Rechtslage, Herr Staatssekretär. Trotzdem frage ich Sie, ob Sie dann nach Kenntnis dieses Briefes nicht doch Anlaß haben, mit den Verbündeten darüber zu reden, daß nicht in einer solchen Form auf deutsche Innenpolitik Einfluß genommen werden darf.
Herr Kollege Porzner, es ist selbstverständlich, daß die hier stationierten verbündeten Streitkräfte keine Veranlassung haben, auf die deutsche Innenpolitik Einfluß zu nehmen, und sie tun dies auch nicht.
Die Frage 16 des Abgeordneten Gerster ({0}) wird auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antwort wird als Anlage abgedruckt.
Danke, Herr Staatssekretär.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf. Der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Fragen 17 des Abgeordneten Dr. Daniels ({1}) und 18 und 19 des Abgeordneten Reschke werden auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Ich rufe die Frage 20 des Abgeordneten Kirschner auf:
Unterstützt die Bundesregierung die Aktion „Deutschlands Zahnärzte arbeiten Hand in Hand - Zahnärzte für Zahnärzte - Das ist aktive DDR-Hilfe" des Vereins für Ärzte- und Zahnärzte - Partnerschaft e. V., mit der dafür geworben wird, daß bundesdeutsche Zahnärzte als Kommanditisten an der Privatärztlichen-Privat-Poliklinik-Fördergesellschaft mit Sitz in Stuttgart Anteile in Höhe von 25 000 DM zeichnen können und daß dafür von der Kommanditgesellschaft über zehn Jahre Laufzeit 5,8 oder 10 % des Umsatzes der Poliklinik als Rendite in Aussicht gestellt wird, und wenn ja, wie läßt sich diese Unterstützung damit vereinbaren, daß die Aktion einen rein kommerziellen Charakter hat und mit dem ethischen Auftrag des Arztes zum Helfen und Heilen nicht vereinbar ist?
Frau Präsidentin! Herr Kollege Kirschner, die Bundesregierung unterstützt die von Ihnen angesprochene Aktion nicht.
Der Bundesverband der Deutschen Zahnärzte e. V. hat unter Hinweis auf Mitteilungen in der Zeitschrift „Die Zahnarztwoche", auf in der Bundesrepublik Deutschland verteilte Prospekte und auf in Dresden verteilte „Informationen für DDR-Zahnärzte" darüber unterrichtet, daß diese Aktion auf die Gründung von sogenannten „Partnerschaften" zwischen Zahnärzten in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR gerichtet sei. Hierbei sollen Zahnärzte in der Bundesrepublik Deutschland als Investoren Gelder einbringen, mit deren Hilfe Kollegen in der DDR der Aufbau und die Ausstattung von Zahnarztpraxen ermöglicht wird. Die Partner aus der Bundesrepublik Deutschland sollen, ohne selbst in diesen Praxen tätig zu werden, eine Mehrheitsbeteiligung an diesen Praxen erhalten und eine Umsatzbeteiligung über einen Zeitraum von zehn Jahren in Höhe von 5 bis 12 %, je nach Umfang der finanzierten Investitionen, erwerben.
Der Bundesverband der Deutschen Zahnärzte e. V., die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung und der Freie Verband Deutscher Zahnärzte e. V. lehnen diese „Partnerschaften" aus berufs- und anderen rechtlichen Gründen sowie unter ethischen Aspekten ab. Sie haben dies in einem gemeinsamen Schreiben an alle Zahnärzte in der Bundesrepublik Deutschland vom 8. März 1990 deutlich gemacht. In diesem Schreiben werden die Zahnärzte über die in Frage stehenden Aktionen im einzelnen aufgeklärt und über das Ergebnis einer rechtlichen Prüfung unterrichtet, wonach derartige Praxispartnerschaften nicht nur nach dem Niederlassungsrecht der DDR, sondern auch nach dem Recht der Bundesrepublik Deutschland als nicht legal angesehen werden, insbesondere weil eine Praxis nur von darin tätigen Zahnärzten, nicht aber von Gesellschaften mit außerhalb der Praxis stehenden Zahnärzten geführt werden darf. Demgemäß enthält das Schreiben die nachdrückliche Empfehlung, entsprechende Angebote nicht aufzugreifen.
Auch ich halte die genannten rechtlichen und ethischen Bedenken für gravierend. Deshalb unterstützen wir diese Aktion nicht.
Zusatzfrage, Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, welche rechtlichen Möglichkeiten sieht die Bundesregierung, diese Aktion - Sie sagten, die Bundesregierung unterstütze sie nicht - zu unterbinden?
Herr Kollege Kirschner, ich habe gesagt, daß die rechtlichen und ethischen Bedenken gegen diese Aktion gravierend sind. Ich habe deshalb, nicht zuletzt auch auf Grund Ihrer Frage, veranlaßt, die rechtlichen Aspekte zu überprüfen. Dies schließt die Prüfung der Frage ein, wer gegebenenfalls und mit welchen Mitteln und Maßnahmen tätig werden kann. Auch dies bedarf sorgfältiger Überprüfung, vor allem im Blick auf die Frage, ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, hier von staatlicher Seite aus tätig zu werden.
Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Kirschner.
Herr Staatssekretär, wären Sie bereit, mir dann das Ergebnis Ihrer Prüfung dieser Cashand-Carry-Aktion mitzuteilen?
Dazu bin ich selbstverständlich gerne bereit.
Ich danke Ihnen, Herr Staatssekretär.
Ich rufe jetzt den Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie auf. Herr Parlamentarischer Staatssekretär Dr. Probst steht zur Beantwortung zur Verfügung.
Die Fragen 21 und 22 des Herrn Abgeordneten Magin werden schriftlich beantwortet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt.
Meine Damen und Herren, jetzt haben wir eine ganze Reihe von Fragen zu ähnlichen Themen vorliegen. Ich darf bitten, daß man ab und zu jeweils zwei Fragen eines Fragestellers zusammenzieht, je nach Ihrer Entscheidung selbstverständlich. Das würde den Ablauf vielleicht ein bißchen erleichtern, weil sich doch vieles überschneidet.
Dann rufe ich jetzt die Frage 23 des Abgeordneten Lenzer auf :
Welche Möglichkeiten sieht das Bundesministerium für Forschung und Technologie, wasserstoffgetriebene Fahrzeuge in größerem Umfang - z. B. für ein begrenztes Gebiet - im Rahmen einer Pilotphase mit größerer Anzahl einzusetzen, und welche infrastrukturellen Voraussetzungen müssen dazu geschaffen werden?
Kann ich hier gleich die zweite Frage mit aufrufen?
({0})
- Dann rufe ich auch die Frage 24 des Herrn Abgeordneten Lenzer auf:
Welche Möglichkeiten sieht das Bundesministerium für Forschung und Technologie, in Zusammenarbeit mit der Energiewirtschaft ein wasserstoffversorgtes Kraftverkehrssystem zu schaffen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Frau Präsidentin! Die beiden genannten Fragen beantworte ich wie folgt: Das von 1979 bis 1989 in Berlin durchgeführte Projekt des Bundesforschungsministeriums zur Erprobung von gasförmigem Wasserstoff in Straßenfahrzeugen, für das Fördermittel in Höhe von 36 Millionen DM aufgebracht worden sind, hat nachgewiesen, daß es technisch grundsätzlich möglich ist, Kraftfahrzeuge mit Wasserstoff im Straßenverkehr sicher zu betreiben und sie durch eine Tankstelle mit Wasserstoff zu versorgen.
Auf Grund der vorliegenden Ergebnisse sind fahrzeugseitig weitere Entwicklungen erforderlich, so z. B. spezielle Hochdruckwasserstoffspeicher für den Einsatz in Nutzfahrzeugen, Speicher für flüssigen Wasserstoff und ein geeigneter Wasserstoff-Nutzfahrzeugmotor hoher Leistung. Außerdem muß der Betankungsvorgang optimiert werden.
Für die Durchführung eines weiteren Pilotversuchs in einem begrenzten Gebiet ist - das hat das Berliner Projekt ebenfalls gezeigt - eine Anbindung an eine vorhandene Infrastruktur zur kostengünstigen Bereitstellung von Wasserstoff erforderlich. Dies wäre z. B. bei der installierten Wasserstoff-Verbundleitung im Ruhrgebiet möglich.
Zur Frage 24: Unternehmen der Energiewirtschaft sind bereits heute über Tochterunternehmungen der chemischen und petrochemischen Industrie am Betrieb des bestehenden Wasserstoffverbundnetzes beteiligt, das sich mit einer Gesamtlänge von ca. 210 Kilometern vom Ruhrgebiet bis zum Raum Köln erstreckt. Grundsätzlich könnte diese Druckleitung auch zur Versorgung von Wasserstoff-Tankstellen in der genannten Region genutzt werden. Dieses Konzept könnte aus logistischen, technischen und sicherheitstechnischen Gründen Vorteile gegenüber einer isolierten Versorgung von wasserstoffangetriebenen Fahrzeugen bieten. Das Bundesministerium für Forschung und Technologie hat entsprechende Ansätze mit dem Land Nordrhein-Westfalen und Vertretern der Industrie mit dem Ziel diskutiert, den Betrieb wasserstoffangetriebener Busse zur Umweltentlastung als Pilotprojekt zu prüfen.
Sie haben jetzt vier Zusatzfragen, bitte schön, Herr Abgeordneter Lenzer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
Herr Staatssekretär, welche Möglichkeiten sieht der Bundesminister für Forschung und Technologie, bei den Tankstellen direkt kleine Elektrolyseanlagen zu installieren, damit der Wasserstoff dezentral vor Ort erzeugt werden kann?
Herr Kollege, grundsätzlich ist das möglich. Eine spezielle Erprobung hat nicht stattgefunden. Es sind hier natürlich sicherheitstechnische Probleme zu bedenken und wohl auch technische Probleme zu lösen. Aber über die Kosten und das gesamte Umfeld liegen uns bis jetzt keine Daten vor, weil es ja nicht erprobt ist.
Zweite Zusatzfrage.
Zum Komplex „Sicherheit", Herr Staatssekretär: Welche besonderen Sicherheitsmaßnahmen müssen auf seiten der Wasserstoffversorgung und auf seiten der Kraftfahrzeuge vorgenommen werden, um Gefährdungen bei der Verwendung von Wasserstoff im Kraftverkehrssystem nicht größer werden zu lassen, als sie derzeit beispielsweise bei den herkömmlichen Treibstoffen zu verzeichnen sind?
Herr Kollege, das Bundesforschungsministerium hat einen Bericht zu der Frage „Wasserstoff in der Erprobung" veröffentlicht. In diesem Bericht sind die einzelnen Komponenten aufgeführt, die notwendig sind, um die sicherheitstechnischen Voraussetzungen zu schaffen, den Betrieb sicher zu machen. Wenn die hier geforderten Maßnahmen eingehalten werden, besteht kein Unterschied zur Sicherheit vergleichbarer herkömmlicher Treibstoffe.
Eine weitere Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Carstensen.
Herr Staatssekretär, ich könnte mir vorstellen, daß dieses System erst dann „rund" wird, wenn es zu einer Dezentralisierung kommt. Bestehen Möglichkeiten, über additive Energien bzw. regenerative Energien eine Förderung dieser Maßnahmen zu finden?
Herr Kollege, darf ich Sie um etwas Geduld bitten, weil diese Fragen noch Gegenstand der heutigen Fragestunde sein werden.
Herr Dr. Lippelt.
Herr Staatssekretär, nachdem Sie eben auf dezentrale Elektrolyseanlagen hingewiesen haben, darf ich fragen: Halten Sie aus energiewirtschaftlichen Gründen eine dezentrale Elektrolyse, d. h. einen Verbrauch von Strom, der vorher wiederum anders produziert worden ist, für sinnvoll?
Der Verbrauch von Strom wird wohl unvermeidlich sein, wenn man Wasserstoff erzeugen möchte, der nicht aus fossilen Trägern stammt. Insofern sind das zwei Fragen, Herr Kollege. Ob die dezentrale Struktur dann trägt, vermag ich heute nicht zu beurteilen, weil hierzu keine ausreichenden Kenntnisse vorliegen.
Herr Abgeordneter Jäger ({0}).
Herr Staatssekretär, können Sie bestätigen, daß der Herr Professor Knizia, ein bekannter Energiewissenschaftler, erklärt hat, daß für eine auf Dauer angelegte kostengünstige Herstellung von Wasserstoff zum Betrieb von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr als besonders wichtige Erzeugungsquelle der THTR 300 Voraussetzung wäre, der in HammUentrop steht und sich zur Zeit in der Stillegungsphase befindet, und wie beurteilen Sie die These, daß mit dieser Stillegung eine Möglichkeit vertan wird, die gerade für den Wasserstoffmotor von ganz besonderer Bedeutung wäre?
Es ist richtig, Herr Kollege, daß einer der denkbaren Wege für die Wasserstofferzeugung die Spaltung von Wasser durch Hochtemperatureinfluß ist. Diese Möglichkeit wird, wenn ein Hochtemperaturreaktor in Europa nicht entwickelt wird, weitgehend verbaut. Aber da ich Hoffnung habe, daß die europäische Industrie weiter an einem Hochtemperaturreaktor arbeitet, hoffe ich auch, daß diese Option offenbleibt.
Frau Abgeordnete Wollny, Sie haben das Wort.
Herr Staatssekretär, können Sie uns Zahlen nennen, wie die Energiebilanz aussieht, d. h. das Verhältnis von eingesetzter Energie zu gewonnener Energie, also das Verhältnis von eingesetztem Strom zu gewonnenem Wasserstoff?
({0})
- Wieviel Energie notwendig ist, um Wasserstoff zu erzeugen, und wieviel Energie dabei herauskommt; wenn ihr Deutsch besser versteht.
Dr. Probst Parl. Staatssekretär: Frau Kollegin, das ist sehr unterschiedlich. Diese Frage ist auch unterschiedlich sinnvoll. Wenn Sie nämlich Solarenergie verwenden können, ist es ziemlich gleichgültig, wieviel Energie Sie einspeisen. Wenn Sie dagegen fossile Brennstoffe brauchen, ist das außerordentlich wich-fig.
Es ist mir heute nicht möglich, diese Frage global zu beantworten.
Zusatzfrage, Herr Kollege Engelsberger.
Herr Staatssekretär, da es entscheidend sein wird, zu welchen Kosten der Wasserstoff umweltfreundlich erzeugt werden kann, möchte ich Sie fragen: Welche Weise der Wasserstofferzeugung hält die Bundesregierung nach dem heutigen Wissensstand für entscheidend, damit Wasserstoff im Verkehrswesen kostengünstig eingesetzt werden kann?
Eine Kostengünstigkeit ist heute in keiner Weise und bei keinem Erzeugungsverfahren möglich. Die kostengünstigste Erzeugung ist die über die Abspaltung von Wasserstoff aus Kohlenwasserstoffen. Hier gibt es bekannte Verfahren, die nach wie vor auch die billigsten sind.
Bloß ist es natürlich im Sinne der Umweltschonung nicht sinnvoll, fossile Brennstoffe zu verwenden, um Wasserstoff zu erzeugen. Da ist es sinnvoll, Wasserstoff aus Wasser zu erzeugen. Das ist bis heute am günstigsten durch Elektrolyse, gespeist von billigem Kernenergiestrom. Die anderen Wege sind alle sehr, sehr weit von einer Praxislösung entfernt.
Zweite Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß in Kanada Großversuche stattfinden, Wasserstoff durch Hydroenergie zu erzeugen, und daß dies bisher der kostengünstigste Weg wäre, den Wasserstoff für eine Wasserstofftechnologie einzuführen?
Herr Kollege, das ist richtig. Das ist eine Frage der zur Verfügung stehenden Energie. Ich habe vergessen zu sagen, daß die Wasserkraft hier eine ganz besonders geeignete Elektrizitätsquelle ist.
Dann rufe ich die Frage 25 des Herrn Abgeordneten Maaß auf:
Wie beurteilt das Bundesministerium für Forschung und Technologie zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Wirtschaftlichkeit eines wasserstoffversorgten Verkehrssystems, und welche Voraussetzungen müssen erfüllt werden, um zu einer verbesserten Wirtschaftlichkeit zu gelangen?
Herr Kollege Maaß, kann ich die Frage 26 gleich mit aufrufen? - Dann rufe ich auch die Frage 26 auf:
Vizepräsidentin Renger
Wie beurteilt das Bundesministerium für Forschung und Technologie die Möglichkeit der Nutzung von Betriebsstoffen aus nachwachsenden Rohstoffen ({0}) für Automobilantriebe, und wie ist der Stand der Technik auch hinsichtlich der Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur einzuschätzen?
Herr Staatssekretär, können Sie die beiden Fragen zusammen beantworten?
Ja, das geht, Frau Präsidentin.
Bitte!
Ihre Frage 25, Herr Kollege Maaß, beantworte ich wie folgt: Das Haupthindernis für wasserstoffbetriebene Fahrzeuge ist die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit des Wasserstoffs im Vergleich zu herkömmlichen Kraftstoffen bei den heutigen Preisen. Der Wettbewerbsabstand von Wasserstoff zu Benzin und Dieselkraftstoff ist am geringsten - damit komme ich noch einmal auf die eben beantwortete Frage zurück - , wenn Wasserstoff aus fossilen Energieträgern gewonnen wird.
Die kohlenstofffreie Wasserstofferzeugung ist am wirtschaftlichsten über den Weg der Wasserkraft und der Kernenergie möglich.
Die in Zukunft denkbare besonders umweltfreundliche Kombination von Solarenergie und Wasserstoff als sekundärem Energieträger kommt unter den Gesichtspunkten der Wettbewerbsfähigkeit für einen Großeinsatz kurz- und mittelfristig nicht in Betracht.
Beim Wasserstoffeinsatz ist auch mit Zusatzkosten auf der Fahrzeug- und Infrastrukturseite zu rechnen. Schätzungen für in Serie gefertigte Fahrzeuge und Tankstellen liegen allerdings nicht vor.
Für Bio-Ethanol sind die technischen Probleme für den Fahrzeugeinsatz ähnlich wie bei Methanol gelöst. Für flexible Antriebskonzepte mit wechselnden Kraftstoffen - hier kommen in Frage: Methanol, Ethanol und Benzin, also das Multi-fuel; die Amerikaner sind ja auch dabei, den Multi-fuel-Motor zu entwickeln - sind allerdings weitere Forschungs- und Entwicklungsarbeiten erforderlich.
Pflanzenöle - in Deutschland kommt in erster Linie Rapsöl in Frage - können direkt oder nach Umwandlung in Pflanzenölmethylester in Dieselmotoren eingesetzt werden. Als Kraftstoff muß ein Rapsölmethylester noch exakt definiert werden. Bei den Rapsölmethylestern sind keine Probleme hinsichtlich Dauerhaltbarkeit der Motoren sowie negativer Einflüsse auf das Emissionsverhalten bei den limitierten Schadstoffkomponenten zu erwarten. Die Partikelemissionen sind deutlich geringer als beim Dieselbetrieb. Bezüglich der nicht limitierten Schadstoffkomponenten im Abgas liegen keine ausreichenden Erkenntnisse vor.
Die Einsatzmöglichkeiten für rohes Rapsöl werden zur Zeit in einem Projekt des Bundesforschungsministeriums untersucht. Nach vorläufigen Erkenntnissen treten bei den limitierten Schadstoffkomponenten im Abgas nur geringe Unterschiede zum Betrieb mit Dieselkraftstoff auf. Probleme deuten sich bei einigen nicht limitierten Schadstoffen an, ebenso bei der Dauerhaltbarkeit einiger Motortypen. Das Entwicklungspotential wird von Experten weiterhin hoch eingeschätzt.
Bei Weltmarktpreisen sind ohne Einbeziehung von Steuern und Subventionen die Kosten für Bio-Ethanol mindestens viermal bis fünfmal, die für Pflanzenöl dreimal so hoch wie die für Benzin bzw. Dieselkraftstoff. Die Aufwendungen für eine entsprechende Versorgungsinfrastruktur sind bei diesen flüssigen alternativen Kraftstoffen nicht wesentlich anders als bei den herkömmlichen Kraftstoffen. Die erforderlichen Investitionen hängen sehr davon ab, ob im Zuge einer Substitution bisherige Versorgungslinien umgerüstet werden können oder ob zusätzliche Systeme geschaffen werden.
Dazu haben Sie jetzt vier Zusatzfragen, Herr Abgeordneter Maaß. Bitte schön!
Ich will mich auf eine Zusatzfrage beschränken, Frau Präsidentin. - Herr Staatssekretär, welche Maßnahmen gedenkt der Bundesminister für Forschung und Technologie zu ergreifen, um Pilotprojekte für wasserstoffversorgte Verkehrssysteme im ländlichen Raum bzw. in Ballungsgebieten durchzuführen?
Herr Kollege, die Durchführung solcher Pilotprojekte scheint im ländlichen Raum nicht in dem Maße sinnvoll zu sein wie in Ballungsräumen. Deshalb diskutiert der Bundesforschungsminister derzeit mit Landes- und Kommunalbehörden über die Möglichkeit, an der Rhein-RuhrWasserstoffleitung Systeme zu schaffen, um Busse mit Wasserstoffantrieb einzusetzen.
Hat noch jemand eine weitere Zusatzfrage? - Herr Dr. Daniels!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, welche Flächen notwendig wären, wenn man jetzt Rapsöl herstellen würde, um z. B. nur den Energieverbrauch in der Landwirtschaft zu decken? Können Sie dazu hier zumindest eine Größenordnung angeben?
Eine Größenordnung dürfte sein - das hängt natürlich sehr von der Ertragsleistung und anderen Möglichkeiten ab - : 10 % der Agrarfläche.
({0})
- Ja, Herr Kollege. Aber man sollte bedenken, daß es sich hier um die Schonung der Atmosphäre dadurch handelt, daß man Kohlendioxid im Kreislauf hält
({1})
und nicht die Luft zusätzlich durch gelagerten Kohlenstoff, also durch die Entsendung von CO2 in die Luft, belastet. Hier ist jeder Anteil gut. Es ließe sich auch eine Beimischung zum Dieselkraftstoff in dem Maß denken, in dem man eben beimischen kann. Man darf diese Problematik ja nicht national sehen. Es gibt große Anbauflächen in der Welt, die heute stillgelegt
werden und die natürlich für diese alternativen Kraftstoffe genutzt werden könnten. Die müssen ja gar nicht in Europa liegen.
Herr Dr. Lippelt, haben Sie eine Zusatzfrage? - Bitte!
Herr Staatssekretär, ich habe eine Frage zu dem ersten Teil dieses Komplexes, also zur Wirtschaftlichkeit von Sonnenenergie für die Wasserstoffspaltung: Bedeuten Ihre Aussagen, daß sich der baden-württembergische Ministerpräsident, der ja nun genau diese Technologie sowohl in Saudi-Arabien als auch durch Lehrstühle an der TU Stuttgart sehr energisch zu fördern versucht, auf einem Holzwege befindet?
Nein, der baden-württembergische Ministerpräsident ist nie auf einem Holzweg, Herr Kollege.
Dazu keine weiteren Fragen.
Damit komme ich zu den Fragen 27 und 28. Können diese Fragen zusammen beantwortet werden, Herr Engelsberger?
({0})
- Dann rufe ich die Fragen 27 und 28 des Abgeordneten Engelsberger auf:
Welche Erfahrungen liegen nach Erkenntnissen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie bisher in anderen Ländern mit alternativen Automobilantrieben und -kraftstoffen vor?
Welche Erfahrungen liegen nach Erkenntnissen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie mit der dazu notwendigen Infrastruktur im Hinblick auf Kosten- und Umweltfreundlichkeit vor?
Zur Frage 27: Die wesentlichen weltweit untersuchten alternativen Antriebe zum Otto- und zum Dieselmotor sind Elektromotoren, Gasturbinen und Stirling-Motoren. Die wichtigsten alternativen Kraftstoffe sind Methanol, Ethanol, Pflanzenöl, Erdgas, Elektroenergie und Wasserstoff. Alle Alternativen befinden sich weltweit im Stadium von Forschung, Entwicklung und Erprobung.
Eine regional begrenzte Markteinführung der alternativen Energien für den Straßenverkehr hat in Brasilien mit Ethanol-Kraftstoff auf der Basis von Zuckerrohr stattgefunden. Das seit 1975 laufende Projekt „Pro Alcool" ist aus Gründen der Rohstoffpreisentwicklung jüngst in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Die technischen Fragen des Einsatzes im Kraftfahrzeug sind gelöst.
Flüssiggas ist regional im Markt eingeführt. Flüssiggas gilt wegen seiner begrenzten Verfügbarkeit als additiver, nicht als alternativer Kraftstoff.
Darüber hinaus haben sich im Weltmarkt Zumischungen von alternativen Komponenten zu herkömmlichen Kraftstoffen technisch bewährt, z. B. 20 % Ethanol im Benzin - Brasilien -, 10 % Ethanol im Benzin - USA -, 3 % bis 4 % Methanol im Benzin in den USA und in Europa.
Zur Frage 28: Die Versorgungsinfrastruktur für Alkoholkraftstoffe und Pflanzenöle ist derjenigen der konventionellen Kraftstoffe sehr ähnlich. Die Erfahrungen aus Brasilien und aus Demonstrationsvorhaben in anderen Ländern, auch aus der Bundesrepublik Deutschland, lehren, daß eine Nachrüstung vorhandener Versorgungssysteme mit relativ geringem technischen Aufwand möglich ist. Diese Kraftstoffe benötigen allerdings jeweils eine eigene Versorgungslinie.
Für die Einführung jedes neuen Kraftstoffs, der nicht alternativ zu bereits eingeführten Kraftstoffen im Kraftfahrzeug eingesetzt werden kann, gibt es eine Einstiegsschwelle aus Gründen der Versorgungssicherheit. Wir wissen das ja vom bleifreien Benzin.
Kostenermittlungen hinsichtlich der für die Markteinführung alternativer Automobilantriebe erforderlichen Infrastruktur wurden im Rahmen der BMFT-Förderung in letzter Zeit nicht durchgeführt.
Herr Kollege, Sie haben vier Zusatzfragen. Bitte schön!
Herr Staatssekretär, welche Gründe liegen dafür vor, daß sich alternative Antriebe bisher im Masseneinsatz nicht durchgesetzt haben?
Weil sie aus dem Forschungs- und Erprobungsstadium bis jetzt nicht heraustreten konnten.
Die zweite Frage.
Herr Staatssekretär, wenn man die sogenannten sozialen Kosten der bisherigen mit Benzin und mit Dieselöl betriebenen Kraftfahrzeuge ansetzte, würde sich dann nicht eine günstigere Kosten-Nutzen-Situation ergeben, und, wenn ja, warum ist das bisher nicht geschehen?
Herr Kollege, Sie wissen, wie schwer es ist, soziale Kosten, wie Sie sie nennen, zu definieren. Wenn man Kosten definieren könnte, die jeder wissenschaftlichen aber auch rechtlichen Beurteilung standhalten könnten, dann wäre es möglich, solche Kosten in die Berechnungen mit einzubringen und auch die Bevölkerung oder die Verbraucher mit solchen Kosten zu belasten. Das ist jedoch außerordentlich schwierig; es ist heute nicht möglich.
Eine weitere Zusatzfrage? - Bitte!
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß jetzt beim Genfer Automobilsalon von General Motors ein Fahrzeug ausgestellt ist, das mit elektrischen Batterien ausgestattet ist und Reichweiten von bis zu 200 km hat, und zwar bei einer Beschleunigung von 8,6 Sekunden auf 100 km/h, also durchaus eine Variante, die sich gegenüber dem technischen Know-how bei mit Benzin angetriebenen Kraftfahrzeugen sehen lassen kann? Warum ist die Bundesregierung nicht bereit, z. B. Elektrofahrzeuge, wenn jemand die Kosten auf sich nimmt, steuerfrei für den Verkehr zuzulassen?
Herr Kollege, mir ist bekannt, daß die Amerikaner heute sehr stark an Elektrofahrzeugen arbeiten, vor allem die von Ihnen angeführte Firma General Motors sowohl im PKW-Bereich als auch im Bereich von Nutzfahrzeugen.
Die Techniken sind konventionell. Es ist nicht zu ersehen, warum die Wirkungsgrade und die Möglichkeiten besser sein sollen als die Erfahrungen, die wir mit unseren Fahrzeugen und unseren Versuchen gemacht haben. Einige der Kernprobleme bei Elektrofahrzeugen sind die Energiedichte und die Entsorgung von Batterien. Bisher geht das ausschließlich über Bleiakkumulatoren; deshalb gibt es jetzt Probleme.
Der Elektrofahrzeugeinsatz ist heute für ganz bestimmte Nischen sinnvoll; er ist aber noch kein Konkurrent für die anderen Otto-Antriebsmotoren oder Dieselantriebsmotoren.
({0})
Noch eine Zusatzfrage? - Bitte schön.
Herr Staatssekretär, meine schriftliche Frage hat gelautet, welche Erkenntnisse der Bundesrepublik über alternative Antriebe ausländischer Konkurrenten vorliegen. Könnten Sie diese Frage noch beantworten?
Wir haben einen sehr regen Austausch. Ich würde sagen, daß Deutschland bei einer gewissen Arbeitsteilung bestimmter Antriebssysteme - wir stellen z. B. keinen Stirling-Motor her, das wird in den USA und in Schweden gemacht - weltweit in der Spitzenriege der Entwicklungen liegt.
Herr Dr. Daniels hat eine Zusatzfrage.
Ich möchte noch einmal kurz auf den von Ihnen eben erwähnten Stirling-Motor zu sprechen kommen. Der Stirling-Motor zeichnet sich dadurch aus, daß bei der Verbrennung keine Abgase entstehen, weil der Verbrennungsprozeß außerhalb des Motors stattfindet. Er ist also unter dem Umweltaspekt ein höchst interessantes Unterfangen.
Ich frage mich deswegen: Warum wird diese Motorentwicklung vom Bundesforschungsministerium nicht zumindest einmal mit Demonstrationsprojekten unterstützt? Sie haben eben schon betont, daß dies praktisch nur im Ausland der Fall ist. Es gibt also nur einzelne kleine Projekte an Hochschulen hier in der Bundesrepublik. Gerade unter Umweltaspekten müßte hier doch wirklich einmal weiter vorangegangen werden. Sehen Sie dafür Möglichkeiten?
Herr Kollege, der Stirling-Motor ist ein bekanntes und entwickeltes Prinzip. Entscheidend wäre allenfalls die Chance, ihn im Wirkungsgrad zu verbessern; er hat aber auch einen hohen Wirkungsgrad.
Daß er keine Schadstoffe verursacht, ist ein Irrtum.
({0})
- Dann habe ich das falsch verstanden. Ich wollte nur sagen, daß, wenn verbrannt wird, natürlich auch Schadstoffe entstehen.
Wir verlassen uns in dieser Frage, weil wir als Forschungsministerium eigentlich nur neue technische Elemente fördern sollen, auf die Erprobungstechniken in anderen Ländern; dies geschieht in Schweden und in Amerika. Wir haben einen regen Austausch.
Die Förderung allein durch das Forschungsministerium hat keinen Sinn, wenn sich kein Produzent dahinterstellt und auch bereit ist, solch einen Motor einzustellen und zu entwickeln.
({1})
- Tun Sie das.
Ich sehe keine weiteren Fragen.
Der Herr Abgeordnete Dr. Voigt hat um schriftliche Beantwortung seiner Fragen, der Fragen 29 und 30, gebeten. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt.
Dann rufe ich die Frage 31 des Herrn Abgeordneten Dr. Götz auf:
Welche Forschungen werden nach Erkenntnissen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie auf dem Gebiet der alternativen Automobilantriebe in anderen Ländern und mit welchen Schwerpunkten durchgeführt?
Die weltweit untersuchten wesentlichen alternativen Antriebe zu Otto-und Dieselmotor - ich nannte sie eben - sind Elektromotoren, Gasturbinen und Stirling-Motoren.
Die wichtigsten alternativen Kraftstoffe sind Methanol, Ethanol, Pflanzenöl, Erdgas, Elektroenergie und Wasserstoff.
Die meistbeachteten Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten finden in den folgenden Ländern statt:
Bei den Elektrofahrzeugen: USA, Japan, England, Frankreich, Schweden, Deutschland, Schweiz.
Bei den Gasturbinen: USA, Japan und Deutschland.
Bei den Stirling-Motoren: USA und Schweden.
Keiner der genannten alternativen Fahrzeugantriebe hat sich bisher im Markt durchgesetzt. Alle Konzepte befinden sich im Stadium von Forschung, Entwicklung und Erprobung. Teilweise werden Prototypen in Demonstrationsvorhaben getestet oder als Einzelfahrzeuge eingesetzt. Der Schwerpunkt bei Elektrofahrzeugen liegt zur Zeit noch in der Entwicklung von Batterien höherer Energiedichte als bei Bleiakkus.
Soll Ihre nächste Frage gleich mit beantwortet werden, oder wollen Sie sie
Vizepräsidentin Renger
extra beantwortet haben? - Bitte schön, Sie haben zwei Zusatzfragen.
({0})
- Keine Zusatzfragen.
Dann rufe ich die Frage 32 des Abgeordneten Dr. Götz auf:
Welche Länder geben nach Erkenntnissen des Bundesministeriums für Forschung und Technologie die meisten Forschungsmittel für die Erforschung alternativer Automobilantriebe aus?
Eine Gesamtübersicht über die Förderung internationaler Projekte liegt nicht vor. Die Frage kann daher nur an Hand von Beispielen beantwortet werden.
Die französische Regierung hat am 23. Januar dieses Jahres ein Forschungsprogramm „Sauberes und energiesparendes Kraftfahrzeug" in Angriff genommen. Das Programm weist ein Budget von 1,2 Milliarden Francs auf. Es umfaßt die Untersuchung alternativer Kraftstoffe, der Gasturbine, des Elektrofahrzeugs, des Wasserstoffs und elektrochemischer Generatoren, z. B. der Brennstoffzellen. Das Gesamtprogramm, das auch umweltfreundliche herkömmliche Motoren und Zweitaktmotoren umfaßt, hat eine Laufzeit von acht Jahren.
Forschungs- und Entwicklungsarbeiten zur Fahrzeuggasturbine und zu keramischen Komponenten werden in den USA und in Japan gefördert. In Japan wird ein Programm zur Entwicklung keramischer Bauteile mit Gesamtkosten von ca. 200 Millionen DM und einer Laufzeit von acht Jahren durchgeführt.
Der Stirling-Motor wird insbesondere in den USA und in Schweden untersucht.
Die Entwicklung von Brennstoffzellen für den Fahrzeugbereich befindet sich weltweit derzeit noch im Laborstadium. Im Gegensatz zu den für Fahrzeuge vorgesehenen festen Elektrolyten sind stationäre Brennstoffzellen mit flüssigen Elektrolyten bereits im Betrieb, so in Japan.
Zusatzfragen, Herr Kollege?
({0}) Eine Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Jäger.
Herr Staatssekretär, angesichts Ihrer vorherigen Ausführungen über die Option der Hochtemperaturreaktorlinie für die Erzeugung von Wasserstoff wäre die Frage zu erheben, ob Ihnen irgend etwas darüber bekannt ist, daß sich die Sowjetunion, in der ja mit unserer Hilfe ein solches Forschungsprogramm verwirklicht werden soll, in die Herstellung von Wasserstoff und damit durch ein eigenes Forschungsprogramm in diese Entwicklungslinie hineinschalten könnte. Ist darüber etwas bekannt?
Es ist uns bekannt, daß es in der Sowjetunion den Wasserstoffantrieb bei Flugzeugen gibt. Der Wasserstoff wird irgendwie erzeugt; mir ist nicht bekannt, auf welcher Basis. Aber es ist sicher so, daß mit zunehmender Kooperation mit
der Sowjetunion auch diese Entwicklungslinie ein denkbares Kooperationsfeld ist.
Ich rufe die Frage 33 des Herrn Abgeordneten Jäger auf:
Welche Maßnahmen hat das Bundesministerium für Forschung und Technologie ergriffen, um Forschungen auf dem Gebiet der alternativen Automobilantriebe und Verkehrsleitsysteme im europäischen Verbund durchzuführen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
Herr Kollege Jäger, Ihre Frage 33 beantworte ich wie folgt:
Auf dem Sektor der alternativen Antriebe für Kraftfahrzeuge wurden bisher seitens des Bundesforschungsministeriums keine Maßnahmen ergriffen, um Forschungs- und Entwicklungsarbeiten im europäischen Verbund durchzuführen.
Auf dem Gebiet der Verkehrsleitsysteme werden intensive Forschungen und Entwicklungen in den beiden eng aufeinander abgestimmten europäischen Forschungsprogrammen Prometheus und Drive durchgeführt.
Der Bundesforschungsminister stellte in den Jahren 1986 bis 1989 ca. 36 Millionen DM für das von der europäischen Kraftfahrzeugindustrie initiierte Eureka-Verbundprojekt Prometheus zur Verfügung. Er hat für die nächsten drei Jahre jährlich weitere 20 Millionen DM für die deutschen Projektteile eingeplant.
Die Europäische Gemeinschaft unterstützt u. a. auch Projekte aus Prometheus im Rahmen ihres Programms Drive. Auf deutsche Partner entfallen rund 10 Millionen DM pro Jahr aus diesem Programm. Die zuständigen nationalen Verwaltungen aus den Bereichen Forschung, Telekommunikation und Straßenverkehr sowie die EG-Kommission unterstützen die Prometheus-Forschungen in einem projektbegleitenden Gremium.
Das auf nationaler Basis entwickelte Leit- und Informationssystem Berlin, kurz LISB genannt, wird in enger Abstimmung mit britischen Partnern gleichzeitig auch in London getestet. Außerdem ist LISB in das Prometheus-Projekt eingebunden. Auch das in Vorbereitung befindliche RDS-TMC-Projekt, nämlich die Übertragung digital codierter Verkehrsmeldungen mit dem Radio-Datensystem, wird auf europäischer Ebene abgestimmt.
Frau Präsidentin, ich wäre dankbar, wenn ich die Beantwortung der Frage 34 gleich anhängen dürfte.
Ich rufe Frage 34 des Herrn Abgeordneten Jäger auf:
In welchem Umfange beteiligt sich die europäische Automobil- und Energiewirtschaft an Forschungen auf dem Gebiet der alternativen Automobilantriebe und des Umweltschutzes im Verkehrsbereich?
Eine europäische Verbundforschung auf diesem Gebiet ist bisher nicht bekannt.
Herr Kollege, es tut mir leid, ich kann leider keine weiteren Zusatzfragen mehr zulassen, denn die Fragestunde ist beendet.
Vizepräsidentin Renger
Ich frage gleichzeitig, ob die übrigen Fragen schriftlich beantwortet werden sollen oder ob die Fragestunde damit morgen fortgesetzt werden soll.
({0})
- Gut, dann werden die übrigen Fragen morgen in der Fragestunde behandelt. Wir sehen Sie dann wieder, Herr Staatssekretär. Schönen Dank.
Ich rufe Zusatzpunkt 1 der Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde
Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der 3. Nordseeschutzkonferenz
Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema erbeten.
Ich eröffne die Aussprache. - Das Wort hat der Abgeordnete Lennartz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der letzten Debatte hier zum Thema Nordseeschutz hat es eigentlich trotz heftigen Streits und emotionaler Wallungen in den Grundzügen Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen gegeben.
({0})
Niemand hier im Hause hat Mitte Februar, also 14 Tage vor der 3. Internationalen NordseeschutzKonferenz, als wir unsere Positionen austauschten und uns gegenseitig kritisch bewerteten, der Feststellung widersprochen, daß der Nordsee mit dem, was zur Zeit läuft, wohl nicht zu helfen ist. Anders ausgedrückt: Die augenblicklichen politischen Konstellationen lassen aller Wahrscheinlichkeit nach, wenn es so weitergeht wie bisher, keinen wirksamen Schutz der Nordsee, kein Anhalten ihres schleichenden Sterbens zu.
({1})
Meine Damen und Herren, dieser Auffassung, die vor vier Wochen hier von dieser Stelle von allen Fraktionen mehr oder minder zum Ausdruck gebracht worden ist, hat sich mittlerweile nach der 3. Konferenz in Den Haag auch Umweltminister Töpfer angeschlossen.
Diese Konferenz - das kann man ohne Übertreibung sagen - ist gescheitert.
({2})
Das Nötigste zur Rettung der Nordsee konnte nicht vereinbart werden. Im Gegenteil, die Konferenz hat weitere langfristige Verschmutzungsabsichten der Anrainerstaaten zementiert, festgeschrieben, meine Damen und Herren.
({3})
Nun kommt wohl auch Herr Töpfer als letzter hier im Hause darauf, daß unverbindliches Konferieren, Herr Kollege Carstensen, der Nordsee nicht nur nichts
bringt, sondern ihr sogar noch weiteren Schaden zufügt.
({4})
- Wieviel Jahre, Herr Kollege, sind politisch durch solche Art von Konferenzen vergeudet worden? Wieviel sollen noch vergeudet werden? In diesen Jahren hätte man zu verbindlichen Regelungen auf EG-Ebene kommen können. Ich meine Regelungen, die rechtsverbindlich und von den Anrainerstaaten einklagbar wären.
({5}) Das ist auch die Forderung der SPD.
Statt dessen wurde in den nationalen Parlamenten und auch in der Öffentlichkeit kraftvolles Handeln vorgegaukelt und eine wirkungsvolle Sanierung der Nordsee in Aussicht gestellt. Demgegenüber wurde so getan, als würde Nordseewasser auf absehbare Zeit sauberer, freier von gefährlichen Substanzen, lebensfähiger. Nichts von alledem ist eingetreten, meine Damen und Herren.
Die Beschlüsse der 3. Nordseeschutz-Konferenz sind völlig unzureichend und samt und sonders ungeeignet, das Nordseesterben aufzuhalten.
({6})
Die wohlhabenden Industrienationen dieser Erde sind nicht imstande, ihren Dreck so zu positionieren, daß sie nicht selbst daran zugrunde gehen.
Wir zeigen mit dem Finger auf diejenigen, die ihren tropischen Regenwald unwiederbringlich abholzen, auf diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten mit der Planwirtschaft auch ökologische Mißwirtschaft betrieben haben. Herr Töpfer zeigt nun, aus Den Haag heimgekehrt, in klassischer Ablenkungsmanier auf die Briten - siehe Ihre Pressekonferenz.
({7})
Aber wie sieht es denn bei uns in der Bundesrepublik aus, meine Damen und Herren? Sind wir, ist unsere Regierung auf dem richtigen Dampfer? Wieso, Herr Töpfer, ist bei uns die Halbierung des Schadstoff- und Nährstoffeintrags noch nicht erreicht?
({8})
Sicher, Sie haben 26 Verwaltungsvorschriften vorgelegt, wobei angemerkt werden muß, Herr Kollege Baum: Die wichtigsten und effektivsten, nämlich die für die Chemie, fehlen noch. Da trauen Sie sich nicht heran. Da ist die Lobby zu stark.
({9})
Was ist mit dem Nährstoff- und Chemieeintrag der Landwirtschaft? Reden Sie mit Herrn Kiechle? Man hört nichts davon. Was ist mit den Hauptverschmutzern unserer Flüsse? Die sind bekannt.
({10})
Reden Sie mit denen über alternative, verträgliche Produkte mit weniger gefährlichen Abwässern?
({11})
Was ist mit der Verzahnung, meine Damen und Herren, der Außenpolitik, der innerdeutschen Politik, der Landwirtschaftspolitik und der Wirtschaftspolitik mit der bundesdeutschen Umweltpolitik, ohne die ein wirksamer Schutz nicht möglich ist? Statt an ökologischen Konzepten zu arbeiten, beklagen Sie wie weiland Herr Zimmermann nach seinen langen, jedoch erfolglosen Brüsseler Kat-Nächten Ihr verkanntes umweltpolitisches Genie.
Was allgemein, Herr Kollege Töpfer - nicht nur von der SPD, sondern auch von der deutschen Wirtschaft - , vermißt wird, ist ein einheitliches Auftreten der Bundesregierung in Brüssel. Bei uns wurstelt jeder Minister in der EG allein vor sich hin, mit dem Ergebnis, daß sich nichts bewegt, daß wir von anderen ausgespielt werden und daß im Spezialfall Nordsee keine Ansätze für eine Besserung vorhanden sind.
({12})
Dies, Herr Töpfer, liegt in Ihrer Verantwortung. Hier können Sie nicht auf die Briten und nicht auf die Franzosen zeigen. Hier sind Sie persönlich gefordert.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die 3. Nordseeschutz-Konferenz in Den Haag hat, entgegen den Behauptungen der Opposition, konkrete Ergebnisse gebracht.
({0})
Diese Ergebnisse mögen im einzelnen auch uns nicht befriedigen,
({1})
aber festzustellen ist, daß weniger Dreck ins Meer kommt, festzustellen ist, daß es einen festen Zeitplan gibt, nach dem bestimmte Schadstoffe abgebaut werden, daß - entgegen der zweiten NordseeschutzKonferenz ({2})
diesmal konkrete, verbindliche Zeitpläne gesetzt werden. Es ging also nicht darum, immer weiter hinauszuschieben, sondern die Termine immer enger zu gestalten.
({3})
So steht z. B. in sechs Punkten fest, daß ein Zeitplan und eine Liste von 36 Schadstoffen, deren Eintrag bis 1995 um 50 % reduziert werden muß, bestehen. Der Eintrag von 17 Stoffen auf dem Luftweg ist innerhalb der nächsten zehn Jahre ebenfalls zu halbieren.
({4})
Die Einträge von Dioxin, Quecksilber, Kadmium und
Blei sind bis 1995 um mindestens 70 % zu reduzieren.
Es ist eine Liste von 19 Pestiziden verabschiedet worden, die ab sofort deutlich zu verringern sind. Ferner ist festgelegt, daß Kläranlagen bei Gemeinden mit mehr als 5 000 Einwohnern verbindlich vorgeschrieben werden, daß Maßnahmen verpflichtend festgelegt werden, das Gelangen von PCB in die Meeresumwelt zu verhindern.
({5})
Nicht erreicht wurde wegen des Widerstands von fünf Staaten - nicht der Bundesrepublik; hier wird ja der Eindruck vermittelt, die Bundesrepublik wäre schuld an den Ergebnissen und hätte vielleicht auf die Bremse getreten - , daß die Nordsee zum Sondergebiet für Ölabfälle aus Schiffsbetrieb und Chemieabfälle erklärt wurde. Nicht erreicht wurden übereinstimmend kürzere Fristen des Schadstoffeintrags und die verbindliche Festschreibung der dritten Reinigungsstufe. So wird Großbritannien bis 1998 Klärschlamm einbringen dürfen. Und es gibt einige andere Dinge mehr. Wir glauben allerdings, daß diese Fristen angesichts des gewandelten Umweltbewußtseins sicher im Laufe der Zeit verkürzt werden müssen und von den Briten auch freiwillig verkürzt werden.
Der Teilerfolg gegenüber den Briten kann aber auch dadurch nicht verringert werden, daß sie das Ergebnis schon 14 Tage vorher verkündet haben. Das zeigt eigentlich bloß, daß sie diese Ergebnisse wegen der Nordseeschutzkonferenz von sich aus angepackt haben.
Ich glaube demgegenüber, daß der Lärm, der auf der Konferenz gemacht wurde - auch von anwesenden Vertretern der Länder - dort nicht genützt, sondern eher geschadet hat. Wenn einer drei Stunden, nachdem er die Konferenz durch lange Reden aufgehalten hat, erklärt, er reise nun endlich ab, und dies drei Stunden hintereinander vor Fernsehkameras erklärt, Herr Heydemann, dann wirkt das nicht sehr glaubwürdig.
({6})
Es wirkt insbesondere dann nicht sehr glaubwürdig, wenn diejenigen, die immer erklären, was getan werden muß, selber statt Taten nur Worte zeigen.
Ich will Ihnen das einmal ganz kurz aufzählen. Herr Heydemann räumt sich selber eine Frist von sechs Jahren für Stickstoffelimination ein. Er selber mußte durch gerichtliche Verfügung gezwungen werden, Verklappung in der Ostsee zu unterlassen. Er selber verzögerte die Luftüberwachung der Nordsee. Zwei Beispiele aus meinem Wahlkreis. Seit zwei Monaten ist überfällig, daß Sie dem Forschungsministerium ein Konzept zur Sanierung der Stör vorlegen. Ein Konzept für die Bracke wird von Ihnen abgelehnt.
({7})
Sie haben noch nicht entschieden, was mit der Entsorgung im Nord-Ostsee-Kanal passieren soll. Sie verweigern den Gemeinden namhafte Hilfe bei dem Bau von Klärwerken. Man könnte fast an einen Optiker erinnern, der mit Ihnen nun Wahlkampf in SchleswigHolstein macht. Der Bürgermeister im Dorf sagt: Wir
haben eine neue Kläranlage im Dorf, und Heydemann hat nichts dazugezahlt.
Klamauk, Herr Heydemann, auf internationalen Konferenzen und eitle Selbstdarstellung sind zuwenig.
Lassen Sie mich demgegenüber feststellen, was tatsächlich konkret, Frau Schulte, erreicht worden ist. Es sind Beispiele für eine progressive Umweltpolitik, die immerhin die 1. und 2. Nordseeschutzkonferenz erst ermöglicht hat. Im Forschungsbereich werden in diesem Jahr 128 Millionen DM für Meeresschutzprojekte ausgegeben. Dies nennen wir, Herr Lennartz, kraftvolles Handeln.
({8})
Ein Zehn-Punkte-Katalog zum Schutz der Nordsee wurde 1988 vorgelegt und konsequent weiter abgearbeitet. Verklappung von Klärschlamm wurde eingestellt. Man kann doch dem Bürger nicht vorgaukeln, es sei in den letzten Jahren nichts passiert.
({9})
Verklappung von Dünnsäure wurde eingestellt.
({10})
Verbrennung von Deutschland aus wurde eingestellt. Pilotvorhaben zur Sanierung der Elbe in der DDR werden finanziert.
({11})
Die Überwachung der Nordsee wird optimiert. Das Wattenmeer wird besser geschützt. Ein Pilotvorhaben zur Schiffsentsorgung läuft im dritten Jahr. Jetzt geht es darum, daraus eine Dauerregelung zu machen.
Ich glaube allerdings, daß es nichts einbringt, wenn wir den Eindruck erwecken, es wäre in den letzten Jahren zum Schutz der Nordsee nichts geschehen; auch wenn die Ergebnisse nicht befriedigen können. Aber gerade die Norweger, die ja unverdächtige Zeugen in diesem Bereich sind, haben uns gestern in persönlichen Gesprächen noch gesagt: Ein Erfolg ist schon die Tatsache, daß es zu Festlegungen gekommen ist. Abreisen und Nichtunterzeichnen hätten ja verhindert, daß man sich auf gemeinsame Bedingungen einigt. Ich glaube, das kann man nicht deutlich genug unterstreichen.
Unsere Aussage ist, daß wir weitergehende Ziele hatten. Unser Umweltminister ist mit weitergehenden Zielen hingegangen. Er hat seine Ziele dort deutlich gemacht. Aber sie konnten nicht durchgesetzt werden. Da können wir den Minister allerdings nur auffordern, jetzt den Beschlüssen von Den Haag einen eigenen Zeitplan gegenüberzustellen, in dem wir sagen, was wir wann in der Bundesrepublik, in unserem Land, aus den Beschlüssen machen, daß wir kürzere Fristen einhalten und unseren Beitrag zum Schutz der Nordsee leisten. Sie können davon ausgehen, daß das Parlament Ihnen, Herr Töpfer, die erforderlichen Mittel bereitstellt, um diese kürzeren Fristen im nationalen Interesse in der Bundesrepublik durchzusetzen.
Herzlichen Dank.
({12})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Garbe.
Die 3. INK, verehrte Frau Präsidentin, meine verehrten Herren und Damen, hat das Leichentuch weiter über die Nordsee ausgebreitet.
({0})
Um die Nordsee retten zu können, wären aber schnelle und durchgreifende Maßnahmen gegen Öleinträge,
({1})
gegen die Überdüngung, gegen die Verklappung und gegen die Gifteinleitung über zuführende Flüsse und Atmosphäre notwendig gewesen.
Herr Töpfer, was Sie in Den Haag mit beschlossen und mit unterschrieben haben, bedeutet weiteren un-gebremsten Giftstreß für mindestens fünf bis zehn Jahre für die Nordsee.
({2})
Der Staatssekretär Stroetmann hat heute morgen im Umweltausschuß über die Anstrengungen in Den Haag berichtet. Er hat ausgeführt, daß in Den Haag seitens der Bundesregierung ähnlich große Schritte wie bei der 2. INK in London erreicht werden sollten.
Die Frage ist jedoch: Welchen Sinn hat diese Aussage, wenn man weiß, daß die Bundesregierung in ihrem Bericht selber konstatiert, daß die auf der 2. INK vereinbarte Halbierung z. B. der Stickstoffeinleitung bis 1995 nicht zu erreichen sei.
({3})
Ich behaupte nach wie vor, daß der Minister und die Delegation in Den Haag eine bessere Ausgangsposition gehabt hätten, wenn die bundesdeutsche Nordseeschutzpolitik auf solidem Boden stünde.
({4})
Aus diesem Grunde frage ich Sie, Herr Minister: Haben Sie sich dafür eingesetzt, daß wenigstens die bei uns verbotenen Pestizide auch in anderen Ländern verboten werden, daß bei den Nordsee-Einleitern die Eliminierung von Nährstoffen in den Kläranlagen verbindlich wird, daß aus der Wiederaufbereitung deutschen Atommülls in Frankreich und England nicht noch erhöhte Abgaben an Radioaktivität in die Nordsee resultieren dürfen? Haben Sie sich stark gemacht für Produktionsverbote der schlimmsten Killer des Meereslebens, wie es seit 15 Jahren von den Rheinwasserwerken gefordert wird? Ich erinnere noch einmal an die 129er Liste.
Und noch eines: Herr Minister, es fällt Ihnen sicherlich leicht, England als Buhmann der Nordsee aufzu15564
bauen und damit von eigenen Versäumnissen abzulenken.
({5})
Die deutsche Industrie, die deutsche Landwirtschaft und der deutsche Autoverkehr verursachen maßgeblich die diffusen Einträge in die Nordsee, die mehr als zwei Drittel der Gift- und Nährstofffracht ausmachen.
({6})
Deutschland als große Schadstoffquelle - so heißt es in der Schweiz. Das habe ich das letzte Mal schon ausgeführt. Rhein, Elbe und Maas sind für 65 % der Schadstoffeinträge verantwortlich - so heißt es in England.
Lassen wir doch einmal die Fakten sprechen. Rhein und Elbe tragen die größten Schmutzfrachten in die Nordsee; nachzulesen in einer Studie des International Center for Water Studies.
({7})
Je nach Stoff stammen 60 bis 90 % der Belastung des Rheins aus der Bundesrepublik ({8})
so auf der 10. Rheinanliegerkonferenz. Die Bundesrepublik trägt maßgeblich zu den atmosphärischen Frachten bei, die in der Nordsee landen. 1985 stammten 71 % des eingetragenen Kadmiums aus der Atmosphäre; Bericht der Bundesregierung 2. und 3. INK.
Herr Töpfer, Sie möchten gerne als der Saubermann der Nordsee auftreten.
({9})
Aber Sie sind die Gallionsfigur der Industrie.
({10})
Die D-Mark soll rollen, die Schlote sollen pusten, die Vorfluter willfährig den Dreck aufnehmen. Mit allen Mitteln soll die Produktion am Laufen gehalten werden und sollen Stoffverbote und Produktionsverbote verhindert werden.
({11})
Vorsorgender Nordseeschutz hieße - das sage ich zum wiederholten Male - :
({12})
Die persistenten Gifte, die die Nordsee schleichend verseuchen, dürfen nicht mehr hergestellt und eingesetzt werden. Allein die Dow Chemical in Stade produziert mehr als 200 000 t Perchlorethylen und Trichlorethan im Jahr, die größtenteils nach Gebrauch über Wind und Wasser in die Schadstoffsenken transportiert werden. Herr Töpfer, hier müßten Sie eingreifen. Der Ausstieg aus der Chlorchemie muß forciert betrieben werden.
({13})
Daß diese Bundesregierung es mit der Vorsorge aber nicht ernst nimmt, zeigt die neueste Verordnung, die uns letzte Woche auf den Tisch geflattert ist. Die
Abwässer aus den gentechnischen Produktionsanlagen sollen nach Willen dieser Bundesregierung nur noch in Ausnahmefällen inaktiviert werden. Das ist absolut unzumutbar - so heißt der Kommentar aus dem Bundesgesundheitsamt.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was soll denn unseren Gewässern und damit der Nordsee noch alles zugemutet werden?
({14})
Die nationale Verpflichtung, die wir in der Bundesrepublik für das Wohl und Wehe der Nordsee haben, wird von dieser Bundesregierung auf das sträflichste mißachtet. Diesen Vorwurf müssen Sie sich gefallen lassen; denn die nationalen Versäumnisse widersprechen eklatant dem Vorsorgeprinzip, dem sich die Bundesregierung verpflichtet hat.
Ich danke Ihnen.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Baum.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie klatschen, obwohl auch Sie an der Vorsorge beteiligt sind, meine Damen und Herren von der SPD: früher in der Bundesregierung und in Landesregierungen landauf, landab.
Erstens. Die Ergebnisse der 3. Nordseeschutz-Konferenz sind auch nach unserer Auffassung unzureichend. Sie bleiben hinter der Bedeutung der 2. Konferenz weit zurück,
({0})
auch wenn man feststellen kann, daß einige Fortschritte gemacht wurden. Wichtig ist aber: Die Bundesregierung hat in Den Haag in nahezu allen wichtigen Punkten weitergehende Forderungen gestellt. Sie ist damit an Großbritannien und an anderen Staaten gescheitert.
Zweitens. Das Recht der Bundesrepublik und die hier getroffenen und in die Wege geleiteten Maßnahmen erfüllen nicht nur die Forderungen aller Konferenzen. Unsere Anstrengungen gehen in wichtigen Bereichen über die Beschlußlage der Konferenzen hinaus. Ich verweise auf den Bericht der Bundesregierung vom 7. Februar 1990.
Der deutschen Öffentlichkeit muß vor Augen geführt werden, daß Gewässerschutzinvestitionen nach den großen Anstrengungen im Bereich der Luft der Hauptinvestitionsschwerpunkt der nächsten Jahre sind. Wir haben heute im Ausschuß gehört: bis 1995 etwa 30 Milliarden DM. Darin sind die Investitionen für Kanalnetze noch nicht einmal enthalten.
Es besteht also überhaupt kein Anlaß für diese von der Opposition zur Schau getragene Selbstgerechtigkeit.
({1})
Der SPD muß gesagt werden, daß die Gewässerschutzpolitik der Bundesrepublik - man lese nur die
Entscheidungen der Umweltministerkonferenzen - in großem Konsens erfolgt. Der Bund hat im Wasserrecht keine Kompetenzen - wir Liberalen haben das immer bedauert -; er kann nur einen Rahmen setzen. Die Länder haben eine starke gesetzgeberische Position. Sie vollziehen das Wasserrecht, und zwar von A bis Z.
({2})
Wir sitzen hier alle in einem Boot. Sie sitzen genauso im Glashaus wie wir. Ich frage mich, was Herr Matthiesen in Brüssel gemacht hätte.
Die FDP-Fraktion erhebt zur Fortentwicklung des Gewässerschutzes eine Reihe von Forderungen. Es besteht natürlich Handlungsbedarf; wir sehen ihn gemeinsam. Ich zeige ihn noch einmal auf. Die Europäische Gemeinschaft sollte eine noch aktivere Rolle im Gewässerschutz übernehmen. Ich weiß allerdings, Herr Töpfer, daß uns die EG hier oft enttäuscht hat - nicht nur, weil Großbritannien Mitglied ist. Warum machen wir nicht die Nordsee zum Gegenstand, zum Thema der nächsten Gipfelkonferenz in Europa?
({3})
Der für das Jahr 1993 vorgesehene Workshop der Nordseeanrainerstaaten sollte eine größere Bedeutung bekommen. Insbesondere, Herr Töpfer, sollten die Landwirtschaftsminister ihrerseits Festlegungen zur weiteren Reduzierung des Nährstoffeintrages treffen. - Die „Frankfurter Allgemeine" analysiert das heute; ich möchte darauf nur hinweisen.
Der Neubau und Ausbau von kommunalen und industriellen Kläranlagen ist zu beschleunigen. Das ist Sache der Gemeinden, und da klappt vieles nicht.
({4})
Wir fordern die Verringerung des Schadstoffeintrags an der Quelle durch Produktionsumstellungen, also strikte Anwendung der vorhandenen Gesetze. Wir fordern eine weitere Verbesserung und Verschärfung des Gewässerschutzrechts auf Bundes- und Länderebene. Die Koalition wird Ihnen eine veränderte Fassung des Abwasserabgabenrechts vorlegen. Da werden Sie sehen, daß wir Ernst machen.
({5})
- Natürlich, wir kommen noch - keine Sorge - mit einer sehr guten Vorlage.
({6})
Das Gewässerschutzrecht muß noch konsequenter umgesetzt werden, meine Kollegen; es gibt Vollzugsdefizite. Ich erwarte, daß einmal ein Bericht gemacht wird; das haben wir seit langem gefordert. Möglicherweise, Herr Töpfer, kann man einmal den Sachverständigenrat für Umweltfragen beauftragen, uns, dem Bund, dem Rahmengesetzgeber, zu sagen,
({7})
wie das Wasserrecht, Herr Landrat, an der Quelle, unten in den Gemeinden, umgesetzt wird. Ich lehne es ab, daß wir hier immer auf die Anklagebank gesetzt werden. Nach unserer Verfassung sind für das Wasserrecht die Länder und die Gemeinden zuständig.
Wir fordern die Ausweisung von Wasserschutzgebieten und Naturschutzgebieten sowie die längst fällige Aufstellung von Wasserbewirtschaftungsplänen durch die Länder und die Novellierung des Naturschutzgesetzes. Wir unterstützen die Bundesregierung bei ihren Bemühungen, mit der DDR, aber auch mit der CSSR zu einer umfassenden Sanierung der Elbe zu gelangen.
Die vom Wahlkampf bestimmte Schwarzweißmalerei, meine Kollegen, die hier an den Tag gelegt wurde, wird Ihnen keine großen Vorteile bringen. Sie verunsichern die Öffentlichkeit, die darüber hinweggetäuscht wird, daß es auch wesentliche Fortschritte gibt. Diese Schwarzweißmalerei lehnen wir ab. Sie haben genauso Ihre Schulaufgaben zu machen.
({8})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Blunck.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Niemand wird mir nachsagen können, oft mit Bundesumweltminister Töpfer einer Meinung gewesen zu sein. Aber ausnahmsweise teile ich seine Ansicht, nämlich hinsichtlich der Bewertung der Ergebnisse der 3. Nordseeschutz-Konferenz.
In der Tat, Herr Austermann, haben Sie völlig recht, daß Sie die Ergebnisse als absolut unzureichend bewertet haben. Was unter dem Motto „save our seas", rettet unsere Meere vor Vergiftung und schleichendem Tod, in Den Haag stattgefunden hat, war weniger eine Konferenz zum Schutz der Nordsee als vielmehr eine solche zur Verschmutzung der Nordsee, und das ist ein Skandal.
({0})
Das miese Konferenzergebnis war aber vorhersehbar und stand im Grunde schon vor Beginn fest. Den Weg nach Den Haag hätte man sich daher wohl sparen können. Wenn man selbst mit einem Forderungskatalog auf dem geringstmöglichen Nenner - und das auch noch halbherzig, Herr Töpfer - in Verhandlungen geht, dann darf man sich hinterher nicht wehleidig beklagen, daß selbst dieser Minimalkatalog nicht durchsetzungsfähig war.
Hätte Herr Minister Töpfer seine Hausaufgaben hier zu Hause gemacht - ich nehme das Wort gerne auf, Herr Baum - und hätte er sich von Beginn an zu weitergehenden und für den Nordseeschutz unerläßlichen Forderungen bereit gefunden, dann hätte wenigstens die Chance bestanden, einen Teil dieser Forderungen durchzusetzen.
({1})
Aber natürlich, wenn man noch immer die wirtschaftlichen Interessen hochrangiger bewertet als tiefgreifende Schutzmaßnahmen für die Nordsee, dann ist man auch international nicht in der Lage, glaubwürdige Positionen zu vertreten. Mit eigener schlechter Beispielgebung kann man international eben keine allzu große Glaubwürdigkeit erzielen und Handlungsfähigkeit gewinnen.
({2})
Seit Jahren fordern wir an dieser Stelle und eigentlich überall unverzügliche Maßnahmen zur Reduzierung der Schadstoffeinträge aus der Industrie, aus der Landwirtschaft und den Kommunen. Aber wir stoßen hier nur auf taube Ohren; unsere Forderungen werden einfach abgeschmettert.
Die erheblichen Anstrengungen, die das Land Schleswig-Holstein in eigener Regie zur Wasserreinhaltung unternommen hat,
({3})
werden nach den Beschlüssen von Den Haag durch die Gesamtschadstoffbilanz gerade wieder zunichte gemacht.
({4})
Es ist nicht gelungen, verbindliche Zeitrahmen für die Einführung von Klärwerken zu beschließen,
({5})
ja es gibt nicht einmal Zeitvorstellungen für die erste biologische Klärung, ganz zu schweigen von der Nitrat- und Phosphatausfällung.
({6})
- Herr Austermann, ich würde Ihnen dringend empfehlen, die Ergebnisse dieser Konferenz zu lesen und hier nicht falsch zu zitieren. ({7})
Völlig unhaltbar ist, daß Großbritannien den Klärschlamm auch weiterhin in die Nordsee kippen kann. Da kann man jetzt schon ausrechnen, wann er vor Helgoland angekommen sein wird.
Angesichts dieser traurigen Bilanz kann ich gut verstehen - und ich bin dankbar dafür -, daß der schleswig-holsteinische Umweltminister Heyde-mann
({8})
sowie die Hamburger und Bremer Delegation die Konferenz aus Protest verlassen haben. Nur, ich hätte mir gewünscht, Minister Töpfer hätte das auch gemacht.
({9})
Die Warnsignale aus der Nordsee häufen sich. Das haben erst in diesen Tagen 50 Meeresbiologen wieder nachgewiesen. In der Nordsee tickt eine ökologische Zeitbombe, die, kommt sie zur Explosion, die wirtschaftliche Existenz der an der Küste und auf Helgoland lebenden Menschen auf Dauer vernichten wird.
({10})
Das Seehundsterben, das massenhafte Algenwachstum, die Protestdemonstration des Nordseebäder-Verbandes, die Menschenketten der Badegäste - sie haben in Bonn rein gar nichts bewirkt. Hier wird
weiterhin nach dem Prinzip „verharmlosen, herunterspielen, nichts tun" verfahren. Zusätzlich gefällt man sich dann in Schuldzuweisungen an andere.
({11})
Dabei wirkt Minister Töpfer wie ein betrügerischer Bankrotteur,
({12})
der sein eigenes Verschulden durch wehleidiges Lamentieren zu kaschieren versucht. Dies finde ich nicht in Ordnung.
({13})
Ja, was soll man da sagen? - Das Wort hat Herr Dr. Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Hausaufgaben angeht, die Frau Blunck mit Blick auf den Bund angesprochen hat, so haben wir als Bundestag vor etwa zwei Jahren auf Empfehlung des Umweltausschusses einen einstimmigen Beschluß hierzu gefaßt. Ich stelle fest, daß die Bundesregierung diese einstimmigen Beschlüsse des Deutschen Bundestages zum internationalen Nordseeschutz uneingeschränkt, hundertprozentig eingehalten hat,
({0})
und zwar sowohl bei der Durchsetzung dessen, was national erforderlich ist, als auch hinsichtlich dessen, was die internationalen Verhandlungspositionen angeht. Wenn Sie das Gegenteil behaupten wollen, dann kommen Sie hierher, zitieren Sie den Bundestagsbeschluß, den Sie als Aufforderung an die Bundesregierung mit gefaßt haben, und sagen Sie, wo sich diese Regierung in irgendeinem Punkt abweichend verhalten hätte.
({1})
Die letzte INK ist zweifellos - mindestens teilweise - enttäuschend gewesen. Ich stimme dem, was Kollege Baum dazu gesagt hat ausdrücklich zu, wenngleich man, Herr Kollege Baum, meines Erachtens nicht sagen kann, daß diese 2. INK hinter der zweiten zurückgeblieben sei. Die Fortschritte von der ersten zur zweiten waren natürlich viel größer als das, was jetzt erzielt werden konnte.
({2})
Es ist auch richtig, daß unsere weitergehenden Vorschläge in einigen Bereichen nicht konsensfähig waren.
Aber, Frau Blunck, wenn Sie hier - wie auch schon in einer Presseerklärung für Ihre Fraktion - nun sagen, Töpfer hätte diese Konferenz unter Protest verlassen müssen, dann ist das doch eine ebenso unehrliche wie auch kurzsichtige Position. Diese Konferenz jetzt platzen zu lassen hätte doch bedeutet, später
exakt an dem Punkt weitermachen zu müssen, an dem man jetzt ausgestiegen wäre,
({3})
hätte doch die bundesdeutsche Position isoliert, weil keine andere Delegation bereit war, diesen Schritt zu unterstützen, und hätte schließlich doch auch verhindert, daß die Vereinbarungen, die jetzt geschlossen wurden, auf die Dänemark, Norwegen, Schweden und die Niederlande - das sind nun nicht gerade die Schmutzfinken der Nordsee - großen Wert gelegt haben, zustande kommen.
Zu diesen Punkten gehört die Liste der gefährlichen Stoffe, deren Eintrag bis 1995 um 50 % reduziert werden soll. Diese Liste wurde von 7 auf 37 Stoffe erweitert. Erstmals gibt es die Verpflichtung, 17 gefährliche Stoffe, die auf dem Luftpfad eingetragen werden, um 50 % zu reduzieren. Ich erwähne nur stichwortartig die Vereinbarungen zu Pestiziden, PCB und zur Konkretisierung der Nährstoffverminderung. Diese Vereinbarungen, die die soeben genannten Länder ausdrücklich wollten, wären unterblieben, wenn Herr Töpfer das getan hätte, was Sie von ihm heute verlangen.
({4})
Hätte Herr Töpfer das getan - auch das ist klar -, dann hätte sich die Opposition hier hingestellt und hätte gesagt: Wie kann der Mann Ländern wie den Niederlanden, Dänemark und Norwegen so in den Rücken fallen?
({5})
Nordseeschutz durch Töpfer verhindert! - Das hätten Sie gesagt, wenn er das getan hätte, was Sie jetzt gefordert haben.
Nein, es war ganz richtig, diese Konferenz nicht platzen zu lassen und das Mögliche zu vereinbaren, ohne unsere Forderungen damit auch nur um ein Jota zurückzunehmen, ohne die zum Teil mangelhaften Ergebnisse in irgendeinem Punkte zu beschönigen und vor allem auch ohne unsere weiterreichenden Anstrengungen zu vermindern. Im Gegenteil: Internationaler Fortschritt wird nur möglich sein, wenn wir weiterhin mehr tun als andere.
({6})
Ich darf festhalten, was seit der 2. INK unsere Umweltpolitik für die Bundesrepublik erreicht hat.
Erstens. Seit Oktober 1989 gibt es keine Verbrennung von Abfällen auf hoher See.
({7})
Zweitens. Die Einbringung von Dünnsäure aus der Titandioxidproduktion wurde beendet, und zwar ebenfalls deutlich vor Ablauf der international vereinbarten Fristen.
Herr Kollege Lennartz, richtig ist, daß wir das nicht auf dem Weg gemacht haben, den sie uns empfohlen haben, nämlich durch ein damaliges sofortiges Verbot. Das hätte zur Folge gehabt, daß die Titanproduktion lediglich in andere Länder verlagert worden wäre,
({8})
mit dem Ergebnis, daß der Eintrag in die Nordsee erhalten geblieben wäre. Unser Weg konnte zum Schutz des Ökologiesystems Nordsee beitragen, meine Damen und Herren.
Gerade in diesem Zusammenhang sei erwähnt, daß Kritik an anderen nur glaubwürdig ist, wenn zu Haus vor der eigenen Haustür das Notwendige geschieht.
Herr Kollege Lennartz, wir beide als Kommunalpolitiker aus Nordrhein-Westfalen wissen ganz genau, daß gerade jetzt, wo es bei der Verwirklichung des Zehn-Punkte-Programms der Bundesregierung notwendig ist, die erforderlichen Maßnahmen zur Sanierung der Kläranlagen und zur Nährstoffelimination vorzunehmen, die nordrhein-westfälische Landesregierung einen Kahlschlag zu Lasten der Gemeinden und des Gewässerschutzes betrieben hat, indem ein Drittel der dortigen Zuschüsse für die kommunalen Kläranlagen gestrichen wurde.
({9})
Landkreistag, Städte- und Gemeindebund und der nordrhein-westfälische Städtetag, alle zusammen beklagen dies. In Ihrem Kreis, Herr Lennartz, wie in meinem hat das zur Folge, daß Nährstoffelimination, Phosphatfällung, Nitrifizierung und Denitrifizierung verschoben werden müssen und zu einem späteren Zeitpunkt kommen, als ursprünglich beabsichtigt.
({10})
Das ist doppelzügige Politik.
Dazu gehört auch, daß Minister Heydemann und Herr Engholm, während wir uns gemeinsam darüber beklagen, daß Großbritannien nach wie vor Nährstoffe durch Verklappung direkt in die Nordsee einbringt, zur gleichen Zeit Baggergutverklappungen in die Ostsee genehmigen, ebenfalls mit hohen Phosphateinträgen und Nährstoffeinträgen, die sie an anderer Stelle kritisieren.
({11})
Glaubwürdiger wäre es, zunächst vor der eigenen Haustür zu kehren.
({12})
Jetzt gebe ich dem nächsten Redner, Herrn Abgeordneten Hoss, das Wort.
In den letzten zwei Minuten, die den GRÜNEN zur Verfügung stehen, möchte ich sagen: Wir sind uns in dieser Debatte darüber einig, daß es um die Nordsee schlecht bestellt ist. Das hat die Öffentlichkeit wahrgenommen, und auch der Minister hat sich in diesem Sinne geäußert. Entscheidend ist,
wie wir mit dieser Nachricht umgehen. Es kommt darauf an, daß wir ehrlich damit umgehen
({0})
und nicht, wie es der Minister getan hat, der ein gutes Showtalent ist - das können wir ja ohne weiteres zugeben - und aus der Situation für sich das Beste macht, mit dem Finger auf die anderen Länder zeigen.
({1})
Ich weiß genau, daß Großbritannien in der Frage der Verklappung und des Klärschlammes eine Rolle einnimmt, die keiner gutheißt. Aber auf England zu zeigen, um damit den Eindruck zu erwecken, daß wir besser sind, ist eine unehrliche Politik.
({2})
Ich will das beweisen. Bezogen auf den Anteil am Wasserzufluß, bei dem England mit 16 % und die Bundesrepublik mit 15 To zu Buche stehen, beträgt der Stickstoffeintrag in die Nordsee bei England 11 % und bei der Bundesrepublik 26 %. Bei Phosphor sind es 5 To bei England, 22 % bei uns. Bei Quecksilber sind es 26 % bei England, 43 % bei der Bundesrepublik.
({3})
Das ist die Situation, der wir uns ehrlich stellen müssen, und es hat keinen Sinn, hier anderes zu tun. Es hat keinen Sinn, daß hier wahlkampfmäßig der eine auf den anderen schimpft, denn Sie sind in der Situation, daß Sie die Bundesregierung stellen, und Sie wiederum sind in der Situation, daß Sie einige Landesregierungen stellen. Ich muß da fragen: Wo bleibt denn eigentlich das Herangehen an die Ursachen der Verschmutzung im allgemeinen?
({4})
Wo bleibt denn das Herangehen - das gilt auch für den Kollegen Rau; trotz aller Liebe und aller Sympathie ist das zu fragen - , wo bleibt denn die Politik in Nordrhein-Westfalen, in Hamburg und in Schleswig-Holstein genauso wie bei der CDU?
Es ist die Frage nach einer anderen Verkehrspolitik und einer anderen Landwirtschaftspolitik zu stellen.
({5})
Es ist das Problem der Massentierhaltung anzugehen. Ich könnte das noch fortsetzen. Das sind genau die Punkte, die geändert werden müssen, und an diese gehen Sie am allerwenigsten heran.
Sie sind im Grunde der Umweltminister von unseren Gnaden.
({6})
Das Umweltministerium wurde erst geschaffen, nachdem die GRÜNEN hier in den Bundestag eingezogen
sind, und Sie sollten eigentlich eine Politik machen,
die dem entspricht, was die GRÜNEN hier vortragen. Sie sind eingesetzt worden, um zu kaschieren,
({7})
und das verstehen Sie glänzend. Ich muß Ihnen hier sagen: Das Entscheidende ist, daß Sie nicht an die Probleme herangehen, die für die Umweltverschmutzung ursächlich sind.
Meine zwei Minuten Redezeit sind schon länger um; ich muß deshalb aufhören.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kann sicherlich keinem Zweifel unterliegen, daß wir alle mit dem Ergebnis der 3. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz unzufrieden sind und auch sein müssen. Die Bundesregierung trifft unseres Erachtens kein Verschulden. Schließlich hat sie mit ihrem Bericht über die Umsetzung der Beschlüsse der letzten Nordseeschutz-Konferenz aufgezeigt, welche Anstrengungen in der Bundesrepublik Deutschland unternommen worden sind. Die Schadstoffemissionen in die Gewässer sind maßgeblich reduziert worden.
Der Mißerfolg ist im wesentlichen auf den Widerstand und die fehlenden Einsichten Großbritanniens zurückzuführen.
({0})
Nicht umsonst wird Großbritannien als der Schmutzfink Europas bezeichnet.
({1})
Die Engländer sind noch nie sensibel mit der Umweltbelastung gewesen, weder im eigenen noch im fremden Land. Die Lüneburger Heide, die von den Engländern systematisch zerstört wird, ist ein typisches Beispiel für den Umgang mit der Natur durch die Engländer.
({2})
Zu hoffen, daß die Engländer nunmehr aus eigener Einsicht heraus oder vielleicht wegen unserer besseren Argumente, insbesondere der Argumente von Herrn Opel,
({3})
ihre bisherige umweltverschmutzende Position aufgeben, wäre völlig verfehlt. Vielmehr müssen die Engländer an das altrömische Prinzip des do ut des erinnert werden. Das heißt mit anderen Worten: Wir müssen sie auch wirtschaftlich daran erinnern, daß sie von uns nur dann profitieren können, wenn sie gleichzeiFunke
tig bereit sind, die Belastung der Umwelt maßgeblich zu reduzieren.
({4})
Die Bundesregierung sollte daher auch ihre Bemühungen intensivieren, die Umweltpolitik, die Wirtschafts- und die Finanzpolitik noch besser abzustimmen, damit gegenüber Großbritannien mit einer Zunge gesprochen wird.
({5})
- Da freue ich mich sehr.
Die 3. Internationale Nordseeschutz-Konferenz hat auch deutlich gezeigt, wo im einzelnen die Dissense in den Ländern liegen. Schon aus diesem Grunde war es gut, daß diese Nordseekonferenz stattgefunden hat. Es ist auch in Großbritannien politisch Druck gemacht worden.
Wir Deutschen dürfen uns jedoch nicht hinter den berechtigten Anwürfen und Vorwürfen gegen Großbritannien und andere Staaten verstecken.
({6})
Vielmehr sind wir aufgefordert, unsere eigenen Anstrengungen zu verstärken, um sozusagen eine Lokomotivfunktion für den Schutz der Nordsee wahrzunehmen. Hier ist insbesondere darauf hinzuarbeiten, daß die Wasserqualität der Weser, vor allem auch der Elbe verbessert wird.
({7})
- Und des Rheins. Aber da sind wir auch nicht die einzigen, sondern da sind eine Reihe von Ländern mit beteiligt.
({8})
- Frau Garbe, wir sind da gar nicht unterschiedlicher Meinung. Wir brauchen uns deswegen gar nicht darüber zu streiten.
({9})
Wir sind der Meinung, daß die erheblichen Vorbelastungen im Schwermetallbereich durch die DDR so schnell wie möglich beseitigt werden sollten, und zwar nicht nur, indem wir die DDR beschimpfen, sondern indem wir konkrete Hilfe, Finanzhilfe und technisches Know-how, geben, und zwar mit einem Sofortprogramm. Frau Dr. Sonntag, ich teile da völlig Ihre Auffassung.
({10})
Aber wir haben auch eine Reihe von hausgemachten Sorgen und Verschmutzungen durch Einleiter in den wirtschaftlichen Ballungszentren, die wir nicht verniedlichen sollten. Dies gilt sowohl für die industriellen als auch für die kommunalen Einleiter. Zwar sind viele Kläranlagen und Siele gebaut worden, aber
wir müssen mit diesem Investitionsprogramm verstärkt fortfahren.
In diesem Zusammenhang möchte ich daran erinnern, daß viele Siele noch um die Jahrhundertwende gebaut worden sind und daß hier eine Zeitbombe tickt, die höchst gefährlich ist; denn viele Siele sind so zerstört, daß sie heute Abwässer ins Grundwasser, aber auch in die Flüsse abgeben.
({11})
Das unbefriedigende Ergebnis der 3. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz sollte dazu führen, daß wir mit der DDR Vereinbarungen über umfassende Sanierungen der Elbe und anderer Gewässer in der DDR treffen. Die Bildung einer Elbeschutzkommission wäre in diesem Zusammenhang sicherlich hilfreich. EG-weit sollten die nicht gelösten Probleme der Nordseeschutz-Konferenz auf der nächsten Ratssitzung behandelt werden,
({12})
wenn möglich, auch auf der Ebene der Chefs der Regierungen, so daß wir nach Möglichkeit noch in diesem Jahr zu einer Internationalen NordseeschutzKonvention kommen.
Vielen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Schütz.
Meine Damen und Herren! Ich habe vorhin noch gedacht, daß die Nordseeschutzkonferenz nach unserer gemeinsamen Einschätzung absolut unbefriedigend war. Aber nachdem ich Herrn Austermann gehört habe, muß ich ihn ausnehmen. Er ist vollkommen befriedigt von den Ergebnissen.
Mich erinnert dieses Ergebnis an das lateinische Sprichwort: „Der Berg kreißt, und heraus kommt eine kleine Maus."
({0})
- Das habe ich mir gedacht. Deswegen habe ich mir das aufgeschrieben: „parturient montes, nascetur ridiculus mus. "
({1})
- Dieser Berg hat nicht viel hervorgebracht. Wir sind uns hoffentlich einig, daß das Ergebnis sowohl vom Konferenzaufwand als auch von den Konferenzerwartungen, die wir hatten, lächerlich gering ist. Das liegt auch am Widerstand der britisch geführten vereinigten Betonriege. Es liegt auch daran, aber nicht nur daran.
({2})
Die Einsicht, daß die Nordsee nicht länger als billige Müllkippe benutzt werden darf, konnte den Briten nicht vermittelt werden. Das sehe ich. Die Verklappung von Industriemüll und Klärschlamm, aber auch von atomaren Abfällen, meine Damen und Herren,
und die Verbrennung auf hoher See konnten nicht kurzfristig, Herr Austermann, verhindert werden.
({3})
Es ist völlig unakzeptabel, daß bis 1992 Industriemüll und noch bis 1998 die Klärschlammverklappung geduldet werden.
({4})
- Das kritisieren wir gemeinsam.
Wir wären an dieser Stelle aber glaubwürdiger, wenn wir uns bewußt machten, daß nach wie vor, Herr Göhner, der Rhein und die Elbe die größten Nährstofffrachten und Schmutzfrachten in die Nordsee einbringen.
({5})
Die dadurch forcierte Eutrophierungsgefahr ist schlimm. Nicht nur durch diese Eutrophierung kippt die Nordsee um, sondern auch durch den völlig unzureichenden Stand des Kläranlagenbaus bei uns und erst recht bei den anderen.
({6})
- Die zehn Punkte, die wir verabschiedet haben, haben doch nicht vollkommen gegriffen. Unseren Antrag, 500 Millionen DM in den Haushalt einzustellen, haben Sie abgelehnt.
({7})
- Das Stichwort habe ich erwartet. Wenn Sie sagen, Sie hätten das Strukturhilfegesetz verabschiedet, muß ich Ihnen entgegenhalten: Das ist ein breites Spektrum, das nicht nur für den Kläranlagenbau abgerufen worden ist. Das wissen Sie.
Die Beschlüsse im Hinblick auf den Nährstoffeintrag sind also völlig unzureichend. Daß, wie jetzt auf der Nordseeschutzkonferenz beschlossen, nur bestimmte Gebiete der Nordsee als Eutrophierungsgebiete eingestuft werden und nicht die gesamte Nordsee als eutrophierungsgefährdet klassifiziert wird, ist ein weiterer Skandal.
({8})
Hier wurde nicht bedacht, daß sich die Nordsee durch die Ströme, die Windverhältnisse und auch andere Ursachen vermischt.
({9})
Die Nährstoffeinträge müssen überall drastisch reduziert werden.
({10})
- Herr Göhner, ich sage nicht nur Dinge, in denen wir nicht übereinstimmen. An dieser Stelle stimmen wir
überein. Damit bin ich einverstanden. Das haben Sie gesagt, und damit bin ich einverstanden.
({11})
Nur: Es ist trotzdem ein Skandal. Wir sind bei diesen Reden immer in der Rolle eines tibetanischen Mönchens, der gebetsmühlenhaft sein Om mani padme hum abredet. Jedesmal, wenn ich hier stehe, rede ich über den Nährstoffeintrag, voriges Mal zur Landwirtschaft und zu diffusen Quellen, heute im Zusammenhang mit einem anderen Thema.
({12})
Es ist langsam unerträglich geworden.
({13})
- Ich komme nachher noch dazu.
Die Frustration und die Enttäuschung über die Ergebnisse der Nordseeschutz-Konferenz müssen darin einmüden, daß wir Politiker uns nicht mehr ausschließlich auf die Ergebnisse und Erfolge von internationalen Verhandlungen verlassen, sondern die Doppelstrategie aus alten Studententagen praktizieren: sowohl die Konferenzpolitik als auch eine Politik der Zusammenarbeit mit Umweltschutzorganisationen
({14})
wie Greenpeace, BUND, Friends of the Earth und auch mit den Pressemedien, und zwar forciert, um die Stimmung und Einschätzung in den Staaten der Umweltbetonfraktion aufzubrechen. Die internationale Konferenzpolitik muß mit der Offenlegung der nationalen Maßnahmen zum Nordseeschutz und der permanenten Veröffentlichung des ökologischen Status der Nordsee eine der Voraussetzungen für die öffentlichen Kampagnen der Umweltschutzverbände liefern.
({15})
Wir müssen das miteinander verzahnen. Beides, die Konferenzstrategie auf internationaler Ebene wie auch die Zusammenarbeit im Rahmen der Kampagnen der Umweltschutzverbände, wäre um so wirksamer, je höher wir unsere eigenen Maßstäbe setzen und sie auch erfüllten.
({16})
Die Hausaufgaben sind gestellt, werden aber immer noch nur teilweise erledigt.
({17})
Ich wiederhole das hier. Es fehlen nach wie vor wichtige Verwaltungsvorschriften zum Wasserhaushaltsgesetz.
({18})
Sie haben 26 verabschiedet. Aber z. B. die Beschreibung des Standes der Technik für den Bereich der chemischen Industrie ist nach wie vor nicht auf dem Tisch.
({19})
Durch das Pflanzenschutzgesetz müssen wassergefährdende Stoffe verboten werden. Es fehlen auch da noch Taten.
({20})
Die Werte müssen auf den Stand Null, Herr Lennartz.
Die Nährstoffe aus diffusen Quellen - ich wiederhole mich - , also vor allem aus der Landwirtschaft, zeigen, daß Regeln der umweltverträglichen Landwirtschaft fehlen. Das Düngemittelgesetz und das Bundesnaturschutzgesetz müssen novelliert werden.
({21})
Wir legen das schon vor. Die Klärschlammverordnung nach dem Abfallgesetz muß novelliert werden. Wir hab en also einen nachhaltigen Handlungsbedarf. Hoffentlich, Herr Töpfer, sind Sie mit Ihrem Latein nicht am Ende. Ich empfehle, daß wir wirklich zusammenarbeiten und den Druck erhöhen, zusammen mit den Umweltschutzverbänden,
({22})
und wirklich selber etwas tun. Ich danke Ihnen.
({23})
Das Wort hat der Abgeordnete Eylmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, wer ernstlich glauben kann er würde der Nordsee nützen, wenn man hier so herumfuhrwerkt, wie es der Kollege Lennartz und die Kollegin Blunck getan haben. Beim Kollegen Schütz war das schon anders. Eine gewisse niedersächsische Nüchternheit ist ihm nicht abzusprechen.
({0})
Ich verstehe weiter nicht, wie man ernstlich klatschen kann, wenn hier festgestellt wird, daß die Ergebnisse der Konferenz unzureichend sind. Freuen Sie sich denn darüber, daß die Ergebnisse unzureichend sind?
({1})
- Warum klatschen Sie denn? Warum beklatschen Sie diese Feststellung?
({2})
Wir sind uns darüber einig - ich wiederhole es -, daß die Ergebnisse der Konferenz unzureichend sind. Auf der anderen Seite läßt sich aber nicht bestreiten, daß es auf Teilgebieten Fortschritte gegeben hat. Ich will Ihnen ein konkretes Beispiel nennen. Sie, Herr Lennartz, reden nur allgemein und in schönen Formulierungen und vermeiden das Konkrete.
({3})
Wenn sich Großbritannien verbindlich verpflichtet hat, Industrieabfälle ab 1992, in Ausnahmefällen ab 1993 nicht mehr in die Nordsee einzubringen, dann empfinde ich das als Fortschritt, wenn vorher eine solche zeitliche Begrenzung nicht vorhanden war. Das ist ein unzureichender Fortschritt, aber es ist einer.
({4})
Um der Ehrlichkeit willen sollte man das nicht in Abrede stellen. Es gibt weitere Beispiele.
Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, die unzulänglichen Ergebnisse dieser Konferenz dem Umweltminister in die Schuhe schieben wollen, dann müßten Sie doch zweierlei machen. Sie müßten erstens konkrete Beispiele dafür nennen, daß weitergehende Beschlüsse an der deutschen Haltung gescheitert sind. Nicht in einem einzigen Fall haben Sie konkrete Beispiele hier und heute genannt. Sie haben keinen einzigen Fall genannt, daß Fortschritte an der Haltung unseres Ministers gescheitert sind. Wenn Sie das jetzt nachholen wollen, können Sie das; der Minister wird darauf antworten.
Zweitens müßten Sie, wenn Sie das schon nicht können, Beispiele dafür nennen, daß der Minister weitergehende Forderungen mit Aussicht auf Erfolg hätte erheben können. Auch insoweit haben Sie nichts gebracht.
Im Gegenteil haben Sie im Vorfeld gesagt, er hätte die Konferenz unter Protest verlassen sollen. Heute haben Sie es nicht mehr gebracht.
({5})
- Ich habe schon gehofft, Sie hätten sich das Wort Herbert Wehners zu Herzen genommen, daß derjenige, der hinausgeht, auch wieder hereinkommen muß.
Es wäre keine verantwortungsvolle Haltung gewesen, in dieser Situation eine Konferenz zu verlassen. Das kann ein Minister, der sein Amt ernst nimmt, doch nicht tun; denn er muß mit den anderen später wieder verhandeln.
({6})
Wenn Sie dieser Meinung sind, müssen Sie sagen, was denn nach Ihrer Auffassung ein solcher Schritt gebracht hätte. Er hätte überhaupt nichts gebracht; er hätte geschadet.
Ich verstehe nicht, wie man hier so allgemein über „Leichentuch" und „ökologische Zeitbombe" herumreden kann und davon von Ihrer Seite auch noch Beifall bekommt, aber überhaupt nichts Konkretes vorträgt.
({7})
Herr Schütz, jetzt will ich mich noch mit Ihnen auseinandersetzen. Sie haben über die Eutrophierung gesprochen. Wir sind uns darüber einig, daß auf diesem Gebiet etwas geschehen muß. Der Fairneß halber hätten Sie aber auch sagen müssen, daß man zwar die
Konzentrationen im Rhein und in der Themse miteinander vergleichen kann, aber wegen der unterschiedlichen Größe natürlich nicht die Gesamtfracht. Das gehört einfach dazu.
Nun wissen wir aber, daß insbesondere bei der Elbe unheimlich viel geschehen kann und geschehen muß.
({8})
Das ist doch eine der Hauptaufgaben, die hier und heute noch gar nicht richtig angesprochen worden ist.
Es wird wahrscheinlich so sein, daß in Zukunft - ich will nicht mit Fingern auf andere zeigen - unser Umweltminister auf der nächsten Konferenz die Verantwortung für ein vereintes Deutschland trägt. Daß wir bei der desolaten Umweltsituation in der DDR eine riesige Herausforderung zu bewältigen haben werden - ich weiß nicht, wieso Sie mit dem Kopf schütteln - , ist doch klar. Wir sollten uns einmal gemeinsam überlegen, wie wir dieser Herausforderung gerecht werden.
({9})
- Vorher. Wir tun doch jetzt schon etwas; darüber wird man noch etwas sagen. Man sollte nicht verschweigen, daß hier eine entscheidende Möglichkeit dafür gegeben ist, kurzfristig einen großen Erfolg durch den gezielten Einsatz der Mittel an der richtigen Stelle zu erreichen.
Vielen Dank.
({10})
Wenn ich das noch einmal sagen darf: Es handelt sich hier an sich nicht um Zwiegespräche. In fünf Minuten zu reden ist ziemlich schwierig, wenn so viele Unterbrechungen kommen.
Jetzt hat Herr Bundesminister Töpfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Dritte Internationale Nordseeschutz-Konferenz hatte zwei Aufgaben. Erstens. Zweieinhalb Jahre nach der zweiten Konferenz war es notwendig, eine ehrliche Zwischenbilanz zu ziehen und Rechenschaft abzulegen, inwieweit man durch nationale Maßnahmen das umgesetzt oder eingeleitet hat, was in der zweiten Konferenz als Aufgabe übernommen wurde.
Zweitens ging es darum, im Lichte der zwischenzeitlich neuen und weiterreichenden Erkenntnisse zu fragen, was zusätzlich gemacht werden muß; denn schließlich lagen in diesen zweieinhalb Jahren solche dramatischen Entwicklungen wie das Seehundsterben oder das massenhafte Algenwachstum.
Dies waren die beiden Aufgaben. Zunächst zur Bilanz und zur Rechenschaft aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland: Die Bundesrepublik Deutschland hat zur Erfüllung der 1987 in London gegebenen Zusagen konsequent gehandelt. Sie hat in keinem Fall ein Defizit gegenüber dem, was dort übernommen wurde.
Dazu die Belege. Erstens. Das Vorsorgeprinzip wurde durchgehend bei der Neufassung wichtiger Umweltvorschriften und -gesetze durchgesetzt. Wir haben als Ausgangspunkt ein Gesamtkonzept, das eine neue Qualität des vorsorgenden Sicherheitsdenkens begründet. Es bildet den Rahmen für neue Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft.
({0})
„Vermeidung an der Quelle, nicht nachträgliche Reinigung" ist das leitende Prinzip. Beispiele dafür sind die Verordnungen zum Verbot von PCB, PCT sowie von PCP und Vinylchlorid.
Die Vorgaben aus meinem 10-Punkte-Programm zum verstärkten Schutz von Nord- und Ostsee, das ich bereits im Juli 1988 vorgelegt habe, sind in den wesentlichen Punkten abgearbeitet, teilweise wesentlich übertroffen worden. Die Aufträge dieses Hohen Hauses sind erfüllt worden.
({1})
Zweitens.26 Verwaltungsvorschriften zur Verminderung der Abwasserbelastung nach dem Stand der Technik werden die Mengen an Schad- und Nährstoffen - wie zugesagt - senken. Ich habe deutlich zu sagen: Es sind Verwaltungsvorschriften, die mit Zustimmung des Bundesrats erlassen worden sind, die also von den Ländern, die diesen Vollzug zu gewährleisten haben, in keiner Weise für unzureichend erklärt worden sind.
({2})
So stellen z. B. so wichtige Vorschriften wie die für die Zellstoffindustrie Anforderungen zur Reduzierung der organischen Belastung der Gewässer. Bedeutende Reduzierungen in der Abwasserbelastung werden auch erreicht durch die Bestimmungen für die Metallver- und -bearbeitung. Die Tatsache, daß einzelne Regelungen noch ausstehen, hat damit nichts zu tun; denn wir sind hier nicht allein, sondern wir sind gemeinsam mit den Bundesländern in diesen Arbeitsgruppen tätig.
Wir haben darüber hinaus für die Verwirklichung dieser Maßnahmen etwa 20 Milliarden DM bis 30 Milliarden DM zu investieren, Kommunen und vor allem die Industrie, und zwar, um Vermeidung von Schadstoffen und nicht Klärung von Schadstoffen zu gewährleisten.
Die Veränderung des Abwasserabgabengesetzes ist eingeleitet; die Nährstoffe Phosphor und Stickstoff werden in der Abgabe mit berücksichtigt; der Abgabesatz selbst wird erhöht ({3})
ein Vorgehen, daß in einer Verbindung von Ordnungsrecht in den Verwaltungsvorschriften und marktwirtschaftlichen Anreizen im Gesetz genau dem entspricht, was wir von einer modernen ökologischen Marktwirtschaft erwarten.
Drittens. Die dritte Reinigungsstufe bei Kläranlagen wurde verbindlich vorgegeben. Die Bundesregierung - das ist immer wieder zu unterstreichen - hat
mit der Verabschiedung des Strukturhilfegesetzes pro Jahr für die finanzschwachen Länder 2,4 Milliarden DM zur Verfügung gestellt, um das durchzusetzen. Würden diese Länder nur 20 % davon - nur 20 %! - für Kläranlagen einsetzen, wären damit bereits die 500 Millionen DM gewährleistet, Herr Abgeordneter Schütz, die Sie eingefordert haben.
({4})
Ich gehe davon aus, daß angesichts der Dramatik diese 20 % ja wohl nicht zuviel sind.
({5})
Viertens. Die Verbrennung chemischer Abfälle auf See wurde bereits 1989 beendet.
Fünftens. Ende 1989 wurde die Verklappung von Dünnsäure beendet.
Sechstens. Die Schiffsentsorgung in den Häfen wurde durch uns - nebenbei gesagt: nur durch uns - attraktiver gemacht durch kostenlose Entsorgung.
Siebtens. Die Luftbelastung wurde insbesondere durch das Verbot von verbleitem Normalbenzin und durch klare Programme gegen SO2 und Stickoxide wesentlich reduziert.
Achtens. Zur Luftüberwachung der Nordsee haben wir die Einführung eines neuen Systems mit Investitionskosten von ca. 36 Millionen DM beschlossen. Es liegt mir sehr am Herzen, gerade auch dem Abgeordneten Carstensen dafür zu danken, daß er sich für diese Dinge mit ganz besonderem Nachdruck eingesetzt hat; auch das darf man vielleicht einmal erwähnen.
({6})
Neuntens. Durch gemeinsame Sanierungsbemühungen mit der DDR an der Elbe, meine Damen und Herren, verringern wir bereits auf dem Gebiet der DDR entstehende Schadstoffe.
({7})
Ich möchte ganz deutlich sagen: Es ist nicht ein Sofortprogramm mit der DDR gefordert, sondern gegenwärtig wird ein Sofortprogramm mit der DDR abgearbeitet. Es wird bereits investiert. Für den Fall, daß es noch nicht bekanntgeworden ist, sage ich: Diese Maßnahmen sind beschlossen. Auf diese Art und Weise werden allein die Quecksilberfrachten in der Elbe um 7 t pro Jahr vermindert. Leider ist der Abgeordnete Hoss nicht mehr da; denn ich hätte ihn gern einmal gefragt, woher denn 43 % des Quecksilbers kommen, das die Nordsee erreicht.
({8})
Übrigens noch zur DDR, meine Damen und Herren: Ich greife sehr nachhaltig das auf, was hier gesagt wurde. Um es festzustellen: Die DDR befindet sich in einem ökologischen Bankrott, in einem ökologischen Bankrott! Nur zwei Beispiele, um Ihnen das zu verdeutlichen: Die gesamten Abwässer der Chemischen
Werke Bitterfeld und Wolfen mit 40 000 Arbeitskräften gehen ungeklärt - einige hunderttausende Kubikmeter pro Tag! ({9})
in das Flüßchen Mulde und aus der Mulde in Dessau in die Elbe.
Ein zweites Beispiel: Die Stadt Dresden mit etwa 400 000 Einwohnern und mehr als 1,3 Millionen Einwohnergleichwerten als Abwasserlast entsorgt sich seit vierzehn Monaten ohne jegliche Kläranlage direkt in die Elbe. Dies ist der ökologische Bankrott.
({10})
Wenn sich jemand hierhin stellt und mit einer solchen Vordergründigkeit internationale Ergebnisse beurteilt, wie das hier geschehen ist, dann muß er sich fragen lassen, woher er diese Selbstverständlichkeit gewinnt. Wir fühlen uns für diese Dinge bereits mit verantwortlich. Unter dem Gesichtspunkt ist das, was dort verabschiedet worden ist, eine vorzeigbare Basis für einen Nordseeschutz, der dieses Wort verdient.
({11})
Meine Damen und Herren, da mich der Abgeordnete Schütz gerade gefragt hat, ob ich mit meinem Latein am Ende bin, will ich ihm darauf eine Antwort auf latein geben: Si tacuisses, philosophus mansisses. - Wenn du geschwiegen hättest, so wärest du ein Philosoph geblieben.
({12})
Zu dem, was die Konferenz gebracht hat:
Erstens. Sie hat Veränderungen und Fortschritte gebracht, die uns bei weitem nicht weit genug gehen. Dies haben wir so gesagt, und dies werden wir weiterhin sagen mit Nennung der Namen derer, die dafür die Verantwortung zu tragen haben. Wir wollten weiter gehen bei Klärschlämmen, und wir wollten weiter gehen bei der Einleitung, dem Einbringen, dem Dumping von Schadstoffen aus der Industrie.
Wir haben den Endpunkt fixieren können. Dies ist ein Fortschritt. Der Endpunkt liegt uns zu spät. Dies ist unsere Kritik. Dies haben wir kritisiert, und wir werden es weiterhin tun. Damit zeigen wir nicht mit dem Finger auf andere, sondern wir referieren über ein Konferenzergebnis, meine Damen und Herren; und dies ist das Konferenzergebnis.
Zweitens. Es gibt wichtige Bereiche, in denen es wirklich Bewegung in die richtige Richtung gegeben hat, z. B. bei der Festlegung der Schadstoffe, die nun einem dramatischen Verminderungsprogramm zugeführt werden. Es handelt sich jetzt um 37 konkret genannte Schadstoffe und um 17 Schadstoffe, die die Luft belasten. Es sind vier, die mit besonderer Nachdrücklichkeit in Angriff genommen werden.
Es hat Fortschritte gegeben mit Blick auf die Pestizide. Wir wären noch weiter gegangen, auch in einer direkten Verbotsregelung. Andere glaubten das nicht tun zu können. Ich kann nicht jemanden dazu ver15574
pflichten, ich kann es ihm mit größtem Nachdruck über zwei Tage hin andienen und ihm klarmachen, daß es notwendig ist.
Wir haben einen Schritt nach vorn gemacht. Wir haben den Einsatz von PCB mit einem Endzeitpunkt fixiert und die kommunalen Kläranlagen zumindest in einem Bereich so weit vorangebracht, daß sie eine Entwicklung hin zur Biologie und zur Nährstoffentsorgung machen.
Meine Damen und Herren, dies ist also nicht ein Versuch, diese Konferenz zu dem großen Erfolg zu reden. Dies habe ich nach der Konferenz nicht getan und tue es hier nicht. Aber genauso falsch wäre es zu sagen, das Weggehen wäre besser gewesen. So wie ich werten das offenbar alle anderen Teilnehmerstaaten,
({13})
Teilnehmerstaaten wie Dänemark, wie Norwegen, wie Schweden und die Niederlande, die uns in diesem Hohen Hause doch bisher immer als diejenigen vorgestellt wurden, die in besonderer Weise umweltpolitisch den Weg weisen.
Nein, hier sind wir nicht hinter anderen zurückgeblieben, sondern wir sind anderen vorangegangen,
({14})
und wir werden in der deutschen Umweltpolitik weiter vorangehen, hier bei uns und in der Zusammenarbeit mit der DDR, damit der Nordsee das, was wir einbringen können, wirklich auch zugute kommen kann. Wir wollen eine bessere Zukunft für die Nordsee.
({15})
Meine Damen und Herren, jetzt hat das Wort Herr Minister Dr. Heydemann, Minister für Natur, Umwelt und Landesentwicklung in Schleswig-Holstein. - Bitte schön!
Minister Dr. Heydemann ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin nicht in dieses Hohe Haus gekommen, um eine Auseinandersetzung über Bewertungen zu führen, über das, was mich von der Bewertung, die der Kollege Töpfer gegeben hat, trennt, sondern ich möchte hier erneut den Versuch machen, eine Gemeinsamkeit in der Bewertung zu erreichen. Das kann aber nur heißen, daß man eine fachlich-kritische Bewertung anstellt, um danach zu neuen Strategien zu kommen, wenn man feststellt, daß die bisherigen Strategien in dieser Form nicht gehen.
({1}) Diese Feststellung müssen wir treffen.
Zu Anfang möchte ich sagen, wir werden niemals weiterkommen, wenn eine einvernehmliche Regelung mit Einstimmigkeit in einer solchen Konferenz angestrebt wird; vielmehr werden wir zu mehrheitlichen Regelungen kommen müssen, auf Grund deren
man entweder in Fußnoten oder anderweits herausstellt,
({2}) was andere für die Nordsee nicht machen wollen.
({3})
- Herr Kollege Baum, Sie werden meine Bewertung nicht spontan teilen, Sie werden sie aber zur Kenntnis nehmen, um sie möglicherweise im Laufe der nächsten Tage zu überdenken.
({4})
- Ich meine das nicht kritisch. Ich kenne Herrn Kollegen Baum schon aus früheren Unterhaltungen: Er macht das nämlich.
({5})
Zweiter Punkt. Es besteht gar kein so großer Unterschied zu der Auffassung von Herrn Kollegen Töpfer in bezug auf die Beurteilung der Intensität der Versuche, die die gemeinsame Delegation von Bundesregierung und den vier Küstenländern gemacht hat. Wir haben intensive Versuche unternommen, die anderen Länder in diese Richtung zu bewegen. Dafür danke ich auch Herrn Kollegen Töpfer. Zu zwei Drittel bis drei Viertel der Dauer der Diskussion, die wir geführt haben, haben wir dieses wohl auch gemeinsam versucht.
An der Stelle aber, wo es darum ging, eine entscheidende Nährstoffbegrenzung zu erreichen, unterscheidet sich meine Bewertung von der des Herrn Töpfer in bezug auf die Strategie. Hier bin ich der Meinung, daß ein Abbrechen der Verhandlung, d. h. ein Nichtunterschreiben für diesen Bereich, der Situation der Nordsee ganz klar gerechter geworden wäre, weil die Reduktion der Nährstoffe nach dieser Vereinbarung zu gering ist.
({6})
Das hätte nämlich mit Sicherheit - wenn wir jetzt einmal nüchtern analysieren - dazu geführt, daß die Länder, die ohnehin meinen, gegenüber der Nordsee verpflichtet zu sein, dieses in eigenen Programmen, wie dies Herr Kollege Töpfer für die Bundesrepublik angekündigt hat, in Zukunft tun und damit Stück für Stück, additiv, ganz von alleine das zustande gekommen wäre, was wir jetzt in dieser Konferenz erreicht haben. Statt dessen haben wir das, was die andern nicht unternehmen wollen, mit unterschrieben. Das ist doch in diesem Zusammenhang das Entscheidende. Es ist nicht das, was unternommen werden soll, sondern das, was andere nicht unternehmen wollen, sanktioniert worden.
({7})
Ich glaube, wir werden uns seitens der Länder in der Vorbereitung für die nächste Konferenz, die mit 1995 viel zu spät anberaumt worden ist - 1993 wird es eine Zwischenkonferenz geben - , Mühe geben müssen, die neue Strategie festzulegen; denn ich habe mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, daß auch Herr Kollege Töpfer in einer Pressekonferenz, deren Ergebnisse möglicherweise in der Zeitung richtig wiedergegeben worden sind, gesagt hat: Der Abbruch
Minister Dr. Heydemann ({8})
der Konferenz sei seitens der deutschen Delegation durchaus erwogen worden. Damit lag der Abbruch gar nicht so fern, wie es heute scheint. Wir haben uns schon konkrete Gedanken darüber gemacht.
Die einfachen Bewertungen, die ich von einigen Abgeordneten hier gehört habe, daß das eine völlig unsinnige Strategie sei, wird von uns Gott sei Dank überhaupt nicht geteilt.
({9})
Ich möchte noch zwei, drei Punkte anführen, um Ihre Aufmerksamkeit noch einmal auf die Absurdität mancher dieser Verhandlungen zu lenken. Auch aus dem Abschlußkonferenzpapier, aus der „final declaration" , geht hervor, daß die biologischen Kläranlagen, die noch nicht einmal für alle verbindlich vorgeschrieben sind, unter dem Thema „Nährstoffminderung für die Nordsee" laufen. In Wirklichkeit muß doch jeder wissen, daß es dabei um die Minderung des Sauerstoffbedarfes für die Umsetzung organischer Einleitungen bei biologischen Kläranlagen geht und dies überhaupt nichts mit Nährstoffminderung zu tun haben kann. Die Engländer holen die dabei anfallenden Klärschlämme auf das Land, leiten sie also nicht in die Themse und in andere Flüsse und geben sie dann unter Auslassung ihrer Flüsse in die Nordsee hinein. Sie haben dann eine saubere Themse und machen damit internationale Politik, die Nordsee ist allerdings verschmutzt. Das unterschreiben wir ihnen unter diesem Gesichtspunkt.
({10})
Wir müssen also aufpassen, daß wir die Öffentlichkeit nicht für weniger fachlich qualifiziert oder weniger kritisch halten, als wir es bei solchen Abschlußerklärungen sind.
Ein weiterer wichtiger Punkt, von dem ich meine, daß er leider nicht zum Tragen kam und auch nicht durchgekämpft worden ist, ist der der ökologischen Güteziele für die Nordsee. Meine Damen und Herren, wir können wirklich nicht davon ausgehen, daß wir dies in der Zukunft - nach der Gesprächsintensität zu urteilen - nach den Haushalten, die wir strapazieren, nach den Programmen, die wir machen, alleine bewerten. Wir müssen es vielmehr nach der Effizienz, nach der Schutzauswirkung für die Nordsee beurteilen.
({11})
Dafür müssen wir doch feststellen, in welchem Zustand sie sich befindet; nicht, wie viele Chemikalien schon darin sind, sondern wie sich die Verschmutzung auf die Lebewesen ausgewirkt hat. Wenn man dies nicht mit einer Definition „Was ist Normalität der Nordsee?" , nicht mit einem Monotoring-Programm für Effizienz festlegt, kann man doch niemals sagen, ob diese eine Million DM oder diese 100 Millionen DM je wirksam werden. Sie könnten auch an manchen Stellen, wo es unsinnig ist, gespart werden. Dies kann man an manchen Stellen sehen.
({12})
Unter diesen Gesichtspunkten, Herr Kollege Austermann, wurde hier insbesondere das sogenannte Herumfuhrwerken der Frau Kollegin Blunck und des Herrn Kollegen Lennartz kritisiert. Wenn dieses Herumfuhrwerken in bezug auf Pferdekutschen gemeint ist, dann ist es wenigstens ein ökologischnatürliches Darauf-Hinweisen. Aber wenn Sie es nur oberflächlich interpretieren, Herr Kollege Austermann, dann hat das nicht nur einen negativen Anteil in bezug auf die Diskussion, die wir hier führen. Vielmehr sind die Beispiele, die Sie immer mit Bezug auf Schleswig-Holstein nannten, wirklich von vorne bis hinten falsch. Das darf ich Ihnen sagen.
({13})
Ich werde hier keine Minute meiner Zeit darauf verwenden, zum dritten oder vierten Mal darauf hinzuweisen, daß die Strukturmittel Teile des gesamten Haushalts sind und nicht die Finanzierung des Umweltschutzes in Schleswig-Holstein.
({14})
Ich möchte zum Abschluß noch zwei oder drei Gedanken über die Möglichkeiten, wie wir in diesem Bereich weiterkommen, äußern.
Es ist schon, auch seitens eines Abgeordneten der FDP, darauf hingewiesen worden, daß wir alle Natur- und Umweltschutz-Organisationen für die Unterstützung dieser Politik brauchen. Ich danke der SPD-Fraktion des Bundestages, daß sie immer wieder mit besonderer Intensität, ohne Blick auf eine mögliche Wahlunterstützung, mit allen Organisationen gute Kontakte pflegt, um wirklich herauszufinden: Was weiß die Öffentlichkeit eigentlich über unsere Arbeit? Wie verfolgt sie mit einem kritischen Blick und mit Sachverstand das, was wir hier machen? Wir haben ja sehr viele sehr sachverständige Umweltorganisationen, von denen wir selber ein Stück lernen können.
({15})
Das wollen wir in Zukunft gerne in verstärktem Maße tun.
Meine Bitte geht deswegen dahin, daß in Zukunft - ich sage das einmal zum Herrn Kollegen Töpfer mit einem freundlichen Ansatz herüber - , Minister bei einer solchen Konferenz natürlich an den spontanen Beschlüssen, die gefaßt werden, in welche Richtung man weiter fortfahren will oder auch nicht fortfahren will, teilhaben müssen. Minister haben nicht die Aufgabe, bei solchen Verhandlungen Verwaltungsassistenten der Bundesregierung zu sein.
({16})
Damit will ich auch zum Ausdruck bringen, warum wir die Konferenz verlassen haben.
Die am Montag stattfindende Elbe-Konferenz, die die Anrainerländer der Elbe durchführen werden, wird sicherlich in die Richtung weisen, daß wir in
Minister Dr. Heydemann ({17})
Zukunft mit der Bundesregierung größere Gemeinsamkeiten anstreben, auch was die Verhandlungsführung anbelangt. Dann muß man sich darüber unterhalten, ob man nicht an einer bestimmten Stelle andere Signale setzt als diejenigen, daß man per Wort kämpft und nachher doch unterschreibt. Da will ich versuchen. Ich glaube, wir werden hier eine größere Gemeinsamkeit erreichen.
Ich bin dem Bundestag sehr dankbar, daß er das Thema diskutiert. Ich bin der SPD-Fraktion dankbar, daß sie es erneut auf die Tagesordnung bringt, und ich bin Ihnen allen dankbar, daß ich hier ein Stückchen Auseinandersetzung, aber mit einem positiven Akzent, einbringen konnte.
Herzlichen Dank.
({18})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt ({0}).
Meine Damen und Herren! Frau Präsidentin! Ich möchte zum Schluß etwas zur Versachlichung beitragen.
({0})
Die Bundesregierung hat sich ein ehrgeiziges umweltpolitisches Ziel gesteckt, das zu einer besseren Beherrschung der Umweltrisiken unserer Industriegesellschaft und damit auch zum Schutz der Nordsee beitragen soll. Daß der Umweltminister, wie nun schon einige Male erwähnt, vom Ergebnis der 3. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz enttäuscht ist, ist bei diesem bundesdeutschen Programm verständlich. Von einem Scheitern dieser Konferenz kann man dennoch nicht reden.
Einige der beachtlichen Erfolge, die erzielt wurden, möchte ich hier, obwohl sie schon erwähnt worden sind, noch einmal darstellen.
Der Grundsatzbeschluß der 2. Londoner INK, wonach gefährliche Stoffe bis 1995 um 50 % zu verringern sind, wurde nun auf „50 % oder mehr" abgeändert. Die Anzahl der gefährlichen Stoffe, deren Einleitung verringert wird, wurde von 7 auf 36 erhöht. Die Verpflichtung zur Verringerung bezieht sich ausdrücklich auf jeden einzelnen Stoff. Ein Hauptpunkt der 4. Internationalen Nordseeschutz-Konferenz in Kopenhagen 1995 wird die Einlösung dieser Zusage sein.
Für 17 gefährliche Stoffe, die in der Luft emittiert werden, wurde vereinbart, den Eintrag nach Stand der Technik und Einsatz verpflichtender Emissionsgrenzwerte spätestens bis 1999 um 50 % oder mehr zu verringern. Der deutsche Vorschlag, dieses Ziel bereits 1995 zu erreichen, erwies sich als nicht mehrheitsfähig.
Für Dioxine, Quecksilber, Cadmium und Blei wurde vereinbart - Voraussetzung ist ebenfalls der Einsatz bestverfügbarer Technik -, die Einleitung um 70 % oder mehr bis 1995 zu verringern.
Die Verpflichtung zur Reduzierung der in die Nordsee eingeleiteten Schadstoffe bezieht sich in erster Linie auf Punktquellen, da nur hier die bekannten und meßbaren Emissionen nach dem Stand der Technik reduziert werden können.
Für 18 Pestizide einschließlich Atrazin konnte unser Umweltminister eine sofortige Begrenzung mit dem Ziel des Verbots durchsetzen.
15 Substanzen, die zur Zeit nicht im Einsatz sind, sollen auch in Zukunft von den Nordseeanrainerstaaten nicht verwendet werden.
In Zukunft wird verhindert, daß PCB und gefährliche PCB-Ersatzstoffe in die Meeresumwelt gelangen. Die Minister vereinbarten eine umweltverträgliche Vernichtung von PCB und eine sichere Endlagerung von Kondensatoren und leeren Transformatoren bis 1995, spätestens jedoch bis Ende 1999. In der Bundesrepublik trat bereits am 29. Juli 1988 das Verbot für PCB, PCT und VC in Kraft. Die anderen Staaten müssen auf der PARCOM-Konferenz 1992 nationale Pläne vorlegen, aus denen sich ergibt, mit welchen Maßnahmen die genannten Ziele in den einzelnen Staaten erreicht werden sollen.
Meine Damen und Herren, bei der 3. Nordseeschutz-Konferenz hat sich gezeigt, daß die Bundesrepublik mit ihrem erfolgreichen Minister Töpfer beim Umweltschutz führend in Europa ist.
({1})
- Verschwenden Sie hier nicht so viel Energie. - Einige von der Bundesregierung dazu verabschiedete Gesetze darf ich Ihnen nochmals ins Gedächtnis rufen: nach dem Wasserhaushaltsgesetz ab 1988 Einschränkung der Phosphor- und Stickstoffeinträge aus kommunalen Kläranlagen durch weitere Verschärfung der Verwaltungsvorschriften; ebenfalls durch neue Verwaltungsvorschriften ab 1988 eine scharfe Begrenzung der Stickstoff- und Phosphoreinträge aus industriellen Quellen; nach dem Abwasserabgabengesetz Einführung einer Abwasserabgabe für Phosphor und Stickstoff; auf das Verbot der Verbrennung auf See wurde schon hingewiesen; Beendigung der Einleitung von Dünnsäuren; zur Verminderung des direkten Nährstoff- und Schadstoffeintrages in die Gewässer, Durchführung von Gewässerrandstreifenprogrammen. Das sind nur einige Gesetze und Verordnungen, die den Beweis für eine erfolgreiche Politik dieser Bundesrepublik mit ihrem Umweltminister liefern.
({2})
Den optimalen Umweltschutz im Rahmen dessen, was möglich ist, haben wir noch nicht, aber wir sind auf dem besten Wege dazu. Was die Nordsee anbelangt, so kann man die Fische daraus immer noch essen, und ein Urlaub dort ist immer noch zu empfehlen.
Ich danke.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Uldall.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Wenn ich mir die Reden einiger Oppositionsabgeordneter vor Augen führe, dann muß ich den Eindruck gewinnen, daß bei Ihnen Schadenfreude dominierend war,
({0})
nämlich Schadenfreude darüber, daß die Ergebnisse der Konferenz nicht so ausgefallen sind, wie wir alle es uns gewünscht hätten. Ich möchte demgegenüber ausdrücklich festhalten, daß die Bundesrepublik unter den Anrainerstaaten der Nordsee immer ein Vorreiter für eine Politik der sauberen Nordsee gewesen ist. Wenn diese Konferenz nicht den Erfolg hatte, den wir uns alle gewünscht haben, dann war das nicht Ergebnis einer falschen Verhandlungsführung unsererseits, sondern es lag eben an den schwierigen Verhandlungspartnern, mit denen wir fertig werden mußten.
({1})
Fertig werden kann man mit schwierigen Verhandlungspartnern nur dann, Herr Kollege Opel, wenn man an der Konferenz teilnimmt und wenn man nicht vorzeitig den Saal verläßt. Durch das vorzeitige Verlassen einer Konferenz hat man noch nie den Inhalt einer Konferenz mitgestalten können.
Insofern sage ich: Das, was von Ihrer Seite betrieben worden ist, ist eine Showgeschäft gewesen, aber dieses Showgeschäft hilft nicht der Nordsee.
({2})
Es wäre sehr viel besser gewesen, Herr Minister Heydemann, wenn Sie hier im Plenum des Bundestages deutlich gesagt hätten, daß man auch im kommenden Sommer in der Nordsee noch baden kann. Sie haben im letzten Jahr mit Ihren Äußerungen sehr viel Schaden angerichtet. Die Menschen oben an der Küste und die Gäste, die aus dem Binnenland an die Küste fahren, haben ein solches Wort von Ihnen erwartet.
({3})
Entschuldigen Sie, Herr Abgeordneter, wenn ich Sie unterbreche. Meine Damen und Herren, Ihr Engagement in Ehren, aber wenn Sie sich verständigen können, daß nicht alle Zwischenrufe auf einmal, sondern nacheinander kommen, dann sind sie sogar verständlich.
Meine Damen und Herren, ich möchte auf einen anderen wichtigen Aspekt des Themas Nordsee zu sprechen kommen. Die Sauberkeit der Nordsee ist ein Thema, das in doppelter Hinsicht auch für die Bewohner des Binnenlandes wichtig ist.
({0})
Zum einen profitieren diese Menschen als Urlaubsuchende von einer sauberen Nordsee, und auch für
sie wird sich eine ökologisch verdorbene Nordsee
langfristig negativ auf die Umwelt in ihrer Heimat auswirken.
({1})
Zum anderen muß man eben auch festhalten, daß alles das, was dort oben in die Flüsse eingeleitet wird, am Ende in die See fließt.
({2})
Wir in Hamburg müssen z. B. feststellen, daß 90 % der Schadstoffe, die Hamburg auf dem Elbwege verlassen, bereits auf dem Elbwege in Hamburg angekommen sind.
({3})
Eine Politik zur Säuberung der Nordsee muß deshalb immer schon an der Quelle der Flüsse beginnen, die in das Meer fließen.
Hier gibt es einige erfreuliche positive Entwicklungen. Erstmals haben Vertreter der DDR und der Tschechoslowakei an der Nordseeschutz- Konferenz teilgenommen. Das unterstreicht, daß man sich der Mitverantwortung bewußt wird. Von seiten der Bundesregierung sind in den vergangenen Monaten sehr wichtige Maßnahmen eingeleitet worden, um auf dem Gebiet der DDR zu Fortschritten zur Reinhaltung der Elbe als wichtigen Zuflusses der Nordsee beizutragen. In Dresden wird z. B. in einem Arzneimittelwerk das Abwasser in Zukunft so gereinigt, daß 4 000 t chlorhaltiger Abfälle weniger in die Elbe fließen werden. In den Chemischen Werken Buna wird durch Installation neuer Techniken die Einleitung um 3 t Quecksilber und 100 t Kohlenwasserstoff reduziert.
({4})
An verschiedenen Stellen in der Elbe sollen Gewässergüte-Meßstationen eingerichtet werden. Anlagen zur Abwasserbehandlung werden bei sechs weiteren Industriebetrieben in der DDR, die Schmutzwasser in die Elbe oder ihre Nebenflüsse leiten, installiert werden. Z. B. in Leuna, Dessau, Magdeburg und in Wittenberge in der Zellstoffabrik. Wer sich diese Anlage einmal unter Umweltgesichtspunkten angesehen hat, der kann sagen, wie wichtig es ist, daß hier gehandelt wird.
({5})
Jede Mark, meine Damen und meine Herren, die für den Umweltschutz in der DDR investiert wird, bringt ein Vielfaches des Effekts, den sie bei der Investition z. B. in Hamburg zur Reinhaltung der Elbe erzielen würde.
({6})
Wir haben Glück. Die deutsch-deutsche Annäherung schlägt sich somit auch für die Reinhaltung der Nordsee positiv nieder.
({7})
Bei aller Unzufriedenheit über die Ergebnisse der 3. Nordseeschutz-Konferenz wollen wir doch aner15578
kennen, daß z. B. bei der Elbesanierung Ansatzpunkte für Fortschritte erzielt worden sind. Auch hier gilt: Mehr als ein Anfang ist es jedoch nicht.
({8})
Deshalb will ich den Umweltminister ausdrücklich auffordern und bitten, die von ihm eingeleitete Politik zur Säuberung der Elbe und damit auch der Nordsee konsequent fortzuführen.
({9})
Meine Damen und Herren, damit sind wir am Ende der Aktuellen Stunde.
Ich möchte zunächst die Zustimmung des Hauses zu einer interfraktionellen Vereinbarung einholen. Die verbundenen Tagesordnungspunkte sollen um die in der Zusatzpunktliste vorliegenden Tagesordnungspunkte erweitert werden:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Ergebnissen der 3. Nordseeschutzkonferenz
2. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Dritte Fortschreibung des Berichtes über die Förderung des Einsatzes von Elektrofahrzeugen
- Drucksachen 11/5013, 11/6501 3. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Telekommunikationsendgerate einschließlich der gegenseitigen Anerkennung ihrer Konformität
- Drucksachen 11/5277 Nr. 2.20, 11/6511 4. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu weiteren Erkenntnissen zum DGB-gewerkschaftseigenen Unternehmen „Neue Heimat"
5. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD zum „Gesetz zur Offenlegung finanzieller Zuwendungen aus dem Ausland" ({1})
- Drucksache 11/6644 6. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Neunte Zusammenfassung der Berichte von in Südafrika engagierten deutschen Unternehmen über die bei der Anwendung des Verhaltenskodex der Europäischen Gemeinschaft für Unternehmen mit Tochtergesellschaften, Zweigniederlassungen oder Vertretungen in Südafrika erzielten Fortschritte ({2})
Bewertung durch die Bundesregierung
- Drucksache 11/6124 7. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Finanzausschusses ({3}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Eid und der Fraktion DIE GRÜNEN: Aufkündigung des Doppelbesteuerungsabkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Südafrika - Drucksachen 11/2310, 11/6572 -
Zugleich mit der Aufsetzung soll, soweit erforderlich, von der Frist für die Beratung abgewichen werden. Bestehen dagegen Bedenken? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d auf: 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 18. März 1986 zum Schutz der für Versuche und andere wissenschaftliche Zwecke verwendeten Wirbeltiere
- Drucksache 11/6534 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({4})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung der Wirtschaftsprüferordnung
- Drucksache 11/6529 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Wirtschaft ({5})
Rechtsausschuß
Finanzausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Opel, Horn, Erler, Fuchs ({6}), Gerster ({7}), Heistermann, Dr. Klejdzinski, Kolbow, Koschnick, Leonhart, Steiner, Zumkley, Dr. von Bülow, Gansel, Dr. Götte, Kübler, Kühbacher, Leidinger, Nagel, Dr. Scheer, Sielaff, Schmidt ({8}), Schulte ({9}), Voigt ({10}), Walther, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Verbot von Luftbetankungsübungen über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland im Frieden
- Drucksache 11/5905 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß ({11})
Innenausschuß
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung über die Tätigkeit des Europarats für die Zeit vom 1. April bis 31. Dezember 1989
- Drucksache 11/6288 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Auswärtiger Ausschuß ({12})
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
Vizepräsident Cronenberg
Es handelt sich um Überweisungen in dem vereinfachten Verfahren ohne Debatte.
Interfraktionell wird Ihnen vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Das Haus scheint damit einverstanden zu sein. Dies ist so beschlossen.
Ich rufe auf die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 e: Beratungen ohne Aussprache
a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({13}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG über Abfälle
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über gefährliche Abfälle
- Drucksachen 11/3200 Nr. 2.34,
11/6376 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Friedrich Stahl ({14})
Frau Hensel
b) Beratung der Beschlußempfehlung des
Rechtsausschusses ({15})
Übersicht 16
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 11/6385 -
Berichterstatter: Abgeordneter Helmrich
c) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({16}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 12 01 -
Bundesministerium für Verkehr - Titel 539 99 - Vermischte Verwaltungsausgaben - Haushaltsjahr 1989
- Drucksachen 11/6164, 11/6490 -
Berichterstatter:
Abgeordnete Purps Borchert
Zywietz
Frau Vennegerts
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({17}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung ({18}) des Rates über Wild- und Kaninchenfleisch
- Drucksachen 11/6125 Nr. 7, 11/6556 Berichterstatter:
Abgeordneter Sauter ({19})
e) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Änderung der Richtlinie 88/407/EWG des Rates zur Festlegung der tierseuchenrechtlichen Anforderungen an den innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit gefrorenem Samen von Rindern und an dessen Einfuhr
- Drucksachen 11/6017 Nr. 2.9, 11/6566 Berichterstatter: Abgeordneter Eigen
sowie die Zusatztagesordnungspunkte 2 und 3:
ZP2 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Verkehr ({21}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Dritte Fortschreibung des Berichtes über die Förderung des Einsatzes von Elektrofahrzeugen
- Drucksachen 11/5013, 11/6501 Berichterstatter: Abgeordneter Pfeffermann
ZP3 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Post und Telekommunikation zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Telekommunikationsendgeräte einschließlich der gegenseitigen Anerkennung ihrer Konformität
- Drucksachen 11/5277 Nr. 2.20, 11/6511 Berichterstatter: Abgeordneter Funke
Vizepräsident Cronenberg
Hier handelt es sich um eine Reihe von Vorlagen, über die ohne Aussprache abgestimmt werden soll.
Zunächst zu Tagesordnungspunkt 4 a. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaft auf Drucksache 11/6376. Es handelt sich um eine Richtlinie über gefährliche Abfälle.
Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist bei sehr unterschiedlichem Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion mit den Stimmen der CDU/CSU, der FDP und der GRÜNEN angenommen worden.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 4 b. Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses - Übersicht 16 über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht - ab, die Ihnen auf Drucksache 11/6385 vorliegt.
Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN von den Fraktionen der SPD, der CDU/CSU und der FDP angenommen worden.
Wir stimmen nun über den Tagesordnungspunkt 4 c ab. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu einer überplanmäßigen Ausgabe auf Drucksache 11/6490.
Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie soeben angenommen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 4 d und 4 e. Es handelt sich um die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten zu Vorlagen der Europäischen Gemeinschaft auf den Drucksachen 11/6556 und 11/6566.
Wer diesen Beschlußempfehlungen zuzustimmen wünscht, bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Ich darf feststellen, daß diese Beschlußempfehlungen einstimmig angenommen worden sind.
Wir kommen nun zu dem Zusatztagesordnungspunkt 2, und zwar zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Verkehr auf Drucksache 11/6501. Es geht um die Dritte Fortschreibung des Berichtes über die Förderung des Einsatzes von Elektrofahrzeugen.
Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist bei Stimmenthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Wir kommen zum Zusatztagesordnungspunkt 3 und stimmen ab über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Post und Telekommunikation auf Drucksache 11/6511 zu einer Vorlage der Europäischen Gemeinschaft. Es geht um die Angleichung der Rechtsvorschriften über Telekommunikationsendgeräte.
Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Duve, Bernrath, Conradi, Egert, Hämmerle, Dr. Martiny, Müller ({22}), Odendahl, Schmidt ({23}), Schmidt ({24}), Sielaff, Dr. Soell, Toetemeyer, Wartenberg ({25}), Weiler, Weisskirchen ({26}), Weyel, Wiefelspütz, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Kulturpolitik in Europa und in der Europäischen Gemeinschaft
- Drucksachen 11/3287, 11/5668 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6625 vor.
Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Das Wort hat zunächst der Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 1989, in diesem einzigartigen politischen Europajahr, ist der große polnische Schriftsteller Szczypiorski Mitglied des polnischen Senats geworden. 1982, im Internierungslager, hatte er notiert - ich zitiere - :
Ich nehme an, wir Polen können eines Tages viel tun für die geistige Einheit des Kontinents Europa.
Ich beginne diese Überlegungen heute nachmittag zur europäischen Kulturpolitik ganz bewußt mit den Worten eines polnischen Autors. Ohne den Mut der Polen Anfang der 80er Jahre, demokratische Ziele vor ökonomische Interessen zu stellen, hätten wir die erfolgreichen Aufbrüche in Osteuropa nicht erlebt. Ohne die Polen stünden wir Deutschen nicht in diesem atemberaubenden Prozeß des Zusammenkommens.
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Aber noch aus einem anderen Grund beginne ich mit einem Polen. Die besondere Balance zwischen der kulturellen Eigenart der Polen als nationalkultureller Eigenart auf der einen Seite und ihrer europäischen Offenheit auf der anderen Seite ist das Merkmal eigentlich aller europäischen Kultur. Balance zwischen Eigenart und europäischem Zusammenhalt. Szczypiorski schildert eindrucksvoll die europäische Offenheit seiner bürgerlichen Familie, seiner Eltern und seiner Großeltern: deutsche, russische, französische Autoren im Bücherschrank und in den Gesprächen der Verwandten.
Wir haben in dieser Legislatur immer wieder kulturpolitische Themen aufgegriffen. Über europäische Kulturpolitik hat der Deutsche Bundestag bislang nicht diskutiert. Natürlich kann man sich fragen: Gibt
es das überhaupt, europäische Kulturpolitik? Ist die europäische Kultur nicht so vielfältig verflochten, auch ohne die Politik, daß sich die Politik da am besten ganz heraushalten sollte?
Als wir 1988 die Große Anfrage einbrachten, war unser Augenmerk vor allem auf Fragen des europäischen Binnenmarkts und dessen Rahmenbedingungen für Kultur gerichtet. Wir wollten wissen, was Binnenmarkt für die Filmkultur, für den Buchmarkt, für den transnationalen Kunstmarkt bedeuten würde. Als die Antwort auf den Tag genau zwölf Monate später vorlag, am 9. November 1989, wurde das Tor zum Europa hinter dem Vorhang aus Eisen aufgestoßen. Heute, vier Monate später, sehen wir sehr deutlich die künftigen Konturen ganz Europas.
Vor vier Tagen hat sich Litauen von der Sowjetunion losgesagt. Der nicht nur politisch, sondern kulturell geprägte Nationalgedanke stimuliert Hoffnungen in ganz Ost- und Südosteuropa. Wenn wir kein kulturelles Konzept für die Balance zwischen Eigenart der europäischen Völker und ihrer übernationalen Gemeinsamkeit entwickeln, dann könnte auch das eine gefährliche Entwicklung einleiten.
Nach vielen Kriegen haben die Völker in Westeuropa den friedlichen Weg gefunden: Überwindung des Nationalstaats ohne die je eigenartige Kultur zu vernachlässigen. Denn das ist die erste der europäischen Besonderheiten: das Europa der kulturellen Vielfalt. Wir Deutschen, Franzosen, Italiener, Briten, Spanier werden endlich lernen müssen, daß sich die europäische Kultur dabei nicht auf die Kulturen der zahlenmäßig großen Völker beschränkt. Die Litauer, Finnen, Flamen, die Norweger, Bulgaren, die Ungarn, die Albaner gehören dazu. Darum haben wir in unserer Entschließung - jetzt zum zweitenmal - den Europäischen Übersetzungsfonds gefordert, der vornehmlich die Literatur der zahlenmäßig kleineren Völker Europas fördern sollte.
Das zweite Merkmal europäischer Kultur hat der französische Philosoph Edgar Morin die dialogique genannt, die europäische Tradition des Dialogs. Kein Argument, das nicht sein Gegenargument, seinen Zweifel selbst herausfordern würde. Nicht dieser oder jener Inhalt bringe das Wesen des europäischen Geistes zum Ausdruck, sondern die Fähigkeit zur Neugier auf den jeweiligen Gegenpunkt. Was immer Europa im Laufe der Jahrhunderte an Grundüberzeugungen entwickelt habe, stets sei die Negation, der Widerspruch, das grundsätzliche Infragestellen hinzugekommen, sei die Lehre von gestern relativiert worden.
Dieses Konzept des Dialogs kann europäische Kultur auch in Zukunft vor der Erstarrung schützen. Es gibt keinen Endzustand, der sich immer auf fundamentalistische Heilslehren stützen müßte. Der Respekt, die Rücksicht auf die Minderheiten, auf die Kleineren müßte in einer Präambel einer europäischen Kulturkonvention verankert sein; denn die zivile Gesellschaft, in der kulturelle Vielfalt erst gedeihen kann, in der demokratische Öffentlichkeit dem je Neuen und Fremden, dem Queren und Verqueren Raum läßt, formt sich ja jetzt auch in Ost- und Mitteleuropa. Wir erleben, was ihr Fehlen bisher für diese Völker bedeutet hat.
Das ist eine Herausforderung natürlich auch an uns. Glasnost ist die Einklage des westlichen Pluralismus, der aufklärerischen, kritischen Diskussion. Glasnost ({1}) wird in Zukunft garantieren müssen, daß auch bei uns diese zivile Gesellschaft ihre Chance behält. Glasnost ist auch eine Chance für unsere eigene Kultur und Medienwelt.
Ich bin überzeugt, daß die Kulturen Osteuropas jetzt, da sie ihrer staatlich-zentralistischen Fesseln entledigt sind, eher ein neues Interesse in ganz Europa wachrufen werden, als daß sie sich allzurasch einebnen lassen.
Meine Damen und Herren, wir haben hier am 5. Oktober 1989 über ostdeutsche Kultur gesprochen. Wir sollten - wir haben das in unserem Entschließungsantrag auch aufgenommen - wirklich gemeinsam daran arbeiten, daß unsere Einrichtungen, in denen an das Leben der Deutschen in Schlesien, Pommern oder Ostpreußen erinnert wird, jetzt, in der neuen Lage, verstärkt im Dialog mit den Tschechen, Polen und Russen entwickelt werden. Das darf 45 Jahre nach Kriegsende kein Thema eines Vertriebenengesetzes mehr sein. Als Teil unserer eigenen inneren und auswärtigen Kulturpolitik sollten wir gemeinsam mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn zu grundlegenden Änderungen kommen, ohne die Institutionen zu verändern, die es gibt und zum Teil gute Arbeit gemacht haben.
Zu einer wirklich europäischen Kulturpolitik der Zukunft gehört, daß wir die Vergangenheit als Vergangenes ohne jeden Restaurationsgedanken akzeptieren.
Wo, meine Damen und Herren, kann künftig europäische Kulturpolitik behandelt und weiterentwickelt werden? - Mein Kollege Holtz wird zur Rolle des Europarats hier noch einige Bemerkungen machen; denn wir sehen gerade in ihm eine wichtige Instanz für kulturpolitische Impulse. Ungarn, Polen, CSSR und Sowjetunion als Gastmitglieder: Hier entsteht bereits eine neue Gemeinschaft der europäischen Kulturstaaten.
Europarat und KSZE-Konferenz könnten die Träger einer gesamteuropäischen kulturpolitischen Vision sein. Günter Grass hatte beim Kulturforum in Budapest vor einigen Jahren die Gründung einer Europäischen Kulturstiftung angeregt. Dieser Gedanke ist jetzt von französischer Seite wieder aufgenommen worden.
Wir schlagen möglichst rasch die Einberufung einer neuen KSZE-Kulturkonferenz vor, auf der die Fragen der kulturellen Eigenständigkeit, des Schutzes kultureller Minderheiten und zugleich der Rahmenbedingungen einer gesamteuropäischen Kulturpolitik, die die nationalstaatliche Ebene überwindet, diskutiert werden können. Ziel sollte dabei auch die Errichtung einer Europäischen Kulturstiftung sein, mit dem finanziellen Kern eines europäischen Übersetzungsbüros, soweit es die Literatur anbelangt.
Natürlich muß und kann dies nur geschehen, indem die Europäische Gemeinschaft daran beteiligt ist. Aber wir müssen für die Kulturpolitik in ganz Europa künftig Träger entwickeln, die nicht so eng mit den vielfältigen Problemen des wirtschaftlichen Eini15582
gungsprozesses der Zwölf verknüpft sind wie die EG in Brüssel; denn sonst dauert es zu lange, bis die anderen wirklich mitarbeiten und mittun können, aber auch in den Genuß von Hilfen geraten. Ich erinnere hier nur an unsere Debatten im Bundestag über die Buchpreisbindung, die Filmförderung oder kürzlich die Diskussion über das Urheberrecht.
Allerdings müssen wir auch die reale Entwicklung mit ihren Risiken und Chancen sehen: Kulturpolitik wird immer mehr auch zur Wirtschaftspolitik. Da folgt sie den Gesetzen moderner übernationaler Trends: Wo viel Geld nötig ist, nimmt die Konzentration immer mehr zu. Ich spreche von den Medien, den Mittlertechniken der Kultur. Schon heute bestimmen Medienkonzerne in Westeuropa wesentlich Profil, Programm und Personal der Kulturindustrie. Damit nehmen sie - nicht einmal unbedingt bewußt - Einfluß auf die kulturellen Muster, auf den Charakter kultureller Öffentlichkeit.
Wo Buch- und Zeitschriftenverlage, elektronische Medien und die Schallplattenindustrie zu gemeinsamen Großfirmen des Wortes, des Bildes und der Musik zusammenwachsen, tragen die Vorstände solcher Konzerne in Wahrheit weit mehr konkrete Verantwortung für Form und Inhalt der weiteren Kulturentwicklung als häufig die Politik. Sie tragen diese Verantwortung im Hinblick auf die produzierenden Künstler wie auch auf diejenigen, die die Kultur wahrnehmen. Das erleben wir zur Zeit in Osteuropa: Es fehlen gemeinsame Leitlinien, es fehlen politische Vorgaben, so daß die großen Medienkonzerne des Westens häufig Teile jener Printmedien übernehmen, indem sie sie unmittelbar aus dem staatlichen Verantwortungsbereich herauskaufen.
Eine KSZE-Kulturkonferenz könnte einige Mindeststandards für die künftige Struktur der Medien festlegen. Warum muß es einen direkten Übergang von den staatlich und parteilich zentral gelenkten Medien der Kommandowirtschaft zu einer Medienordnung geben, die wieder von sehr zentralistischen Medienfirmen dominiert wird, die so groß sind, daß dies auch bei uns kartellrechtliche Bedenken auslöst?
Ich denke, auch für Mittel- und Osteuropa sollten Stiftungsformen verbindlich werden, bei denen im Zentrum des Unternehmens jeweils eine Stiftung die Sperrminorität hält, die leichtfertige Verkäufe - und eine wirtschaftlich unsinnige Konzentration als Folge - verhindert.
Meine Damen und Herren, unsere Große Anfrage „Kulturpolitik in Europa und in der Europäischen Gemeinschaft" ist, soweit ich weiß, die erste ihrer Art in einem Parlament der Mitgliedstaaten der EG. Wir haben sie auch einigen Kollegen in den anderen Parlamenten zur Verfügung gestellt;
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sie ist dort übersetzt worden. Sie hat einen insgesamt doch eindrucksvollen Bericht der Bundesregierung zustande gebracht.
Ich möchte mich als Abgeordneter der Opposition dafür bedanken, daß die Mitarbeiter der Regierung ihre Pflicht, die Opposition über das Handeln der Regierung zu informieren, erfüllt haben. Immerhin haben sie mit dieser umfänglichen Ausarbeitung nicht nur die Leistungen hervorgehoben, sondern auch die erheblichen Mängel und Unklarheiten der europäischen Kulturpolitik der Bundesregierung aufgezeigt.
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Bisher sind wenige Impulse von der Bundesregierung ausgegangen. Unsere große innere Stärke des Föderalismus erweist sich hier als äußere Schwäche: Länder und Bundesregierung kommen selten rasch zu Potte. Hier ist nicht eine verstärkte Kompetenz des Bundes gefordert, sondern ein handlungsfähiges politisches Instrument auf gesamtstaatlicher Ebene, das zu schnelleren Initiativen fähig ist. Man kann nicht die Kulturpolitik Jack Langs und seine Initiativen beneiden, sich selbst aber hinsichtlich eigener Initiativen auf europäischer Ebene lähmen.
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- Wir können darüber diskutieren, Herr Kollege.
Ich will zum Schluß eine weitere - grundsätzliche - Dimension der europäischen Kulturpolitik ansprechen. Wir können und dürfen Europa nicht abschließen und etwa die hochzivilisierte Kulturfestung Europa wieder gründen.
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Europa begegnet uns in aller Welt: In Lateinamerika, in Afrika, in Asien waren wir es, die diese Fortschrittsdynamik in Gang gebracht haben, die alle Teile ihrer Kulturen erschüttert hat. Daraus ist uns eine Verantwortung erwachsen, und wir werden uns ihr nicht entziehen können. Denn überall, vor allem im Süden, wird heute befürchtet, daß Europa sich jetzt auf sich selbst zurückzieht.
Besonders im kulturellen Bereich sollten die Europäer deshalb gemeinsame Verantwortung zeigen. Afrikanische Kulturen sind nicht nur als ethnologisches Erlebnis zu bestaunen, sondern es geht darum, etwa die neuen Künstler in einer gemeinsamen Aktion nach Europa, in die europäischen Länder einzuladen.
Schließlich, meine Damen und Herren: Europa ist der Kontinent der vielen Völker und damit auch der vielen kulturellen Minderheiten. Europäische Kultur kann dem neu erwachten Nationalismus - von dem ich am Anfang gesprochen habe - nur dann begegnen, wenn sie für das kulturelle Zusammenleben und Zusammenkommen der Minderheiten Perspektiven anbietet. Hier liegt die zentrale Aufgabe europäischer Kulturpolitik.
Vorgestern hat das litauische Parlament einen national gesinnten Präsidenten gewählt. Ich will mich nicht zu der völkerrechtlichen Frage äußern. Aber die Tatsache, daß neben den rund 3 Millionen Litauern dort auch 345 000 Russen, 257 000 Polen, 44 000 Ukrainer und 63 000 Weißrussen leben, macht deutlich, was Europa wirklich wird leisten müssen, wenn etwas zustande kommen soll, das Toleranz übt gegenüber Eigenart und zugleich Wachheit zeigt für eine Weltkultur, in der der Nationalstaat als wirtschaftlicher Bezugsrahmen immer mehr an Bedeutung verliert.
Daß 1923 in Litauen 154 000 Juden gelebt hatten, heute aber nur noch 12 000 leben, mahnt uns Deutsche in besonderer Weise, für ein kulturelles Europa einzustehen, in dem alle friedlich miteinander leben können.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Köhler ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich halte es in der Tat für überaus verdienstlich, daß wir die Möglichkeit haben, in dieser Zeit des Neubaus Europas nach der kulturellen Identität Europas zu fragen, sowohl was die internen Strukturen als auch was das Zusammenwirken nach außen hin angeht.
Ich möchte dem Dank an die Bundesregierung für die überaus sorgfältige Antwort, die wir erhalten haben, ausdrücklich beitreten. Wir haben erstmals einen umfassenden Überblick, auf dessen Basis wir beraten können. Manches, was in den geschriebenen Worten noch recht unklar oder sehr pauschal war, haben Sie, Kollege Duve, dankenswerterweise soeben weiter ausdifferenziert. Das wird unsere Gespräche erleichtern.
Ich halte die Zurückhaltung der Bundesregierung in der Definition ihrer Rolle in der gesamteuropäischen Kulturpolitik für zunächst einmal durchaus positiv - in Ihrem Entschließungsantrag klingt das anders - , weil ich glaube, daß wir hier noch eine ganze Menge inhaltlicher Definitionen aufzuarbeiten haben. Ist denn wirklich das Ziel europäischer Kulturpolitik hinlänglich definiert? Was ist mit der Entwicklung einer europäischen Kultur und einem verantwortlichen Auftreten gegenüber anderen Regionen der Welt gemeint? Eine Formel wie „Öffnung zu den Dimensionen einer dynamischen Weltkultur" enthält für mich eine ganze Reihe von Fraglichkeiten.
Ich möchte hier ausdrücklich bedauern, meine Damen und Herren, daß die Empfehlung der Enquete-Kommission „Auswärtige Kulturpolitik" von 1975, einen jährlichen deutschen Auslandskulturtag einzurichten, der alle solche Fragen aufarbeiten könnte, auch in einem Dialog von Politikern, Fachleuten, Wortkünstlern und wer immer dafür in Frage kommt, mit einer einzigen Ausnahme nicht realisiert worden ist. Lesen Sie noch einmal durch, was damals empfohlen worden ist! Damit hätten wir das Medium, das diese Fragen in einer politisch unvorbelasteten Weise hätte aufarbeiten können. Vielleicht kann uns das einen Impuls geben, in dieser Richtung Fortschritte zu machen.
Wenn ich meinen Blick auf die Anfrage der SPD-Fraktion richte, dann sehe ich allerdings auch in ihr selbst ein gewisses Spannungsverhältnis.
({0})
- Ja.
Da finde ich sehr wohl die Handschrift engagierter Europapolitiker, die zentrale Funktionen Europas
auszubauen wünschen. Da sehe ich natürlich auch die Sorge der Kulturpolitiker, die entweder hochentwikkelte deutsche Regelungen im Bereiche des Urheberrechtes, bei der steuerlichen Behandlung und der sozialen Sicherung angesichts des scheinbaren Drängens durch die wirtschaftliche Regelungskompetenz der EG retten und festschreiben wollen oder weitere Chancen eröffnen wollen, also diese Fragen sozusagen offensiv regeln wollen.
Ich möchte dabei nicht verkennen, daß es sehr wohl berechtigte Fragen und konkrete Sorgen angesichts dessen, was wir immer wieder aus Brüssel hören, gibt
({1})
und daß uns die wirtschaftliche Regelungskompetenz der Gemeinschaft vor Probleme stellt. Das ist eine echte Frage; das erkenne ich ausdrücklich an.
Aber ich kann auch nicht wegwischen, daß die Kommission Behutsamkeit signalisiert hat und daß sie eine Studie aus Gemeinschaftssicht vorlegen will. Ich muß auch zur Kenntnis nehmen, daß die Bundesregierung im nationalen Bereich ein Gutachten über die Auswirkungen des EG-Vertrages auf Kulturpolitik und Kulturförderung der Bundesrepublik ausgeschrieben hat. Ich meine, auch diese Dinge sollten wir zur Basis unserer Beratung mit heranziehen. Insofern ist die Vorlage eines detaillierten Antrages zu diesem Thema in diesem Augenblick für mich wirklich verfrüht. Das kann ich wiederum nur als den Versuch verstehen aus den Spannungsverhältnissen innerhalb der SPD-Fraktion die ich soeben glaubte sehen zu dürfen, sozusagen die offensive Regelung zu finden. Vielleicht ist auch deshalb in diesen Antrag eine Unmenge hineingepackt, was gerade noch irgendwie hineinging, bis hin zu der Veränderung der Aufgaben ostdeutscher Kulturpolitik.
Verehrter Kollege Duve, ich halte dieses Thema nicht für eine Frage, die wir durch Veränderungen von Haushaltstiteln oder von Beschlüssen des Deutschen Bundestages regeln können. Insofern bin ich froh, daß Sie soeben gesagt haben, daß die Voraussetzung dafür ist, daß ein intensiver Dialog mit unseren mittel- und osteuropäischen Nachbarn geführt wird; denn Sie wollen ja nicht mehr, als das ungemein ehrgeizige Ziel erreichen, daß das ein Anliegen aller Europäer werden solle. Dahin ist es ein langer, langer Weg.
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Dieser Dialog muß in Gang gesetzt werden. Das können wir nicht in Heimarbeit alleine erledigen.
Stimmt eigentlich die Grundthese, die Sie verfechten, eines Widerspruchs zwischen dem EG-Europa und dem größeren kulturellen Europa? Die Bundesregierung spricht hier lieber von einem Spannungsfeld,
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und da muß ich mich fragen: Ist dieses Spannungsfeld von vornherein negativ zu betrachten? Ist die Europäische Gemeinschaft so, wie sie im Moment aussieht oder wie ihre Perspektiven für die nähere Zukunft aussehen, wirklich eine finale Organisationsform Europas, oder ist es nur eine im Moment mögliche, die
Dr. Köhler ({4})
wesentlich verändert und weiterentwickelt werden kann?
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- Ich habe sehr wenig Zeit. Kollege Duve, wir können das im Ausschuß noch fortsetzen.
Wenn diese Situation offen ist, dann muß ich mich fragen: Kann denn die europäische Kultur nur in Kongruenz zu einer politisch-wirtschaftlichen Organisationsform gedeihen? Europas Kultur hat sich stets in ihrer Einheit so ausgeprägt, daß sie eine enorme Vielfalt von Ausdifferenzierungen entwickelt hatte. Sie hat nicht eine Einheit durch administrative Ordnung und Rechtsverordnung auferlegt bekommen.
Das Europa als geistiges Phänomen ist nie etwas anderes gewesen als ein offenes System. Darin lag seine große Stärke, daß es grundsätzlich gemeinsame Werte in sehr verschiedener Form verwirklicht hat. Welche Werte dies waren, wurde selbst bestimmt, wechselnd aus eigenem Entschluß, ob es die Rolle des Individuums war, ob es die Gesetze der Gemeinschaft waren und die Spannungsverhältnisse, die sich daraus ergeben. Eben diese Offenheit hat es meines Erachtens auch immer wieder möglich gemacht, daß hegemoniale Strukturen dazu letztendlich überhaupt nicht paßten. Sie haben mit Recht darauf hingewiesen, daß die demokratische Revolution auch ein Ausbruch aus der kulturellen Abgeschlossenheit ist. Das ist in Mittel- und Osteuropa richtig. Aber wohin, zu einer einheitlichen europäischen Kultur oder gar einer, die man machen kann?
Hier müssen wir weiter diskutieren. Ist es nicht gerade hier unsere Aufgabe, ein Höchstmaß an Vielfalt zu sichern? Damit sind wir wieder vor der Grundfrage, wie föderativ, wie zentralistisch Europa geregelt werden muß. Ist dies denn nun eigentlich der richtige Augenblick, da im Moment in Brüssel Zentralität großgeschrieben wird, auf diese Weise möglichst viele deutsche Errungenschaften und Chancen zur zentralen Regelung zu machen, oder sollten wir uns darauf konzentrieren, gegenüber der Zentrale möglichst viele Freiräume zu definieren?
Ich habe mich über das gefreut, was Sie über den Föderalismus gesagt haben. Liest man Ihre Texte, ist der Föderalismus dann nicht viel mehr als ein Lippenbekenntnis. Ich meine aber, gerade in der Frage der Grundentscheidung ist diese Perspektive wichtig, und zwar nicht weil uns der Föderalismus vorgegeben ist oder aus formalen Gründen, sondern viel mehr noch als Prinzip.
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Dieser Föderalismus darf nicht mit Bezug auf den Druck zentraler Regelungen aus Brüssel klammheimlich unterlaufen werden. Davor müssen wir uns hüten.
Wenn es nötig ist, werden wir mit den Ländern reden müssen, ob z. B. bei weiteren Verhandlungsrunden über die Römischen Verträge eine Ergänzung zur Kulturpolitik nötig und richtig ist und was darin stehen muß, um diese Freiräume und diese Vielfalt zu sichern. Das kann eine Variante sein; ich will nicht
von vornherein behaupten, daß wir dahin kommen müssen.
Ich meine, hier ist sehr viel zu diskutieren, hier ist sorgfältig zu beraten, und deswegen haben wir auch als Fraktion zunächst keinen Antrag dazu gebracht. Wir wollten uns diese Offenheit erhalten. Wir behalten uns für später mögliche Initiativen vor, und wir versprechen Ihnen auf jeden Fall eine konstruktive Beratung in den Ausschüssen, zu der wir sehr gern bereit sind.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kottwitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sprechen im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaft gewöhnlich über die wirtschaftliche Zusammenarbeit. Hier und heute reden wir über die Kulturpolitik in Europa und der Europäischen Gemeinschaft. Kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit ist aber grundsätzlich unterschiedlich zu betrachten. Die rechtlichen Voraussetzungen und Bestimmungen sind genügend dargestellt worden. Ich möchte mich hier heute mehr für eine Lobby für künstlerisch und kulturell arbeitende Menschen einsetzen. Hierfür bieten die Erfahrungen, die wir auf nationaler Ebene mit den Spannungen zwischen dezentraler und übergreifend bundesweiter Kulturpolitik gemacht haben, eine wichtige Voraussetzung, denn Kultur läßt sich nicht auf die bloße Verwaltungsebene reduzieren. Nach wie vor gilt die Feststellung: Gestalten geht vor Verwalten.
So wichtig es ist - und hier stimmen wir dem Entschließungsantrag der SPD voll zu - , die Leistungsschutz-, Urheberrechte sowie die sozialen und finanziellen Bedingungen der Künstlerinnen und Künstler und der Kulturschaffenden zu verbessern, so sehr stellt sich immer wieder die Frage, welche besondere Zielsetzung und Qualität wir dem Begriff einer europäischen Kultur zuschreiben.
Die Europa-Diskussion ökonomisiert sich und vernachlässigt die Identifikations- und Integrationswirkung, die sich aus einer kulturellen Zusammenarbeit ergibt. Ich vermute, daß mit der Ökonomisierung die Herrschaft eines rationalen Verwaltungsdenkens angesprochen wird, dessen Gegenpol, nämlich die Fähigkeit, sich kreativ und gestalterisch mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen, letztlich auch nur wieder mit Schlagworten wie Identifikations- und Integrationswirkung belegt wird. Darunter kann sich dann jede vorstellen, was sie möchte.
Wir müssen keine Künstler sein, um die Bedeutung zu ermessen, welche der kulturellen Gestaltung gegenüber der wirtschaftlichen Planung zukommt. Aber wir müssen schon eine Geisteshaltung entwickeln, die es uns ermöglicht, die Kultur nicht länger als Wirtschafts- und Standortfaktor in den Bürokratien des EG-Binnenmarktes anzusiedeln, sondern ihr gerade das Unmögliche, Nichtkonforme, Unbequeme zukommen zu lassen, das den grenzüberschreitenden Charakter künstlerischer und kultureller Produktionsweise ausmacht. Wenn dafür Zollschranken fallen
und Mehrwertsteuersätze angeglichen werden, ist das eine große Erleichterung. Aber eine substantielle Idee oder gar ein Gesamtkonzept entsteht hierdurch nicht. Dieses kann meiner Meinung nach nur entstehen, wenn sich Kulturpolitik von den bloßen Lippenbekenntnissen zur Lobby für die Produzenten und Produzentinnen entwickelt.
Ich möchte das an zwei Beispielen erläutern:
Frauenkultur läßt sich nicht von außen organisieren. Sie entsteht dort, wo es gelingt, Erfahrungen und Produktionsweisen, Phantasien und Utopien in einen neuen Zusammenhang zu stellen. Frauenkultur hat seit Jahrtausenden im Verborgenen gestanden. Ihr ist vor allem ein anderer Blick auf das Leben eigen. Ihre Existenzbedingungen früher und heute besser zu begreifen und sie endlich auf internationalem Niveau an den ihr gesellschaftlich gebührenden Platz zu rücken, sie weithin sichtbar zu machen und ihre Bedeutung für die zukünftige Rolle der Frau an die Oberfläche zu bringen, das muß in der europäischen Kulturpolitik besonders beachtet werden.
Der Begriff Staatstheater gilt in breiten Künstlerinnenkreisen mittlerweile als Schimpfwort, Synonym für aufgeblasenen Apparat ohne künstlerische Effizienz. Gleichzeitig werden wir nach wie vor im Ausland um unser subventioniertes Staatstheater beneidet. Daß wir hierbei mit einer bloßen Polarisierung der sogenannten freien Theaterarbeit auf der einen und dem institutionalisierten Theater auf der anderen Seite nicht weiterkommen, zeigt spätestens die Diskussion von Theaterproduzenten im europäischen Zusammenhang. Die Lernprozesse zu ermöglichen und die richtigen kulturpolitischen Schlüsse daraus zu ziehen ist unsere Aufgabe, die wir nur leisten können, wenn wir uns den Standpunkt der Produzentinnen zu eigen machen und uns nicht im Gewirr einer Richtlinienpolitik verstricken, die uns den Blick vor der eigentlichen Aufgabe verschließt: der künstlerischen Gestaltung und der Kulturarbeit einen wichtigen Platz bei der Konzeption eines gemeinsamen Europa zuzuweisen.
In diesem Sinne begrüßen wir den Antrag der SPD.
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Frau Abgeordnete, sind Sie noch bereit, eine Frage des Herrn Abgeordneten Irmer zu beantworten?
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- Dann hat der Abgeordnete Baum das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, wir haben bisher schon eine sehr nützliche Aussprache geführt und haben, Herr Kollege Duve, an Hand der Fragen und auch an Hand der Antwort gesehen, wie sich die Situation verändert hat, mit der jedenfalls ich, möchte ich für mich sagen, noch nicht fertig geworden bin. Ich habe sie noch nicht in allen ihren Wirkungen ausgelotet. Deshalb ist es sehr gut, wenn wir jetzt, Herr Kollege Köhler, wie Sie gesagt haben, die Gelegenheit haben, uns im Ausschuß zu unterhalten, welche Folgerungen das hat, was in
Osteuropa und in der DDR jetzt geschehen ist, und was sich bei uns ändern muß; denn von diesen Prozessen in der DDR und Osteuropa sind wir viel mehr berührt, als manche das meinen.
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Wir sind keineswegs nur auf die wirtschaftliche Dimension verwiesen. Wir reden jetzt über Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion. Wir werden uns viel stärker noch mit der Entwicklung der Kultur beschäftigen müssen, mit der Situation derjenigen, die in der DDR oder in anderen Staaten Osteuropas kulturell tätig sind und arbeiten.
Ich meine, daß wir bei dieser Gelegenheit auch anerkennen sollten, daß viele Bemühungen der letzten Jahre nicht umsonst waren, daß sie sogar Früchte getragen haben. Ich denke an den KSZE-Prozeß, den die Bundesregierung nachhaltig gefördert hat. Ich erinnere mich z. B. an die Budapester Konferenz der KSZE, die vieles in Bewegung gebracht hat. Die grenzüberschreitende Freiheit der Kultur, der Information, der Forschung und Lehre, der menschlichen Begegnung und die Freiheit des religiösen, weltanschaulichen Bekenntnisses werden nun in den früheren Staaten des Ostblocks nicht mehr in Frage gestellt.
Auch die deutsche Kultur erwies sich in 40 Jahren der Trennung in zwei Teilstaaten als unteilbar. Die lebensfremde Theorie einer sozialistischen deutschen Nationalkultur blieb ohne Wirkung. In vielfältiger Weise blüht jetzt, von den Fesseln der amtlichen Regeln des Kulturaustauschs befreit, der deutsch-deutsche Kulturverkehr. Wir sollten uns da nicht allzu sehr einmischen, Herr Kollege Duve. Wir sollten die Rahmenbedingungen setzen. Aber es entfaltet sich inzwischen so vieles, durch die Verbände des Kulturrats und durch unzählige einzelne Aktivitäten von Kunstverein zu Kunstverein, daß wir irgendwelche Institutionalisierungen nicht mehr brauchen. Die Frage stellt sich hier - ich habe sie eben schon anklingen lassen - : In welcher Weise verändert sich eigentlich das Leben derjenigen in der DDR, die im kulturellen Bereich tätig waren, der Künstler, aber auch der Verlage? Ich bin nachdrücklich der Meinung, daß jetzt generell, aber gerade auf diesem Sektor Wettbewerb bestehen muß, daß Pluralität aufrechterhalten werden muß, daß wir dort nicht nur die Starken im Markt haben dürfen, die dasjenige, was die Vielfalt der Kultur ausmacht, wegdrücken. Hier besteht eine große Gefahr. Heute geistern Meldungen auf einem anderen Sektor durch den Raum: daß die wirtschaftlich Potenten in den Markt gehen. Wir müssen aber auch sehen, daß diejenigen, die kulturell tätig sind, den Boden unter den Füßen nicht verlieren.
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Wir fordern die Bundesregierung auf, die hier auftretenden Probleme gesondert zu behandeln und nicht nur die allgemeinen Probleme der sozialen Lage in der DDR zu behandeln. Zwischen Ost- und Westeuropa müssen jetzt die Schranken beseitigt werden, die sich aus den unterschiedlichen Rahmenbedingungen für künstlerische Tätigkeit ergeben.
Die Bemühungen um eine engere Zusammenarbeit in Gesamteuropa müssen auf eine neue Basis gestellt werden. Wir müssen die kulturelle Dimension einbeziehen, und zwar nicht nur die Kultur im engeren Sinne, sondern auch Bildung, Wissenschaft und Medien. Die Behinderungen müssen abgebaut werden, europäische Gemeinsamkeiten wiederbelebt werden. Da sind wir sicher alle einig. Ich meine, daß gerade jetzt die wirtschaftliche und politische Dimension nicht allein das Feld besetzen darf.
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Auch in unserem Land ist oft genug zu beklagen gewesen, daß die Welt der Ideen weniger politische Aufmerksamkeit findet als Fortschritte in der materiellen Wirklichkeit. Kultur ist eine Dimension des menschlichen Lebens, die seine schöpferischen Möglichkeiten ausmacht. Meine Damen und Herren, Ihnen, die hier sitzen, brauche ich das nicht zu erzählen. Wir Kulturpolitiker dieses Parlaments - viele sind wir ja nicht - müssen gemeinsam dafür sorgen, daß dieser Bereich hier zur Geltung kommt.
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Wir haben das Bewußtsein eines gemeinsamen kulturellen Erbes als Teil der europäischen Identität zu festigen. Aber ich bin nachdrücklich ein Verteidiger des Gedankens der Vielfalt in Regionen, Religionen und Sprachen. Das, was hier zum deutschen Föderalismus gesagt worden ist, unterstreiche ich, aber auch das, was zu Minderheiten gesagt worden ist. Wenn wir einige Völker Osteuropas davor bewahren wollen, in ein altes nationalstaatliches Denken des 19. Jahrhunderts zurückzufallen, so sollten wir sie daran erinnern, daß es viel besser ist, ihre eigene kulturelle Identität jetzt zur Geltung zu bringen
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und nicht nur in Staatsgrenzen zu denken, sondern auch in dieser Vielfalt.
Die Bundesregierung, deren Bericht ich ausdrücklich loben möchte - er ist eine sehr gute Arbeitsgrundlage -, hat sich zu verschiedenen Spannungsverhältnissen geäußert. Eines ist besonders erwähnt worden, das Spannungsverhältnis : Vollendung des Binnenmarkts einerseits und Grundsatz der Erhaltung der Vielfalt andererseits. Ich unterstütze die Bundesregierung ausdrücklich, wenn sie hier vorschlägt, behutsam und pragmatisch vorzugehen. Kulturförderungssysteme in Europa aus einem Guß, die nicht mehr auf die gewachsenen Strukturen und Situationen Rücksicht nehmen, lehnen wir ab. Auch in unserem Land hat sich durchaus das Föderalistische bewährt.
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Dies alles muß auch in bezug auf die Zuständigkeitsabgrenzung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten gelten. Also, es darf hier nicht alles „glattharmonisiert" werden.
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Gerade auf diesem Sektor müssen die Eigenheiten nicht nur hingenommen, sondern akzeptiert und verteidigt werden.
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Ich erwarte von der KSZE-Konferenz auch auf diesem Sektor einiges. Ich möchte sagen, daß wir gut daran tun, uns mit den Problemen zu beschäftigen, die ja in die Kompetenz unseres Parlamentes fallen: Urheberrecht, Sozialversicherungsrecht, Förderungsrichtlinien und Fernsehrichtlinien - all die Dinge, die die Arbeitsbedingungen der Menschen betreffen und die aus dem Binnenmarkt hervorgehen. Ich bin beispielsweise für die Beibehaltung der Buchpreisbindung. Wir müssen das Mehrwertsteuersystem - also die Mehrwertsteuerbefreiung für kulturelle Produkte - verteidigen; ich möchte die Filmförderung verteidigen. Wir tun also gut daran, uns auch mit der Situation einzelner Gruppen zu beschäftigen: den Frauen, wie hier gesagt worden ist, und anderem mehr. Wir kennen die ganzen Probleme.
Ich bin dankbar, daß der Innenminister eine besondere Arbeitsgruppe unter Beteiligung des Außenministeriums und anderer Ressorts eingerichtet hat, um die möglichen Entwicklungen europäischer perfektionistischer Bestrebungen und der möglichen Wirkungen auf die künstlerische Eigenständigkeit, die künstlerischen Produktionen in unserem Lande, zu analysieren und, wenn es nötig ist, abzuwehren.
Wir lehnen auch eine verbindliche Quotierung zugunsten einheimischer oder europäisch produzierter Spiel- und Fernsehfilme ab.
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Es darf hier keine Festung Europa geben. Wir werden uns dem Sponsoring widmen, all den Fragen, die aufgeworfen sind. Es ist ja eine wirklich reichhaltige Palette von Themen, die Sie angesprochen haben.
Ich möchte noch auf die Bedeutung der kulturellen Bildung hinweisen, die ja auch angesprochen worden ist. Hier gibt es ein hervorragendes Konzept des Deutschen Kulturrates aus dem Jahre 1988 zur kulturellen Bildung. Das wird, meine ich, auch im Verhältnis zu Osteuropa eine Rolle spielen.
Ich halte für wichtig: Jugendaustausch, Europäisches Jugendwerk, gegenseitige Anerkennung von Schul- und Studienzeiten, mehrsprachige Abschlüsse. Ferner muß der Bereich des Übersetzens ausgebaut werden, damit wir gegenseitig mehr lesen können, damit man sich über die Grenzen hinweg besser versteht. All das werden wir vertiefen müssen. Die Europäische Gemeinschaft, als Wirtschaftsgemeinschaft entstanden und um die politische Zusammenarbeit erweitert, braucht mehr denn je eine kulturelle Dimension. Das alles gilt jetzt für Gesamteuropa. Aus ihr erwächst das Bewußtsein gemeinsamer Vergangenheit ebenso wie gegenwärtiger Verbundenheit.
Aber ich möchte, meine Damen und Herren, zum Austausch auch sagen, daß wir jetzt nicht zu sehr oder allein mit uns selbst beschäftigt sein sollten.
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Weder die Deutschen noch die Europäer sollten unter sich bleiben. Wir sollten immer wieder den Bezug zu den anderen Kulturen der Welt herstellen, uns öffnen und uns einbringen in die Gesamtzusammenhänge, die sich ergeben und die befruchtend sind für uns alle. Wir sollten uns also nicht abschließen und in dieser großartigen Chance, die Spaltung Europas zu überBaum
winden, nicht vergessen, daß wir ein „Teil der Welt" sind und daß sich Goethe, der dieses Wort ja geprägt hat, als Teil der Weltliteratur verstanden hat.
Also: Beschäftigen wir uns mit uns, nehmen wir die konkreten Probleme auf, loten wir aus, was auf uns zukommt! Es ist ja im wesentlichen positiv. Wir sichern eine konstruktive Zusammenarbeit bei der Erarbeitung einer gemeinsamen Stellungnahme zu und bedanken uns für den außerordentlich interessanten und vielfältigen Bericht der Bundesregierung.
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Nun spricht der Staatsminister Schäfer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Angesichts der Stimmung im Saal fiel mir eine Gedichtzeile ein, die, glaube ich, beginnt: „Vor lauter Staunen und Lauschen sei still, du meine tief, tiefe Seele! " - So, glaube ich, fängt es an, und so ungefähr ist eigentlich die überraschende Ruhe in diesem Saal, die hier ja sehr selten auftritt. Wir reden über Kultur, und damit hängt es wohl zusammen.
Ich darf mich zunächst einmal sehr ausdrücklich bedanken für den Dank, den alle Redner hier an die Bundesregierung ausgesprochen haben. Ich darf etwas konkreter werden und sagen: Er gebührt einer Abteilung des Auswärtigen Amtes, die sonst nicht so sehr im Mittelpunkt des Ereignisses steht, nämlich der Kulturabteilung. Sie hat eine sehr gute Arbeit geleistet, und wir sollten das hier auch wirklich würdigen.
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Wir haben versucht, in unserer Antwort auf Ihre Große Anfrage zur Kulturpolitik in Europa und in der Europäischen Gemeinschaft von der Existenz und dem Bewußtsein einer gesamteuropäischen Identität, einer kulturellen Gemeinsamkeit aller Völker Europas, als einer Grundvoraussetzung und Konstante jeder kulturellen Zusammenarbeit in Europa auszugehen. Daß es sich dabei nicht mehr um eine Fiktion handelt, sondern um die immer klarer hervortretende Realität, das haben uns die jüngsten Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas auf sehr eindrucksvolle Weise bestätigt.
Diese dramatischen Veränderungen werden wiederum nachhaltige Wirkungen auf die kulturelle Zusammenarbeit in Europa haben. Das gilt in besonderem Maße für den bilateralen Austausch, der vor allem die kulturelle Zusammenarbeit ausmacht. Das gilt aber auch für die multilaterale Zusammenarbeit, die das eigentliche Thema der Großen Anfrage ist.
Die wesentlichen Aussagen der Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage sind nach wie vor gültig. Aber vieles von dem - das ist in den Reden hier bereits deutlich geworden - erscheint heute in einem anderen Licht. Es wird sicherlich eine Reihe einschneidender Akzentverschiebungen geben.
So werden sich die Prinzipien der Meinungsfreiheit, der Offenheit des Kulturaustauschs und des ungehinderten Zugangs zu Informationen in den Staaten Mittel- und Osteuropas, Prinzipien, um die wir mit diesen Staaten vor allem im KSZE-Rahmen noch hart gerungen haben, im Laufe der erfolgreichen Reformprozesse dort zunehmend von selbst durchsetzen. Dafür wird sich uns mit großer Dringlichkeit das Problem stellen, wie wir Erwartungen und Anforderungen befriedigen können, die aus diesen Ländern auf uns zukommen.
Die größten Hoffnungen werden sich im multilateralen Bereich sicherlich an die Europäische Gemeinschaft richten, deren Möglichkeiten allerdings schon mangels vertraglicher Zuständigkeiten begrenzt sind. Daß es aber auch im vertraglich vorgegebenen Rahmen Mittel und Wege für pragmatische Zusammenarbeit gibt, zeigt z. B. das Projekt Eureka „Audiovisuelle Medien", das im derzeit wohl wichtigsten Bereich kultureller Zusammenarbeit in Europa der Gemeinschaft eine von allen Mitgliedstaaten mitgetragene wesentliche Rolle zuweist und gleichzeitig die Beteiligung von Drittstaaten aus West- und Osteuropa ermöglicht.
Auch im zweiten besonders wichtigen Bereich europäischer Kulturzusammenarbeit, dem Bereich Literatur und Übersetzung - Herr Kollege Duve, das ist, wenn ich mich recht an frühere Beiträge erinnere, eines Ihrer Steckenpferde -, wird man Möglichkeiten für eine Beteiligung von Drittstaaten finden müssen und nach Überzeugung der Bundesregierung auch finden können.
Besonders schnell und flexibel auf die jüngsten Veränderungen in Mittel- und Osteuropa hat der Europarat reagiert. Ungarn und Polen sind, wie Sie wissen, der europäischen Kulturkonvention beigetreten und arbeiten inzwischen voll im Kulturlenkungsausschuß des Europarates mit.
Herr Staatsminister, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu erlauben?
Ja, ich erlaube.
Bitte sehr!
Herr Staatsminister, es geht nicht nur um das Kindergefährt Steckenpferd, das Sie mir eben freundlicherweise unterstellt haben, sondern es geht darum, daß sich in der Wortkultur, in der Sprache diese nationalen, regionalen, kulturellen Eigenheiten häufig stärker ausdrücken lassen und auch zum Ausdruck kommen als etwa in der Musik oder auch in der Malerei. Die Malerei ist immer sehr viel rascher international als die Literatur. Deshalb spielt dieser literarische Austausch - ich hoffe, weit über mein eigenes Interesse hinaus - eine so große Rolle.
Da Sie im Staatsminister im Auswärtigen Amt einen Germanisten vor sich sehen, finden Ihre Anregungen volle Unterstützung.
({0}) - Ja. Das bin ich, nebenbei bemerkt, auch.
Weitere Staaten dieser Region werden voraussichtlich bald folgen. Die Sowjetunion ist bereits zur Kul15588
turministerkonferenz am 25. und 26. April 1990 in Palermo als Beobachter geladen.
Der Europarat ist schon von seiner ursprünglichen Zielsetzung und seinem Selbstverständnis her auf eine Mitgliedschaft aller europäischen Staaten angelegt. Er eignet sich daher, wie die Bundesregierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage ausgeführt hat, im kulturellen Bereich besonders gut als Brücke zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den übrigen Staaten West- und Osteuropas. Ich darf aus meinen Erfahrungen im Ministerrat des Europarats sagen: Man ist natürlich dort auch bemüht, die kulturelle Zuständigkeit des Europarats zu verteidigen gegen manchen Anspruch der Europäischen Gemeinschaft.
({1})
Hierzu hat Herr Daweke durch Zwischenrufe ja auch deutlich gemacht, daß z. B. die Richtlinien der EG zum Fernsehen nicht den ungeteilten Beifall auch im Europarat gefunden haben.
Zwischen einer Reihe von KSZE-Teilnehmerstaaten läuft eine Intensivierung der West-Ost-Zusammenarbeit im Kulturbereich als Antwort auf die jüngsten Entwicklungen bilateral bereits an. Das für nächstes Jahr vorgesehene Symposion in Krakau über das kulturelle Erbe der KSZE-Staaten wird uns Gelegenheit geben, die Thematik auch im multilateralen Rahmen anzugehen.
Auch die UNESCO hat inzwischen begonnen, sich in ihrem Mandatsbereich den neuen Herausforderungen zu stellen. Sie hat am 27. und 28. Februar in Paris ein Treffen von Pressevertretern aus Ost und West veranstaltet - übrigens auch mit Teilnehmern aus den USA -, bei dem Möglichkeiten erörtert wurden, beim raschen Aufbau einer freien Presse in den Staaten Osteuropas praktisch zu helfen. Im September dieses Jahres plant die UNESCO in Berlin ein Treffen von Wissenschaftlern aus West und Ost zur Erörterung neuer Kooperationsformen.
Aus Sicht der Bundesregierung soll allerdings in der UNESCO nicht generell eine Gewichtsverlagerung in Richtung auf West-Ost-Zusammenarbeit stattfinden; vielmehr muß die UNESCO als weltweite Organisation die Möglichkeiten, die eine verbesserte WestOst-Kooperation bietet, vor allem auch zugunsten der Dritten Welt nutzen,
({2})
in der, wie Sie wissen, die Befürchtung besteht - diese Befürchtung ist meiner Ansicht nach nicht ganz unbegründet - , die verstärkte West-Ost-Kooperation könnte zu ihren Lasten gehen.
Meine Damen und Herren, wichtig bleibt für die Bundesregierung bei der Gesamtgestaltung der kulturellen Zusammenarbeit in Europa, daß es zwischen allen Bereichen, in denen sie stattfindet, ob bilateral oder multilateral, Offenheit, Durchlässigkeit und eine lebendige Wechselwirkung gibt, damit die größtmögliche Gesamtwirkung erzielt wird.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Holtz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, zu Beginn drei grundsätzliche Überlegungen zu unserem Antragsthema „Kulturpolitik in Europa" vorzutragen.
Erstens. Die Globalisierung der menschlichen Lebensbedingungen zwingt eigentlich zum Konzept der Einen Welt. Dennoch wollen wir nicht eine uniforme Weltkultur. Dies bezieht sich nicht nur auf Europa - wir wollen die kulturelle Selbstbehauptung Europas - , sondern es bezieht sich auch auf andere Kulturregionen der Welt. Insofern geht es auch um interkulturelles Lernen.
Zweitens. Die Aufbrüche in Zentral- und Osteuropa sind auch Ausdruck der kulturellen Gemeinsamkeit ganz Europas. Aber dies heißt noch lange nicht, daß diese Länder oder wir einer europäischen Einheitskultur das Wort reden wollten.
({0})
Gerade die kulturelle Vielfalt und Offenheit macht Europa so attraktiv und so dynamisch. Wenn wir europäische einheitliche kulturelle Anstrengungen fordern, gehen wir dabei vom gemeinsamen kulturellen Erbe und Streben und zugleich vom Konzept der Vielfalt in einem hoffentlich bald gemeinsamen europäischen Haus aus.
Drittens. Parallel zur wirtschaftlichen und demokratischen Entwicklung und Festigung unserer Gesellschaften gilt es, die kulturelle Dimension sicherzustellen sowie kulturelle Identität und kulturelle Demokratie zu fördern. Technisierung und Ökonomisierung der Gesellschaften dürfen nicht obsiegen.
Meine Damen und Herren, meines Erachtens wird zu oft - nicht immer, Herr Staatsminister - zuwenig beachtet, daß der Europarat über ein einmaliges, nicht ausgeschöpftes Potential der Zusammenarbeit und Koordinierung auf den weiten Feldern der Kultur und Bildung verfügt. Verglichen mit den anderen europäischen Institutionen liefert der Europarat geographisch gesehen den größten Rahmen für eine schon bestehende Zusammenarbeit auf kulturellem Gebiet.
({1})
Das drückt sich z. B. in der Europäischen Kulturkonvention aus, die es ja schon gibt, unterzeichnet immerhin von 27 Staaten. Sie alle gehören auch dem Rat für kulturelle Zusammenarbeit an. Neben den 23 Mitgliedstaaten des Europarats gehören dieser Konvention auch Jugoslawien, der Vatikan, Polen, Ungarn an. Neuerdings hat auch die Sowjetunion Interesse an einem Beitritt geäußert.
Wenn man also überhaupt einen Rahmen will, dann liegt er hier, beim Europarat. Die Europäische Gemeinschaft hat häufig genug Geld, aber nicht die Kompetenz, wie wir gerade gehört haben. Der Europarat hat die Kompetenz, ihm fehlt Geld. Geben wir ihm die zusätzlichen Finanzmittel!
({2})
Deshalb von hier aus also mein Appell an die für Kulturpolitik zuständigen Kolleginnen und Kollegen,
aber auch an die Bundesregierung und an die Länderregierungen: Nutzen wir weiterhin und viel intensiver dieses Potential des Europarates neben den anderen multilateralen Ebenen wie EG, KSZE und UNESCO.
Was tut der Europarat konkret zur Förderung der europäischen Kulturgemeinschaft? Dazu nur einige Beispiele.
Der europäischen Bewußtseinsbildung dienen u. a. europäische Ausstellungen, Kulturstraßen, etwa der Pilgerweg nach Santiago de Compostela, europäische Kulturstätten, die Einrichtung kultureller Datenbanken.
Im Bereich des Schulunterrichts hat der Europarat Wichtiges geleistet, um Vorurteile, Irrtümer und Klischees in Lehrplänen und Schulbüchern auszumerzen.
Im Rahmen der ständigen Konferenz für Universitätsprobleme wird die Zusammenarbeit zwischen den Universitäten angeregt und gepflegt.
Beim europäischen Denkmalschutzjahr ging es um das architektonische Erbe. Das Europäische Jahr der Musik 1985 versuchte, ebenso zu wirken.
Mit Hilfe von EURIMAGES, dem Förderprogramm für audiovisuelle Medien, werden Mittel bereitgestellt, um die Produktion und die Verbreitung des europäischen Films zu fördern.
Ich komme zum Schluß. Jetzt bereitet etwa die Parlamentarische Versammlung des Europarates einen Bericht über praktische Hilfsmaßnahmen im Bildungsbereich für Zentral- und Osteuropa vor. Dabei geht es etwa um Projekte des Sprachenerlernens, um journalistische Ausbildung, um die Begründung von Netzwerken, von Kulturinstituten in Zentral- und Osteuropa, um den Schulaustausch, den Jugend- und den Lehreraustausch. Ich meine, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, der Europarat bietet wichtige Ansatzpunkte, um auch hier im Bundestag für die Kulturarbeit in Europa weiterhin zu arbeiten.
Danke schön.
({3})
Ich erteile nun dem Abgeordneten Daweke das Wort.
Ich möchte als letzter versuchen, doch noch einmal ein paar Gemeinsamkeiten zusammenzufassen. Das beginnt mit dem Hinweis auf das, was wir, glaube ich, in Europa einbringen können: Wir haben hervorragende Erfahrungen mit dem föderalen Kulturstaat Bundesrepublik Deutschland. Ich sage auch im Hinblick auf die DDR: Ich denke, diese Erfahrungen können wir unseren Nachbarn weitergeben. Das ist das Erste.
Das Zweite allerdings schränkt dies ein. Die Bundesrepublik Deutschland gibt zehn Milliarden DM für die öffentliche Kulturförderung aus; 60 To kommen aus den Kommunen, 35 % aus den Länderhaushalten, 5 % aus dem Bundeshaushalt. Die Frage ist, wie man den hohen Anteil der Kommunen und der Länder - in diesem Fall praktisch der Länder - in die Beratungen über eine Kulturpolitik in Europa einbringen kann.
Wie werden die Länder an dem beteiligt, was dort gemeinsam verabredet wird? Ich meine, da müßten wir noch einmal über die Mechanismen nachdenken.
Die nächste Bemerkung, die ich machen will, bezieht sich auf unser Selbstverständnis von Kulturpolitik und Kulturförderungspolitik. Die Frage ist: Können wir unsere Förderungsinstrumente sichern, und wie? Das ist der Teil, den auch Herr Köhler in bezug auf die Anträge angesprochen hat, Anträge, in denen Sie über Mehrwertsteuer, das Urheberrecht und dergleichen mehr reden. Ich finde, es stünde uns gut an, auch in Gesamteuropa dafür zu sorgen, daß jeder seine Förderungsinstrumente behalten kann. Wie soll denn zum Schluß eine möglichst bunte Wiese entstehen, wenn man versucht, sie mit dem gleichen Dünger zu bearbeiten?
Das kann ich mir schlecht vorstellen. Ich meine, daß wir auch die Instrumente erhalten müßten.
In dem Zusammenhang gestatten Sie mir den Hinweis darauf, daß wir neben dem, was wir kennen, nun einen Entwurf der Bundesregierung für ein kulturfreundliches Steuerrecht vorliegen haben. Es wäre schade, wenn diese guten Ansätze, für deren Vorlage wir sehr viel Zeit gebraucht haben, jetzt in diesen gesamteuropäischen Harmonisierungsbestrebungen sozusagen untergehen würden.
({0})
- Wir legen ihn jetzt vor. Es gibt einen Referentenentwurf, zu dem erste Stellungnahmen vorliegen.
Was ich ganz hervorragend finde - auch das können wir weitergeben - , ist: Der Stiftungsgedanke wird darin gefördert. Der Ausbau und die Unterstützung von Stiftungen sollen leichter werden. Wenn jemand seine Bilder oder Plastiken ausstellt, so soll er von der Vermögensteuer befreit werden. Außerdem: die Hingabe von Kunst an den Staat statt einer Vermögens- oder Erbschaftssteuer. Dies ist übrigens ein Gedanke, den wir uns in Europa, von Frankreich, ausgeliehen haben. Dies wurde zum erstenmal anläßlich des Todes von Picasso von Mitterrand eingeführt, dann von den Italienern, zum Schluß sogar von Maggy Thatcher übernommen - dann muß es ja wirklich gut sein.
({1})
Schließlich sollen die Übungsleiterfreibeträge auch auf die künstlerische Nebentätigkeit ausgedehnt werden. Das sind, finde ich, wichtige neue Anstöße, um das, was wir auch in bezug auf andere für übernehmenswert halten, zu fördern.
Der dritte Gedanke, den ich noch äußern will, bezieht sich nun auf das, was da auch als Angst vor der Kulturpolitik in Europa diskutiert wird. Es gibt viele Leute, die glauben, sie gingen unter. Ich persönlich sehe auch riesige Chancen.
Wenn ich nur einmal ein einziges Beispiel nennen darf: Alles, was in der Bundesrepublik Deutschland für die öffentliche Filmförderung ausgegeben wird, entspricht ungefähr den Produktionskosten eines großen amerikanischen Films. Wenn wir alles zusammenzählen, kommen wir ungefähr auf die gleiche
Summe. Ich denke, da kann man z. B. den Filmemachern sagen: Hier sind enorme Möglichkeiten; wenn wir zu Kooperationen kommen, etwa bei der Filmproduktion und beim Verleih, bietet dieses Europa auch neue Chancen, die ihr als nationale Filmemacher alleine gar nicht hättet, weil solche Dimensionen z. B. für den deutschen Film alleine gar nicht denkbar sind.
Ein letzter Gedanke bezieht sich auf viele Diskussionen, die ich in der letzten Zeit mit Künstlern aus der DDR - sie sprechen ja von Kulturschaffenden - gehabt habe. Sie haben große Ängste. Nachdem sie sich daran gewöhnt haben, daß sie jahrelang eigentlich nicht schlecht lebten
({2})
- wenn sie nicht allzu aufsässig waren, hatten sie ja durchaus ihre Nischen, in denen sie tätig werden konnten; sie wurden nicht schlecht dotiert; aber sie hingen eben die ganze Zeit am staatlichen Kulturfaden, am Tropf - , fragen sie sich jetzt: Wie wird es werden, wenn es Wettbewerb gibt, wenn es auch verschiedene Förderungsmechanismen gibt, wenn es neben der staatlichen Kulturförderung die private Kulturförderung gibt?
Ich meine, wir können den Betroffenen in der DDR nach unseren Erfahrungen nur sagen - dafür gibt es viele Zeugnisse; Wim Wenders hat kürzlich einmal gesagt, ohne den Mix von Kulturförderung in diesem Lande hätte er niemals seine Filme drehen können - : Wir haben hier hervorragende Erfahrungen; wir wollen, daß ihr, wenn wir einen Kulturstaat Deutschland haben, diese Erfahrungen mit uns teilt. Wir werden diese Erfahrungen auch in die neue europäische Dimension einbringen.
Schönen Dank.
({3})
Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6625 soll zur federführenden Beratung an den Innenausschuß und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß, an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft und an den Rechtsausschuß überwiesen werden. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann haben wird das so erledigt. * )
Wir kommen nunmehr zum Tagesordnungspunkt 6:
a) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft
- Drucksache 11/6471 -
b) Beratung der Unterrichtung durch das Europäische Parlament
*) Änderung der Überweisung Seite 15591 D
Entschließung zur europäischen Charta der sozialen Grundrechte
- Drucksache 11/6116 -
c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht der Bundesregierung zum „Europa der Bürger"
- Drucksache 11/6297 -
d) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Stärkung der Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments
- Drucksache 11/6479 Hier schlägt Ihnen der Ältestenrat eine Debattenzeit von zwei Stunden vor. - Das Haus ist hiermit offensichtlich einverstanden, so daß wir mit der Debatte beginnen können. Zunächst einmal hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Berichte der Bundesregierung zum Thema „Europa der Burger" und zur Stärkung der Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments zeigen, so meine ich, daß die Bundesregierung den europäischen Prozeß weiter tatkräftig und dynamisch vorantreibt. Wenn wir auch in diesen Tagen in Gedanken bei unseren Landsleuten in der DDR sind, die in der Endphase ihres Wahlkampfes für die Volkskammer um die richtige Entscheidung für ganz Deutschland ringen, so vergessen wir unsere endgültige und lebensnotwendige Bindung an Europa nicht. Ich verstehe diese Debatte auch so, daß wir damit gemeinsam ein Zeichen dafür setzen wollen, daß für uns Europa die Zukunft unseres geeinten Vaterlandes ist, daß Europa für uns oben auf der Tagesordnung steht und daß wir an unserer europäischen Zukunft zielstrebig und ohne Unterbrechung weiterbauen.
({0})
Die Vorlagen, über die wir beraten, weisen aus, daß die Integration Europas unwiderruflich ist. Auf dem Weg zum Europa der Bürger ist, so meine ich, schon viel erreicht worden. Wir sind - das kann man heute feststellen - auf dem Weg zur Europäischen Union. Die weitere Integration erfordert damit die Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft und die Sicherung der sozialen Belange.
Der Bericht der Bundesregierung weist aus, daß die Stärkung der Rechte und der Befugnisse des Europäischen Parlaments von uns immer wieder angemahnt worden sind. Es ist notwendig, daß die Befugnisse des Europäischen Parlaments wesentlich erweitert werden. Die derzeitigen Kompetenzen des Europa-Parlaments können dem Vergleich mit den Zuständigkeiten der nationalen Parlamente nicht standhalten.
Ich will dies offen ansprechen: Für mich als Parlamentarier ist es schlicht unverständlich, wenn der Europäische Rat nach wie vor die Möglichkeit hat, legislative Texte anzunehmen, die frei gewählte EuropaParlamentarier zuvor abgelehnt haben.
({1})
Es geht nicht an, daß Regierungsvertreter - das sind die Mitglieder des Europäischen Rates - sich über die Entscheidungen frei gewählter Volksvertreter einfach hinwegsetzen können. Ich meine, diese Frage ist unbedingt klärungsbedürftig. In der ganzen Gemeinschaft und nicht nur in den Mitgliedstaaten muß uneingeschränkt der Grundsatz gelten, daß die Entscheidung einer Volksvertretung für die Regierung verbindlich ist.
Ich glaube zwar nicht, daß die Anträge der SPD bereits die endgültige Antwort zur Lösung dieses Problems sein können. Es geht hier darum, daß die Entscheidungen der EG in erheblichem Umfange heute parlamentsfern fallen. Dies bedeutet, daß mit wachsenden europäischen Kompetenzen das Beteiligungsdefizit der Volksvertretungen immer ausgeprägter wird. Unsere Antwort ist demgegenüber: Es sind die Volksvertreter, die die Gesetzgebung der EG in Zukunft bestimmen müssen.
Das frei gewählte Europa-Parlament braucht hierbei die Unterstützung durch die Abgeordneten aus den nationalen Parlamenten. Solange das Ziel der Stärkung des Europäischen Parlaments wegen mancher nationaler Egoismen nicht erreicht ist, muß das legislative Defizit innerhalb der EG von den nationalen Parlamenten soweit wie möglich ausgeglichen werden.
Für den Deutschen Bundestag stellt sich damit die Frage, wie er sich effektiver und gründlicher mit den Vorhaben der EG auseinandersetzen kann. Mir scheint es unverzichtbar zu sein, rechtzeitiger auf Defizite der EG-Vorlagen hinzuweisen und vor der Entscheidung der europäischen Gremien auf Korrekturen zu dringen. Die nachträgliche Kenntnisnahme von bereits erledigten Vorgängen - wie dies bei unserem bisherigen Verfahren leider nicht selten der Fall ist - widerspricht den Grundsätzen jeder parlamentarischen Kontrolle.
Eine Verbesserung dieser Situation setzt auch eine Stärkung des Unterausschusses für Fragen der Europäischen Gemeinschaft des Deutschen Bundestages voraus.
Über 800 EG-Vorlagen werden dem Deutschen Bundestag jährlich zugeleitet. Nun hat nicht jede dieser Vorlagen gleich großes Gewicht; manche dieser Vorlagen lassen sogar Zweifel zu, ob die Europäische Gemeinschaft ihre Kompetenzen nicht überschreitet. Wir wollen eine starke EG - und wir wollen die Europäische Union. Ich kann mir nicht vorstellen, daß dazu eine Flut von Detailregelungen gehört.
Jacques Delors hat im Jahre 1988 angekündigt, daß im Jahre 1993 mindestens 80 % der Wirtschafts-, Finanz- und vielleicht Sozialgesetzgebung auf Gemeinschaftsebene erfolgen. Ich bin für eine Ausweitung der Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft, aber eine solche Regelungsflut ist kontraproduktiv. Notwendig ist eine Europäische Gemeinschaft mit starken Kompetenzen. In vielen Bereichen kann nur eine überstaatliche Gemeinschaft erfolgreich arbeiten. Gerade deshalb muß es auch im Bereich der Europäischen Gemeinschaft eine Selbstverständlichkeit sein, dem Subsidiaritätsprinzip die notwendige Beachtung zu schenken. Jeder Zentralismus läuft den berechtigten Interessen der Mitgliedstaaten und auch
unserer Bundesländer zuwider. Wir wollen ein förderales Europa, in dem die Bundesländer und die Regionen eine starke Stellung mit eigenen Kompetenzen haben. Wir verstehen darunter originäre Zuständigkeiten, wie sie in der Bundesrepublik Deutschland die Bundesländer haben und auch zukünftig behalten sollen.
Natürlich, liebe Kolleginnen und Kollegen, gibt es Aufgabenfelder, denen allein die Europäische Gemeinschaft mit ihrer überregionalen Struktur gewachsen ist. Es gibt aber auch zahlreiche Aufgaben, die von den Mitgliedstaaten auch in Zukunft in eigener Regie und ohne Bevormundung am besten gelöst werden. Ich halte es beispielsweise für selbstverständlich, daß die Europäische Gemeinschaft die Grundsätze, Leitlinien und Rahmendaten der Verkehrspolitik setzt. Ich halte es aber für völlig undenkbar, daß auch Landstraßen oder Ortsstraßen in Brüssel, Straßburg oder Luxemburg geplant werden.
({2})
Das Institut der Rahmengesetzgebung bietet hierfür ein geeignetes Instrumentarium an. Es muß für die EG-Gesetzgebung in Zukunft häufiger als bisher genutzt werden. Die Abgrenzung hierzu muß nach dem Prinzip der Subsidarität vorgenommen werden, d. h., die Kompetenzen müssen bei dem verbleiben, der ihnen auch gerecht werden kann. Subsidiarität ist nach unserem Verständnis damit ein grundlegendes Prinzip freiheitlicher Strukturen. Dieses Prinzip muß auch in den Mittelpunkt der EG-Struktur-Debatte gerückt werden. Wer, werte Kolleginnen und Kollegen, eine starke EG will - dies wollen wir - , der muß ihr zum einen die notwendigen und grundlegenden Kompetenzen für die überstaatlichen Aufgaben zubilligen und sie andererseits von sämtlichen regional lösbaren Aufgaben entlasten.
Deutschland, meine Damen und Herren, hat seine Zukunft nur in einem geeinten Europa. In der Situation, in der Deutschland heute steht, ist die Unterstützung und der Rückhalt unserer Freunde eine wichtige, ja, eine entscheidende Hilfe. Unser Weg war und ist klar vorgezeichnet: Wir sind froh, daß wir Europa gemeinsam mit unseren Freunden aufbauen und gestalten können.
Vielen Dank.
({3})
Meine Damen und Herren, ich muß auf Tagesordnungspunkt 5 zurückkommen. Da ist offensichtlich trotz einer höchst perfekten Verwaltung ein kleiner Irrtum entstanden. Sie haben eine falsche Überweisung beschlossen. Der Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6625, der sich mit der europäischen Kulturpolitik beschäftigt, muß zur federführenden Beratung in der Tat an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß überwiesen werden. *) Ich nehme an, daß das Haus gegen diese Korrektur nichts einzuwenden hat. -
Nun, Frau Wieczorek-Zeul, können Sie mit Ihrer Rede beginnen.
*) Vgl. Seite 15590 B
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich denke, es ist in Ihrer aller Interesse, wenn wir aus dieser Europa-Debatte heute keine europapolitische Trockenübung machen, sondern auch in der aktuellen Situation des Standes deutsch-deutscher Einigung und des Zusammenhangs mit der europäischen Einigung diskutieren.
In diesem Sinne möchte ich mit einem Zitat aus einer Rede beginnen, die der Bundeskanzler am 22. November 1989 vor dem Europäischen Parlament gehalten hat. Er hat dort gesagt:
Die deutsche Bundesregierung steht zur Verwirklichung der Europäischen Union. Zur Fortsetzung und zur Stärkung des europäischen Einigungsprozesses gibt es keine Alternativen. Wir wissen um unseren besonderen Auftrag und um unsere europäische Berufung.
({0})
Solche Worte klingen hohl, Herr Irmer, angesichts der Tatsache, daß es Helmut Kohl in den letzten Wochen nicht nur gelungen ist - in Anführungszeichen -, die osteuropäischen Nachbarn, z. B. die Polen, vor den Kopf zu stoßen, sondern dies mehrfach auch mit den westeuropäischen Partnern geschafft hat.
({1})
Es ist erschreckend, wenn man lesen muß, wie die Kommentare bei den westeuropäischen Nachbarländern ausfallen. Das Bild vom Elefanten im europäischen Porzellanladen ist noch harmlos. Kanzler Kohl scheint vielmehr mit unsichtbaren, aber um so lauter knarrenden Knobelbechern durch die europäische Landschaft zu trampeln, offensichtlich um nationalistische Stimmungen und Stimmung zu machen. Dahinter steckt die bekannte rechte Position, die wir in der Geschichte schon hatten: viel Feind, viel Ehr. Die Geschichte hat gezeigt, daß sie immer im Desaster geendet ist.
({2})
Solches Verhalten wie das des Bundeskanzlers nutzt den Deutschen nicht, sondern es schadet ihnen: bei uns und in der DDR; und es schadet vor allem dem deutschen Einigungsprozeß.
({3})
Denn es schafft Vorurteile, statt sie abzubauen. Im übrigen kommt ein solches Verhalten die Deutschen im wahrsten Sinn des Wortes teuer zu stehen.
Zu Recht beklagen viele der westeuropäischen Partner, daß es keinerlei Konsultationen mit den EG-Partnern über die Einbindung der deutschen Einigung in den EG-Prozeß gibt.
Es muß uns nicht - mir jedenfalls nicht - zu denken geben, wenn Margaret Thatcher mauert. Das tut sie innenpolitisch gegen die Mehrheit ihrer Bevölkerung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, und das tut sie in EG-Fragen.
({4})
Es sollte höchstens der CDU/CSU zu denken geben, mit wem sie da in sonstigen Fragen so eng kooperiert.
Es muß uns aber zu denken geben, wenn z. B. - und er steht nur als einer für viele - der belgische EG-Kommissar Karel van Miert, ein großer Freund der Deutschen, das ausdrückt, was viele Europäer denken. Es ist in der FAZ so zitiert:
Der belgische EG-Kommissar van Miert äußerte die Befürchtung, der Kurs Kohls könne der europäischen Einigung schaden. Van Miert sagte: Die Bundesrepublik spricht noch über Europa; aber das sind nur Lippenbekenntnisse. Es sei nicht länger klar, ob Kohl die deutsche Einheit parallel zur europäischen Integration anstrebt.
Und der „Kölner Stadtanzeiger" zitiert van Miert:
Noch nie hat sich Kohl in den wichtigsten Nachbarstaaten so viele Feinde gemacht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bringe das deshalb zur Sprache, weil auch nur der Verdacht der Entkoppelung des Prozesses der deutschen Einigung und des Prozesses der europäischen Einigung massiven Nationalismus schafft und fördert - übrigens bei den westeuropäischen Nachbarn und natürlich vermutlich noch mehr bei den osteuropäischen. In einer Situation, in der der Druck des Stalinismus und des Kommunismus in Osteuropa weggefallen ist, ist die Gefahr groß - darauf hat vorhin der Kollege von der FDP in der Diskussion über die Kulturpolitik verwiesen -, daß dieses ideologische Vakuum durch eine Rückkehr zum Vorkriegsnationalismus aufgefüllt wird. Eine solche Situation wäre fatal für Europa, für Ost- und für Westeuropa.
({5})
Worte, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind nicht der Test dafür, ob der Prozeß der deutschen Einigung mit dem Prozeß der europäischen Einigung verkoppelt bleibt. Der Testfall ist das konkrete Handeln. Der Test ist, ob wir das, was wir als Binnenmarktprozeß verabredet haben, nun beschleunigen oder ob das langsamer läuft.
Ich zitiere - und unterstütze ausdrücklich -, was Herr Kollege Lamers von der CDU in diesem Zusammenhang gesagt hat:
Aus der Not des deutschen Tempos muß die Tugend eines beschleunigten europäischen Aufbruchs gemacht werden.
Recht hat er. Von europäischem Aufbruch ist aber bei diesem Kanzler und dieser Regierung nichts zu spüren; eher von Abbruch.
Wir fordern, um praktische Testfälle zu setzen, deshalb - ich würde mich freuen, wenn der Staatsminister Schäfer nachher ein Wort dazu sagen könnte, wie die Position der Bundesregierung in dieser Frage ist -, daß die Wirtschafts- und Währungskonferenz, die als Regierungskonferenz für Dezember geplant war, zeitlich vorgezogen wird, so daß der Prozeß der Verwirklichung der europäischen Währungsunion mit dem Prozeß der Verwirklichung der deutsch-deutschen Währungsunion gekoppelt werden kann. Das ist ein praktischer Test, ob wir von europäischer Einbindung nur sprechen oder ob wir sie ernst meinen.
In diesem Zusammenhang möchte ich, Herr Präsident, an unserem Antrag gern eine kleine Korrektur anbringen, die sich aus der Frage des Vorziehens der Wirtschafts- und Währungsunion ergibt: In unserem Antrag auf Drucksache 11/6471 möchte ich gegen Ende des Abschnitts I.2 den Passus gestrichen haben: „, gleichzeitig mit den Beratungen zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion, auch".
Der dritte Punkt, der wichtig ist für den Test, ob wir es mit der Verkoppelung zwischen deutscher und europäischer Einigung ernst meinen, ist die Frage, wie stark wir den Prozeß der europäischen Zusammenarbeit vertiefen und wie wir es wirklich mit den Rechten des Europäischen Parlamentes halten. Nun hat der Kollege Rüttgers vorher gesprochen. Ich finde alles das verdienstvoll, was wir da an Unterlagen von der Bundesregierung bekommen haben. Aber das, was eigentlich notwendig wäre, einen praktischen Vorschlag, wie denn jetzt die Rechte des Europäischen Parlaments auf einer Regierungskonferenz verstärkt werden sollen, bringt dieses Papier nicht. Das weiß jeder, der die praktische Arbeit im Europäischen Parlament und vor allen Dingen die von Regierungen kennt.
Um so dringender ist es aber in der jetzigen Situation, daß die Rechte des Europäischen Parlaments verstärkt werden. Die demokratische Gestaltung in Osteuropa macht es doch noch unerträglicher, als es bisher schon der Fall war, daß der Prozeß der EG-Integration nach wie vor ein ungeheures Demokratiedefizit aufweist.
({6})
Das heißt, es ist unakzeptabel, daß dort demokratisch legitimierte Parlamente - zu Recht - entstehen und wir in der EG eben ein Defizit an parlamentarischer Mitgestaltung haben.
Deshalb fordere ich Sie auf, meine Damen und Herren von der CDU/CSU- und FDP-Fraktion, unserem Antrag zuzustimmen. Wir unterstützen in unserem Antrag die Vorschläge des Europäischen Parlaments - die auch die spanische und französische Ratspräsidentschaft gemacht hat - , eine gemeinsame Konferenz aller drei EG-Institutionen noch in diesem Halbjahr durchzuführen - EG-Kommission, Rat und Europäisches Parlament - , um konkrete Vorschläge zur Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz im Dezember vorzubereiten.
({7})
Ich freue mich sehr, daß Ihre Kolleginnen und Kollegen heute in der Europa-Debatte des Europäischen Parlaments mit für diese Forderungen, die in unserem Antrag stehen, gestimmt haben. Deshalb kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, daß Sie uns in dieser Abstimmung alleine lassen; denn das sind genau die Punkte, die das Europäische Parlament mit breiter Mehrheit gerade heute beschlossen hat.
({8})
Wir fordern jedenfalls von der Bundesregierung, sich in der EG auch dafür stark zu machen - das ist ein weiterer Testfall - , daß auf der Regierungskonferenz im Dezember 1990 eine Grundsatzentscheidung für die Weiterentwicklung der Europäischen Gemeinschaft getroffen wird. Unsere Vorstellung ist, die Grundsatzentscheidung in der Richtung zu fällen, daß wir aus der Europäischen Gemeinschaft eine Europäische Politische Union entwickeln, die auch die osteuropäischen und die mitteleuropäischen Länder umfaßt und die damit zur Basis einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit wird. Das braucht aber eine politische Entscheidung. Das ist der Test für die Bundesregierung: Nimmt sie es in diesen Fragen mit der Einbindung deutsch-deutscher Einigung ernst - Stichwort Lamers: aus der Not der Schnelligkeit der deutschen Einigung eine europäische Tugend zu machen -, oder sind das, was wir da gehört haben, alles nur Worte?
Ein weiterer Testfall: gleichberechtigte Teilnahme der EG an der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die in diesem Jahr die Grundzüge einer künftigen Friedensordnung in Europa ausarbeiten soll.
Ich möchte aber diese Debatte auch zum Anlaß nehmen, um die Bundesregierung aufzufordern, ihr Konzept offenzulegen, wie die DDR im Rahmen der deutschen Einigung in die EG einbezogen werden soll. Wir wollen ja keine Trockenübungen machen, sondern wir wollen doch über die Realität diskutieren. Wir sind uns alle einig: Die Variante DDR als 13. Mitgliedstaat in der EG wollen wir nicht. Sie ist auch nicht realistisch. Wir wissen aber nur, was die Bundesregierung nicht will. Welche Linie sie in dieser zentralen Frage verfolgt, wissen wir nicht. Sie muß heute auf den Tisch.
Offensichtlich - soviel kann man sagen - strebt die Bundesregierung keine formellen Verhandlungen mit der EG-Kommission an, um die DDR in die EG reinzuverhandeln. Da wird behauptet, wenn Art. 23 des Grundgesetzes angewandt werde, sei die DDR automatisch Mitglied der EG. Das lenkt aber von den realen Problemen ab;
({9})
denn wenn die DDR ohne jede Übergangsregelung dem EG-Recht unterworfen würde, hieße das, daß große Teile der DDR-Wirtschaft dem sofortigen Ruin anheimfielen. Dann hieße das, die DDR-Landwirtschaft würde keine zwei Monate mehr existieren.
({10})
- Deshalb sage ich, Herr Rüttgers: Setzen Sie sich mit uns dafür ein, daß dies nicht unter dem Tisch ausgehandelt wird, daß es nicht irgendwo unter Ausschluß der Öffentlichkeit ausgemauschelt wird, sondern daß es von der Bundesregierung und von der DDR mit der EG-Kommission verhandelt wird. Das ist die Konsequenz, die man dabei ziehen muß.
Das heißt, welche staatsrechtliche Variante auch immer gewählt wird, ob der Art. 23 des Grundgesetzes
({11}) oder der Art. 146
({12})
- unter diesem Gesichtspunkt ist es gleichgültig - : Notwendig sind am Ende immer Regelungen für den Übergang, Übergangsbedingungen für die Einbeziehung der DDR in die EG. Am Ende ist ein Protokoll notwendig, aus dem - wie beim Beitritt Spaniens - ersichtlich wird: Welches sind die Bedingungen, welches sind die Aspekte, unter denen die DDR bereits heute dem EG-Recht untersteht, und welche Fristen gibt es für Übergangsregelungen in diesem Zusammenhang?
Die Bundesregierung scheint eine schleichende Integration - so würde ich das nennen - vorzuziehen. Ein solches Verfahren ist für uns, für die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, unakzeptabel, es ist für die Bürgerinnen und Bürger der DDR unakzeptabel, und es ist für die Regierung, die nach dem 18. März in der DDR zum erstenmal demokratisch legitimiert gebildet wird, unakzeptabel. Denn die Bundesregierung verfolgt offensichtlich die Strategie, das Alleinvertretungsrecht in den Verhandlungen mit der EG zu behalten. Dann würde die DDR-Regierung praktisch vom Brüsseler Verhandlungstisch ferngehalten.
Ich sage an dieser Stelle ganz deutlich: Für unsere Fraktion, für die SPD, ist es unabdingbar, daß bei den Verhandlungen über die Integration der DDR in die EG die gewählte DDR-Regierung mit den gleichen Rechten wie die Bundesregierung am Brüsseler Verhandlungstisch sitzt. Es ist schwer vorstellbar, daß die DDR bei den Zwei-und-Vier-Verhandlungen beteiligt ist, aber bei den Verhandlungen mit der EG-Kommission ausgeschlossen werden soll.
Deshalb würde ich gerne hier und heute von der Bundesregierung wissen - Herr Schäfer, Sie trifft es; ich meine, einer muß dafür auch einstehen - , ob sie bereit ist, dieses Verfahren zu praktizieren, zu verhandeln und bei den Verhandlungen mit der EG-Kommission die DDR-Regierung oder ihre entsprechenden Vertreter und Vertreterinnen als gleichberechtigte Vertretung zu akzeptieren. Wenn sie es nicht tut, dann behandelt sie die DDR wie einen annektierten Staat und ihre demokratisch gewählte Regierung wie die Regierung eines annektierten Staates.
({13})
Analog den Neuaufnahmen bei Spanien oder auch bei Portugal - das habe ich vorhin schon angesprochen - ist ein Protokoll notwendig, aus dem ersichtlich ist: Welches sind die Bedingungen für diesen Beitritt? Ich habe vorhin schon gesagt: Übergangsbedingungen sind dringend notwendig für den Bereich der Landwirtschaft. Die Erzeugerpreise in der DDR sind im Vergleich zu den Erzeugerpreisen in der Europäischen Gemeinschaft so unverhältnismäßig hoch, daß, wenn es dort keine Übergangsregelungen gäbe, die DDR-Landwirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig
wäre und in wenigen Monaten keine Chance mehr hätte.
Das gilt auch für andere Bereiche. Der Umbau der maroden DDR-Industrie wird nur mit erheblichen staatlichen Beihilfen direkt oder auch indirekt möglich sein.
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Dafür ist eine Ausnahmeregelung vom geltenden EG-Beihilferecht notwendig. Wenn das nicht passiert, nimmt der Trend der Übersiedlung zu. Insofern ist es auch im Interesse der Bürger und Bürgerinnen der Bundesrepublik, daß in diesen Fragen mit der EG-Kommission offen verhandelt wird und wir das offen auf den Tisch gelegt bekommen.
Ein dritter Punkt: Solange im Gebiet der DDR keine Mehrwertsteuer eingeführt ist, braucht es Übergangsfristen. Die Mehrwertsteuer ist schließlich die Grundlage für die Berechnung der EG-Eigeneinnahmen. Auch hier sind also Übergangsregelungen notwendig.
Schon gar, liebe Kolleginnen und Kollegen, sind sie im Zusammenhang mit den Außenhandelsverpflichtungen der DDR notwendig. Die haben ja gerade noch einmal Verträge abgeschlossen, und das wird teuer; denn in die tritt die Bundesregierung, dann Deutschland und dann die EG ein. Das bedeutet neue Kosten, und zwar auch im Zusammenhang mit dieser Frage, Herr Schäfer: Was wird eigentlich der EG-Kommission dafür versprochen, daß sie vielleicht auf ein formelles Verfahren verzichtet? Das jedenfalls wüßten die Steuerzahler und Steuerzahlerinnen in der Bundesrepublik sehr gern.
Ein zentraler Punkt, bei dem keine Übergangsregelungen notwendig sind - aus unserer Sicht jedenfalls und auch aus Ihrer, denke ich - , ist für uns die Freizügigkeit von DDR-Bürgern und -Bürgerinnen in den Rest der Europäischen Gemeinschaft. Da haben wir ein besonderes Interesse.
Aus all dem ersehen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß Europapolitik nicht irgend etwas Abgelöstes ist, abgelöst von dem, was uns bewegt. Vielmehr ist Europapolitik, so verstanden, eben Teil unserer Innenpolitik.
Wir wünschen, daß am 18. März die Demokratie in der DDR gewinnt. Wir wünschen auch, daß ein demokratisch legitimierter Vertreter - oder eine Vertreterin - der DDR bereits am Europäischen Rat in Dublin im April teilnimmt, auf dem über die Weiterentwicklung der EG und den deutschen Einigungsprozeß gesprochen werden soll. Da ist nämlich die Stimme des demokratisch gewählten Vertreters - oder einer Vertreterin - der DDR-Regierung genauso notwendig.
Ich danke Ihnen sehr.
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Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Kollegin WieczorekZeul, Sie haben hier vorhin gesagt, es sei nicht erfreulich, Trockenübungen zu machen. Nun, Sie sind ja auch nicht gerade dafür bekannt, daß Sie eine Anhängerin von Trockenübungen sind.
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Aber ich hatte, als Sie begannen, ein wenig den Eindruck, daß Sie hier stattdessen eine Schlammschlacht eröffnen wollten. Sie haben dann ja noch die Kurve gekratzt, haben aber doch einige kalte Duschen verabreicht, zum Teil Menschen gegenüber, die es nicht verdient haben. Zum Teil verfehlten diese kalten Duschen auch ihr Ziel; denn Sie haben hier ein paar offene Duschvorhänge beiseite geschoben. Man hätte hier gar keine größeren Anstrengungen unternehmen müssen, um zu sehen, daß hier Scheinprobleme aufgebaut wurden.
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Lassen Sie mich aber, ehe ich mich mit Ihrem Beitrag auseinandersetze, noch ein Wort zur sozialen Dimension des Binnenmarktes sagen; denn wir haben ja auch den Punkt „Unterrichtung durch das Europäische Parlament betreffend die Sozialcharta" auf der Tagesordnung.
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Hier möchte ich aus aktuellem Anlaß folgendes sagen: Es ist zwischen allen Fraktionen ganz unstreitig, daß die Vollendung des Binnenmarktes, daß die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion und daß überhaupt die Schaffung der Europäischen Union ohne eine stark ausgeprägte soziale Dimension gar nicht denkbar ist. Dies bedeutet aber, daß man sich über die Strukturfonds darum bemühen muß, die sozialen Standards in den bisher noch benachteiligten Ländern insbesondere des Südens - und es kommen ja vielleicht einige des Ostens hinzu - so anzuheben, daß sie eines Tages so sind, wie wir das bei uns gewöhnt sind.
Dies kann aber nicht bedeuten, daß wir aus den reicheren Ländern der Gemeinschaft einen unkontrollierten Sozialexport auf individueller Ebene betreiben. Hier hat es in letzter Zeit einige sehr problematische Urteile des Europäischen Gerichtshofs betreffend Kindergeld und betreffend Arbeitslosengeld gegeben.
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Es hilft ja strukturell überhaupt nichts, wenn an Individuen, an Einzelpersonen in ärmeren Ländern aus deutschen Kassen plötzlich Leistungen gezahlt werden. Das macht das ganze Unternehmen außerordentlich unpopulär. Ich möchte wirklich darum bitten, daß diejenigen, die auf der EG-Ebene, die im Ministerrat dafür mitverantwortlich sind, welche Regelungen dort getroffen werden, in Zukunft streng darauf achten, daß solche Auswüchse, die bei unserer Bevölkerung auch außerordentlich unpopulär sind, in Zukunft möglichst vermieden werden können.
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Ich halte auch nicht viel davon, wenn das Europäische Parlament hier jetzt nach Mindestlohn- und Mindesteinkommensregelungen ruft. Auch dies trägt nicht dazu bei, die Zustände in den ärmeren Ländern strukturell zu verbessern. Es entspricht vielmehr einem gewissen Sozialneid und schafft allenfalls individuelle Erwartungen, die dann von der Allgemeinheit nicht erfüllt werden können.
Meine Damen und Herren, Frau Wieczorek-Zeul hat recht, wenn sie sagt, daß der Prozeß der deutschen Einheit in den Prozeß der europäischen Einigung ganz eng eingebettet werden muß. Ich möchte hier noch einmal das Wort des Bundesaußenministers, Hans-Dietrich Genscher, zitieren, der völlig zu Recht gesagt hat: Deutsche Politik ist um so nationaler, je europäischer sie ist.
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Nun muß ich die Kritik, die Sie über die Bundesregierung geäußert haben, doch zurückweisen. Ich muß hier etwas klarstellen: Es war die Bundesregierung, es war der Bundesaußenminister, den ich gerade zitiert habe, die immer - das nicht erst seit gestern und vorgestern, sondern seit Jahren und Jahrzehnten - darauf gedrängt und betont haben:
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Die deutsche Frage kann nur gelöst werden, wenn wir auf dem Weg zur europäischen Integration konsequent fortschreiten. Daran müssen wir jetzt festhalten. Es entsteht allerdings durch öffentliches Geschrei hin und wieder der Eindruck, als wollten einige Deutsche einen Alleingang und als mache man sich Illusionen nach dem Motto: Der Mohr - nämlich die Europäische Gemeinschaft, unsere europäischen Freunde - hat seine Schuldigkeit getan; der Mohr kann gehen; wir brauchen ihn nicht mehr; wir sind jetzt alleine stark genug, die deutschen Dinge in die Hand zu nehmen.
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- Ich freue mich, daß Sie applaudieren. Natürlich, solche Töne gibt es. Nur, Sie haben die kalte Dusche an der falschen Stelle abgeladen;
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denn die Bundesregierung ist ja nun unverdächtig,
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hier nicht ganz klar Position bezogen zu haben. Es wäre mir eine Lust, hier stundenlang aus Reden des Bundesaußenministers zu zitieren.
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Die sind so schön, daß es wirklich sinnvoll ist, sie immer wieder nachzulesen.
Herr Abgeordneter Irmer, es ließ sich jetzt nicht mehr vermeiden: eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul.
Ich beantworte sehr gerne Zwischenfragen.
Bitte sehr.
Kollege Ulrich Irmer, können Sie mir bestätigen, daß ich in meinen Ausführungen zwar auch von der Bundesregierung, aber im Schnitt von Bundeskanzler Kohl und nicht von Außenminister Genscher gesprochen habe?
Liebe Frau Wieczorek-Zeul, Sie werden es mir doch nicht verargen, daß ich aus Solidarität in meine Verteidigung den Bundeskanzler mit einbeziehe; denn wir sind zu unserem Koalitionspartner ja immer solidarisch und loyal.
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Aber ich habe in erster Linie den Bundesaußenminister zitiert.
Auch der Abgeordnete Häfner möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. - Bitte sehr.
Herr Kollege, noch immer völlig von Ihrem anfangs gebrauchten Bild des Duschvorhanges fasziniert, möchte ich Sie fragen: Würden Sie mir Recht geben, ohne daß ich mir das zu eigen mache, daß es, wenn die Bundesregierung im Regen steht, auch nicht hilft, wenn der Duschvorhang zugezogen wird? Naß wird sie trotzdem!
Die Frage, lieber Herr Kollege Häfner, beantworte ich Ihnen in der Weise, daß wir, wenn sich ein Regen andeuten und wenn Donnerwolken kommen sollten, über die Bundesregierung einen blaugelben liberalen Schirm aufspannen, unter dem jeder seine Ruhe und seinen Frieden findet.
Da wir vom Wetter reden, möchte ich das wiederholen, was ich heute früh im Auswärtigen Ausschuß gesagt habe: Was die GRÜNEN durch die zahlreichen Anträge, mit denen sie hier das Papier verschleudern, an Wäldern zerstört haben, das haben die schlimmsten Orkane der letzten Wochen nicht geschafft.
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Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auf ein Thema kommen, das uns allen, glaube ich, sehr am Herzen liegt: Es ist das demokratische Defizit in der Europäischen Gemeinschaft, das nach wie vor besteht. Wir sind der Auffassung, daß zwar weitere Souveränitätsrechte auf die Europäische Gemeinschaft übertragen werden sollten, was im Zuge der Wirtschafts- und Währungsunion ja auch ganz zwangsläufig kommen wird, daß aber eine bindende Voraussetzung dafür, daß dies geschehen kann, ist, daß das Europäische Parlament aus seiner benachteiligten Rolle als ein Akklamationsgremium herausgehoben und zu einem Parlament mit vollen gesetzgeberischen Rechten ausgestaltet wird.
Sie müssen sich einmal fragen - Sie wissen es ja alle - : Wie ist denn die Realität in der Europäischen Gemeinschaft? Demnächst geht die Steuerhoheit teilweise - auf Dauer völlig - auf die Europäische Gemeinschaft über. Dann werden da Steuergesetze gemacht. Wie sieht das dann aus? Dann treffen sich die Finanzminister der 12 Mitgliedstaaten hinter verschlossenen Türen im stillen Kämmerlein und fassen ihre Beschlüsse. Das Europäische Parlament hat dazu
zwar vorher Stellung nehmen dürfen, aber die Minister können sagen: Es interessiert uns überhaupt nicht, was die gesagt haben; das schlagen wir einfach in den Wind; wir beschließen etwas ganz anderes.
Meine Damen und Herren, das ist so, wie wenn wir hier im Deutschen Bundestag Steuererhöhungen oder hoffentlich auch Steuersenkungen, wie wir es ja gemacht haben, beschließen. Dann sind wir als Parlament auch der Öffentlichkeit dafür verantwortlich, und jeder Bürger draußen kann sagen: Du gehörst der Partei an, die da Unsinn gemacht hat, dich wählen wir nicht mehr. Das ist normal in der Demokratie, das ist richtig so.
Wie ist das im Europäischen Parlament? Wie wäre das hier, wenn wir das System des Europäischen Parlaments hätten? Dann würden sich die Finanzminister und Finanzsenatoren der Bundesländer hinter verschlossenen Türen zusammensetzen und würden sagen: Der Bundestag hat da eine unmaßgebliche Meinung geäußert, darum kümmern wir uns nicht. Dann würden die die Gesetze beschließen. Die müßten noch nicht mal ihre eigenen Landtage fragen, wie bei uns in der Europäischen Gemeinschaft die Regierungen die nationalen Parlamente in den Punkten und Bereichen nicht mehr zu fragen haben, wo die Gemeinschaft das Gesetzgebungsrecht hat. Dies ist ein unerträglicher, undemokratischer Zustand.
Ich möchte mich hier noch einmal selbst zitieren.
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Ich habe vor ein paar Wochen gesagt: Wenn die Europäische Gemeinschaft bei sich selbst einen Beitrittsantrag stellen würde, sie würde abgelehnt werden müssen, weil sie nicht demokratisch und parlamentarisch strukturiert ist. Dies muß sich grundlegend ändern!
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Im übrigen, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, werfen Sie auch in diesem Punkt der Bundesregierung nicht vor, sie hätte nichts getan! Wir haben doch hier den Bericht „Unterrichtung durch die Bundesregierung" vorliegen: „Stärkung der Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments". Hier steht auf der letzten Seite genau das, was Sie auch mit vollem Recht verlangt haben: Fortschritte bei der Wirtschafts- und Währungsunion müssen mit Fortschritten beim Demokratisierungsprozeß gekoppelt werden. Wir möchten, daß spätestens 1994 bei der nächsten Europawahl ein Parlament gewählt wird, das aus europäischem Geist heraus, aber als demokratisches Parlament entscheiden kann, wie die Zukunft aussieht und wie die Gesetze aussehen.
Noch ein paar Worte zum „Europa der Bürger" . Wir bedauern es außerordentlich, daß im Zuge des Schengener Abkommens noch nicht das erzielt werden konnte, was wir uns eigentlich vorgestellt haben, nämlich Abbau der Grenzkontrollen bei den Partnern dieses Abkommens. Wir legen nachdrücklich Wert darauf, daß dieser Termin, der 31. Dezember 1992, wirklich eingehalten wird, an dem die Grenzkontrollen in der Gemeinschaft endlich aufgehoben werden sollen. Ich möchte dann auch nicht wieder die EntIrmer
schuldigung hören, die Zeit hätte nicht ausgereicht, all die Beschlüsse zu fassen, die notwendig sind, um die Probleme zu regeln, die natürlich durch den Abbau der Grenzkontrollen entstehen. Wir brauchen eine europäische Visa- Gemeinschaft, wir brauchen einheitliche Regelungen über die Behandlung von Asylbewerbern, und wir brauchen einheitliche Ersatzregeln für die Bekämpfung der Drogenkriminalität, für andere Polizeiprobleme und dergleichen. Aber das sind doch alles technische Dinge, die sich regeln lassen.
Ich appelliere hier ganz dringend: Wenn wir Europa für den Bürger auch hautnah erfahrbar machen wollen, dann sollten wir es uns nicht länger leisten, solche Dinge, die die Bevölkerung hier und jenseits der Grenzen einfach erwartet, weiterhin dilatorisch zu behandeln.
Meine Damen und Herren, Frau Wieczorek-Zeul hat auf die Zukunft der DDR in der Europäischen Gemeinschaft hingewiesen. Wenn es nach Art. 23 des Grundgesetzes geht, dann wächst die DDR der Bundesrepublik zu. Dann wird nicht die DDR als solche separat Mitglied der Gemeinschaft, sondern dann ist sie als Teil der dann größer gewordenen Bundesrepublik Mitglied der Gemeinschaft.
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Insofern, liebe Heidi, ist es doch aber nicht so, daß hier eigens Verhandlungen über einen Beitritt geführt werden müssen, sondern Verhandlungen müssen natürlich über die Überleitungsregelungen getroffen werden, die notwendig sind, ehe dies vollzogen wird. Aber das ist doch kein spezielles Problem; das Problem haben wir auch bei dem Beitritt der DDR insgesamt, wenn das nach Art. 23 des Grundgesetzes geht. Denn da glaube doch niemand, daß das ohne lange Fristen, ohne Einzelregelungen geht, ohne daß einzelne Bestimmungen unseres Grundgesetzes zunächst für die Geltung in der DDR suspendiert werden und andere ganz beseitigt werden, z. B. der Art.23 und der Art. 146 des Grundgesetzes!
Nun gibt es offenbar Aufklärungsbedarf, und Frau Wieczorek-Zeul möchte eine Zwischenfrage stellen.
Ja, bitte.
Es geht nur darum, Herr Irmer: Ich habe ausdrücklich nicht von Beitritt gesprochen. Ich habe im Gegenteil gesagt, wir alle gehen davon aus, daß die DDR nicht als 13. Staat der EG beitritt. Meine Frage ist: Wie stellt sich die Bundesregierung dieses Konzept der Verhandlung von Übergangsregelungen vor? Was ich bisher - jedenfalls an internen Dokumenten - dazu gelesen habe, sieht so aus, als wollte man da kein Protokoll erarbeiten, sondern als sollte das eigentlich alles so unter der Hand laufen. Da frage ich dich jetzt: Das ist doch eigentlich ein Punkt, wo man sagen müßte, das kann nach aller europäischen und auch nach aller deutschen Erfahrung so nicht gehen, oder?
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Aber es war doch so, daß die Länder, die beigetreten sind, wo nur ein ganz kleiner Bereich angeglichen werden mußte, zuletzt Spanien und Portugal, lange, lange Überleitungsfristen, Fristen von sieben Jahren und in Ausnahmefällen länger, hatten. Das kann doch praktisch - rechtlich sehr wohl - im Fall der DDR nicht anders gehen.
Außerdem muß ich noch die Irritation beseitigen, die hier durch das Duzen entstanden ist. Das ist europäische Übung. Wir beide kennen uns ja, weil wir beide dem Europäischen Parlament angehört haben.
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- Ach, sie erwidert das hin und wieder, je nach Laune. Auch ich bin nicht immer in Duzlaune.
Meine Damen und Herren, ganz zum Schluß noch einmal das Stichwort Europäisches Parlament: Ich appelliere dringend auch an den Deutschen Bundestag, nicht in seinem Bestreben nachzulassen, dem Europäischen Parlament die vollen Rechte zu übertragen. Denn wir schädigen nicht uns selbst; uns sind diese Kompetenzen lange genommen. Überall, wo Souveränitäten nach Europa gegangen sind, haben wir als Bundestag nichts mehr zu sagen. Es kommt jetzt darauf an, daß man im Interesse des Parlamentarismus als solchen dafür sorgt, daß die Rechte und Zuständigkeiten, die bereits nach Europa gegangen sind, dort vernünftig demokratisch und parlamentarisch verteilt werden, damit Demokratie und Parlamentarismus auch in dem größer, in dem jetzt weiter gewordenen Europa ihre Chance haben.
Vielen Dank.
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Nun spricht der Abgeordnete Häfner.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Seit uns die hier zur Debatte stehenden Vorlagen überwiesen wurden, ist schon sehr vieles geschehen. Ich glaube - und da stimme ich mit der Kollegin Wieczorek-Zeul überein - , daß wir darüber nicht einfach hinweggehen können. Wir sind gegenwärtig Zeugen eines Aufbruches, einer Revolution in ganz Europa, und wir müssen die gesamte politische Landkarte neu zeichnen. Nicht nur in der DDR, auch in Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien, auch in der Sowjetunion suchen die Menschen nach einer neuen rechtlichen Ordnung, nach einer neuen Wirtschaftsordnung, nach Selbstbestimmung und auch nach einer neuen, eigenständigen Rolle in Europa.
Damit stehen wir vor einer völlig neuen Situation. Jahrzehntelang folgte alles Denken der Blocklogik, der Aufteilung Europas und großer Teile der Welt in zwei sauber voneinander getrennte und einander bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstehende Blöcke. Auch das politische Handeln folgte dieser Blocklogik. Die ist nun an ein Ende gekommen. Den Ostblock gibt es nicht mehr. Ich hoffe und gehe auch davon aus, daß auch auf der anderen Seite, auf unserer Seite, die Kon15598
sequenzen daraus gezogen werden und daß sich die Blöcke in ganz Europa auflösen.
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Erstmals nach über 40 Jahren haben wir die Chance, Europa neu zu bauen, Europa in seinen Möglichkeiten, in seiner Vielgestaltigkeit und seinen großen Gemeinsamkeiten überhaupt erst entstehen zu lassen. Das ebenso zutreffende wie prophetische Wort vom gemeinsamen Haus Europa beginnt sich erst jetzt zu erfüllen, aber doch sehr viel früher, als das von den meisten Menschen und Politikern erwartet wurde.
Das verlangt aber auch von uns den Abschied von eingefahrenen und liebgewonnenen Vorstellungen. Die EG, so wie sie heute ist, wird - davon bin ich fest überzeugt - keinen Bestand über diesen Prozeß hinaus haben, oder wir erfüllen unsere Aufgabe, wirklich ein europäisches Haus zu bauen, nicht; denn die EG ist ein Kind dieser Blocklogik, der alten Ordnung und des alten Denkens,
({1})
- doch - und sie ist damit ein Anachronismus. ({2})
- Da unterscheiden wir uns dann vielleicht.
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- Aber sie zeichnet, liebe Frau Kollegin, die schon überwundene Spaltung Europas in ihren Strukturen, jedenfalls bislang noch, nach. Daher können wir heute auch nicht einfach über die Frage der rechtlichen und politischen Organisation innerhalb dieser EG reden, ohne über das Konzept der EG, ihren Aufbau, ihren Geltungsbereich, ihre Ausgestaltung und die Bedingungen der Mitarbeit selbst zu reden.
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Notwendig ist in diesem Zusammenhang nicht einfach die Ausweitung der EG durch Assoziierung oder Beitritt zusätzlicher Staaten, zumal die Tendenz gegenwärtig dahin geht, erst noch, möglichst schnell, in der Gemeinschaft der Zwölf alles festzuklopfen, bevor man an formelle Assoziierungs- und Beitrittsverhandlungen mit mittel- und osteuropäischen Staaten geht. Das genau geht aber nicht. Denn die dann schon festgeklopften Sachen könnten sich im Hinblick auf das neue Europa schnell als nicht tragfähig, ja, als hinderlich erweisen. Wir müssen wirklich den Mut haben, den geänderten Verhältnissen Rechnung zu tragen, und dürfen nicht überholte Strukturen, Strukturen der Vergangenheit, in die Zukunft fortschreiben. Das heißt, die EG muß in gewisser Weise völlig neu gegründet werden, nämlich als eine wahrhaft europäische Gemeinschaft. Wir wollen zusammenarbeiten, wir wollen Gemeinschaft in Europa - wir halten das für eine dringende Forderung - , aber eben Zusammenarbeit und Gemeinschaft für ganz Europa. Schon unsere Sprachregelung ist falsch und gefährlich und führt uns auf eine Leimrute, wenn wir einfach sagen:
Europäisches Parlament, Europäische Gemeinschaft, Europawahlen. Denn wir meinen damit jeweils nicht Europa, sondern Westeuropa und einen Teil des Südens. Dieser Sprachgebrauch war schon immer eine Anmaßung, genau wie die EG ein Torso war. Heute ist sie es erst recht.
Zum Überdenken dieses Konzepts der EG selbst gehört aber auch die institutionelle und die strukturelle Organisationsform der Europäischen Gemeinschaft. Wieder will ich meinen Ausgangspunkt in Ost- und Mitteleuropa nehmen. Es hat sich gezeigt, daß die zentrale Frage dieses und des vergangenen Jahrzehnts die Frage nach der Selbstbestimmung und nach der Demokratie ist. Die Menschen wollen nicht länger Handlanger sein, Zahnrädchen, Befehlsempfänger, unmündige Bürger eines zentralistischen, autoritären und vormundschaftlichen Staates. Sie wollen ihr Leben und ihre Zukunft selbst bestimmen, wollen Einblick und Einfluß dort haben, wo ihre Angelegenheiten verhandelt oder verwaltet werden. Sie wollen selbst an den wichtigen Entscheidungen unmittelbar teilhaben.
Demgegenüber ist die rechtliche Organisation der EG eine Farce, ein Abbild bestenfalls des 18. oder 19. Jahrhunderts, eine vordemokratische und vorkonstituionelle Einrichtung, die in dieser Form am besten schon jetzt der Vergangenheit angehören sollte. In der EG spielt das Parlament die Rolle eines - übrigens sehr aufwendigen - Begleitorgans ohne wirkliche Rechte. Auch seine Entschließung zum demokratischen Defizit in der EG und seine Forderung nach stärkeren Rechten sind eher Ausweis dieser Hilflosigkeit als einer der modernen und demokratischen Verfassung angemessenen Kompetenz. Das Parlament ist in der EG eben nicht die erste Gewalt. Es ist noch nicht einmal die letzte. Es hat so gut wie gar keine Gewalt, was im umgekehrten Verhältnis zum Aufwand steht, der hier betrieben wird.
Noch größer aber ist der Aufwand für den Rat und die Kommission. Denn hier liegt in der Tat die eigentliche Macht. Die quasi legislative Befugnis hat in der EG nicht das Parlament, sondern haben Vertreter der Regierungen. Parlament und Bürger sind Zuschauer. Sie werden oft genug noch nicht einmal informiert. Übrigens geht das uns im Bundestag genauso. Auch die nationalen Parlamente sind oft nur noch Zuschauer. Unsere Kompetenzen werden ebenfalls immer mehr aufgelöst. Wir haben jährlich Hunderte von Vorlagen aus der EG, die wir z. B. im Rechtsausschuß intensiv beraten, allerdings mit dem Ergebnis, daß das, was wir dort entscheiden, überhaupt keine Rolle spielt, weil die Regierung in Brüssel schon zugestimmt hat. Ich könnte Ihnen viele solcher Beispiele aufzählen. In einem Fall haben wir eine umfangreiche Beratung mit Sachverständigen durchgeführt. Als sie abgereist waren, wurde uns mitgeteilt: Die Minister haben schon beschlossen; Sie hätten sich das alles sparen können. So kann man meines Erachtens nicht nur mit dem Gesetzgeber, sondern auch mit der Demokratie nicht umgehen.
Es gibt natürlich auch das umgekehrte Problem, daß Entscheidungen, die wir hier treffen wollen, nicht mehr möglich sind, weil gesagt wird: Europa! Ein Beispiel: Die Biokennzeichnung, eine dringende AufHäfner
gabe in der Bundesrepublik, wurde mit dem Hinweis abgelehnt, dies müsse in der EG gemacht werden. Es ist bis heute nicht passiert, und es wird noch Jahre dauern.
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Ich muß zum Schluß kommen und möchte nur noch darauf hinweisen: Es hat sich in der Europäischen Gemeinschaft - und zwar dadurch, wie die Gewichte dort gesetzt sind - ein beispielloser Konzentrationsprozeß abgespielt, und es hat sich ein Europa der Banken, der Konzerne, der Bonzen entwickelt, aber nicht ein Europa der Bürger. Was wir wollen, das ist eine andere, eine wirklich europäische Gemeinschaft von unten, die dem Regionalitätsprinzip, dem Subsidiaritätsprinzip Rechnung trägt, die die ökologischen Aufgaben in Europa angeht und die wirklich demokratisch gestaltet ist.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat Herr Schäfer, Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem so viel von Duschvorhängen und anderen vergleichbaren Dingen die Rede war, will ich versuchen, hier wieder etwas ernsthafter zu werden. Frau WieczorekZeul, ich werde gleich auf einige Ihrer Fragen zurückkommen.
Wir begrüßen sehr, daß es hier heute zu einer europapolitischen Debatte gekommen ist, gerade weil es am nächsten Sonntag Wahlen in der DDR gibt und weil es uns gut ansteht, im Deutschen Bundestag auch wenige Tage vor der DDR-Wahl deutlich zu machen, wo unsere Position in Europa ist: Sie ist in der Europäischen Gemeinschaft, meine Damen und Herren. Daran wird sich auch durch die DDR-Wahl nichts ändern.
In diesem Augenblick ist es sicher noch wichtiger als sonst, daß der Deutsche Bundestag deutlich sagt, daß wir weiterhin alles tun werden, um das, was wir in der Zwischenzeit in der Europäischen Gemeinschaft geleistet haben, fortzusetzen und daß wir bei der Frage der Einheit der beiden deutschen Staaten das Tempo nicht verringern werden, weil uns durch Entwicklungen, die wir nicht zu verantworten haben, ein anderes Tempo aufgezwungen wird.
Meine Damen und Herren, ich brauche nicht im einzelnen auf den Wert, den die Europäische Gemeinschaft für uns darstellt, einzugehen. Ich möchte aber deutlich machen, daß im ersten Zwischenbericht, den die Bundesregierung auf Grund der Entschließung dieses Hohen Hauses vom 15. Juni vergangenen Jahres vorgelegt hat, die Absicht der Bundesregierung ganz deutlich geworden ist, rechtzeitig, vor Mitte 1994 - und darum geht es ja heute vor allem - , die Rechte des Europäischen Parlaments substantiell weiter zu steigern. Das wird in diesem Bericht an den Bundestag ganz klargemacht.
Nun geht es natürlich darum, diese Pläne gemeinsam mit den Regierungen der anderen Mitgliedstaaten und der Europäischen Kommission zu verwirklichen. Nach unserer Überzeugung wird die bevorstehende Regierungskonferenz Vertragsänderungen auch zu institutionellen Fragen auszuarbeiten haben. Insbesondere muß sie die Europäische Gemeinschaft noch demokratischer machen, und sie muß die Effizienz der Gemeinschaftsorgane erhöhen.
Und, Frau Kollegin Wieczorek-Zeul - Sie haben dazu ja eine Frage gestellt -, bei den Überlegungen zum Inhalt der Vertragsänderungen ist natürlich frühzeitig das Europäische Parlament mit einzubeziehen. Beim Außenministerrat am 5. März ist bei allen Teilnehmern die Bereitschaft vorhanden gewesen, einen Dialog mit dem Parlament und der Kommission zu führen, sich zu einem Gedankenaustausch zwischen dem Europäischen Parlament, der Kommission und den Vertretern der zwölf Regierungen der Mitgliedstaaten zu treffen. Die Bundesregierung hofft, daß ein solcher Dialog - obwohl er die Konferenz selbst nicht vorwegnehmen kann - zu einer möglichst sinnvollen Vorbereitung und damit auch zu positiven Ergebnissen der Regierungskonferenz beitragen wird.
Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, ich darf jetzt auf einige Ihrer sogenannten Testfragen zu sprechen kommen. Sie haben mir u. a. die Frage gestellt, wie die Einbeziehung der DDR in die Europäische Gemeinschaft denn nun eigentlich zu bewerkstelligen sei. Sie wissen, daß die Antwort auf Ihre Frage nicht ganz so einfach ist, als daß sie in einer Redezeit von wenigen Minuten beantwortet werden könnte.
Herr Kollege Irmer hat dankenswerterweise schon darauf hingewiesen: Schwieriger wird es in jedem Fall, wenn es im Wege des Art. 146 des Grundgesetzes gemacht wird. Das wissen Sie. Es sind dann aller Voraussicht nach neue Verhandlungen notwendig. Nach einer Vereinigung im Wege des Art. 23 wären keine neuen Verhandlungen notwendig, wohl aber Anpassungen des sekundären Gemeinschaftsrechts. Das ist aber ganz klar; natürlich werden auch bei dieser Lösung Verhandlungen geführt werden.
Ich darf Ihnen sagen, daß wir mit der Europäischen Kommission natürlich in einem ständigen Gedankenaustausch stehen, wie wir für den Fall - das muß man ja bitte noch unterstellen- , daß die neue Regierung der DDR überhaupt einen solchen Beitritt wünscht, vorgehen. Sie sprechen schon davon, daß eine Vertreterin oder ein Vertreter der neuen DDR-Regierung im April in Dublin teilnehmen soll, aber Sie haben noch gar nicht diejenigen gefragt, die am kommenden Sonntag gewählt werden. Und ich muß Ihnen dazu sagen: Auch unsere Partnerländer müssen einmal gefragt werden, ob wir bereits in Dublin einen Vertreter der dann existierenden neuen Regierung der DDR offiziell an einer solchen Verhandlung beteiligen können. Ich bin da etwas skeptisch; das liegt aber nicht an uns.
Ich darf auch sagen, daß wir zunächst einmal abwarten sollten, wie sich bei den deutsch-deutschen Verhandlungen die Vorstellungen der Partner aus der DDR entwickeln werden. Ich meine, das müssen wir zumindest mit einbeziehen, bevor wir schon schlüssige Antworten auf Fragen geben, die Sie hier stellen, bevor die DDR überhaupt gefragt worden ist. Ich glaube, das geht nicht.
Aber Sie können sicher sein, daß ein vernünftiger Weg gefunden wird, wenn sich die Frage eines Beitritts des gemeinsamen Deutschlands zur EG bzw. einer Erweiterung der Bundesrepublik Deutschland um die DDR im Hinblick auf die Mitgliedschaft in der EG stellt. Er werden Wege gefunden werden. Die Bereitschaft auch des Präsidenten der Kommission hierzu ist ja sehr deutlich.
Sie haben dann noch gefordert, daß man doch nach Möglichkeit die Regierungskonferenz, die ja im Dezember über die Wirtschafts- und Währungsunion Europas beraten soll, vorverlegt, um sie zu koppeln mit den Verhandlungen über eine deutsche Wirtschafts- und Währungsunion. - Frau Kollegin Wieczorek-Zeul, aus Ihrer intimen Kenntnis des Europäischen Parlaments und der EG, so kann ich nur sagen, wissen Sie doch, daß die erste Stufe einer solchen Wirtschafts- und Währungsunion der EG am 1. 7. 1990 beginnen soll und daß über die weiteren Stufen im Dezember beraten wird. Sie können hier nun wirklich nicht fordern, daß wir das auch noch vorverlegen und mit einem Prozeß kombinieren, der schon jetzt auch unseren Nachbarn ziemliche Kopfschmerzen bereitet. Das wäre wirklich eine Überforderung auch unserer Partner in der EG. Ich würde doch schon raten, daß wir hier etwas langsamer treten und nicht überstürzt eine Kombination fordern, die wir mit Sicherheit so nicht verkraften können.
Herr Staatsminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul?
Herr Präsident, da sich meine Zeit sehr dem Ende neigt, weil mir Frau Wieczorek-Zeul einen Blumenstrauß von Fragen überreicht hat, bin ich aus dem Konzept - ({0})
Sie haben das zu entscheiden, Herr Staatsminister!
Also gut, wenn das so angerechnet wird, dann bin ich dankbar dafür. Bitte sehr!
Sie wissen vielleicht - nach Ihren Äußerungen jetzt bin ich nicht ganz sicher -, daß diese Forderung einer Vorverlegung der Regierungskonferenz zur europäischen Währungsunion - es geht nur um die Währungsunion - von dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand stammt. Insofern - das frage ich Sie noch einmal - ist doch Ihr Einwand, daß es von seiten der EG-Partner Probleme gäbe, unberechtigt. Es ist vielmehr umgekehrt, daß die EG-Partner das sehr gern sähen.
Frau Kollegin, wenn Sie den Präsidenten Mitterrand mit den EG-Partnern verwechseln sollten, dann begehen Sie allerdings einen Fehler; denn soweit ich mich erinnern kann, waren die Auffassungen des französischen
Staatspräsidenten nicht immer identisch mit denen der britischen Premierministerin.
({0})
- Ich bin nicht so sicher, daß bisher die Zentralbank eine Forderung der britischen konservativen Regierung war. Soweit ich mich erinnern kann, gab es da ganz erhebliche Fragezeichen.
In den Diskussionen noch vor einigen Monaten in Frankreich ging es ja um die Befürchtung: Wir hoffen nicht, daß die Bundesregierung jetzt nicht mehr an dem ursprünglichen Plan einer Regierungskonferenz festhält, sondern diese wegen der deutschen Einheit möglicherweise verschiebt. - Das ist richtig. Aber sie jetzt auf den Sommer vorzuverlegen oder sie gar zu koppeln mit der Wirtschafts- und Währungsreform in der DDR, die vielleicht im Sommer möglich wird, in einem, in zwei Monaten denkbar ist, wäre sicherlich auch eine Überforderung unserer Partner. Nur das habe ich in Beantwortung Ihrer Frage gemeint.
Meine Damen und Herren, ich darf noch kurz etwas zu dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung zum Europa der Bürger sagen.
Der Bericht ist ebenfalls auf Bitten des Bundestags zustande gekommen. Er hat sich vor allem mit dem sogenannten Adonnino-Bericht von 1985 und den darin enthaltenen Vorschlägen für das Europa der Bürger auseinandergesetzt. Ich kann nur unterstreichen, Herr Kollege Häfner, daß die Europäische Gemeinschaft - das wird aus diesem Bericht sehr, sehr deutlich - zu einem Freiheits- und Wohlstandsmodell geworden ist, nicht zu einem wie Sie sagen, „anmaßenden Torso " ; das ist eine neue Formulierung; jetzt kommmen wir in die Kunstgeschichte, nachdem wir vorher in der Lyrik waren. Ich würde sagen: Das ist ein sehr anziehender Torso, aber ein Torso, der nicht schon das Bruchstück eines früheren Kunstwerks ist, sondern einer, der noch ein Kunstwerk werden soll,
({1})
d. h. der erweitert werden muß, meine Damen und Herren. - Weil wir die Kulturdebatte gerade hinter uns haben, reden wir viel über solche Dinge. Aber ich glaube, „Torso" ist die falsche Bezeichung.
Wenn Sie jetzt vorschlagen, die Gemeinschaft aufzulösen und beim Punkt Null wieder anzufangen, wenn Sie alles das, was mühsam errungen worden ist, aufs Spiel setzen wollen, dann kann ich Ihnen nicht folgen. Ich glaube, das ist sehr fern von der Realität.
Was wir tun müssen, ist, die Europäische Gemeinschaft zu erweitern und das, was wir als Modell geschaffen haben und weiter schaffen werden, auch den Staaten anzubieten, die davon ausgeschlossen sein mußten, die sich von dieser Gemeinschaft aber gerade angezogen fühlen und an uns herantreten mit der Bitte: „Öffnet uns den Weg dahin." Das geht sicherlich nicht von heute auf morgen, aber es ist natürlich längst erkannt, daß wir hier kein Club von zwölf Staaten sind, die sich jetzt vornehm zurückziehen und sagen: Wir haben ein großartiges Niveau erreicht, und die anderen sollen jetzt mal sehen, wie sie langsam den Anschluß finden. Es ist vielmehr die vornehmste Aufgabe der Europäischen Gemeinschaft, Herr KolStaatsminister Schäfer
lege, sich möglichst schnell zu bemühen, den Unterschied zwischen Ost und West zu verringern, damit es nicht bei der Gemeinschaft der Zwölf bleibt, sondern damit sie erweitert werden kann und damit sie auch eine demokratische Gemeinschaft ist, bei der die Fortschritte gerade für den Freiheitsspielraum der Bürger im Mittelpunkt der Bemühungen stehen müssen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir sollten das, was wir in vielen Jahren geschaffen haben, nicht leichtfertig aufs Spiel setzen; aber wir sollten ständig auch für die neuen Herausforderungen, die uns gestellt werden, offen sein und entsprechende Antworten finden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Peter ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Staatsminister Schäfer, wenn Sie gesagt haben, daß es bei dem Weg zu einer deutschen Einheit über Art. 23 nicht zu Verhandlungen kommen müßte, dann müssen Sie zumindest ein kleines Fragezeichen daran machen, weil diese Position innerhalb der EG durchaus umstritten ist.
({0})
Ich finde es gut, daß sich in diesem Hause die Praxis durchgesetzt hat, bei einzelnen Europadebatten auch die europäischen Dokumente in die Beratung einzubeziehen, die sich mit der sozialen Dimension befassen. Ich glaube, der Weg zum Binnenmarkt erfordert die Auseinandersetzung mit der sozialen Dimension. Herr Irmer, Sie haben gesagt, ohne die soziale Dimension - immerhin waren es zweieinhalb Sätze in Ihrer Redezeit, die Sie der sozialen Dimension gewidmet haben; das ist für die FDP schon beachtlich ({1})
sei der Weg zum Binnenmarkt undenkbar. Das muß dann natürlich auch in europäischen Diskussionen und Debatten eingeklagt werden.
Ich finde, die zur Beratung anstehende EntschlieBung des Europäischen Parlaments zur Europäischen Charta der sozialen Grundrechte verdient auch noch aus einem anderen Grund Beachtung; denn wir glauben, es geschieht viel zu selten, daß wir uns in diesem Hause mit Entschließungen des Europäischen Parlaments, der einzigen Institution, die für das demokratische Europa wirklich steht, auseinandersetzen. Ich meine, es geschieht auch viel zu selten, daß wir sie so rechtzeitig in unsere Willensbildung einbeziehen, daß sie uns dann auch noch helfen, den europäischen Prozeß von nationaler Seite her zu fördern. In diesem Fall ist es in gewisser Weise zu spät, weil der Gegenstand, mit dem sich die Entschließung des Europäischen Parlaments beschäftigt, in der Tat bereits im Dezember eine Vorentscheidung erfahren hat, die zu kritisieren und zu bedauern ist.
Diese Entschließung des Europäischen Parlaments ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Ich glaube, es ist nicht genügend bekannt, daß es im Europäischen Parlament eine Mehrheit gibt, die die Auffassung vertritt, daß die soziale Dimension des Binnenmarkts abhängt von der Verabschiedung und Durchführung eines Pakets von sozialen Grundrechten auf Gemeinschaftsebene, die im Gemeinschaftsrecht verankert sein und die Möglichkeit beinhalten müssen, vor einem Gericht Klage zu erheben, und die weder dem Druck des Wettbewerbs noch dem Streben nach Wettbewerbsfähigkeit geopfert werden dürfen.
Ich glaube auch, daß viel zuwenig in der Öffentlichkeit bekannt ist, daß es im Europäischen Parlament eine Mehrheit gibt für konkrete Forderungen, die Inhalt eines Aktionsprogramms auf der Grundlage der Sozialcharta sein müßten und bei denen das Europäische Parlament durch die Auseinandersetzung mit den Arbeitsrichtlinien der Kommission auch auf die Inhalte einwirken will. Ich nenne dabei die Auseinandersetzung mit dem Thema „Mindesteinkommen" als einen wichtigen Punkt, um auf der untersten Ebene des sozialen Fahrstuhls in Europa gleiche Ausgangsbedingungen schaffen zu können, wobei die Forderung erhoben wird, die Arbeitszeitgestaltung zum Schutz der Arbeitnehmer zu einer wichtigen sozialpolitischen Aufgabe in Europa zu machen als einen wichtigen Schutz davor, daß noch mehr Zeit von den Wochenenden in die Regelbetriebszeit einbezogen wird. Ich war am Wochenende auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar, auf der einer der Teilnehmer sagte, wir brauchten eigentlich einen Euro-Sonntag, der, abgesehen von den technisch begründeten Arbeitsanteilen, frei von Beschäftigung sein müßte.
({2})
Ich finde es auch bemerkenswert, daß die soziale Absicherung für atypische Beschäftigungsverhältnisse vom Europäischen Parlament mit Zustimmung der Christdemokraten im Europäischen Parlament gefordert wird, während wir in der Bundesregierung immer noch darum kämpfen, geringfügige Arbeitszeiten in den sozialversicherungsrechtlichen Schutz einzubeziehen.
Ich finde es genauso bemerkenswert, daß auf europäischer Ebene trotz der unterschiedlichen sozialstaatlichen Tradition in bezug auf die Frage der Arbeitnehmerbeteiligung bei betrieblichen Entscheidungen vom Europäischen Parlament mit Mehrheit ein Recht auf Information, vorherige Anhörung und Mitwirkung der Arbeitnehmer und ihrer Vertreter bei bestimmten strategischen betrieblichen Entscheidungen gefordert wird.
Es gibt ebenfalls eine Mehrheit des Europäischen Parlaments gegen jede restriktive Auslegung der Sozialbestimmungen des EWG-Vertrags und dafür, daß die Ausweitung der Verfahren der Einheitlichen Akte auf die Bereiche, die die Verwirklichung der sozialen Dimension des Binnenmarkts ermöglichen, auf die Tagesordnung der nächsten Regierungskonferenz gesetzt wird.
Herr Kollege Irmer, wenn Sie der Meinung sind, daß eine Entwicklung zum Binnenmarkt, eine Entwicklung zur Währungsunion ohne die Konkretisierung
Peter ({3})
der sozialen Dimension nicht denkbar ist, dann sollten wir über die Realisierung dieser Forderung des Parlaments Übereinstimmung zu finden versuchen.
Schließlich gibt es eine Mehrheit des Europäischen Parlaments hinsichtlich der Aussage: Das Europäische Parlament behält sich das Recht vor, seine Zustimmung zu Binnenmarktmaßnahmen in den Bereichen Handel, Finanzen und Wirtschaft, die ihm zur Zeit vorliegen, oder die ihm noch unterbreitet werden sollen, vom Inhalt der Rechtsverbindlichkeit und dem Rhythmus der Einführung von im Aktionsprogramm enthaltenen Maßnahmen abhängig zu machen.
Daß das Europäische Parlament eine solche Forderung in eine Entschließung hineinschreiben muß, ist Ausdruck dafür, daß der Demokratisierungsprozeß in Europa ganz erheblichen Nachholbedarf hat; ohne diesen Demokratisierungsprozeß ist das Europäische Parlament tatsächlich gezwungen - wenn es sozialpolitische Prozesse beeinflussen will - , Fragen nach Druckmitteln, nach Paketschnürungen, nach Verknüpfungen, ja, selbst die Frage nach dem Mißtrauen gegenüber der Kommission mit in ihre Beratungen einzubeziehen. Das sind dann formale Beratungen, weil oft die materielle, inhaltliche Beratung über sozialpolitische Erfordernisse auf europäischer Ebene gar nicht möglich ist, da durch das Einstimmigkeitserfordernis Schranken gesetzt werden, die meistens aus nationalem Interesse heraus diktiert sind, die sachfremd sind und von einer echten sozialpolitischen Diskussion ablenken.
Hier, Herr Kollege Irmer - Sie sind bisher der einzige, der die soziale Dimension angesprochen hat -, sage ich: Daß es zu einem Export von Sozialleistungen kommen kann, hängt nur damit zusammen, daß in wesentlichen Bereichen grenzüberschreitende Aktivitäten sozialrechtlich nicht genügend begründet und auch begleitet sind, daß also bei grenzüberschreitenden Aktivitäten die Rechtsgrundlage für die Regelung fehlt und der Europäische Gerichtshof von daher auf Grund der Interpretation der Verträge zu Entscheidungen kommt, die manchmal auch von Sozialpolitikern nicht verstanden werden. Das ist doch der Kern.
Im Umkehrschluß dazu stellt sich das Erfordernis, ganz konkret alle grenzüberschreitenden Aktivitäten im Binnenmarktprozeß daraufhin zu überprüfen, inwieweit sie der sozialrechtlichen Begleitung bedürfen. Dazu bedarf es dann allerdings auch der Vertragsänderung, einer echten EG-Kompetenz für gestaltende Sozialpolitik. Das ist der Punkt.
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Jetzt ist interessant, was aus diesen nach meiner Auffassung vernünftigen und bemerkenswerten Forderungen des Parlaments geworden ist.
Inzwischen war der Rat von Straßburg. Das Ergebnis war in sozialpolitischer Hinsicht vom Anfang bis zum Ende enttäuschend. Sogar die Forderung des Parlaments an den Rat, vorher eine Konzertierung - diese Begriffe sind nun einmal EG-Deutsch -, d. h. eine gemeinsame Beratung über die Schwerpunkte der Ratstagung in Straßburg vorzunehmen, ist nicht zustande gekommen, so daß die Sozialcharta in das Umfeld der Kungelei um die Währungsunion hineingezogen worden ist und dann am Schluß - auch das hat jemand auf dieser Tagung in Hofgeismar gesagt - statt einer Sozialcharta mit verbindlichen, einklagbaren sozialen Grundrechten sei eine Presseerklärung auf Glanzpapier - ich mache mir diesen Begriff zu eigen - von elf Regierungschefs herausgekommen. Die zwölfte Regierungschefin, die von England, nämlich Frau Thatcher, fehlte logischerweise trotz aller Bemühungen der Bundesregierung, durch Auftreten mit Samtpfoten die Regierung des United Kingdom zur Zustimmung zu bewegen.
Die Rolle der Bundesregierung in diesem Prozeß im Vorfeld von Straßburg ist einerseits zu loben - ich hoffe, ich verunsichere Sie nicht - , und zwar deshalb, weil all das, was der Bundesarbeitsminister vorher gesagt hat, darauf hinauslief, bei der Sozialcharta auch die Dinge, die aus Sicht der Bundesrepublik in die Sozialcharta hineingehörten in die Diskussion zu bringen. Andererseits ist ihre Rolle deshalb zu tadeln, weil man bei dem vorherigen nationalen Konsensverfahren den Minimalkonsens zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern als Grundlage nahm und dabei auf die eine oder andere auch von der Bundesregierung für vernünftig gehaltene Forderung in diesem Prozeß vor dem Straßburger Gipfel verzichtet hat. Auf diese Art und Weise macht man eine Auseinandersetzung über die soziale Dimension des Binnenmarktes nicht zu einer politischen Auseinandersetzung. Sie ist dann vielmehr Gegenstand von Hinterzimmerauseinandersetzungen. Von daher ist das im Prinzip, wenn man auf eine europäische Union hinauswill, was wir ja wollen, eben nicht förderlich.
Dieser Vorgang zeigt wie viele andere Vorgänge in der Vergangenheit, daß es auf EG-Ebene drei entscheidende Defizite gibt. Es gibt ein Demokratiedefizit; darüber ist schon geredet worden. Es gibt ein Sozialdefizit. Das wird einleuchtend, wenn man sagt, daß der Europäische Gerichtshof offensichtlich eine Ersatzgesetzgeberfunktion wahrnehmen muß. Ich glaube, es gibt auch ein nationales Defizit an europäischem Bewußtsein.
Ich will das an einem Beispiel deutlich machen, nämlich an der Frage, wie die Praxis der Strukturfonds, nachdem sie integriert sind, nachdem sie zusammengefaßt worden sind und nachdem die Mittel aufgestockt worden sind, tatsächlich gehandhabt wird. Wir gehen davon aus, daß in diesen Strukturfonds die europäischen Mittel für zusätzliche strukturpolitische Maßnahmen in den Regionen auf der Grundlage von Entwicklungsprogrammen für diese Regionen ergänzend eingesetzt werden. Das gilt für alle fünf Ziele dieser Strukturfonds.
Wir haben nun zwar bei der Realisierung auf europäischer Ebene die Mittelbereitstellung. Wir haben ein Antragsverfahren; ich gebe zu: ein kompliziertes. Aber wer von Ihnen hier im Saal weiß, wie denn nun die nationalstaatliche Konzeption eines solchen Entwicklungsprogramms aussieht? Das weiß niemand; diese gibt es nämlich nicht. Denn es ist doch mehr oder minder der Versuch, die europäischen Mittel dazu zu benutzen, sowieso vorgesehene nationale Entwicklungsaufgaben jetzt einfach zugunsten der öffentlichen Haushalte ein bißchen billiger zu finanzieren und damit das Erfordernis, die Bedingung der
Peter ({5})
Zusätzlichkeit der Maßnahmen teilweise zu unterlaufen oder zu gestatten, daß diese unterlaufen werden. Wenn das die Praxis für europäische Sozial- und Regionalpolitik - das ist ja die Aufgabe des sozialen Zusammenhalts - sein soll, kann das meines Erachtens nur bedeuten, daß man damit Schiffbruch erleidet. Denn europäische Sozial- und Strukturpolitik muß sich an den Entwicklungsbedürfnissen orientieren, und den Menschen in den Regionen muß klar sein, um was es bei dem, was von Europa mit finanziert wird, geht. Dann gewinnt dieses Europa wohl auch mehr Ansehen und Akzeptanz in der Bevölkerung, als es in der gegenwärtigen Situation leider der Fall ist.
Diese Defizite können meines Erachtens nur dann aus der Welt geschafft werden, wenn sie auf die Tagesordnung der Regierungskonferenz gesetzt werden, die sich mit der Währungsunion befaßt, weil dann nämlich das zustande kommt, was leider notwendig ist: das Schnüren eines Pakets, wobei man - mit der Bereitschaft auf der Seite der Demokratie oder auf der Seite der sozialen Kompetenz Zugeständnisse zu machen - dann auch die ja allgemein gewünschte Zustimmung für die Währungsunion erhält. Nur in dieser Form haben wir eine Chance, die soziale Dimension des Binnenmarkts des Charakters der europäischen Sonntagsreden zu entkleiden und zum Gegenstand konkreter europäischer Politik zu machen, die mehr als der politische Streit darüber ist, ob es überhaupt Handlungserfordernisse gibt.
Ich glaube, die Entwicklung in der DDR sollte nachdenklich darüber machen, wie wichtig die soziale Begleitung ökonomischer Maßnahmen und ökonomischer Entwicklungen ist. Die SPD-Ost und die SPD-West sagen nicht ohne Grund: Die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion muß von einer Sozialunion begleitet sein, damit die Angst der Menschen, die real vorhanden ist - sie ist nicht von einer PDS oder von sonst irgend jemandem erzeugt worden, sondern sie ist Ausdruck der Empfindlichkeit für die eigene Situation - , durch die Gewährung einer sozialen Perspektive überwunden werden kann. Ich glaube, an diesem Beispiel kann deutlich werden, wie wichtig es ist, sozialpolitische Erfordernisse und ökonomische Instrumente in Gesetzesvorhaben miteinander zu verknüpfen.
Soziale Sicherheit und aktive soziale Gestaltung sind meines Erachtens die Voraussetzung für die Akzeptanz der wirtschaftlichen Maßnahmen zum Zusammenwachsen von Wirtschaftsräumen. Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gehören zusammen; anderenfalls entstehen Ängste. Die sozialen Standards, die die einzelnen Staaten erreicht haben, müssen in einem Prozeß des gemeinsamen sozialen Fortschritts in die Betrachtung einbezogen werden. Hier, so glaube ich, hat sich das Prinzip des Art. 118a, wonach für den Bereich der Gesundheit und der Sicherheit am Arbeitsplatz Mindeststandards vorgesehen sind, bewährt. Mindeststandards sind genau die Regeln, die notwendig sind und die auch keine Angst machen müssen, daß diejenigen, die mehr erreicht haben, mehr abgeben müssen. Sie könnten das Instrument darstellen, um nationale Standards und die Entwicklung einer europäischen Sozialpolitik zusammenzufügen. Man muß es nur irgendwann einmal in die Wege leiten.
Der Sozialstaat kann dabei - das ist unsere Chance - zum Kriterium Europas in der Weltwirtschaft werden. Wer in den USA war, wer in Japan war, weiß, daß viele Probleme dieser beiden Wirtschaftsräume dadurch entstehen, daß es in beiden Staaten keine gewachsene sozialstaatliche Struktur gibt. Es gibt aber in allen Mitgliedstaaten der EG eine eigene, historisch gewachsene sozialstaatliche Ethik, hätte ich fast gesagt; es gibt sozialstaatliche Vorstellungen, mit denen sich die Menschen in diesen Ländern identifizieren. Ich glaube, wenn es gelingt, diese Vorstellungen in einen Wettbewerb zueinander zu bringen, dann kann das im Rahmen der Weltwirtschaft das Signum, das Wertsiegel für eine europäische Wirtschafts-, Währungs-, Sozialunion, für eine Europäische Union werden.
Die sozialen Standards können zur wichtigen Garantie dafür werden, daß die Länder Osteuropas im europäischen Haus wohnen können. Dazu braucht man bei der EG nicht von vorn anzufangen, sondern dazu muß man einen Prozeß finden, der gewährleistet, daß das, was hier gewachsen ist, dort übernommen werden kann. Das muß möglicherweise auch durch Vertragsänderungen passieren. Deshalb ist hier wiederum eine Regierungskonferenz notwendig. Dies ist notwendig, damit der Demokratisierungsprozeß in den Ländern Osteuropas nicht zu einer Lateinamerikanisierung dieser Länder führt, sondern damit sie ebenfalls in dieses sozialstaatlich organisierte europäische Haus hineinpassen.
Das Problem der sozialen Dimension hat sich immer deutlicher herauskristallisiert. Soziale Themen eignen sich gut für europäische Begegnungen und Bekenntnisse. Soziale Themen geraten fast stets an den Rand, wenn sie gesetzlich normiert werden sollen. Deshalb gilt es, nicht bereits den Handlungsbedarf zum Streitpunkt werden zu lassen. Deshalb gilt es, die soziale Dimension im Konsens der europäischen Staaten zu entwickeln, und dazu fordere ich Sie auf.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, Herr Vogt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Umwälzungen in der DDR und in den Staaten Osteuropas haben uns spätestens seit dem 9. November 1989 in ihren Bann geschlagen. Aber wir verlieren bei diesen von uns lange erwarteten Entwicklungen die Integration der Europäischen Gemeinschaft nicht aus dem Auge.
({0})
Der europäische Binnenmarkt wird bis 1992 verwirklicht. Ich bin dankbar, daß dieser Tagesordnungspunkt mir heute die Gelegenheit gibt, dies noch einmal festzustellen.
Die Vorteile des europäischen Binnenmarktes sind für uns alle sehr wichtig. Europäischer Binnenmarkt heißt mehr Wachstum, mehr Arbeitsplätze, mehr Wohlstand. Im übrigen wird die Dynamik, die vom europäischen Binnenmarkt ausgeht, uns die Lösung der wirtschaftlichen Probleme erleichtern, die in der DDR und in den Staaten Osteuropas bestehen.
Herr Kollege Peter, dabei können Sie davon ausgehen, daß es unsere feste Absicht ist, Währungsunion, Wirtschaftsunion und Sozialunion im Gleichschritt und im gleichen Zuge zu verwirklichen, denn das entspricht unserem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft.
({1})
Meine Damen und Herren, seit der Präsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland im ersten Halbjahr 1988 ist der sozialpolitische Zug in der EG voll in Fahrt gekommen. In kürzester Zeit sind wir ein großes Stück vorangekommen. Ich erinnere nur an die Richtlinien zum Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer. Ich denke an die Richtlinien, die die Arbeitnehmer vor gefährlichen Arbeitsstoffen schützen. Soziale Dimension ist keine Sprechblase, sondern soziale Dimension wird in der Europäischen Gemeinschaft Stück für Stück Wirklichkeit.
Die Staats- und Regierungschefs von elf Mitgliedstaaten haben die Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte der Arbeitnehmer auf dem Straßburger Gipfel angenommen. Sie haben damit einem Konzept zum Durchbruch verholfen, das in der Bundesrepublik Deutschland bei nahezu allen sozialpolitisch verantwortlichen Kräften auf Zustimmung gestoßen ist.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaft, die allein das Initiativrecht für Verordnungen, für Richtlinien und für Empfehlungen hat, hat ein umfangreiches Aktionsprogramm vorgestellt. Bis Ende nächsten Jahres will sie für sämtliche in ihrem Aktionsprogramm zur Umsetzung der Gemeinschaftscharta aufgelisteten Vorhaben Entwürfe vorlegen. Ein Schwerpunkt wird wieder der technische Arbeitsschutz sein. Gerade hier sehe ich auch eine besondere Verbindung zum Binnenmarkt. Mit Mindestnormen, die für alle verbindlich sind, sind klare Regeln für den gemeinschaftlichen Wettbewerb verbunden. Zudem sind die Möglichkeiten zur Festsetzung gemeinschaftlicher Mindeststandards beim Arbeitsschutz besonders günstig. Es sind auch tatsächliche Ergebnisse zu erwarten, nicht endlose Debatten.
Wir begrüßen die Initiativen der Kommission. Wir sehen darin nicht zuletzt einen Erfolg der Bundesregierung, die mit der Unterstützung durch den Deutschen Bundestag immer wieder deutlich gemacht hat, daß die Gemeinschaftscharta sozialer Grundrechte nur ein erster Schritt sein kann und umgehend konkrete, rechtsverbindliche Mindeststandards folgen müssen. Wir haben immer wieder gerade im Arbeits- und Sozialministerrat betont, daß uns zehn Zentimeter konkrete, verbindliche, vom Arbeitnehmer einklagbare Rechte lieber sind als ein Meter feierliche Erklärung.
Lieber Herr Kollege Peter, wir sollten in der Abfolge unserer Schritte mit Bedacht vorgehen. Ich sehe keinen Sinn darin, heute an die Frage der Harmonisierung der Sozialversicherung heranzugehen. Hier werden wir wegen der unterschiedlich gewachsenen Ordnungen kaum Fortschritte erzielen.
Im übrigen, Instrumente der Umverteilung in Europa sind die Strukturfonds. Da hat die Bundesregierung, hat die Bundesrepublik einen gewaltigen Beitrag geleistet, damit die Strukturfonds ihre Aufgabe erfüllen können.
Wir sollten aber sorgfältig darauf achten, daß die Sozialversicherungssysteme nicht zu Instrumenten der Umverteilung in Europa werden.
({2})
Herr Parlamentarischer Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Wieczorek-Zeul?
Da ich so selten Gelegenheit habe, von der Frau Kollegin eine Zwischenfrage zu hören: natürlich sehr gern.
Das können Sie öfter haben.
Weil Sie die Strukturfonds angesprochen haben, wollte ich gern fragen, welches die Zielsetzung der Bundesregierung ist - Stichwort auch: Einbeziehung der DDR in die Europäische Gemeinschaft, unter welchem Aspekt auch immer -, wie dann die Strukturfonds für das Gebiet der DDR genutzt werden sollen und, wenn nein, ob und in welchem Umfang Sie dann eine Aufstockung der Strukturfonds planen?
Frau Kollegin, mit Ihrer Frage haben Sie natürlich viele Einzelprobleme aufgeworfen.
({0})
Frau Kollegin, ich gehe zunächst einmal davon aus, daß, wenn die DDR oder einzelne Länder der DDR auf dem Weg des Art. 23 - ({1})
- Herr Kollege, da wette ich mit Ihnen: Die sind übermorgen da; die sind schneller da, als Sie es denken.
({2})
- Nein. ({3})
Frau Kollegin, ich gehe davon aus, daß natürlich zunächst einmal die Entwicklung der DDR und der Länder in der DDR eine Aufgabe ist, die in Zusammenarbeit zwischen den Bundesländern erfolgt. Denn die Länder werden dann in den Finanzausgleich einbezogen, wie er üblicherweise in der Bundesrepublik praktiziert wird. Ich sehe überhaupt keine Schwierigkeiten darin, daß auch in den Verhandlungen mit den anderen Partnern in der EG erreicht wird, daß die Mittel der Strukturfonds verstärkt für die DDR eingesetzt werden können. Denn gerade die Definierung der
Problembereiche, in denen die Mittel der Strukurfonds eingesetzt werden können, trifft für das Gebiet der DDR zu. Das heißt, Deutschland wäre dann nicht mehr nur Nettozahler, sondern hätte von den Strukturfonds auch Vorteile.
Im übrigen steht, glaube ich, nach der gewaltigen Leistung, die die Bundesrepublik erbracht hat, eine Anhebung der Mittel der Strukturfonds heute nicht zur Debatte.
In Anbetracht der Zeit sage ich nur noch dies: Die Bundesregierung hat ein Neun-Punkte-Programm in Übereinstimmung mit den Sozialpartnern vorgelegt, wie soziale Grundrechte konkret und verbindlich in Europa weiterentwickelt werden können. Wir sagen mit Stolz, daß die Bundesregierung die einzige Regierung im Arbeits- und Sozialministerrat gewesen ist, die in der Lage war, konkrete Vorschläge in Übereinstimmung mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden vorzulegen. Wir hatten hier Konsens.
Einige dieser Punkte - Mutterschutz, Jugendschutz und Arbeitsschutz - hat die Kommission aufgegriffen. Wir drängen die Kommission, darüber hinaus die anderen Punkte, die wir mit den Sozialpartnern vorgeschlagen haben, anzupacken, damit die Umsetzung möglichst schnell erfolgt.
Ich bekräftige auch erneut unsere Position, daß dieser Neun-Punkte-Katalog natürlich nicht exklusiv ist. Hier ist nur bestimmt, in welchen Fragen wir mit den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden übereinstimmen. Es gibt Bereiche, die aus unserer Sicht regelungsbedürftig sind, wo wir den Konsens nicht erreichen konnten. Ich nenne nur den Punkt, daß die Belegschaftsvertretungen in multinationalen Konzernen die Möglichkeit haben müssen, sich über die Fragen der wirtschaftlichen und der sozialen Entwicklung im Unternehmen gegenüber der Unternehmensleitung zu artikulieren. Die Kommission will auch diesen Punkt aufgreifen. Nur ist unklar, auf welcher Rechtsgrundlage sie das tun will.
Die Kommission will auch Vorschläge zur Gestaltung der Arbeitszeit und der atypischen Arbeitsverhältnisse vorlegen. Das heißt, wir werden in den nächsten Wochen und Monaten mit einer Vielzahl von Richtlinien, Verordnungen und Empfehlungen konfrontiert werden.
Die Kommission geht von der Vorstellung aus, daß der Rat jeweils spätestens zwei Jahre nach Vorlage des Entwurfs einer Richtlinie, einer Verordnung oder einer Empfehlung einen Beschluß faßt. Das ist sicherlich ein ehrgeiziges Ziel. Die Bundesregierung will und wird die Kommission unterstützen, damit dieses ehrgeizige Ziel auch wirklich erreicht wird.
Der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung des Deutschen Bundestages hat in seiner Sitzung am 14. November 1989 mit Mehrheit in seiner Stellungnahme zu einer EP-Entschließung wegweisende Forderungen für die Arbeit der nächsten Monate und Jahre aufgestellt. Ich bin der Auffassung, daß wir mit dieser Richtschnur gut gerüstet in die nächste Runde zur Ausgestaltung der sozialen Dimension des Binnenmarktes gehen können. Ich bedanke mich für
diese Entschließung, der der Ausschuß mit Mehrheit zugestimmt hat.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kottwitz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem Bericht der Bundesregierung zur Stärkung der Rechte und Befugnisse des Europäischen Parlaments kann ich bei allem guten Willen keinen Schritt zur Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft entdecken. Die Diskussion um die Demokratisierung der EG ist als Folge der Verhandlungen um eine Wirtschafts- und Währungsreform zu sehen. Die Reihenfolge hätte aber andersherum sein müssen. Erst auf einer demokratischen Basis wären konstruktive Verhandlungen zum Thema Wirtschafts- und Währungsreform sinnvoll gewesen. Hinter dieser Politik verbirgt sich lediglich ein weiterer Beitrag zum Europa der Konzerne.
Die europäische Integration in unserem Sinne verfolgt statt dessen die Ziele einer wirksamen Ökologiepolitik, einen Ausgleich der regionalen Unterschiede, eine gestaltende Sozialpolitik. Die derzeit anvisierte Wirtschafts- und Währungsunion steht dem entgegen. Die ökonomisch schwachen Regionen der Länder werden von den kapitalkräftigen Zentren einem weiteren Anpassungsdruck ausgesetzt. Ökologische und soziale Maßstäbe sind nach wie vor marginale Randthemen.
Mit den jetzigen undemokratischen Strukturen der EG ist eine ökologische, soziale und regionale Integration nicht möglich. Hier ist eine Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlamentes klar erforderlich. Das allein reicht aber nicht aus,
({0})
wie wir hier schon dargestellt haben, und darf auch nicht in Richtung der Bildung eines Bundesstaates Europa gehen. Deshalb können wir auch dem vorgelegten Antrag der SPD so nicht zustimmen.
Besonders für den Ökologie- und Sozialbereich ist es unserer Meinung nach auch dringend erforderlich, den Nicht-Regierungsorganisationen Mitwirkungsrechte einzuräumen. Wenn wir uns der heute auch zur Diskussion stehenden Entschließung zur Europäischen Charta der sozialen Grundrechte zuwenden, wird besonders deutlich, daß hier die Mitsprache der Gewerkschaften dringend erforderlich gewesen wäre. Es gilt zudem, ein institutionell abgesichertes Mitspracherecht auf dezentraler Ebene zu ermöglichen.
Wenn wir bedenken, welche politischen Bereiche von der Vollendung des Binnenmarktes betroffen sind - Kapitalkonzentration durch Fusion, Harmonisierung der Steuersysteme, einheitliche europäische Währung - , dann nimmt sich die sogenannte soziale Flankierung dieses Prozesses sehr kärglich aus.
Zur Sozialpolitik existieren einige Entschließungen des Europaparlaments. Sie fordern z. B. eine verbindliche Festlegung von angemessenen Löhnen, Recht auf Bildung und Mindesteinkommen. In der vom Ministerrat verabschiedeten Sozialcharta ist noch nicht einmal mehr von einem Sozialhilfeminimum für die
vom Erwerbsprozeß Ausgeschlossenen die Rede. Es handelt sich lediglich um eine Charta der Arbeitnehmerrechte, die völlig unverbindlich und ohne einklagbaren Rechtsanspruch bleibt. Dies ist für uns eine nicht hinnehmbare sozialpolitische Pseudolösung.
Diese Sozialcharta müßte zumindest folgende andere Minimalforderungen enthalten: bedarfsorientierte Grundsicherung und Mindesteinkommen, Arbeitszeitregelungen, Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Unternehmenszusammenschlüssen und Bildung von regionalen Beschäftigungsausschüssen.
Da bei dieser Sozialcharta deutlich wird, daß den sozialen Rechten noch lange nicht die gleiche Bedeutung wie der wirtschaftlichen Dimension des Binnenmarktes beigemessen wird, drängt sich die Frage auf, ob es jetzt nicht an der Zeit wäre, die Ziele der EG neu zu definieren.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Irmer ?
Ich möchte das mit Ihnen eigentlich lieber in den Ausschüssen diskutieren.
Mit der Öffnung Europas nach Osten auf dem Weg zu einer gesamteuropäischen Integration sollten oberstes Ziel des europäischen Hauses die sozialen und ökologischen Bedingungen sein, unter denen wir gemeinsam leben wollen.
Betrachten wir die Vorgänge in der aktuellen europäischen Sozialpolitik, so kommen wir wieder zur Ausgangsfrage zurück: Mit den jetzt vorhandenen Entscheidungsmechanismen ist auf EG-Ebene keine gestaltende Sozialpolitik möglich. Erst nach einer Reform des Gesetzgebungsprozesses wird auch die Durchsetzung einer alternativen Sozialcharta, die von allen nationalen Parlamenten diskutiert und verabschiedet werden müßte, unter Mitwirkung der Gewerkschaften möglich sein.
Hier wurde bisher nur über die EG gesprochen. Wir dürfen nicht den Fehler begehen, die EG in ihren jetzigen Strukturen als Kerngehäuse für das gemeinsame Haus Europa zu betrachten, dem lediglich die Länder Osteuropas als Satelliten angegliedert werden. Die jetztige Politik läuft aber darauf hinaus, die EG als Kern des gesamteuropäischen Modells zu betrachten und zur Zeit die EG nach außen abzuschließen, um ihre interne Integration voranzutreiben.
Unserer Meinung nach ist es jetzt aber an der Zeit, eine gesamteuropäische Dialogebene zu schaffen. Es soll nicht die EG auf der einen Seite mit Osteuropa auf der anderen Seite verhandeln; vielmehr ist ein gleichberechtigtes Handeln der einzelnen Staaten miteinander das Ziel eines gesamteuropäischen Modells. Hier könnte der Europarat der Ort des Dialogs sein, um in diesem Sinne zu wirklich demokratischen Strukturen zu kommen.
Ich danke Ihnen.
({0})
Das Wort hat Herr Dr. von Waldenfels, Bayerischer Staatsminister für Bundes- und Europaangelegenheiten.
Staatsminister Dr. Freiherr von Waldenfels ({0}) : Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe mit Interesse die bisherige Debatte über die Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft verfolgt. Ich weiß, daß es dem Vertreter einer Landesregierung nicht zusteht, Kritik an der Präsenz im Deutschen Bundestag bei der Debatte über ein so wichtiges Thema zu üben. Aber der Bayerische Landtag schneidet im Vergleich hierzu sehr gut ab.
Die Bayerische Staatsregierung wie auch die Länder in der Bundesrepublik insgesamt begrüßen die beabsichtigte Stärkung des Europäischen Parlaments. Dabei gehen die Länder davon aus - alle Landtage, auch der Bayerische Landtag, haben sich damit befaßt -, daß die Stärkung des Europäischen Parlamentes nicht zu Lasten der Landtage gehen darf. Wir wollen deswegen an den Vertragsverhandlungen frühzeitig beteiligt werden, Vertragsverhandlungen, die ja, wie wir heute mehrfach gehört haben, durch die Fortschreibung der Römischen Verträge wegen der Wirtschafts- und Währungsunion notwendig werden.
Überall in der Europäischen Gemeinschaft wächst die Einsicht, daß die mangelnde Beteiligung der Länder und der Regionen mit ursächlich dafür ist, daß die Aktzeptanz Europas nachläßt. Wir wollen deswegen die Ebene unterhalb der Mitgliedstaaten nachhaltig stärken. Wir sehen nicht ein, daß der europäische Einigungsprozeß nicht gerade auch durch die Länder nachhaltig beeinflußt werden soll.
Das Europa der Bürger, über das heute geredet worden ist, soll nicht nur ein Schlagwort sein, sondern wir wollen es auch ausfüllen. Das war der Grund, warum der bayerische Ministerpräsident Dr. Streibl im Oktober letzten Jahres eine Konferenz der Regionen nach München eingeladen hat. Mehr als 22 Vertreter der Länder und der Regionen Europas kamen nach München. Wir haben uns dort sehr schnell auf das wesentliche Ziel geeinigt, nämlich die institutionelle Struktur der Europäischen Gemeinschaft auf drei Ebenen festzuschreiben, auf der der Europäischen Gemeinschaft, der Mitgliedstaaten und der Länder.
Europa wird nach unserer Auffassung an Integrationskraft nach innen und an Überzeugungskraft nach außen gewinnen, wenn die Aufgaben und Kompetenzen auf Länder und Regionen als Basis der Pyramide, auf die Gemeinschaft als deren Spitze und auf die Nationalstaaten dazwischen sachgerecht verteilt werden. Die Zuweisung von Kompetenzen und die Wahrnehmung von Aufgaben müssen zwischen den drei Ebenen nach dem Subsidiaritätsprinzip geordnet werden, d. h. grundsätzlich primäre Zuständigkeit der jeweils niedrigeren Ebene.
Die Länder erheben Anspruch, sowohl an der innerstaatlichen Willensbildung als auch an allen Entscheidungen auf europäischer Ebene unmittelbar beteiligt zu sein, vor allem dann, wenn ihre Zuständigkeiten und Interessen berührt sind. Nur durch ein Initiativ-, Anhörungs- und Mitwirkungsrecht ist gewährleistet,
Staatsminister Dr. Freiherr von Waldenfels ({1})
daß die Interessen der Länder ausreichend berücksichtigt werden.
Die Länder müssen auch gleiche Klagebefugnisse wie die Mitgliedstaaten erhalten. Die Bundesrepublik kann jeden verbindlichen Akt des gemeinschaftlichen Sekundärrechts anfechten; die Länder haben diese Möglichkeit bislang nicht. Um den Unterschied zwischen den unmittelbaren Verpflichtungen der Länder aus dem Gemeinschaftsrecht und ihren fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten im Gemeinschaftsrecht auszugleichen, müssen auch Länder, Regionen oder autonome Gemeinschaften Klage erheben können - selbstverständlich nur, soweit sie gemäß der innerstaatlichen Rechtsordnung durch das Handeln des Rats und der Kommission in eigenen Rechten berührt sind.
Wir werden in Kürze eine Nachfolgekonferenz von München in Brüssel haben, am 24. und 25. April, auf der wir die weitere Entwicklung seit Oktober 1989, aber insbesondere nochmals festschreiben wollen, wie wir uns das Europa der Regionen vorstellen. Eines der wesentlichen Ziele bleibt dabei, daß wir in den Entscheidungsprozeß von vornherein mit eingebunden sind. Die Bayerische Staatsregierung hat deswegen dem Bundesrat gestern einen entsprechenden Entschließungsantrag zugeleitet, der am 2. April im Plenum verabschiedet werden soll.
Wir wollen aber auch bei der innerstaatlichen Willensbildung in EG-Angelegenheiten dabeisein; wir wollen stärker beteiligt werden. Dem dient unser Antrag auf Änderung von Art. 24 des Grundgesetzes, wonach die Bundesrepublik Hoheitsrechte, auch wenn sie unmittelbar nur für die Länder gelten, auf die Gemeinschaft übertragen kann. Wir hoffen, daß es im Interesse der Länder zu einer sinnvollen Änderung des Art. 24 kommt.
Auch wir wissen, daß die Schritte zur Europäischen Union, zur Intensivierung der -
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Staatsminister Dr. Freiherr von Waldenfels ({0}) : Ja, gern.
Ich unterbreche eigentlich immer erst, wenn der Satz zu Ende ist, nicht vorher; aber bitte!
Staatsminister Dr. Freiherr von Waldenfels ({0}): Wird das sekundenmäßig abgerechnet?
Nein. Ich stoppe zwar Ihre Zeit, aber auf die Sekunde kommt es nicht an.
Herr Staatsminister, wenn Sie die Mitwirkungsrechte der Länder bei der Europäischen Gemeinschaft hier so nachhaltig fordern, so frage ich Sie, wie denn die Bayerische Staatsregierung zu den Selbstbestimmungsrechten der ihr unterstellten Körperschaften, vor allem der Gebietskörperschaften, steht und wie Sie vor allem in diesem Zusammenhang die Verordnung des bayerischen Innenministeriums bewerten, daß künftig jede neue Abgabe, die Kommunen per Satzung einführen wollen, der Genehmigung des bayerischen Innenministers bedarf.
({0})
Staatsminister Dr. Freiherr von Waldenfels ({1}): Ich kann Sie beruhigen. Die Kommunen in Bayern haben in ihrer Selbständigkeit und in ihrer eigenen Handlungsfähigkeit in der kommunalen Selbstverwaltung mehr Rechte als Kommunen in allen anderen Ländern der Bundesrepublik.
({2})
Wie Sie wissen, geht jede vierte Mark des bayerischen Staatshaushaltes in die Kommunen. Die finanzielle Unabhängigkeit zeigt einmal mehr, daß die bayerischen Kommunen nicht am goldenen Zügel in München hängen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich darf abschließend sagen: Das gemeinsame Ziel der Länder und des Bundes
({4})
muß es sein, daß wir uns vor allem in der Zukunft dem Ziel verschreiben, nicht einem europäischen Zentralstaat das Wort zu reden, sondern eine Staatengemeinschaft anzustreben, die auf einem gesunden Föderalismus aufbaut. In diesem Sinne wird die Bayerische Staatsregierung die europäische Einigung kritisch, aber konstruktiv begleiten.
({5})
Herr Staatsminister, nachdem Sie gesagt haben, Ihnen stünde im Hinblick auf die Anzahl der Anwesenden keine Kritik zu, Sie diese dann aber doch vorgebracht haben, schlage ich Ihnen vor, einfach einmal auf die Bundesratsbank zu gucken und dann ebenfalls Kritik zu üben.
({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Stercken.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst zwei Vorbemerkungen. Ich halte die Einführung des Begriffes „Vorkriegsnationalismus" in dieses Hohe Haus nicht für angemessen. Ich vermag einen solchen hier nicht zu erkennen. Ich vermag aber als Journalist sehr wohl zu erkennen, daß dieser Begriff sehr bald in der Öffentlichkeit übernommen wird und dann hier als eine Meinung der Öffentlichkeit über uns zitiert wird. Ich würde uns dringendst raten, auf solche Qualifikationen zu verzichten.
Die zweite Vorbemerkung bezieht sich auf das von Ihnen, Frau Wieczorek-Zeul, hier vorgetragene Zitat des Kommissars van Miert. Dieses Zitat haben Sie richtig wiedergegeben, aber es fängt doch mit der Bemerkung an:
Die Bundesrepublik spricht noch über Europa, aber das sind nur Lippenbekenntnisse.
Wenn Worte noch einen Sinn haben, dann ist die Bundesrepublik ein Phänomen, zu dem Sie, zu dem alle in diesem Haus mit dazugehören. Ich halte es also nicht für gerechtfertigt, daß wir uns eine solche Feder an den Hut stecken.
Ich halte das auch deshalb nicht für gerechtfertigt, weil die hier in diesem Hause vom Bundeskanzler vorgetragenen zehn Punkte für die deutsche Einheit allein drei Punkte enthalten, die sich ausschließlich auf die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in den europäischen Prozeß beziehen. Dies wird mit dem Wunsch verbunden, daß sich dieser europäische Prozeß beschleunigen möge. Es ist in Punkt 6 Deutschland als Bestandteil der Architektur Gesamteuropas beschrieben worden. In Punkt 7 wird die Europäische Gemeinschaft als Grundlage der gesamteuropäischen Einigung dargestellt. In Punkt 10 ist schließlich von einem freien und geeinten Deutschland in einem freien und geeinten Europa die Rede.
({0})
Ich glaube, man kann, meine Damen und Herren, nun wirklich nicht deutlicher machen, welche Vorstellungen von der Einbindung des deutschen Prozesses in das europäische Geschehen repräsentativ sind.
Wir befassen uns hier mit den Ergebnissen, die durch unseren eigenen Beschluß vom 19. Januar des vergangenen Jahres auf uns zugekommen sind. Wir hatten die Bundesregierung zu einem jährlichen Bericht über die Stärkung der gesetzgeberischen Befugnisse des Europäischen Parlaments aufgefordert. Das Ergebnis ist zugegebenermaßen unbefriedigend. Es zeigt, daß es nur begrenzte Möglichkeiten der Erweiterung oder der Stärkung der Rechte ohne förmliche Änderung der Rechtslage gibt. Das ist uns, Frau Wieczorek-Zeul, insbesondere beim Petitionsrecht sehr deutlich geworden, wo die Grenzen für eine Veränderung liegen, ohne daß es zu einer förmlichen Veränderung der Rechtslage kommt.
Sie haben sich auf die Bundesregierung bezogen. In der Tat hat der Bundeskanzler in Rhodos erklärt: Glaubwürdigkeit für die Parlamentswahlen 1994 gibt es nur, wenn es vorher zu einer Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments kommt. In Straßburg hat er beim Gipfel gesagt: Überlegungen müssen bald beginnen, insbesondere wegen der Verzahnung mit der Wirtschafts- und Währungspolitik. Das heißt im Klartext: Es gibt in diesen entscheidenden Bereichen keinen Fortschritt, wenn dies nicht mit einer Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments gekoppelt ist.
({1})
Meine Damen und Herren, in den Römischen Verträgen ist zunächst die Mitwirkung der Parlamente durch Stellungnahmen vorgesehen. Ich darf mal daran erinnern! Die Parlamente haben sich darauf eingelassen, ein Parlament zu berufen, aber es nur mit Stellungnahmen zu befriedigen. Das haben alle Parlamentarier in allen europäischen Staaten akzeptiert, und ich darf daran erinnern: Als sich 1974 die Regierungschefs auf einen neuen Entwurf geeinigt hatten, da haben die Parlamente über zwei Jahre gebraucht,
bis sie dieses Verfahren ratifizieren konnten. Ich sage dies auch an unsere eigene Adresse: Es gibt wohl noch Parlamentarier, die gelegentlich auch einmal für ihre Rechte kämpfen.
Ich will jetzt einmal deutlich machen, wo das Verständnis der Exekutive heute anzusiedeln ist und welche Konsequenzen sich für uns daraus ergeben. Einer amtlichen Veröffentlichung der Europäischen Gemeinschaft entnehme ich folgendes Zitat:
Das Parlament ist am Gesetzgebungsverfahren der Gemeinschaft beteiligt.
Darf ich einmal fragen, wer hier in diesem Hause als Parlamentarier ein solches Verständnis hat, daß er an der Gesetzgebung beteiligt ist? Er vollzieht diese Gesetzgebung als Souverän,
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und dieses Verfahren ist auch für das Europäische Parlament unerläßlich.
In der gleichen vor kurzem erschienenen Publikation finde ich folgendes Zitat:
Da es sich bei diesen Sitzungen der Ausschüsse um nichtöffentliche Sitzungen handelt, ist die Kommission und der Ministerrat sogar in der Lage, vollständigere und vertrauliche Informationen vorzutragen.
Das ist also die Voraussetzung, wenn ich das richtig sehe, für eine parlamentarische Kontrolle.
In der gleichen Beschreibung sind die Haushaltsbefugnisse dargestellt. Da wird zwar ausdrücklich mitgeteilt, daß sich die Entscheidungsbefugnis des Europäischen Parlaments nur auf 27,5 % der Gemeinschaftsaufgaben begrenzt, aber daran wird der Kommentar geknüpft: Daran läßt sich die ganze politische Bedeutung seiner Haushaltsbefugnisse, also des Europäischen Parlaments, ermessen. Kein letztes Wort - wird dann hinzugefügt - gibt es bei den obligatorischen Ausgaben, die immerhin die marginalen 72,5 % der Ausgaben der Gemeinschaft betreffen. Dann wird darauf Bezug genommen, daß sich hier leider die Ansprüche des Parlaments nicht hätten voll einsetzen lassen, weil der Gerichtshof 1986 auf Grund einer Klage des Rates diese Grenzen des Haushaltsrechts aufgezeigt hat.
Wer dieses Urteil nachvollzieht, sieht, daß sich dieses Urteil auf Regierungsvereinbarungen bezieht. Daraus entnehme ich, daß die Regierungen festlegen, inwieweit Parlamente als Souverän in diesen Fragen eine Kompetenz besitzen.
Diese Gemengelage der Gewaltenteilung erleiden wir, nebenbei bemerkt, auch auf vielen Sektoren unseres öffentlichen Lebens. Die Legislative, Exekutive und Judikative sind auch bei uns in vielen Bereichen durcheinandergeraten.
({3})
Das ist nicht Gegenstand meiner Betrachtungen, aber ich wollte mir diesen Hinweis erlauben.
Nun wird in dieser Publikation zum Trost hinzugefügt:
Das Parlament hat im Haushaltsverfahren eine starke Position. Zwischen Parlament und Rat ist ein wirksamer Dialog entstanden.
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Auch wenn dieser Dialog nicht immer zu einer Beilegung der Streitigkeiten führen konnte, so ist es dem Parlament doch wiederholt gelungen, seinen Standpunkt durchzusetzen.
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Meine Damen und Herren, wir leiden alle psychosomatisch, denke ich, wenn wir von der Exekutive ein solches parlamentarisches Verständnis vorgeführt bekommen. Da kann man nur sagen: Montesquieu ade.
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Meine Damen und Herren, ich habe hier noch eine Fülle solcher Zitate. Sie vorzutragen, würde mich daran hindern, Ihnen einige Empfehlungen vorzutragen, was denn nun Parlamentarier und Parlamente in dieser Stunde einfordern sollten.
Das erste ist der eben schon vorgetragene Grundsatz, daß es in der Frage der Währungsunion und in der Frage der Sozialcharta keine weiteren Fortschritte ohne die europäischen Parlamente geben darf. Ich denke, darüber gibt es in diesem Hause keine unterschiedlichen Auffassungen.
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Das betrifft auch die Regierungskonferenz. Wenn es nicht möglich ist, das dort hineinzupacken, erfordert es, daß man sich dafür Zeit nimmt, auf welcher Ebene und in welchem Verfahren auch immer. Natürlich ist auch denkbar, daß eine vorgezogene EG-Konferenz solche Fragen behandelt. Aber, Frau Wieczorek-Zeul, dann muß man sehr genau wissen, was die Parlamente tatsächlich wollen, was sie von den Regierungen fordern. Da reicht es nicht aus, wenn wir vortragen, daß wir eine Erweiterung wünschen. Wir müssen also ganz genau sagen, was das ist.
Was das ist, kann man z. B. unter Rekurs darauf feststellen, was dieses Hohe Haus, was jedes europäische Parlament im Laufe der letzten 30 Jahre an parlamentarischen Kontrollrechten verloren hat, weil die Zuständigkeiten an die Kommission und den Ministerrat übergegangen sind. Wenn man sich diesen Katalog auflistet, weiß man ganz genau, daß dies alles Vorgänge sind, die einer parlamentarischen Kontrolle und Beschlußfassung unterworfen sein müßten. Alles das, worauf wir verzichtet haben, muß jetzt konsequenterweise vom Europäischen Parlament übernommen werden. Das muß ein Prinzip sein; denn sonst gäbe es einen völlig parlamentsfreien Raum.
Daß eine bessere Zusammenarbeit mit den nationalen Parlamenten, die hier mehrfach zitiert worden ist, zu einer größeren Solidarisierung in dieser Frage beitragen könnte, so sie denn stattfände, ist nun wirklich nicht zu leugnen. Aber wir haben uns da leider durch die Fülle der Vorlagen den Blick für das Wesentliche verstellen lassen und nicht das getan, was eigentlich unseres Amtes gewesen wäre, nämlich konkrete Forderungen über parlamentarische Mechanismen, die ihre Konsequenz in der eben vorgetragenen inneren
Logik haben, in die nationalen Parlamente zu übernehmen und dort für die Erweiterung der Rechte gegenüber den Regierungen zu streiten.
Meine Damen und Herren, das liegt natürlich auch an dem unterschiedlichen Parlamentsverständnis - das muß man einmal sagen -, das in den Parlamenten Europas über solche Fragen herrscht. Wir haben Gott sei Dank, denke ich, über die Fraktionen hinweg eine sehr weit entwickelte Vorstellung. In anderen Parlamenten ist dieses Verständnis leider nicht anzutreffen. Das ist das eigentliche Handicap! Wir müssen nicht immer nur sagen: Ohne die Regierungen können wir das besser machen. Dann meckern die uns nicht soviel in den Sachen herum! Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere ist die, daß sich viele Parlamente um eine Mitwirkung, um eine parlamentarische Befassung mit diesen Dingen überhaupt nicht kümmern. Wir haben z. B. eine Aufgabe, die wir uns selbst zumessen können. Wir haben den Grundrechtekatalog für 320 Millionen Bürger der EG zu erarbeiten. Wer soll denn das eigentlich machen, wenn sich die Parlamente einer solchen konstitutionellen Frage nicht annehmen? Wie ist das eigentlich mit der Rechtsangleichung? Wo soll das denn stattfinden und betrieben werden? Nur in der Administration? Dann kommt dieser Vorgang uns irgendwann einmal auf den Tisch, und wir machen ein Häkchen dahinter. Nein, meine Damen und Herren, auch diesen Katalog kann ich angesichts der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr zu Ende bringen. Es gibt ganz viele konkrete Fragen, in denen auch die Parlamente gefordert sind, sicherlich auch die Regierungen. Aber mein Vorschlag ist, daß die Parlamente überbringen, was sie von den Regierungen in der jetzigen Phase erwarten.
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Der Bundespräsident hat vor dem Europäischen Parlament gesagt:
Wir müssen aufpassen, daß wir nicht auf die Dauer in der Gemeinschaft ganz andere Prinzipien demokratischer Gewaltenteilung schaffen, als wir sie in den Mitgliederländern befolgen.
Wie wahr, kann ich nur sagen! Aber wir müssen nicht nur aufpassen: Wir haben das in der Tat in Europa teilweise schon verschlafen. Es ist nämlich schon passiert, was der Bundespräsident in seiner Höflichkeit auf diese Weise formuliert.
Meine Damen und Herren, europäischen Fortschritt dürfen wir nicht weiterhin mit dem Verlust parlamentarischer Substanz bezahlen.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zum Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6471. Frau Kollegin Wieczorek-Zeul hat eine Änderung angebracht. Unter I.2 sollen im zweiten Absatz die Worte „gleichzeitig mit den Beratungen zur Errichtung der Wirtschafts- und Währungsunion, auch" gestrichen werden. Diese Entschließung steht jetzt zur Debatte. Die Fraktion der SPD beantragt, daß über ihren Antrag in der Sache abgestimmt werden soll. Die Fraktionen der CDU/
Vizepräsident Westphal
CSU und FDP haben hingegen beantragt, daß dieser Antrag zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß überwiesen wird. Nach unserer ständigen Praxis ist zunächst über den Antrag auf Ausschußüberweisung abzustimmen.
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Wer stimmt also für den Überweisungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist die Mehrheit für die Überweisung. Diese ist angenommen und der Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/6471 zur federführenden Beratung an den Auswärtigen Ausschuß und zur Mitberatung an den Innenausschuß überwiesen.
Zu den Punkten 6 b bis 6 d der Tagesordnung haben wir noch weitere Überweisungen. Der Ältestenrat schlägt Überweisungen der Vorlagen auf den Drucksachen 11/6116, 11/6297 und 11/6479 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Außerdem sollen die Vorlagen zusätzlich zur Mitberatung an den Innenausschuß überwiesen werden. Darüber hinaus soll der Antrag auf Drucksache 11/6116 zusätzlich zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Eine Erklärung nach § 31, bitte schön, Frau Wieczorek-Zeul.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist nur auf diese Art und Weise möglich. - Die Tatsache, daß eine Überweisung in den Ausschuß bei dem entsprechenden Antrag zur Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft erfolgt ist, wird dazu führen, daß das Vorhaben, das dort in der Sache gefordert wird, keine Realisierungschance mehr hat. Deshalb halte ich das Manöver, den Antrag in den Ausschuß zu verweisen, für eine durchsichtige Sache, die alle Erklärungen zur Demokratisierung der Europäischen Gemeinschaft, die hier vorhin abgegeben worden sind, Lügen straft. Wir wollten eine Unterstützung dessen, was heute im Europäischen Parlament von allen Fraktionen - auch der CDU/CSU und der FDP - beschlossen worden ist.
({0})
Sie haben sich dem verweigert, das ist außerordentlich bedauerlich.
({1})
Meine Damen und Herren, mir wäre es lieber gewesen, wenn die Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung vor der Abstimmung gewesen wäre; aber da hatte ich sie noch nicht vorliegen.
Die Debatte über diesen Tagesordnungspunkt ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung
eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Bundesbesoldungsgesetzes ({0})
- Drucksache 11/6523 Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Innenausschuß ({1})
Verteidigungsausschuß
Ausschuß für Verkehr
Haushaltsausschuß mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern. Herr Dr. Waffenschmidt, bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf soll den Beamten der Bundesanstalt für Flugsicherung eine allgemeine, ruhegehaltsfähige Stellenzulage gewährt werden. Außerdem sollen bestimmte Beamte in sogenannten Stabsstellen, d. h. in Stellen der zentralen Planung, Koordinierung und Ausbildung, eine zusätzliche, nicht ruhegehaltsfähige Stellenzulage erhalten. Hintergrund dieser Absicht sind Schwierigkeiten der Bundesanstalt für Flugsicherung sowohl hinsichtlich der Durchführung der Flugsicherung als auch im Bereich der betrieblichen und technischen Planung.
Auf lange Sicht sollen diese Probleme und Aufgaben durch eine Neuorganisation der Flugsicherung gelöst werden. Dazu hat die Bundesregierung in dem Entwurf eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes einen entsprechenden Vorschlag gemacht.
({0})
- Die Bundesregierung ist eben gut. Ich freue mich, daß die SPD Beifall bekundet.
Bis zur Verwirklichung dieser Absicht sollen die personellen Schwierigkeiten mit dem vorliegenden Gesetzentwurf als Zwischenlösung auf dem Gebiet der Besoldung gelöst werden. Die Bundesregierung hatte deshalb bereits in ihrem Bericht vom Mai 1989 an den Haushaltsausschuß des Deutschen Bundestages die Einführung einer Flugsicherungszulage unabhängig von der künftigen Organisationsform der Flugsicherung angekündigt.
({1})
Die zunehmende Bedeutung des Luftverkehrs als Wirtschaftsfaktor wird in der Zukunft sicherlich zu einem weiteren Anstieg des Verkehrsaufkommens führen. Der damit verbundenen, in gleichem Maße steigenden Beanspruchung entspricht das gesamte Personal der Bundesanstalt für Flugsicherung durch erhöhte Leistungsbereitschaft. Angesichts dieser erschwerten Bedingungen muß sichergestellt werden, daß sich noch Bewerber in ausreichender Zahl für die Bundesanstalt für Flugsicherung gewinnen lassen, zumal bereits Personalengpässe eingetreten sind.
Auch intern gibt es personelle Schwierigkeiten, weil
in den zentralen Stellen, in denen die wichtigen Funktionen der Planung, Koordinierung und Ausbildung
durch bestqualifizierte Mitarbeiter wahrzunehmen sind, vakante Dienstposten nicht besetzt werden können. Wir alle wissen aber, wie wichtig die Kräfte bei der Bundesanstalt für Flugsicherung gerade für einen gut funktionierenden Flugbetrieb sind.
Deshalb die vorgeschlagenen Zulagen in folgenden Eckpunkten: Die allgemeine, nach Laufbahnen gestaffelte Stellenzulage orientiert sich in ihrer Höhe am Verhältnis der Besoldung zwischen den Laufbahngruppen und beträgt für den Beamten des einfachen Dienstes 120 DM, des mittleren Dienstes 180 DM, des gehobenen Dienstes 300 DM und des höheren Dienstes 430 DM. Diese Zulage soll nach einer zehnjährigen Verwendungsdauer bei der Bundesanstalt für Flugsicherung grundsätzlich auch ruhegehaltsfähig sein.
Die besondere Stabsstellenzulage, die nicht ruhegehaltsfähig sein soll, wird nur in den Laufbahnen des gehobenen und des mittleren Dienstes in flugsicherungsspezifischen Funktionen gewährt. Sie ist gestaffelt von 120 DM monatlich für Beamte des mittleren Dienstes bis zu 500 DM monatlich für Beamte des gehobenen Dienstes.
Meine Damen und Herren, der Bundesrat hat am 16. Februar 1990 beschlossen, gegen den Gesetzentwurf keine Einwendungen zu erheben. Da die Zulage mit Rücksicht auf die vielfältigen Aufgaben, die damit angesprochen werden sollen, bereits mit Wirkung vom 1. Januar dieses Jahres gewährt werden soll, wäre ich für eine beschleunigte Behandlung des Gesetzentwurfes hier sehr dankbar. Es soll ja dem Personal dienen, das ganz wichtige Funktionen für die Flugsicherung ausübt. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Nöbel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will es ganz kurz machen. - Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wir begrüßen den Entwurf, allerdings mit der Einschränkung, daß er erst jetzt vor der Wahl kommt und damit reichlich spät.
({0})
Wir hätten ihn gern früher gesehen. Wir begrüßen auch die Bemühungen, eine Neugestaltung der gesamten Problematik hinzubekommen. Hierbei geht es praktisch um eine Übergangslösung bis 1994.
Was nicht geregelt ist - darauf wollen wir besonders aufmerksam machen - , ist die Frage im Zusammenhang mit dem zivil-militärischen Bereich. Da muß einiges geschehen. Herr Präsident, wir haben gleich noch einen Tagesordnungspunkt, der artverwandt ist mit dem jetzigen. Herr Kollege Waffenschmidt, das sind Dinge, die man im Vorfeld vielleicht etwas besser hätte abklären können.
Kurz gesagt: Wir stimmen in der ersten Lesung in der Tendenz zu. Wir werden das in den Ausschüssen entsprechend beraten.
Herr Präsident, ich habe noch acht Minuten Redezeit. Ich schöpfe sie nicht aus. Ich denke, auch das ist ein gutes Beispiel für heute abend.
Danke schön.
({1})
Es fällt mir überhaupt nicht schwer, Ihnen zuzustimmen, da ich weiß, um wieviel wir schon überzogen haben. Damit holen wir das wieder ein bißchen ein. Danke schön.
Herr Rauen ist der nächste Redner.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich kann es ebenfalls relativ knapp machen, weil das Wesentliche bereits von Herrn Waffenschmidt dargestellt worden ist. - Es ist richtig: Diese Zulagenregelung ist eine Übergangsregelung, die gelten soll, bis das Luftverkehrsgesetz neu gefaßt wird und damit auch die Möglichkeit geschaffen wird, die Flugsicherungsanstalt zu privatisieren, in Form einer GmbH.
Wir glauben auch, daß wir mit diesen Zulagen, die für den schweren Dienst in der Flugsicherung gezahlt werden, erreichen, daß sich die Verspätungen im Flugverkehr reduzieren und daß Nachwuchskräfte für diesen Dienst gewonnen werden. Gleichzeitig verbinden wir damit die Bitte, daß wir in den Beratungen für das Luftverkehrsgesetz weiterkommen. Dazu wird am kommenden Freitag die Stellungnahme im Bundesrat abgegeben. Das kann dann in den Beratungen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages fortgeführt werden; denn diese Änderung ist sicherlich sehr notwendig. Eines ist nämlich sicher: Wir sind mit dem Wachstum im Flugverkehr nicht zu Ende. Die Auswirkungen des EG-Binnenmarkts und der Ost-West-Öffnung stehen uns bevor. Deshalb müssen wir noch in dieser Legislaturperiode die notwendigen Weichen stellen, damit dieses Gesetz entsprechend verabschiedet werden kann.
Schönen Dank.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Such.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch ich werde es kurz machen. Ich kann mich auf einige wesentliche grundsätzliche Punkte beschränken.
Vorweg kann ich für meine Fraktion erklären, daß wir der Flugsicherungszulage sicherlich zustimmen werden, weil wir meinen, daß für die Sicherheit des Flugverkehrs nicht genug getan werden kann und die Leistung und die Arbeit der Bediensteten honoriert werden soll. Das hat bei uns mit Wahlkampf und mit bevorstehender Wahl überhaupt nichts zu tun; bei uns ist während der gesamten Legislaturperiode Wahlkampf, und wir setzen uns für die entsprechenden Belange ein.
({0})
Ich möchte einiges dabei aber deutlich machen. Man muß natürlich die Frage stellen, ob über die Posi15612
tion der Fluglotsen insofern diskutiert werden soll, ob es sich dabei um öffentlichen Dienst, um Beamtenstatus oder um Privatisierung handelt. Das ist das, was bei der CDU offenbar dabei herauskommt. Es kann sicherlich nicht sein, daß die Flugsicherung privatisiert wird. Ich kann mir auch kaum vorstellen, daß die Verkehrspolizei - damit wären die Beamten des Flugsicherungsdienstes zu vergleichen - privatisiert wird. Auf die Idee würde wohl niemand kommen.
Man kann allerdings sicherlich die Frage stellen, ob sie einen Beamtenstatus haben sollten. Dann, so meine ich, könnten über die Fragen der Besoldung der Bediensteten der Flugsicherung auch die Tarifpartner diskutieren. Das heißt, öffentlicher Dienst: ja, Beamtenstatus: nein. Aber ich glaube, das steht hier nicht zur Debatte.
({1})
Hier geht es zunächst einmal grundsätzlich nur darum, ob die Zulage gewährt werden soll. Da muß ich für meine Fraktion erklären - ich wiederhole mich da - , daß wir dieser Flugsicherungszulage zustimmen werden.
({2})
Jetzt hat der Abgeordnete Richter das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schön, daß hier im Hause Einigkeit darüber herrscht, daß der starke Zuwachs des Luftverkehrs tatsächlich Maßnahmen hinsichtlich der Organisationsform und vor allem zum Erhalt des Leistungsniveaus der Flugsicherung erfordert. Das Leistungsniveau werden wir nur halten können, wenn die Tätigkeit in der Flugsicherung auch für junge Leute wieder attraktiv wird, eine berufliche Perspektive bietet und vor allem auch die Bezahlung leistungsgerecht wird.
({0})
Darüber hinaus liegt es im Intersse der Flugpassagiere, eine leistungsfähige Flugsicherung am Boden zu haben, die technisch und personell so ausgestattet ist, daß auch über den Wolken die Sicherheit gewährleistet ist.
Über die erheblichen Wartezeiten und Verspätungen ist schon geredet worden. Ich will das nicht wiederholen. Herr Staatssekretär Waffenschmidt hat auch richtig die Maßnahmen im einzelnen dargestelt, die dieser Gesetzentwurf vorsieht.
Aber ich möchte an dieser Stelle für die FDP-Fraktion ganz deutlich sagen, daß wir dies für eine gute Regelung halten bis zur endgültigen organisatorischen Neugestaltung der Flugsicherung, d. h. bis zur Umwandlung in eine GmbH; denn das halten wir für dringend geboten.
({1})
Das Verkehrsaufkommen in der Luft ist drastisch gestiegen und das Flugzeug hat sich vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Verflechtungen in der Welt und auch vor dem Hintergrund des expandierenden Tourismus zu einem der bedeutendsten Verkehrsträger entwickelt. Das bedeutet auch, daß das Personal in der Flugsicherung physisch und psychisch immer stärker gefordert wird. Der Gesetzgeber ist verpflichtet, diesen gestiegenen Beanspruchungen der Beamten in der Flugsicherung unter anderem durch besoldungsrechtliche Maßnahmen Rechnung zu tragen und den bereits bestehenden Personalproblemen bei der Besetzung zentraler Stellen der Koordinierung, Planung und Ausbildung gegenzusteuern. Nur qualifiziertes und motiviertes Personal kann den gestiegenen Anforderungen gerecht werden. Flugsicherung heißt deshalb nichts anderes als Flugsicherheit für die Passagiere.
Für die wirksame und dauerhafte Lösung der Probleme der Flugsicherung gibt es keine Alternative zur privatrechtlichen Organisationsform.
({2})
Nur damit, meine Damen und Herren, erreichen wir eine größere Attraktivität und Motivation für das Personal, größere Handlungsspielräume bei der Entlohnung und bei den Investitionsentscheidungen bei gleichzeitiger Gewährleistung der notwendigen staatlichen Eingriffsrechte.
Voraussichtlich Ende März werden wir abschließend hier im Plenum darüber entscheiden.
({3})
Bis zur endgültigen Umsetzung bedarf es allerdings noch einiger Zeit. So lange, Herr Kollege, werden wir auf diese Zulagenregelung angewiesen sein.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/6523 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe nun auf den Tagesordnungspunkt 8:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften
- Drucksache 11/6544 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ich sehe dagegen keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Verteidigung, Frau Hürland-Büning.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist Teil des von der Bundesregierung beschlossenen Programms zur Erhöhung der AttraktiviParl. Staatssekretär Frau Hürland-Büning
tät des Dienstes in der Bundeswehr, Herr Kollege Steiner. Er ist einer der Kernpunkte dieses Programms und zielt darauf ab, die finanziellen Leistungen für die Soldaten zu verbessern und gleichzeitig militäreigentümliche Belastungen angemessen anzuerkennen.
Es handelt sich im wesentlichen um strukturelle Verbesserungen für Soldaten im Bereich des Besoldungs- und Wehrsoldrechts. Im einzelnen: Höherstufung des Eingangsdienstgrades nach Besoldungsgruppe A 2 nach einer Dienstzeit von drei Monaten, Gewährung einer Amtszulage von 40 DM an Gefreite in der Besoldungsgruppe A 2 Einführung eines Spitzendienstgrades „Stabsgefreiter" in Besoldungsgruppe A 5, Leistungszuschlag für Wehrübende von 50 DM an Wochentagen und 75 DM an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen, allerdings erst ab dem 31. Wehrübungstag, Stellenzulagen für den militärischen Flugsicherungs- und Radarführungsdienst unter maßvoller Berücksichtigung der Regelungen für den zivilen Bereich.
({0})
- Wenn Sie jetzt andauernd reden, dann rede ich gleich auch bei Ihnen.
({1})
- Ich merke so etwas.
Dazu gehören weiter: Umwandlung folgender steuerfreier Erhöhungsbeträge von Aufwandsentschädigungen in steuerpflichtige, ruhegehaltsfähige Stellenzulagen: Fliegeraufwandsentschädigung für Kampfbesatzungen von 450 DM, bei sonstigen Luftfahrzeugführern und Luftfahrzeugoperationsoffizieren von 360 DM, bei sonstigen ständigen Luftfahrzeugbesatzungsangehörigen von 288 DM, Außendienstaufwandsentschädigung von 50 DM, Marineaufwandsentschädigung für U-Boot-Besatzungen von 160 DM, für Kampfschwimmer und Minentaucher von 100 DM, für Besatzungen von Schiffen und Booten von 80 DM. Umwandlung der steuerpflichtigen Erschwerniszulagen im Marinebereich in steuerpflichtige, ruhegehaltsfähige Stellenzulagen für U-Boot-Besatzungen von 240 DM, für Kampf schwimmer/Minentaucher von 180 DM, für Besatzungen von Über-Wasser-Einheiten der Seestreitkräfte von 120 DM. Das alles gilt natürlich pro Monat.
Das Gesetz soll rückwirkend zum 1. Januar 1990 in Kraft treten, hinsichtlich der Umwandlung der Zulagen im Marinebereich in ruhegehaltsfähige Stellenzulagen und des Leistungszuschlags für Reservisten am ersten Tage des auf die Verkündung folgenden Monats.
Zusammenfassend, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist festzustellen: Die im Gesetzentwurf enthaltenen finanziellen Verbesserungen tragen entscheidend dazu bei, den Dienst in der Bundeswehr auch künftig attraktiv zu machen. Ich bitte deshalb im Interesse der betroffenen Soldaten um zügige Beratung.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Steiner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dankenswerterweise hat Frau Staatssekretärin schon die Sätze genannt, um die es hier heute bei der Einbringung geht.
Im Januar 1990 verabschiedete das Bundeskabinett den zur ersten Beratung heute vorliegenden Entwurf mit den Werten, die hier genannt worden sind. Der Bundesminister der Verteidigung erklärte bei dieser Gelegenheit, daß dieser Entwurf ein wichtiger Schritt zur Steigerung der Attraktivität des Dienstes in der Bundeswehr und auch zur Verbesserung der Personalsituation in den Streitkräften in den 90er Jahren sei.
Ich stelle hier für die SPD-Fraktion fest: Wir gönnen den Soldaten und den Beamten der Bundeswehr nicht nur jede zusätzliche Mark, die sie künftig erhalten sollen. Ich darf an dieser Stelle auch hinzufügen: Die SPD hat die jetzt von der Regierung beantragten Erhöhungen zum Teil seit langem gefordert. Das weisen unsere Haushaltsanträge in den letzten Jahren aus.
Dennoch bleibt der von der Bundesregierung vorgelegte Entwurf weit hinter dem heute Gebotenen zurück, finanziell und, was viel schlimmer ist, auch strukturell.
Unter finanziellen Gesichtspunkten ist es seit langem nicht mehr vertretbar, daß lediglich Soldaten noch in der Besoldungsgruppe Ai beginnen, die im gesamten öffentlichen Dienst ansonsten abgeschafft ist. Erklären Sie einmal den Soldaten diese Herabsetzung. Die jetzt vorgeschlagene Höherstufung nach A2 nach einer Dienstzeit von drei Monaten ist eine halbherzige Nicht-Lösung des Problems.
Zum personalpolitischen Debakel wird sich die finanzielle Schlechterstellung der militärischen Fluglotsen im Vergleich zu ihren zivilen Kollegen auswachsen. Der Fluglotse in Zivil und der in Uniform, die zum Teil Schulter an Schulter die gleiche Arbeit leisten, müssen auch gleich entlohnt werden.
Von der Situation nach der jetzt in der Diskussion stehenden Privatisierung der zivilen Flugsicherung will ich gar nicht sprechen. Wir werden noch gemeinsam erleben, daß die militärischen Fluglotsen sich in Scharen bei der Bundeswehr abmelden und im zivilen Bereich tätig werden.
Ich darf noch sagen: Nicht angepackt wird bei dieser Novelle die Öffnung der Besoldungsgruppe A13 für die Offiziere des Militärfachlichen Dienstes, die ich im Namen der SPD hier abermals mit Nachdruck fordere.
Am schlimmsten aber - ich wiederhole es - wird sich die strukturelle Beliebigkeit der vorgeschlagenen Besoldungsverbesserung auswirken. Der Wildwuchs im Zulagewesen, wie es intern längst heißt, wird durch die Bundesregierung nicht zurechtgeschnitten, sondern, wie ich meine, zusätzlich gehätschelt und auch noch gedüngt. Ein systematischer Aufbau ist beim besten Willen und auch mit größtem Wohlwollen nicht zu erkennen.
Das hätte nicht so sein müssen, und das hätte auch nicht passieren dürfen. Ich sage das auch im Hinblick darauf, daß ich dem Bundeskanzler im Juni 1989, als die Absicht der Bundesregierung bekannt wurde, die Aufwandsentschädigung nur für die Besatzungen mehrstrahliger Flugzeuge der Bundeswehr auf dem Verordnungswege zu erhöhen, geschrieben habe und dringend davon abgeraten habe, so zu verfahren. Denn nach meiner persönlichen Auffassung und auch nach Auffassung meiner Kolleginnen und Kollegen in der SPD-Fraktion war diese beabsichtigte Erhöhung keine Lösung der vorliegenden Probleme und benachteiligte darüber hinaus noch die Besatzung anderer Flugzeuge und das technische Personal bei den fliegenden Verbänden, das auch jetzt vergessen worden ist. Nach Überzeugung der SPD war und ist ein ausgewogenes Gesamtkonzept erforderlich und nicht, wie ich es seinerzeit auch geschrieben habe, Flickschusterei, und darin waren wir uns einig.
Ich erinnere daran, daß der Verteidigungsausschuß im Herbst 1987 auf Antrag der SPD und mit den Stimmen aller Fraktionen die Einsetzung einer Arbeitsgruppe „Zulagen" beschlossen hatte.
({0})
- Herr Kollege Ganz, es war ein gemeinsamer Vorschlag, wenn ich das vielleicht dazu bemerken darf.
Diese Arbeitsgruppe trat dann jedoch gemäß dem Mehrheitswillen der Regierungskoalition nicht zusammen, nachdem die Bundesregierung genau wie heute - ich darf sagen: seinerzeit allerdings in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, die wir gemeinsam beklagt haben - in einer Nachbesserung des Bundeshaushalts 1988 veranlaßt hatte, ein paar Zulagen zu erhöhen, um sich für einige Monate Luft zu verschaffen.
Ich darf sagen, der Wahltermin läßt grüßen.
({1})
- Ich lasse Ihnen gerne Gelegenheit, hier einen Zwischenruf zu machen.
Ich darf das noch einmal wiederholen, damit es auch im Protokoll richtig festgehalten wird. Nun wird
- der Wahltermin läßt grüßen - das vielleicht kurzfristig erfolgreiche, aber langfristig in der Sache verhängnisvolle Spielchen, wie ich meine, fortgesetzt. So, Frau Staatssekretärin, erhöhen Sie die Attraktivität der Bundeswehr nicht, sondern sorgen dafür, daß Besoldungspolitik mehr und mehr im Stil - ich darf sagen - asiatischer Basare betrieben wird: undurchsichtig, marktschreierisch, zufallsgesteuert und auch von allerlei Gerüchen durchsetzt.
({2})
Das entscheidende Manko - ich darf auch sagen: Das ist schon fast ein Dauerskandal dieser Bundesregierung - aber besteht darin, daß nichts zur Verbesserung der völlig unbefriedigenden haushaltsstrukturellen Lage bei Unteroffizieren und vor allen Dingen auch bei den Beamten des mittleren und gehobenen
Dienstes unternommen wird. Solange 50jährige Inspektoren und 50jährige Oberinspektoren Dienst tun und Soldaten als Hauptfeldwebel oder als Hauptbootsmann, obwohl gut beurteilt, in den Ruhestand geschickt werden, können Sie jedes Jahr mit einem Attraktivitätsprogramm kommen, von mir aus auf Hochglanz und mit einem Goldrand versehen. Es trägt nicht zur Konsolidierung des sozialen Friedens im Bereich der Bundeswehr bei.
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Die SPD-Fraktion wird die Gelegenheit der Beratung in den Ausschüssen nutzen, um in diesem Sinne Verbesserungen zu empfehlen und Verbesserungen in den zur Zeit vorliegenden Entwurf einzubringen. Wir haben ja heute im Verteidigungsausschuß schon eine Diskussion darüber gehabt. Ich hoffe, daß wir uns dann einig sind, daß das, was noch nachzuholen sein wird, auch gemeinsam eingebracht werden kann.
Wir halten es für völlig indiskutabel, daß im vorliegenden Gesetzentwurf die Kompaniefeldwebel nicht berücksichtigt sind. Das ist uns heute auch deutlich geworden; Ihnen anscheinend auch, da Sie heute einen derartigen Antrag, der ja schon länger vorlag, eingebracht haben, der heute auch die Zustimmung des Hauses gefunden hat.
Es ist für uns auch völlig indiskutabel, daß im Bereich des technischen Dienstes der Bundeswehr das versäumt worden ist, was schon seit langem gefordert wird, nämlich auch dort die Zulagen anzupassen.
Lassen Sie mich zum Schluß noch bemerken: Auch Besoldungsgerechtigkeit für unsere Soldaten und die zivilen Mitarbeiter der Bundeswehr ist Teil der Verteidigungspolitik. Heute muß jeder Schritt gründlicher überlegt und anders geplant werden, als die Bundesregierung es mit diesem Gesetzentwurf vorgeführt hat. Dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit dem sich der Verteidigungsminister, wie ich eingangs zitiert habe, ja gebrüstet hat, steht meiner Meinung nach unter dem Diktat: „Weiter so! " Ich sage noch einmal: Er ist nicht ausgewogen. Es ist und bleibt Flickschusterei. Ich hoffe nur, daß wir das während der Beratung im Ausschuß noch gebührend verbessern können.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Ganz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften stellt die Bundesregierung erneut unter Beweis, daß ihr eine gerechte, d. h. leistungsbezogene Besoldung der Soldaten ein ständiges Anliegen ist. Dies gilt im besonderen auch für uns, die die Bundesregierung tragenden Koalitionsfraktionen.
({0})
Ganz ({1})
Im Grundsatz haben wir dem heute in erster Lesung zu beratenden Gesetzesvorhaben schon vorab unsere Zustimmung gegeben, denn es ist der Teil des von der Bundesregierung im Juli vorigen Jahres vorgelegten Programms zur Erhöhung der Attraktivität der Bundeswehr, der der gesetzlichen Ausfüllung bedarf und dem wir bereits damals unsere Unterstützung zugesagt haben. Darüber hinaus haben wir während der Beratungen des Haushalts 1990 und mit dessen Verabschiedung die für die Gesetzesausführung notwendigen Haushaltsmittel bereitgestellt.
So sehr es uns freut, mit dieser Vorlage in unserem gemeinsamen Bemühen wieder ein gutes Stück vorangekommen zu sein, so wenig kann ich behaupten, daß damit alle unsere Wünsche erfüllt seien. Unsere Anträge im Zuge der Haushaltsberatungen waren, was den hier im wesentlichen anstehenden Bereich der Besoldung und der Zulagen anlangt, weitergehend. Wir sind aus Gründen, die wir vorerst zu respektieren haben, damit im Haushaltsausschuß leider nicht durchgekommen. Wenn ich „vorerst" sage, dann meine ich, daß vielleicht die Chance gegeben ist, bei der Beratung dieses Entwurfs im Ausschuß in Verbindung mit der Beratung des Nachtragshaushalts darüber hinausgehende Verbesserungen zu erzielen.
Da der nicht Sachkundige wegen der Kompliziertheit der Materie, der Unzahl der Verweisungen und der Fülle der Konkurrenzklauseln den eigentlichen Inhalt des Gesetzentwurfs kaum erkennen kann, sollte ich die wichtigsten der vorgesehenen Veränderungen noch einmal nennen. Soldaten auf Zeit werden - statt bisher erst mit der Beförderung zum Gefreiten frühestens nach sechs Monaten - bereits nach drei Monaten nach A 2 besoldet. Sicherlich ein Fortschritt, aber unsere Forderung war, auch für Soldaten die Eingangsbesoldung gleich nach A 2 vorzunehmen. Die Differenz zwischen beiden Besoldungsgruppen beträgt im Monat etwa 70 DM. Unser Unmut darüber, mit dieser Forderung nicht durchgekommen zu sein, wird dadurch gemildert, daß der Gefreite in A 2 eine Amtszulage von 40 DM erhält, wodurch der Nachteil des Verbleibens in A 1 während der ersten drei Monate mehr als kompensiert wird. Auch das ist sehr zu begrüßen.
Ebenso zu begrüßen ist die Einführung eines neuen Spitzendienstgrades Stabsgefreiter, womit es möglich ist, auch Soldaten nach A 5 zu besolden, die den Unteroffizierslehrgang noch nicht absolviert hab en.
Erfreulich ist auch die Absicht, die Aufwandsentschädigung für Führer oder Ausbilder im Außenbzw. Geländedienst von monatlich 50 DM auf 100 DM zu verdoppeln und gleichzeitig in eine steuerpflichtige ruhegehaltsfähige Stellenzulage umzuwandeln.
An dieser Stelle kritisiere ich aber die Tatsache, daß unser Antrag zum Haushalt 1990, die Zulage für Kompaniefeldwebel deutlich zu erhöhen, nicht die Zustimmung des Haushaltsausschusses gefunden hat. Die Koalition hat diesen Antrag heute noch einmal im Verteidigungsausschuß eingebracht, und wir bitten jetzt schon sowohl den federführenden Innenausschuß als auch den Haushaltsausschuß um Unterstützung.
Mit der Absicht, die Aufwandsentschädigung für das fliegende Personal in eine ruhegehaltsfähige Stellenzulage umzuwandeln, wollen wir ein Versprechen erfüllen, das wir im vorigen Jahr im Zusammenhang mit der massiven Erhöhung dieser Aufwandsentschädigung gegeben haben.
Leider sieht der Entwurf keine Verbesserung der Zulagen für die Techniker im fliegerischen Bereich vor. Wir kennen die Bedenken des Bundesministers der Finanzen wegen der möglichen Präjudizwirkung für andere technische Bereiche. Diese Bedenken werden von den Kollegen im Verteidigungsausschuß nicht geteilt. Wir behalten uns vor, während der Ausschußberatungen des Gesetzentwurfs dieses Thema noch einmal anzusprechen.
Auch die beabsichtigte Erhöhung und Umwandlung der Aufwandsentschädigung im Marinebereich in ruhegehaltsfähige Stellenzulagen findet selbstverständlich unsere Zustimmung und unsere Unterstützung.
Dankbar sind wir auch dafür, daß die Bundesregierung das schwierige Kapitel der Stellenzulage im Flugsicherungsbereich angepackt hat. Mit den vorgesehenen Verbesserungen und der teilweisen Umwandlung der Erschwerniszulage in ruhegehaltsfähige Stellenzulagen ist ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Es ist jedoch nicht zu verhehlen, daß auch damit eine Gleichstellung der Soldaten mit ihren Kollegen aus dem zivilen Bereich noch nicht gegeben ist. Auch darüber muß bei der Ausschußberatung nachgedacht werden.
Auch daß die Gesetzesänderungen rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres in Kraft treten sollen, findet unsere Unterstützung, zumal das dafür notwendige Geld - ich sagte es bereits - , immerhin 112 Millionen DM, im diesjährigen Haushalt bereitsteht.
Zusammenfassend kann ich für meine Fraktion feststellen: Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf haben wir, Bundesregierung und Koalitionsfraktionen gemeinsam, auf einem wichtigen Feld der Personalpolitik, nämlich dem der Besoldungsstruktur, einen großen Schritt nach vorn getan. Das sollten auch Sie anerkennen, Herr Kollege Steiner. Damit haben wir noch einmal unterstrichen, daß sich die Soldaten auf uns verlassen können, wenn es darum geht, sich ihrer berechtigten Sorgen und Wünsche anzunehmen, und dies auch in einer Zeit, in der wir alle, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, eine Reduzierung der Verteidigungsausgaben verlangen.
({2})
Ich bin sicher, daß nicht nur die Soldaten, denen diese Verbesserungen zugute kommen, dies anerkennend und zustimmend zur Kenntnis nehmen, sondern auch der Bundeswehrverband, der uns in diesem Zusammenhang nicht immer fair behandelt; auch das sei einmal gesagt.
Die in diesem Gesetz vorgesehenen Verbesserungen schließen nahtlos an eine Fülle von positiven Veränderungen an, Herr Kollege Steiner, die wir in den letzten Monaten und Jahren im Bereich der sozialen Lage der Soldaten vorgenommen haben. Auch das ist
Ganz ({3})
ein Beweis dafür, daß wir dies als ständige Aufgaben sehen und nicht als eine einmalige Sache vor dem Wahltermin, wie Sie gesagt haben: Wahlkampf läßt grüßen. Sie wissen ganz genau, wie oft wir beide gerade in diesen Fragen hier am Pult gestanden haben.
Wir sind nicht der Meinung, daß damit alles abschließend geregelt ist. Ich habe die noch zu bewältigenden Aufgaben genannt, um deren Erledigung wir auch weiterhin bemüht sein werden.
Obwohl das Inkrafttreten des Gesetzes, wie ich sagte, rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres garantiert ist, bitte ich die mitberatenden Ausschüsse um zügige Beratung der Vorlage, damit die vorgesehenen Verbesserungen den Soldaten möglichst bald zugute kommen können.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Such.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann Sie erfreuen und mich zu diesem Tagesordnungspunkt mit drei Anmerkungen ebenfalls sehr kurz fassen.
Erstens. Grundsätzlich bemerke ich, daß sich der Deutsche Bundestag heute leider schon wieder mit Einkommensverbesserungen beschäftigen muß und über Gesetzesänderungen debattiert, nur weil die Betroffenen z. B., wie wir es eben gehört haben, im Flugsicherungsdienst den Beamtenstatus haben. Allerdings konnte ich mit Befriedigung zur Kenntnis nehmen, daß nun auch etwa die FDP über unsere Vorschläge nachdenkt, z. B. im Bereich der Leistungsverwaltung mehr mit Angestellten zu arbeiten, womit ich - ich sage das, um dies deutlich zu machen - nicht Privatisierung meine.
Zweitens. Es ist in der jetzigen Phase der Ost-West-Beziehungen ein allzu mühsamer Motivationsversuch, wenn die Bundesregierung einseitig auf die Erhöhung der finanziellen Attraktivität der Bundeswehr setzt. Dies wird auf Dauer den Motivationsverlust der Soldaten durch die zunehmende Sinnlosigkeit des Dienstes nicht ausgleichen können. Ich glaube, in den letzten Monaten ist das gerade in der Bundeswehr besonders deutlich geworden.
Drittens. Wenn irgend möglich, unterstützen wir jederzeit Einkommensverbesserungen für Beamte und Angehörige des öffentlichen Dienstes im Gleichklang mit der allgemeinen Einkommensentwicklung. Einseitige Zulagen für Militärbedienstete sind jedoch fehl am Platz. Zahlreiche Verbesserungen kommen den Zivildienstleistenden nicht zugute, etwa der Leistungszuschlag bei Wehrübungen, obwohl die längeren Dienstzeiten der Zivildienstleistenden stets mit der Belastung von Grundwehrdienstleistenden durch Wehrübungen begründet werden. Eine finanzielle Konsequenz wird daraus leider jedoch nicht gezogen. Bei diesem Beispiel will ich es belassen. Es zeigt, warum wir dem Gesetzentwurf jedenfalls in der jetzt vorliegenden Form nicht zustimmen können und ihn so nicht akzeptieren können.
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem vorliegenden Gesetzentwurf zum Bundeswehr-Attraktivitätsprogramm sind eine ganze Fülle von Maßnahmen enthalten, die die dringend notwendigen Verbesserungen im Bereich der unteren Einkommensgruppen, insbesondere der belasteten Positionen, vor allem der Soldaten, vorsehen. Dies ist ein entscheidender Schritt, der die Bewertung „attraktiv" wirklich verdient. Daran ändert auch die Mäkelei der Opposition nichts.
Herr Kollege Such, das, was Sie hier vorgetragen haben, werden die Soldaten mit Erstaunen zur Kenntnis nehmen.
(Such [GRÜNE]: Die Zivildienstleistenden
aber auch!
Ich bitte Sie, dies dann auch einmal z. B. beim Bundeswehrverband oder bei Besuchen in der Truppe genauso vorzutragen.
({0})
Für die FDP-Fraktion begrüße ich, daß erstens der Eingangsdienstgrad eines Schützen, Fliegers oder Matrosen ab dem vierten Monat nicht mehr nach A 1, sondern nach A 2 besoldet wird. Wir werden aber dazu kommen müssen, daß die Besoldungsgruppe A 1 auch bei der Bundeswehr wie in anderen Bereichen des öffentlichen Dienstes völlig gestrichen wird, und zwar möglichst bald.
({1})
Wir begrüßen es zweitens, daß bei der Beförderung zum Gefreiten bei Verbleib in der Besoldungsgruppe A 2 eine Amtszulage von 40 DM gezahlt wird.
Wir begrüßen es drittens, daß für Mannschaften ein neuer Spitzendienstgrad, nämlich Stabsgefreiter, mit der Besoldungsgruppe A5 eingeführt wird. Damit wird die Besoldungsgruppe A5 für den einfachen Dienst geöffnet.
Die Frau Staatssekretär hat auf die Verbesserungen für die Reservisten hingewiesen. Ich brauche das an dieser Stelle nicht zu wiederholen.
Ebenso verweise ich auf die Aussagen zu den Verbesserungen im Bereich der bisherigen Erschwerniszulage, die in eine Stellenzulage umgewandelt wird.
Und ich verweise darauf, daß die seit dem 1. Juli 1989 gezahlten Erhöhungen zu einer Reihe von Aufwandsentschädigungen nach zehnjähriger zulagenberechtigter Verwendung in ruhegehaltsfähige Stellenzulagen umgewandelt werden.
Die Stellenzulage für Führer und Ausbilder im Außen- und Geländedienst wird von 50 DM auf 100 DM verdoppelt. Die Erschwerniszulagen für UNolting
Boot-Besatzungen, Kampfschwimmer, Marinetaucher und die Besatzungen von Schiffen und Booten werden in ruhegehaltsfähige Stellenzulagen umgewandelt. Auch diese Verbesserungen werden von der FDP-Fraktion begrüßt.
Das sind Maßnahmen, die die finanzielle Situation unserer Soldaten an den entscheidenden Stellen verbessern. Wir müssen diese Verbesserungen allerdings durch andere Maßnahmen flankieren, damit die Attraktivität des Soldatenberufes in vielerlei Hinsicht weiter gesteigert werden kann. Ich denke da an den seit langem von uns geforderten Ausbau der Rechte des Vertrauensmannes, um nur ein Beispiel zu nennen.
Leider - darauf hat der Kollege Ganz hingewiesen - werden in dem vorliegenden Gesetzentwurf weitere Gruppen nicht berücksichtigt, die uns sehr am Herzen liegen. Ich denke hier an die Kompaniefeldwebel, die Prüfer von Luftfahrtgerät und die Techniker in fliegenden Verbänden, die ebenfalls berechtigte Forderungen nach einer Erhöhung ihrer Stellenzulage erhoben haben. Wir werden uns mit Nachdruck dafür einsetzen, daß diese Gruppen im Rahmen der Beratungen, spätestens aber im Haushalt 1991 berücksichtigt werden.
Trotz dieser Lücke liegt Ihnen ein Gesetzentwurf vor, der eine Vielzahl von Verbesserungen auf einen Schlag vorsieht. Ein derart umfangreiches Paket haben wir seit langem nicht mehr vorlegen können.
({2})
Wir beweisen damit - gerade das sage ich jetzt in Richtung Opposition - , daß die Probleme der Soldaten von uns gelöst werden. Ich sage an dieser Stelle: Wir Liberalen und natürlich die gesamte Koalition setzen uns für unsere Soldaten ein.
Ich hoffe, daß der Gesetzentwurf zügig beraten wird.
Vielen Dank.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/6544 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche
- Drucksache 11/5746 Überweisungsvorschlag des Altestenrates:
Ausschuß für Verkehr ({0})
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/6662 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Börnsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der unverblümte Bericht der Bundesregierung zum ÖPNV in der Fläche ist deutlich genug: Die Fahrgastzahlen gehen zurück, der Subventionsbedarf steigt, die Verkehrsdichte nimmt zu, die öffentlichen Verkehrsmittel verlieren an Attraktivität. Seit gut 20 Jahren - nicht erst seit gestern - befindet sich der ÖPNV in der Krise.
Wirtschaftswachstum, Zunahme des Wohlstandes aller, mehr Freizeit und höhere Mobilität der Menschen zwingen uns, den ÖPNV in unserer Gesamtverkehrsstrategie einer Reform an Haupt und Gliedern zu unterziehen. Der Bericht der Bundesregierung ist hierfür eine geeignete Diskussionsgrundlage.
({0})
Ich stelle fest: Der ordnungspolitische Rahmen reicht für diese „Maßanzüge vor Ort" aus. Es gilt, durch Kreativität den rechtlichen Spielraum zu nutzen.
({1})
In den zehn größten Verkehrsballungsräumen wird der einheitliche Tarif praktiziert. In den elf mittelgroßen Verkehrsräumen von Kiel bis Passau sind abgestimmte Tarife eingeführt worden. Über 50 % der gesamten Beförderungen werden bereits in der Kooperation Schiene/Straße geleistet. Hinzu kommen 340 Verkehrsverbünde, an denen Bundesunternehmen beteiligt sind und die bereits die Mehrzahl der Kreise erfaßt haben.
({2})
Kooperation und Koordination, Herr Weiss, „Maßanzüge vor Ort" sind die Schlüsselbegriffe für einen funktionierenden und attraktiven öffentlichen Personennahverkehr.
({3})
Sie werden zunehmend in den Regionen unseres Landes aufgegriffen und praktiziert, aber freiwillig, sachbezogen, ohne Zwang.
({4})
Der ordnungspolitische Rahmen des Personenbeförderungsgesetzes reicht offensichtlich aus, um Verkehrsverbünde mit unterschiedlicher Struktur, verschiedensten Partnern und auf regionale Verhältnisse abgestimmt bilden zu können.
Wer andauernd nach der Novellierung des PBefG ruft, sollte erst einmal in das Gesetz hineinschauen; Gestaltungsspielraum gibt es genug.
Der Zwang, die Verkehrsbedienung zu optimieren und Kosten zu senken, hat ganz offensichtlich zur Entwicklung ideenreicher, nachfragegerechter und ko15618
Börnsen ({5})
stenbewußter ÖPNV-Konzepte auf regionaler Ebene beigetragen.
Beispielhaft dafür ist das ÖPNV-Konzept im Kreis Schleswig-Flensburg, an der Grenze zu Dänemark. Vorbildlich für die Planung aus einem Guß ist die Verknüpfung von Bus und Schiene auf der Strecke Kiel-Flensburg. Die Bundesbahn ist hier Partner des Verkehrsverbundes. Durch die Einführung des Stundentaktes, die Erweiterung der Zusammenarbeit mit dem Bus, den Einsatz neuer komfortabler Reisewagen und die Einrichtung attraktiver Bahnhöfe als ÖPNV-Verknüpfungspunkte
({6})
profitiert sie, die Bahn, vorrangig vom Verbund. Die Fahrgastzahlen auf der Strecke Kiel-Flensburg wurden innerhalb eines Jahres um 10,6 % gesteigert. Dazu hat ein durchgehender Fahrausweis für Bus und Bahn beigetragen, ebenso die Durchtarifierung der Nahverkehrslinien zum Oberzentrum hin und die Durchhaltung des Prinzips: ein Fahrplan, ein Fahrschein, ein Tarif.
({7})
Unter der umsichtigen Federführung des Kreises ist es gelungen, unterschiedlichste Partner von der Bahn über die Autokraft, die kreiseigenen Verkehrsbetriebe bis zu mehreren privaten Busunternehmen in eine Verkehrsverantwortungsgemeinschaft zusammenzuführen.
({8})
- Ich sage es deshalb, um anderen Mut zu machen, ähnlich voranzugehen. - Die Einbindung des freigestellten Schülerverkehrs war die Grundlage dieses beispielhaften ÖPNV-Konzeptes. Die Errichtung neuer Linien, Veränderung der Linienführung, Erhöhung der Bedienungshäufigkeit, der Abbau von Parallelverkehr und verbesserte Umsteigemöglichkeiten schufen einen wirklich effektiven ÖPNV. Trotz Rückganges der Schülerzahlen um 20 % infolge geburtenschwacher Jahrgänge konnten die Fahrgastzahlen in diesem Raum leicht erhöht,
({9})
die Zuschußfinanzierung begrenzt und damit ein überzeugendes Signal beispielhaft gesetzt werden.
Guter Wille aller Beteiligten war notwendig. Kooperationsbereitschaft und die Umsetzung des bestehenden Konzeptionsrechts, all das kann dazu führen, daß der ÖPNV optimiert wird. Wo Schienen vorhanden sind, muß die Schiene auch genutzt werden - eine Forderung, die mein Kollege Eduard Oswald immer mit Recht stellt; er sieht, daß die Schiene dort auch eingebunden wird.
Wer andere, kleine und neue Bedienungsformen haben will, vom Ruf- bis zum Sammeltaxi, kann das heute durch das PBefG genauso wie jetzt durch die Erleichterungen des Dritten Rechtsbereinigungsgesetzes.
Die Bundesregierung hat hier konsequent gehandelt.
({10})
Das gilt für das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz, für die Förderung von Omnibussen, das gilt auch für den Anstoß an die Deutsche Bundesbahn, eine Vereinbarung mit dem privaten Omnibusgewerbe zu treffen - eine hervorragende Lösung -, das gilt auch für die Förderung des Nahverkehrs insgesamt. Allein durch GVFG-Mittel der Jahre 1989 bis 1993 werden 462 Vorhaben mit einem Aufwand von über 1 Milliarde DM finanziert. Es wird wirklich konkret etwas geleistet.
({11})
Die Förderung der Erst- wie der Ersatzbeschaffung von Linienomnibussen mit jährlich 100 Millionen DM gehört ebenfalls auf das Pluskonto für die Bundesregierung.
({12})
Es fällt mir aber schwer, die Mittel des Bundes für Strukturhilfemaßnahmen als Finanzierungsquelle für den ÖPNV zu empfehlen. Das geht eben nur, wenn die Länder, die diese Entlastung durch Strukturhilfemittel erhalten, in der Form von ÖPNV-Ausgleichszahlungen an die Verkehrsverbände diese Leistungen weitergeben. Eine Diskussion über die Wiedereinführung der Gasöl-Betriebsbeihife halte ich in diesem Rahmen für angemessen, Herr Staatssekretär.
Die besonderen Sorgen des ländlichen Raumes dürfen wir aber nicht unberücksichtigt lassen. Es geht darum, daß wir die Investitionshilfen des Bundes für die großen Ballungsräume ebenso berücksichtigen wie die Notwendigkeit, im ländlichen Raum in den öffentlichen Personennahverkehr verstärkt zu investieren.
({13})
Ich sehe sehr wohl, daß auch der Anteil des ÖPNV - gerade durch die verstärkte Förderung der Ballungsräume in den letzten 20 Jahren, die notwendig war - am Gesamtkonzept, am Gesamtverkehr ständig gefallen ist: von 33 % im Jahr 1960 auf 18 % - so wird prognostiziert - im Jahre 2000. Das heißt: Wir haben es mit einem laufenden Abbau des ÖPNV zu tun. Das muß uns dazu führen, über eine verstärkte Attraktivität des ÖPNV nachzudenken und dafür auch Vorschläge zu machen.
({14})
Ein leistungsfähiger ÖPNV im ländlichen Raum erhöht - das müssen wir sehen - die Lebensqualität
Börnsen ({15})
gerade für ältere und jüngere Mitbürger und für die Nichtbesitzer von Führerscheinen genauso.
({16})
Er garantiert mehr Verkehrssicherheitsqualität durch weniger Unfälle. Er dient der Umweltqualität, weil er weniger Energie verbraucht, weil er zu weniger Lärm und zu weniger Schadstoffen führt.
Für diesen ÖPNV muß geworben werden. Wer ihn anordnen will, bestraft die Menschen des ländlichen Raumes. Die Einführung einer teuren Öko-Abgabe ist eine solche Strafsteuer, die den autoabhängigen Pendler belastet und zur massenhaften Abwanderung aus den Dörfern führen würde.
Eine Holzhammermethode im ÖPNV ist unangemessen.
({17})
Einsicht, Werbung und Förderung sind gefragt. Die von Parlament und Regierung angeregte ÖPNV-Reform kann den entscheidenden Beitrag dazu leisten, weil sie erstens zur Sicherung eines ausreichenden ÖPNV-Angebots in der Fläche führt, zweitens die Verlagerung der konzeptionellen und organisatorischen Zuständigkeit vor Ort ermöglicht, drittens Klarheit bei den Kompetenzen schafft, viertens Offenheit in den Kooperations- und Organisationsformen garantiert, fünftens öffentliche wie private Verkehrsträger einbindet und sechstens die Finanzverantwortung der Länder betont.
({18})
Dieses Konzept kann, wie ich finde, eine hervorragende Ausgangsbasis für die intensive Behandlung in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages sein.
Danke schön.
({19})
Das Wort hat der Abgeordnete Kretkowski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist bald fünf Jahre her, daß der Deutsche Bundestag die Bundesregierung am 26. Juni 1985 - damals übrigens einstimmig ({0})
aufgefordert hat, unverzüglich ein Konzept für die zukünftige Ausgestaltung des ÖPNV in der Fläche vorzulegen:
({1})
eine Konzeption für 34 Millionen direkt betroffener Mitbürgerinnen und Mitbürger im ländlichen Raum, Hunderte von Millionen Fahrten pro Jahr zum Arbeitsplatz, zu Amtern, Schulen, Krankenhäusern sowie in Mittel- und Oberzentren des ländlichen Raumes unseres Landes; ein Konzept, das den ökonomischen und ökologischen Bedürfnissen und den verkehrspolitischen Notwendigkeiten einer arbeitsteiligen, hochtechnisierten und mobilen Gesellschaft in den 90er Jahren und über die Jahrtausendwende hinaus entsprechen sollte; ein Konzept, das die lebensnotwendige Daseinsvorsorge, ÖPNV in der Fläche, stabilisieren und sichern, fördern und ausbauen sollte; kurzum ein Konzept, das den Menschen nützt, weil es Mobilität zur Existenzsicherung gewährleistet, ein Konzept, das die Umwelt schützt, ein Konzept, das Ressourcen spart.
Dankenswerterweise hatte es der Kollege Dr. Jobst in seinem Ausschußbericht übernommen, die Bundesregierung aufzufordern - ich zitiere aus der Drucksache 10/3488 -,
eine Gesamtkonzeption zu entwickeln, die insbesondere folgenden Inhalt hat:
1. Volle finanzielle Abgeltung aller gemeinwirtschaftlichen Leistungen, die die Deutsche Bundesbahn auf dem Gebiet des öffentlichen Personennahverkehrs erbringt, aus dem Bundeshaushalt.
2. Kooperation der Deutschen Bundesbahn mit anderen Trägern des öffentlichen Personennahverkehrs in der Fläche.
3. Bessere Abstimmung und Aufgabenteilung zwischen Schienen- und Busverkehr der Deutschen Bundesbahn.
4. Verstärkte Einführung einer kostengünstigen vereinfachten Betriebsweise auf den Nebenstrekken.
5. Verbesserung des Verfahrens bei Streckenstillegungen.
Die von der SPD geforderte Wiedereinführung der Gasölbetriebsbeihilfe
({2})
für die Unternehmen des ÖPNV unter Verwendung der Mittel des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes wurde damals abgelehnt.
Auch die fünfjährige „Bearbeitungszeit" gibt keinen Anlaß, heute das Ergebnis zu feiern. Aus der geforderten Konzeption ist ein dürrer Bericht geworden. Die Urteile sind deshalb auch mehr als vernichtend, lauten die Bewertungen der Vertreter von Verbänden, Interessengruppen und Fachleuten aus Bundesländern und Kommunen, und zwar Parteigrenzenübergreifend, doch wie folgt: beschränkte Bestandsaufnahme, unzureichend, wird Umweltgesichtspunkten nicht gerecht, enthält teilweise Zielsetzungen, die schon seit Jahren definiert und unbestritten sind, wird dem Auftrag des Deutschen Bundestages nicht gerecht.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Bericht enthält keine ausreichende und den Anspruch einer Konzeption rechnungtragende Aussage zu den eigentlichen Problemen des ÖPNV, wo der Bund gefragt ist, weil er dort die Verantwortung trägt, nämlich bezüglich seiner Finanzierung, der Klärung der Ausgaben- und Aufgabenverantwortung zwischen Bund,
Ländern und Kommunen sowie der Neubestimmung des ordnungsrechtlichen Rahmens.
Das jetzt zum Bericht degradierte Konzept zum öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche ist Ausdruck einer Politik der sachlichen Kompetenzlosigkeit und verkehrspolitischen Konzeptionslosigkeit.
({3})
- Ich sage es.
Hatte sich doch noch im September 1987 - hören sie gut zu - eine Arbeitsgruppe im Verkehrsministerium für eine stärkere und radikale Förderung des ÖPNV ausgesprochen,
({4})
wurde auch die Gasölbetriebsbeihilfe für wünschenswert erachtet und sollten schließlich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Busse und Bahnen mit der Novellierung des Personenbeförderungsgesetzes verbessert werden - nichts ist davon übriggeblieben. Mehr war wohl auch nicht von einem Auslaufmodell Bundesverkehrsminister zu erwarten.
({5})
Sie, meine Damen und Herren, geben keine Antwort auf die Fragen: Soll der ÖPNV nach dem GVFG stärker gefördert werden? Soll der ÖPNV von der Mineralölsteuer befreit werden? Wie sollen die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert werden? Sollen die Plafondierungsbeschlüsse beim GVFG zurückgenommen werden, die sich verheerend ausgewirkt haben? Wie soll der Finanzausgleich mit den notwendigen fiskalischen Mitteln gestaltet werden? Wie sollen die Aufgaben- und Ausgabenverantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen geregelt werden? Wann soll der Rückzug der Deutschen Bundesbahn aus der Fläche endlich gestoppt werden? Wie sieht der neue Ordnungsrahmen für den ÖPNV aus?
Ebenso reichen die für die Deutsche Bundesbahn vorgeschlagenen Maßnahmen nicht aus, den ÖPNV auf Dauer in der Fläche zu sichern, sind doch der Zustand vieler Bahnstrecken und das darauf fahrende Wagenmaterial für jedermann sichtbare Zeichen des Rückzugs.
({6})
Meine Damen und Herren, der Bericht der Bundesregierung zeigt deutlich:
Erstens. Die Bundesregierung ist in verkehrspolitischen Sachfragen konzeptionslos.
Zweitens. Sie ist leichtfertig in Fragen des Umweltschutzes sowie in Fragen der Ressourcenvergeudung durch den Individualverkehr.
({7})
Drittens. Sie ist begehrlich in Fragen der Zuweisung der Verantwortung von sich auf andere, für den ÖPNV in der Fläche auf die Länder und Kommunen.
Viertens. Sie läßt Millionen Bürgerinnen und Bürger im ländlichen Raum mit ihren Verkehrsproblemen allein.
Fünftens. Sie ist verantwortlich für die katastrophale Situation des öffentlichen Personennahverkehrs und mißachtet die dringend erforderlichen Maßnahmen mit der ihr eigenen Beharrlichkeit.
Meine Damen und Herren, wir haben nicht noch einmal fünf Jahre Zeit. Der Zug in das Verkehrschaos ist längst abgefahren. In fünf Jahren ist der ÖPNV, insbesondere in der Fläche, endgültig kaputt. Für die SPD ist deshalb klar:
Erstens. Der ÖPNV ist sparsamer im Energieverbrauch, umweltschonender und sicherer als der Individualverkehr.
Zweitens. Nur ein attraktiver ÖPNV wird von Autofahrern als echte Alternative aufgegriffen.
Drittens. Die Politik der vorrangigen Förderung des ÖPNV muß daher einer der wichtigsten Akzente sein, der die Verkehrspolitik trägt.
Deshalb fordern wir u. a. den Stopp des Rückzugs der Deutschen Bundesbahn aus der Fläche, einen neuen Ordnungsrahmen für den ÖPNV, die Verbesserung des rechtlichen Rahmens, eine stärkere finanzielle Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs nach dem GVFG, die Rücknahme der Plafondierungsbeschlüsse beim GVFG und eine Regelung zur Aufgaben- und Ausgabenverantwortung zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
Meine Damen und Herren, Herr Dr. Zimmermann hat vor dem Verkehrsausschuß u. a. gesagt:
Wer das Wachstum bejaht, der muß auch Sorge dafür tragen, daß es verkraftbar wird. Ordnungsund Investitionspolitik müssen Hand in Hand gehen. Erhöhung der Attraktivität der aufnahmefähigen Verkehrsträger, Beseitigung von Engpässen durch gezielten Ausbau der Infrastruktur und bessere Nutzung der vorhandenen Infrastruktur durch neue Techniken sind die Antwort auf diese Herausforderung.
Eine richtige Aussage. Wenn man diese Aussage dem Bericht entgegenhält, sind das allerdings nichts als Sprechblasen.
Die Bundesregierung hat wieder einmal eine Chance vertan, und Sie von der Koalition haben nichts dazugelernt. Der noch amtierende Bundesverkehrsminister läuft aus, der ÖPNV darf nicht auslaufen.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gries.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, die Diskussion hat nicht zum erstenmal gezeigt, daß kein Mensch in diesem Haus, in den Fraktionen, in den Parteien ein Patentrezept hat. Alle reden vom ÖPNV, und alle wollen ihn. Ich kenne niemanden, der das anders wollte. Ich habe aber nicht gehört, wie man das besser lösen könnte, und ich habe noch von niemandem gehört, woher das Geld dafür kommen soll. Das muß ich dabei nämlich auch überlegen.
Unbestreitbar ist - die Entwicklung zeigt das, und jeder von uns, der mit sich selbst ein bißchen ehrlich umgeht, nicht nur politisch, sondern auch als Mensch, macht diese Erfahrung - , daß natürlich in der Fläche, wobei wir nur über ÖPNV in der Fläche reden, das Auto das Bewegungsmittel für Beruf und Freizeit ist und bleibt. Wer daran vorbeiredet, läuft nur ideologischen Schimären, aber nicht der Realität nach.
({0})
Wenn man sich die Entwicklung des ÖPNV ansieht, stellt man fest, daß er in der Fläche abnimmt,
({1})
und auch die Prognosen gehen in die gleiche Richtung. Er nimmt ab, er ist auf der Schiene nicht finanzierbar, und er ist selbst auf der Straße als Omnibus - auch das rechnen wir zum ÖPNV - nicht rentabel. Das müssen wir einfach sagen; alles andere ist nur Gerede um die tatsächlichen Entwicklungen herum.
({2})
Die Bevölkerungsentwicklung - es handelt sich nicht nur um den Rückgang des Schülerverkehrs - spricht nicht zugunsten des ÖPNV, sondern zugunsten des individuellen Bewegungsmittels, und das ist das Auto. Ich als Liberaler stehe nicht an, den Leuten dieses Recht zu geben, sich in der Fläche so zu bewegen, denn sonst können sie sich überhaupt nicht bewegen.
({3})
Das ist in den Ballungsgebieten etwas ganz anderes, und das wird sich auch durch Aus- und Übersiedler nicht wesentlich verändern, weil die sich nun wiederum, auch gewollt und gar nicht kontrollierbar, zunächst in den Ballungsgebieten ansiedeln. In der Stadt, in den Ballungsgebieten - darüber brauchen wir nicht zu reden - ist der ÖPNV wirklich unverzichtbar, weil das individuelle Verkehrsmittel das über die Straße gar nicht leisten kann. Hier brauchen wir schienen- und straßengebundene Massenverkehrsmittel; darüber gibt es überhaupt keinen Streit.
Die große Gefahr ist in der Tat, daß der ÖPNV mit der Förderung in bisheriger Höhe vor dem Kollaps steht. Wir werden also umdenken müssen. Was die Finanzierung angeht, haben wir erste Schritte getan:
({4})
z. B. bei der Anschaffung des Materials, bei der Finanzierung von Modellen.
Wir werden auch in der Kooperation der Verkehrsträger umdenken müssen. Das scheint mir das Wichtigste zu sein.
({5})
Ich sage das hier mal ganz deutlich. Die Bundesbahn haben wir schon dahin gebracht, daß sie sich von ihrem Prestige, von ihren ererbten Rechten, von ihren Lizenzen und Genehmigungsvorrechten löst. Es muß sich eine enge Kooperation zwischen privaten Verkehrsträgern und der Bundesbahn bilden.
({6})
- Ich sage mal: Das ist unser gemeinsamer Erfolg, weil wir auf demselben Weg gegangen sind.
Das scheint mir das Wichtigste zu sein. Bei dem öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche möchte ich sogar sagen: Ich gebe den privaten Verkehrsträgern hier den Vorrang, weil sie flexibler und auch kostenbewußter sind. Sie bringen bessere Angebote als das, was selbst privatisierte Bundesbahn, Busunternehmungen, zustande bringen können. Das sollte man einfach sehen.
Wir sollten uns aber auch nicht über die Verantwortung täuschen. Der Bund hat die Verantwortung für die Schiene, soweit es die Bundesbahn angeht. Die Länder und erst recht die Kommunen können sich nicht vor ihrer Verantwortung drücken. Ich selber habe Verantwortung in einer Kommune. Wir haben ein Stück Eisenbahn gekauft. Wir machen einen eigenen Verkehrsverbund, koordinieren das mit privaten Busunternehmern.
({7})
Ich weiß, was das kostet. Ich weiß auch um das Risiko. Wir machen den Versuch. Wir haben es aber entschieden. Wir haben die Musik bestellt, jetzt werden wir sie auch bezahlen. Man kann das nicht immer nur auf den Bundesverkehrsminister, auf die Bundesregierung oder auf den Bund generell schieben und sich selber vor der Verantwortung drücken.
({8})
Hier gibt es eine klare Funktions- und auch Finanzverantwortung.
Ich bin auch der Meinung, gerade weil keiner ein Rezept hat, ist diese Formulierung in dem Bundesprogramm völlig richtig, einen Maßanzug zu schneidern nach den kommunalen, nach den örtlichen Gegebenheiten, nach den Möglichkeiten, nach dem Bedarf und den Möglichkeiten, diesen Bedarf abzudecken. Ich denke, daß man unter diesen Gesichtspunkten weiterkommen kann.
Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung sage ich noch zwei Sätze dazu, auch in Richtung Staat und Bundesbahn: Es darf auch nicht etwa dazu kommen, daß die Bundesbahn, nach wie vor auf alten Rechten pochend, so eine Art Diktatur über die Subunternehmer über Preise, Konzessionen und Konditionen ausübt, sondern hier muß es ein sehr flexibles Miteinander geben. Ich denke, daß wir dann den richtigen Weg gehen können.
Notwendig ist, daß wir für den Start und zum Teil auch für den Betrieb finanzielle Hilfen geben. Ich
denke, daß der Bund deutlich gemacht hat, daß er dazu bereit ist.
Vielen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Weiss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorliegende Bericht der Bundesregierung ist wirklich das Eingeständnis, daß sie in der Politik für den öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche versagt hat.
({0})
Zu Beginn dieser Legislaturperiode ist Bundesverkehrsminister Warnke angetreten und hat groß verkündet: Wir müssen etwas für den öffentlichen Personennahverkehr in der Fläche tun.
({1})
Er hat wortwörtlich gesagt: Mehr als Streckenstillegungen müssen wir uns schon einfallen lassen.
({2})
Aber was ist geschehen? Dieser Satz, diese Sprüche sind genauso passé wie der Bundesverkehrsminister Warnke.
({3})
Der öffentliche Personennahverkehr in der Fläche hat, wenn es nach diesem Bericht geht, auch nicht mehr Zukunft als der Bundesverkehrsminister Zimmermann. So schaut es tatsächlich aus.
In der Tat wird über den ÖPNV in der Fläche seit Wochen, seit Jahren, seit Jahrzehnten geschrieben, es werden Rezepte gemacht, aber es werden immer wieder Gründe gefunden, sie nicht zu realisieren.
Es gab die verschiedensten Ansätze. In der 10. Legislaturperiode den Gesetzentwurf des Bundesrates. Den hat der Verkehrsausschuß damals mit der Begründung abgelehnt, daß er noch nicht ganz entscheidungsreif sei. Es sind wieder fünf Jahre vergangen, und ich frage Sie: Wann ist für Sie etwas entscheidungsreif? Das bedeutet doch, der ÖPNV in der Fläche soll ausgesessen werden, bis er ausgestorben ist. Das ist die Politik dieser Bundesregierung.
({4}) Wir müssen einfach feststellen:
Erstens. Es gibt eine klare Zuständigkeit. Der Bund ist verantwortlich für die Deutsche Bundesbahn
({5})
und kann sich nicht einfach, wie er es in den letzten Jahren getan hat, immer weiter aus seiner Verantwortung zurückziehen. Der Teil Bundesbahn ist Verantwortung des Bundes. Dazu muß man sich bekennen, auch zu einem flächendeckenden ÖPNV.
({6})
- Auch wenn es natürlich richtig ist, daß die Länder für den ÖPNV zuständig sind,
({7})
so kommt es dennoch auf den rechtlichen Rahmen an; denn der Bund hat mit dem Personenbeförderungsgesetz Maßstäbe gesetzt. Wie schaut es denn aus? Es gibt viele Kommunen, Landkreise, die etwas tun möchten, die aber daran gehindert sind, weil es zum Teil nicht möglich ist,
({8})
weil es einen Kompetenzwirrwarr gibt, weil es zahlreiche Altkonzessionen gibt, weil es eben nicht gelungen ist, ein politisches Konzept aus einem Guß zu erstellen.
Ich frage Sie: Wären Sie als Kommune bereit, Geld zu investieren,
({9})
wenn man Ihnen keine Möglichkeit gibt mitzuentscheiden, mitzugestalten? Hier sind andere ordnungspolitische Voraussetzungen notwendig; denn in der Tat wäre es sinnvoll, wenn zumindest im Nichtbundesbahnteil des ÖPNV die Kommunen stärkere Verantwortung bekämen.
({10})
In dem Bundesland, aus dem der Staatssekretär kommt, haben die Landkreise stärkere Verantwortung. Das hat sich hervorragend bewährt. Warum versucht man nicht generell, im Rahmen des Personenbeförderungsgesetzes die Landkreise und Kommunen zu stärken und ihnen mehr Entscheidungsmöglichkeiten zu geben?
Lassen Sie mich noch eines sagen. Ich habe heute oft das Gefühl, daß im Bereich der Deutschen Bundesbahn der Nahverkehr das ungeliebte Kind ist, dem die Defizite gerne zugerechnet werden. Bei einer genaueren Analyse der Zahlen der Bundesbahn stellt man nämlich fest, daß die großen Defizite eben nicht im Nahverkehr eingefahren werden. Da werden die Defizite, die letztlich von Prestige- und Fernverkehrsprojekten verursacht worden sind, hingerechnet. Man hält sich bei der Bahn immer noch soviel ÖPNV, wie man braucht, um die Defizite hinrechnen zu können.
({11})
Ich denke, hier muß der Bund endlich einsteigen und bei der Bahn für Klarheit sorgen, damit nicht immer der Nahverkehr das ungeliebte Kind ist, das geschimpft wird, letztlich aber gemolken wird. Hier muß Klarheit geschaffen werden, daß die Mittel, die der Bund 1991 für den Schienenpersonennahverkehr bereitstellt, auch tatsächlich dafür ausgegeben werden.
Wenn die Politik der Bundesbahn so ist, wie es ein Mitglied des Bundesbahnvorstandes, Hemjö Klein, im Jahre 1988 auf einer Tagung in Bamberg formuliert hat, daß es im Sinne der Daseinsvorsorge besser wäre, „konsequenterweise diese ÖPNV-Mittel in diesen InWeiss ({12})
dividualverkehr zu stecken, damit es keine Zulassungslücken gibt", dann ist das schlicht und einfach bezeichnend dafür, daß die Bahn kein Interesse am ÖPNV in der Fläche hat. Offensichtlich ist die Bundesregierung auch nicht gewillt, der Bahn ein Interesse daran beizubringen. Hier liegen schwere Versäumnisse. Ich sehe schwarz, daß es mit dieser Bundesregierung überhaupt Möglichkeiten gibt, der Bevölkerung auf dem Land eine andere Mobilität anzubieten als die mit dem Auto.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Verkehr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine Reihe von Forderungen des Deutschen Bundestages sind mittlerweile erfüllt. Vieles war beim öffentlichen Personennahverkehr im Fluß und konnte inzwischen abgeschlossen werden.
({0})
Wichtige realisierte oder eingeleitete Einzelmaßnahmen sind z. B. die Neuorganisation des Bahnbusdienstes, die Rahmenvereinbarungen zwischen Bundesbahn und den Ländern, die Durchführung von Modellvorhaben, die Entwicklung neuer Bedienungsformen, die Bildung von Kooperationen, die Integration des Schülerverkehrs in den ÖPNV und die Förderung der Beschaffung von Omnibussen. Mit diesen Schritten, die über den Rahmen eines bloßen Konzepts hinausgehen, erklärt sich auch die Umbenennung von „Konzept" in „Bericht". Gleichwohl enthält der Bericht noch eine Vielzahl konzepitoneller Elemente. Sie werden auch nicht durch die Feststellung in Frage gestellt, daß vor grundlegenden Änderungen des geltenden Ordnungsrahmens erst einmal die bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen sind.
Keineswegs will ich die kritischen Stellungnahmen von Ländern und Verbänden übergehen. Sie sind aus der jeweiligen Interessenlage verständlich, vor allem aus dem Wunsch nach einem stärkeren finanziellen Engagement des Bundes. Aber die begrenzte Zuständigkeit des Bundes - ihm gehört die Bundesbahn -, der Art. 104 a des Grundgesetzes, also das geltende Recht, und die Länderfinanzverfassung stehen dem Wunsch nach umfassenden Änderungen entgegen.
({1})
Wenn es eines gibt, meine Damen und Herren, das örtlich gelöst werden muß, dann ist es wohl der Nahverkehr. Der Dialog Bund/Länder über den ÖPNV muß fortgesetzt werden. Der Bericht markiert keineswegs das Ende der Gespräche.
({2})
Im Mai wird es eine nächste Runde zwischen Bund
und Ländern geben. Nicht förderlich ist allerdings
eine Haltung, die dem Bund alles abverlangt, den Beitrag der Kommunen und der Länder so gering wie möglich zu halten versucht, die bei den Finanzverhandlungen Bund/Länder die Plafondierung des GFVG akzeptiert, damit die Hilfen des Bundes in die allgemeine Länderkasse fließen, und dann die Wiedereinführung der Gasölbetriebsbeihilfe verlangt.
Meine Damen und Herren, in diesem Sinne trägt der ÖPNV-Bericht zur Klarheit bei. Diese Klarheit wird dadurch ergänzt, daß der Bund mehr als alle Partner zusammengenommen den ÖPNV finanziert.
({3})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt Überweisung der Vorlage auf Drucksache 11/5746 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Der Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/6662 soll an dieselben Ausschüsse wie die Unterrichtung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Dann kommen wir zum letzten heutigen Tagesordnungspunkt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 31. Oktober 1988 zu dem Übereinkommen von 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigung betreffend die Bekämpfung von Emissionen von Stickstoffoxiden oder ihres grenzüberschreitenden Flusses
- Drucksache 11/6564 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schmidbauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der internationalen und bilateralen Konferenzen in der Umweltpolitik ist in den letzten zehn Jahren sprunghaft angestiegen. Ich denke, dies ist kein Zeichen übertriebenen Aktionismus, sondern die zwingende Erkenntnis, daß es gilt, einerseits schnell und intensiv bereits bestehende Schäden zu beseitigen und andererseits gemäß dem Vorsorgeprinzip das Übel an der Quelle zu bekämpfen, da viele Schadstoffe ihre schädigende Wirkung erst langfristig zeigen. Dies ist bei den Stickoxiden mit Sicherheit der Fall.
Luft, Wasser und Boden - ehemals sogenannte freie Güter - sind keine kostenlosen Entsorgungsmedien, sie sind mittlerweile zu einem kostbaren und, wie ich denke, sehr knappen Gut geworden.
({0})
Jeder ist verpflichtet, von sich aus Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu ergreifen.
Ein Baustein innerhalb der weltumspannenden Aufgabe zur Reinhaltung der Luft war die Konferenz in Sofia im vergangenen Oktober über weiträumige, grenzüberschreitende Luftverunreinigungen. Dort wurde das seit bereits 1979 bestehende Übereinkommen noch um die Vereinbarung über die Bekämpfung von Stickoxidemissionen ergänzt.
({1})
Als ich mir heute die Debatte über den Nordseeschutz und die Frage, von der Konferenz auszuziehen oder nicht, angehört habe, wurde ich auch hier wieder einmal bestätigt, daß es mehr nutzt, wenn unsere Vertreter in diesen Konferenzen zäh ringen, als wenn sie sich verabschieden und sich aus der Verantwortung stehlen.
({2})
Auch wenn ein Landesminister aus Schleswig-Holstein, Herr Heydemann, noch einmal davon gesprochen hat: Es ist kein Zeichen guten Stils, die Türen zuzumachen. Man muß sie wieder aufmachen. Deshalb an dieser Stelle herzlichen Dank unserem Umweltminister. Klaus Töpfer hat dort nicht nur seinen Mann gestanden, sondern darüber hinaus auch zusätzliche, wichtige Erfolge erzielt.
({3})
Das heute in erster Lesung vorliegende Protokoll ist insofern von besonderer Bedeutung, als es international zum erstenmal den erheblichen Anstieg der Stickoxidemissionen begrenzen wird. Es ist auch ein wichtiger Punkt, dies international zu erreichen. Zu unserer Situation kommt noch hinzu, daß etwa die Hälfte der Stickoxidbelastungen aus grenzüberschreitenden Emissionen der Nachbarstaaten stammt. Es ist deshalb besonders wichtig, daß wir uns international vereinbaren.
Das Protokoll enthält vor allem folgende Verpflichtungen:
Erstens. Die gesamten nationalen Stickoxidemissionen, insbesondere aus Kraftwerken, industriellen Feuerungsanlagen sowie dem Kfz-Verkehr, sind bis 1994 auf den Stand von 1987 einzufrieren. Dies erfordert sicher für viele Länder sehr umfangreiche Reduzierungsmaßnahmen.
Zweitens. Die einzelnen Staaten sind aufgefordert, Grenzwerte einzuführen, die den jeweiligen Stand der Technik in nationale Emissionsnormen umsetzen, d. h. die Techniken, die zur Verminderung von Stickstoffoxiden verfügbar sind, sind anzuwenden, und zwar für alle Bereiche: für Kraftwerke, für industrielle Feuerungsanlagen sowie für Kraftfahrzeuge.
Drittens - für uns ein wichtiger Punkt - : Bleifreies Benzin muß spätestens zwei Jahre nach Inkrafttreten des Protokolls allgemein verfügbar sein. Dies ist im Bereich von Europa auch für unsere nationalen Maßnahmen wichtig.
Zusätzlich - ich habe bereits darauf hingewiesen - zum Protokoll haben zwölf Staaten, die Bundesrepublik Deutschland, Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Italien, Liechtenstein,
Niederlande, Norwegen, Schweden und die Schweiz - ich habe das ausführlich aufgeführt, damit klar ist, wer nicht dabei war; auch dies hat mich an die Aktuelle Stunde heute erinnert - , in einer gemeinsamen Erklärung vereinbart, die ebenfalls im Oktober vergangenen Jahres in Sofia unterzeichnet wurde, ihre gesamten jährlichen Stickoxidemissionen um mindestens 30 % bis 1998 gegenüber dem Emissionsniveau eines Jahres zwischen 1980 und 1986 zu verringern. Dies bedeutet in der Tat eine zusätzliche Entlastung der Umwelt.
Die Selbstverpflichtung der Bundesregierung ist hiermit vollzogen. Das bedeutet, bezogen auf das Jahr 1982: Damals wurden insgesamt rund 3 Millionen Tonnen Stickoxide aus Kraftwerken, Industrieanlagen, dem Haushalts- und Kleinverbraucherbereich sowie dem Straßenverkehr emittiert, wobei der Verkehrsbereich allein für insgesamt 1,7 Millionen Tonnen verantwortlich war. Die Erfüllung der von der Bundesregierung eingegangenen Verpflichtung setzt also voraus, daß wir bis spätestens in den 90er Jahren rund 900 000 t Stickoxide weniger emittieren werden. Dieses Ziel ist für uns erreichbar. Bereits 1995 werden wir voraussichtlich nur noch 1,7 Millionen t Stickoxidemissionen aus diesen Bereichen haben. Das entspricht immerhin einer Reduzierung um 40 %.
({4})
Wenn einmal über Erfolg in der Umweltpolitik gesprochen wird, darf das nicht unerwähnt bleiben. Hier wird sehr deutlich, was passiert ist.
Herr Stahl, weil wir insofern überhaupt nicht auseinander sind, will ich Ihnen sagen, daß allein auf Grund der Großfeuerungsanlagen-Verordnung und der TA Luft die 1,2 Millionen t Stickoxide aus diesen Anlagen auf weniger als 600 000 t NOx und damit bereits um 50 % reduziert sind.
({5}) Das ist ein ganz entscheidender Punkt.
Ich wundere mich immer wieder darüber, daß wir in Nordrhein-Westfalen, wenn es um diese Fragen geht, völlige Übereinstimmung haben. Aber das war ein Stück harte Arbeit der Bundesrepublik Deutschland, sprich: der Bundesregierung. Nicht zuletzt auf dieser Konferenz ist auch dafür gesorgt worden, daß dies nicht das Ende war, sondern daß diese Entwicklung vernünftig, in einem sehr vernünftigen europäischen Rahmen weitergeht.
Im Mittelpunkt all dieser Maßnahmen - das will ich nicht verschweigen - wird der Verkehrsbereich zu stehen haben. Die Zunahme sowohl der Zahl der Pkw als auch der Zahl der Lkw erfordert Maßnahmen im Sinne einer ökologischen Effizienz. Ende vergangenen Jahres waren in der Bundesrepublik Deutschland erstmals knapp über 30 Millionen Pkw zugelassen. Je nach Rahmenbedingungen - sehen Sie sich die neuen Studien dazu an! - wird das Maximum entweder 1995 mit 31 Millionen Pkw oder im Jahre 2010 mit 34,7 Millionen Pkw überschritten. Damit haben wir eine erhebliche Zunahme des Pkw-Bestandes. Ich darf einmal daran erinnern, daß 1970 nur 14 Millionen
Pkw auf unseren Straßen waren und daß es heute über 30 Millionen sind.
({6})
Dazu kommt die Zunahme der Gesamtfahrleistungen. Dies ist in der Tat in den 70er Jahren bis zum Anfang der 80er Jahre passiert. Man hat diese Motorisierung ja sehr leicht verfolgen können.
Dazu kommt die Zunahme der Transportleistungen im Bereich des Straßengüterfernverkehrs von 34 Milliarden Tonnenkilometern im Jahre 1967 auf nahezu 100 Milliarden Tonnenkilometer im Jahre 1987.
Dies alles führt natürlich zu höheren Stickoxidemissionen. Dies mußte 1985 bei der Einführung des schadstoffarmen Autos bereits berücksichtigt werden.
Auch die Zahl der Lkw wird in den kommenden Jahren noch erheblich zunehmen.
({7})
Heute sind bereits täglich 30 000 ausländische Lkw im Bundesgebiet unterwegs. Experten rechnen damit, daß sich diese Zahl mit der Errichtung des Binnenmarkts verdoppelt. Auch dies werden wir bei unseren Maßnahmen berücksichtigen. Aus einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft geht hervor, daß sich das grenzüberschreitende Transportaufkommen bis zum Jahr 2000 fast um die Hälfte erhöhen wird. Es ist natürlich bedeutsam, wenn wir feststellen, daß heute ein Drittel der NOx-Emissionen im Straßenverkehr aus Nutzfahrzeugen stammt.
Die positiven Impulse, die wir zu Recht von der Schaffung des Binnenmarkts 1992 erwarten dürfen, dürfen nicht zu Lasten der Umweltqualität gehen. Ein integrierter europäischer Markt verlangt sowohl nationale Umweltschutzmaßnahmen als auch EG-weite effiziente ökologische Rahmenbedingungen.
({8})
Auch hierzu befinden wir uns im Streit mit unseren Partnern.
Die unmittelbare Konsequenz für uns lautet daher, den Stand der Technik im Bereich der Nutzfahrzeuge fortzuschreiben.
Die Förderung und damit die schnelle Einführung der optimalen Abgasreinigungstechnik waren erste Schutzmaßnahmen gegenüber der Zunahme im Verkehrsbereich. Innerhalb von nur vier Jahren seit Inkrafttreten des Gesetzes über steuerliche Maßnahmen zur Förderung des schadstoffarmen Pkws vom 22. Mai 1985 - das möchte ich heute einmal feststellen - sind nun fast 100 % der neu zugelassenen Pkw schadstoffreduziert. Der Anteil der neu zum Verkehr zugelassenen Pkw mit geregeltem Dreiwegekatalysator betrug Ende 1989 bereits über 80 %.
({9})
Dieser Anteil wird sich durch die Regelung für Fahrzeuge unter 1,4 1 Hubraum noch weiter erhöhen.
Was jetzt noch wichtig ist, ist die Verminderung des Kraftstoffverbrauchs.
({10})
- Wenn Sie sich das einmal ausrechnen, dann muß der Zwischenruf Sie selbst überraschen. Man muß sich hier halt einmal die Zahlen ansehen. - Für das Jahr 2010 wird davon ausgegangen, daß wir von einem Verbrauch pro 100 km von derzeit 9,4 1 leicht auf einen Verbrauch von 7 1 bis 61 kommen können. Ich halte dies für nicht ausreichend, sondern ich denke, daß wir bis zum Jahre 2005 ein Minus von 30 % realisieren müssen. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt, um nicht zusätzlich in weitere Emissionen auch im Bereich des CO2 und anderer Schadstoffe zu kommen.
Die Minderung des Kraftstoffverbrauchs und die dadurch bedingte Verringerung der Emissionen erfordert sowohl technische Maßnahmen - auf diese habe ich hingewiesen - als auch planerische, marktwirtschaftliche, ordnungs- und verkehrspolitische Maßnahmen
({11})
sowie wirtschaftliche Anreize zur Verkehrsminderung und zur Verlagerung auf umweltschonende Verkehrsmittel. - Wenn mir die Zeit ausreichte, dann würde ich Ihnen sagen, wie die Situation im Hinblick auf eine Schadstoffsteuer aussieht. Dies wird der eigentliche Anreiz sein, um auch die Automobilindustrie, auch den Konsumenten darauf hinzuweisen, wie wichtig es ist, sich Fahrzeuge zu beschaffen und diese zu verwenden, zu betreiben und zu fahren, die weniger verbrauchen, wesentlich weniger verbrauchen.
({12})
- Nein. Da gibt es wesentlich intelligentere zusätzliche Maßnahmen.
Technische Maßnahmen, auf Grund deren die Pkw mit einem deutlich verminderten Kraftstoffverbrauch betrieben werden können, sind weitestgehend Stand der Technik. Ich will darauf jetzt nicht weiter eingehen.
Eine weitere Stoßrichtung für Handlungsstrategien bilden neben den Reduktionspotentialen in bezug auf das Kraftfahrzeug die Verlagerung der Anteile der einzelnen Verkehrsträger untereinander, also das Switchen, und andere Maßnahmen, etwa die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur, um ein Beispiel zu nennen.
Die Umsetzung dieses Protokolls wird ein weiterer wichtiger Schritt hin zu einer besseren Luftreinhaltung im europäischen Bereich sein. Wir werden in den Beratungen dieses Protokoll unterstützen, und wir werden uns auch bei der Schlußberatung hier noch einmal ausführlich mit dieser Sachlage auseinandersetzen.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Stahl.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Bekämpfung von Stickstoffoxiden nach dem Übereinkommen von 1979 ist, soweit das Wollen der Verminderung im Gesetz steht, mehr am Minimum als am Maximum des Erreichbaren ausgerichtet. Dies gilt jedenfalls aus der Sicht der technischen Machbarkeit für die Bundesrepublik. Diese Tatsache läßt sich auch aus der Erklärung der Bundesregierung, die sie gemeinsam mit elf weiteren westeuropäischen Ländern in Sofia abgegeben hat, ableiten. Diese gemeinsame Verpflichtung der elf Länder sieht vor, bis 1998 die nationalen NOx-Emissionen um 30 % zu senken. Leider ist diese positive Verpflichtung nicht Teil des jetzt dem Bundestag vorliegenden Gesetzentwurfs über das Protokoll von Sofia.
Dabei muß ich der Bundesregierung zugestehen, daß internationale Umweltschutzabkommen und gerade die mit gesetzlich bindender Wirkung, die eine deutliche Verbesserung der Umweltbelastung mit sich bringen, oftmals schwer und dann auch nur als Minimalkonsens durchzusetzen sind. Hier bedarf es von seiten der Bundesregierung sicherlich noch größerer Kärrnerarbeit als bisher. Herr Töpfer, wir werden Sie unterstützen, wenn Sie den Mut haben, dies tatsächlich zu tun.
Da ich der Auffassung bin, daß es sehr viel zweckmäßiger ist, über die Einzelheiten des Gesetzentwurfs im Ausschuß zu sprechen, möchte ich die Gelegenheit jetzt nutzen, um einiges zur Bedeutung der Verbesserung einer intensiven Zusammenarbeit im Umweltbereich im internationalen Rahmen zu sagen.
Es ist ja nun schon eine Binsenweisheit, daß eine erfolgreiche Umweltpolitik in letzter Konsequenz auch bzw. nur im internationalen Maßstab erfolgreich sein kann. Um die internationalen Zusammenhänge etwas zu verdeutlichen, ist es sinnvoll, ein paar Daten aufzuführen.
Nach vorläufigen Daten der ECE, der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen für Europa, betrugen die NOx-Emissionen Mitte der 80er Jahre in Großbritannien 1,7 Millionen t, in Frankreich 1,7 Millionen t, in der Bundesrepublik 2,9 Millionen t. Für das Jahr 1986 wurden im Immissionsschutzbericht für die Bundesrepublik 2,2 Millionen t NOx ausgewiesen.
Ich führe dies nur an, um darauf hinzuweisen, daß die Datenlage bei NOx im Vergleich zu der bei SO2 nicht so eindeutig ist; denn die NOx-Emissionen sind sehr stark abhängig auch von den jeweiligen Feuerungstechniken.
Für die UdSSR werden ebenfalls 2,9 Millionen t aufgeführt, für die CSSR 1,1 Millionen t, für Italien 1,5 Millionen t, und für die DDR wird 1 Million t berechnet.
Bei den Daten für die DDR und die CSSR wird vor allem deutlich, daß hier eine drastische Reduzierung der SO2-Emissionen möglicherweise Priorität hat. Die DDR emittiert ca. 5 Millionen t 502, die CSSR 3,3 Millionen t.
Da die NOx- und auch die SO2-Emissionen vor allem aus dem Einsatz von fossilen Brennstoffen resultieren, spricht energieverbrauchsbedingte Emissionen sind, muß besonders im Zusammenhang mit den Ostblockstaaten die Anwendung bzw. die Verwendung hinzugezogen werden.
Zur technisch machbaren Seite möchte ich anmerken, daß wir bei uns bei primären Maßnahmen eine Reduzierung von 30 bis 40 %, bei sekundären Maßnahmen von 80 bis zu 85 % erreichen. Diese positiven Daten haben in Teilbereichen der NOx-Emissionen, primär im Kraftwerksektor, zu erheblicher Reduzierung geführt - da stimme ich Ihnen zu, Herr Schmidbauer. Wir können davon ausgehen: Wenn wir den Ostblockländern diese Technologien zur Verfügung stellen und wenn sie dort auch eingesetzt werden, wird damit weiter eine deutliche Verminderung erzielt werden. Da sich seit 1988 einiges im Bereich der Politik bewegt, sollten die doch sehr zurückhaltenden Forderungen von Sofia unter diesem Gesichtspunkt nachgebessert werden.
Die EG sollte hier besondere Schrittmacherdienste tun. Wir denken an einen großzügig ausgestatteten Umweltfonds.
Nach diesem Ausblick müssen wir aber unsere Aufmerksamkeit auch auf den Hauptemittenten von NOx in der Bundesrepublik richten. Ca. 60 % des gegenwärtigen NOx-Ausstoßes kommen vom Straßenverkehr. Das Zögern der Bundesregierung bei der verbindlichen Einführung des Katalysators, einer doch eigentlich sehr effizienten Rückhaltetechnologie für Stickoxide, hat zumindest eine schnelle Entlastung in bedeutender Größenordnung verzögert. Es hätte der Industrie wirklich nicht schlecht angestanden, wenn sie an dieser Stelle von sich aus schneller reagiert hätte. Dies hätte auch, glaube ich, die deutsche Position innerhalb Europas bei den Verhandlungen insgesamt nicht verschlechtert, sondern nur verbessert.
Sehr geehrter Herr Töpfer, in diesem Bereich hätte Ihr Vorgänger, aber auch Sie schon, ungeachtet der Schwierigkeiten innerhalb der EG, wie ich meine, früher und durchgreifender handeln können; denn gerade in einer so stark automatisierten und kapitalintensiven Produktion, wie sie in der Kraftfahrzeugindustrie repräsentiert wird, sind feste Rahmendaten und Planungssicherheit entscheidende Größen. Wir entsinnen uns noch, wie lange es gedauert hat, dies überhaupt, auch innerhalb Ihres Kabinetts, auf den richtigen Weg zu bringen.
Im übrigen ist die Katalysatortechnik eine sogenannte End-of-pipe-Technik, von der wir doch wohl alle, zumindest langfristig, wegkommen wollen. Wenn das Auto als Mittel des Individualverkehrs in unserer heutigen Gesellschaft langfristig - ich betone das: langfristig - eine Zukunft haben soll, muß das Auto und das damit verbundene Verkehrssystem umweltschonender werden.
Ich glaube, daß über diesen Punkt hier im Hause Konsens besteht, sieht man einmal von einigen abweichenden Äußerungen ab. Unbestritten ist aber, daß vor allem der Verkehrssektor aus umweltpolitischer Sicht ein wirklich ernstes Problem darstellt, das verstärkt angegangen werden muß.
Stahl ({0})
Doch nun möchte ich noch einige Sätze zum internationalen Bereich sagen. Dazu etwas Generelles: In jüngster Zeit werden besonders vor dem Hintergrund der Klimarisiken verschiedene Überlegungen angestellt, wie diesen Risiken am effizientesten begegnet werden kann. Bei allen noch nicht geklärten Fragen wurde doch zumindest sehr deutlich:
Erstens. Die notwendigen Schritte müssen bald erfolgen.
Zweitens. Nur internationale Maßnahmen sind erfolgversprechend.
Drittens. Es wird von allen, vor allem von den Industrieländern, erhebliche finanzielle Mittel abfordern, die erforderlichen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Maßnahmen durchzuführen.
Ernsthafte Überlegungen, die zu einem Konsens führen, und dann auch das energische Handeln sind notwendig, um diese nötigen Umweltschutzmaßnahmen im internationalen Maßstab durchzuführen. Dabei müssen wir aber auch zur Kenntnis nehmen, daß die dafür notwendigen finanziellen Mittel begrenzt sind. Das heißt, wir müssen uns sehr ernsthaft darüber Gedanken machen, ob es angesichts der internationalen Dimension immer sinnvoll ist, hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland mit einem hohen Kapitalaufwand, privater oder staatlicher Natur, über die bestehenden Gesetze hinaus eine noch stärkere Reduktion von NOx oder analog SO2 zu erreichen. Denn bei demselben Einsatz an Finanz- und Technologieressourcen in Ländern wie beispielsweise der DDR, der CSSR, Polen oder der Sowjetunion kann eine Entlastung erzielt werden, die wesentlich höher ausfallen würde als bei uns. Ich meine, daß uns hier die Konferenz von Helsinki, im Juli 1985, wo ja Punkte gesetzt wurden, eigentlich beflügeln sollte. Wir sollten also die Grenzerträge und die Grenzkosten nicht aus den Augen verlieren. Vielmehr müssen wir uns darauf einstellen, und das nicht nur in Sonntagsreden und manchmal sozusagen beim Wolkenschieben von Worten, daß die Anforderungen an die Industriestaaten vor diesem Hintergrund sehr stark steigen werden.
({1})
Gerade die reichen Industrienationen mit ihren sehr großen wirtschaftlichen und technischen Potentialen sind heute mehr denn je aufgefordert, vor allen Dingen als Beispiel in der Energieeinsparung für die Entwicklungsländer und Schwellenländer voranzugehen und mehr zu tun.
Ähnlich äußerte sich jüngst eine Gruppe von doch recht prominenten amerikanischen Wissenschaftlern, die dem Präsidenten ein Manifest überreichten. Die recht interessanten Ausführungen werden einigen von uns hier im Deutschen Bundestag sicherlich einiges Kopfzerbrechen bereiten. Auf dieses Manifest, das dort überreicht wurde, möchte ich bei anderer Gelegenheit hier im Hause eingehen. Aber ich glaube, daß es auch sehr lesenswert wäre, im besonderen für die Fraktion der GRÜNEN.
Abschließend möchte ich kurz zusammenfassen. Der Gesetzentwurf der Bundesregierung stellt für die SPD-Fraktion ein Minimum dar, das nicht ausreichend ist. Die Bemühungen im internationalen Rahmen müssen trotz oder wegen einiger doch recht
schmerzhafter Erfahrungen intensiviert werden. Dabei, Herr Bundesminister Töpfer, werden wir Ihnen unsere volle Unterstützung geben, wenn Sie die Probleme - ich sage es nochmals - tatsächlich mutig angehen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Wir stehen vor der Tatsache, daß weltweit die Stickoxidemissionen immer noch steigen. Allein in der Bundesrepublik hatten wir im Jahre 1986 etwa 3 Millionen Tonnen Emissionen. Das Ganze ist eine Folge des Energieverbrauchs und der Zahl der Kraftfahrzeuge, die natürlich auch Energieverbrauch bedeuten. Es ist klar, daß es ganz einschneidender Maßnahmen bedarf, wenn wir hier etwas zum Stillstand bringen oder gar reduzieren wollen. Ergo haben sich Staaten aus Ost und West im Oktober 1988 getroffen und haben dann am 1. November 1988 in Sofia ein Protokoll über die Begrenzung der Stickstoffoxidemissionen oder ihrer grenzüberschreitenden Ströme unterschrieben. Das Ganze ist eine völkerrechtliche Verpflichtung, die dazu führen soll, daß bis 1994 die Emissionsmengen auf dem Stand von 1987 eingefroren werden sollen.
Unsere Luftreinhaltepolitik, die wir schon seit längerem betrieben haben, ist diesem Ziel bereits seit langem verpflichtet. Dazu gehören u. a. unser Bundesimmissionsschutzrecht, unsere Großfeuerungsanlagenverordnung, unsere TA Luft und unsere verkehrs- und steuerpolitischen Maßnahmen.
Aber - auch da müssen wir leider ein großes Aber dahintersetzen - das, was im Protokoll von Sofia, steht, reicht uns nicht aus,
({0})
uns in der Bundesrepublik nicht und auch den EG-Staaten und den anderen europäischen Staaten nicht. Ergo haben wir mit den Europäern beschlossen, daß wir bis 1998 eine Reduktion, also nicht bloß einen Stillstand, ein Einfrieren, sondern eine Reduktion durchsetzen wollen, und zwar um 30 % gegenüber einem Durchschnittswert von 1986 bis 1988. Dieses Ziel - so würde ich sagen - ist eine ganz gewaltige Herausforderung und eine schwere Aufgabe, vor der wir stehen. Denn allein wir müssen ungefähr die Stickstoffoxidemissionen um 1 Million Tonnen reduzieren, und das unter der Voraussetzung, daß wir unser Wirtschaftswachstum beibehalten wollen und daß wir damit rechnen müssen, daß der Pkw- und der Lkw-Verkehr zunehmen werden.
Wie sieht nun unser Maßnahmenkatalog aus? Zum einen hoffen wir vor allem darauf - und wir hoffen nicht nur darauf, sondern tun alles dafür - , daß nun wirklich überhaupt nur noch das schadstoffarme Auto zugelassen wird. Wir werden es bei der Einführung steuerlich fördern und wir fördern auch die Nachrüstung. Voraussetzung für den Kat ist das bleifreie Benzin. Auch hier haben wir die entsprechenden steuerlichen Anreize schon längst geschaffen. Dabei erinnert man als Liberaler gerne daran, daß die erste Hal15628 Deutscher Bundestag - 11 Wahlperiode Frau Dr. Segall
bierung des Bleigehalts im Benzin seinerzeit von Genscher durchgesetzt worden ist,
({1})
nicht nur wegen des zu erwartenden Kat, sondern weil Blei natürlich grundsätzlich umweltschädlich ist. Mit dem Dreiwegekatalysator ist eine 90 %ige Reduktion der Stickstoffoxid-Emissionen beim Auto möglich.
Wir wollen auch in bezug auf die Entstickung im Bereich von Kraftwerken und Industrieanlagen weiter gehen. Grundlage dafür sind die Großfeuerungsanlagen-Verordnung und die TA Luft. Basis dieser Verordnung und der Technischen Anleitung ist das Bundes-Immissionsschutzgesetz, das im Augenblick novelliert wird. Darüber können wir morgen debattieren. Das ganze Instrumentarium des Luftreinhalterechts wird auf Grund dieser Novelle noch ganz erheblich ausgebaut.
Allerdings gibt es auch Defizite. Es hat keinen Zweck, zu leugnen, daß es Defizite gibt. Es fehlt immer noch die flächendeckende Einführung des Dreiwegekatalysators in der EG und europaweit. Ein großes Kapitel ist noch der Lkw-Verkehr. Bei den stationären Anlagen sind wir mit der Entstickung relativ weit, aber der Verkehr ist wirklich ein Sorgenkind, wie die voraufgegangene Debatte hier soeben auch gezeigt hat. Beim Lkw-Verkehr würde es uns sicherlich auch schon helfen, wenn wir die Geschwindigkeitsbeschränkungen wirklich einmal kontrollieren könnten, denn die Geschwindigkeitsüberschreitungen von Lkw bedeuten eine ungeheure Umweltbelastung.
Noch kurz ein Wort zum Ausblick. Uns bleibt nichts anderes übrig, als auch weiterhin unsere Vorreiterrolle in der EG zu behalten.
({2})
Wir müssen mehr Anreize zu umweltfreundlichem Verhalten geben. Dabei denke ich z. B. daran, was wir bei der Kfz-Steuer ändern könnten. Die alte KfzSteuer, die jetzt umgebastelt werden soll, Herr Töpfer, kann allenfalls die Konstruktion eines Autos, eines Motors und den Normverbrauch berücksichtigen. Soweit es aber um die gefahrene Kilometerleistung und um das Fahrverhalten des Fahrers geht, müßte man das bei der Mineralölsteuer berücksichtigen.
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Da sowohl die vorgegebene Technik als auch das individuelle Verhalten nicht durch eine einzige Steuer erfaßt werden kann, sollte sowohl die Kfz-Steuer als auch die Mineralölsteuer nach ökologischen Erfordernissen umgebaut werden.
Der politische Handlungsbedarf wird sich in den nächsten Jahren erweitern, wenn die Erkenntnisse über den Treibhauseffekt in Maßnahmen - nicht nur zur Luftreinhaltung im herkömmlichen Sinn - umgesetzt werden müssen. Es bleibt für uns eine Menge zu tun.
Danke.
({4})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Knabe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Begrenzung von Stickoxiden war und ist notwendig, denn deren Folgen sind erdrükkend. Stickoxide oder - wie es in der Verordnung heißt - Stickstoffoxide tragen auf dreierlei Weise zur Umweltzerstörung bei: Sie verursachen als Säurebildner direkt Waldsterben und Denkmalzerstörung. Sie sind Vorläufersubstanzen für Ozon, das uns alljährlich den Sommersmog beschert und als giftiges Gas nicht nur Pflanzen und Tiere, sondern auch die menschliche Gesundheit schädigt. Schließlich tragen Stickoxide indirekt auch zum Treibhauseffekt bei. Das aus ihnen entstehende bodennahe Ozon ist ein hoch klimawirksames Spurengas. Sein Anteil an der menschengemachten Atmosphärenaufheizung wird auf ca. 8 geschätzt.
Die Bundesregierung hat jetzt einen Gesetzentwurf zur Übernahme des Sofiaer Protokolls vom 31. Oktober 1988 vorgelegt, das die Genfer Konvention über grenzüberschreitende Luftverschmutzung konkretisiert. Hierin wird festgeschrieben, daß der grenzüberschreitende Fluß von Stickoxidemissionen bis zum Jahre 1994 auf den Stand von 1987 begrenzt werden soll. Auf gut deutsch: Nullwachstum der grenzüberschreitenden Stickoxidemissionen, aber noch lange keine Reduzierung.
Wir halten das für unzureichend, stimmen aber dem strukturbildenden Prinzip zu. Transnationale Umweltprobleme können nur international gelöst werden. Die Verringerung der Emissionen von Stickoxiden und Schwefeldioxid ist ein erster Schritt hierzu. Die großen Brocken kommen noch, vor allem das Kohlendioxid, dessen Reduzierung tiefgreifende Veränderungen der Industriegesellschaft erfordert.
Um drastische NOx-Reduktionen zu erreichen, gibt es unterschiedliche Wege. Die Bundesregierung hat sich, Herr Töpfer, schwerpunktmäßig stets auf die Nachsorge beschränkt, den Versuch, die Emissionen von Kraftwerken oder Automobilen durch entsprechende Filter oder Katalysatoren zu veringern.
Auch die GRÜNEN wollen diese Technologien ausschöpfen. Wir gehen das Problem jedoch grundsätzlicher an. Wir nutzen die Chance des zweiten Weges, Emissionen von Stickoxiden durch Energieeinsparung, Verkehrsregulierung und dezentrale Strukturen in Wirtschaft und Verwaltung zu verringern,
({0})
weil damit gleichzeitig auch die anderen Treibhausgase, vor allem CO2, begrenzt werden. - Herr Stahl, Sie haben in dieser Richtung auch nicht viel gemacht.
Aber bereits bei den Stickoxiden wäre damit viel erreicht worden. Das Umweltbundesamt hat schon 1984 ermittelt, daß die Einführung eines Tempolimits von 100 km/h auf Autobahnen und 80 km/h auf Landstraßen jährlich 150 000 t Stickoxide gar nicht erst hätte entstehen lassen. Die Bundesregierung trägt also direkte Verantwortung für die Freisetzung von 900 000 t Stickoxiden in sechs Jahren durch unterlasDr. Knabe
senes Tempolimit. Dabei ist dies nur ein kleines Pünktchen im umweltpolitischen Sündenkatalog dieser Regierung. Ich denke auch mit Grauen an den hemmungslosen Ausbau von Autobahnen und Bundesfernstraßen, den Ihr Bundesverkehrsminister betreibt.
Unsere Stellungnahme zum Gesetzentwurf der Bundesregierung: Die GRÜNEN stimmen dem Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu dem genannten Protokoll zur Bekämpfung von Stickoxidemissionen ausdrücklich zu.
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Aber wir fordern gleichzeitig die Bundesregierung auf, endlich technisch-ökonomische und nichttechnische Maßnahmen zu veranlassen, um die Emissionen einzudämmen; denn wir müssen die Emissionen nicht nur begrenzen, sondern auch verringern, zunächst um 30 % herunterkommen und dann weiter, und das bei einem einheitlichen europäischen Markt - eine schwere Aufgabe.
Wenn ich von technisch-ökonomischen Maßnahmen rede, dann meine ich Autos, die nur 3 bis 4 1 oder noch weniger auf 100 km verbrauchen, Benzin, das nicht nur 1 DM, sondern 2, 3, 4 oder 5 DM pro Liter kostet,
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und Straßen, die hohe Geschwindigkeiten nicht zulassen. - Sonst sparen die Leute doch nichts, Herr Bohl.
Berichtigung
200. Sitzung, Seite 15531 A, 4. Zeile: Statt 2,9 muß es 12,9 heißen.
5. Zeile: Statt 2,8 muß es 12,8 heißen.
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Wenn ich von nichttechnischen Maßnahmen rede, dann denke ich an eine Förderung des öffentlichen und des nichtmotorisierten Verkehrs oder an eine Abkehr vom hypertrophen Geschwindigkeitswahn unserer Gesellschaft; den haben wir ja.
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Handeln ist lange angesagt.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache 11/6564 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vor. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung, meine Damen und Herren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 15. März 1990, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.