Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Guten Morgen, meine Damen und Herren.
({0}) - Wir sind vollzählig, jedenfalls hier oben.
({1})
Ich eröffne die 177. Sitzung des Deutschen Bundestages und komme zunächst rasch zu den wichtigen Vorvereinbarungen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die heutige Tagesordnung erweitert werden um die
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle ({2})
- Drucksache 11/5464 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr ({3}) Innenausschuß
Ich rufe diesen Punkt sogleich auf. Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Der Gesetzentwurf soll dem Ausschuß für Verkehr zur federführenden Beratung und dem Innenausschuß zur Mitberatung überwiesen werden. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Es ist dann so beschlossen.
Auf Wunsch des Haushaltsausschusses wird interfraktionell vorgeschlagen, den in der 176. Sitzung des Bundestages überwiesenen Antrag der Fraktion der SPD „Zur Unterstützung der Reformen und Soforthilfe für Polen" - Drucksache 11/5692 - nachträglich auch dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung zu überweisen.
Sind Sie mit der nachträglichen Überweisung einverstanden? - Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt I auf:
Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990
({4})
- Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389 Beschlußempfehlungen und Bericht des Haushaltsausschusses ({5})
Wir kommen zur Beratung der Einzelpläne.
Ich rufe auf:
Einzelplan 04
Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes
- Drucksachen 11/5554, 11/5581 Berichterstatter:
Abgeordnete Jungmann ({6}) Austermann
Dr. Weng ({7})
Frau Rust
Zum Einzelplan 04 liegt auf Drucksache 11/5882 unter Nr. I ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung fünf Stunden vorgesehen. Eine Mittagspause ist von 13 bis 14 Uhr vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Dr. Vogel.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst und vor allem richte ich an diesem Tag und von dieser Stelle aus einen solidarischen Gruß an das tschechoslowakische Volk.
({0})
Es hat in einer ebenso eindrucksvollen wie gewaltlosen Erhebung damit begonnen, ein System abzuschütteln, das sich zuletzt nur noch mit brutaler Gewalt an der Macht hielt. Und es hat damit begonnen, Freiheit und Demokratie auch in diesem Herzland Europas wiederherzustellen. Wir nehmen an der Freude unseres Nachbarvolkes teil. Ich grüße zwei Männer als Repräsentanten dieser Volksbewegung, Václav Havel und Alexander Dubcek ({1})
Alexander Dubcek, der zugleich das lebendige Vermächtnis des Prager Frühlings von 1968 verkörpert.
Alles, was in diesen Tagen und Wochen geschieht, steht im Zeichen dieser Vorgänge, insbesondere aber der umwälzenden Ereignisse, die sich gegenwärtig in der DDR abspielen. Das gilt auch für die Haushaltsdebatte dieser Woche. Auch diese Debatte können wir nicht so führen, als ob im Grunde noch alles so sei wie vorher. Denn was da geschehen ist und noch geschieht, das berührt auch uns. Es stellt auch uns vor Aufgaben, deren Größe und Tragweite uns nur allmählich bewußt werden. Wir sind nicht Zuschauer, wir sind Beteiligte, und wir stehen auf unsere Weise nicht minder auf dem Prüfstand wie die Deutschen auf der anderen Seite der Elbe.
({2})
Dort, auf der anderen Seite der Elbe, ist eine Revolution im Gange, wie sie Deutschland in seiner bisherigen Geschichte so noch nie erlebt hat. Nicht eine Revolution von oben, nicht eine langfristig geplante Umwälzung, sondern eine demokratische Revolution, die das Volk selbst in Gang gesetzt hat und deren Richtung und Tempo das Volk selbst bestimmt. Und das mit einer Besonnenheit, mit einer Beharrlichkeit und Festigkeit, die wir immer aufs Neue nur bewundern können.
Zu Recht sind die Menschen in der DDR darauf stolz. Es ist kein Nationalismus, sondern Ausdruck eines ganz natürlichen Zusammengehörigkeitsgefühls, wenn ich sage: Auch wir sind ein wenig stolz darauf, daß Deutsche das zuwege gebracht haben,
({3})
und dankbar dafür, daß hier in wenigen Wochen ein Bild korrigiert worden ist, das sich die Welt im Laufe von Jahrhunderten bislang vom politischen Selbstverständnis der Deutschen gemacht hat.
Ich bin überzeugt, diese Bewegung läßt sich nicht mehr umkehren. Das Volk würde jeden beiseite fegen, der den Versuch wagen würde, die alten Verhältnisse wiederherzustellen. - Das ist übrigens ein Zitat aus der Regierungserklärung, die Herr Modrow am 17. November 1989 abgegeben hat. Da kann man nur sagen: Der Mann hat recht, jedenfalls in diesem Punkt.
Inzwischen hat sich in der DDR bereits eine Menge verändert. Natürlich steht vieles noch aus, so z. B. die Entlassung der politischen Gefangenen, von denen sich noch immer zu viele in Haft befinden. Wir verlangen die Freilassung aller politischen Gefangenen.
({4})
Es steht aus die von uns nicht erst jetzt, sondern schon im März dieses Jahres und davor geforderte Rehabilitierung der in den 40er und 50er Jahren zu Unrecht Verfolgten und Inhaftierten, darunter vieler Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten.
({5})
Es steht aus die förmliche Anerkennung der Tatsache,
daß es 43 Jahre nach der Zwangsvereinigung in der
DDR dort wieder eine sozialdemokratische Partei gibt. Wir werden übrigens besonders darauf achten, daß die SDP, die sozialdemokratische Partei in der DDR, die für die SED sicherlich eine Herausforderung eigener Art darstellt, in keiner Weise ausgegrenzt, sondern an dem Prozeß mit voller Gleichberechtigung beteiligt wird.
({6})
Aber Grundlegendes ist bereits geschehen. Die Mauer ist gefallen. Die Grenzen sind geöffnet. Millionen von Menschen aus der DDR haben uns besucht und von der selbsterrungenen Freiheit in einer Art und Weise Gebrauch gemacht, die zeigt, wie sehr sie gerade diese Freiheit entbehrt haben.
In diesem Zusammenhang gebührt übrigens zahllosen Männern und Frauen in den Verwaltungen und unzähligen freiwilligen Helfern ein herzlicher Dank dafür, daß sie ohne Rücksicht auf ihre sonstige Belastung mit großen Anstrengungen alles getan haben, um die Abwicklung dieser Besuche in den letzten Tagen und Wochen, vor allem an den Wochenenden, so reibungslos wie nur möglich zu gestalten.
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Auch die Informations-, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit schreitet voran, steht nicht länger nur mehr auf dem Papier. Freie Wahlen sind zugesagt. Eine Verfassungsänderung wird vorbereitet. Die bisherige Staatspartei weiß, daß sie ihr Machtmonopol bereits verloren hat und es selbst um den Preis brutaler Gewaltanwendung nicht zurückerlangen könnte. Auch hat eine nüchterne Bestandsaufnahme und eine kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit begonnen. Für eine Wirtschaftsreform sind immerhin erste Ansätze zu erkennen.
Auf all diese umwälzenden, nicht nur die Deutschen, sondern unseren ganzen Kontinent, ja, die Welt in Atem haltenden Vorgänge können wir hier in der Bundesrepublik auf zwei sehr verschiedene Weisen antworten. Wir können einmal Trennendes zurückstellen und alle politischen und gesellschaftlichen Kräfte darauf konzentrieren, der Volksbewegung in der DDR bei der Erreichung ihrer Ziele zu helfen, so rasch und so intensiv, wie wir dazu nur imstande sind. Das ist die eine Möglichkeit.
({8})
Wir können unsere Hilfe aber auch von immer neuen Begegnungen abhängig machen und zugleich versuchen, in der Zwischenzeit die Ereignisse hier wechselseitig parteipolitisch auszuschlachten.
({9})
Die konkreten Sachpositionen, die Sie und wir zu den jetzt aktuellen Fragen einnehmen, geben übrigens für einen solchen innenpolitischen Streit wenig her; sie stimmen nämlich inhaltlich in weitgehendem Maße überein. Wir formulieren diese Positionen wie folgt.
Erstens. Wir anerkennen und bejahen das Selbstbestimmungsrecht der Menschen in der DDR nach innen, aber auch nach außen. Sie haben darüber zu entDr. Vogel
scheiden, ob sie in einem eigenen Staat leben wollen oder nicht, und wie sie sich die Organisation des Zusammenlebens mit uns im einzelnen vorstellen. Das Selbstbestimmungsrecht ist und bleibt die zentrale Antwort auf die deutsche Frage.
({10})
Für uns gilt die Antwort, die die Deutschen in der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes auf diese Frage geben werden. Und wir werben dafür, daß auch unsere Nachbarn, unsere Verbündeten, unsere Vertragspartner diese Entscheidung akzeptieren.
Zweitens. Wir haben kein Recht, die Menschen in der DDR zu bevormunden; ihr Selbstbewußtsein, das aus dem neugewonnenen Vertrauen in die eigene Kraft gewachsen ist, würde das auch gar nicht zulassen. Diejenigen, die den Menschen in der DDR von hier aus sagen, sie hätten sich unverzüglich für den Anschluß an die Bundesrepublik zu entscheiden, verletzen diesen Grundsatz ebenso wie die, die ihnen die Beibehaltung der Zweistaatlichkeit vorschreiben
({11})
oder ein bestimmtes Wirtschaftssystem aufoktroyieren wollen.
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Drittens. Der Prozeß der deutschen Einigung ist aufs engste mit dem Prozeß der europäischen Einigung verknüpft. Wer beide voneinander lösen, wer einen deutschen Alleingang versuchen wollte, würde beide gefährden, den Prozeß der deutschen Einigung, aber auch den Prozeß der europäischen Einigung.
({13})
Für beide Prozesse gilt: Jetzt muß zusammenwachsen, was zusammengehört.
({14})
Die Einheit und Freiheit Deutschlands soll spätestens zusammen mit der Einheit und Freiheit Europas im Einklang mit dem Helsinki-Prozeß vollendet werden. Auf dem Wege zu diesem Ziel - und ich wiederhole: auf dem Wege zu diesem Ziel, nicht als Endziel - können die Einrichtung gemeinsamer Institutionen und die Schaffung einer deutschen Konföderation ebenso wichtige Schritte wie die Überführung der bestehenden Bündnisse in eine europäische Friedensordnung sein.
({15})
Eine solche Konföderation mit frei gewählten gemeinsamen Organen und gemeinsamen Institutionen und Gremien könnte auf wichtigen Gebieten, so auf dem der Wirtschaft, des Verkehrs, der Kultur oder des Umweltschutzes, einheitliche Lebensverhältnisse schon in der Phase herstellen, in der die Bündnisse noch bestehen. Auch die Anbindung der DDR an die Europäische Gemeinschaft könnte eine solche Konföderation erleichtern.
Damit knüpfen wir übrigens an Vorschläge und Gedankengänge aus dem von Herbert Wehner im Jahre 1959 vorgelegten Deutschland-Plan an.
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Wie gestern zu hören war, wollen Sie, Herr Bundeskanzler, heute einen ähnlichen Vorschlag unterbreiten.
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- Ich finde es erstaunlich, daß Sie die Erwähnung von Absichten Ihres Bundeskanzlers mit Heiterkeit quittieren.
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Wir hören, daß Sie heute ebenfalls konföderative Elemente im Rahmen eines Planes vortragen wollen; wir sind zu einer Aussprache und zu einer sachlichen Diskussion über die Positionen bereit.
Viertens. Miteinander verknüpft sind auch die Reformprozesse in den Staaten Osteuropas und des östlichen Mitteleuropas, die - das dürfen wir nicht vergessen - von der Sowjetunion und damit vor allem von Generalsekretär Gorbatschow ihren Ausgang genommen haben. Freiheit und Demokratie sind anstekkend; die Tschechoslowakei ist dafür der jüngste Beweis, und auch Rumänien - so hoffen wir zuversichtlich - wird folgen. Was immer der dortige Diktator noch unternimmt, auch seine Frist läuft ab.
({19})
Das gilt aber auch umgekehrt: Jeder Rückschlag, den ein Land erleidet, gefährdet auch die Prozesse in den anderen Ländern, und das trifft vor allem wieder für Rückschläge in der Sowjetunion zu. Schon deshalb dürfen wir nichts tun, was Gorbatschow seine ohnehin fast übermenschliche Aufgabe noch weiter erschwert.
Fünftens. Wir sind zur Hilfe verpflichtet, und zwar nicht morgen oder übermorgen, sondern jetzt, sofort sind wir zur Hilfe verpflichtet.
({20})
Alles, was in diesem Hause in vielen Jahren über den Fortbestand der Nation gesagt worden ist, wäre keinen Pfifferling wert, wenn wir jetzt in der Stunde, in der es darauf ankommt, daran den geringsten Zweifel ließen.
({21})
Die Menschen in der DDR haben im übrigen den Krieg nicht allein verloren; es ist nicht ihre Schuld, daß sie ein Vielfaches an Reparationen und Kriegsfolgelasten tragen mußten, und es ist nicht ihre Schuld, daß sie am Marshall-Plan nicht teilhaben konnten. Die Hilfe liegt im übrigen auch in unserem eigenen Interesse, denn ein wirtschaftlicher Zusammenbruch der DDR würde Übersiedlerströme auslösen, deren Bewältigung uns kaum zu meisternde Anstrengungen abverlangen würde.
({22})
Die Milliarden, die wir aufwenden, um den Menschen in der DDR eine bessere Perspektive zu geben, und die sie dann bestärken, in ihrer Heimat zu bleiben, sind wahrlich besser angelegt als die Milliarden, die wir sonst aufwenden müssen, um die Übersiedler bei uns zu integrieren, die dann zu Hunderttausenden ihr Land verlassen würden.
({23})
Dies und nicht etwa die Frage der Staatsangehörigkeit ist auch die Sorge, die den baden-württembergischen Ministerpräsidenten nicht minder bewegt als den saarländischen Ministerpräsidenten.
({24})
Das ist der Antrieb seiner Diskussion.
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Ich sagte, wir stimmen in diesen Positionen jedenfalls im wesentlichen überein, und das ist gut so. Das könnte bei allem, was noch streitig bleibt, eine Grundlage für eine gemeinsame Anstrengung darstellen, für eine Anstrengung, die der Größe der Herausforderung entspricht. Eine solche gemeinsame Anstrengung müßte sich beziehen auf eine unverzügliche Regelung des Problems der Reisevaluta für die Besucher aus der DDR. Hier ist die von uns vorgeschlagene Fondslösung mit festen Umtauschkursen inzwischen offenbar auch von Ihnen akzeptiert und von Herrn Seiters an die DDR-Regierung herangetragen worden. Sie muß sich auf Soforthilfen zur Überwindung aktueller Versorgungsengpässe, etwa auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, beziehen.
Darüber dürfen wir allerdings die nicht minder dringende Soforthilfe für Polen in diesem Winter nicht vergessen.
({26})
Sie muß sich beziehen auf längerfristige Kooperations- und Hilfsprogramme für die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation in der DDR und zur Stabilisierung ihrer Währung, deren Konvertibilität Schritt für Schritt anzustreben ist.
Ich persönlich halte es übrigens durchaus für möglich, daß es rascher, als wir alle jetzt vermuten, zu einer Währungsunion kommt, und das allein schon aus rein faktischen Gründen. Wir sollten nicht vergessen: Die deutsche Spaltung hat mit der Einführung unterschiedlicher Währungen im Juni 1948 begonnen, und sie wird ohne einheitliche Währung nicht endgültig überwunden werden können.
({27})
Sie muß sich beziehen auf die Integration der Übersiedler, die nicht in ihre Heimat zurückkehren wollen. Dabei dürfen wir allerdings die Gebote der sozialen Gerechtigkeit und der Gleichbehandlung gegenüber denen nicht verletzen, die in unserer Mitte schon lange auf Hilfe warten.
Sie muß sich weiter beziehen auf verstärkte Hilfen für Berlin ({28}), das in diesen Wochen und Monaten stellvertretend für uns alle besondere Leistungen erbringt.
({29})
Wir haben für jede dieser Aufgaben Vorschläge entwickelt, Vorschläge, die davon ausgehen, daß nicht alles von den öffentlichen Händen getan werden kann, daß zu vielem freie Verbände und Privatinitiative gebraucht werden und daß zur Modernisierung der Wirtschaft in der DDR vor allem die privaten Unternehmen gefordert sind, die Kapital und Know-how zur Verfügung stellen müssen.
Die Bereitschaft, über all das zu reden, alle Kräfte zu mobilisieren und Mitverantwortung zu übernehmen, haben wir in den letzten Wochen mehrfach erklärt, Mitverantwortung übrigens auch für die Beschaffung der notwendigen finanziellen Mittel durch deutliche Kürzungen im Verteidigungshaushalt und durch den Verzicht auf die bereits angekündigten weiteren Steuersenkungen für Unternehmen und Spitzenverdiener. Ich wiederhole hier und heute diese Bereitschaft.
Dabei, Herr Bundeskanzler, kommt es uns nicht auf den Namen und die Terminologie, sondern auf die Sache an. Es kommt uns darauf an, daß wir uns des Beispiels an solidarischem Zusammenwirken, das uns die Deutschen in der DDR geben, würdig erweisen. Es wäre schlimm und würde uns lange anhaften, wenn wir nicht das jetzt Selbstverständliche tun, sondern uns in der Suche nach parteipolitischen Vorteilen oder gar im Austausch von Polemik überbieten würden.
({30})
Ansätze zu einer solch bedenklichen Entwicklung sind leider vorhanden.
({31})
So haben Sie es bis zur Stunde abgelehnt, eine konzertierte Aktion ins Auge zu fassen oder die politischen und gesellschaftlichen Kräfte der Bundesrepublik auch nur zu einem gemeinsamen Gespräch in dieser Stunde zusammenzurufen.
Auch im Umgang mit Berlin, Herr Bundeskanzler, und den Repräsentanten dieser Stadt sind Sie bislang häufig mehr als Parteivorsitzender denn als Bundeskanzler aufgetreten.
({32})
Ferner wird aus Ihren Reihen der durchsichtige Versuch unternommen, die gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Sozialdemokratie in die Nähe der in Osteuropa und der DDR gescheiterten kommunistischen Systeme zu rücken
({33})
und dabei den Begriff des demokratischen Sozialismus zu diskreditieren und zu diffamieren. Meine Herren, Ihre Sekretäre mögen sich hier noch so viel Mühe geben, das wird Ihnen nicht gelingen.
({34})
Offenbar ist Ihnen entgangen, daß sich diese unsauberen Unterstellungen nicht nur gegen die deutschen Sozialdemokraten, sondern beispielsweise ebenso gegen die französischen und spanischen Sozialdemokraten, also auch gegen François Mitterrand und Felipe Gonzalez, richten, die sich mit Stolz Sozialisten nennen und sich zum demokratischen Sozialismus bekennen,
({35})
oder gegen Alexander Dubcek, der sich heute wie vor 20 Jahren im Prager Frühling zu einem Sozialismus mit menschlichem Gesicht, also zum demokratischen Sozialismus, bekennt.
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Ebenso ist Ihnen entgangen, daß die Reformkräfte in der DDR, in Polen, Ungarn und der Sowjetunion mehr und mehr sozialdemokratische Vorstellungen entwickeln und sich immer stärker an der Sozialistischen Internationalen orientieren.
Natürlich haben Sie unsere Programme nicht gelesen; das von Godesberg nicht, in dem es heißt:
Zu Unrecht berufen sich die Kommunisten auf die sozialistischen Traditionen. In Wirklichkeit haben sie das sozialistische Gedankengut verfälscht.
Sie haben den Entwurf des neuen Programms nicht gelesen, der sagt:
Später trennten sich die Kommunisten, die vorgeblich im Namen der Arbeiterklasse die Diktatur ihrer Partei errichteten, von den demokratischen Sozialisten, die durch Reformen in parlamentarischen Demokratien eine bessere Ordnung der Gesellschaft anstrebten.
Erst recht haben Sie das Streit- und Dialogpapier nicht gelesen, in dem es unter anderem heißt: Sozialdemokraten und Kommunisten „leben seit sieben Jahrzehnten in bitterem Streit darüber, in welcher Weise" Demokratie und Menschenrechte zu verwirklichen sind.
Dieser Streit wird dadurch verschärft, daß beide oft mit denselben Begriffen verschiedene Inhalte verbinden. Die Sozialdemokraten verstehen sich als Teil der westlichen Demokratie. Für sie ist pluralistisch organisierte Demokratie mit ihren vielfältigen Formen von Gewaltenteilung und Machtkontrolle der verbindliche und notfalls unter Opfern verteidigte Rahmen, innerhalb dessen sie ihre Vorstellungen von demokratischem Sozialismus verwirklichen wollen.
({37})
Diese Ziele, die weithin auch Ziele der revolutionären Volksbewegungen in Osteuropa sind, wollen Sie als gescheitert erklären. Wenn sie diese Auseinandersetzung wirklich führen sollen, etwa unter dem unsäglichen Stichwort „Freiheit statt Sozialismus" - bitte sehr.
({38})
Ihr Verhalten, meine Herrschaften, erinnert an diejenigen, die sich im dunklen Wald durch Pfeifen oder Klatschen selber Mut machen müssen.
({39})
Wir werden Ihnen in dieser Auseinandersetzung nichts schuldig bleiben.
Übrigens auch nicht in der Frage unserer Ost- und Deutschlandpolitik und unserer Gesprächskontakte. Bevor Sie uns in diesem Zusammenhang angreifen, sollten Sie den Menschen lieber endlich erklären, warum Sie sowohl die Helsinki-Konferenz als auch die Schlußakte von Helsinki, also die entscheidenden Voraussetzungen für das Ingangkommen der europäischen Reformprozesse, abgelehnt haben.
({40})
Wohlgemerkt - das wird Ihnen nicht erspart werden - : die Union allein in diesem Hause, zusammen auf der europäischen Ebene mit den albanischen Kommunisten und den italienischen Neofaschisten.
({41})
Es ist auch heute noch hörens- und lesenswert, wie Sie damals Ihren Antrag, die Schlußdokumente der KSZE nicht zu zeichnen, Ihren Antrag, der Deutsche Bundestag möge die Zeichnung der Schlußdokumente ablehnen, begründet haben. Damals schrieben Sie u. a., meine Herrschaften:
Maßgebliche Inhalte des Schlußdokuments der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ... erschweren zusätzlich die Ausübung des Selbstbestimmungsrechts des .. . deutschen Volkes,
- dann haben Sie in Ihrer Erleuchtung weiter geschrieben: schaffen infolge gegensätzlicher Auslegung in grundlegender Fragen statt Entspannung neuen Konfliktstoff,
({42})
der sich auf Deutschland und besonders auf Berlin auswirkt,
({43}) - dann sagen Sie weiter: werden der westlichen Forderung nach Freizügigkeit von Menschen, Meinungen und Informationen nicht gerecht und dienen einer weltweiten Täuschung über die wahre Sicherheitslage in der Welt.
Und schließlich sagte die Union - das muß man sich nun wirklch zweimal vergegenwärtigen - :
Die Ergebnisse der KSZE drohen zu Instrumenten zur Durchsetzung langfristiger sowjetischer Ziele, insbesondere in ganz Deutschland, zu werden,
({44})
die elementaren Interessen des Westens in Europa zuwiderlaufen.
Meine Damen und Herren, wer sich so geirrt, wer sich
in einem zentralen Punkt der Einschätzung so bis auf
die Knochen blamiert hat, sollte anderen keine Vorhaltungen machen.
({45})
Es handelt sich übrigens, Herr Kollege Dregger, um die Drucksache 7/3885. Diese bemerkenswerte Begründung ist sicherlich nicht ohne Mitwirkung des damaligen Parteivorsitzenden zustande gekommen, so vermute ich das.
Ich kann Sie nur warnen, diesen von Ihnen eingeschlagenen Weg der innenpolitischen Konfrontation fortzusetzen. Er stößt auch zunehmend auf Ablehnung, in der DDR übrigens mindestens so stark wie bei uns.
({46})
Niemand wird verstehen, daß Sie sich bei der Reform der Alterssicherung um einen breiten Konsens bemüht haben, daß Sie bei der Überwindung des Lehrstellenmangels, man staune an einen „gemeinsamen Tisch" - so der Bundeskanzler wörtlich - eingeladen haben, daß Sie beim Ansteigen der Asylbewerberzahlen im Herbst 1986 alle Kräfte zum gemeinsamen Gespräch versammelt haben, in einer Stunde nationaler Herausforderung aber so tun, als ob Gemeinsamkeit nicht erforderlich und innerpolitischer Streit angesagt wäre.
({47})
Ich spreche deshalb Sie, Herr Bundeskanzler, hier noch einmal ganz persönlich an: Überwinden Sie bitte Ihren Unmut, schieben Sie alle parteibedingten Ratschläge und Überlegungen beiseite, tun Sie, was die Menschen in beiden deutschen Staaten von Ihnen erwarten. Herr Bundeskanzler, wer die deutsche Einigung will, der darf nicht in dieser Stunde der Spaltung der Kräfte in der Bundesrepublik Vorschub leisten.
({48})
Dazu gehört übrigens auch, daß zwischen Ihnen und dem Regierenden Bürgermeister von Berlin unverzüglich wieder ein normaler Umgang stattfindet, so wie er unter Ihren Vorgängern ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit selbstverständlich war.
({49})
Berlin darf gerade jetzt nicht unter persönlichen Empfindlichkeiten leiden.
({50})
Die Menschen verlangen ja nicht, daß Sie Herrn Momper lieben; aber sie erwarten, daß Sie mit dem verfassungsmäßigen Repräsentanten von Berlin korrekt zusammenarbeiten. Ich freue mich, daß dazu offenbar noch in dieser Woche ein Anlauf unternommen werden soll. Ich wünsche diesem Anlauf, daß er gelingt und zu konstruktiven Ergebnissen führt.
({51})
Auch wenn Sie Ihrer Ablehnung einer gemeinsamen Anstrengung jetzt eine Korrektur folgen lassen, werden wir uns selbstverständlich über die Fragen auseinandersetzen, in denen wir und offensichtlich, wie man bis zum gestrigen Tage verfolgen konnte, auch die Koalitionsparteien untereinander unterschiedlicher Meinung sind. Etwa darüber, ob die wirtschaftliche Hilfe von der Erfüllung bestimmter Voraussetzungen abhängig gemacht werden darf.
Natürlich wissen wir, daß das Engagement unserer privaten Wirtschaft in dem Maße erleichtert wird, in dem die DDR das System der zentralen Verwaltungswirtschaft durch ein System betrieblicher Eigenverantwortung, individueller Preis- und Kostenkalkulation und größerer Leistungsgerechtigkeit ersetzt
({52})
- seien Sie doch nicht so ungeduldig! -, das sich auch des Marktes als eines Instruments zum Ausgleich von Angebot und Nachfrage und zur optimalen Nutzung der Ressourcen bedient. Natürlich ist auch ein Investitionsschutzabkommen notwendig, wie wir es mit Polen oder Ungarn bereits haben.
Aber das ist doch etwas ganz anderes als die ultimative Forderung nach Übernahme unserer Wirtschafts- und insbesondere unserer Eigentumsordnung. Das sind doch zwei verschiedene Paar Schuhe.
({53})
Von solchen Forderungen und ihrer Erfüllung die Zusammenarbeit zur Verbesserung der Infrastruktur und der Umweltsituation oder die Mitwirkung bundesrepublikanischer Firmen abhängig zu machen, ist nicht Hilfe, sondern Bevormundung. Nein, das ist im Grunde Erpressung;
({54})
eine Bevormundung, die übersieht, daß gerade in der schwierigen Phase des Übergangs, die mit sozialen Härten verbunden sein wird, unsere Hilfe besonders notwendig ist.
Und wenn Sie uns das nicht glauben, dann hören Sie wenigstens auf die Sprecher der Reformgruppen oder auf Herrn de Maizière, den neuen Vorsitzenden der Ost-CDU, oder auf Herrn Sterzinsky, den neuen katholischen Bischof von Berlin, die das ebenso, ja noch drastischer zum Ausdruck bringen.
Oder nehmen Sie doch bitte wenigstens zur Kenntnis, daß die österreichische Bundesregierung, der ja bekanntlich auch Ihre Freunde angehören, gerade in der letzten Woche mit der DDR eine Verstärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit vereinbart hat. Es darf doch nicht wahr sein, daß Österreich hilft, und die Bundesrepublik zögert. Das darf doch nicht wahr sein!
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Außerdem: Herr Töpfer hat seinerzeit mit Herrn Honecker ein Hilfsprogramm zur Behebung von Umweltschäden in der DDR ausgehandelt und sich darüber - zu Recht - sehr erfreut gezeigt. Es ist doch absurd, gegenüber Herrn Modrow zusätzliche Hilfen auf dem Gebiet des Umweltschutzes von Bedingungen abhängig zu machen, die man Herrn Honecker
noch vor einem Jahr nicht gestellt hat. Wo bleibt denn da die Logik?
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Gleiches gilt für andere Infrastrukturmaßnahmen, etwa für die Erneuerung des Telefonnetzes. Ich glaube, nächst den Besuchen würde der Zusammenhalt der Deutschen durch nichts so gefördert werden, als wenn durch eine Steigerung der Leistungsfähigkeit des Telefonnetzes der DDR die Menschen nicht stundenlang wählen müssen, bis sie sich gegenseitig am Telefon erreichen.
({57})
Ich habe mich mit den Auswirkungen der demokratischen Revolution in Deutschland befaßt, die unmittelbar auf der Hand liegen. Aber es gibt noch andere Wirkungen; Wirkungen, die weiter und tiefer reichen. Und das schon deshalb, weil es sich um Vorgänge im Herzen Europas, um Vorgänge an der Trennlinie handelt, die in Jalta und Potsdam quer durch Europa gezogen worden ist.
Mit dem praktischen Wegfall der Mauer ist auch diese Trennlinie durchlässiger geworden. Und wenn die demokratischen Prinzipien künftig auf beiden Seiten dieser Linie gelten, dann wird diese Trennlinie noch weiter an Bedeutung verlieren. Das bringt uns dem Ziel der europäischen Friedensordnung, des gemeinsamen europäischen Hauses ein gutes Stück näher.
Die Europäische Gemeinschaft sollte darauf in doppelter Weise reagieren: einmal, indem sie ihren Integrationsprozeß beschleunigt - er darf jetzt nicht verlangsamt werden - , und zum anderen, indem sie sich für die Zusammenarbeit mit den EFTA-Staaten und den Staaten des Warschauer Pakts rascher und weiter öffnet als bisher und für die Reformprozesse in diesen Ländern umfassende Hilfe, und zwar auch materielle Hilfe, leistet, mit uns zusammen.
({58})
Nicht ängstliche Abschottung, mutiges Voranschreiten ist jetzt das Gebot der Stunde. Ein Europa ohne Grenzen, ein Europa, das von neuem Selbstbewußtsein erfüllt ist, ein Europa, das seine Kräfte endlich nicht mehr gegeneinander, sondern auf die Bewältigung der großen Menschheitsaufgaben richtet, ist nicht länger ein Traum. Es kann Wirklichkeit werden, wenn Europa diese historische Chance nutzt
({59})
und wenn die beiden Weltmächte erkennen, wie sehr eine solche Entwicklung auch in ihrem Interesse und im Interesse ihrer Völker liegt.
Es ist zu hoffen - und wir wünschen das -, daß Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow schon bei ihrem Treffen Anfang Dezember aus den Ereignissen Schlüsse ziehen und daß mit diesem Treffen das Ende der Nachkriegszeit beginnt.
Eine neue Situation ergibt sich auch auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle und der Abrüstung. Selbst eingefleischte Skeptiker bestreiten doch nicht mehr länger, daß die Bedrohungsannahmen aus der Zeit des Kalten Kriegs, wenn sie denn damals wirklich realistisch waren, endgültig der Vergangenheit angehören. George Kennan bringt das auf den Punkt, wenn er in der „Washington Post" vor wenigen Tagen schreibt:
Wir müssen von der einfältigen Vorstellung Abschied nehmen, es sei die dringendste Aufgabe der NATO, eine militante Sowjetunion und ihre gläubigen und ebenso militanten WarschauerPakt-Verbündeten von einem Überfall auf Westeuropa abzuhalten.
Statt dessen müssen wir nach Wegen suchen, wie die Sicherheit Europas in einer Zeit gewährleistet werden kann, in der nicht mehr die Sowjetunion der große Feind ist, sondern die rasche Zerstörung unseres Planeten und damit unserer Lebensgrundlagen.
Dieser große alte Mann Amerikas hat recht. Wir sollten unsere Politik daran orientieren.
({60})
Auch hier müssen Konsequenzen gezogen werden: auf der Ebene der Bündnisse durch den raschen Abschluß der Wiener Verhandlungen und den ebenso raschen Beginn von Verhandlungen über den Abbau nuklearer Systeme. Das ist auch aus ökonomischen Gründen dringend geboten. Die unmäßigen Rüstungslasten überfordern eben die Volkswirtschaft nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in den USA. Und in den Vereinigten Staaten, in Washington, ist ja bereits in diesen Tagen von einschneidenden Kürzungen der Verteidigungsausgaben in den 90er Jahren die Rede.
Im übrigen ist es interessant, zu sehen, wie gerade in Amerika von uns entwickelte Konzepte wie das Konzept der strukturellen Angriffsunfähigkeit heute bereits Allgemeingut geworden sind. Dinge, die Sie heute noch mit einem Fragezeichen versehen, sind auf der internationalen Ebene bereits Realität für das Denken der Verantwortlichen geworden.
Auch auf unserer nationalen Ebene muß gehandelt werden: durch die Reduzierung der Präsenzstärke der Bundeswehr, durch die Veränderung ihrer Struktur und durch die Beendigung von Großprojekten, die wie der Jäger 90 spätestens jetzt überholt sind, wenn sie denn überhaupt jemals sinnvoll waren.
({61})
Wenn wir - das sage ich nicht im Ton des Vorwurfs, sondern eigentlich werbend - die Milliarden, die hier frei werden - es sind ja Größenordnungen bis zu 100 Milliarden - auch nur zum Teil zur Unterstützung der Reformprozesse in Osteuropa verwenden, dann haben wir mehr für die Sicherheit, für unsere Sicherheit getan, als es die Beschaffung von 200 noch so modernen Jagdflugzeugen je bewirken könnte. Das ist doch die Wahrheit.
({62})
Noch etwas ist jetzt notwendig, nämlich das endgültige klare und unverschlüsselte Nein zur Modernisierung der Lance-Systeme, das heißt zur Aufstellung
neuer Kurzstreckenraketen größerer Reichweite. Meine Herren, - ({63})
- Ich bin Ihnen dankbar, Herr Bötsch, daß Sie auch in dieser Beziehung unseren Vorschlägen folgen. Die Frau Präsidentin hat sicher gern gehört, daß gerade Sie an die Damen erinnern; ja, ja.
({64})
Wer noch immer meint, er fände eine Mehrheit für die Stationierung von Atomwaffen, die Rostock und Leipzig, Breslau, Budapest und Prag bedrohen, dem kann ich nur sagen, was ich vorhin in anderem Zusammenhang gesagt habe: Das Volk würde ihn auch bei uns hinwegfegen.
({65})
In den letzten Wochen ist häufiger gesagt worden, nichts sei mehr so wie vor der demokratischen Revolution in der DDR. Manche beziehen das nur auf die DDR und tun so, als ob Reformen nur dort nötig seien, nicht aber bei uns.
({66})
Ja, sie gebärden sich, als ob unsere gesellschaftliche Realität nunmehr unantastbar geworden sei. Diese Leute hatte wohl auch der Herr Bundespräsident im Auge, als er vor wenigen Tagen vor unangebrachten Triumphgefühlen und vor Selbstgefälligkeit warnte.
Diese Warnung ist berechtigt. Denn von den Mängeln und Defiziten unserer gesellschaftlichen Wirklichkeit ist durch die Ereignisse in der DDR kein einziger und kein einziges gegenstandslos geworden oder gar behoben worden. Im Gegenteil, manche - ich nenne nur die Wohnungsnot - werden sich dadurch sogar noch verschärfen. Wir sollten deshalb einen neuen Anlauf nehmen, um diese Defizite zu überwinden. Dazu gehört zunächst, sie nicht zuzudecken, sondern sie klar zu benennen.
Drei Defizite stehen dabei für uns im Vordergrund: der Verlust an sozialer Gerechtigkeit, die Wohnungsnot und die fortschreitende Belastung und Bedrohung unserer Umwelt.
Wir bestreiten in keiner Weise, daß sich die Konjunktur auch in diesem Jahr günstiger gestaltet hat, daß unser Bruttosozialprodukt und auch unser Leistungsbilanzüberschuß erneut steigt.
({67})
Sicher ist das Bild etwas weniger strahlend, wenn man die Preissteigerungsrate von zuletzt immerhin 3,2 % berücksichtigt. Wenn man von der Summe des Bruttosozialprodukts die Aufwendungen zur Behebung von wachstumsbedingten Schäden abzieht oder gar die Umweltschäden gegenrechnet. Oder wenn man bedenkt, welchen Teil unseres Wohlstandes Völker der Dritten Welt mit ihrem Hunger und zum Teil mit ihrem Elend bezahlen.
Aber richtig bleibt: Unsere Arbeitnehmerschaft, unsere Kaufleute, Techniker, Ingenieure und die Unternehmensleitungen haben innerhalb des gegebenen
Rahmens fleißig und auch erfolgreich gearbeitet. Wir belegen im internationalen Vergleich auf vielen Feldern ebenso wie in den Jahren, in denen wir Sozialdemokraten Verantwortung trugen, jeweils den ersten oder zweiten Platz; das war auch zu unserer Zeit nicht anders. Das anerkennen wir durchaus; das kritisieren wir nicht.
Aber wir kritisieren eine Politik der sozialen Ungerechtigkeit und der sozialen Spaltung, die Politik der Parteinahme gegen die Schwächeren, die der Hilfe bedürfen, und der Parteinahme für die Starken, die sich ohnehin selbst helfen können und das auch tun.
({68})
Es ist doch eine Tatsache, daß während Ihrer bisherigen Amtszeit der Anteil der Arbeitnehmer am Nettovolkseinkommen auf den niedrigsten Stand seit 1950 gefallen ist. Es ist eine Tatsache, daß die Zahl der Sozialhilfeempfänger
({69})
- Sie gehören nicht dazu, Graf, das ist mir klar ({70})
- mit 3,3 Millionen nie in der Geschichte der Bundesrepublik größer war als heute, daß die Zahl der Obdachlosen in den letzten drei Jahren um mindestens 20 % gestiegen ist, daß der Paritätische Wohlfahrtsverband - weiß Gott keine sozialdemokratische Einrichtung - die Zahl der Armen mit rund sechs Millionen angibt und es zutiefst ungerecht nennt, wie wir in einem reichen Land mit diesen Menschen umgehen.
Es ist eine Tatsache, daß es unverändert mehr als '700 000 Langzeitarbeitslose und trotz anhaltend guter Konjunktur noch immer mehr Arbeitslose gibt als bei Ihrem Amtsantritt. Sie verweisen dann zumeist darauf, daß die Zahl der Erwerbstätigen gestiegen sei. Sie verschweigen aber, daß das Arbeitsvolumen, also die Summe aller geleisteten Arbeitsstunden, nach Berechnungen der Bundesanstalt für Arbeit heute niedriger ist als zu Beginn der 80er Jahre. Das zeigt übrigens, daß der Anstieg der Erwerbstätigenzahl vor allem auf Arbeitszeitverkürzungen und auf die Zunahme von Teilzeitarbeit zurückzuführen ist.
({71})
Wir können uns über vieles streiten, aber Sie müssen zunächst einmal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Wer Tatsachen nicht ertragen kann, ist nicht politikfähig.
({72})
Ich sagte, Sie ergreifen Partei gegen die Schwächeren. Das war so bei der sogenannten Steuerreform, bei der die am oberen Ende der Skala ein Vielfaches von dem profitieren, was den Normalverdienern zugute kommt.
({73})
Das war so bei der sogenannten Gesundheitsreform,
bei der die Kranken Monat für Monat die Zeche zahDr. Vogel
len. Sie kürzten mit der neunten Novelle zum AFG die Mittel für die Qualifikationen von Arbeitslosen und für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen just in dem Augenblick, in dem alles für eine Verstärkung dieser Mittel spricht. Sie stellen sich in der Frage der Arbeitszeitverkürzung erneut ungeniert an die Seite der einen Tarifpartei, obwohl alle ihre früheren Prophezeiungen über die angeblich schlimmen Folgen der Arbeitszeitverkürzung durch die tatsächliche Entwicklung widerlegt worden sind.
({74})
Sie stellen in diesem Zusammenhang sogar wieder die Tarifautonomie in Frage, in die Sie schon 1986 mit der Änderung des § 116 AFG zum Nachteil der Arbeitnehmer eingegriffen haben.
Sie können es drehen, wie Sie wollen, Herr Bundeskanzler: Sie sind zunächst einmal der Sachwalter derer, die am oberen Ende der Skala stehen, derer, die mit dem „Weiter so! " gut fahren. Der Sachwalter derer, die sich ihren gerechten Anteil immer wieder erkämpfen müssen, der Sachwalter derer, denen es an Wohnungen und an Arbeit mangelt oder für die das „Weiter so!" sogar weiteren Abstieg bedeutet, deren Sachwalter sind Sie nicht. Deshalb hat sich der Verlust sozialer Gerechtigkeit in den Jahren Ihrer Amtsführung immer weiter beschleunigt.
({75})
Das zweite bedrohliche Defizit ist die Wohnungsnot. Sie bestand schon, bevor der Zuwandererstrom einsetzte. Schon zu diesem Zeitpunkt fehlten mehrere hunderttausend Wohnungen. Das haben Sie als Regierung zu verantworten. Denn Sie haben trotz all unserer Warnungen und der Warnungen der Verbände, etwa des Mieterbundes, den Wohnungsbau immer weiter absinken lassen, bis er im vergangenen Jahr mit knapp 200 000 Wohnungen den tiefsten Stand seit Bestehen der Bundesrepublik erreicht hat.
Gleichzeitig haben Sie den sozialen Wohnungsbau zum Erliegen gebracht. Während Ihr damaliger Bundesbauminister, Herr Schneider, noch im Dezember 1988 wörtlich erklärte „Noch niemals hatten wir quantitativ und qualitativ eine so hervorragende Wohnungsversorgung wie heute. " - ein Satz, den die Wohnungssuchenden nur als Hohn empfinden können -,
({76})
stiegen die Mieten unaufhaltsam, so etwa seit 1982 in einzelnen Großstädten, zum Beispiel in München, um fast 30 % und im Bundesdurchschnitt um fast 20 %, also doppelt so schnell wie die allgemeinen Lebenshaltungskosten.
Ich weiß nicht, ob die, die hier Zwischenrufe machen, sich darüber im klaren sind und ob wir uns alle darüber im klaren sind, was das für die Betroffenen bedeutet, was es heißt, wenn ein junges Paar jahrelang auf die Wohnung warten muß oder wenn ein älteres Paar die angestammte Wohnung aufgeben muß, weil sie unerschwinglich geworden ist. Das alles - da haben Späth und Lafontaine doch recht - wird durch die Zuwanderung noch schwieriger.
({77})
Ihre bisherigen Abhilfen sind halbherzig und unzureichend. Herr Rommel, Präsident des Deutschen Städtetages und - wenn ich richtig im Bilde bin - unverändert Mitglied Ihrer Partei, hat doch recht, wenn er sagt: 10 Milliarden DM für den öffentlich geförderten Wohnungsbau sind das mindeste, was zur Verfügung gestellt werden müßte.
({78})
Sie wollen dagegen mit einer Bundesfinanzhilfe von 2 Milliarden DM auskommen.
({79})
Wenn Sie dabei bleiben, sind schwere soziale Konflikte in unserer Republik unvermeidlich.
({80})
Das dritte große Defizit besteht auf dem Feld des Umweltschutzes. Das ist die bittere Wahrheit.
({81})
Der Wald stirbt weiter. Der Artentod schreitet voran. Durch Ozonloch und Treibhauseffekt drohen globale Umweltkatastrophen
({82})
- ich freue mich ja über die frühe Lebendigkeit; Sie sind dann bei der Rede des Bundeskanzlers erfahrungsgemäß wieder etwas schläfriger; das soll ruhig so bleiben ({83})
in einem Ausmaß, das die Menschheit bisher nicht gekannt hat.
({84})
Deshalb genügt die Fortschreibung der bisherigen Umweltschutzpolitik nicht mehr. Notwendig sind jetzt tiefe Einschnitte. Notwendig ist jetzt der ökologische Umbau unserer Wirtschaft insgesamt. Produktion, Verbrauch und Lebensweise müssen so gestaltet werden, daß ein Optimum an Leistung mit einem Minimum an Energie, Rohstoffen und Umweltbelastung erzielt wird. Wir haben dazu einschneidende und mutige Vorschläge gemacht. Sie beschränken sich darauf, diese Vorschläge zu kritisieren, eigene Alternativen verweigern Sie, und die Novelle zum Bundesnaturschutzgesetz wird von Monat zu Monat verschleppt.
({85})
Wenn die Politik diese Defizite nicht abbaut, wenn sie die Dinge weiter treiben läßt, dann brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn die Menschen auch bei uns ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen und auf ihre Weise die Änderungen herbeiführen, die die Politik bislang verweigert. Wir sollten nicht vergessen, daß es in der DDR gerade die Umweltzerstö13488
rung war, die die Volksbewegung entscheidend angestoßen hat.
({86})
Auch das Ergebnis der Schweizer Volksabstimmungen vom letzten Sonntag, bei denen eine Erhöhung der Geschwindigkeitsgrenzen abgelehnt worden ist und sich 35 % der Abstimmenden für die Abschaffung der Schweizer Armee ausgesprochen haben, sollte denen zu denken geben, die bei uns unter der Devise „Weiter so" alles beim alten lassen wollen.
({87})
Wir leben in einer Zeit gewaltiger Umbrüche, in einer Zeit auch, in der sich Entwicklungen in ungeahnter Weise beschleunigt haben. Wir erleben das jetzt gerade in der DDR und auch in der Tschechoslowakei. Wir sollten nicht so sicher sein, daß sich das nicht in anderen Zusammenhängen und auf anderen Gebieten wiederholt. Prozesse, von denen wir geglaubt haben, sie würden Jahre oder Jahrzehnte in Anspruch nehmen, laufen in viel kürzeren Zeiträumen ab. Eben deshalb ist es wichtiger denn je, daß wir nicht nur pragmatische Antworten für den Augenblick geben, sondern daß wir umfassende Vorstellungen darüber entwickeln, wie wir den neuen Herausforderungen begegnen und wie wir unserer Generation und den nächsten Generationen in einer Epoche, in der die Verflechtung aller Lebenszusammenhänge immer rascher voranschreitet und in der die Menschheit immer stärker zu einer Einheit zusammenwächst, ein Leben in Würde, in Frieden, in Freiheit und in Gerechtigkeit, ein Dasein ohne Furcht und ohne aktuelle Not ermöglichen können.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten werden das in drei Wochen mit der Verabschiedung unseres neuen Grundsatzprogramms tun, und zwar in Berlin, in der Stadt, die lange eine Insel war und jetzt zum Ort der Begegnung der Deutschen geworden ist und die aufs Neue zu einem Mittelpunkt der Deutschen und zu einem Mittelpunkt Europas werden wird. Wir wollen damit unseren Bürgerinnen und Bürgern eine Orientierung über den Tag hinaus geben. Wir laden die anderen Kräfte unserer Republik ein, diesem Beispiel zu folgen und darzutun, welche langfristigen Ziele sie auf welchen Wegen anstreben und aus welchen Gründen sie das tun, und dann mit uns in einen Dialog und einen demokratischen Wettstreit um die besten Lösungen für die Zukunft unseres Volkes einzutreten.
({88})
Wir sind zu diesem Dialog und zu diesem Wettstreit bereit. Wir führen ihn um die großen programmatischen Fragen. Wir führen ihn über die Zukunft der Deutschen und die Zukunft Europas. Wir haben unseren Beitrag geleistet. Jetzt warten wir auf Ihre Beiträge.
({89})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Bötsch.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl gebührt Dank.
({0})
Denn sie hat ihre Politik wieder so gestaltet, daß der Haushalt rechtzeitig zu Beginn des nächsten Jahres steht.
({1})
- Meine Damen und Herren, die Sie jetzt lachen: In der Regierungszeit der SPD ist es nur in Ausnahmefällen gelungen, den Haushalt zum Ende des Jahres zu verabschieden, so daß er zu Beginn des neuen Jahres in Kraft treten konnte. Wir haben das in jedem Jahr unserer Regierungsverantwortung geschafft, und darauf sind wir stolz.
({2})
Wir sind stolz darauf, daß es wiederum ein Haushalt der Solidität und ein Haushalt der Zukunftsgestaltung ist.
({3})
Wenn man die Tagesordnung dieser Woche betrachtet, dann sind es Haushaltsberatungen wie in den Jahren zuvor. Und doch stehen sie in diesem Jahr unter ganz besonderen Vorzeichen. Nicht nur bei den Völkern Osteuropas, auch bei dem Teil des deutschen Volkes, der seit Jahrzehnten unter Zwang und Unterdrückung, unter Angst vor freier Meinungsäußerung lebt, hat eine Entwicklung begonnen, die in diesem Tempo nicht erwartet wurde, die aber im Grunde genommen zwangsläufig war.
Der Mensch will frei sein, und die Sehnsucht nach Freiheit ist ansteckend! Und so verbreitet sich der Mut, Freiheit einzufordern, in Mittel- und Osteuropa mit wachsender Geschwindigkeit. Das Wunderbare ist, daß dies friedvoll geschieht. Die Waffe der Menschen ist allein ihr Wort, so wie es Václav Havel in seiner Dankesrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor reichlich sechs Wochen eindrucksvoll formulierte.
({4})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, insofern ist es unverständlich, wie Herr Vogel im Verlauf seiner Rede hier ein Sozialszenario entwickelt hat. Wenn dies richtig wäre: Warum kommen die Menschen dann eigentlich in dieser großen Anzahl zu uns, wie wir dies im Jahre 1989 zu verzeichnen haben - zu Hunderttausenden, meine Damen und Herren?
({5})
Was wir in den Staaten des Warschauer Paktes jetzt erleben, ist eine Revolution des Volkes. Hier hat Herr Vogel recht. Sie ist aber auch eine Revolution gegen die Unterdrückung des Kommunismus und seiner Nomenklatura. Wir müssen feststellen: Der Marxismus/Leninismus war angetreten, die angebliche Ausbeutung des Kapitalismus zu überwinden und das Glück der Menschen mit sozialistischer Gleichheit zu verDr. Bötsch
wirklichen. Heute steht der Kommunismus als Symbol für Unterdrückung und für eine Gesellschaftsordnung, die von Versorgungsengpässen geprägt wird. Und es ist eine Ironie des Schicksals, daß die derzeitige DDR-Regierung selber die Bankrotterklärung des Sozialismus nach und nach ans Tageslicht bringen muß.
({6})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Dr. Vogel, mit Ihrem Griff nach vergilbten Bundestagsdrucksachen aus den 70er Jahren können Sie doch nicht von Ihrer heutigen Verlegenheit in Ihren eigenen Reihen ablenken.
({7})
Den Menschen, die in Ost-Berlin, in Schwerin, in Rostock, in Leipzig, in Dresden, aber auch in Prag und in Sofia auf die Straße gehen, um mehr Freiheit und ihre Menschenrechte einzufordern, versichern wir unsere uneingeschränkte Solidarität.
({8})
Wir versichern ihnen diese Solidarität als Europäer und als Demokraten, die in das westliche Wertesystem eingebunden sind.
Meine Damen und Herren, wir sind auch - und das haben wir wiederholt erklärt, zuletzt der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vor zwei Wochen - zur Hilfe bereit. Die Reise des Bundeskanzlers nach Polen war ein Erfolg, weil sie nicht nur vom Wunsch nach Versöhnung und vom Geist der Solidarität, sondern auch vom Willen zur Hilfe für dieses geplagte Volk geprägt war.
({9})
Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas hängen miteinander zusammen; sie dürfen nicht isoliert gesehen werden. Polen und Ungarn sind wir deshalb zu Dank verpflichtet, weil ihre mutige Revolution die Entwicklung in der DDR herbeigeführt, zumindest mit herbeigeführt hat.
Wir müssen in unserer Deutschland- und Ostpolitik aber einen weiteren unabdingbaren Zusammenhang beachten. Es ist der Zusammenhang zwischen freiheitlichen politischen und ökonomischen Systemen. Sozialismus verträgt sich nicht mit Sozialer Marktwirtschaft, meine Damen und Herren.
({10})
Dies gilt für den marxistisch-leninistischen Sozialismus à la DDR ebenso wie für alle möglichen Spielarten, die heute als Sozialismus des „dritten Weges" verkauft werden, von dem Herr Momper gerne so oft träumt.
Wenn sich Peter von Oertzen von der SPD öffentlich Sorgen über Glasnost und Perestroika macht, weil diese zur Abschaffung der sozialistischen Errungenschaften in der Eigentums-, Planungs- und Kontrollfrage führen könnten, und im Osten kapitalistische Eigentums- und Marktformen, wie er sagt, unkritisch, überstürzt und ohne Rücksicht auf kritische Reflexion übernommen werden könnten, dann muß man sich fragen: In welcher Welt lebt die SPD eigentlich?
Herr Vogel, man möchte es nicht wahrhaben, aber in Ihrer SPD scheint die Sorge über einen möglichen Einbruch der im Westen konzipierten und sozial geprägten Marktwirtschaft in die Staaten des ehemaligen Ostblocks umzugehen. Herr Dr. Vogel, dies hat nichts mit „ultimativ" , wie Sie heute gesagt haben, zu tun, das hat nichts mit Erpressung zu tun, sondern dies hat mit guten Ratschlägen aus wertvoller Erfahrung zu tun, die wir in vier Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland Gott sei Dank machen konnten.
({11})
Das hat auch nichts mit Aufoktroyieren zu tun. Wir wollen unsere Ratschläge geben. Die Entscheidung müssen die Menschen in der DDR selbst fällen.
Ein weiteres zeigt sich: die Lernunfähigkeit einer SPD, die teilweise das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz streichen wollte und die durch Herrn Lafontaine wiederum die Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft ins Gespräch bringt. Daneben will Herr Laftontaine in unverantwortlicher Weise auch den Egoismus mancher hätscheln und hofft, hier auf eine vielleicht irgendwo vorhandene dumpfe Volksstimmung zu stoßen.
Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist richtig, wenn die „Frankfurter Rundschau" in ihrer heutigen Ausgabe schreibt: „Sozialdemokratische Patrioten im Schlingerkurs". Ich würde vielleicht nur hinter ein Wort ein Fragezeichen machen, aber das, was dort steht, ist meines Erachtens richtig.
Herr Dr. Vogel, zum „runden Tisch". Sie haben dieses Wort heute nicht mehr erwähnt.
({12})
Sie haben hier aber wiederum einiges angemahnt. Ich meine, unser runder Tisch in der Bundesrepublik Deutschland ist der ovale Tisch im Kanzleramt, und es ist dieses Haus, in dem der Deutsche Bundestag tagt. Das ist die Verfassungslage, die uns das Grundgesetz vorgibt. Ich glaube, die Assoziationen, die Sie hier unterschwellig gebracht haben - ungefähr in dem Sinn: In der DDR hat sich das Volk erhoben; wehe, wehe, wenn ihr unserer Politik nicht folgt, dann wird sich das Volk hier in ähnlicher Weise erheben - , sind unserer Verfassungslage nicht angemessen, sie sind ihr unwürdig, meine Damen und Herren.
({13})
Diese Lernunfähigkeit der SPD ist überhaupt nicht auf die Deutschland- und Ostpolitik beschränkt. Das hat Herr Vogel, meine ich, mit dem zweiten Teil seiner Ausführungen heute schlagend unter Beweis gestellt.
({14})
Deshalb, Herr Dr. Vogel, werden Sie nächstes Jahr
keine Chance haben, die Regierungsverantwortung
zu übernehmen, weder Sie noch ein anderer aus Ihren Reihen.
({15})
Ich glaube, das können wir heute mit Mut und Optimismus und Zuversicht feststellen.
Meine Damen und Herren, wir sind bereit, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Menschen auf ihrem Weg zu mehr Freiheit zu helfen. Wir sind jedoch nicht bereit, Mittel aufzuwenden, damit der Sozialismus Bestand hat, wie es sich manche vorstellen. Es ist schon eine Ironie, wenn sich die SPD ausgerechnet vom Sprecher der in der DDR neugegründeten SDP - auf die Sie sonst ja sehr große Hoffnungen setzen -, Herrn Stefan Hillsberger, sagen lassen muß
({16})
- Entschuldigung, ich habe mich versprochen;
({17})
man darf sich auch einmal versprechen, Herr Dr. Vogel, das passiert Ihnen ja auch;
({18})
Sie dürfen mir auch helfen, allerdings nicht inhaltlich, sondern nur bei dem Punkt -, welch hohen Stellenwert die Soziale Marktwirtschaft in der DDR einzunehmen hat. Einige berichten, das sei bei Ihnen auf betroffenes Schweigen gestoßen, andere haben gesagt, er sei dafür sogar ausgepfiffen oder ausgebuht worden.
({19})
Ganz gleich, was richtig ist, der Mann hat jedenfalls recht; um das aufzugreifen, was Sie gesagt haben.
Unsere Hilfe hat nur dann einen Sinn, wenn sie Hilfe zur Selbsthilfe ist, weil sie nur dann unseren Landsleuten wirklich zugute kommt, die genauso tüchtig sind wie wir, die aber bisher um den wahren Lohn ihrer Leistung gebracht wurden. Deshalb müssen Reformen zielgerichtet sein: erstens auf Pluralismus, freie, unabhängige Parteien und freie Wahlen; zweitens auf Dezentralisierung der Entscheidungsstrukturen; drittens auf eine drastische Einschränkung der staatlichen Planvorgaben; viertens auf die schrittweise Einführung von Privateigentum an den Produktionsmitteln, vor allem im Handwerk und im Dienstleistungsbereich; fünftens auf Schaffung echter Märkte; sechstens auf Übergang zu leistungsorientierter Entlohnung; siebtens auf eine Preisreform mit Subventionsabbau.
Solche Reformen würden unsere Hilfe effizient machen und darüber hinaus die weiter erforderlichen privaten Mittel anlocken, die wir so dringend zur Ankurbelung der Wirtschaft drüben brauchen, weil das öffentliche Mittel allein gar nicht leisten könnten.
({20})
Hilfen, die im Sand versickern, werden wir dagegen nicht leisten. Sie wären sinnlos und gegenüber unseren Steuerzahlern nicht zu verantworten.
({21}) Bundesfinanzminister Theo Waigel hat das auf den Nenner gebracht: Was ökonomisch falsch ist, kann deutschlandpolitisch nicht richtig sein.
Auch Andrej Sacharow hat in anderem Zusammenhang, nämlich bei Wirtschaftshilfen gegenüber der Sowjetunion, geraten, sich äußerst vorsichtig zu verhalten; denn er sagt: Was vielleicht wie Hilfe aussieht, könnte dazu dienen, das Übel lediglich unter die Oberfläche zu verdrängen, lebenswichtige Reformen hinauszuschieben oder das bestehende System zu unterstützen.
({22})
Sie, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, sind gerade dabei, dieselben Fehler in bezug auf die DDR zu machen, die Sie schon im Verhältnis zu Polen gemacht haben. Ich muß leider feststellen, daß Sie aus diesen Fehlern nichts gelernt haben.
({23})
Ihre Fehler bestanden darin, den Bundeskanzler bereits zu einer Zeit zur Polen-Reise zu drängen, als dort noch die Kommunisten an der Macht waren. Mit ihnen wäre das Paket, wie es Bundeskanzler Kohl jetzt geschnürt hat, in dieser Weise nicht möglich gewesen.
({24})
Es hätte die Gefahr der Stabilisierung des kommunistischen Systems bestanden, und womöglich wäre jetzt immer noch Herr Rakowski Ministerpräsident der Volksrepublik Polen und nicht ein Mann der Solidarnosc.
({25})
Bei dieser Gelegenheit möchte ich dem Bundeskanzler auch dafür danken, daß er nicht auf die anmaßenden protokollarischen Vorbehalte von Herrn Rakowski bei seinem Besuch eingegangen ist. Das unterscheidet den Bundeskanzler von Ihnen, die Sie es 1985 - auch wenn Sie es noch so oft in allen Variationen darstellen - vermieden haben, mit der Solidarnosc die nötigen Kontakte aufzunehmen.
({26})
Voreilige und überhastete Vorschläge, wie z. B. ein Sonderopfer einzuführen oder gar die dritte Stufe der Steuerreform aufzuheben - Sie haben sie heute zum wiederholten Mal gebracht - , sind in der Deutschlandpolitik schlicht und einfach falsch. Und, Herr Vogel, die Bestimmung eines gemeinsamen nationalen Feiertages - was Sie im Vorfeld gebracht haben - werden wir uns für den Tag aufheben, an dem auf dem Gebiet der DDR endlich Freiheit, Pluralismus und Selbstbestimmung Platz greifen werden. Das ist der Zeitpunkt, zu dem wir uns darüber zu äußern haben.
({27})
In diesen Tagen zeigt sich aber auch eindrucksvoll, wie richtig die Entscheidungen der Union unter Bundeskanzler Konrad Adenauer waren. Wenn wir jetzt Optionen in der Deutschland- und Ostpolitik haben, dann verdanken wir dies jenen für die Bundesrepublik Deutschland so entscheidenden Weichenstellungen aus den 50er Jahren, nämlich den EntscheidunDr. Bötsch
gen für die Freiheit, für das westliche Wertebündnis der NATO und für die Europäische Gemeinschaft. Deshalb haben die Veränderungen in der DDR und in Mittel- und Osteuropa auf unser Verhältnis zu den westlichen Verbündeten nicht den geringsten Einfluß. Uns bleibt die europäische Integration nach wie vor eine Zielsetzung und wichtig, meine Damen und Herren.
Und wir stehen weiter zu unseren Verbündeten im Westen, so wie wir das über vier Jahrzehnte tun - auch, Herr Dr. Vogel, mit den Verteidigungsanstrengungen, die bei allen begrüßenswerten Abrüstungsschritten nach wie vor notwendig sind. Wachsamkeit ist weiterhin der Preis der Freiheit, wie es über dem NATO-Hauptquartier in Brüssel steht.
({28})
Meine Damen und Herren, bei dem Treffen der Regierungschefs vor zehn Tagen wurde folgende Resolution verabschiedet:
Die Teilnehmer an dieser Zusammenkunft legen Wert darauf, ihrem Gefühl der Freude angesichts des Marsches in die Freiheit Ausdruck zu geben, der in den Ländern des Ostens angetreten worden ist.
Ich glaube, wir können uns für diese Solidaritätsbekundung bedanken. Sie ist eine Äußerung von Freunden. Und wir sollten in diesen Ländern vorhandene Befürchtungen gegenüber einer deutschen Wiedervereinigung auszureden versuchen; wir sollten sie auf keinen Fall herbeireden, und wir sollten sie nicht überbewerten.
Ich bin felsenfest überzeugt: Wenn die Deutschen von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen, dann werden das Ergebnis selbstverständlich alle Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft akzeptieren. Das steht für mich außer Frage. Wir sollten auch daran keinen Zweifel aufkommen lassen.
({29})
Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situation ist es besonders wichtig, finanzielle Handlungsfähigkeit zu bewahren. Mit den Beratungen über diesen Haushalt ziehen wir gleichzeitig Bilanz auch über die ersten sieben Monate der Amtszeit von Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel; ich meine, eine erfolgreiche Zeit.
Der Haushalt 1990 und die von ihm vorgelegte mittelfristige Finanzplanung lassen deutlich seine Handschrift erkennen: Solidität bleibt weiterhin das Markenzeichen unserer Haushalts- und Finanzpolitik.
({30})
Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion dem Bundesfinanzminister unseren Respekt und unsere Anerkennung für diese beachtliche Leistung zollen.
({31})
Ich glaube, wir haben aber auch den Kollegen zu danken, die in verantwortlicher Art und Weise mit großer Anstrengung die Feinabstimmung des Haushalts vorgenommen haben.
Da schrieb kürzlich einer: Ja, der Finanzminister im Glück. - Meine Damen und Herren, Glück kann man im Lotto haben. Dauerglück in der Politik ist selten. Ich glaube, hier gilt eher das lateinische Sprichwort: „Unus quisque suae fortunae faber est" - „Jeder ist seines Glückes Schmied".
({32})
- Da staunen Sie, Herr Kühbacher.
({33})
Meine Damen und Herren, das gilt auch für den Gesamtbereich unserer Politik, wie wir sie in den nächsten Jahren auf Grund dieses Haushalts und der mittelfristigen Finanzplanung zu gestalten haben.
Meine Damen und Herren, Herr Dr. Vogel hat versucht, hier - ich habe das schon erwähnt - ein Szenario der sozialpolitischen Kälte - er hat das Wort heute nur verschämt gebraucht - zu zeichnen. Genau das Gegenteil ist der Fall.
Herr Dr. Vogel hat auf das Programm, das die SPD in Berlin verabschieden will, als das Zukunftsprogramm der SPD hingewiesen.
({34})
Ich möchte schon heute feststellen, daß die Idee des Papieres, das dort verabschiedet werden soll, unausgegoren und das Programm dadurch nicht finanzierbar ist. Ich glaube, das hat sich inzwischen auch schon in der SPD herumgesprochen.
Es bestehen eigentlich nur zwei Alternativen: Entweder wird das Programm ökologisch ein Mißerfolg, oder es ist nicht finanzierbar. Daß ausgerechnet die Kohle, von der die größte Umweltbelastung ausgeht, von der Energiesteuer, die Sie planen, ausgeschlossen werden soll, hat einer aus Ihren Reihen, Michael Müller, schon ausreichend kommentiert. Er sprach davon, daß „angesichts der drohenden Umweltkatastrophen eine geänderte Energiepolitik vor der Kohle nicht haltmachen darf".
Meine Damen und Herren, die gemachten Vorschläge sind nicht durchdacht. Sie sind nebulös. Sie sind widersprüchlich. Sie laufen eigentlich nur auf eines hinaus, nämlich: daß der Bürger mehr zur Kasse gebeten wird. Einerseits behaupten Sie, Sie wollten die Neuverschuldung des Bundes zurückführen und den Anstieg der Zinsverpflichtungen bremsen. Andererseits wird in dem Papier selbst zugegeben, daß die „Umsetzung aller beschlossenen sozialdemokratischen Erwartungen für 1991 allein für den Bund per saldo eine zusätzliche Belastung von 40 bis 70 Milliarden DM bedeuten würde".
({35})
Es sind eben viel zu viele unterschiedliche Interessenrichtungen aus der SPD, die sich hier profilieren und die einen Fortschritt ausbrüten wollen.
({36})
Es sind die Paradiesvögel, die sich mit modischen
Ökofedern schmücken wollen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Es sind die Papageien, die immer
wieder und immer noch das ideologische Lied stärkerer Staatslenkung und Umverteilung nachplappern
({37})
und die nichts aus den Entwicklungen der Vergangenheit und der Gegenwart lernen wollen.
({38})
Es sind die Lämmergeier, die im Steuerzahler ein willkommenes Opfer sehen, das für eine weitere Erhöhung der Staatsquote bluten soll.
({39})
Wenn vereinzelt wie eine Schwalbe einmal das Wort „Marktwirtschaft" durch Ihr Programm flattert, so macht das noch lange keinen Sommer, meine sehr verehrten Damen und Herren.
({40})
Man kann für Ihr Programm zusammenfassend feststellen: Viele Vögel verderben den Brei. Das ist die Zusammenfassung des Programms der SPD.
({41})
Weil das für die SPD symptomatisch ist - von der Kompetenz der GRÜNEN, die jetzt immer wieder dazwischenrufen, will ich gar nicht reden, weil das sowieso nutzlos und des gesprochenen Wortes, geschweige denn des beschriebenen Papieres nicht wert ist - , weil die Kompetenz bei Ihnen, den GRÜNEN, und auch von der SPD im Grunde genommen nicht vorhanden ist, gibt es zu dieser Regierung, gibt es zu diesem Bundeskanzler keine Alternative. Deshalb werden wir, CDU und CSU, mit unserer erfolgreichen Politik auch über den Wahltag hinaus in den nächsten Jahren die Bundesrepublik Deutschland regieren
({42})
und erfolgreich eine Zukunft im Zusammenwirken mit unseren Bürgerinnen und Bürgern gestalten.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({43})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den gestrigen Verlautbarungen des Kanzlers besteht nun kein Zweifel mehr daran, mit welchem Programm Helmut Kohl in die Geschichte eingehen und ganz nebenbei den nächsten Wahlkampf gewinnen will: Die DDR soll durch einen sogenannten Dreistufenplan heim ins Reich geführt werden.
({0})
45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der riesigen ökonomischen Macht der BRD im Rücken und der Bescheinigung der USA, auch politisch wieder eine Führungsmacht zu sein, hat Kohl keine Skrupel mehr. Die Zeit ist günstig, sagt sich der Bundeskanzler.
({1})
Die DDR ist angeschlagen. Die SED hat bei der Bevölkerung keine Zustimmung mehr.
({2})
Warum also nicht zuschlagen?
Warum nicht die eigene wirtschaftliche Stärke nutzen? Warum nicht die Bitte um Hilfe als willkommene Gelegenheit nehmen, das deutsche Staatsgebiet um ein Drittel zu vergrößern und sich 16 Millionen neuer Untertanen zu verschaffen?
({3})
Was scheren einen deutschen Politiker vom Schlage Helmut Kohls die Ängste der Menschen in beiden deutschen Staaten, die sich daran erinnern, daß großdeutsche Träume schon zweimal in der Geschichte zu schrecklichen Kriegen geführt haben!
({4})
Was schert ihn die fast schon flehentlich geäußerte Bitte so ziemlich aller Oppositioneller in der DDR nach Zeit für eine eigenständige Entwicklung, selbstbestimmt, ohne Einmischung eine neue Gesellschaft aufzubauen?
Eroberer werden in der Geschichte - das weiß der Kanzler, dafür hat er studiert - einzig und allein nach ihrem Erfolg und nicht danach beurteilt, ob ihr Wirken den Menschen Gutes gebracht hat. Mit diesem Wissen steht der Kanzler nicht allein. Es ist vielleicht ein zeitlicher, ganz gewiß aber kein sachlicher Zufall, daß am gleichen Tag, an dem Helmut Kohl seinen Plan bekanntgab, der „Republikaner" Schönhuber das neue Programm seiner Partei vorlegte, dessen Inhalt nichts anderes ist als die auf fünfzig Druckseiten ausgewalzte erste Strophe des Deutschlandliedes.
Der politische Ton, so fürchte ich, wird in diesem Lande härter. Es ist Zeit für die Friedensbewegung, wieder auf die Straße zu gehen.
({5})
Meine Damen und Herren, es gibt einige Gründe, die mich und viele andere Menschen dazu veranlassen, Angst vor einer Wiedervereinigung zu haben. Es gibt aber keinen einzigen vernünftigen Grund, der für eine Wiedervereinigung spricht. Kein einziges Problem unserer Zeit kann in einem vereinigten deutschen Staat besser gelöst werden als in zwei Staaten. Weder die ökologische Zerstörung hüben und drüben noch die soziale Verelendung durch materielle Armut und Vereinsamung werden durch die Zusammenlegung von Staaten beendet. Wenn Herr Rühe sagt, wir gehören alle zu einem Volk, dann frage ich Sie: Was nützt es der Verkäuferin in Leipzig, der Kassiererin in Dresden oder der Arbeiterin in Ost-Berlin, wenn sie mit Neckermann oder Thyssen zu einem Volk gehöFrau Oesterle-Schwerin
ren? Sie werden, wenn das westdeutsche Kapital seinen Einzug in die DDR hält, von ihm nicht besser behandelt werden als die westdeutschen Arbeitnehmerinnen, die in ungeschützten Arbeitsverhältnissen stehen, um jederzeit auf die Straße gesetzt werden zu können, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Was hat es denn den bundesrepublikanischen Rentnerinnen, den Behinderten, den Erwerbslosen genutzt, daß sie mit Blüm, Kohl und Geißler zu einem und demselben Volk gehörten? Kaum waren diese Herren 1983 an die Macht gekommen,
({6})
haben sie durch Kürzungen der Sozialleistungen den Lebensstandard der betroffenen Gruppen ganz erheblich heruntergedrückt.
({7})
- Nein, Lohnabhängige, Sozialhilfeempfängerinnen, Erwerbslose und Rentnerinnen haben nichts von der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation mit Herrn Rühe. Und die Menschen in der DDR werden das Fürchten lernen, wenn Leute wie Kohl und Blüm, Thyssen und Krupp in ihrem Land das Sagen bekommen.
Die Regierung in der Bundesrepublik hat überhaupt keine Berechtigung dazu, die DDR in Sachen Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu belehren. Ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür, würde ich mal sagen,
({8})
bzw. es ist Zeit für einen großen Kehraus, der uns 1990 hoffentlich von einer Regierung befreit,
({9})
die in der DDR besserwisserisch und schulmeisterlich auftritt, während Armut und Wohnungsnot im eigenen Land immer größer und die ökologische Krise immer tiefer wird.
({10})
Meine Damen und Herren, nach Öffnung der Mauer gab es eine ganze Menge ehrliche, überschwengliche Freude über den Demokratisierungsprozeß in der DDR und über die neu gewonnene Reisefreiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Große Freude auch bei uns.
({11})
Es gab aber auch ganz unverhohlene Vorfreude auf die bevorstehenden Profite und eine ganz bösartige Schadenfreude über den angeblichen Niedergang der sozialistischen Idee.
({12})
Fast drei Wochen danach ist es meiner Meinung nach an der Zeit, ein paar kritische Anmerkungen über den Kapitalismus zu machen, um die unerträgliche Überheblichkeit gegenüber dem Nachbarland DDR durch eine Umkehr der Scheinwerfer auf bundesdeutsche Verhältnisse zu relativieren.
({13})
Den dümmlichen Systemvergleichen der letzten Wochen, die zu beweisen versuchen, daß der Kapitalismus schon deswegen eine phantastische Gesellschaftsordnung ist, weil der real existierende Sozialismus gescheitert ist, muß etwas entgegengesetzt werden;
({14})
sie dürfen nicht unwidersprochen bleiben. - Das werde ich Ihnen gleich erzählen.
Vor gut drei Wochen veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband der Bundesrepublik einen Armutsbericht, der von der Bundesregierung mit gutem Grund nicht zur Kenntnis genommen wird. Nach diesem Armutsbericht wurden 1988 offiziell 3,3 Millionen Personen gezählt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das waren 6,4 % mehr als im Jahre 1987. Die Zahl steigt sprunghaft weiter an. In Wirklichkeit gibt es natürlich viel mehr Hilfsbedürftige. Seriöse Schätzungen gehen mindestens von weiteren 3 Millionen Menschen aus, die ihren Anspruch auf Sozialhilfe aus Angst und vor Scham nicht wahrnehmen. Das heißt, etwa 6 Millionen Menschen, ca. 10 % der Bevölkerung hierzulande, sind von materieller Armut betroffen. Was Armut bedeutet, das können Sie
({15})
dem Warenkorb entnehmen, der definiert, mit wie wenig ein Mensch auskommen muß, für den die Marktwirtschaft keine Verwendung hat: 150 Gramm Bohnenkaffee, 50 Gramm Bauchspeck, 12 Straßenbahnkarten, 2 Rollen Klopapier, Herr Bundeskanzler.
({16})
Warum kommen diejenigen, die jetzt mit unübersehbarer Häme vom Versagen des realen Sozialismus sprechen, angesichts dieser Zahlen nicht auf die Idee, die Soziale Marktwirtschaft für gescheitert zu erklären?
({17})
Was ist eigentlich schlimmer, frage ich Sie, die langen Schlangen vor den West-Berliner Obstläden, die immerhin beweisen, daß die Menschen in der DDR in der Lage sind, Südfrüchte zu kaufen, auch zu überhöhten Preisen, oder die Tatsache, daß viele ältere Menschen in der Bundesrepublik dazu gezwungen sind, sich von Hundefutter zu ernähren? Was ist schlimmer, frage ich Sie.
({18})
Die DDR kann von der Bundesrepublik in der Tat sehr viel lernen. Sie kann vor allem viel darüber lernen, wie eine Gesellschaft und ein Land besser nicht organisiert werden sollten.
({19})
Sie haben das Wort, Frau Oesterle-Schwerin.
Es ist gar nicht nötig, den bundesdeutschen Arbeitnehmerinnen und den Ausländerinnen, die hier leben, einen bezahlten Feiertag zu klauen, Herr Biedenkopf. In der Bundesrepublik gibt es genug Geld. Wenn wir nur all diejenigen Mittel, die hierzulande zur Förderung umweltschädlicher, destruktiver Projekte eingesetzt werden, der DDR zum Aufbau einer ökologischen Wirtschaft zur Verfügung stellen würden, dann könnten wir der DDR helfen und gleichzeitig viel Schaden von uns selber abwenden.
({0})
Meine Damen und Herren, die Frauen, die in dieser Zeit aus der DDR in die Bundesrepublik umsiedeln, haben auch ganz herzlich wenig davon, daß sie mit Frau Lehr und Herrn Blüm zu einem und demselben Volk gehören. Den Frauen, die heute mit dem Gedanken an eine Umsiedlung spielen, muß folgendes gesagt werden: Ihr macht unter Umständen einen schlechten Tausch; ihr kommt vielleicht vom Regen in die Traufe.
({1})
Unser häufigstes Problem, das Problem mit den Männern, die zu Hause die Füße unter den Tisch hängen und sich vor der Hausarbeit drücken und die Sorge um die Kinder meistens den Frauen allein überlassen, dieses Problem haben viele Frauen hüben wie drüben.
({2})
Wenn die Frauen in der DDR den Wunsch nach Übersiedlung mit der Hoffnung auf weniger Arbeit verknüpfen, dann haben sie vielleicht recht.
({3})
Die meisten von ihnen werden hier selbst dann nicht berufstätig sein dürfen, wenn sie es wollen oder wenn sie es müssen.
({4})
- Warum? Weil sie als Ingenieurinnen, als Technikerinnen oder als Angehörige von nicht frauenspezifischen Berufen sowieso keine Stelle bekommen,
({5})
weil sie als Frauen in bundesdeutschen Betrieben unerwünscht sind, weil die Stellen von Männern besetzt sind
({6})
und weil die Registrierung von Müttern als Arbeitsuchende bei den Arbeitsämtern erst dann angenommen wird, wenn diese Mütter beweisen können, daß ihre Kinder untergebracht sind
({7})
und weil gerade das die meisten Frauen in der Bundesrepublik Deutschland nicht nachweisen können.
({8})
Wir müssen den Frauen in der DDR, die hierherkommen wollen, sagen, daß sie hier mitten in einer Phase des „rollback' der Bundesregierung und der CDU-regierten Länder gegen die Frauen und ihren Wunsch nach Erwerbsarbeit hineingeraten. Ganztagsschulen und Kindergärten werden nicht nur nicht ausgeweitet, nein, sie werden systematisch kaputtgemacht bzw. geschlossen, wie gerade jetzt in Baden-Württemberg.
({9})
Hier hört die vielbeschworene Volksgemeinschaft der CDU/CSU auf. Was stattfindet, ist ein Kampf des patriarchalen Systems gegen die Emanzipationsbestrebungen von Frauen.
Meine Damen und Herren, in der DDR ist der jetzige Generalsekretär der SED in das Schußfeld der Kritik geraten, vollkommen zu Recht.
({10})
Die Opposition wirft ihm Beihilfe zum Wahlbetrug und Parteinahme für das von der chinesischen KP veranstaltete Massaker in Peking vor. Es ist gut denkbar, daß Krenz auf dem Sonderparteitag der SED abgesetzt wird. Das Volk der DDR ist unduldsam geworden gegen Machtmißbrauch, Korruption und Komplizenschaft mit Staatsterroristen.
({11})
Hierzulande sollte allerdings über Egon Krenz nicht reden, wer Helmut Kohl nicht hat verhindern können.
({12})
- Ich verlange, daß Sie das „faschistoid" rügen.
({13})
Also, wenn es um Wahlbetrug geht, meine Damen und Herren: Die CDU in Niedersachsen hatte mit Herrn Vajen jahrelang einen gerichtlich anerkannten Wahlbetrüger im Landtag sitzen, bevor dieser, ohne seine Gesinnung ändern zu müssen, Mitglied der Republikaner wurde. Und außenpolitisch erklärt sich die Bundesregierung solidarisch mit den USA, die mit Millionenaufwand die Mordtaten der Contra-Banden in Nicaragua finanziert.
({14})
Sie gewährt der türkischen Regierung, die einen Vernichtungsfeldzug gegen das kurdische Volk führt, 280 Millionen DM an Rüstungsbeihilfe im Jahr und gehört zusammen mit Großbritannien zu den politischen Hauptstützen der Rassisten in Südafrika.
({15})
Ausgerechnet diese Bundesregierung versucht nun, das Volk der DDR, das gerade dabei ist, sich die Demokratie zu erkämpfen, mit dem Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik Deutschland zu beglücken, und das mit Mitteln, die im normalen bürgerlichen Leben schlicht erpresserisch genannt werden.
({16})
Es ist Erpressung, die Not anderer auszunutzen, um ihnen den eigenen Willen aufzuzwingen. Immer höher wird die Meßlatte für Kredite gelegt, immer dreister werden die Forderungen, immer offensichtlicher die Absicht, sich um das so oft zitierte Selbstbestimmungsrecht der DDR einen Dreck zu scheren.
({17})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Solidarität mit der DDR kann nur heißen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um ihr den Rücken für eine eigenständige Entwicklung, also auch für eine sozialistische Entwicklung, freizuhalten.
({18})
Solidarität mit der DDR heißt deshalb auch, politisch allen Wiedervereinigungsgelüsten einen Riegel vorzuschieben, den ökonomischen Aufkauf des anderen deutschen Staates zu verhindern.
Deshalb und gerade auch jetzt möchte ich für eine Politik der Zweistaatlichkeit und für die Anerkennung der DDR werben, ohne Wenn und Aber.
({19})
Solidarität heißt: Hände weg von der DDR!
({20})
Die Opposition in der DDR fordert eine radikale Umgestaltung der Wirtschaft, aber sie fordert in ihrer
Mehrheit eine sozialistische Umgestaltung, weil sie weiß, was Gewinne machen auf Kosten von Menschen und Natur bedeutet. Sie will eine Steigerung der Produktionseffektivität, aber keine, die, wie in der BRD, mit Tausenden und aber Tausenden von Arbeitsunfällen bezahlt wird. Sie will einen höheren Konsum, aber keinen, der durch die Ausbeutung von Ländern der sogenannten Dritten Welt bezahlt wird, und darin unterscheidet sie sich erfreulich von der Mehrzahl der Mitglieder dieses Hauses.
Aber, so ist zu lesen, es gehe ja gar nicht nur um die Wirtschaft; was die DDR am nötigsten brauche, ist Demokratie und die politische Kultur nach westlichem Vorbild. Ich frage Sie: Sehnen sich die Demonstranten und Demonstrantinnen in Leipzig wirklich nach jener Freiheit, die der Bundeskanzler meint? Umgekehrt: Würden sie sich mit deren Einführung nicht einen Bärendienst erweisen?
({21})
Ich behaupte: Über so viel Einfluß und wirkliche Macht, wie die Menschen in der DDR zur Zeit haben,
({22})
hat noch keine Opposition in der Bundesrepublik verfügt.
({23})
Jahrelang wurden die Proteste in Wackersdorf von der Bundesregierung kriminalisiert, niedergeknüppelt und mit CS-Gas bekämpft. Wackersdorf liege, so wurde uns gesagt, im nationalen Interesse, der Verzicht auf die WAA komme einem Verzicht auf politische Souveränität gleich. Nachdem die Industrie zu dem Ergebnis kam, daß Wackersdorf für sie keinen ausreichenden Gewinn abwirft, war das Projekt gestorben. Wer hat also hier das Sagen? In der DDR haben sich die Staatsorgane und die Polizei für Übergriffe und Mißhandlungen bei den Demonstrantinnen und Demonstranten entschuldigt. Ein Beamter der Volkspolizei wurde zu 14 Monaten ohne Bewährung verurteilt.
({24})
Wann werden die Verantwortlichen für die Tötung der Studentin in Göttingen zur Rechenschaft gezogen, die vor einigen Tagen von der Polizei unter ein Auto gehetzt wurde?
({25})
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, erlauben Sie mir zum Schluß noch eine Bemerkung. „Wir gehören alle zu einem Volk", sagt Herr Rühe. Das ist eine Bedrohung für all diejenigen, die von Geburt an nun einmal nicht zu diesem Volk gehören.
({26})
Erst unlängst hat der bayerische Ministerpräsident,
Streibl, versucht, die Zuzugsbewegung aus der DDR
dazu auszunutzen, um erneut die Abschaffung des
Grundrechtes auf Asyl zu fordern. Es mehren sich die Stimmen, die zugunsten der Übersiedler aus der DDR einen noch härteren und erbarmungslosen Umgang mit den Flüchtlingen aus der Türkei, aus den Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens fordern. Diese sind für die Bundesregierung unerwünscht, weil sie im Gegensatz zu den Übersiedlern aus der DDR nicht als Beweis für die angebliche Überlegenheit des westlichen Systems mißbraucht werden können, sondern ganz im Gegenteil Teil einer lebendigen Anklage gegen das weltweite Wirken auch des bundesdeutschen Kapitalismus sind.
({27})
Ich wünsche mir, daß die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ihre Humanität gerade nicht von der Zugehörigkeit zum deutschen Volk und nicht vom Nationalitätenstempel im Reisepaß abhängig machen. Damit wäre schon viel gewonnen.
({28})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wir wissen es: Mit der Debatte um den Bundeshaushalt 1990 beginnt in Wahrheit - wir merken das ja auch - der Kampf um die Bundestagswahl 1990. Ich spreche das übrigens ohne jeden abschätzigen Unterton aus. Wer ja sagt zur Demokratie, kann nicht nein sagen zu Wahlen und Wahlkämpfen, auch wenn wir davon im nächsten Jahr so viele haben werden, daß es der sachlichen Arbeit schon aus Zeitgründen nicht gerade besonders bekömmlich sein wird.
({0})
Aber wir alle in der Koalition und, ich glaube, auch in der Opposition haben in den vergangenen Wochen gemerkt: Unsere Debatten, unsere Meinungsunterschiede und unsere eigenen Probleme, die ihre Bedeutung gewiß nicht verloren haben, sind ziemlich blaß geworden. Sie sind angesichts der Entwicklung und des Umbruchs in Osteuropa und vor allem in der DDR zusammengeschrumpft.
({1})
Sie haben nach den Massenbewegungen in Leipzig, Ost-Berlin oder Prag schlicht an Interesse verloren gegenüber den Erfolgen, aber auch gegenüber den materiellen Nöten in Polen und Ungarn, gegenüber den ungelösten Problemen in der Sowjetunion, gegenüber den tiefen Unsicherheiten, die nach wie vor über dem östlichen Teil unseres Kontinents liegen.
({2})
Doch die Demokraten haben eine neue Chance. Der real existierende Sozialismus östlicher Prägung ist diskreditiert und tot, oder er besteht wie in Rumänien nur noch als krankhafte Karikatur einstigen Anspruchs. Die Idee der Freiheit, die uns hier verbindet, hat sich ohne Aggressivität und ohne jeglichen Herrschaftsanspruch in diesem Jahr 1989 für jedermann, der nicht blind oder böswillig ist, als das überlegene, als das richtige, als das trotz aller seiner Schwächen bessere und als das humane Prinzip erwiesen, als das Prinzip, um dessen Ergebnisse uns die Menschen in den osteuropäischen Ländern beneiden und für das sie selber streiten.
({3})
Wir haben das immer gewußt. Aber viele auch in unserem Lande haben lange Zeit nur die Schattenseiten unserer Ordnung gesehen. Ich hoffe, daß ihnen die Augen aufgegangen sind.
({4})
Ich meine, meine Damen und Herren, wir alle oder fast alle in diesem Hause könnten uns wenigstens darin zusammenfinden, den Bürgern, den Wählern und den Politikabgewandten immer wieder zu sagen: Wir leben gewiß nicht in einer idealen Welt; aber wir haben uns eine politische und gesellschaftliche Ordnung geschaffen, in der es sich zu leben lohnt - für die allermeisten jedenfalls.
({5})
An dieser Ordnung bleibt viel zu verbessern, und darum streiten wir; aber wir streiten auf einer gemeinsamen Grundlage.
Wer allerdings in diesem Hause, meine Damen und Herren, von dieser Stelle aus, den frei gewählten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland mit dem Generalsekretär der Sozialistischen Einheitspartei vergleicht, der stellt sich außerhalb der Gemeinschaft aller Demokraten in diesem Lande.
({6})
Meine Damen und Herren, es ist in meinen Augen mehr als eine nur glückliche Fügung, es ist das Ergebnis einer richtigen Politik dieser Bundesregierung, daß die Bundesrepublik Deutschland den materiellen und politischen Herausforderungen des europäischen Schicksalsjahres 1989 stabil und gut gerüstet gegenübersteht.
({7})
Diese Koalition, diese Regierung hat hart gearbeitet, und der Erfolg ist nicht ausgeblieben. Für die Freien Demokraten erkläre ich vor dem Deutschen Bundestag: Wir würdigen, wir anerkennen und wir verteidigen die Arbeit der Regierung in der Sicherheits-, Außen- und Europapolitik, in der Wirtschafts-und Finanzpolitik, auf dem Arbeitsmarkt, im Umweltschutz, in der Sozialpolitik, in der Rechts- und Innenpolitik.
Diese Koalition von Union und Liberalen diskutiert, aber sie handelt dann auch. Sie streitet, wo es sein muß, aber sie arbeitet zusammen. Die Koalition ist der Regierung nicht hörig, aber sie läßt die Regierung nicht allein.
({8})
Sie ist kritisch, auch untereinander, aber sie ist loyal, und sie ist bereit zur Zusammenarbeit.
Diese Koalition hat sich auch in schwierigen Entscheidungen bewährt. Deshalb hat sie Deutschland weitergebracht, und ich meine damit: nicht die Bundesrepublik Deutschland allein.
({9})
Selbstverständlich gibt es in einer Koalition auch unterschiedliche Meinungen. Sonst könnten wir ja fusionieren; das tun wir aber nicht.
({10})
- Herr Bötsch, wenn Sie vorhin gesagt hätten, daß Sie uns zum Weiterregieren und zur Mehrheit brauchen, wäre es noch besser gewesen. Das will ich Ihnen hier gleich mitteilen. Außerdem wäre es realistischer gewesen.
({11})
Ich will einen Fall nennen: Die FDP hat zu dem Kompromiß, der beim Ausländerrecht und Asylverfahrensrecht gefunden worden ist, erheblich beigetragen. Wir fordern den Koalitionspartner auf - besser wohl: Teile desselben - , jetzt nicht draufzusatteln. Wir brauchen endlich ein klares Recht für unsere ausländischen Mitbürger. Ich begrüße übrigens auch die Gesprächsbereitschaft der Opposition in dieser Frage. Ein Mißerfolg würde nicht nur die ausländischen Mitbürger enttäuschen; er würde - und das ist noch schlimmer - rechtsradikaler und rassistischer Demagogik Auftrieb geben.
({12})
Diese Folge sollte, bitte schön, auch die Bayerische Staatsregierung bedenken.
Meine Damen und Herren, ich verkleinere nicht die Arbeit und die Anstrengungen früherer Regierungen, nicht die deutschland- und ostpolitischen Entscheidungen von Männern wie Willy Brandt und Walter Scheel, wenn ich mit vollem Bedacht sage: Niemals zuvor waren die deutschlandpolitischen Fortschritte - übrigens auch schon während der Ära Honecker in der DDR - so sichtbar und so mit Händen zu greifen wie in den Jahren dieser Koalition. Schon vor dem Umbruch des 9. November in der DDR haben wir alle Möglichkeiten genutzt, um den Zusammenhalt der Bürger beider deutscher Staaten zu stärken, um die ökonomische, die umweltpolitische, die kulturelle Kooperation auszubauen. Wir haben dabei Fortschritte erzielt, die einige Jahre zuvor noch undenkbar gewesen wären.
Wer dieser Regierung und dieser Koalition deutschlandpolitische Passivität vorwerfen zu müssen glaubte, hat sich und andere zutiefst getäuscht.
Das Parlament hat in der vorvorigen Woche über die Lage der Nation beraten. Ich beschränke mich deshalb auf wenige Sätze. Unsere Deutschlandpolitik, unsere Außenpolitik, unsere Europapolitik haben ihren Anteil an dem Umbruch in der DDR. Aber entscheidend waren die friedlichen Proteste ohne jede
Provokation unserer Mitbürger in Leipzig, in Ost-Berlin; die haben das bewegt.
({13})
Es ist mindestens eine Zumutung, was wir eben gehört haben, daß diese erste erfolgreiche deutsche Revolution, friedlich und gewaltfrei, hier mit den Gedanken von Krieg und Eroberung in Verbindung gebracht wird.
({14})
Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, haben in den letzten Wochen zu dieser faszinierenden, zu dieser aufregenden Entwicklung nicht einen einzigen vernünftigen Kommentar gewußt. Sie haben eine Perspektivtagung voller Perspektivlosigkeit abgehalten.
({15})
Das einzige Konkrete, was Sie jetzt zur deutschen Politik beigetragen haben, ist der begrüßenswerte Abmarsch von Herrn Schily bei Ihnen gewesen.
({16})
Wir mischen uns in die Verhältnisse in der DDR nicht ein - mit einer, allerdings entscheidenden, Ausnahme: Wir wollen, daß die Bürger der DDR selber über ihr politisches und ökonomisches Schicksal bestimmen
({17})
und daß sie nicht allein einer Partei ausgeliefert sind, die offensichtlich nicht das Vertrauen der Menschen, ganz gewiß nicht das Vertrauen der Mehrheit der Menschen hat.
({18})
Wir werden jede freie Entscheidung der DDR-Bevölkerung respektieren. Aber wir wollen, daß freie Entscheidungen getroffen werden können.
({19})
Freie Wahlen - darüber sind wir uns alle einig; auch Herr Vogel hat das gesagt; da ist ja gar keine Meinungsverschiedenheit - wollen wir. Der Art. 1 der Verfassung der DDR muß - das ist auch in Aussicht gestellt worden - geändert werden.
({20})
Das In-Aussicht-Stellen ist das eine, der Vollzug ist ein anderes. Aber bauen wir darauf, daß diese Zusagen eingehalten werden.
Jedoch bedeuten freie Wahlen nicht nur auf Papier geschriebenes Recht. Wer weiß, wie die Verhältnisse dort aussehen, wer im Besitz des Apparates, der Macht, der Medien, der Zeitungen ist, der Zuteilung von Papier - alles allein auf der einen Seite - und wer wie ich am vorigen Wochenende mit dem „Demokratischen Aufbruch" im Gemeindesaal der Samariter-Kirchengemeinde in Berlin gesessen hat, der kennt die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen
und weiß mit allen unseren Erfahrungen: So kann man Wahlkampf nicht führen. Auch darum müssen wir uns kümmern, nicht nur um Rechtsformen.
({21})
Graf Lambsdorff, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Vollmer?
Frau Präsidentin, wenn Sie mir das nicht auf die Redezeit anrechnen, gerne. Bitte sehr.
Herr Kollege, nachdem Sie gesagt haben, die GRÜNEN hätten keinen entscheidenden Beitrag zur Kennzeichnung der Entwicklung in der DDR geleistet, frage ich Sie: Würden Sie mir bitte sagen, wer in diesem Haus als erste den Prozeß, der da abläuft, als demokratische, gewaltfreie Revolution bezeichnet hat, und zwar bevor die Mauer gefallen ist?
Sie haben nicht zugehört, verehrte Frau Kollegin. Ich habe ausdrücklich gesagt: Sie haben in den letzten Wochen, seit diesen Ereignissen keinen konkreten Beitrag zur politischen Diskussion und zur Weiterentwicklung dieser Fragen geleistet. Darauf bezog sich das, nicht auf die Vorgeschichte.
({0})
Ich bestreite überhaupt nicht, daß einige von Ihnen in der Vergangenheit Kontakt zu allen Gruppen in der DDR gesucht haben. Ich bestreite auch nicht, daß vieles bei den basisdemokratischen Gruppen in der DDR aus der ökologischen Bewegung, aus der Sorge um die Umwelt geschieht. Aber Sie sollten mal hingehen und deren Umweltsituation mit der des angeblich kapitalistischen Systems bei uns vergleichen, um zu sehen, was da angerichtet worden ist.
({1})
Ich möchte dem Kollegen Vogel sagen: Natürlich gilt das gleiche, was ich über oppositionelle Gruppen in der DDR gesagt habe, auch für sich formierende Parteien, auch für die SDP. Aber es ist schon merkwürdig, Herr Kollege Vogel, daß der Vertreter der neu gegründeten SDP auf dem Landesparteitag Ihrer Partei in Köln Pfiffe entgegennehmen mußte, als er sich für die soziale Marktwirtschaft aussprach
({2})
- solche Pfiffe gibt's immer -, aber ohne daß ihn der Vorsitzende, der Ministerpräsident Rau, dagegen in Schutz genommen hat. Das ist der Punkt.
({3})
- Herr Vogel, darf ich einmal eine persönliche Bemerkung machen. Wir entwickeln in diesen Diskussionen ja alle gewisse Stereotypen. Wenn Sie zwei Dinge rufen, entweder „Es ist ein Märchen!" oder Sie
rufen „Dummes Zeug! " , dann heißt das: Der Redner hat recht gehabt. Das kenne ich schon aus vielen Debatten.
({4})
Wir sind zur Hilfe und Unterstützung bereit. Wir stellen dafür außer dem Ruf und der Forderung nach Selbstbestimmung keine Bedingungen. Ich gehe einen Schritt weiter. In manchen Punkten braucht es auch keine ökonomischen Voraussetzungen zu geben, die für die Wirksamkeit von Hilfe sonst unerläßlich sind.
({5})
Beim Umweltschutz haben wir auch ein eigenes Interesse, etwas zu tun. Im Telefonsystem muß man nicht immer auf den Staat warten. Es gibt inzwischen ein privates Angebot. Ob dabei etwas herauskommen kann, werden wir sehen. Die Vorstellung, das müsse alles der Staat tun, ist wohl etwas im bundespostamtlichen Denken verwurzelt.
Auf dem Gesundheitssektor können wir nicht warten, bis irgendwelche Entscheidungen darüber getroffen worden sind, wie das gemacht werden kann. Herr Vogel, es gibt große Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung. Aber wir stimmen der Aussage zu, daß etwas getan werden muß.
({6})
Graf Lambsdorff, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Ich nehme an, Frau Präsidentin, Ihre Großzügigkeit gilt für die gesamte Redezeit. - Ich bedanke mich sehr. - Bitte!
Graf Lambsdorff, ich war auf dem Parteitag in Köln, habe die ganze Zeit zugehört und habe nichts von Pfiffen vernommen. Darf ich Sie fragen, woher Sie die Weisheit haben, daß Herr Rau dort mit Pfiffen bedacht wurde und
({0})
- Augenblick einmal, nun einmal langsam - ({1})
Herr Kollege Stahl, wenn Herr Rau dort mit Pfiffen bedacht worden wäre
({0})
- lassen Sie mich eben meine Zwischenantwort geben - , sähe ich an dieser Stelle keinerlei Anlaß zu Kritik.
({1})
- Bitte sehr.
Graf Lambsdorff, meine Frage bezog sich natürlich auch auf den Sprecher der Sozialdemokratischen Partei aus der Deutschen Demokratischen Republik. Ich verstehe nicht, woher Sie hier die Weisheit nehmen, daß er bei seiner Rede, die er dort hielt, anschließend mit Pfiffen bedacht wurde. Das Gegenteil war der Fall.
({0}) Woher haben Sie denn diese Weisheit?
Ich habe gesagt, daß nach Presseberichten - ({0})
- Ich komme nachher noch einmal auf ein Interview der „Süddeutschen Zeitung" vom 25. November zu sprechen, Herr Vogel. Nach Presseberichten wurde nicht am Ende gepfiffen, sondern bei Erwähnung des Stichwortes: Wir wollen die Soziale Marktwirtschaft.
({1})
Denn interessanterweise hat die Sozialdemokratische Partei in der DDR als erste aller Gruppierungen erklärt: nichts mit Sozialismus, sondern Soziale Marktwirtschaft. - Das muß für Sie schwierig sein,
({2})
ich verstehe das, aber es war so.
({3})
Wir erwarten deswegen, daß Voraussetzungen geschaffen werden, damit Unterstützung nicht ins Bodenlose fällt oder etwa bei privatem Engagement überhaupt erst beginnt.
Die Diskussion, die auch hier über das Stichwort Sozialismus in der DDR, besseren Sozialismus, edlen, guten Sozialismus - nachdem das, was man versucht hat, gescheitert ist - , geführt wird, geht von Tag zu Tag weiter. Ich habe das neueste Flugblatt des Demokratischen Aufbruchs gestern aus Berlin mitgebracht: kein Wort von Sozialismus, eine Menge über Marktwirtschaft und vernünftige Vorstellungen. Man kann ja nicht erwarten, daß nach 40 Jahren Indoktrination dieses Stichwort „Sozialismus" - ich setze Sie nicht damit gleich, Herr Vogel - plötzlich überwunden wird, einfach aufgegeben wird. Da kommen Menschen, denen man gründlich zu erläutern versucht, warum ihnen sozialistische Wirtschaftsformen auch in einer besseren Ausgestaltung nicht helfen können und das Elend nicht überwinden werden, und sagen einem: Du nimmst uns eigentlich unsere ganze Hoffnung; daran glauben wir doch nun seit 20, 30, 40 Jahren. Es ist ihnen ja beigebracht worden. Ich bitte um Verständnis dafür - ich bin wahrlich kein Sozialist, das wissen Sie - , und zwar auch deswegen, weil es in der DDR natürlich einen Übergang zu marktwirtschaftlichen Formen geben wird. Auch wir leben doch nicht in der lupenreinen Marktwirtschaft. Wie denn?
({4})
- Was heißt denn „endlich" ? Das weiß ich schon eine ganze Weile, Frau Matthäus-Maier, das ist mir nicht erst eben eingefallen. Ich wünschte, es wäre ein bißchen mehr, und Sie wünschen, es wäre ein bißchen weniger; darum streiten wir dann auch.
({5})
Also, es wird einen Übergang auch in der DDR geben.
Wenn Sie, Herr Vogel, für den Sozialismus die Herren Gonzales und Mitterrand in Anspruch nehmen, dann finde ich das ganz interessant. François Mitterrand hat es von 1981 bis 1983 mit sozialistischer Wirtschaftspolitik probiert. Dann hat er sie sehr couragiert aufgegeben, hat eine Kehrtwendung gemacht und betreibt nun eine Wirtschaftspolitik im Kontext der Europäischen Gemeinschaft, die mit sozialistischen Vorstellungen nicht viel zu tun hat.
({6})
Als Herr Gonzales zu seinem ersten Regierungsbesuch gerade nach der Neubildung der ersten Regierung Kohl/Genscher hier war, habe ich mit seinem damaligen Wirtschaftsminister gesprochen und dem Ministerpräsidenten später gesagt: Wenn alle Sozialisten so sind wie Ihr Wirtschaftsminister Boyer, dann könnten Sie mich noch dazu bewegen, Sozialist zu werden. Aber die deutschen Sozialdemokraten halten mich davon ab.
({7})
Ich muß in diesem Zusammenhang sagen, meine Damen und Herren: Ich kritisiere heute nicht die deutschlandpolitischen Aktivitäten der SPD in der Vergangenheit - das ging für mich zuweilen doch sehr in bedenkliche ideologische Niederungen -, aber ich frage, Herr Vogel, wie es möglich ist, daß sich der stellvertretende SPD-Vorsitzende, Herr Lafontaine, vor drei Tagen wieder gegen eine einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft ausgesprochen hat. Kaum hatten Sie mir am 24. geschrieben, hatten auch noch eine schöne Pressemeldung darüber gemacht, wie falsch ich läge, da mußten Sie am 25. in der „Süddeutschen Zeitung" lesen,
({8})
daß Lafontaine dasselbe wiederholte.
({9})
- Ich liege gar nicht falsch.
({10})
- Wieso? Ich liege überhaupt nicht falsch.
({11})
Wir sagen hier noch einmal: Ohne die einheitliche deutsche Staatsbürgerschaft - das ist der ernste Hintergrund all dieser Bemerkungen und Diskussionen - hätte Ungarn die Tore für die, die in unserer
Botschaft Zuflucht gesucht hatten, nicht öffnen können.
({12})
Ohne die deutsche Staatsbürgerschaft hätte es zu der bewegenden Szene nach der Erklärung von Außenminister Genscher im nächtlichen Prag nicht kommen können.
({13})
Wollte und will Herr Lafontaine so etwas verhindern? Die SPD muß das klären. Herr Vogel, Sie sollten das hier und heute im Deutschen Bundestag tun. Herrn Lafontaine kann ich nur dringend empfehlen
- das liegt vielleicht auch im Interesse des einen oder anderen von Ihnen - , sich mit dem sehr bemerkenswerten Aufsatz von Frau Seebacher-Brandt in der „FAZ" vom 21. November über die Linken und die Einheit sehr intensiv zu beschäftigen. Das war eine interessante Lektüre!
({14})
- Ich lese das Feuilleton, Herr Vogel.
({15})
Herr Vogel, Sie müssen sich immer wieder einmal auf Überraschungen gefaßt machen und gewisse stereotype Vorstellungen aufgeben.
({16})
- Richtig, aber dennoch gibt es Überraschungen.
Meine Damen und Herren, selbst in diesen Tagen kann sich deutsche Politik nicht auf unsere Beziehungen zur DDR allein konzentrieren. Der Besuch des Bundeskanzlers in Polen hat gezeigt - seine Visite in Budapest wird es bestätigen - , welch neue Verantwortung die Außen-, Wirtschafts- und Finanzpolitik diese Regierung übernommen hat und weiter zu übernehmen hat. Die Freien Demokraten stellen sich dieser Verantwortung, und wir vergessen nicht, daß wir auch dabei auf der Arbeit früherer Regierungen aufbauen können. Wir stellen fest, daß die Anstrengungen des Außenministers maßgeblich zum Klima der Verständigung, der Abrüstungsbereitschaft, des Willens zur Kooperation beigetragen haben, das heute die Ost-West-Beziehungen bestimmt, und wir danken ihm dafür.
({17})
Natürlich ist das vor allem Sache der Supermächte. Deswegen setzen wir nachdrückliche Erwartungen in das Gespräch Bush/Gorbatschow in der nächsten Woche. Wir glauben, daß beide nicht über unsere Köpfe hinweg die Zukunft Europas beraten, sondern das Ende des Zeitalters der Spannungen beschleunigen wollen.
Wir erleben in der Tat nicht nur in der Abrüstungspolitik ein neues Kapitel der Weltgeschichte. Wir, die Deutschen, können nicht nur sagen, daß wir dabeigewesen sind, sondern auch sagen, daß wir dazu beigetragen haben, auch mit unserer Europapolitik. Die Dynamik, die mit der Vorbereitung auf den gemeinsamen Markt ausgelöst worden ist, der feste Wille zur Wirtschafts- und danach zur Währungsunion haben auch die Ereignisse in Osteuropa beflügelt und vorangebracht. Deswegen, Herr Bundeskanzler, sind wir mit Ihnen darüber einig: Europa endet nicht an den Grenzen der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben das von jeher so gesehen. Wir wollen ein freiheitliches Europa über die heutigen Mitgliedsländer der Gemeinschaft hinaus. Wir erwarten konkrete Beschlüsse des Europäischen Rates in Straßburg sowohl in bezug auf Zusagen in Richtung Osten als auch in bezug auf Fortschritte auf dem Weg zur Europäischen Union.
Der stürmische Wandel im Osten erlaubt und erfordert zugleich eine neue Dynamik, weitere Fortschritte in der Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Das gilt für die Wiener Verhandlungen. Das gilt für den KSZE-Prozeß. Das gilt für die Gespräche in Genf und für die endgültige Abschaffung von B- und C-Waffen. Die günstigen Entwicklungen sprechen heute dafür, daß die Modernisierung der Kurzstreckenraketen in Europa obsolet geworden ist.
({18})
Wir müssen daran mitarbeiten, daß die Voraussetzungen dafür noch besser werden. Dazu gehört auch viel wirtschaftliche Unterstützung.
Der Außenminister hat den sich abzeichnenden Wandel der Weltpolitik frühzeitig erkannt; anfangs hart kritisiert, ist ihm längst internationale Zustimmung sicher. Wir freien Demokraten stehen uneingeschränkt hinter dieser Politik umfassender zweiseitiger kontrollierter Abrüstung, die auch der materiellen und finanziellen Unterfütterung bedarf.
Das alles kann auch Konsequenzen für unsere eigene Verteidigungs- und Bundeswehrpolitik haben. Die FDP hält an der Auffassung fest, daß wir einen endgültigen Verzicht auf die 18monatige Dauer des Wehrdienstes aussprechen sollten, wenn die Abrüstungsverhandlungen die notwendigen Fortschritte machen.
({19})
Meine Damen und Herren, Deutschland im Jahre 1989, das heißt auch: eine zerrüttete, eine heruntergewirtschaftete Wirtschaft in der DDR und acht Jahre ökonomischer Aufschwung bei uns. Das Wachstum setzt sich fort. Das geschieht auch deshalb, weil Regierung und Koalition Reformen auf sich genommen haben wie niemals zuvor. Die Nörgler und Untergangspropheten sind schweigsamer geworden - das fiel mir auch bei der Rede des Kollegen Vogel ein - , und sie haben auch allen Grund dazu. Ich habe niemals mit Kritik - nicht immer zur Freude des Herrn Bundeskanzlers, vor allem wenn die Interviews so früh über den Sender gehen - , wo sie mir nötig erschien, hinter dem Berge gehalten. Ich sage aber heute: Diese Reformpolitik hat unser Land beweglicher und damit stabiler gemacht. Die Reform der Gesundheitspolitik hat die Kosten gesenkt, hat die Kassen entlastet, ohne den Versicherten unzumutbare Belastungen aufzubürden. Die Beiträge zu den Krankenkassen sind geDr. Graf Lambsdorff
sunken oder stabil geblieben. Die Festbetragsregelung hat sich - auch ich hatte Bedenken; Herr Cronenberg weiß das - als marktwirtschaftliches Steuerungselement bisher jedenfalls bewährt.
({20})
Die Gesundheitsreform war notwendig, sie war richtig, und sie war ein sozialpolitischer Erfolg.
Mit der Rentenreform ist das nicht anders. Meine Freunde und ich begrüßen es, daß auch die sozialdemokratische Fraktion intensiv und konstruktiv an dieser Gesetzgebung mitgearbeitet hat und sie mit uns trägt. Es ist gut, daß in einer für die Mehrheit der Bürger so existentiellen Frage ein koalitionsübergreifender Konsens gefunden werden konnte.
Für die aktiven Erwerbstätigen wird die dritte Stufe der Steuerreform steuerliche Entlastungen von mehr als 20 Milliarden DM bringen. Ich mache keinen Hehl aus meiner Meinung, daß ich die Steuerreform wirklich für ein Reformwerk halte, das zwar weiter ergänzt werden muß, das aber nur in dieser Koalition von Christlichen Demokraten und Liberalen durchzusetzen war.
({21})
In keiner anderen Zusammensetzung hätten wir das geschafft. Ich sage auch: Schon deshalb, aber gewiß nicht nur deshalb mußte und muß diese Koalition sein.
Wir sind wegen dieser Reform viel kritisiert worden. Ich habe manche Ungeschicklichkeit selbst aufs Korn genommen. Aber der Erfolg ist heute unübersehbar. Die Steuereinnahmen sind nicht trotz, sondern wegen der Steuerreform kräftig gestiegen.
({22})
Aber auch daraus wird die SPD nichts lernen. Sie bleibt die Steuererhöhungspartei!
({23})
Wir geben uns mit dem Erreichten nicht zufrieden. Die Unternehmenssteuerreform wird in der nächsten Legislaturperiode folgen, nicht um die Unternehmer reicher zu machen, sondern um Luft und Raum für Risikobereitschaft, neue wirtschaftliche Aktivitäten und Arbeitsplätze zu schaffen. Ohne einen solchen Schritt würden wir den Investitionsstandort Bundesrepublik Deutschland ernsthaft beschädigen.
Meine Damen und Herren, wir halten uns ganz gern an das Gutachten des Sachverständigenrates, das wir vor wenigen Tagen bekommen haben. Wir Liberalen können Satz für Satz des Gutachtens unterschreiben. Das gilt nicht nur für seine wirtschaftliche Lagebeschreibung und seine Prognose, sondern ebenso für die Ausführungen zur Umweltpolitik, die bei allen bisherigen Erfolgen, die doch kein Vernünftiger bestreiten kann, künftig noch mehr mit marktwirtschaftlichen Instrumenten arbeiten sollte.
({24})
Der Rat macht dazu sehr bedenkenswerte Vorschläge, die nicht beiseite gelegt werden können und die sich erfreulicherweise weitgehend mit früheren Anregungen meines Freundes Helmut Haussmann decken.
Die FDP wiederholt ihre Forderung nach einer Finanzierungsregelung für die geplante Novelle zum Naturschutzgesetz. Herr Bundesfinanzminister, ich weiß, Sie haben grundsätzliche Bedenken, die ich auch verstehe. Aber bevor gar nichts kommt, stimmen Sie bitte der Finanzierung über die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur" zu!
({25})
Noch eines könnte spätestens jetzt den unverdrossenen Wachstumskritikern klar werden: Eine wachsende kraftvolle Wirtschaft schafft überhaupt erst die Voraussetzungen für effizienten Umweltschutz. Sehen Sie sich die Zustände in der DDR an, wo ein verrottendes, nicht mehr wachsendes Wirtschaftssystem jeden Umweltschutz getötet hat und wo nach unseren Maßstäben nicht nur Unternehmen geschlossen, sondern ganze Regionen evakuiert werden müßten. Sehen Sie sich auch die Zustände in den Staaten Osteuropas an und vergleichen Sie. Wirksamen Umweltschutz gibt es offensichtlich nur in einer dynamischen, marktwirtschaftlichen Ordnung und sonst nirgends.
({26})
Was haben die GRÜNEN dazu anzubieten? Sie empfehlen uns den Umbau der Industriegesellschaft und scheitern schon bei der Renovierung des Hauses Wittgenstein.
({27})
Auch deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir diese Ordnung immer weiter ausbauen, und auch deshalb brauchen wir mehr marktwirtschaftliche Elemente in der Umweltschutzpolitik und keine Benzinpreiserhöhungen, keine Steuererhöhungen, die immer nur die Ärmeren treffen und die anderen nicht. Ich begreife nicht, warum diese Binsenweisheit der SPD immer noch nicht beigebracht werden konnte, warum sie Steuern niemals senken, sondern immer nur erhöhen will, warum sie keine Steuern abschaffen, sondern stets neue einführen möchte und warum sie selbst die Hilfe an die DDR zum Vorwand nimmt, eine Steuerreform rückgängig machen zu wollen, die doch erst die Voraussetzungen für zunehmende Wirtschaftskraft schafft.
({28})
Aber darüber werden wir uns mit Ihnen im nächsten Jahr mit Freude unterhalten. Beschließen Sie erst einmal Ihr Programm „Rückschritt '90".
({29})
Meine Damen und Herren, wir brauchen Wachstum, und es geht weiter, wenn es nicht durch selbstgemachte Fehlentscheidungen aufs Spiel gesetzt wird. Damit meine ich nicht die Regierung, damit meine ich vor allem die Tarifvertragsparteien. Man könnte schon etwas bänglich werden, wenn die IG Metall schon vor der Aufnahme der Tarifverhandlungen mit bundesweiten Streiks droht und die Arbeitgeb erseite mit bundesweiten Aussperrungsankündigungen kontert, bevor man sich auch nur ein einziges Mal zusammengesetzt hat.
({30})
Wir halten das im Interesse der Arbeitnehmer und im Interesse unserer Wirtschaft für völlig unangebracht.
Die größte Gefahr für ein anhaltendes Wirtschaftswachstum droht von unangemessenen Tarifabschlüssen und vor allem von überzogenen Arbeitszeitverkürzungen, mit denen jede Besserung auf dem Arbeitsmarkt von vornherein verhindert würde, gerade für wenig qualifizierte Arbeitnehmer.
({31})
Und außerdem, meine Damen und Herren: Die Leute wollen ja auch mehr Geld! Sie brauchen es übrigens, um die viele Freizeit zu finanzieren - das ist ja alles in Ordnung - , die sie jetzt schon haben.
Wir geben die Hoffnung nicht auf, daß alle, die es angeht, unsere Lage erkennen und dabei auch die riesigen Erwartungen auf Unterstützung in Rechnung stellen, die an uns gestellt werden: aus der DDR, aus Polen, aus Ungarn, aus der Sowjetunion; und die CSSR mag auch bald dazukommen. Wir dürfen darüber im übrigen nicht die Entwicklungsländer vergessen, nicht die wirtschaftlich rückständigen Mitgliedstaaten der EG; auch da gibt es Verpflichtungen.
({32})
Es ist keine patriotische Übertreibung, wenn ich sage: Alle blicken in Europa zuerst auf die Deutschen. Auch in der Europäischen Gemeinschaft ist das leider nicht anders, wenn es um Hilfe für andere geht.
({33})
Der Bundeskanzler wird es nach seinen jüngsten Besuchen in Paris und Straßburg bestätigen können. Es ist ja gut, wenn man im Ministerrat und in dem noch größeren, höheren und schöneren Europäischen Rat oder gar beim Abendessen beschließt, die hehre Europäische Gemeinschaft soll helfen. Aber daß die nationalen Regierungen der Europäischen Gemeinschaft dafür dann auch das Geld geben müssen, um zu helfen, ist immer der zweite Schritt, und der sollte dann freundlicherweise auch getan werden.
Eine solche Entwicklung, eine solche Diskussion und manche Zurückhaltung braucht uns nicht zu gefallen, und es braucht uns vielleicht auch nicht zu gefallen, daß wir diejenigen sind, die vordringlich in Anspruch genommen werden. Aber das ist eben auch ein Zeichen dafür, welchen wirtschaftlichen Rang und welchen politischen Ruf wir inzwischen erworben haben. Ich sage für meine Freunde in allem Ernst: Die Bundesrepublik Deutschland muß auch die Bürde der Erfolge tragen, die sie sich selbst erarbeitet hat. Wir können sicherlich nicht alle Wünsche erfüllen. Aber wir können uns erst recht nicht abwenden, wenn ein paar hundert Kilometer weiter ganze Völker vor einem Winter mit drohendem Hunger und Kälte stehen.
({34})
Wir können uns nicht abwenden, wenn der Weg zu mehr Freiheit überall in Europa gesichert werden muß.
Wir Liberale sagen ja zu solchen Verpflichtungen. Die Politik der Mehrheit des Bundestages, die Politik der von uns getragenen Bundesregierung hat die Voraussetzungen für eine verantwortungsvolle Rolle der Bundesrepublik in Europa und darüber hinaus geschaffen. Die Zeichen stehen gut, daß wir diese Position auch künftig einnehmen können. Sie stehen gut dafür, daß wir bei wachsendem Wohlstand im eigenen Land auch unseren Beitrag zu einer internationalen Freiheits- und Friedensgemeinschaft noch besser als bisher leisten können.
Damit es dabei bleibt, werden wir die bisher verfolgte Politik in allen ihren Bereichen noch konsequenter betreiben müssen. Dazu sind die Freien Demokraten bereit.
({35})
Wir ermutigen die Bundesregierung, und wir ermutigen die Koalition, das kommende Jahr nicht mit Versprechungen und Wahlgeschenken zu vertun, sondern den eingeschlagenen Weg in der Innen- und in der Außenpolitik unbeirrt voranzugehen. Wir haben als Bundesrepublik - und da wir nun einmal die gewählte Regierung sind: als Bundesregierung und Koalition - eine große Verantwortung - trotz Wahlen, trotz eines Wahljahres. Ihr müssen wir gerecht wer- den. Wir wollen unseren Beitrag dazu leisten.
({36})
Das Wort hat der Bundeskanzler, Herr Dr. Helmut Kohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zur Haushaltsdebatte mit der Diskussion über den Etat des Bundeskanzlers gehört selbstverständlich eine Diskussion über alle relevanten und wichtigen Bereiche der Politik. Zu einer solchen Debatte gehört selbstverständlich auch die Kritik.
Herr Kollege Vogel, ich habe schon den Eindruck, daß der Kollege Lambsdorff recht hat: Sie waren heute - zumindest zum Teil - bemerkenswert zurückhaltend. Ich hätte mit eigentlich gewünscht, daß Sie etwas mehr zu dem Thema Wirtschaftspolitik gesagt hätten, denn in den vergangenen Jahren haben Sie in bezug auf die wirtschaftliche Entwicklung jeweils wahre Horrorgemälde entworfen. Nichts von dem ist eingetreten!
({0})
Aber Sie haben Ihre Rede sodann - das entspricht ja seit langem Ihrer Taktik - praktisch in zwei Teile geteilt, zum einen in das übliche Angebot zur Gemeinsamkeit, um dann im zweiten Teil zur Beschimpfung des politischen Gegners überzugehen.
({1})
- Wissen Sie, das Bild, das Sie hier von der sozialen Wirklichkeit der Bundesrepublik gezeichnet haben, hat mit der Wirklichkeit nun gar nichts zu tun.
({2})
Weil dies so ist, ist auch das, was Sie zu dem ersten
Teil gesagt haben, für mich nicht sehr überzeugend.
Schwerpunkt der heutigen Debatte ist notwendigerweise und ganz selbstverständlich die dramatische Veränderung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa, nicht zuletzt und vor allem auch in der DDR. Bevor ich mich diesem eigentlichen Thema meines Redebeitrags zuwende, ist es, glaube ich, notwendig, daß wir über einiges sprechen, was im abgelaufenen Jahr die Entwicklung unserer Bundesrepublik Deutschland im Innern ausgezeichnet hat. Ich spreche deswegen zunächst einmal zum Thema Wirtschaftsentwicklung und auch zur Entwicklung der Reformpolitik dieser Koalition und der Bundesregierung.
Die deutsche Wirtschaft, die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland, wächst nun im siebten Jahr. Sie wird nach allem, was wir voraussehen können, auch im kommenden Jahr wachsen. Das Gutachten der Sachverständigen hat dies in der vergangenen Woche ja auch wieder deutlich hervorgehoben.
Meine Damen und Herren, die reale Leistung unserer Volkswirtschaft ist heute um ein rundes Fünftel höher als 1982. Das bedeutet nicht nur mehr Wohlstand für den einzelnen, sondern auch mehr Möglichkeiten der Vorsorge für eine lebenswerte Umwelt im Interesse der nachfolgenden Generationen. Ich schließe mich hier ganz dem an, was Graf Lambsdorff gerade gesagt hat: Das gibt uns überhaupt erst die Chance, anderen helfen zu können,
({3})
beispielsweise in der Dritten Welt, auch unter ökologischen Gesichtspunkten. Wenn ich in diesem Zusammenhang den Schuldenerlaß der Bundesrepublik Deutschland für die ärmsten Länder der Welt betrachte, so stehen wir hinsichtlich der Erfüllung dieser Solidarpflicht immerhin mit an der Spitze der Völker dieser Welt.
({4})
Meine Damen und Herren, aus den Gesprächen der letzten Wochen in Polen, mit dem ungarischen Ministerpräsidenten am Sonntag vor acht Tagen und mit vielen anderen, die aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu uns kommen, weiß ich, daß diese Länder, die sich in einer zunehmend schwierigen Lage befinden, Hilfe von uns erwarten. Ich bin dafür, daß wir Hilfe gewähren; aber daß wir sie gewähren können, verdanken wir der erfolgreichen Politik der letzten Jahre.
({5})
All jene, die uns ihre Null-Perspektive beim Wachstum als eine wirtschaftliche Zukunftsperspektive verkaufen wollten, sind durch die Tatsachen ja längst widerlegt.
({6})
- Viele reden von Null, wenn sie in diesem Zusammenhang von ihrem Wirtschaftsprogramm reden. Meine Damen und Herren, daß wir eine solche Entwicklung haben, ist auch deswegen möglich, weil in der Bundesrepublik wieder ganz selbstverständlich Mut zum unternehmerischen Risiko vorhanden ist. Die Unternehmen investieren in diesem Jahr mit zweistelligen Zuwachsraten in Maschinen und Anlagen. Wir begrüßen das. Das hat mit einer ruhigen, mit einer sachlichen, mit einer vernünftigen Rahmensetzung durch die Politik in der Bundesrepublik Deutschland zu tun.
({7})
In allen Volkswirtschaften der Welt wird auch immer die Zahl der Unternehmensneugründungen als ein wichtiger Indikator betrachtet. Auch an dieser zunehmenden Zahl kann man erkennen, daß das Vertrauen gewachsen ist. Der Expansionsprozeß hat damit - so sagen die Sachverständigen - eine neue Qualität gewonnen. Die deutsche Wirtschaft gehört international wieder zur Spitze. Das ist ein wichtiges Ergebnis, ein Ergebnis vernünftiger politischer Rahmenbedingungen, ein Ergebnis der Leistung der Arbeitnehmerschaft und der Unternehmer in unserem Lande,
({8})
auch ein Ergebnis - trotz aller Auseinandersetzungen - einer vernünftigen Gesprächsatmosphäre zwischen Unternehmern, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften. All das gehört zusammen.
({9})
Mehr unternehmerischer Mut, mehr private Investitionen bedeuten auch mehr Arbeitsplätze. Dieser Zusammenhang hat sich in diesem Jahr einmal mehr eindrucksvoll bestätigt. Die Zahl der Arbeitsplätze wächst seit nunmehr sechs Jahren. Um eine wirklich vergleichbare Entwicklung zu finden, muß man in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bis in die 50er Jahre zurückgehen.
({10})
Niemals in der 40jährigen Geschichte unserer Republik gab es mehr Arbeitnehmer, die in Lohn und Brot standen, als heute.
Im Vergleich zum Herbst 1983 ist die Zahl der Beschäftigten um 1,3 Millionen gestiegen. In einem Jahr - das ist die Prognose der Sachverständigen - werden es höchstwahrscheinlich noch einmal 400 000 mehr sein. Wenn ich mich daran erinnere, wie in den sieben Jahren meiner Amtszeit die Prognosen der sozialdemokratischen Sprecher dazu lauteten, dann ist mein Wort vom „Horrorgemälde", das Sie zeichnen, sehr wohl am Platz.
({11})
Die konsequente Politik für Wachstum und Arbeitsplätze ist - das ist einmal mehr bewiesen - eine wirklich soziale Politik im Interesse der Arbeitnehmer.
Richtig ist auch - das gehört ebenfalls zu einem fairen Zeichnen des Bildes -, daß die Zahl von
1,9 Millionen Arbeitslosen für uns nach wie vor nicht akzeptabel ist
({12})
und daß das eine große Herausforderung ist, die niemand bestreiten kann. Gleichwohl sind auch auf diesem Feld die Fortschritte nicht zu übersehen.
({13})
Die Arbeitslosenzahl ist um 200 000 niedriger als vor einem Jahr. Auch im Durchschnitt der EG - und gemessen an allen westlichen Industrieländern - stehen wir heute günstiger da.
Wir wissen auch, daß dieses Problem noch einen neuen, dynamischen Akzent bekommen hat angesichts der gewachsenen Zahl von Aussiedlern, die in den letzten Jahren - und auch in diesem Jahr - zu uns gekommen sind. Wie sähe heute die Lage in der Bundesrepublik angesichts von rund 700 000 Aus-und Übersiedlern in diesem Jahr aus, wenn wir nicht eine so günstige wirtschaftliche Entwicklung gehabt hätten?
({14})
Bei dieser Gelegenheit möchte ich aber einmal darauf hinweisen, daß die Zahl der Arbeitslosen kein starrer Block ist. Pro Jahr melden sich 3 bis 4 Millionen Personen als arbeitslos. Eine ähnlich hohe Zahl von Arbeitslosen findet gleichzeitig wieder eine Beschäftigung. Jeder dritte Arbeitslose ist weniger als drei Monate ohne Arbeit.
({15})
Das heißt, hinter diesen Zahlen verbirgt sich eine ganz andere Entwicklung, als sie häufig in der Öffentlichkeit dargestellt wird.
({16})
Für uns sind das alles keine Zufallserfolge. Es sind die Früchte einer Politik, die konsequent auf mehr Leistung, mehr Innovation und auf Eigeninitiative gesetzt hat. Das ist die erfolgreiche Politik im Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft, die eben keine Ellbogengesellschaft ist, sondern die Leistung belohnt und denjenigen, die tüchtig sind, die Chance gibt, auch etwas erreichen zu können.
({17})
Und wer nun auf die Jahre seit dem Spätherbst 1982 zurückblickt, der muß sich doch die Frage stellen: Wo stünde die Bundesrepublik Deutschland heute, auch angesichts der Erwartungen unserer Partner in der EG unserer Nachbarn, in Mittel-, Ost- und Südosteuropa und der Länder in der Dritten Welt, wenn wir nicht in diesen Jahren das Ruder kräftig herumgerissen hätten,
({18})
wenn wir nicht, meine Damen und Herren, wieder
erfolgreich geworden wären, indem wir den Kurs der
Sozialen Marktwirtschaft konsequent durchgehalten haben?
({19})
Wenn die Staatsquote von 50 % auf 45 % zurückgegangen ist, dann macht das immerhin - auch diese Zahl soll einmal genannt werden - rund 100 Milliarden DM aus, die jetzt Jahr für Jahr bei den Privaten verbleiben. Wir haben den Anstieg der Staatsausgaben seit 1982 auf durchschnittlich 3 % gedrosselt. Zwischen 1970 und 1982 war der Zuwachs dreimal so hoch. Meine Damen und Herren, wir haben damit auch Luft geschaffen für steuerliche Möglichkeiten, um den Freiheitsraum des Bürgers zu erweitern.
Was immer Sie an Diffamierungen in den letzten zwei Jahren zu diesem Thema vorgetragen haben: Das größte Steuerreformpaket in der Geschichte der Bundesrepublik entlastet Arbeitseinkommen, Unternehmenserträge zwischen 1986 und 1990 um fast 53 Milliarden DM. Und, meine Damen und Herren, jeder spürt, daß dies einen ausgesprochen positiven Impuls für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung gegeben hat. Im Gegensatz zu dem, was die Sozialisten bei uns landauf, landab propagieren, ist für jedermann unübersehbar - nicht zuletzt auch für den Arbeitnehmerhaushalt -, daß alle von dieser Steuerentwicklung profitieren, auch und gerade Arbeitnehmerhaushalte mit niedrigen Einkommen und die Familien;
({20})
so z. B., meine Damen und Herren, wenn ab Januar nächsten Jahres, also in ein paar Wochen, eine halbe Million Arbeitnehmer zusätzlich überhaupt keine Steuern mehr zahlen; so z. B., wenn ein durchschnittlich verdienender Familienvater mit zwei Kindern im kommenden Jahr fast 2 000 DM mehr in der Lohntüte sehen wird; so z. B., wenn die Familien ab 1990 insgesamt rund 18 Milliarden DM mehr zur Verfügung haben werden als 1985.
In diesen Zusammenhang gehören auch die Reformmaßnahmen im Bereich der sozialen Sicherung. Meine Damen und Herren, wir haben monatelang hier - und noch mehr draußen im Lande - die gewaltige Diffamierungskampagne gegen die Gesundheitsreform erlebt. Heute sehen wir, daß die Kostenexplosion im Gesundheitswesen gestoppt werden konnte, daß die Beitragssätze zur Krankenversicherung nicht nur stabil sind, sondern erstmals sogar gesenkt werden konnten.
({21})
Das Ganze ist eine durch und durch soziale Politik. Ungeachtet Ihrer Demagogie haben wir diese notwendige Maßnahme zur Zukunftssicherung für unser Gesundheitswesen durchgesetzt.
({22})
Meine Damen und Herren, zu einem solchen Überblick gehört ein Wort des Dankes auch von meiner Seite, von seiten der Bundesregierung
({23})
an die sozialdemokratischen Kollegen, die gemeinsam mit den Kollegen aus der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion in einer guten und qualifizierten Zusammenarbeit die Rentenreform mitgetragen und beschlossen haben. Ich finde es - und hier stimme ich Graf Lambsdorff zu - ausgesprochen gut, daß es - bei allen Kontroversen in vielen wichtigen Fragen - möglich war, an einem Thema, das vor allem einen wichtigen Teil unseres Volkes, nämlich die ältere Generation, ganz unmittelbar betrifft, zu einem solchen Werk der Gemeinsamkeit zu kommen. Ich will hier noch einmal deutlich mein herzliches Wort des Dankes auch an die Kollegen richten, die diese Arbeit geleistet haben.
({24})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir können heute sagen: Die deutsche Wirtschaft startet von einer soliden Basis in die 90er Jahre. Die Unternehmensbefragungen der letzten Wochen und Monate zeigen deutlich: Zuversicht und Optimismus prägen die Stimmung im Lande. Und der Sachverständigenrat wählt dazu den Begriff „Aufbruchstimmung". Genau dies brauchen wir auch am Vorabend der Entwicklungen etwa in der Europäischen Gemeinschaft. Ich denke hier vor allem an den europäischen Binnenmarkt, den wir bis 31. Dezember 1992 vollenden wollen.
({25})
Die Menschen spüren die großen Herausforderungen, die vor uns stehen. Sie sehen, wie dieses Europa zusammenwächst. Der Investitionsboom bei uns und bei unseren europäischen Nachbarn spiegelt auch die Bemühungen wider, sich auf die Zeit nach 1992 vorzubereiten. Wir müssen alles tun, damit die deutschen Unternehmen auch und vor allem bei der Zukunftssicherung für die Arbeitsplätze die notwendigen Chancen erhalten, damit der Standort Bundesrepublik Deutschland das bleibt, was er ist: eine erstklassige Adresse in der Welt.
({26})
Meine Damen und Herren, zu den wirklich dramatischen Herausforderungen unserer Tage, nicht zuletzt auch angesichts der großen Zahl von Aus- und Übersiedlern, die ich eben nannte, gehört die angemessene Versorgung der Bürger mit Wohnungen. Niemand streitet ab, daß der unerwartet starke Zustrom von Aus- und Übersiedlern die Probleme ganz erheblich verschärft hat. Zugleich ist aber auch wahr, daß das veränderte Wohnverhalten vieler Mitbürger eine Entwicklung mit heraufbeschworen hat, in der immer mehr Wohnungen gebraucht werden und gebaut werden müssen. So nimmt die Zahl der Einpersonenhaushalte stark zu. Immer mehr Menschen - das hat etwas mit gestiegenen Ansprüchen und gestiegenem Volkseinkommen zu tun - wünschen sich komfortablere Wohnungen.
Die Bundesregierung hat auf die veränderte Lage rasch reagiert. Bereits im Mai haben wir grundlegende Beschlüsse zur Wohnungsbauförderung gefaßt.
({27})
- Meine Damen und Herren, ich würde an Ihrer Stelle zu diesem Thema gar nichts sagen.
({28})
Denn Sie gehören zu denen, die der deutschen Öffentlichkeit jahrelang die notwendigen Daten aus der Volkszählung verweigert haben. Auch das gehört zu dieser Erfahrung.
({29})
Sie haben jahrelang das, was für einen modernen Industriestaat selbstverständlich ist, nämlich die notwendigen objektiven Daten zu gewinnen, als Schnüffelei des Staates verunglimpft.
({30})
Das war doch Ihre Politik in diesem Zusammenhang.
({31})
Die Bundesregierung hat - ich sage es noch einmal - auf die veränderte Lage rasch reagiert.
({32})
Die Maßnahmen wirken bereits.
({33})
Die Zahl der Wohnungsbaugenehmigungen liegt um 25 % über dem Vorjahresstand.
({34})
Im Geschoßwohnungsbau beträgt der Anstieg sogar 60 %. Anfang dieses Monats haben wir weitere wichtige zusätzliche Schritte unternommen. Die Bundesregierung wird in den kommenden vier Jahren 8 Milliarden DM bereitstellen, mit deren Hilfe 500 000 Sozialwohnungen gebaut werden sollen. Der Studentenwohnungsbau wird ebenfalls wieder gefördert.
({35})
Meine Damen und Herren, wer kurzfristig mehr Wohnraum schaffen will,
({36})
muß jetzt auch bereit sein, unkonventionelle Wege zu gehen.
({37})
Dazu gehören befristete Änderungen des Planungs-und Baurechts.
({38})
Für das Jahr 1990 erwarten wir auf Grund all dieser Maßnahmen den Bau von insgesamt 300 000 neuen Wohnungen.
({39})
Das zeigt, daß die geplanten Maßnahmen greifen.
({40})
Die Bundesregierung allein kann diese Probleme nicht lösen.
({41})
Wir brauchen die Unterstützung der Länder und Gemeinden. Meine Damen und Herren, Sie sollten besser Ihr Augenmerk einmal auf dieses Thema richten. Wenn vor ein paar Tagen der nordrhein-westfälische Wohnungsbauminister mitteilt, daß die Großstädte in Nordrhein-Westfalen die ihnen zustehenden Fördermittel für den Bau von Mietwohnungen nur schleppend abrufen,
({42}) wenn die Landeshauptstadt Düsseldorf
({43})
erst ein Drittel der hierfür bereitgestellten Finanzmittel in Anspruch genommen hat, dann ist es hohe Zeit, daß Sie sich einmal um dieses Thema kümmern.
({44})
Was wir also brauchen, ist dies: Alle Beteiligten müssen ihre Verantwortung voll wahrnehmen
({45})
und ihren Beitrag leisten. Dann können wir die anstehenden Probleme lösen.
({46})
Meine Damen und Herren, am Arbeitsmarkt erfordert der massive Zuzug von Aus- und Übersiedlern von uns allen zusätzliche Anstrengungen. Wir wissen, nicht jeder Neuankömmling findet sofort einen Arbeitsplatz. Gerade bei vielen Aussiedlern sind sprachliche Barrieren und die oft unzureichende Qualifikation Hindernisse, die weggeräumt werden müssen; aber diese Schwierigkeiten sind lösbar. Außerdem: Die monatliche Arbeitsmarktstatistik ist eben nur die halbe Wahrheit. Sie sagt zum Beispiel nichts darüber aus, in wie vielen Fällen ein neu zugezogener Schlosser oder Polier eine Personallücke in den Betrieben längst geschlossen hat. Und sie kann schon gar nicht berücksichtigen, meine Damen und Herren, daß etwa die Rumäniendeutschen im Durchschnitt mit vier Kindern je Familie und die Rußlanddeutschen sogar mit fünf Kindern je Familie zu uns kommen und daß gerade auch diese Familien mit ihren Kindern die Zukunft unserer Bundesrepublik Deutschland mit erarbeiten.
({47})
Eines der großen Probleme der nächsten Jahre wird der Mangel an Facharbeitern sein. Auf der anderen Seite stehen wir vor der Tatsache, daß wir viel zu viele bei den Arbeitslosen haben, deren Qualifikation nicht ausreichend ist. Mit dem Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose, das seit Mitte des Jahres gut angelaufen ist, bietet die Bundesregierung auch diesen besonders benachteiligten Personengruppen zusätzliche Hilfen zur Qualifizierung und Wiedereingliederung an.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch hier ein Wort zu den Diskussionen über Tarifautonomie und Tarifpolitik sagen. Es besteht überhaupt gar kein Zweifel daran, daß es die Aufgabe der Tarifpartner ist - der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände - , Tarife auszuhandeln. Wir alle tun gut daran, dies als selbstverständlich zu akzeptieren. Ich finde, das ist eine der wichtigen und besten Erfahrungen aus der 40jährigen Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland.
Aber, meine Damen und Herren, wer angesichts des Strukturwandels von dem einzelnen Unternehmer und von einzelnen Arbeitnehmer mehr Anpassungswillen und Flexibilität verlangt, der muß dies natürlich auch von den Tarifpartnern fordern können, und das ist überhaupt kein Eingriff in die Tarifautonomie. Wenn sich etwa die deutsche Wirtschaft - und das gilt für alle, die hier beteiligt sind, für Unternehmen wie Gewerkschaften - bei der Teilzeitarbeit im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern in unserer Nachbarschaft am Ende der Entwicklung befindet, so ist dies doch ein klares Indiz für einen erheblichen Nachholbedarf auf unserer Seite.
({48})
Meine Damen und Herren, ich begrüße es, daß jetzt offensichtlich bei Unternehmensverbänden, bei Arbeitgebern und bei Gewerkschaften über diese Frage stärker diskutiert und nachgedacht wird. Ich begrüße dies ausdrücklich und hoffe, daß die Unternehmer und die Gewerkschaften hier zu neuen Ansätzen kommen. Es will mir nicht in den Kopf, daß das vergleichbare Nachbarland Niederlande prozentual praktisch doppelt so viele Teilzeitarbeitsplätze hat wie wir in der Bundesrepublik. Was dort möglich ist, muß auch bei uns möglich sein.
Meine Damen und Herren, aber auch das gehört zu den Bemerkungen zum Thema Tarifpolitik: Diejenigen, die die Politik - und vor allem die Regierung - bei jeder Gelegenheit für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung verantwortlich machen, müssen selbstverständlich auch zur Kenntnis nehmen, daß dann auch die Regierung das Recht hat, im Bereich der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ihre Meinung zum Ausdruck zu bringen.
({49})
Meine Damen und Herren, jeder, der gegenwärtig die Diskussion beobachtet und gleichzeitig die Herausforderungen und die Belastungen vor sich sieht, die in diesem Jahr und in den nächsten Jahren auf uns zukommen - etwa das „Fitmachen" unserer Republik für den europäischen Binnenmarkt nach dem 31. Dezember 1992, die enormen Erwartungen auf finanzielle Hilfe und Leistungen von uns überall in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie in der Dritten Welt, die Notwendigkeiten etwa im internationalen Umweltschutz, was viel Geld kosten wird - , der muß sich doch immer wieder die Frage stellen: Tun wir das Notwendige auch im Bereich der Tarifpartner, um für die Zukunft konkurrenzfähig zu sein? Das ist keine Einmischung, sondern es ist eine notwendige Feststellung, die jeder akzeptiert, der die gesamtwirtschaftliche Verantwortung, die Verantwortung für das Ganze begreift.
({50})
Eines der wichtigsten Felder, in denen der Staat ganz unmittelbar die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft beeinflußt, ist die Steuerpolitik. Auch hier reicht die nationale Perspektive allein für ein sachgerechtes Urteil nicht mehr aus. Vielmehr müssen wir gerade - wiederum am Vorabend der europäischen Entwicklung - die Belastungssituation bei uns mit der bei den wichtigsten Konkurrenten vergleichen, und das Ergebnis - auch das hat der Sachverständigenrat zum Ausdruck gebracht - kann nicht befriedigen. So werden nach dem Inkrafttreten der Steuerreformstufe 1990 einbehaltene Unternehmenserträge in der Bundesrepublik immer noch wesentlich höher besteuert als in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in Frankreich oder in Österreich. Ich will nur darauf hinweisen, daß gerade die Republik Österreich unter der Führung eines sozialistischen Kanzlers in diesem Felde ganz wesentliche Fortschritte gemacht hat.
({51})
- Das glauben Sie doch selbst nicht. Das glauben Sie wirklich selbst nicht.
({52})
- Ich glaube nicht, daß Sie das hier ernsthaft behaupten wollen.
Investitionskapital reagiert eben auf derartige Unterschiede sehr sensibel. Wenn wir - und das müssen wir doch - die Bundesrepublik als Investitions- und damit auch als Beschäftigungsstandort attraktiv halten wollen, sind weitere Steuerentlastungen unumgänglich.
({53})
Deshalb haben sich die Bundesregierung und die sie tragende Koalition die Reform der Unternehmensbesteuerung als eine der Hauptaufgaben für die kommende Legislaturperiode vorgenommen.
({54})
Es geht uns dabei vor allem darum, daß wir unser Land für Investitionen attraktiv erhalten - und noch attraktiver machen - und damit die Arbeitsplätze von morgen sichern; denn sichere Arbeitsplätze sind auch
die beste Zukunftschance für die Entwicklung unseres Landes im europäischen Binnenmarkt.
({55})
Auch dazu eine kurze Bemerkung. Wir werden uns in wenigen Tagen, am 8. und 9. Dezember, auf dem nächsten EG-Gipfel in Straßburg unter französischer Präsidentschaft treffen. Dieses Treffen ist wegen der anstehenden Themen innerhalb der Gemeinschaft von großer Bedeutung. Es gewinnt eine zusätzliche, für mich wesentliche Bedeutung durch die Entwicklung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Ich sage ganz offen: Ich hätte mir in den letzten Monaten hier einen etwas kräftigeren Impuls aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft - ich sage nicht „aus der Gemeinschaft in Brüssel", ich mache diesen Unterschied bewußt - gewünscht. Europäische Solidarität kann nicht darin bestehen - das ist eben schon gesagt worden - , daß man verlangt, die EG solle mehr tun, und gleichzeitig der EG die notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stellt.
({56})
Das heißt also ganz konkret: Ich hoffe sehr, daß wir, wenn wir in ein paar Tagen in Straßburg zusammenkommen, uns auch dort einigen können, wo es etwas kostet.
Ich sage das auch im Blick auf Hilfsmaßnahmen, die über die EG hinausgreifen. Das Ein-Milliarden-Programm etwa für Polen, das Präsident Bush angekündigt hat, für das die Amerikaner 200 Millionen Dollar bereitstellen und an dem sich die Bundesrepublik Deutschland mit 250 Millionen Dollar beteiligt - was ich für richtig halte - , harrt immer noch der Ausfüllung; die restliche Summe sehe ich noch nicht gezeichnet. Angesichts der Entwicklung in Polen und in Ungarn meine ich, es sei hohe Zeit, daß nun alle, die es können - es gibt viel mehr, die es können, als jetzt öffentlich gesagt wird - , sich an diesem Vorhaben beteiligen.
({57})
Meine Damen und Herren, mit einem Wort, ich hoffe, daß die Botschaft, die von Straßburg ausgeht in die DDR, nach Polen, in die CSSR, in die Sowjetunion, nach Ungarn und in alle Länder, die jetzt hier fragend auf uns schauen, nicht nur eine verbale Botschaft ist, sondern daß ihr Taten folgen. Wir werden uns im Rahmen unserer Möglichkeiten beteiligen.
Der EG-Gipfel in Straßburg ist ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zum großen Markt, zur Vollendung des europäischen Binnenmarktes bis zum 31. Dezember 1992. Es gibt eine Reihe von wichtigen Themen.
Erstens geht es um die Ausfüllung der sozialen Dimension des Binnenmarktes. Wer die Diskussion erlebt hat, weiß, wie unendlich schwierig es ist, sich hier auf einen Nenner zu einigen, selbst wenn es ein Nenner auf einem sehr niedrigen Niveau ist.
Wir wollen gemeinsam die europäische Sozialcharta als Grundlage unserer weiteren Arbeit verabschieden, und wir wollen hiermit zugleich die Erarbeitung konkreter sozialer Mindestrechte einleiten. Für
uns in der Bundesrepublik war das selbstverständlich - genauso selbstverständlich wie die Feststellung, die ich einmal mehr treffen will: Wir werden auf diesem Feld keine Entwicklungen mitmachen oder dulden, die zu einem Sozialdumping in der Bundesrepublik Deutschland führen.
({58})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in Abstimmung mit unseren Sozialpartnern in der Bundesrepublik einen Katalog von neun Bereichen eingebracht, die wir vorrangig angehen wollen.
Zweitens. Wir wollen in Straßburg, wie ich hoffe, wirklich durchgreifende Beschlüsse bei der Bekämpfung des Drogenhandels fassen. Präsident Mitterrand hat hierzu Vorschläge vorgelegt, die ich voll und ganz unterstütze.
Drittens. Wir wollen Fortschritte auf dem Wege zur Wirtschafts- und Währungsunion. Die Finanzminister haben am 13. November die grundsätzlichen Entscheidungen getroffen, um in einem ersten Schritt die bestehende Zusammenarbeit in der Wirtschafts- und Währungspolitik zusammenzuführen und zu verstärken.
Diese Beschlüsse tragen unseren grundsätzlichen Orientierungen voll Rechnung. Diese Maßnahmen werden am 1. Juli 1990 zusammen mit der unter deutscher EG-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 1988 beschlossenen Liberalisierung des Kapitalverkehrs in Kraft treten. Wir werden darüber hinaus zu befinden haben, wie wir bei der Gestaltung der weiteren Stufen in Richtung auf die Wirtschafts- und Währungsunion vorangehen wollen. Wie beim Europäischen Rat in Madrid beschlossen, wird eine Regierungskonferenz ihre Arbeit aufnehmen, sobald der erste Schritt getan und die Konferenz „umfassend und angemessen" vorbereitet ist.
Wir werden bei diesem auch für uns besonders sensiblen Bereich - denken Sie an die Bundesbank und an die Stabilität unserer Währung - jeden Schritt sorgfältig bedenken. Wir werden ihn bedenken in der Verantwortung für die Bundesrepublik Deutschland; aber wir werden ihn auch bedenken in der Verantwortung für die Zukunftsentwicklung im Europa der Zwölf. Wir sehen es als einen wichtigen Erfolg an, daß die Vorbereitungsarbeiten weitgehend auf der Grundlage unserer bewährten geld- und währungspolitischen Strukturen erfolgten. Wir werden daran festhalten, wenn es gilt, im kommenden Jahr in den Kernfragen einen Grundkonsens über Inhalt und Zielsetzung der Wirtschafts- und Währungsunion vor dem Eintritt in die eigentlichen Vertragsverhandlungen zu erarbeiten.
Meine Damen und Herren, ich habe in diesen Tagen Staatspräsident Mitterrand insbesondere hierzu einen konkreten Arbeitskalender vorgeschlagen. Mein Ziel ist - ich will das sehr klar aussprechen -, daß wir rechtzeitig vor der Wahl zum Europäischen Parlament 1994 die konkrete Diskussion über diese Fragen und die notwendigen Ratifikationen in den Parlamenten der EG-Mitgliedstaaten abgeschlossen haben.
({59})
Meine Damen und Herren, hierzu gehört für mich - auch darüber wird in Straßburg zu reden sein -, daß wir neben den Fragen der Wirtschafts- und Währungsunion im Blick auf die Wahl zum Europäischen Parlament 1994 den weiteren Ausbau der Rechte des Europäischen Parlaments in Angriff nehmen müssen. Ich halte es für völlig ausgeschlossen, daß wir 1994 mit der jetzigen Ausstattung an Rechten für das Europäische Parlament wieder vor die Wähler in EG-Europa treten und zu einer freien, geheimen und direkten Wahl aufrufen, während die Kompetenz dieses Parlaments weiter hinter den wirklichen Erwartungen der Bürger in Europa zurückbleibt.
({60})
Meine Damen und Herren, es ist heute in der Debatte zu Recht von allen Rednern betont worden, daß der Schwerpunkt der politischen Diskussion in diesen Tagen für uns ganz selbstverständlich im Felde der Deutschlandpolitik liegt. Seit Öffnung der innerdeutschen Grenze und der Sektorengrenze in Berlin am 9. November ist die Deutschlandpolitik in eine neue Phase eingetreten, mit neuen Chancen und neuen Herausforderungen.
Wir alle empfinden zu Recht große Freude über die neugewonnene Reisefreiheit für die Menschen im geteilten Deutschland. Mit unseren Landsleuten in der DDR sind wir glücklich, daß nach Jahrzehnten Mauer und Grenzsperren endlich friedlich überwunden werden konnten.
Wir empfinden - hier stimme ich dem Kollegen Vogel zu - auch Stolz darüber, daß die Deutschen in der DDR mit ihrem friedlichen Eintreten für Freiheit, für Menschenrechte und Selbstbestimmung vor aller Welt ein Beispiel ihres Mutes und ihrer Freiheitsliebe gegeben haben, das übrigens auch überall in der Welt entsprechend gewürdigt wurde.
({61})
Wir sind beeindruckt vom lebendigen und vom ungebrochenen Freiheitswillen, der die Menschen in Leipzig und in vielen, vielen anderen Städten bewegt. Sie wissen, was sie wollen: Sie wollen ihre Zukunft selbst bestimmen, im ursprünglichen Sinne des Wortes. Wir werden dabei jede Entscheidung, die die Menschen in der DDR in freier Selbstbestimmung treffen, selbstverständlich respektieren.
Wir im freien Teil Deutschlands stehen gerade in diesen Tagen unseren Landsleuten solidarisch zur Seite.
Bundesminister Seiters hat Anfang letzter Woche mit dem Staatsratsvorsitzenden Krenz und mit Ministerpräsident Modrow über die Vorstellungen der neuen DDR-Führung gesprochen. Es ging uns darum zu erfahren, wie das öffentlich angekündigte Reformprogramm vollzogen werden soll und in welchem Zeitraum konkrete, für die Menschen auch wirksame Schritte zu erwarten sind.
Es wurde verabredet, daß diese Gespräche Anfang Dezember fortgesetzt werden. Wenn sich, wie wir - und vor allem ich - hoffen, in diesen Gesprächen erste praktische Ergebnisse abzeichnen, möchte ich
selbst noch vor Weihnachten mit den Verantwortlichen in der DDR zusammentreffen.
Bundesminister Seiters hat in Ost-Berlin auch mit Vertretern der Opposition und der Kirchen gesprochen. Ich selbst habe - wie viele andere hier im Hohen Hause - in den letzten Wochen Vertreter der Opposition empfangen. Wir halten es für geboten, bei allem, was wir jetzt tun und entscheiden, die Auffassungen, Meinungen und Empfehlungen der oppositionellen Gruppen in der DDR zu berücksichtigen. Auf diesen Kontakt legen wir weiterhin größten Wert. Wir alle sollten ihn auch in Zukunft intensiv pflegen.
Meine Damen und Herren, es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes. Die Deutschen, die jetzt im Geist der Freiheit wieder zusammenfinden, werden niemals eine Bedrohung sein. Vielmehr werden sie - davon bin ich überzeugt - ein Gewinn für das immer mehr zusammenwachsende Europa sein.
({62})
Der Aufbruch, den wir heute erleben, ist zunächst das Verdienst der Menschen, die ihren Freiheitswillen so eindrucksvoll demonstrieren. Er ist aber auch das Ergebnis von politischen Entwicklungen der vergangenen Jahre. Auch wir in der Bundesrepublik, meine Damen und Herren, haben mit unserer Politik dazu ganz maßgeblich beigetragen.
({63})
Entscheidend war dafür zunächst, daß wir diese Politik auf dem festen Fundament unserer Einbindung in die Gemeinschaft freiheitlicher Demokratien betrieben haben. Geschlossenheit und Standfestigkeit des Bündnisses in der schweren Bewährungsprobe des Jahres 1983 haben sich ausgezahlt. Mit unserem klaren Kurs in der Atlantischen Allianz und in der Europäischen Gemeinschaft haben wir den Reformbewegungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa den Rücken gestärkt.
({64})
Mit dem Übergang zu neuen Stufen der wirtschaftlichen und politischen Integration in der Europäischen Gemeinschaft haben wir erfolgreich das Modell des freien Zusammenschlusses
({65})
europäischer Völker fortentwickelt, eines Zusammenschlusses - das kann doch jeder erkennen - , der weit über die Gemeinschaft hinaus größte Anziehungskraft ausübt.
({66})
Auf der anderen Seite waren eine entscheidende Voraussetzung die Reformpolitik von Generalsekretär Michail Gorbatschow im Innern der Sowjetunion und das von ihm eingeleitete neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik. Ohne die Anerkennung des Rechtes der Völker und Staaten auf den eigenen Weg wären die Reformbewegungen in anderen Staaten des Warschauer Pakts nicht erfolgreich gewesen.
Zu der dramatischen Entwicklung in der DDR wäre es nicht gekommen, wenn nicht Polen und Ungarn mit tiefgreifenden Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft vorangegangen wären.
({67})
Meine Damen und Herren, der Erfolg der Reformbewegungen in Polen und Ungarn ist eine Voraussetzung für den Erfolg der Reformbewegung in der DDR.
({68})
Das bedeutet auch, daß wir im Rahmen unserer Möglichkeiten alles tun müssen, daß diese beiden Länder die von ihnen gesteckten Ziele auch erreichen.
({69})
Wir alle begrüßen es, daß sich jetzt auch in Bulgarien und in der CSSR ein Wandel abzeichnet. Ich freue mich ganz besonders, daß der diesjährige Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels, Václav Havel, jetzt endlich die Früchte seines langjährigen Kampfes für die Freiheit ernten kann.
({70})
Seine ebenso großartige wie unvergeßliche Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche, die er selber nicht vortragen durfte, war eine beeindruckende Abrechnung mit dem „realsozialistischen" System.
({71})
- Er freut sich in der Tat über unsere Unterstützung. Das kann ich Ihnen auf Grund sehr persönlicher Zeugnisse versichern.
({72})
- Ich glaube nicht, daß er sich, wenn er Sie gehört hätte, über Ihren Beitrag zur europäischen Politik freuen würde.
({73})
Eine bedeutende Rolle hat nicht zuletzt der KSZEProzeB gespielt, in dem wir gemeinsam mit unseren Partnern auf einen Abbau von Spannungsursachen, auf Dialog und Zusammenarbeit und vor allem auf die Achtung der Menschenrechte gedrängt haben.
({74})
Ein neues Vertrauen in den West-Ost-Beziehungen konnte auch Dank der kontinuierlichen Gipfeldiplomatie der Großmächte und der zahlreichen Begegnungen wachsen, die in diesem Zusammenhang möglich waren - Begegnungen zwischen Staats- und Regierungschefs aus West und Ost.
({75})
Der historische Durchbruch bei der Abrüstung und Rüstungskontrolle ist ein sichtbarer Ausdruck dieses Vertrauens.
Die breit angelegte Vertragspolitik der Bundesregierung gegenüber der Sowjetunion und allen anderen Warschauer-Pakt-Staaten hat dieser Entwicklung wichtige Impulse gegeben.
Aber, meine Damen und Herren, zu den Ursachen der jüngsten Veränderungen gehört vor allem auch die konsequente Politik für den Zusammenhalt unserer Nation. Wenn wir etwa den Aufforderungen
- auch aus Ihren Kreisen - gefolgt wären, die Geraer Forderungen von Herrn Honecker zu akzeptieren, wären wir längst nicht dort, wo wir heute
- Gott sei Dank - stehen.
({76})
Seit 1987 haben uns jährlich viele Millionen Landsleute aus der DDR besucht, darunter zahlreiche junge Leute. Diese „Politik der kleinen Schritte" hat in schwierigen Zeiten das Bewußtsein für die Einheit der Nation wachgehalten und geschärft und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen vertieft.
({77})
Meine Damen und Herren, die Entwicklungen der letzten Jahre, die Besuchszahl von weit über 10 Millionen bis zum Sommer dieses Jahres seit 1987, widerlegt alle düsteren Prognosen aus dem Jahr 1983, die wir hier hörten und die immer wieder vorgetragen wurden, daß mit dieser Bundesregierung und dieser Koalition eine „neue Eiszeit" in den West-Ost-Beziehungen kommen würde.
({78})
Ich darf hier noch einmal die besonders infame Unterstellung erwähnen, wir seien „nicht friedensfähig".
Meine Damen und Herren, genau das Gegenteil von all dem, was Sie vorausgesagt haben, ist eingetreten.
({79})
Heute haben wir - und wir sind glücklich darüber - mehr Verständigung und Gemeinsamkeit in Deutschland und in Europa als jemals zuvor seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Heute stehen wir, für jedermann erkennbar, am Beginn eines neues Abschnitts der europäischen und der deutschen Geschichte - eines Abschnitts, der über den Status quo, über die bisherigen politischen Strukturen in Europa hinausweist.
Dieser Wandel ist zuallererst ein Werk der Menschen, die auf der Gewährung von Freiheit bestehen, auf der Achtung ihrer Menschenrechte und auf dem Recht, über ihre Zukunft selbst zu bestimmen.
({80})
Alle, die in und für Europa Verantwortung tragen, müssen diesem Willen der Menschen und Völker Rechnung tragen. Wir alle sind jetzt aufgerufen, eine neue Architektur für das europäische Haus, für eine dauerhafte und für eine gerechte Friedensordnung auf unserem Kontinent zu gestalten, wie es ja auch Generalsekretär Gorbatschow und ich in unserer gemeinsamen Erklärung hier in Bonn am 13. Juni bekräftigt haben.
({81})
- Ich weiß nicht, ob Sie während dieser Zeit nicht hier waren. Die Unterschriften sind von den beiden, die ich eben genannt habe.
Dabei müssen, meine Damen und Herren, die legitimen Interessen aller Beteiligten gewahrt werden. Das gilt selbstverständlich - ich betone dies - auch für die deutschen Interessen.
({82})
Wir nähern uns damit dem Ziel, das sich das Atlantische Bündnis bereits im Dezember 1967 gesetzt hatte. Herr Abgeordneter Vogel, wenn Sie die Unterschriften nachlesen, werden Sie unschwer feststellen, wer damals für die Bundesrepublik gezeichnet hat.
Dort heißt es - ich zitiere - :
Eine endgültige und stabile Regelung in Europa ist ... nicht möglich ohne eine Lösung der Deutschlandfrage, die den Kern der gegenwärtigen Spannungen in Europa bildet. Jede derartige Regelung muß die unnatürlichen Schranken zwischen Ost- und Westeuropa beseitigen, die sich in der Teilung Deutschlands am deutlichsten und grausamsten offenbaren.
Meine Damen und Herren, wenn das unsere gemeinsame Grundlage ist, dann können Sie, wie ich hoffe, auch dem Folgenden zustimmen:
Der Weg zur deutschen Einheit, das wissen wir alle, ist nicht vom grünen Tisch oder mit einem Terminkalender in der Hand zu planen. Abstrakte Modelle kann man vielleicht polemisch verwenden, aber sie helfen nicht weiter.
Aber wir können, wenn wir nur wollen, schon heute jene Etappen vorbereiten, die zu diesem Ziel hinführen.
({83})
Ich möchte diese Ziele an Hand eines Zehn-PunkteProgramms erläutern.
Erstens. Zunächst sind Sofortmaßnahmen erforderlich, die sich aus den Ereignissen der letzten Wochen ergeben, insbesondere durch die Fluchtbewegung und die neue Dimension des Reiseverkehrs. Die Bundesregierung ist zu sofortiger konkreter Hilfe dort bereit, wo diese Hilfe jetzt benötigt wird. Wir werden im humanitären Bereich und auch bei der medizinischen Versorgung helfen, soweit dies gewünscht wird und auch nützlich ist.
Wir wissen auch, daß das Begrüßungsgeld, das wir für jeden Besucher aus der DDR einmal jährlich zahlen, keine Lösung für die Finanzierung von Reisen sein kann. Letzlich muß die DDR selbst ihre Reisenden mit den nötigen Devisen ausstatten.
Wir sind aber bereit, für eine Übergangszeit einen Beitrag zu einem Devisenfonds zu leisten. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß der Mindestumtausch bei Reisen in die DDR entfällt, Einreisen dorthin erheblich erleichtert werden und die DDR einen eigeBundeskanzler Dr. Kohl
nen substantiellen Beitrag zu einem solchen Fonds leistet.
({84})
Unser Ziel ist und bleibt ein möglichst ungehinderter Reiseverkehr in beide Richtungen.
({85})
Zweitens. Die Bundesregierung wird wie bisher die Zusammenarbeit mit der DDR in allen Bereichen fortsetzen, die den Menschen auf beiden Seiten unmittelbar zugute kommt. Das gilt insbesondere für die wirtschaftliche, wissenschaftlich-technologische und kulturelle Zusammenarbeit. Besonders wichtig ist eine Intensivierung der Zusammenarbeit im Bereich des Umweltschutzes. Hier kann schon in aller Kürze, wie immer sonst die Entwicklung sein mag, über neue Projekte entschieden werden.
({86})
Das gleiche gilt - der Bundespostminister hat die entsprechenden Gespräche eingeleitet - für einen möglichst baldigen umfassenden Ausbau der Fernsprechverbindungen mit der DDR und des Telefonnetzes der DDR.
({87})
Über den Ausbau der Eisenbahnstrecke Hannover-Berlin wird weiter verhandelt. Ich bin allerdings der Auffassung, daß dies zu wenig ist und daß wir angesichts der jetzt eingetretenen Entwicklung
({88})
- nein; ich meine etwas anderes - uns einmal sehr grundsätzlich über die Verkehrs- und Eisenbahnlinien in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland unterhalten müssen.
({89})
Vierzig Jahre Trennung bedeuten ja auch, daß sich die Verkehrswege zum Teil erheblich auseinanderentwickelt haben. Das gilt nicht nur für die Grenzübergänge, sondern beispielsweise auch für die traditionelle Linienführung der Verkehrswege in Mitteleuropa, für die Ost-West-Verbindungen. Es ist nicht einzusehen, weshalb die klassische Route Moskau-Warschau-Berlin-Paris, die ja immer über Köln führte und zu allen Zeiten große Bedeutung hatte, im Zeitalter schneller Züge und am Vorabend des Ausbaus eines entsprechenden europäischen Verkehrswesens nicht mit eingebracht werden sollte.
({90})
Drittens. Ich habe angeboten, unsere Hilfe und unsere Zusammenarbeit umfassend auszuweiten, wenn ein grundlegender Wandel des politischen und wirtschaftlichen Systems in der DDR verbindlich beschlossen und unumkehrbar in Gang gesetzt wird. „Unumkehrbar" heißt für uns und vor allem für mich, daß sich die DDR-Staatsführung mit den Oppositionsgruppen auf eine Verfassungsänderung und auf ein neues Wahlgesetz verständigt.
Wir unterstützen die Forderung nach freien, gleichen und geheimen Wahlen in der DDR unter Beteiligung unabhängiger, das heißt selbstverständlich auch nichtsozialistischer, Parteien. Das Machtmonopol der SED muß aufgehoben werden.
({91})
Die geforderte Einführung rechtsstaatlicher Verhältnisse bedeutet vor allem die Abschaffung des politischen Strafrechts und als Konsequenz die sofortige Freilassung aller politischen Gefangenen.
({92})
- Daß Sie, die Sie hier eingezogen sind, Zeichen des Friedens zu setzen, protestieren, wenn ich über die Freilassung politischer Gefangener spreche, entspricht der Entwicklung, die Sie genommen haben.
({93})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, wirtschaftliche Hilfe kann nur dann wirksam werden, wenn grundlegende Reformen des Wirtschaftssystems erfolgen. Dies zeigen die Erfahrungen mit allen RGW-Staaten; mit Belehrungen von unserer Seite hat das nichts zu tun. Die bürokratische Planwirtschaft muß abgebaut werden.
Wir wollen nicht unhaltbar gewordene Zustände stabilisieren. Wir wissen: Wirtschaftlichen Aufschwung kann es nur geben, wenn sich die DDR für westliche Investitionen öffnet, wenn sie marktwirtschaftliche Bedingungen schafft und privatwirtschaftliche Betätigungen ermöglicht. Wer in diesem Zusammenhang den Vorwurf der Bevormundung erhebt, den verstehe ich nicht.
({94})
In Ungarn und in Polen gibt es jeden Tag Beispiele dafür, an denen sich doch die DDR - ebenfalls Mitgliedstaat des RGW - ohne weiteres orientieren kann.
({95})
Unser und mein dringender Wunsch ist es, daß es möglichst rasch zu einer solchen Gesetzgebung kommt. Denn es wäre für uns ein wenig erfreulicher Zustand, wenn - was ich ebenfalls wünsche - Privatkapital aus der Bundesrepublik Deutschland in Polen und noch mehr - die Dinge entwickeln sich sehr erfreulich - in Ungarn investiert würde und mitten in Deutschland diese Investitionen ausbleiben. Wir wollen, daß möglichst viele derartige Investitionen von möglichst zahlreichen Unternehmen getätigt werden.
({96})
Ich will es noch einmal klar unterstreichen: Dies sind keine Vorbedingungen, sondern das ist schlicht
und einfach die sachliche Voraussetzung, damit Hilfe überhaupt greifen kann.
({97})
Im übrigen kann kein Zweifel daran bestehen, daß dies auch die Menschen in der DDR wollen. Sie wollen wirtschaftliche Freiheit, und sie wollen damit die Früchte ihrer Arbeit endlich ernten und mehr Wohlstand gewinnen.
({98})
Wenn ich heute die Diskussion zu diesem Thema - der künftigen Wirtschaftsordnung in der DDR - innerhalb der SED selbst verfolge - wir werden es in ein paar Tagen auf dem Parteitag der SED vor aller Öffentlichkeit erleben können - , dann kann ich beim besten Willen nicht erkennen, daß derjenige, der das hier ausspricht, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einmischt. Ich finde das ziemlich absurd.
({99})
- Es lohnt sich wirklich nicht, auf die Beiträge, die Sie dazwischenrufen, einzugehen. Bloß, es bedrückt mich, wie weit Sie in Tat und Wahrheit von der inneren Situation der Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland entfernt sind.
({100})
Viertens. Ministerpräsident Modrow hat in seiner Regierungserklärung von einer Vertragsgemeinschaft gesprochen. Wir sind bereit, diesen Gedanken aufzugreifen. Denn die Nähe und der besondere Charakter der Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland erfordern ein immer dichteres Netz von Vereinbarungen in allen Bereichen und auf allen Ebenen.
Diese Zusammenarbeit wird zunehmend auch gemeinsame Institutionen erfordern. Bereits bestehende Kommissionen könnten neue Aufgaben erhalten, weitere könnten gebildet werden. Ich denke dabei insbesondere an die Bereiche Wirtschaft, Verkehr, Umweltschutz, Wissenschaft und Technik, Gesundheit und Kultur. Ich brauche nicht zu betonen, daß bei all dem, was jetzt zu geschehen hat, für uns Berlin voll einbezogen bleiben muß. Das war, ist und bleibt unsere Politik.
({101})
Fünftens. Wir sind aber auch bereit, noch einen entscheidenden Schritt weiterzugehen, nämlich konföderative Strukturen zwischen beiden Staaten in Deutschland zu entwickeln mit dem Ziel, eine Föderation, d. h. eine bundesstaatliche Ordnung, in Deutschland zu schaffen. Das setzt aber eine demokratisch legitimierte Regierung in der DDR zwingend voraus.
Dabei könnten wir uns schon bald nach freien Wahlen folgende Institutionen vorstellen: einen gemeinsamen Regierungsausschuß zur ständigen Konsultation und politischen Abstimmung, gemeinsame Fachausschüsse, ein gemeinsames parlamentarisches
Gremium - und manches andere mehr angesichts einer völlig neuen Entwicklung.
Die bisherige Politik gegenüber der DDR mußte sich angesichts der Verhältnisse im wesentlichen auf kleine Schritte beschränken, mit denen wir vor allem versuchten, die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und das Bewußtsein für die Einheit der Nation wachzuhalten und zu schärfen. Wenn uns künftig eine demokratisch legitimierte, d. h. frei gewählte Regierung als Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ein solches Zusammenwachsen liegt in der Kontinuität der deutschen Geschichte. Staatliche Organisation in Deutschland hieß in unserer Geschichte fast immer auch Konföderation und Föderation. Wir können doch auf diese historischen Erfahrungen zurückgreifen.
({102})
Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Daß aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.
({103})
Sechstens. Die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen bleibt eingebettet in den gesamteuropäischen Prozeß, d. h. immer auch in die West-Ost-Beziehungen. Die künftige Architektur Deutschlands muß sich einfügen in die künftige Architektur Gesamteuropas. Hierfür hat der Westen mit seinem Konzept der dauerhaften und gerechten europäischen Friedensordnung Schrittmacherdienste geleistet.
Generalsekretär Gorbatschow und ich sprechen in der Gemeinsamen Erklärung vom Juni dieses Jahres, die ich bereits zitiert habe, von den Bauelementen eines „gemeinsamen europäischen Hauses". Ich nenne beispielhaft dafür die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder Staat hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen. Ich nenne die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Ich nenne die Verwirklichung der Menschenrechte. Ich nenne die Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas. Mit alledem wollen wir - so haben es Generalsekretär Gorbatschow und ich festgeschrieben - an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anknüpfen und zur Überwindung der Trennung Europas beitragen.
Siebtens. Die Anziehungs- und Ausstrahlungskraft der Europäischen Gemeinschaft ist und bleibt eine entscheidende Konstante der gesamteuropäischen Entwicklung. Wir wollen und müssen sie weiter stärken. Die Europäische Gemeinschaft ist jetzt gefordert, mit Offenheit und Flexibilität auf die reformorientierten Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas zuzugehen. Dies haben die Staats- und Regierungschefs der
EG-Mitgliedstaaten kürzlich bei ihrem Treffen in Paris ja auch so festgestellt.
Hierbei ist die DDR selbstverständlich eingeschlossen. Die Bundesregierung befürwortet deshalb den baldigen Abschluß eines Handels- und Kooperationsabkommens mit der DDR, das den Zugang der DDR zum Gemeinsamen Markt erweitert, auch was die Perspektive 1992 betrifft. Wir können uns für die Zukunft sehr wohl bestimmte Formen der Assoziierung vorstellen, die die Volkswirtschaften der reformorientierten Staaten Mittel- und Südosteuropas an die EG heranführen und damit das wirtschaftliche und soziale Gefälle auf unserem Kontinent abbauen helfen. Das ist eine der ganz wichtigen Fragen, wenn das Europa von morgen ein gemeinsames Europa sein soll.
({104})
Herr Präsident, meine Damen und Herren, den Prozeß der Wiedergewinnung der deutschen Einheit verstehen wir immer auch als europäisches Anliegen. Er muß deshalb auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration gesehen werden. Ich will es ganz einfach so formulieren: Die EG darf nicht an der Elbe enden, sondern muß die Offenheit auch nach Osten wahren.
({105})
Nur in diesem Sinne - wir haben das Europa der Zwölf immer nur als einen Teil und nicht als das Ganze verstanden - kann die Europäische Gemeinschaft Grundlage einer wirklich umfassenden europäischen Einigung werden. Nur in diesem Sinne wahrt, behauptet und entwickelt sie die Identität aller Europäer. Diese Identität, meine Damen und Herren, ist nicht nur in der kulturellen Vielfalt Europas, sondern auch und vor allem in den Grundwerten von Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Selbstbestimmung begründet.
({106})
Soweit die Staaten Mittel- und Südosteuropas die erforderlichen Voraussetzungen erfüllen, würden wir es auch begrüßen, wenn sie dem Europarat und insbesondere auch der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten beiträten.
({107})
Achtens. Der KSZE-Prozeß ist ein Herzstück dieser gesamteuropäischen Architektur. Wir wollen ihn vorantreiben und die bevorstehenden Foren nutzen: die Menschenrechtskonferenzen in Kopenhagen 1990 und in Moskau 1991, die Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Bonn 1990, das Symposion über das kulturelle Erbe in Krakau 1991 und nicht zuletzt das nächste Folgetreffen in Helsinki. Dort sollten wir auch über neue institutionelle Formen der gesamteuropäischen Zusammenarbeit nachdenken. Wir könnten uns eine gemeinsame Institution zur Koordinierung der West-Ost-Wirtschaftszusammenarbeit sowie die Einrichtung eines gesamteuropäischen Umweltrates sehr gut vorstellen.
({108})
Neuntens. Die Überwindung der Trennung Europas und der Teilung Deutschlands erfordern weitreichende und zügige Schritte in der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Abrüstung und Rüstungskontrolle müssen mit der politischen Entwicklung Schritt halten und, wenn notwendig, beschleunigt werden. Dies gilt im besonderen für die Wiener Verhandlungen über den Abbau konventioneller Streitkräfte in Europa und für die Vereinbarung vertrauensbildender Maßnahmen ebenso wie für das weltweite Verbot chemischer Waffen, das, wie ich hoffe, 1990 kommen wird.
({109})
Dies erfordert auch, daß auch die Nuklearpotentiale der Großmächte auf das strategisch erforderliche Minimum reduziert werden können.
Das bevorstehende Treffen zwischen Präsident Bush und Generalsekretär Gorbatschow bietet eine gute Gelegenheit, den jetzt laufenden Verhandlungsrunden neue Schubkraft zu geben. Wir bemühen uns - auch in zweiseitigen Gesprächen mit den Staaten des Warschauer Paktes einschließlich der DDR -, diesen Prozeß zu unterstützen.
Zehntens. Mit dieser umfassenden Politik wirken wir auf einen Zustand des Friedens in Europa hin, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangen kann. Die Wiedervereinigung, d. h. die Wiedergewinnung der staatlichen Einheit Deutschlands, bleibt das politische Ziel der Bundesregierung.
({110})
Wir sind dankbar, daß wir in der Erklärung des Brüsseler NATO-Gipfels vom Mai dieses Jahres dafür erneut die Unterstützung unserer Freunde und Partner gefunden haben.
Meine Damen und Herren, wir sind uns bewußt, daß sich auf dem Weg zur deutschen Einheit viele schwierige Fragen stellen, auf die korrekterweise heute niemand eine abschließende Antwort geben kann.
({111})
Dazu gehört vor allem auch - ich betone das - die ebenso schwierige wie entscheidende Frage übergreifender Sicherheitsstrukturen in Europa.
Die Verknüpfung der deutschen Frage mit der gesamteuropäischen Entwicklung und den West-OstBeziehungen - wie ich sie soeben in zehn Punkten erläuterte - ermöglicht eine organische Entwicklung, die den Interessen aller Beteiligten Rechnung trägt und - dies ist unser Ziel - einer friedlichen und freiheitlichen Entwicklung in Europa den Weg bahnt. Nur miteinander und in einem Klima des wechselseitigen Vertrauens können wir die Teilung Europas, die immer auch die Teilung Deutschlands ist, friedlich überwinden.
Das heißt, wir brauchen auf allen Seiten Besonnenheit, Vernunft und Augenmaß, damit die jetzt begonnene - so hoffnungsvolle - Entwicklung stetig und friedlich weiterverläuft. Was diesen Prozeß stören könnte, sind nicht Reformen, sondern deren Verweigerung. Nicht Freiheit schafft Instabilität, sondern deren Unterdrückung.
({112})
Jeder gelungene Reformschritt bedeutet für ganz Europa ein Mehr an Stabilität und einen Zugewinn an Freiheit und Sicherheit.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, in wenigen Wochen beginnt das letzte Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, ein Jahrhundert, das so viel Elend, Blut und Leid sah. Es gibt heute viele hoffnungsvolle Zeichen dafür, daß die 90er Jahre die Chancen für mehr Frieden und mehr Freiheit in Europa und in Deutschland in sich tragen. Es kommt dabei - jeder spürt dies - entscheidend auch auf unseren, den deutschen Beitrag an. Wir alle sollten uns dieser Herausforderung der Geschichte stellen.
({113})
Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).
({1})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundeskanzler, Sie sind mit den zehn Punkten, die Sie hier vorgetragen haben, in vielen Begriffen - Politik der kleinen Schritte, KSZE - auf uns zugegangen. In einer solchen Situation, vor solchen Herausforderungen werden wir Sozialdemokraten auch nicht davor zurückscheuen, auf Sie zuzugehen.
({0})
Sie werden gemerkt haben, daß zwischen den Ausführungen von Jochen Vogel heute morgen und dem, was Sie jetzt in den zehn Punkten vorgetragen haben, keine konzeptionellen Differenzen zu erkennen sind.
({1})
Deshalb stimmen wir Ihnen in allen zehn Punkten zu.
({2})
Und bei allem Streit, der im einzelnen bei der Umsetzung dieser Punkte oder bei der Interpretation des einen oder anderen Punktes bleiben wird, bieten wir Ihnen unsere Zusammenarbeit bei der Verwirklichung dieses Konzeptes, das auch unser Konzept ist, an.
({3})
Es ist wahr: Die demokratische Revolution in Osteuropa eröffnet jetzt eine realistische Perspektive für eine neue Einheit unseres bisher gespaltenen Kontinents und damit auch für eine Einheit der Deutschen. Die Deutschen in der DDR haben dadurch, daß sie friedfertig Freiheitsrechte erkämpften, der deutschen Nation mehr gedient als die gesamte nationale Rhetorik von bestimmten Gruppen der Rechten seit dem Untergang des Hitlerreiches.
({4})
Die Deutschen in der DDR üben ihr Selbstbestimmungsrecht in Formen aus, die eher an die Form von Kirchentagen und der Friedensbewegung erinnern als an die von Vertriebenenverbänden.
({5})
Nationales geschieht, aber Nationalisten werden isoliert! In Berlin vereinen sich die Bürger einer bisher geteilten Stadt, zahlreiche neue Grenzübergänge werden geschaffen, die getrennten Teile der Stadt werden durch neue Verbindungen und Bindungen wieder zusammengefügt. Ohne staatliche Neuorganisation von oben, ohne daß Statusfragen oder völkerrechtliche Fragen bereits aufgeworfen werden, vollzieht sich der Prozeß des Wiedersehens und der Wiedervereinigung von langgetrennten Freunden und Familien. Das ist die Einheit, die aus Freiheit und Menschenrechten und nicht aus Staatsrecht entsteht. Das ist die Einheit, die wir Sozialdemokraten wünschen und die wir unterstützen.
({6})
Aber in dem Prozeß der Demokratisierung in der DDR, in Polen, in der Sowjetunion, in Bulgarien und jetzt in der Tschechoslowakei beginnt auch die Überwindung der bisherigen Spaltung Berlins, der beiden deutschen Staaten und der beiden Teile Europas. Die Deutschen und die Europäer gewinnen so durch Friedenswillen und durch Demokratie an Einheit. Dieser Einigungsprozeß kann, wenn wir den Begriff des neuen Ministerpräsidenten der DDR aufgreifen, erst einmal zu einer „Vertragsgemeinschaft", zum engen Miteinander zweier völkerrechtlich getrennter deutscher Staaten, dann zu einer Konföderation zweier gleichberechtigter deutscher Staaten mit gemeinsamen Institutionen, wie Johannes Rau das vor einer Woche auf dem Landesparteitag auch vorgeschlagen hat, oder schließlich auch zu einem in einer europäischen Struktur eingebundenen Bundesstaat führen. Keine dieser Entwicklungen ist ausgeschlossen; keine möchten wir von vornherein ausschließen. Aber nie sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern der DDR vorzuschreiben versuchen, wie sie sich entscheiden sollen. Das Recht auf Selbstbestimmung schließt das Recht auf unterschiedliche Ergebnisse bei der Ausübung dieses Rechts ein.
Wir Sozialdemokraten sind für das jeweils erreichbare Höchstmaß an Einheit. Aber dabei sollten wir alle - Sie von den Regierungsparteien und wir in der Opposition - beachten: Die Deutschen können nur an Einheit gewinnen, wenn Europa durch ihre Einheit auch an Frieden gewinnt.
({7})
Voigt ({8})
Es wäre blanker Zynismus, wenn von der Einheit der Deutschen geredet wird und wenn die Bundesregierung die Deutschen in der DDR gleichzeitig wirtschaftlich und sozial im Regen stehen ließe. Wer das Recht auf Selbstbestimmung ernst nimmt, darf die Übernahme des politischen und wirtschaftlichen Systems der Bundesrepublik Deutschland nicht zur Vorbedingung für Hilfe und Zusammenarbeit erheben.
Deutsch-deutsche Institutionen und Vereinbarungen wie der Grundlagenvertrag sollten daraufhin überprüft werden, welche in ihnen enthaltenen Kooperationsmöglichkeiten noch nicht voll ausgeschöpft worden sind - wie Sie das soeben auch gesagt haben - und wo zusätzliche Vereinbarungen, Verträge und Institutionen sinnvoll und geboten erscheinen. Zu solchen Institutionen gehören dann auch Institutionen in Berlin, das dadurch eine neue Rolle in dem Prozeß des Zusammenwachsens von Ost und West und im Prozeß des Zusammenwachsens beider deutscher Staaten erhalten könnte. Das gilt natürlich auch für die von Jochen Vogel und von Bundeskanzler Kohl angesprochene Zusammenarbeit und die spätere Mitgliedschaft in der Europäischen Gemeinschaft und im Europarat.
Der Prozeß des Zusammenwirkens, der mit einer Vertragsgemeinschaft beginnen kann und der dann zu einer Konföderation gleichberechtigter deutscher Staaten führen könnte, läßt sich auf absehbare Zeit mit der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Bündnissen und Wirtschaftssystemen vereinbaren. Auch die Beantwortung grundsätzlicher Fragen nach dem Status von Berlin und den Rechten der Alliierten in bezug auf Deutschland als Ganzes ließen sich in diesem konföderativen Prozeß auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Wer heute die staatliche Einheit der Deutschen auf die Tagesordnung setzt, muß auch bereit sein, die Zugehörigkeit zu den Bündnissen auf die Tagesordnung zu setzen. Wir Sozialdemokraten - das ist keine neue Position; sie ist auch im Grundsatzprogramm der SPD enthalten - halten die Bündnisse auf absehbare Zeit zwar noch für erforderlich, aber wir streben ihre Überwindung in einer europäischen Friedensordnung an.
({9})
Das ist logisch und konsequent. Aber wer - dabei erinnere ich an frühere Äußerungen des Bundeskanzlers - die Mitgliedschaft in der NATO zur Staatsräson erklärt und sie für unabänderlich und nicht überwindbar hält, der kann nicht gleichzeitig von der Wiederherstellung der staatlichen Einheit oder der Neuschaffung einer staatlichen Einheit der Deutschen reden. Das ist widersprüchlich, das ist unlogisch.
({10})
Das wäre ein Widerspruch in der durch Rhetorik eine gegenteilige Politik verschleiert werden würde.
Das neue Denken im Osten erfordert aber auch ein neues Denken im Westen. Die demokratische Revolution in Osteuropa verringert die Gefahr einer militärischen Bedrohung Westeuropas, und zwar ohne daß irgendein Soldat im Osten abgezogen würde. Sie werden die Zahl der Soldaten und Panzer reduzieren, aber die Demokratisierung Osteuropas verringert die militärische Bedrohung Westeuropas, denn die Menschen in Prag, Leipzig, Budapest, Warschau, Moskau und Ost-Berlin wollen die Bundesrepublik Deutschland nicht angreifen. Wenn in diesen Ländern aus freien Wahlen hervorgegangene demokratische Regierungen die Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen, dann ist das ein Schutz vor Angriffsabsichten. Warum sollte dann nicht jenseits aller Waffen - ganz egal wo sie stationiert sind und wie viele stationiert sind; ich hoffe, es werden immer weniger sein - ein solches Verhältnis zwischen Ost und West in Europa wie heute zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich entstehen? Das heißt: Dann gibt es keine Abschreckung mehr, weil es kein Abschrekkungsverhältnis mehr zwischen Ost und West gibt, sondern weil es dann gemeinsame Sicherheit und eine europäische Friedensordnung gibt.
({11})
Oder glaubt ernsthaft jemand im Saal, daß sich in Osteuropa demokratische Regierungen und pluralistische Gesellschaften zu einem Angriff, geschweige denn zu einem Überraschungsangriff auf uns entschließen, oder sich dafür überhaupt koordinieren könnten?
Wir Sozialdemokraten bejahen die Bundeswehr und Wehrpflicht. Aber wir wollen, daß ihr zahlenmäßiger Umfang, ihre Ausrüstung und ihre Strategie der heutigen und der künftigen Lage in Europa angepaßt wird. Das setzt drastische Reduzierungen der in Ost und West, auch der bei uns stationierten Streitkräfte voraus, auch eine drastische Reduzierung der Bundeswehr.
({12})
Das sollte man frühzeitig sagen. Man sollte auch sa- gen, daß die Wehrpflicht nicht verlängert wird, sondern daß sie verkürzt wird, und zwar unter das jetzige Maß hinaus.
({13})
Man sollte jetzt auch sagen - dazu habe ich eine Aussage des Bundeskanzlers vermißt - , daß keine neuen Kurzstreckenraketen in der Bundesrepublik stationiert werden.
({14})
Man sollte auch sagen, daß alle nuklearen Gefechtsfeldwaffen aus der Bundesrepublik und aus Osteuropa weg müssen; denn wir brauchen keine Waffen, die unsere Partner in Prag, in Ost-Berlin und in Warschau bedrohen.
({15})
Wir brauchen auf absehbare Zeit noch das Bündnis. Wir brauchen es auch, um einen sicherheitspolitischen Nationalismus zu vermeiden bzw. zu verhindern. Aber das Bündnis muß sich jetzt in der Abrüstung und weniger in der Abschreckung bewähren. Wir brauchen, wenn überhaupt, ein Minimum an Abschreckung, aber ein Maximum an Abrüstung und Zusammenarbeit.
Wir wollen durch unsere in Westeuropa eingebettete Politik, durch unsere Politik der europäischen Einigung unsere nationalen Interessen verwirklichen. Aber wir wollen sie in einer Weise verwirklichen, die nicht nur die Einheit der Deutschen, sondern auch die
Voigt ({16})
Einheit der Europäer fördert. Das ist dann nicht 1871, der Prozeß der Einigung von oben. Das ist nicht ein Prozeß der Einigung, der mit der Annexion von Elsaß-Lothringen und der Unterdrückung von Polen verbunden war.
Das ist dann das Hambacher Fest von 1832, wo das erste Mal die Fahne der deutschen Demokratie schwarz-rot-gold gezeigt wurde, wo nicht nur die deutsche Fahne, sondern auch die französische und die polnische Fahne gezeigt wurde.
({17})
Heute würde zusätzlich die Fahne Europas gezeigt werden.
Das ist die Freiheit, die sich mit Einheit verbinden läßt, weil sie von unten erwächst, weil sie mit Selbstbestimmung und weil sie durch Interessenausgleich mit unseren Nachbarn in Ost und West verbunden ist. Mit einem solchen deutschen Einheitsstreben können sich Europäer in Ost und West identifizieren. Davor braucht niemand Angst zu haben. Alles andere wäre nationalistisch, aber nicht patriotisch.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Bohl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die epochalen Umbrüche in Ost- und Mitteleuropa machen, so glaube ich, ganz besonders und eindrucksvoll deutlich, daß der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus auch den Bankrott der sozialistischen Idee insgesamt bedeutet.
({0})
Die Ereignisse dort sprechen für sich. Aber ich glaube hinzufügen zu können, daß der Sozialismus nicht nur in diesen Staaten zu Grabe getragen wird. Es ist ein weltweiter Prozeß, der sich vollzieht.
({1})
Auch in westlichen Industriestaaten, in denen Sozialisten an der Regierung sind, wird eine marktwirtschaftliche Politik betrieben. Ich nenne Frankreich, ich nenne Spanien, und ich nenne auch das schöne Neuseeland. Was in diesen Ländern an freier Wirtschaftspolitik betrieben wird, triebe hierzulande die politische Linke zur Weißglut.
Sogar der Außenminister von Vietnam hat vor kurzem für sein Land und seine Regierung erklärt: Wir stimmen jetzt alle überein, daß wir eine Marktwirtschaft brauchen. Vietnam - daran muß erinnert werden - war lange Zeit kommunistischer Frontstaat und vor allem Symbolstaat der westdeutschen Linken - Herr Voigt, Sie sollten zuhören - gegen den sogenannten Kapitalismus. Einige Vertreter von Ihnen sind ja damals für ein vereinigtes kommunistisches Vietnam auf die Straße gegangen. Das sind die gleichen Leute, die sich heute anscheinend vor einem vereinigten, freiheitlichen Deutschland fürchten.
({2})
Und deshalb ist für diese sicherlich peinlich - und ich sage es noch einmal, es ist zu schön - , was der Außenminister sagte: Wir stimmen jetzt alle überein, daß wir eine Marktwirtschaft brauchen.
Es ist so: Die soziale Marktwirtschaft ist eine freiheitliche Wirtschaftsordnung. Der Sozialismus bringt dagegen Daumenschrauben für die Freiheit. Überall, wo es ihn gab, hat sich herausgestellt: Letztlich ist Sozialismus nichts anderes als ein Synonym für Bevormundung und Mißwirtschaft.
Da verwundert schon die Haltung der SPD in diesen Tagen. Willy Brandt sieht in den Revolutionen eine „Renaissance des demokratischen Sozialismus".
({3})
Und für Sie, Herr Vogel, ist demokratischer Sozialismus eine Leitidee, die an Bedeutung und Anziehungskraft gewinnen werde.
({4})
Hört! Hört! Wenn wir uns die SPD-Programmdiskussion anschauen, Herr Zander,
({5})
dann wissen wir, was sich die SPD unter dieser Leitidee vorstellt. Nach den Beschlüssen der Antragskommission für das Grundsatzprogramm soll es eine - hören Sie bitte zu - „gesamtgesellschaftliche Steuerung" der Wirtschaft geben. Der Staat soll Planungen zusammenführen und zu „übergreifenden Entwicklungsplänen" verbinden. Meine Damen und Herren, das sind nicht Modifikationen der sozialen Marktwirtschaft, nein das ist die Einführung von Elementen einer sozialistischen Planwirtschaft, die die SPD hier vorhat. Und dagegen werden wir zu Felde ziehen.
({6})
Es gibt allerdings auch andere Stimmen bei der SPD. Annemarie Renger hat anläßlich des 30. Jahrestages der Verabschiedung des Godesberger Programms dazu aufgerufen, sicherzustellen, daß ideologische Voreingenommenheiten und doktrinäre Zwänge, die mit Godesberg aus dem SPD-Programm verabschiedet worden seien, nicht wieder Eingang in sozialdemokratische Perspektiven fänden.
({7})
Und auch Klaus von Dohnanyi mahnte Sie ja jüngst im „Stern", übrigens auch ein sehr lesenswerter Artikel - ({8})
- Aber in diesem Fall müssen wir das zugeben.
Er mahnte Sie von der SPD und sieht erfreulicherweise in „Privateigentum, Markt und Demokratie essentielle Bausteine jeder wissenschaftlichen technischen Gesellschaft" .
Wir stimmen, meine Damen und Herren, Frau Renger und Herrn von Dohnanyi uneingeschränkt zu. Nur, Sie stehen im Widerspruch zu ihrer Partei. Das, was jetzt in der SPD beschlossen werden soll, sind doch genau die ideologischen VoreingenommenheiBohl
ten und doktrinären Zwänge, die Frau Renger gerade verhindern will.
Ich kann nur sagen: Schlingerkurs, Bürgerferne und Zerstrittenheit sind typisch für die SPD:
Oskar Lafontaine will Benzin verteuern für den Umweltschutz. Anke Fuchs will das gleiche Geld für Sozialausgaben. Was gilt, meine Damen und Herren von der SPD?
({9})
Die Grundsatzprogrammkommission will mehr Marktwirtschaft. Von Oertzen, die Altsozialisten bei den Jungsozialisten und jetzt die Antragskommission wollen Plan statt Mark. Was gilt?
({10})
Da stellt sich doch die Frage: Wo bleiben Sie, Herr Vogel? Sie sind doch der Parteichef. Haben Sie auch eine Meinung, oder sind Sie in der Behandlung von Herrn Lafontaine vom Oberlehrertum zur antiautoritären Erziehung übergegangen? Regierungsfähigkeit werden Sie jedenfalls auf diese Weise nicht gewinnen.
({11})
Meine Damen und Herren, die „tageszeitung" , das Szeneblatt der Rot-Grünen, hat am 18. November dieses Jahres den Zusammenhang hergestellt, den die bundesdeutsche Linke zwischen Deutschlandpolitik und Sozialismus sieht. Sie schrieb:
Die Eigenstaatlichkeit der DDR ist die Grundvoraussetzung für das demokratisch-sozialistische Experiment, das mit dem Aufbruch der letzten Wochen möglich geworden scheint.
Deutschland soll also geteilt bleiben, damit die DDR als Labor für ein sozialistisches Experiment genutzt werden kann. Das ist es doch offensichtlich, was beabsichtigt wird.
Und Walter Momper, Vorreiter für eine rot-grüne Politik, geht noch einen Schritt weiter. Zu einer Zeit, in der die Kommunistische Partei Italiens dabei ist, den Kommunismus aus ihrem Parteinamen zu streichen, in der die frühere Leitfigur des griechischen Kommunismus, Mikis Theodorakis, feststellt, daß der Kommunismus „zu sich selbst ,Auf Wiedersehen' ' " sagt, in der die Kommunistische Partei Ungarns sich sogar selbst auflöst, sagt Herr Momper: „Der Antikommunismus muß aus unseren Köpfen . " Dazu kommt kein Widerspruch von der SPD, sondern ein weiteres Bekenntnis zum Sozialismus à la Vogel.
Meine Damen und Herren, ich glaube, der Wunsch der SPD ist klar. Sie will offenbar das jetzt in der DDR versuchen, was ihr in den 50er Jahren in der Bundesrepublik mißlungen ist.
({12})
Jetzt soll in der DDR ein sozialistisches Wirtschaftssystem, verbrämt als human, menschlich und freiheitlich, durchgesetzt werden, nachdem die SPD hier bei uns in der Bundesrepublik die Soziale Marktwirtschaft nicht hat verhindern können. Aber damit würde die SPD genau das verhindern, was die Menschen in
der DDR am allerwichtigsten brauchen. Sie brauchen
ein zweites Wirtschaftswunder. Darum geht es doch.
({13})
- Sehr richtig. Sie können rechnen. Es ist schon erfreulich, daß SPD-Kollegen die Grundrechenarten inzwischen beherrschen.
Nachdem Neue Heimat und coop die besondere Leistungsfähigkeit der gemeinwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung in eindrucksvoller Weise nachgewiesen haben, sollte man solche politischen Probebohrungen in der DDR lieber unterlassen. Die Menschen in der DDR haben genug vom Sozialismus. Sie wissen, daß er genauso ist wie Trabi-Fahren: Es ist eng, es geht nur langsam voran, es stinkt und man ist froh, wenn man wieder aussteigen kann.
({14})
Stephan Hildsberg, der Sprecher der Sozialdemokratischen Partei - es wurde schon auf ihn hingewiesen - , sagte in der Tat: Wir sind für Soziale Marktwirtschaft. Nach Presseberichten vom 20. November - das wurde hier bestritten - ist das auf dem Landesparteitag der SPD von Nordrhein-Westfalen mit vereinzelten Pfiffen und eisigem Schweigen beantwortet worden.
Ich meine, meine Damen und Herren, Sie sollten sich hier entscheiden. Ich kann Sie nur auffordern: Streichen Sie den Sozialismus ein für allemal aus Ihrem Programm
({15}) und Ihren Köpfen.
({16})
Wir, die CDU/CSU, haben klar Kurs gehalten. Unsere Politik war und ist es, die unserem Land Frieden, Freiheit, Wohlstand und jetzt auch die Chance zur Einheit gebracht hat. Die Ereignisse dieser Tage bestätigen das. Wir waren es, die für ein starkes Bündnis der freien Demokratien eingetreten sind, weil es unsere Sicherheit garantiert und eine unwiderstehliche Anziehungskraft für den Freiheitswillen der Menschen im Ostblock darstellt.
Die Ratschläge der SPD in Sachen Sozialismus haben sich in jeder Beziehung als falsch erwiesen. Besonders bewußt ist mir das persönlich bei der Dankesrede des diesjährigen Trägers des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Václav Havel, geworden. Ich werde nicht vergessen wie er sagte - hören Sie bitte zu - :
In meiner Heimat ist aus demselben Wort, also aus dem Wort „Sozialismus" , schon längst ein ganz gewöhnlicher Gummiknüppel geworden.
Ich glaube, das spricht für sich. Ich will ergänzen, daß mich mehr noch als jede andere folgende Passage betroffen gemacht hat, die er sprach:
Ich erinnere mich immer noch, wie zu Beginn der
70er Jahre einige meiner westdeutschen Freunde
und Kollegen mir auswichen aus Furcht, daß sie
durch einen wie auch immer gearteten Kontakt zu mir, den die hiesige Regierung nicht gerade liebte, eben diese Regierung überflüssigerweise provozieren und damit die zerbrechlichen Fundamente der aufkeimenden Entspannung bedrohen könnten.
({17})
Meine Damen und Herren von der SPD, fragen Sie sich eigentlich, ob Václav Havel nicht möglicherweise auch Mitglieder Ihrer Partei damit gemeint hat? Ich glaube, es wäre wirklich gut - Volker Rühe hat in seiner Rede im September darauf hingewiesen -, wenn Sie hier einen klaren Strich ziehen würden.
Walter Momper hat kürzlich festgestellt, daß es „unter den Politikern auch viele Wendehälse" gebe. Aber das sei „kein DDR-typisches Phänomen". Ich weiß nicht, ob er darauf anspielte, daß er vor einigen Monaten noch strikt gegen jede Koalition mit der AL war, mit der er jetzt im Koalitionsbett liegt. Ich weiß nur eins: nach den Pirouetten, die Sie von der SPD in der letzten Zeit haben drehen müssen, sind Sie die wahre deutsche Wendehalspartei geworden.
({18})
Meine Damen und Herren, wir wissen, die Freiheit ist die Leitidee der Zukunft, nicht der Sozialismus, in welchem Gewand auch immer. Bringen Sie, wenn Sie die Kraft dazu haben, heute Ihre Partei auf den Kurs der Eigeninitiative, der Verantwortung und der Freiheit.
Noch im August 1987, Frau Matthäus-Maier, haben Sie von der SPD mit der SED - man glaubt kaum, richtig zu lesen - folgendes vereinbart. „Sozialdemokraten und Kommunisten fühlen sich beide dem großen humanistischen Erbe Europas verpflichtet ... "
({19})
„... Beide Seiten müssen sich auf einen langen Zeitraum einrichten, während dessen sie nebeneinander bestehen und miteinander auskommen müssen."
({20})
Meine Damen und Herren, meines Erachtens ist jetzt die Stunde, in der Sie von der SPD dieses Papier mit der SED endlich aufkündigen müssen.
({21})
Wer in einer solchen Zeit, in einer solchen Stunde an einem solchen Papier festhält, der hat sich wahrlich politisch selbst disqualifiziert und kann nicht mehr ernstgenommen werden. Denken Sie an Gorbatschow: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. "
Vielen Dank.
({22})
Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr mit der Beratung des Einzelplans 04 fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
({0})
Wir fahren in den Beratungen fort. Das Wort hat Frau Abgeordnete Eid.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Auch wenn der Schwerpunkt der Debatte heute morgen auf der Deutschlandpolitik lag, möchte ich ein ganz anderes Politikfeld ansprechen, denn wir können nicht alles ausblenden, was außerhalb der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR liegt.
Gestern hat sich meine Fraktion entschlossen, gegen die Firmen HDW und IKL Strafantrag bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Kiel zu stellen. Dieser Schritt war unvermeidbar. Das U-Boot-Geschäft mit Südafrika ist nicht nur ein innenpolitischer Skandal, in den die halbe Bundesregierung einschließlich des Bundeskanzlers verwickelt ist, das U-Boot-Geschäft der Firmen HDW und IKL hat auch zu einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik geführt.
Vergangenen Mittwoch erlebte die Südafrikapolitik der Bundesregierung einen schweren Rückschlag. Zum erstenmal seit 1978 wurde die Bundesregierung wegen ihres Waffenhandels und wegen ihrer Handelsbeziehungen mit Südafrika mit überwältigender Mehrheit von der Vollversammlung der Vereinten Nationen verurteilt. Es war der U-Boot-Skandal, der das Faß zum Überlaufen brachte. Mit 106 : 17 Stimmen forderte das Plenum der internationalen Staatengemeinschaft eine Strafverfolgung der Firmen HDW und IKL.
({0})
Es forderte eine strikte Einhaltung des UN-Rüstungsembargos gegen Südafrika durch die Bundesrepublik in der Zukunft.
({1})
Liebe Kollegen und Kolleginnen, das hat es noch nie gegeben, seit die Bundesrepublik im Jahre 1973 Mitglied der UNO wurde. Aus diesem Grund muß dies hier und heute in der Generaldebatte angesprochen werden. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Begleitumstände des U-Boot-Skandals, daß es so weit gekommen ist. Es ist beschämend, daß sich jetzt schon die Vereinten Nationen um die Einhaltung von Rechtsgrundsätzen in der Bundesrepublik sorgen müssen,
({2})
weil die hiesige Regierung und die hiesigen Justizbehörden mögliche Straftäter nicht verfolgen. Die Firmen HDW und IKL stehen unter dem dringenden Verdacht, eine Straftat nach § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes begangen zu haben.
({3})
- Die Verdachtsmomente sind handfest, Herr Bohl. Die Lieferung der U-Boot-Blaupausen nach Südafrika hat zu einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik geführt. Alle vorlieFrau Eid
genden Indizien deuten darauf hin, daß die Lieferung der Blaupausen nicht alles war. Es gibt Zeugenaussagen, daß der U-Boot-Bau in Südafrika mit deutscher Hilfe weit vorangeschritten ist: Der HDW-Ingenieur Gerd Rademann leitet den Bau, bundesdeutsche Firmen liefern Know-how und Ersatzteile nach Südafrika. Bei dem Straftatbestand des § 34, bei dem es um erhebliche Störungen der auswärtigen Beziehungen
({4})
durch einen ungenehmigten Rüstungsexport geht, kommt es nicht darauf an, ob die Verurteilung der Bundesrepublik durch internationale Gremien, wie z. B. die UNO, zu Recht erfolgt oder nicht. Meiner Meinung nach ist es in diesem Falle zu Recht erfolgt.
({5})
Entscheidend ist, ob die Bundesregierung in Zukunft in der Lage sein wird, glaubhaft zu versichern, daß sie sich jederzeit strikt an das Rüstungsembargo gegen Südafrika hält. Diese Glaubwürdigkeit hat die Bundesregierung und allen voran der Bundeskanzler durch ihr Verhalten in bezug auf das U-Boot-Geschäft mit Südafrika national und international verspielt.
Die UNO fordert, daß die Verantwortlichen für den Bruch des UNO-Embargos beim U-Boot-Geschäft gerichtlich verfolgt werden. Nach der herrschenden Rechtsauffassung ist dies nun zwingend notwendig. Ich verweise hier nur auf den Außenwirtschaftskommentar von Dr. Fuhrmann und auf das Grundsatzurteil des Landgerichts Düsseldorf im sogenannten Rheinmetall-Prozeß.
Wir erwarten, daß die Bundesregierung jetzt den U-Boot-Fall an die Staatsanwaltschaft Kiel abgibt
({6})
und dem Verantwortungsbereich der ihr unterstellten Oberfinanzdirektion Kiel entzieht.
({7})
Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, ich weiß nicht, wann Sie begreifen, daß sich der U-Boot-Skandal nicht aussitzen läßt. Sie haben es nach drei Jahren noch immer nicht geschafft, daß das Thema aus den Schlagzeilen verschwindet, im Gegenteil: Sie haben es geschafft, daß die Bundesrepublik von der UNO-Vollversammlung verurteilt wurde.
({8})
- Herr Bohl, lesen Sie genau den Text.
Sie haben es geschafft, die Bundesrepublik zum größten Handelspartner des Apartheid-Regimes und zu dessen größten Waffenlieferanten zu machen.
Sie, Herr Bundeskanzler, haben das U-Boot-Geschäft mit Südafrika mit eingefädelt und damit der
Bundesrepublik schweren außenpolitischen Schaden zugefügt.
({9})
In der Südafrikafrage ist die Bundesregierung heute weltweit isoliert. Sie steht, für alle sichtbar, nicht auf der Seite der Menschenrechte und der Freiheit,
({10})
sondern auf der Seite der Rassisten und weißen Unterdrücker. Nicht nur Kanzler und Bundesaußenminister, sondern auch Verteidigungsminister Stoltenberg waren in dieses schmutzige Geschäft involviert und mit großer Wahrscheinlichkeit auch Finanzminister Waigel und Innenminister Schäuble.
({11})
Das Verhalten der Bundesregierung ist völlig unerträglich. Das Bundeskabinett, an der Spitze Bundeskanzler Kohl, hat das illegale Geschäft mit Südafrika ermöglicht. Nach Bekanntwerden hat die Regierung alles vertuscht und Akten vernichtet. Die Regierungsfraktionen, Herr Bohl, haben Rechte des Parlaments gröblich außer Kraft gesetzt.
Unter den Augen der Bundesregierung wird das U-Boot-Geschäft illegal fortgesetzt. Der Konflikt wird zusehends internationalisiert. Jetzt werden nicht nur die innenpolitischen Kritiker mundtot gemacht, sondern es wird auch ökonomischer und politischer Druck gegen fremde Staaten ausgeübt, die die Einhaltung des UN-Rüstungsembargos einfordern.
Zu allem Überfluß haben wir einen Bundeskanzler, der dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß zur U-Boot-Affäre mehrfach die Unwahrheit gesagt hat.
({12})
Als ich den Bundeskanzler - hören Sie genau zu - im Februar 1987 gefragt hatte, wann er zum erstenmal vom Vertragsabschluß zwischen HDW und IKL und Südafrika erfahren hat, sagte er wahrheitswidrig aus: im Sommer 1985, frühestens im Oktober 1984.
({13})
Spätestens als der Brief von Franz Josef Strauß bekannt wurde, wurde klar, daß sich Strauß bereits am 24. Juli 1984 mit dem Bundeskanzler ausführlich über Einzelheiten des Vertragswerkes unterhalten hat.
({14})
Auch Bundesaußenminister Genscher hat entgegen seinen Aussagen vermutlich bereits am 1. Juni 1983 in
einem Dreiergespräch mit Kohl und Strauß vom UBoot-Geschäft erfahren.
({15})
Frau Kollegin, ich wollte nur fragen, ob Ihnen Ihre Fraktion noch mehr Zeit gibt, weil die Zeit sonst abgelaufen ist.
Ich habe nur noch eine Minute.
Das heißt, der Bundeskanzler und der Außenminister haben das Geschäft stillschweigend geduldet; sie haben nicht eingegriffen.
({0})
Ich frage Sie: Ist das der Grund dafür, daß die Bundesregierung Mitgliedstaaten der UNO in empörender Weise unter Druck gesetzt hat, ihre Unterschrift unter der Resolution zurückzuziehen? Warum wollen Sie nicht, daß die ganze Wahrheit ans Licht kommt?
({1})
Warum haben Sie bisher eine Strafverfolgung der Firmen verhindert? Warum haben Sie es soweit kommen lassen, daß sich jetzt die UNO damit befassen mußte? Welche Konsequenzen ziehen Sie aus der Aufforderung der UNO, die Firmen strafrechtlich zu verfolgen?
Herr Bundeskanzler und Herr Außenminister, ich bitte Sie dringend, diese Fragen für die Bundesregierung zu beantworten.
({2})
Herzlichen Dank.
({3})
Meine Damen und Herren, das Wort hat jetzt der Bundesminister des Auswärtigen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Über das, was hier eben gesagt worden ist, wird im Laufe der Haushaltsberatungen noch Gelegenheit bestehen zu sprechen. Aber ich kann schon jetzt sagen: Die Beratungen des Untersuchungsausschusses werden nicht in das Plenum des Deutschen Bundestages verlagert werden.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Deutsche Bundestag hat nach den von Bundeskanzler Helmut Kohl formulierten zehn Punkten die Chance zu einem erneuerten Grundkonsens in einer entscheidenden Phase deutscher und europäischer Politik.
({1})
Die Freie Demokratische Partei - ich spreche hier
nicht nur für mich persönlich, sondern für meine Partei, weil ich der erste Redner nach der Rede des Bundeskanzlers bin - unterstützt die in den zehn Punkten formulierte Politik.
({2})
Sie liegt in der Kontinuität unserer Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik, die wir im Parlament, in der Öffentlichkeit und in der Regierungsverantwortung vertreten. Sie entspricht dem, was das Präsidium der Freien Demokratischen Partei gestern zu der Deutschlandpolitik, eingebettet in die europäische Friedenspolitik, zum Ausdruck gebracht hat. Die Ergebnisse dieser Politik sind uns nicht in den Schoß gefallen. Sie mußten erstritten werden. Die grundsätzliche Zustimmung, die Herr Kollege Voigt für die Fraktion der sozialdemokratischen Partei zu den zehn Punkten zum Ausdruck gebracht hat, läßt hoffen, daß die Chance für einen erneuerten Grundkonsens nicht ungenutzt bleibt.
({3})
Wir haben neulich in der Frage der polnischen Westgrenze eine wichtige gemeinsame Entscheidung getroffen.
({4})
Der Deutsche Bundestag sollte die Gelegenheit nutzen, auch zu den zehn Punkten seine Zustimmung zu erklären. Die grundsätzliche Zustimmung, die Sie gegeben haben, Herr Kollege Voigt, ist deshalb wichtig, weil wir diesen Konsens und das Zusammenwirken aller gesellschaftlichen und politischen Kräfte in der vor uns liegenden Zeit noch brauchen werden. Zeiten großer Chancen sind immer auch Zeiten großer Herausforderungen und auch großer gemeinsamer Anstrengungen. Deshalb sollten wir in den vor uns liegenden Monaten der Gefahr widerstehen, das Schicksal unserer Nation und die daraus notwendig werdende Politik zum Wahlkampfinstrument gegeneinander zu machen. Wenn es je eine Lage gab, wo das Wort galt, „Soviel Gemeinsamkeit wie möglich", dann ist es die gegenwärtige Lage der deutschen Nation und der Chancen, die darin liegen.
({5})
Die Menschen in der DDR haben einen Anspruch darauf.
Ich habe in diesen Tagen den Brief eines mir sehr nahestehenden Menschen aus der DDR erhalten. Er schreibt folgendes:
Wir haben hier auch 40 Jahre gearbeitet. Aber stehen wir nun mit leeren Händen da? Müssen wir bezahlen dafür, daß wir hiergeblieben sind, müssen wir bezahlen dafür, daß wir uns alles haben gefallen lassen?
- Dann sagt er am Schluß: Durch müssen wir selbst.
Ich möchte an ihn von hier und über ihn allen Mitbürgern in der DDR sagen: Sie müssen nicht dafür bezahlen, sondern wir werden ihnen dabei helfen, daß sie dieselben Chancen, wenn auch 40 Jahre später als wir, erhalten, die wir durch eine glückliche Wendung
der Geschichte in der Bundesrepublik Deutschland bekommen haben.
({6})
Meine Damen und Herren, zu Recht ist hier die Anerkennung und vor allen Dingen der Dank zu dem Freiheitsbekenntnis unserer Mitbürger in der DDR ausgesprochen worden. Sie haben mit ihrem Freiheitsb ekenntnis dazu beigetragen, den deutschen Namen weltweit in einem Lichte wiedererscheinen zu lassen, der schon durch unsere freiheitliche Ordnung hier in der Bundesrepublik Deutschland geprägt worden ist.
Es geht bei den Forderungen unserer Mitbürger um Freiheit und Demokratie, um Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit und um freie Wahlen an Stelle des Machtmonopols einer Partei. Erst wenn diese freien Wahlen stattgefunden haben, werden wir wissen, wohin unsere Mitbürger in der DDR wollen und wie sie ihre eigene innere Ordnung gestalten wollen. Heute wissen wir: Sie wollen Freiheit. Nach diesen Wahlen wissen wir, welchen Gebrauch sie von dieser Freiheit gemacht haben.
In dem Prozeß der Meinungsbildung, der diesen Wahlen vorangeht, wird es wichtig sein, daß wir zweierlei einbringen - das ist keineswegs Bevormundung - : das Modell unseres freiheitlichen Staates und unserer freiheitlichen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung - auch mit den Fehlern, die wir gemacht haben, und auch mit manchem Umweg, den wir gemacht haben - und unsere Bereitschaft zur Hilfe bei der Entwicklung innerhalb der Deutschen Demokratischen Republik. Diese Hilfe, meine Damen und Herren - das ist heute begrüßenswert klargestellt worden - , ist an Bedingungen nicht gebunden und kann auch nicht daran gebunden werden.
({7})
Es gibt Bedürfnisse, die schon heute bestehen. Die Lage der medizinischen Versorgung in der DDR ist nicht nur eine Frage fehlenden ärztlichen und pflegerischen Personals, es ist eine Frage der Ausrüstung mit den modernsten medizinischen Geräten, mit den hochentwickelten Medikamenten und mit den Gegenständen des täglichen Gebrauchs in einem Krankenhaus. Hier gibt es keinen Anlaß, auf irgend etwas zu warten.
({8})
Das gleiche, meine Damen und Herren, gilt für den Umweltschutz. Wer einmal in Richtung meiner Heimatstadt Halle an den Leuna- und Buna-Werken vorbeigefahren ist, wird wissen, was dort an Umweltschutz zu tun ist. Auch hier ist kein Anlaß, auch nur einen Tag zu zögern.
({9})
Wir haben Umweltschutz in einer Zeit mit Honecker
und mit Mauer angeboten. Sollten wir uns ohne
Honecker und bei geöffneter Mauer zurückhaltender
verhalten? Ich würde das für einen schwerwiegenden Fehler halten.
({10})
Zum Umweltschutz muß gesagt werden, daß wir hochwertige Technologien anbieten können. Ich sage das jetzt nicht nur bezogen auf die DDR, ich sage das bezogen auf alle Staaten Mittel- und Osteuropas. Das Angebot moderner Umweltschutztechnologien liegt im Interesse der Menschen dort. Es liegt aber auch im Interesse der Umweltpolitik in ganz Europa. Wir sollten deshalb auch innerhalb des COCOM darauf hinwirken, daß wir wirklich modernste Technologien anbieten können. Wenn es z. B. um Reaktorschutz geht, kann das Angebot modernster Sicherheitsanlagen doch wohl nicht daran scheitern, daß darin auch einige Rechner enthalten sind, die derzeit noch unter den COCOM-Bestimmungen stehen.
({11})
Das jetzige Angebot zur Zusammenarbeit beinhaltet auch die Hilfe für die wenigen Handwerksbetriebe, die es gibt, und für die hoffentlich viel mehr, die es demnächst geben wird. Der Bundeswirtschaftsminister hat dazu Vorstellungen und Konzepte erarbeitet, die er, wie ich hoffe, sehr bald mit seinem Kollegen in der DDR besprechen kann.
({12})
Wie in den zehn Punkten des Bundeskanzlers dargelegt, besteht heute die Möglichkeit, ohne Vorbedingungen aktuell und sofort zu helfen und dringende Bedürfnisse zu erfüllen.
Das gilt übrigens auch für den öffentlichen Nahverkehr in der DDR. Wenn man sich den Zustand der öffentlichen Nahverkehrsmittel zu Beginn eines Winters ansieht, sollte man sich nicht scheuen, auch zu überlegen, Omnibusse zur Verfügung zu stellen, die sofort die Lage der Menschen dort bezüglich ihres Arbeitslebens verbessern können.
({13})
Ich will damit zum Ausdruck bringen, daß vieles geschehen kann, was keineswegs bedeutet, daß Milliardengeschenke, wie man es gelegentlich lesen kann, in eine Wirtschaftsordnung fließen, die wir für falsch halten.
({14})
Meine Damen und Herren, über die Wirtschaftsordnung werden die Bürger der DDR in freien Wahlen entscheiden. Ich bin ganz zuversichtlich, daß sich auch in der Gestaltung der Gesellschaft der DDR das durchsetzen wird, was wir wissen, nämlich daß Freiheit immer umfassend ist: bürgerliche Freiheit, gesellschaftliche Freiheit und wirtschaftliche Freiheit.
({15})
Freiheit ist unteilbar, und die Kreativität des Menschen wird ihr Recht beanspruchen.
Es ist deshalb richtig, daß sich hier im Deutschen Bundestag ein Grundkonsens abzeichnet, das, was sofort getan werden kann, auch sofort zu tun und zugleich mit allen Möglichkeiten, die wir haben, darauf zu dringen, daß die Führung der DDR den Weg frei
macht für freie und geheime Wahlen, unter Umständen, die den Menschen die Angst nehmen vor den immer noch bestehenden Instrumenten staatlicher Repression.
({16})
Wenn wir auf diese Weise dazu beitragen, daß sich der freie Wille entwickeln kann, dann wird in der Tat die Deutsche Demokratische Republik für uns ein Partner anderer Qualität auch in seiner Vertretung sein, als das bisher der Fall war, und neue Formen der Zusammenarbeit ermöglichen, die in der Vergangenheit bedeutet hätten, daß wir den Willen der Bürger dort vernachlässigen, die aber nach einer freien Wahl bedeuten, daß wir den Willen der Bürger dort respektieren.
Das nimmt nichts von der Politik der kleinen Schritte, die uns bis hierher geführt haben. Ich habe in der letzten Zeit manches verächtliche Wort über die Politik der kleinen Schritte gehört.
({17})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte keinen dieser kleinen Schritte missen,
({18})
denn sie haben unter anderen Umständen den Menschen in der DDR geholfen, das Leben etwas erträglicher zu machen. Jeder politische Häftling, für den wir die Freiheit erreichen konnten, war ein Mensch, für den wir persönlich die Freiheitsrechte verwirklicht haben, die wir hier schon lange genießen.
Deshalb war es gut so, daß der Bundeskanzler in diesen zehn Punkten seiner Rede heute die Politik der kleinen Schritte als eine unverzichtbare Vorbedingung auf dem Wege zu der Entwicklung dargestellt hat, die wir heute erleben, ebenso wie die Verträge und der KSZE-Prozeß unverzichtbare Vorbedingungen auf diesem Wege sind.
Es geht also darum, daß wir jetzt in der Vorbereitung freier Wahlen in der DDR und nach diesen freien Wahlen das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander so ordnen, daß wir teilnehmen an der Entwicklung Europas, bei der sich Europa ({19}) - wenn ich das einmal so sagen darf - und Europa ({20}) aufeinander zubewegen.
Von niemandem kann bestritten werden, daß die Freiheitsentwicklung in der Deutschen Demokratischen Republik eine Hoffnung nicht nur für die Menschen dort und nicht nur für uns in der Bundesrepublik Deutschland ist, sondern daß sie Teil einer europäischen Freiheitsentwicklung ist, die eine Hoffnung für den ganzen Kontinent bedeutet. Deutsche in Freiheit und Demokratie haben noch niemals für andere Völker eine Bedrohung oder eine Gefahr bedeutet.
({21})
- Wenn sie wissen, wie sie damit umgehen; wobei wir an die Mündigkeit der Bürger glauben und ihr vertrauen dürfen, Herr Kollege Duve.
({22})
Ich sage Ihnen voraus, daß die Bürger in der DDR, die sich diese Mündigkeit mit Würde und Verantwortung erkämpfen, mit nicht geringerer Mündigkeit als wir ihre Freiheitsrechte dann wahrnehmen werden.
({23})
Wir werden in den Diskussionen der nächsten Monate erleben, daß die Bürger ein sehr feines Gefühl dafür entwickeln, was aufrichtig gemeint ist oder was als ein Mittel der politischen Auseinandersetzung gedacht ist.
Die Gestaltung des Verhältnisses der Bundesrepublik und der DDR, der beiden deutschen Staaten, zueinander, muß durch die Gestaltung des Verhältnisses der DDR zur Europäischen Gemeinschaft ergänzt werden. Die DDR-Führung hat der Europäischen Gemeinschaft in einer Denkschrift ihre Erwartungen an diese Zusammenarbeit zum Ausdruck gebracht. Aber was noch wichtiger ist: Sie hat gegenüber der Europäischen Gemeinschaft sich zu freien, allgemeinen, demokratischen und geheimen Wahlen verpflichtet. Das ist eine wichtige Feststellung, auf die die ganze Europäische Gemeinschaft Wert legt und die den Weg frei macht für Verhandlungen über ein Handelsabkommen, über ein Kooperationsabkommen, das nach den Erwartungen der DDR Zusammenarbeit in Wirtschaft, Handel, Wissenschaft, Technik, Umweltschutz, Transport, Fischerei, Standardisierung, Statistik und im humanitären Bereich Kultur, Bildung und Information umfassen soll.
Wir haben nichts dagegen. Im Gegenteil, wir begrüßen es, wenn die DDR eine möglichst enge Anbindung an die Europäische Gemeinschaft sucht, weil sie sich damit auf das Konzept einstellt, das wir anbieten, nämlich die Einbettung der deutschen Frage und unseren nationalen Schicksals in das Schicksal Europas.
Es wird jetzt darauf ankommen, daß wir für die dramatischen Prozesse nicht nur in der DDR, sondern auch in der Tschechoslowakei und, wie ich sicher bin, auch in den Staaten des Warschauer Pakts, in denen sie noch nicht begonnen haben oder noch nicht erkennbar sind, stabile Rahmenbedingungen schaffen.
Dafür kommt der Abrüstung eine entscheidende Bedeutung zu. Je mehr es uns gelingt, durch Abrüstung die militärischen Elemente des West-Ost-Verhältnisses zu reduzieren, um so größer wird der Freiraum für die innere Entwicklung in den Staaten Mittel- und Osteuropas und für die Zusammenarbeit zwischen West und Ost.
({24})
Ganz sicher werden neue Impulse notwendig sein: für die Verhandlungen in Wien, aber auch für die weltweite Beseitigung der chemischen Waffen.
Zu den stabilen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Reformprozesse zu vollziehen haben, gehört auch, daß unmißverständlich vom Europäischen Rat in Straßburg das Signal der europäischen Staaten ausgeht, die in der Europäischen Gemeinschaft zusammengeschlossen sind, daß wir an einem Erfolg der Reformentwicklung interessiert sind und daß wir keine Probleme, keine Schwierigkeiten, keine krisenhaften Entwicklungen einseitig ausnutzen und zu unserem Vorteil ummünzen werden.
({25})
Die Achtung der bestehenden Verträge, die konsequente Verwirklichung der Schlußakte von Helsinki gehören zu den entscheidenden Vorbedingungen für einen Erfolg der Reformpolitik.
Wenn wir über Reformpolitik sprechen, sollten wir auch und ganz besonders über die Reformpolitik in der Sowjetunion sprechen. Es nimmt nichts von dem Engagement der Bürger in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn und der DDR für Freiheit, Menschenrechte und Demokratie, wenn ich hier sage: Daß diese Entwicklung jetzt und so möglich ist, ist das Ergebnis auf der einen Seite einer richtigen und konsequenten Politik des Westens, auf der anderen Seite der historischen Politik Gorbatschows, der diesen Staaten den Weg für die eigene innere Entwicklung freigegeben hat und sogar Impulse dafür gegeben hat, daß der Weg für Reformen frei wurde.
({26})
Deshalb muß unser Interesse am Erfolg der Reformpolitik auch der Reformpolitk in der Sowjetunion gelten. Die Zusammenarbeit mit der Sowjetunion in allen Bereichen ist auch eine Zusammenarbeit für den Erfolg der Reformpolitik in der DDR und in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas. Die Reformentwicklungen sind eng miteinander verbunden. Sie sind gegenseitig abhängig. Unsere europäische und unsere nationale Solidarität ist jetzt gefordert.
In einer solchen Lage werden wir zu Leistungen bereit sein müssen, die ich als Investitionen in eine bessere Zukunft Europas bezeichne. Wir haben in den schweren Jahren des Kalten Krieges, wir haben in den schweren Jahrzehnten einer aggressiven und expansiven Politik der Sowjetunion die notwendigen Mittel aufgebracht, um durch unseren Verteidigungsbeitrag für uns, für diesen Teil Europas, Freiheit und Frieden zu sichern und für die anderen Europäer die Chance von Freiheit zu erhalten. Wir müssen jetzt die Kraft finden, die gleichen Leistungen zu erbringen, wenn es darum geht, daß wir in Mittel- und Osteuropa die Reformprozesse fördern. Was wir tun, ist eine Investition in die eigene Zukunft, eine Zukunft in Frieden und in Freiheit.
Ich danke Ihnen.
({27})
Das Wort hat der Senator für Finanzen des Landes Berlin, Herr Dr. Meisner.
Senator Dr. Meisner ({0}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir, im Rahmen dieser Haushaltsdebatte auf einige konkrete Berliner Belange und Berliner Nöte einzugehen. Das sind auch finanzielle Nöte.
In den beiden Jahren 1988 und 1989 wächst die Bevölkerung von Berlin ({1}) um mindestens 85 000 Personen. Allein in diesem Jahr, 1989, haben wir, bis zum 12. November gezählt, 37 000 Aus- und Übersiedler aufgenommen, Menschen, die ganz ausdrücklich nach West-Berlin wollten und einen Bezug zur Stadt haben.
Es gibt nirgends so viele Aus- und Übersiedler auf so engem Raum wie in Berlin. Bei uns leben 3 % der Bevölkerung der Bundesrepublik, aber wir nehmen dieses Jahr 10 % der Aus- und Übersiedler in die Bundesrepublik auf; auch in den beiden letzten Jahren waren es über 8 %.
Es sind keine abstrakten Prozentsätze, die ich hier vortrage. In Berlin leben weit über 20 000 Menschen in Übergangsheimen, in Lagern, muß man wohl sagen. Einen Wohnungsmarkt, der diesen Namen verdient, gibt es nicht. Es leben auch nahezu 13 000 Obdachlose in der Stadt.
Meine Damen und Herren, mit der Aufnahme der Aus- und Übersiedler leisten wir in Berlin etwas für die Bundesrepublik Deutschland. Wir leisten es bis an den Rand unserer Kräfte und über unser Vermögen hinaus.
({2})
Wir erstreben nichts anderes als die notwendige Unterstützung für diese Leistung.
Die Freizügigkeit für die Menschen in der DDR, die Öffnung der Grenze betrifft vor allem Berlin. Probleme der 50er Jahre und auch Kosten, die Berlin in den 50er Jahren mit Unterstützung der Bundesrepublik tragen konnte, fallen wieder an. Da müssen Straßenverbindungen, innerstädtische U-Bahn-Anschlüsse und S-Bahn-Strecken ins Umland hergestellt werden. Aus dem Stand heraus haben wir neun neue Buslinien über die Stadtgrenzen hinausgeführt, ohne aber einen zahlenden Fahrgast mehr zu haben. Wir haben überfüllte Veranstaltungen in allen Bereichen des kulturellen Lebens, aber erhebliche Ausnahmeeinfälle, umgekehrt: Einnahmeausfälle.
({3})
Das schließt die Inanspruchnahme des gesamten sozialen Leistungsangebots der Stadt ein.
({4})
Ich bitte Sie alle: Kommen Sie doch jetzt einmal nach Berlin! So etwas können Sie sonst in Deutschland nicht erleben. Das gibt es ja auch sonst nicht: eine Stadt mit 3,5 Millionen Einwohnern, mit einem Einzugsbereich von 5 Millionen Menschen. Der Westteil dieser 3,5-Millionen-Stadt wirkt als Anziehungspunkt, als Magnet in die gesamte DDR hinein und bis nach Polen. Das sollte man sich schon ansehen. Das ist schon doll. Das ist wirklich endlich Weltstadt auch mit dem Hinterland, das dazugehört.
({5})
Senator Dr. Meisner ({6})
- Wir haben nicht höhere Steuereinnahmen.
({7})
Wir haben 100 Millionen DM weniger, als in der Steuerschätzung vor einem Jahr geschätzt wurde.
({8})
Das kann ich Ihnen auch beweisen. - Es kostet auch mehr. Es wird in diesem nächsten Jahr mindestens eine halbe Milliarde DM mehr kosten. Darum gehört das auch in die Debatte zum Etat 1990.
Schwerer allerdings, meine Damen und Herren, wiegt anderes. Wer sich an die konkreten Lebensumstände in Berlin in den 50er Jahren erinnern kann, der weiß, daß einer der Gründe für den Bau der Mauer vor 28 Jahren der Abfluß von Mark der DDR nach Westen war, vor allem nach West-Berlin. Durch geschicktes Ausnutzen von Wechselkursen konnten dann die in der DDR zum Teil hoch subventionierten Waren von Ost nach West verbracht werden; verschoben werden, müßte man sagen. Die DDR hat sich dagegen zunehmend durch Einschränkung von Freizügigkeit gewehrt, bis hin zum Bau der Mauer.
Meine Damen und Herren, die gleichen Mechanismen wie in den 50er Jahren wirken nach dem 9. November 1989.
({9})
Die DDR-Mark ist im Verhältnis zur D-Mark seitdem allerdings nicht stärker, sondern schwächer geworden. Wieder fließen als Binnenwährung gedachte Mark der DDR nach West-Berlin. Wieder wird getauscht, und - so sind die Menschen nun einmal - wieder wird auch geschoben. Wieder beginnt man in der DDR, sich bei Käufen den Ausweis zeigen zu lassen. Das gab es schon einmal. Es werden wieder schärfere Grenzkontrollen erwogen.
Meine Damen und Herren, wenn die von der DDRBevölkerung errungene Freizügigkeit nicht wieder eingeschränkt werden soll, wenn die Alternative nicht „Ausbluten oder Dichtmachen" heißen soll, dann müssen Vereinbarungen mit der DDR darüber geschlossen werden, wie mit ihrer Währung bei uns umgegangen werden soll.
({10})
Das ist auch mehr als der Reisefonds. Da müssen Wechselkurse vereinbart werden,
({11})
Hilfe muß vereinbart werden, und zwar schnell, jetzt, sofort.
({12})
Wir bereiten uns nämlich nicht auf eine Situation vor, sondern wir in Berlin jedenfalls stecken schon mitten drin. Mark der DDR kommt in großen Mengen in die Stadt, wird eingewechselt. Dieses Problem ist keines zum Aussitzen. Verstehen Sie darum die Ungeduld des Berliner Senats, der darauf wartet, daß die Bundesregierung hier endlich tätig wird.
({13})
Noch ein anderes schwerwiegendes Problem stellt sich in dieser Schärfe nur in Berlin, daß nämlich Menschen kommen, die weiter in Ost-Berlin oder in der Umgebung wohnen, aber in West-Berlin arbeiten wollen und D-Mark verdienen wollen. Das droht nicht nur den schon bestehenden Mangel an Arbeitskräften in der DDR katastrophal zu verschärfen, sondern auch die sozialen Probleme bei uns. Wir haben nämlich in der Stadt wieder 86 000 Arbeitslose, und die Kurve zeigt wieder nach oben.
Meine Damen und Herren, das sind zwei aus einer ganzen Reihe von Fragen, die uns in Berlin auf den Nägeln brennen. Daher haben wir es nicht verstanden, daß nach dem 9. November drei Wochen ins Land gehen mußten, bis der Bundeskanzler zu dem Gespräch mit dem Regierenden Bürgermeister bereit war.
({14})
Dieses Gespräch wird nun endlich und Gott sei Dank am 1. Dezember stattfinden. Wir haben uns in Berlin allerdings daran erinnert, daß auch Konrad Adenauer nach dem 13. August einige Zeit brauchte, bis er an die Spree fand.
({15})
Es mangelt uns auch an Verständnis dafür, daß in Bonn vornehmlich, fast ausschließlich
({16})
eine Diskussion darüber geführt wurde,
({17})
welche Staatsmodelle für die Deutschen die Zukunft wohl noch in ihrem Schoß verbirgt, während jetzt doch ganz praktische, ganz konkrete Lösungen, Vereinbarungen, Hilfen nötig sind, um das Miteinander der Deutschen zu organisieren.
({18})
- Darauf weisen Sie uns immer hin.
Der Herr Bundeskanzler hat heute einen 10-Punkte-Katalog vorgetragen. Dazu will ich folgendes anmerken:
Erstens. Wenn dem, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat und worin er mit dem Oppositionsführer und dem Bundessaußenminister übereinstimmt, auch Taten folgen, dann ist das für niemanden erfreulicher als für die Menschen in Berlin.
({19})
Zweitens. Das wichtigste Wort in den Ausführungen des Bundeskanzlers war für uns das Wort „Sofortmaßnahmen". Wir wünschen uns nur, daß sie wirklich sofort erfolgen und mit der DDR vereinbart werden.
Drittens. Es ist vernünftig, daß Projekte vor allem im Eisenbahnverkehr mit der DDR vereinbart werden sollen. Weil Berlin die Schnellverbindung aber bald
Senator Dr. Meisner ({20})
braucht, sollte die gemeinsam festgelegte Trasse nach Hannover nun endlich realisiert und nicht noch einmal überprüft werden.
({21})
Viertens. Der Bundeskanzler hat gesagt, daß Berlin voll einbezogen wird. Das schließt auch ein, daß Berlin zur Erfüllung seiner Aufgaben für das Zusammenleben der Deutschen finanziell ausreichend ausgestattet wird. Denken Sie bitte auch daran, wenn Sie über den Einzelplan 60 abstimmen.
Ich danke Ihnen.
({22})
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich zu meinen eigentlich vorgesehenen Ausführungen komme, möchte ich etwas zu der Fraktion sagen, aus der ich in diesem Hause als unabhängiger Kopf hervorgegangen bin. Ich bin einigermaßen über das entsetzt, was ich heute morgen erlebt habe. Wie kraftlos, wie ohnmächtig - wie begossene Pudel - hat diese Fraktion dagesessen! Selbst bei Personen, die sonst aus diesen Reihen als Tanzbär oder ähnliches bezeichnet werden, war man nicht einmal in der Lage, mit klugen Zwischenworten irgend etwas als Message rüberzubringen.
Zur Zeit gibt es bei der grünen Partei kein Gespür für die tatsächlich stattfindenden Veränderungen in der Bundesrepublik, aber auch in der DDR.
({0})
In der Tat hat Politik etwas mit Wirklichkeit zu tun. Die Dynamik, die zur Zeit in dieser problematischen Situation stattfindet, findet ohne die GRÜNEN statt. Es interessiert niemanden, was GRÜNE dazu sagen. Es fragt sie auch niemand.
({1})
Das ist meines Erachtens eines der Ergebnisse der vor kurzem durchgeführten Flurbereinigung sowohl in der Fraktion als auch in der Partei.
({2})
- Herr Duve, ich gehöre nicht mehr der Partei an. Ich finde, es ist der richtige Platz, weil es aus meiner Sicht wirklich entsetzlich ist, diese Debatte ohne Initiativen der GRÜNEN zu erleben, während wir gleichzeitig davon ausgehen müssen, daß der Bundestagswahlkampf von der Deutschlanddebatte dominiert werden wird.
({3})
Nach diesem perspektivlosen Kongreß und nach dem
Verlust der Meinungsführerschaft im Ökologiebereich wird jetzt ein solches Bild auf diesem Feld geboten!
Lassen Sie mich aber noch ein Wort zur SPD sagen. Die bedingungslose Unterwerfung, die die SPD durch Karsten Voigt zu dem 10-Punkte-Katalog von Herrn Dr. Kohl kundgetan hat, ist aus meiner Sicht auch nicht unbedingt ein Ruhmesblatt. Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel, wem Sie sich unterworfen haben. Herr Dr. Kohl war so geschickt, die Gelegenheit beim Schopfe zu packen und die Entwicklung im Osten dafür zu instrumentalisieren, daß die Tarifverhandlungen beeinflußt werden. Er hat hier doch klipp und klar gesagt, daß mehr Zeit- und Teilzeitarbeit notwendig ist, um den Reichtum zu mehren und um damit weitere Hilfen anzubieten. Einem solchen Punkt und vielen anderen Punkten dieser Qualität, meine Damen und Herren von der SPD, haben Sie sich mit der Erklärung von Karsten Voigt unterworfen.
({4})
Das ist in der Tat ein Ausdruck - von dem sich die GRÜNEN weit entfernt haben - der deutsch-deutschen Besoffenheit, die langsam Raum greift und die die inhaltlichen Konturen in Feldern, wo es wirklich notwendig wäre, sie aufrechtzuerhalten, zu verwischen droht.
Dem Bundeskanzler möchte ich, auch wenn er nicht mehr im Saale ist - nicht daß ich seine Position mittrage -, ein Kompliment aussprechen. Es war zweifelsfrei das, was bei den GRÜNEN zu vermissen ist. Es war eine kraftvolle Rede. Sie vermittelte zumindest Tatendrang, und Konstruktivität strahlte sie mit diesem Zehn-Punkte-Programm auch noch aus. Ich denke in der Tat, daß die GRÜNEN ihre Handlungsfähigkeit in dieser Diskussion nur dann zurückgewinnen können, wenn sie in der Lage sind, sich von gewissem Ballast zu lösen. Es muß ja wohl möglich sein, daß zumindest Forderungen mitgetragen werden, daß mehr marktwirtschaftliche Elemente auch in der DDR-Wirtschaft eingeführt werden, nachdem selbst Oppositionsgruppen in Ungarn und der Tschechoslowakei die soziale Marktwirtschaft sogar als Forderung postulieren.
Ich meine, es gibt aber sehr viele Stolpersteine, die in dieser Rede, rhetorisch sehr geschickt, verarbeitet waren und denen auch die SPD auf den Leim gegangen ist.
({5})
So hieß es dort: Die Europäische Gemeinschaft soll mehr tun. - Und: Wir müssen der EG mehr notwendige Mittel dafür zur Verfügung stellen. ({6})
- Ich bitte Sie, Frau Matthäus-Maier: „Da hat er recht! " Da setzen sich in London, Madrid und Bonn Regierungschefs und Minister in Flugzeuge, fahren nach Brüssel und machen dort das, was eigentlich der Legislative vorbehalten sein sollte: Sie setzen verbindliche Verordnungen, Gesetze in dieser EG der zwölf, an denen vorbei das Parlament überhaupt keine Entscheidung mehr mittreffen kann. Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, pro forma di13526
rekt gewählt, strampeln und zappeln in der Tat wie Goldhamster im Laufrad, um wenigstens ein bißchen mitreden zu können. Mit einem solchen Demokratiemodell kann man dem Osten natürlich nicht vorwärtsweisend oder vorbildlich irgend etwas anbieten.
Meine Damen und Herren, ich wiederhole an dieser Stelle: Auch einer solchen Formulierung hat die SPD jetzt ihre Zustimmung gegeben. Ich wäre dankbar, wenn dazu noch eine Relativierung, zumindest beim nächsten Einzelplan, innerdeutsche Beziehungen, erfolgen würde.
Es gibt auch andere sehr schöne Formulierungen in der Rede des Bundeskanzlers. Er fordert dort Mittel - um helfen zu können - für die Dritte Welt, sogar nach ökologischen Kriterien. Er sagt, wir seien den nachfolgenden Generationen verpflichtet - was ja zweifellos richtig ist. Das hört sich alles gut an. Das ist aber nicht die Politik dieser Bundesregierung.
Für das Schicksal der Menschheit - und damit auch der Menschen in Deutschland - ist wirklich uninteressant, ob man Franzose oder Deutscher oder anderer Nationalität ist.
Ein Beispiel gerade von gestern: Herr Lafontaine stellt ein Buch zur Klimakatastrophe vor - ein fürwahr wichtiges Thema! Und was machen die Journalisten? Die fragen nach deutsch-deutsch. Das ist doch nur noch behämmert, meine Damen und Herren. Wir haben doch wirklich ganz andere Probleme, als daß wir die Wiedervereinigungsfrage in den Vordergrund stellen sollten. Das kann man nicht mit ein paar schönen Nebensätzen, in dieser Erklärung von Herrn Kohl vorhin auch zu vernehmen, machen, sondern das muß in die praktische Politik einfließen.
Resümee: Die CDU lenkt von den wirklichen Problemen ab, die auf der Tagesordnung stehen müßten. Wir reden hier auch kaum über den Haushalt, sondern über deutsch-deutsch. Die SPD geht ihr voll auf den Leim, die GRÜNEN haben sich aus dieser Diskussion zur Zeit abgemeldet.
({7})
- Es gibt ja ein paar mehr, die das erkennen. Aber es kommen hier in diesem Plenum zu wenige zu Wort.
Es gibt noch eine sehr interessante Erscheinungsform: Das, was auf der Bonner Bühne so sehr im Vordergrund steht, kontrastiert sehr scharf mit der Realität in unserem Lande. Zwar gibt es bestimmte Regionen im grenznahen Bereich wie Lübeck, Hamburg oder Bayern, in denen das tatsächliche gesellschaftliche Leben von den Veränderungen - sprich: dem Niederreißen der Mauer - sehr stark dominiert ist, aber das ist auch alles.
({8})
Ansonsten geht das Leben ganz normal weiter. Nur hier, in Bonn, dominiert eine Debatte in dieser Art. Und das drückt doch auch etwas aus, nämlich die in der Tat berechtigte Furcht vor dem nationalen Größenwahn, der sich wieder breitzumachen droht.
({9})
Probleme haben wir, die in diesem Haushalt überhaupt nicht angemessen behandelt werden. Da wird die Rücknahme der Müllverbrennung auf See für Anfang der 90er Jahre angekündigt. Gleichzeitig wird verlangt, daß Sondermüllverbrennungsanlagen an Land gebaut werden. Dann können wir es auch gleich auf See weiter verbrennen lassen. - Oder: Die AKWs sollen wegen CO2 und des Klimaeffekts wieder favorisiert werden, anstatt nun endlich Energiekonzepte in Richtung Fernwärme, wie sie z. B. in Flensburg entwickelt wurden, oder auch in Richtung Sonnenenergie voranzutreiben. Alle Alternativen dazu sind bekannt. Sie finden sich nur nicht in diesem Haushalt. Die Interessengruppen sind entsprechend stark und machen ihren Einfluß geltend.
Die Konzerne - gerade auch die in der Bundesrepublik - gehen da natürlich ganz anders vor. Sie denken in Fünf- bis Zwanzig-Jahres-Zyklen, während die Politiker in der Regel gerade drei Jahre im voraus denken können, weil danach der Wahlkampf für die nächste Legislaturperiode einsetzt.
({10})
Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Beispiele zeigen sehr deutlich - Sie haben vorhin ja auch ein Lob von mir bekommen; tragen Sie es also mit Fassung, wenn ich Sie jetzt in dieser Weise kritisiere - : Die Soziale Marktwirtschaft, jedenfalls die in der Bundesrepublik, leistet die notwendigen Veränderungen nicht. Dazu müßte die Soziale Marktwirtschaft hier erst erheblich verändert werden. Das augenblickliche Konzept der Bundesrepublik Deutschland sowohl im demokratischen als auch im wirtschaftspolitischen Bereich auf die DDR zu übertragen, bedeutet nichts anderes als Verrat an der Zukunft. Es wäre geradezu zynisch, die Konzeption der BRD auf die DDR zu übertragen, wenn wir alle - auch auf der rechten Seite des Hauses - inzwischen wissen, in welche Sackgassen wir im ökologischen Bereich - aber nicht nur dort - gerannt sind.
Letzter Satz. Wenn Dr. Kohl an der Lösung dieser Probleme, die in der DDR natürlich in noch viel schärferem Maße vorhanden sind, tatsächlich gelegen wäre, dann wäre er längst rübergegangen, dann bräuchten wir keine öffentliche Debatte darüber zu erleiden, ob er im nächsten Jahr oder am 19. Dezember - knapp vor Mitterrand - rübergeht.
Ich denke, es gibt sehr viel Scheinheiligkeit hinsichtlich der Frage, ob man Bedingungen für die Gewährung von Hilfe stellen sollte oder nicht. Ich wünsche mir, daß wir vielleicht zu einem ehrlicheren Sprachgebrauch in dieser Frage kommen, weil die Menschen in der DDR auf jeden Fall wissen, ob sie erpreßt werden oder nicht. Wenn Sie selbst an Ihre Worte glauben, daß dies in keinem Fall geschehen soll, dann handeln Sie anders und tun Sie das, was Herr Genscher gesagt hat, der nicht die Mehrheit dafür in der Regierungskoalition hat, nämlich sofortige bedingungslose Hilfe zu gewähren.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Thomas Wüppesahl werde ich nichts sagen. Ich werde mich vielmehr in aller Kürze und spontan zu dem Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers äußern.
Ich komme zunächst einmal nicht umhin, meinen Respekt für die kalte Professionalität Ihrer Politik auszudrücken. Es ist Ihnen tatsächlich gelungen, statt des großen demokratischen Aufbruchs ins Offene, den wir uns gewünscht hätten, innerhalb von drei Wochen so etwas wie einen großen nationalen Konsens hinzukriegen. Ich verkenne dabei nicht, daß es eine Bewegung der CDU auf die SPD und Herrn Genscher zugegeben hat. Ich frage mich nur: Es könnte vielleicht eine Ironie der Geschichte sein, Herr Genscher, daß in dem Moment, in dem Sie sich politisch so durchsetzen in dieser großen Koalition, Ihre Partei verschwinden könnte.
({0})
Ich will zu diesem Zehn-Punkte-Plan ganz spontan drei Punke nennen, die, denke ich, aufzeigen, daß bei dieser Rechnung einiges ausgelassen worden ist.
Erstens. Die Rechnung ist ohne den Eigensinn der DDR, ohne diesen unbändigen Willen nach der Gestaltung des eigenen Weges aufgestellt worden. Herr Genscher hat gesagt: Es geht um Partner anderer Qualität. Da frage ich mich: Wenn dieses Konzept - ich meine Punkt 5, die Konföderation - ernst gemeint wäre in bezug auf die „andere Qualität", dann müßte der DDR in einer solchen Konföderation eine paritätische Entscheidung über alle Einzelfragen eingeräumt werden; denn sonst machen 60 Millionen die Minderheit der 16 Millionen in jeder einzelnen Frage platt.
({1})
Deswegen ist die Übertragung unseres FöderalismusModells auch nicht möglich. Darüber muß man nachdenken. Wenn die DDR ihre eigene Entwicklung will, dann braucht sie ein Veto-Recht, und dann braucht sie politische Parität in der Entscheidung über ihren Weg, und darüber ist kein Wort gefallen.
({2})
Zweiter Punkt. Die Rechnung ist ohne die Dritte Welt gemacht worden. Dieses Konzept ist Europazentriert, es ist EG-zentriert. Wenn es denn konsequent durchgeführt wird, dann nehmen wir erst Ost-Berlin und dann Warschau und dann Moskau und am Ende die ganze Welt. Aber es ist hochgefährlich, wenn der Nord-Süd-Konflikt bei dem ständigen Diskutieren der deutschen Frage scheinbar zu einem Konflikt zweiten Ranges degradiert wird.
({3})
Das kann für die Entwicklung des Friedens in der Welt nicht gut sein.
Dritter Einspruch: Diese Rechnung ist ohne Rücksicht auf die kritische Lage gemacht worden, in der der Generalsekretär Gorbatschow ist. Jeder mußte doch die warnenden Töne aus der Sowjetunion hören, diejenigen, die gesagt haben: Redet nicht über die Wiedervereinigung, das ertragen wir nicht.
({4})
Wer kann es verantworten, wenn am Ende eines solchen Prozesses statt des Generalsekretärs Gorbatschow ein Kriegsmarschall im Kreml sitzt? Diese Entwicklung kann niemand wollen.
Deswegen wollte ich diese drei Punkte anmerken. Ich glaube, das Konzept ist zu deutschkonzentriert. Darin liegt auch die große Gefahr für die Entwicklung in Europa wie auch in der Welt.
({5})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Roth - und nicht Herr Reddemann.
({0})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte Frau Vollmer widersprechen.
({0})
Wenn es in der Frage einen Konsens gibt, der beispielsweise die Wegnahme der Vorbedingungen enthält, die vor einigen Tagen in der CDU/CSU noch bestimmend waren, dann ist das ein großer Fortschritt, über den ich froh bin.
({1})
Wenn dieser Konsens - das war in der Rede des Bundeskanzlers und schon gar in der des Außenministers deutlich - darin besteht, daß die deutschnationalen Töne, die wir in den letzten Wochen aus der Richtung der CDU/CSU auch gehört haben, weg sind,
({2})
dann ist das ein Fortschritt, den wir begrüßen sollten.
({3})
Ihren Gedankengang zur Dritten Welt kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen.
({4})
Die Konfrontation Europas und der Welt im Norden, die Hochrüstung im Norden haben verhindert, daß der Dritten Welt in den letzten Jahrzehnten wirksam geholfen worden ist.
({5})
Die Stellvertreterkriege zwischen Ost und West in Angola, in Mosambik haben die Dritte Welt zerstört. Endlich ist in Europa ein Stück Frieden entstanden, und es entsteht auch Spielraum für neue Entwicklungen in der Dritten Welt. Das ist unsere Auffassung.
({6})
Als Wirtschaftspolitiker bin ich froh,
({7})
daß diese gespenstische Diskussion über Vorbedingungen für die Hilfe vom Tisch ist. Was heißt denn Vorbedingungen? In einer Phase, die besonders schwierig ist, nämlich in der Phase des Übergangs von einem zentralisierten, planwirtschaftlichen System hin zu einem dezentralen System, in welcher Mischung von öffentlicher und privater Wirtschaft auch immer, zum Unternehmertum, in der Phase der Umwandlung der Kombinate sollte sich die Bundesrepublik Deutschland - so klang es noch vor einer Woche ({8})
zurücklehnen und abwarten, wie die das da so machen? Diese Haltung ist heute aufgegeben worden, und ich begrüße das ausdrücklich.
({9})
Wir Sozialdemokraten sind der Auffassung, daß aus der heutigen Debatte für die Unterstützung vor allem der Oppositionsbewegungen in der DDR etwas Gutes entstehen kann, und zwar in der Form, daß wir jetzt beginnen zuzuhören, was sie vorhaben, daß wir aufnehmen, welche gesellschaftliche Entwicklung sie vorhaben. Dazu gibt es auf ihrer Seite jede Legitimation. Wir haben die letzten Jahrzehnte viel über die DDR geredet, aber sie haben die Demokratisierung geschaffen, und sie dürfen sich auch das Wirtschaftssystem schaffen, das sie selbst haben wollen.
Ich persönlich bin der festen Überzeugung, daß die Gruppen in der DDR, je länger sie miteinander diskutieren und sich mit den Zukunftsproblemen in Europa auseinandersetzen, mit der Frage beispielsweise, welchen Platz sie in der Europäischen Gemeinschaft haben wollen, eine gemischte Wirtschaft, eine soziale Marktwirtschaft erreichen werden. Aber sie werden - das ist auch meine Überzeugung - nicht den Weg einer privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung gehen. Vielmehr werden sie eher den Weg gehen, der beispielsweise durch das Land Schweden seit Jahrzehnten vorgezeichnet ist.
Wenn wir über Marktwirtschaft reden, müssen wir daran denken, daß wir sehr unterschiedliche Gesellschafts- und Wirtschaftsformen in der Welt haben. Ich bin der Auffassung: Die Mischung ist das, was entscheidet - und nichts anderes.
Meine Damen und Herren, wir werden jetzt auch konkret helfen müssen. Konkret helfen heißt auch, daß wir unseren Bürgern sagen müssen, daß es Opfer zu bringen gilt, beispielsweise Opfer in den nächsten Stufen der Steuerreform.
({10})
Ich halte es für undenkbar, Steuersenkungen von weiteren 30 Milliarden DM für Reiche und Unternehmer vorzunehmen, statt solidarisch der DDR beim Aufbau ihrer Infrastruktur zu helfen.
({11})
Das ist übrigens, meine Damen und Herren, auch aus konjunkturpolitischen Gründen ganz sinnvoll. Wer sollte eigentlich jetzt, wenn er noch ein bißchen normal über Konjunkturen nachdenkt, den Unternehmen weitere Steuersenkungen von 20 bis 30 Milliarden DM versprechen wollen? Meine Damen und Herren, damit hätten wir ohne Sondersteuern, ohne Notopfer, ohne alle Sondermaßgaben eine Finanzierung der dringenden Infrastrukturmaßnahmen in der DDR. Über die Felder sind wir uns einig: Verkehr, Telefon, Energie, Umwelt.
Herr Bundesminister für Wirtschaft, ich habe da noch einen Punkt: Heute meldet „ap" über die Vorbereitungen von Washington für diesen Gipfel im Mittelmeer. Dort wird gesagt, daß sich der amerikanische Präsident bei allem bewegen wolle, daß er allerdings stabil bleiben wolle, was die COCOM-Vereinbarungen anbetrifft. Ich halte das, wenn man die DDR und ihre Entwicklung ansieht, für eine verhängnisvolle Situation.
({12})
Ein deutsches Unternehmen in Stuttgart hat derzeit eine lange Liste von Projekten für die DDR, die morgen geliefert werden könnten, die aber noch alle unter dem COCOM-Vorbehalt stehen. Das heißt, Sie können praktisch über die Verbesserung der Kommunikation, des Telefonierens in der DDR nicht reden - wenn Sie die moderne Technik anwenden wollen - , ohne daß dieser COCOM-Vorbehalt jetzt fällt. Und er muß auf jenem Schiff im Mittelmeer fallen. Das ist notwendig.
({13})
Wir sind der Überzeugung, daß wir in den Fragen auch zusammen die Interessen vertreten können.
Lassen Sie mich zum Schluß noch ein paar Bemerkungen in Ergänzung zu dem machen, was Herr Meisner hinsichtlich der Währungsfragen gesagt hat. Herr Seiters hat uns in den letzten Tagen vor der Öffentlichkeit berichtet - der Bundeskanzler hat das heute bestätigt -, daß, was den gemeinsamen Devisenfonds für Westreisen in der DDR anbetrifft, wahrscheinlich eine Einigung erreicht wird - ich begrüße das - , unter Einbeziehung auch der Bedingungen, die hier genannt worden sind.
Aber ich glaube, wir sollten einen Moment nachdenken über die Frage der Stabilisierung der Mark der Deutschen Notenbank oder DDR-Mark
({14})
im Hinblick auf die Währungsbeziehungen überhaupt. Wir sollten uns auch ein Stück erinnern, was unsere Vorausbedingungen der wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg waren. Das feste Wechselkursverhältnis, das über zwei Jahrzehnte stabilisiert worden war - also 4,20 DM : 1 $ - war eine Vorausbedingung dafür, daß die westdeutsche Exportindustrie stetig in den Weltmarkt hineinwachsen konnte.
({15})
Ich glaube, daß Stetigkeit und Stabilität in den Währungsverhältnissen - ich spreche von den Währungsverhältnissen insgesamt, nicht von den Reisedevisen - zwischen der Bundesrepublik und der DDR eine Vorausbedingung dafür sind, daß die DDR eine faire Entwicklungschance nach außen bekommt.
({16})
Meine Damen und Herren, der gesamte Bargeldumlauf der DDR beträgt derzeit 17 Milliarden DDRMark. Unterstelle ich nur einmal ein Wechselkursverhältnis von 1 : 5, dann entsprächen diesem Bargeldumlauf der DDR etwa 3,5 Milliarden DM der Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, Interventionen zur Stabilisierung eines Wechselkurses, wahrscheinlich im Bereich 1 : 4 oder 1 : 5, sind organisierbar. Ich bin auch der Meinung, daß die Deutsche Bundesbank hier eine Verantwortung übernehmen muß. Es kann doch wohl nicht sein, daß wir die Deutsche Bundesbank an dieser Stelle völlig aus der Verantwortung entlassen.
Nun argumentiert die Deutsche Bundesbank, wie ich bei einigen Gesprächen gehört habe, mit dem Hinweis darauf, daß die Mark der DDR nach unserer Gesetzgebung keine Währung sei. Dann, bitte schön, müssen wir die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen ändern. Dann müssen wir zu dem Verhältnis, das wir auf der staatlichen Ebene ohnehin schon geschaffen haben, der Anerkennung der DDR, die Anerkennung jener Währung hinzufügen. Ich bin der Auffassung, hier muß eine Regelung stattfinden.
Das ist auch notwendig wegen der Geschäftemacherei und Spekulation an der Grenze und über die Grenze hinweg. Wir werden das nicht beseitigen können. So optimistisch bin ich nicht. Beim Verhältnis 1: 4 würde immer noch spekuliert und wären immer noch Geschäftemacherei und Schwarzhandel da. Aber es wäre wenigstens eingedämmt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine letzte Bemerkung zu diesen Tagen machen. Ich habe um den 21. August 1989 herum Václav Havel in seinem ostböhmischen kleinen Bauernhaus besucht, in dem er nicht freiwillig war, sondern in das er auswich, als die Behörden in Prag ihn wochenlang polizeilich drangsalierten. Er hatte mir damals zur Sicherheit jene Rede mitgegeben - ein Exemplar hatte er schon auf anderem Wege nach Westdeutschland geschickt - , die dann Maximilian Schell in der Paulskirche verlas. Er war damals wie immer in den 21 Jahren ein aufrechter Kämpfer für das, was er für die Ehre seines Volkes hielt. Wir haben an jenem Sommernachmittag lange geredet. Ein paar Häuser weiter war die andere Feldpostnummer, die das überwacht hat.
Wir hatten in jenen Stunden nicht die Spur einer Hoffnung, daß drei Monate später dieses Volk diese Änderungen von unten schaffen würde.
({17})
Ich muß sagen, meine Damen und Herren: Wir können auf unsere Mitbürger und auf die Bürger der Tschechoslowakei stolz sein, die sich 21 Jahre nach den Panzern selbst befreit haben.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Austermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das ist heute in mehrfacher Hinsicht eine ungewöhnliche Beratung am ersten Tag der Haushaltsdebatte - ungewöhnlich deshalb, weil sonst üblicherweise die Gegensätze in der Politik unterstrichen und deutlich gemacht werden, weil sonst üblicherweise von der Opposition der Versuch unternommen wird, nachzuweisen, daß die Regierung unbedingt durch eine andere, durch eine von ihr geführte ersetzt werden müßte. Statt dessen ist, nachdem Herr Vogel den Beginn mit den üblichen Anrempeleien gemacht hat, zumindest jetzt davon die Rede, wer der erste war, der die Gemeinsamkeiten eingeleitet hat, und wer am wenigsten Vorbedingungen, Voraussetzungen, Bedingungen oder sonst etwas für DDR-Veränderungen stellen würde.
Ich glaube, man muß hier gleich von vornherein einen Irrtum zurechtrücken: daß diese Regierung bisher nicht bereit wäre, Beiträge zu leisten, die den Bürgern der DDR existentiell helfen. Das hat sie getan. Das tut sie auch in Zukunft.
Ich nenne dazu ein ganz konkretes Beispiel. Im Bereich Umweltschutz haben wir im letzten Jahr im Haushalt beschlossen, einen Betrag bereitzustellen, der Investitionen allein durch den Bund in der Größenordnung von 300 Millionen DM auf dem Gebiet der DDR ermöglicht. Eine Menge Maßnahmen sind getroffen. Daß im existentiellen Bereich dort, wo es um konkrete Hilfe geht, geholfen wird, ist vom Bundeskanzler eindeutig gesagt worden.
Es wird aber - und dies muß man erkennen - mit dieser Vorbemerkung der Eindruck zu erwecken versucht, als wäre die Regierung etwa auf dem Wege, der Opposition zu folgen. Daß dies nun überhaupt nicht der Fall ist, dafür gibt es eine ganze Fülle von Belegen aus dem, was hier und was außerhalb des Hauses Redner der SPD gesagt haben. Wenn es in der Tat so wäre, daß die SPD Überlegungen, von Godesberg wegzukommen, zu den Akten legen würde, wenn es in der Tat so wäre, daß die SPD nun, wie in Godesberg ausdrücklich gesagt worden ist, zur Partei der Marktwirtschaft und der deutschen Einheit würde, könnte man doch den Parteitag in Berlin am besten einfach absagen.
({0})
Meine Damen und Herren, wir haben 20 Jahre nach dem Regierungswechsel von 1969 und sieben Jahre nach der Korrektur der damit verbundenen historische Fehlentwicklung einen Haushalt vorgelegt, den man in mehrfacher Hinsicht als einen Haushalt des Aufbruchs bezeichnen kann. Unsere Erfolge lassen sich messen und belegen. Ich will dies mit einem Zeugen der SPD machen, der für diese Aussage meines Erachtens unverdächtig ist.
Helmut Schmidt hat am 1. Oktober 1982, an dem Tag, an dem ein anderer Kanzler an seine Stelle gesetzt wurde, verschiedene Sorgen zum Ausdruck gebracht. Er hat gesagt, er sorge sich um die Politik der guten Nachbarschaft. Ich frage: Wann sind die Nachbarn in Europa besser miteinander umgegangen als zur Zeit? Er hat gesagt, er sorge sich um das Festhalten an EG und NATO. Die EG ist 1988 ein großes Stück vorangekommen. 1992 folgt der nächste Schritt. Die NATO lebt als westliche Wertegemeinschaft, auch wenn hier Herr Voigt wieder eine gewisse Distanz der SPD hat erkennen lassen.
Helmut Schmidt bezweifelte bei einer christlichliberalen Regierung den Willen zur Aussöhnung mit der polnischen Nation. Dies ist sieben Jahre her. Die Ergebnisse der praktischen politischen Arbeit des Bundeskanzlers haben wir vor zwei Wochen hier gemeinsam begrüßt.
Schmidt forderte - ganz anders als seine Genossen noch vor einem halben Jahr - die Erhaltung der Einheit der Nation und eine Politik, die darauf hinarbeitet. Wir haben nie vom Volk der DDR gesprochen. Wir haben keine Kumpanei mit der SED betrieben. Wir haben nicht nur vom Frieden, sondern auch von der Freiheit gesprochen. Der Bundeskanzler hat die Forderung nach Menschenrechten als erster und so deutlich genannt. Hier gibt es keine Parallele.
({1})
Der frühere Kanzler sah auch die Gefahr eines Rüstungswettlaufs. Wir waren standhaft gegenüber dem Ostblock 1983 und haben damit den Durchbruch nicht nur bei den Mittelstreckenraketen, sondern auch beim KSZE-Prozeß erzwungen, der letzten Endes ja auch mehr Menschenrechte für Osteuropa gebracht hat.
Schließlich eine Frage, die bisher überhaupt nicht angesprochen worden ist, auch nicht von dem - wie er sich nennt - Wirtschaftspolitiker Roth. Der „Weltökonom" sprach im Oktober 1982 von krisenhaften Volkswirtschaften und sorgte sich bei 6 % Inflation, explodierenden Arbeitslosenzahlen und sinkender Beschäftigung um eine deflationistische Haushaltspolitik. Das war die Sorge des Regierungsvorgängers.
Das Ergebnis unserer Arbeit, der Arbeit dieses Kanzlers, seiner Regierung und der sie tragenden Koalition: die Wirtschaft boomt. Im Haushaltsausschuß haben wir, um Überhitzungen der Baukonjunktur zu vermeiden, durch eine 25prozentige Sperre dafür Sorge getragen, daß jetzt vor öffentlichen Verwaltungsgebäuden in erster Linie eine Million neue Wohnungen gebaut werden können. Dies ist unsere Antwort und eine deutliche Politik für alle Bürger. Man muß dabei auch sagen, wenn man hier von der Wohnungsnot redet - auch vielleicht deshalb, weil die Bürger das nicht so deutlich wissen - , daß seit Beginn des Jahres 700 000 Aus- und Übersiedler in die Bundesrepublik geströmt sind. Daß nicht sofort für alle Wohnungen bereitgestellt werden können, ist selbstverständlich.
Dann hat sich Schmidt schließlich 1982 um die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme gesorgt. Ich sage heute, nie wurde mehr für Sozialaufwendungen und auf sicherer Grundlage bereitgestellt als heute. Wir haben das Land aus der Krise geführt. Dies gilt auch für die Höhe der Sozialleistungen, auf die einzelne Person bezogen.
({2})
Es wäre reizvoll, noch Willy Brandt zu zitieren, der sich im Oktober 1982 noch die Sorge machte, daß die Grundforderungen des Godesberger Programms wohl eingehalten werden. Es ist inzwischen wohl klar, an wen sich diese Sorge gerichtet hat.
Wir haben in diesem Jahr mit der niedrigsten Neuverschuldung des Bundes seit 1974, der niedrigsten Neuverschuldung seit fünfzehn Jahren festzustellen: wachsende Wirtschaft, relativ stabile Preise und steigende Einkommen, bezahlbare Krankheitskosten, Pflegehilfen, Superleistungen für die Familie, Steuerentlastung für alle, sichere Freiheit in einem starken Bildnis, eine sich abwärts drehende Abrüstungsspirale, mehr Leistungen im Umweltschutz, und - was gar nicht deutlich genug gesagt werden kann - die Einheit der Nation steht wieder im Zentrum der Gespräche unserer Bürger. Dies gilt selbstverständlich auch hinsichtlich der notwendigen Maßnahmen und Leistungen für Berlin.
Ich sage mal: Es ist schon ein ungewöhnlicher Vorgang, daß die Berliner Landesregierung hier jedesmal in jeder Woche auftritt, die Regierung anrempelt, gleichzeitig die Hand aufhält und dann davon spricht, daß Bedingungen durch die Bundesregierung nicht erfüllt werden.
({3})
Dies hat der Finanzsenator heute wieder getan. Er hat hier wieder herumgemompert, obwohl er weiß, daß am Freitag ein Termin stattfindet, obwohl er weiß, daß in diesem Haushalt mit einer Steigerungsrate 12,8 Milliarden DM für Berlin vorgesehen sind und daß wir ganz klar erklärt haben: Wir wollen selbstverständlich Berlin die notwendige Hilfe leisten.
Ich habe damit deutlich gemacht, daß es zu unserer erfolgreichen Politik in Sachfragen keine Alternative gibt. Man hätte hier ein Jahr vor der Bundestagswahl dann doch ganz gern gehört: Wie sieht es denn mit der personellen Alternative aus, wie sieht es denn mit dem Schattenkanzlerkandidaten aus?
({4})
Da fängt doch die Alternative eigentlich an. Vogel hat es 1983 versucht, er brachte es auf 38,2 %; das scheint ihn auch nachträglich noch zu verärgern.
({5})
Wir werden am 9. Dezember des nächsten Jahres darüber reden. Wir ziehen Bilanz, wenn die nächste reelle Wahl wieder stattfindet.
Rau trat 1987 an. Er war verliebt in das Gelingen und zu früh gestartet. Er erreichte exakt 37 %; da liegt die SPD bei jüngsten Umfragen. Es bleiben dann noch die Enkel, vielleicht Herr Engholm. Ich erinnere mich: Als er 1982 noch Bundesminister war, hatten wir eine Explosion beim Lehrstellenmangel, Explosion der Jugendarbeitslosigkeit, gab es einen Stopp beim studentischen Wohnungsbau, und mit Recht sprach damals die „FAZ" von „Schmidts zweiter Wahl".
Bleibt Lafontaine, der Sozialist mit kapitalistischer Attitüde und marktwirtschaftlichem Know-how.
({6})
Er sprach vor kurzem noch von sozialer Kälte der Bundesregierung, jetzt tritt er eine Sozialneidlawine los. Jetzt hetzt er Deutsche gegen Deutsche. Wer schafft denn im Westen Anreize zum Ausbluten der DDR? Ich glaube, daß hier klar deutlich gemacht werden muß, daß mit so einer Politik möglicherweise unter so einem Vorsitzenden mit Sicherheit dieses Land nicht besser regiert werden könnte.
Interessanterweise hat nun der Fraktionsvorsitzende der Kieler SPD - um das Wort „Kiel" nun endlich aufzunehmen, Herr Vogel - , der Herr Börnsen, vorgeschlagen, nun wäre ja auch der Herr Momper - ich dachte erst, ich traue meinen Augen nicht, Karneval ist noch nicht - ein geeigneter Kanzlerkandidat.
({7})
Ich glaube nicht, daß die Haltung, die er mit seiner Koalition in Berlin eingenommen hat, dafür spricht, daß er dafür qualifiziert ist. Vielleicht kriegen Sie auch zusätzliche Hilfen mit Herrn Schily, oder Herr Brandt wird wieder zugelassen. Dann fragt man sich allerdings, weshalb der Mann, der immerhin in der letzten Woche hier Größe bewiesen hat, letztes Jahr als Vorsitzender abgewählt werden mußte, weshalb ein Parteitag vorverlegt werden mußte.
Vor 30 Jahren in Godesberg hat die SPD Abschied vom Klassenkampf und Denkmustern des dogmatischen Marxismus genommen. Sie bejahte damals die von Ludwig Erhard eingeführte Soziale Marktwirtschaft und die deutsche Einheit in gesicherter Freiheit. Heute geht sie überall auf Distanz zur Bundeswehr, betrachtet den Verteidigungshaushalt als Reptilienfonds,
({8})
sie redet von dem Volk der DDR, sie redet von demokratischem Sozialismus, der eine Wiedergeburt feiern
würde. Was demokratischer Sozialismus heißt, ist
nach jeder Definition, die man irgendwo nur finden kann, klar: skeptische Einstellung zum Privateigentum an Produktionsmitteln, staatliche Steuerung, Lenkung, Planung, Vorgaben für Entscheidungen der Unternehmer. Geforscht werden darf nur dort, wo ein Bedürfnis anerkannt wird; Bewußtsein muß gebildet werden; Gemeinwirtschaft wird propagiert und verfolgt gesamtgesellschaftliche Ziele.
Nun, ich glaube, inzwischen ist jedermann klar, mit der Gemeinwirtschaft ist es wie mit dem Sozialismus; real funktionieren beide nicht. Siehe Neue Heimat, siehe co op! Im Vergleich zum co op-Sumpf ist allerdings die Neue Heimat nur ein kleines Genossenbiotop gewesen.
Meine Damen und Herren, ist nicht der entscheidende Grund dafür, daß die Menschen im ehemaligen Ostblock auf die Straße gehen, das Streben nach Bürgerrechten und nicht nach Genossenrechten? Wandlitz grüßt mit klassenlosem Sozialismus; wer den Sozialismus kennt, der wählt ihn nicht. Dies tut auch nicht die SPD, wie man den Worten ihres Sprechers entnehmen kann.
Mit der Leistung dieser Koalition geht natürlich auch das Fehlen der Alternative der Opposition in sachlichen Fragen einher. Wir fragen uns allerdings dann gelegentlich, und auch die Bürger fragen uns: Weshalb verkauft ihr euch bei dieser hervorragenden Leistung eigentlich so schlecht?
Nun könnte man ein Beispiel nehmen - und mein Nachredner von der SPD wird es sicherlich deutlich machen - : Sie geben da 410 Millionen DM für Öffentlichkeitsarbeit im Haushalt des Bundespresseamtes aus. Reicht das nicht? Ich möchte mit einem Beispiel schließen, das zeigt, daß selbst die 21 Millionen DM, die dem Bundespresseamt für Inlandsarbeit zur Verfügung stehen, nie ausreichen können. Hierzu mag der 10. November 1989 als Exempel dienen.
In Berlin war eine Stadt im Freudentaumel. Das ganze Land, die ganze Bundesrepublik, das deutsche Volk haben gefeiert. Millionen auf den Straßen; 20 000 vor dem Schöneberger Rathaus, davon 5 000 von der Alternativen Liste, den Jusos, dem AStA der FU und der SEW bestellte Störer; Pfeifen und Johlen, während der Kanzler spricht,
({9})
etwa so wie heute - Sie haben das offensichtlich schon damals geübt - , Pfeifen und Johlen während der Nationalhymne. Dies zeigt das Fernsehen während der Nachrichten. Als geborener Berliner habe ich mich wegen des Johlens während der Rede des Kanzlers und während der Nationalhymne geschämt.
Eine Stunde später am 10. November 1989: 200 000 Berliner am Breitscheidplatz; der Kanzler in der Menge; Beifall. Das Fernsehen war nicht da; das Fernsehen klammert aus.
({10})
Dies nennt man öffentlich-rechtliche Pressefreiheit.
({11})
- Wir reden über den Einzelplan 04. Zu diesem gehört der Etat des Bundespresseamts, Herr Kollege Vogel.
({12})
- Wir reden über den Einzelplan für die Arbeit des Kanzlers. Ich meine, daß die Debatte bisher deutlich gemacht hat, daß es zu dieser Arbeit des Kanzlers und zu dieser Regierung keine Alternative gibt.
Herzlichen Dank.
({13})
Das Wort hat der Abgeordnete Jungmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege Austermann, Sie hätten besser geschwiegen
({0})
das hätte dem Kanzler besser getan -, als hier Ihre Haßtiraden gegen Sozialdemokraten und Andersdenkende zu verbreiten. Es hat nur noch der Schaum vor Ihrem Mund gefehlt; dann wäre das vollendet gewesen, was Sie sich gewünscht hätten.
Es ist natürlich so, meine Damen und Herren, daß der Kanzleretat naturgemäß zur Aussprache über die Politik der Bundesregierung und des Bundeskanzlers benutzt wird und daß über alle Politikfelder, die dabei eine Rolle spielen, gesprochen wird. Nur, Herr Kollege Austermann, Sie haben dabei vergessen, daß das, was Sie hier vorgetragen haben, die positive Seite war und daß natürlich der Bundeskanzler, der heute vormittag hier auch eine Leistungsbilanz vorgetragen hat, die positiven Dinge vortrug und daß es die Aufgabe der Opposition ist, die Finger in die Wunden zu legen und auf negative Entwicklungen in unserer Gesellschaft hinzuweisen.
({1})
- Nein, nein, das wird nicht immer schwerer.
({2})
Sie haben nur im Moment das Glück, daß die öffentlichen Medien mit der Berichterstattung über die deutsch-deutsche Politik und das, was mit der Entwicklung in Europa zu tun hatte, alles, was an sonstigen Dingen in der Bundesrepublik Deutschland abläuft, übertünchen.
({3})
Sie können nicht verhehlen, daß der Paritätische Wohlfahrtsverband deutlich gemacht hat, daß es 6 Millionen Menschen gibt, die an der Armutsgrenze leben. Es gibt Obdachlose in Berlin; es gibt Obdachlose in der Bundesrepublik Deutschland, und es gibt eine Menge Dinge in dieser Republik neben dem, bei dem wir uns darüber einig sind, was in der deutschdeutschen Politik getan werden muß.
Beim Kanzleretat fällt mir natürlich auf, daß die Öffentlichkeitsarbeit einen breiten Raum einnimmt. Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung ist nicht, Herr Kollege Austermann, wie Sie das wieder fälschlicherweise darstellen wollen, nur im Kapitel 04 03 etatisiert, sondern erstreckt sich über alle Einzelpläne. Hier geht es nicht nur um 21 Millionen DM für Öffentlichkeitsarbeit Inland. Wenn Sie alle Öffentlichkeitstitel der Bundesregierung zusammennehmen, dann wird vielmehr fast eine halbe Milliarde DM im Wahlkampfjahr 1990 für Öffentlichkeitsarbeit veranschlagt. Im Haushalt 1989 waren es noch 380 Millionen DM; das Mehr war teilweise durch die 40-JahrFeiern zum Bestehen der Bundesrepublik Deutschland und des Grundgesetzes angesetzt. In diesem Jahr sind es 425 Millionen DM; eine Steigerung von 12 %.
({4})
Der Sozialetat steigt um 3 %; Herr Kollege Austermann.
Während der Regierungszeit der SPD/FDP-Koalition hat sich die damalige CDU-Opposition und hier an hervorragender Stelle der jetzige Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses mit Kürzungsvorschlägen hervorgetan, und Sie haben dann auch ein Verfassungsgerichtsurteil erstritten. Seit Sie selbst an der Regierung sind, ist aber nicht eine einzige Million DM im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit gestrichen worden. Im Gegenteil, seit 1983 sind diese Ansätze um fast 100 % gestiegen.
({5})
Das heißt, für den Verkauf einer schlechten Politik haben sich die Kosten fast verdoppelt.
Die Bundesregierung hat das Recht und die Pflicht, über ihr Tun und ihre politischen Ziele zu informieren. Daß sie 1990 dafür aber so viel mehr Geld benötigt, liegt nicht daran, daß sie mehr Gutes tut, sondern daran, daß sich ihr Tun auf ein einziges Ziel richtet: Die sieben Wahlen, Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen, im nächsten Jahr möchten Sie auch unter Inanspruchnahme der Öffentlichkeitsarbeitstitel gewinnen.
({6})
Vor einer solchen Haltung hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 2. März 1977 in seinen Leitsätzen eindringlich gewarnt. Dort heißt es:
Weder dürfen die Verfassungsorgane des Bundes anläßlich von Wahlen in den Ländern noch dürfen die Verfassungsorgane der Länder anläßlich von Wahlen im Bund parteigreifend in den Wahlkampf einwirken.
Ich warne davor, diese Mittel für solche Zwecke zu mißbrauchen.
({7})
Weiter heißt es:
Als Anzeichen für eine Grenzüberschreitung zur unzulässigen Wahlwerbung kommt weiterhin ein Anwachsen der Öffentlichkeitsarbeit in Wahlkampfnähe in Betracht, was sowohl in der größeJungmann ({8})
ren Zahl von Einzelmaßnahmen wie in deren Ausmaß und dem gesteigerten Einsatz öffentlicher Mittel für derartige Maßnahmen zum Ausdruck kommen kann.
({9})
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, ich kann Ihnen leider keine Ruhe verschaffen. Deswegen bitte ich um Entschuldigung, daß Sie sich hier durchsetzen müssen.
Frau Präsidentin, ich bedanke mich für Ihre Fürsorge. Aber das Ergebnis dessen, was ich hier sage, wird die Koalition, wenn es von ihr nicht beachtet wird, spätestens dann spüren, wenn sie vor dem Verfassungsgericht landet.
({0})
Sie haben zwar die tatsächlichen Ansätze im Haushalt, die man offen finden kann, mit 165 Millionen DM öffentlich dargestellt, haben aber dann versucht, durch Tricks in anderen Titeln Öffentlichkeitsarbeitsmittel und Informationsmittel zu verstecken. Das war zwar clever, aber nicht weise, und auch nicht clever genug, Herr Kollege, daß wir es nicht gemerkt haben.
({1})
Unter den von Ihnen geplanten Ausgaben für 1990 befindet sich übrigens ein besonders abenteuerliches Projekt. Unter dem harmlosen Titel „Studie zur Fernseh- und Politikrezeption" sollen 1990 Nachrichtensendungen, politische Fernsehmagazine und Berichterstattung über Kommunal-, Landtagswahlen im Fernsehen und ihre Wirkung auf die Fernsehzuschauer als Wähler untersucht werden.
Herr Kollege Austermann, zu Ihren Ausführungen zum 10. November, zu dem, was in Berlin passiert ist: Den Ärger darüber konnte man bereits einer Rede Ihres Fraktionsvorsitzenden vom 14. November entnehmen.
({2})
Herr Dregger hat dort ausgeführt, weil er in der Berichterstattung über die Reaktion des Bundestages auf die Öffnung der Mauer nicht auf dem Bildschirm gezeigt wurde, müsse verlangt werden, daß ein Beschluß der verantwortlichen Gremien gefaßt wird, daß die CDU/CSU-Fraktion angemessen berücksichtigt wird.
({3})
Verstehen Sie unter freier Presse,
({4})
daß Sie auf freie Presseorgane einwirken wollen, darauf, was sie berichten, wie sie berichten und in welchem Umfang sie berichten?
({5})
In den vergangenen Jahren ist von Ihnen viel Geld für Öffentlichkeitsarbeit sinnlos vergeudet worden.
({6})
Ich erinnere nur an die Diskussion über die Quellensteuer und die Prospekte zur Quellensteuer. Am Ende mußten Prospekte für über 10 Millionen DM eingestampft werden, weil Herr Stoltenberg mit seiner Steuerpolitik am Ende war und Herr Waigel als Finanzminister dem sinnlosen Treiben ein Ende gemacht hat.
Der Haushalt des Bundeskanzlers und hier insbesondere die Ausgaben für die Selbstdarstellung der Regierung sind ein Spiegelbild für den unsoliden und verschwenderischen Umgang mit Steuergeldern.
({7})
Das Parlament hat die Möglichkeit, dies zu korrigieren. Wenn Sie, Herr Kollege Dregger, die Aufgabe des Parlaments noch ernst nehmen, Treuhänder der uns anvertrauten Steuergelder zu sein, dann müßten Sie unserem Antrag auf Streichung von rund 51 Millionen DM bei der Öffentlichkeitsarbeit eigentlich zustimmen. Diese Mittel wären dann für besondere Aufgaben der Bundesregierung im Bereich der deutschdeutschen Zusammenarbeit frei.
({8})
Sie könnten in der ersten Runde vielleicht als ein kleines Trostpflaster für Berlin zur Überbrückung der ersten Schwierigkeiten bereitgestellt werden.
({9})
Die Abstimmung über den Einzelplan 04 ist traditionell eine Abstimmung über die Gesamtpolitik der Bundesregierung und des Bundeskanzlers. Deshalb werden wir als Oppositionsfraktion diesen Einzelplan in namentlicher Abstimmung ablehnen. Das bedeutet jedoch keine Korrektur unserer insgesamt positiven Einschätzung der heute in den zehn Punkten durch den Bundeskanzler vorgetragenen deutschlandpolitischen Konzeption, die in wichtigen Thesen mit den von uns vertretenen Positionen übereinstimmt. An der Konkretisierung und Umsetzung dieser Konzeption werden wir konstruktiv mitarbeiten.
Schönen Dank.
({10})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD unter I auf Drucksache 11/5882. Wer dem zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Einzelplan 04 - Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes - in der Ausschußfassung. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP sowie die Fraktion der SPD verlangen hierzu gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung. Das Verfahren ist Ihnen bekannt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung.
Meine Damen und Herren, sind alle Stimmkarten abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung. )
*) Ergebnis S. 13536 C
Vizepräsidentin Renger
Meine Damen und Herren, ich bitte, wieder Platz zu nehmen. Wir wollen in den Beratungen fortfahren.
Ich rufe auf: Einzelplan 27
Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen
- Drucksachen 11/5571, 11/5581 Berichterstatter:
Abgeordnete Nehm Dr. Neuling
Kleinert ({0})
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter XVI vor.
Nach einer Vereinbarung des Ältestenrats sind hierfür zwei Stunden Debatte vorgesehen. - Kein Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hiller.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch aus der Sicht der Politiker im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen erkläre ich hier, daß wir Sozialdemokraten uns darüber freuen, daß der Bundeskanzler eine Reihe seit längerem erhobener sozialdemokratischer Forderungen übernommen hat. Wir freuen uns wirklich darüber. Denn das ist in den vergangenen Wochen nicht der Fall gewesen. Da mußte man eher von einer gewissen Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung in diesem Bereich sprechen.
Noch mehr würden wir uns freuen, wenn diese positiven Ansätze Eingang auch in die Arbeit des Ministeriums fänden, dessen Haushalt jetzt zur Debatte steht. Denn von da sind derartige Ansätze leider noch nicht zu vermelden.
Vorweg möchte ich sagen, daß wir Sozialdemokraten die Ereignisse der letzten Wochen begrüßen und damit große Hoffnungen für die Entwicklung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten verbinden.
({0})
Viele Forderungen, die die SPD in den vergangenen zwei Jahrzehnten erhoben hat, sind nun schneller in Erfüllung gegangen, als wir jemals hoffen konnten. Dies liegt im Interesse aller Deutschen in Ost und West.
Dabei ist allerdings festzustellen, daß diese Ergebnisse nicht durch die großen Worte erreicht wurden, sondern durch die Bürger in der DDR, und zwar unter der selbstbewußten Losung „Wir sind das Volk". Das zeigt uns, daß die sozialdemokratische Politik „Wandel durch Annäherung" richtig war. Sie wird durch die letzten Wochen eindrucksvoll bestätigt.
({1})
Jahrelang wurden Veränderungen im Sinne von Demokratisierung und individuellen Menschenrechten gefordert, von vielen nur reklamiert, von uns aber durch zähes und beharrliches Bemühen in kleinen Schritten vorangetrieben. Immer haben wir erklärt, daß in einem gemeinsamen europäischen Haus, in einer europäischen Friedensordnung Grenzen ihren trennenden Charakter überwinden müssen und daß für die Mauer kein Platz ist. Wir freuen uns, daß wir jetzt durch das Engagement der Bürger in der DDR so weit gekommen sind.
Jeder, der die Freude an der Grenze miterleben durfte, ob in Berlin oder an der Grenze von Lübeck bis Hof, wird dieses Erlebnis nie vergessen können. Am meisten haben mich Bürger bewegt, die 28 Jahre lang die Türme Lübecks hatten sehen können und die plötzlich, von heute auf morgen, fassungslos davorstehen konnten.
({2})
Wir beraten heute den Haushalt des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen. Wir müssen fragen: Welchen Beitrag hat dieses Haus dazu geleistet?
({3})
Ich glaube, im Gegensatz zu den Ausführungen des Bundeskanzlers müssen wir hier feststellen, daß bis zu diesem Zeitpunkt von einer Konzeption in keiner Weise gesprochen werden kann.
({4})
Wir haben in den letzten Jahren nicht einen einzigen Ansatz zur Lösung der deutsch-deutschen Probleme aus diesem Ministerium hören können. Auf den Tätigkeitsbericht dieses Hauses braucht man wohl nicht besonders gespannt zu sein; denn die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Frau Dr. Wilms, stand in der ganzen Phase der Diskussion abseits.
({5})
Es tut mir leid, hier erklären zu müssen, daß sie den vorhandenen Sachverstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihres Hauses in den vergangenen Jahren leider nicht nutzen konnte.
({6})
Deshalb rege ich an, dieses Ministerium für innerdeutsche Beziehungen umzugestalten und in Ministerium für Fragen der deutsch-deutschen Zusammenarbeit umzubenennen.
({7})
Dieses Ministerium könnte koordinierend und gestaltend an der Deutschlandpolitik mitwirken. Es könnte Vorschläge erarbeiten und diese mit der DDR besprechen und verhandeln, so z. B. im deutsch-deutschen Umweltschutz, in der Wirtschaftskooperation, über Handelszonen und über ein deutsch-deutsches Institut für Wirtschaftsforschung.
({8})
Das sind praktische Dinge, die die Menschen bewegen. Nur, aus diesem Hause, für das wir den Etat
Hiller ({9})
beschließen, hören wir überhaupt nichts. Herr Kollege Roth hat schon auf die einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahmen hingewiesen. Auch diese Dinge könnten von diesem Haus in der Diskussion mehr begleitet und vorangetrieben werden.
Dazu ist allerdings - das gilt für den gesamten Bereich der innerdeutschen Grenze, aber noch mehr natürlich für Berlin - eine neue Raumordnungs- und Strukturpolitik im Grenzbereich erforderlich.
({10})
Wir erleben, wie plötzlich alte Verkehrsverbindungen endlich geöffnet werden, und wir erleben, wie durch den Andrang, durch den Reiseverkehr an verschiedenen Orten ein Chaos entsteht. Wir sind dankbar dafür, daß durch ihren Einfallsreichtum viele kommunale Stellen und auch die Eisenbahn in der Lage gewesen sind, zumindest in Ansätzen für einen reibungslosen Verkehr zu sorgen. Die Bundesregierung ist gefordert, dieser Aufgabe künftig mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Wir werden das ja morgen im Unterausschuß für Zonenrandförderung besprechen.
Ich möchte noch etwas anderes sagen: Im Hinblick auf diese dramatischen Veränderungsprozesse in der DDR ist es, so finde ich, ein absolutes Manko, daß es in zwei Dritteln der Bundesrepublik nicht möglich ist, die Veränderungen auch des DDR-Fernsehens zu verfolgen. Ich halte es wirklich für einen Skandal, daß wir jeden kommerziellen Sender ins Kabelnetz einspeisen und als Deutsche nicht einmal die beiden DDR-Programme in der Bundesrepublik authentisch verfolgen können.
({11})
Auch in diesem Punkt hätte die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen ihren Beitrag leisten können.
({12})
Das Problem ist seit sechs Jahren bekannt.
({13})
- Ich meine, der Postminister hat vor sechs Jahren eine Zusage gegeben, ohne sie einhalten zu können, und in den letzten sechs Jahren ist praktisch nichts geschehen. Das liegt eindeutig in Ihrer Verantwortung; Sie stellen hier die Konzeptionslosigkeit unter Beweis, die in den letzten Jahren für dieses Haus ständig gegolten hat.
({14})
Meine Damen und Herren, Sie haben im Prinzip doch nichts anderes gemacht als einseitige Öffentlichkeitsarbeit und Vertriebenenförderung, statt die anstehenden Probleme zu bewältigen.
({15})
Ich meine, daß dies angesichts der historischen Situation einfach nicht mehr angemessen ist. Es ist ein Armutszeugnis für diese Bundesregierung, daß das innerdeutsche Ministerium an der Lösung der konkreten Probleme nicht angemessen beteiligt wird. Diese Chance würde ich diesem Hause geben.
Ich möchte eines noch hinzufügen: Die Bürger in der DDR interessieren sich nach meinen Erfahrungen - ich habe sehr viele in Lübeck gesprochen - überhaupt nicht für die Arbeit dieses Ministeriums. Sie interessieren sich für die Frage: Wann wird es freie Wahlen in der DDR geben, und werden sie wirklich frei sein? Das interessiert sie, nicht diese Arbeit.
({16})
Es tut mir leid, daß sich dieses Ministerium nicht auf die entscheidenden Dinge hat einstellen können. Unter anderem ist auch von großem Interesse, ob diese freien Wahlen z. B. auch für die Sozialdemokraten oder alle anderen freien Gruppen in der DDR gelten werden.
Meine Damen und Herren, ich habe vorhin schon gesagt: Ich begrüße einige Punkte, die der Bundeskanzler hier angesprochen hat. Ich begrüße es auch sehr, daß er noch vor Weihnachten in die DDR fahren wird. Es wäre besser gewesen, wenn ihm der österreichische Bundeskanzler nicht zuvorgekommen wäre.
({17})
Um noch einmal etwas zum Haushalt zu sagen: Zu den Beratungen im innerdeutschen Ausschuß haben Sie nichts Konstruktives beigesteuert. Da haben wir Einzelanträge gestellt, um die Begegnungen zu unterstützen, die es im Rahmen von Städtepartnerschaften und im kulturellen Bereich gibt. Wir haben auch gefordert, daß von uns aus etwas im Rahmen der Denkmalpflege in der DDR getan wird. Jeder, der heute die Bilder von den Städten in der DDR sieht, weiß, wie berechtigt dies ist.
({18})
Ich freue mich darüber, daß inzwischen, nach dem 9. November, auch aus Ihren Reihen die Einsicht verbreitet wird, daß auch in diesen Bereichen Unterstützung und Hilfe notwendig sind.
({19})
Insofern bieten wir Ihnen an - das hängt auch mit den zehn Punkten zusammen -, daß wir jetzt in einen Sachdialog eintreten, die polemisch geführte Auseinandersetzung der Vergangenheit beiseite lassen und zu einem konstruktiven gemeinsamen Handeln bei den großen Aufgaben kommen.
Dazu möchte ich noch eines sagen. Es ist so viel über Bedingungen gesprochen worden. Ich möchte in Erinnerung rufen, daß Herr Strauß einmal einen Milliardenkredit gegeben hat, ohne eine einzige Bedingung zu stellen. Herr Lambsdorff hat das mit dem Prädikat „Kasse gegen Hoffnung" kommentiert.
({20})
Damit wirken doch alle heute formulierten Vorbedingungen absolut kleinkariert und der historischen Situation in keiner Weise angemessen. Ich muß jetzt feststellen - das kann man ja abschließen, wenn man künftig konstruktiver zusammenarbeitet -, daß diese Bundesregierung aus CDU/CSU und FDP die Pre13536
Hiller ({21})
miere eines ungebundenen Kredites an Honecker hatte; denn vorher hat es so etwas noch nicht gegeben. Das sollte der Vergangenheit angehören.
Meine Damen und Herren, ich möchte die Bundesregierung auffordern, einem neuen Ministerium für deutsch-deutsche Zusammenarbeit eine echte Aufgabe zuzuordnen, damit hier ein Beitrag zur Lösung der Probleme geleistet werden kann.
({22})
Was mich auch bedrückt hat, ist ein persönliches Erlebnis. Als die Grenze aufgemacht wurde und dieser unwahrscheinlich starke Reiseverkehr von Osten herbeiströmte, haben wir erlebt - das ist ein Symbol für die Politik hier in der Bundesrepublik - , wie dieser Reiseverkehr durch außerordentlich starke Mülltransporte zur Mülldeponie Schönberg behindert wurde.
({23})
Ich habe an dieser Stelle mehrfach dazu aufgefordert: Stellen Sie diese Transporte ein! Die Bürgerinnen und Bürger in der DDR haben diese Mülltransporte, diesen Wohlstandsmüll nicht verdient. Sie haben unsere Hilfe und unsere Unterstützung verdient. Ich weiß aus der Region in der DDR, in der wir inzwischen viele Kontakte zu oppositionellen Gruppen und dergleichen haben, daß die das Problem genauso sehen wie wir.
({24})
Es ist oft genug angesprochen worden, ohne daß hieraus auch seitens der Bundesregierung einmal Konsequenzen gezogen worden sind.
Meine Damen und Herren, es gibt noch einen letzten Punkt, den ich anregen möchte. Hier in Bonn kann man die einzelnen Probleme, die historischen Verknüpfungen über die Grenze, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, über Straßen und Wege, gar nicht so in dem Sinne begreifen, wie wenn man unmittelbar diesseits oder jenseits der Grenze lebt. Wie viele Leute unmittelbar an der Grenze freue ich mich z. B. darüber, einmal die Gebiete besuchen zu dürfen, die auch für uns versperrt gewesen sind, also das Sperrgebiet. Ich folgere aus dieser Erkenntnis, daß es sehr wichtig ist, daß eine Konferenz von Kommunalpolitikern im Zusammenwirken mit der Bundesregierung stattfindet, in der auch diese konkreten örtlichen Probleme einmal besprochen und emotionsfrei analysiert werden. Da ist viel zu tun, in der Infrastruktur, im Umweltschutz und auch in den historischen Bezügen, die diese Regionen in der Vergangenheit zusammengehalten haben.
Vielen Dank.
({25})
Meine Damen und Herren, ich gebe zwischendurch das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung über den Einzelplan 04 bekannt. Abgegebene Stimmen: 432; keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 249 Abgeordnete, mit Nein 183 Abgeordnete gestimmt.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 429; davon
ja: 248
nein: 181
Ja
CDU/CSU
Dr. Abelein Austermann
Bauer
Bayha
Dr. Becker ({0}) Dr. Biedenkopf
Biehle
Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm
Böhm ({1}) Börnsen ({2})
Bohl
Bohlsen Borchert Breuer
Bühler ({3}) Buschbom
Carstens ({4}) Carstensen ({5}) Clemens
Dr. Czaja
Dr. Daniels ({6}) Daweke
Deres
Dörflinger Doss
Dr. Dregger
Echternach
Eigen
Dr. Faltlhauser
Feilcke Dr. Fell Fellner Frau Fischer
Fischer ({7}) Francke ({8})
Dr. Friedmann
Dr. Friedrich
Fuchtel
Ganz ({9})
Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster ({10})
Glos
Dr. Göhner
Dr. Götz Gröbl
Dr. Grünewald
Günther Dr. Häfele Harries
Frau Hasselfeldt
Haungs
Hauser ({11}) Hauser ({12})
Hedrich
Frau Dr. Hellwig Helmrich Herkenrath
Hinrichs Hinsken Höpfinger Dr. Hoffacker
Dr. Hornhues
Frau Hürland-Büning
Graf Huyn Dr. Hüsch Jäger
Dr. Jahn ({13})
Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung ({14})
Jung ({15})
Kalb
Kalisch
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Kappes Frau Karwatzki
Kittelmann
Klein ({16})
Dr. Köhler ({17}) Dr. Kohl
Kolb
Kossendey Kraus
Krey
Kroll-Schlüter
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz ({18}) Lamers
Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach
Link ({19})
Link ({20})
Dr. Lippold ({21}) Louven
Lowack
Lummer
Maaß
Frau Männle Magin
Dr. Mahlo
Dr. Meyer zu Bentrup Michels
Dr. Möller Müller ({22})
Müller ({23})
Nelle
Dr. Neuling Neumann ({24})
Dr. Olderog Oswald
Pesch
Petersen
Pfeffermann Pfeifer
Dr. Pfennig Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen
Rawe
Reddemann Regenspurger Repnik
Dr. Riedl ({25})
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch ({26}) Frau Roitzsch ({27}) Dr. Rose
Rossmanith
Frau Rost ({28})
Roth ({29}) Rühe
Vizepräsidentin Renger
Dr. Rüttgers Ruf
Sauer ({30})
Sauer ({31}) Sauter ({32})
Frau Schätzle Dr. Schäuble Scharrenbroich Schemken
Scheu
Schmidbauer
Frau Schmidt ({33}) Schmitz ({34})
von Schmude
Dr. Schneider ({35}) Freiherr von Schorlemer Dr. Schroeder ({36}) Schulhoff
Dr. Schulte
({37}) Schulze ({38}) Schwarz
Dr. Schwörer Seehofer
Seesing
Seiters
Spilker
Dr. Sprung
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken Straßmeir
Strube
Frau Dr. Süssmuth
Susset
Tillmann
Dr. Uelhoff
Uldall
Dr. Unland
Frau Verhülsdonk
Vogel ({39})
Vogt ({40})
Dr. Voigt ({41})
Dr. Vondran Dr. Voss
Dr. Waffenschmidt
Dr. Waigel
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Weirich
Weiß ({42})
Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wilz
Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann Würzbach
Zeitlmann
Zierer
Zink
FDP
Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum
Beckmann
Cronenberg ({43}) Eimer ({44}) Engelhard
Dr. Feldmann
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gattermann Genscher
Gries
Grünbeck Grüner
Frau Dr. Hamm-Brücher Heinrich
Dr. Hirsch Dr. Hitschler
Dr. Hoyer Irmer
Kohn
Dr.-Ing. Laermann
Dr. Graf Lambsdorff Neuhausen
Nolting
Paintner Richter
Rind
Ronneburger
Schäfer ({45})
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms Dr. Thomae Frau Walz
Dr. Weng ({46}) Wolfgramm ({47}) Frau Würfel
Zywietz
Nein
SPD
Frau Adler
Andres
Antretter Dr. Apel Bahr
Bamberg
Becker ({48})
Frau Becker-Inglau Bernrath
Bindig
Frau Blunck
Dr. Böhme ({49})
Brück
Büchler ({50})
Büchner ({51})
Dr. von Bülow
Frau Bulmahn
Frau Conrad
Conradi Daubertshäuser
Dreßler
Duve
Egert
Dr. Ehmke ({52})
Dr. Emmerlich
Erler
Esters
Ewen
Frau Faße
Frau Fuchs ({53})
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier
Gerster ({54})
Großmann Haack ({55})
Frau Hämmerle
Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz
Dr. Hauchler
Heimann Heistermann
Heyenn
Hiller ({56})
Dr. Holtz Horn
Huonker
Ibrügger
Jahn ({57})
Jaunich
Dr. Jens
Jung ({58}) Jungmann ({59}) Frau Kastner
Kastning Kiehm
Kirschner Klose
Kolbow
Koltzsch Koschnick Kretkowski Dr. Kübler Kühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lohmann ({60})
Lutz
Frau Matthäus-Maier Meyer
Müller ({61}) Müntefering
Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Dr. Nöbel
Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo
Opel
Dr. Osswald
Paterna
Pauli
Dr. Penner Peter ({62})
Pfuhl
Dr. Pick
Porzner
Purps
Reimann Frau Renger
Reschke Reuschenbach
Reuter
Rixe
Schäfer ({63}) Schanz
Scherrer Schluckebier
Schmidt ({64})
Frau Schmidt ({65}) Dr. Schmude
Dr. Schöfberger
Schreiner Schütz
Frau Schulte ({66}) Seidenthal
Frau Seuster
Sielaff
Sieler ({67})
Singer
Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl ({68})
Frau Steinhauer
Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Vahlberg
Voigt ({69}) Waltemathe Wartenberg ({70})
Frau Dr. Wegner Weiermann
Frau Weiler Weisskirchen ({71}) Dr. Wernitz
Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wieczorek ({72}) Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz
von der Wiesche
Wimmer ({73}) Wischnewski
Dr. de With Wittich
Würtz
Zander
Zeitler
Zumkley
DIE GRÜNEN
Dr. Briefs
Dr. Daniels ({74}) Eich
Frau Flinner Frau Frieß
Frau Garbe Hoss
Hüser
Frau Kelly Kleinert ({75})
Dr. Knabe
Frau Kottwitz
Dr. Mechtersheimer
Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Saibold
Frau Schmidt ({76}) Stratmann
Such
Frau Vennegerts
Weiss ({77})
Wetzel
Frau Wollny
Fraktionslos Wüppesahl
Der Einzelplan 04 ist angenommen.
({78})
Wir fahren jetzt in den Beratungen zum Einzelplan 27 fort. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Neuling.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
({0})
Angesichts der dramatischen, überaus erfreulichen Ereignisse im anderen Teil Deutschlands steht die Beratung über diesen Etat heute im Vordergrund. Deshalb ist sie auch an dieser Stelle angesiedelt worden. Ich meine auch, daß der Bundeskanzler heute in einer historischen Phase eine historische, weil zukunftsweisende Rede gehalten hat. Sie war konkret und visionär zugleich.
({1})
Interessant war in diesem Zusammenhang die Reaktion der Opposition: erst mit Skepsis erwartet, dann Beifall, dann Entsetzen über den eigenen Beifall, danach Nachdenken, wie man das Entsetzen über den eigenen Beifall wieder korrigieren kann,
({2})
und flugs wurde dann die „Bewegung des Bundeskanzlers hin zur Opposition" entdeckt. Meine sehr verehrten Damen und Herren von der Opposition, wir werden Sie aus dieser Diskussion nicht entlassen. Ich habe keine Ambitionen, diese Diskussion heute vom Tisch zu nehmen, Herr Kollege Heimann.
({3})
- Herr Jungmann, beim Wadenbeißen machen wir uns beide nichts vor. Sie sind genauso gut, wie ich bin. Nur, der Tag des Wadenbeißers ist nicht angesagt, sondern angesagt ist die historische Glaubwürdigkeit. Da haben Sie abzuarbeiten, und daran wollen wir Sie auch messen.
({4})
Als Berliner möchte ich eingangs der Diskussion - vielleicht dient das zur Beruhigung der Opposition - einige persönliche Anmerkungen machen, die für mich schon wichtig sind, weil sie in die jetzige Phase gehören. Auf der einen Seite gehöre ich einer Generation an, die als Nachkriegsgeneration sehr stark von den Ereignissen um die Luftbrücke geprägt ist. Ich gehöre zu denen, die sich noch gut an die sogenannten Rosinenbomber erinnern können. Ich gehöre zu der Generation, die auch den 17. Juni 1953, unbewußt zwar, aber sicherlich prägend erlebt hat. Ich gehöre einer Generation an, die den 13. August 1961 in Berlin erlebt hat. Ich sehe uns noch, diese Generation, vor dem Brandenburger Tor stehend, konsterniert, wütend und hilflos zugleich. Ich sehe uns zum Checkpoint Charlie gehen, dort, wo die amerikanischen Panzer standen, und ich höre noch, wie wir dort den Amerikanern zuriefen: Warum fahrt ihr denn nicht mit euren Panzern über diese Stacheldrahtzäune, warum walzt ihr denn nicht diese neue innerstädtische Grenze nieder? Diese Bilder gingen um die Welt, und sie werden uns alle daran erinnern.
Heute weiß man, was wir damals noch nicht wußten, daß die Teilung vorher politisch entschieden war und daß wir keinen Einfluß nehmen konnten. Wir konnten damals nicht begreifen, warum die Teilung nicht verhindert worden ist. Wenn man dies erlebt hat, nur dann wird klar, welch unbeschreibliches Gefühl für uns Berliner es war, auf dieser Mauer zu stehen, nicht davor, sondern auf dieser Mauer. Ich habe nie gewußt, daß die Mauer an dieser Stelle vier Meter breit war. Ich habe es im nachhinein eigentlich als Glücksumstand empfunden, denn wir konnten, auf dieser Mauer stehend, in den anderen Teil unserer Heimatstadt sehen. Diese Erlebnisse muß man auch in einer solchen Stunde schildern, um zu begreifen, was für den einzelnen und für viele Menschen in der Stadt geschehen ist.
Auf der anderen Seite - auch das muß an dieser Stelle gesagt sein - haben wir natürlich in diesem Moment der Freude auch an die entsetzlichen Tragödien an der Mauer denken müssen. Wir müssen heute, gerade in dieser Phase, der Opfer gedenken, die an der Mauer zu beklagen waren. Ich erinnere an einen neuen Übergang in Wedding an der Eberswalder Straße. Nicht weit davon steht ein Gedenkstein für neun Opfer dieser Mauer. Der letzte Unbekannte starb am 1. Dezember 1984, vor knapp fünf Jahren. Wer konnte jemals ahnen, daß das alles so schnell geht? Trotzdem waren diese Opfer nicht umsonst. Sie haben vielleicht mit dazu beigetragen, Bewußtsein zu schärfen und zu entwickeln. Aber auch das Gedenken an die Opfer gehört zu diesem Tag, an dem wir alle in die Zukunft schauen.
Ich denke in dieser Phase auch an die spontanen Gesten der Zusammengehörigkeit, die sich in den letzten Wochen an den Grenzübergängen, insbesondere in Berlin, ergeben haben. Für diese spontanen Gesten der Zusammengehörigkeit sollten wir heute allen Deutschen in Ost und West danken.
({5})
Ich bin davon überzeugt, daß das Zusammengehörigkeitsgefühl, das in diesen Tagen und Wochen aufgebrochen ist, sicherlich einmal in einer historischen Betrachtung im Nachhinein so gesehen wird, daß damit eine entscheidende Weichenstellung für ein Zusammenwachsen der geteilten Nation geleistet worden ist. Und ich rufe uns heute zu - bei aller politischen Diskussion, die wir auch in den kommenden Wochen haben werden - : Bewahren, pflegen und vertiefen wir deshalb auch in Zukunft dieses Zusammengehörigkeitsgefühl! Es wird für die Zukunft unserer Nation, dieser geteilten Nation, die zusammenwachsen soll, ganz wichtig werden.
Einen letzten Dank möchte ich all denjenigen abstatten, die in Ungarn und Polen mit dazu beigetragen haben, daß diese Entwicklung überhaupt möglich wurde. Sie haben den sogenannten Eisernen Vorhang von innen, d. h. von Osten aus, aufgebrochen und geöffnet. Heute schulden wir ihnen Dank für ihren politischen Mut und ihre Hilfsbereitschaft in diesen Tagen.
({6})
Ich möchte auch auf die Diskussion des heutigen Tages, auf das Zugehen, wie die SPD es sagte, des Bundeskanzlers auf ihre Position eingehen und Ihnen von der Opposition ganz nüchtern sagen - bei allen persönlichen Erinnerungen, die an diesem Tage auch aufbrechen mögen - : Wir hatten einen überflüssigen innenpolitischen Streit; das ist richtig. Der innenpolitische Streit wurde aber letztendlich durch einen permanenten Schlingerkurs der SPD in der Deutschlandpolitik ausgelöst.
({7})
Dies müssen Sie an diesem Tage auch zur Kenntnis nehmen. Es reicht nicht aus, zu sagen: Einigkeit, Gemeinsamkeit. Es muß eben zu der oberflächlichen Bejahung dieser Gemeinsamkeit auch das Inhaltliche dazukommen,
({8})
das inhaltliche Bejahen des Kurses, den wir verfolgen.
({9})
Und da gibt es doch keinen Zweifel, wenn man sich einmal die Entwicklung in diesen Tagen und Wochen ansieht, die Äußerungen, die aus der SPD kamen. Da wird Ihnen nicht erspart bleiben können, daß es natürlich die Diskussion um die Geraer Forderungen, um die Tatsache gibt, daß Sie gefordert haben - oder uns zumindest einmal nahelegen wollten - , die Staatsbürgerschaft der DDR als solche anzuerkennen. Wie ständen wir denn heute angesichts der Übersiedler, angesichts der Landsleute aus der DDR eigentlich da? Wie hätten wir sie denn empfangen sollen? Als Asylanten, als Ausländer? Das wäre eine zutiefst unmenschliche, inhumane Situation gewesen.
({10})
Und das wäre so gekommen, wenn wir Ihren Forderungen gefolgt wären.
Herr Abgeordneter Neuling, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Schmude?
Nein, im Moment nicht. Ich möchte das im Zusammenhang vortragen. Tut mir leid, Herr Kollege Schmude.
Eine weitere historische Fehlleistung - auch damit werden Sie sich in der Diskussion abfinden müssen - ist das SED/SPD-Papier, von der SPD damals als die deutschlandpolitische Initiative gefeiert.
({0})
In diesem SED/SPD-Papier heißt es u. a.: „Beide nehmen für sich in Anspruch, ... Demokratie und Menschenrechte zu verwirklichen. "
({1})
Welch ein Hohn für die Angehörigen der Opfer der Mauer, welch ein Hohn für die Häftlinge in Bautzen, welch ein Hohn für die Ausreisewilligen, die erhebliche Nachteile in ihrem persönlichen Umfeld erleiden mußten! Und in dem vergeblichen Versuch, die erfolgreiche Deutschlandpolitik von Bundeskanzler Helmut Kohl zu unterlaufen - sich jetzt zu ihr zu
bekennen, dazu gehört mehr als nur das blanke Bejahen durch den Kollegen Voigt heute -, haben Sie sich damals nicht gescheut, einen Pakt mit dieser - ich nenne es bewußt so - Mauer-Partei zu schließen. Und wenn Sie mit Ihrer Zustimmung zu den zehn Punkten des Bundeskanzlers heute wirklich hätten glaubwürdig handeln wollen, dann hätten Sie sich heute in aller Öffentlichkeit von diesem Papier distanziert. Sie haben es nicht getan.
({2})
- Ich ärgere mich nicht über die Zustimmung, Frau Kollegin Matthäus-Maier,
({3})
sondern Sie werden gesehen haben, daß es mir um mehr geht als um blanke Zustimmung. Es geht um inhaltliches Tragen einer Politik.
({4})
Das, was Sie gemacht haben - und daran messen wir Ihre Glaubwürdigkeit - , ist nichts anderes, als zu erklären: Die zehn Punkte entsprachen schon immer unserer Vorstellung. Und wenn man diese Ihre Äußerung mit dem vergleicht, was Sie in den letzten Wochen produziert haben, dann sind Sie unglaubwürdig und nicht wir!
({5})
Die nächste Kursänderung kam dann, von Willy Brandt vorsichtig eingeläutet, in seiner - das muß man durchaus zugestehen - guten Rede am 16. November, in der er formulierte - ich sage einmal: fast schon CDU/CSU-Positionen - : „Die Einheit wächst von den Menschen her, auf eine Weise, die so kaum jemand vorausgesehen hat." Ich sage: Richtig, Herr Kollege Brandt. Dieses Zusammenwachsen zwischen den Menschen nicht nur von außen besorgt zu betrachten - das ist Ihre Position -, sondern zu fördern, ist ein gemeinsamer Auftrag für uns alle, auch gerade für Sie. Wir werden Sie daran messen, inwieweit Sie mit diesem Auftrag, eine Einheit der Nation aktiv mitzugestalten, wirklich zurechtkommen werden. Es geht, wie gesagt, nicht um die blanke Bekundung zu zehn Punkten, sondern es geht darum, ob sie inhaltlich mitgetragen werden. Das wird die zukünftige Auseinandersetzung zeigen. Ich sage Ihnen noch einmal: Nur wer Anspruch erhebt, glaubwürdig in die Zukunft weisen zu können, muß sich auch heute seiner eigenen Vergangenheit stellen. In Kürze zeige ich Ihnen das noch einmal.
Ich erinnere an einen Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und DP betreffend gesamtdeutsche Wahlen. Er trägt das Datum vom 6. Februar 1952. Er ist von 011enhauer und Fraktion unterzeichnet worden; er wurde damals von allen Fraktionen getragen. Dann kam der erste Schwenk der SPD. Ich habe es aufgeführt: die Geraer Forderungen, die angebliche Lebenslüge der Wiedervereinigung, so Willy Brandt, und das peinliche SPD/SED-Papier. Heute kommt der zweite Schwenk. Nun heißt es plötzlich wieder: Auch wir stehen zu den zehn Punkten des Bundeskanzlers.
Die Diskussion über Voraussetzungen und Vorbedingungen ist doch höchst vordergründig, Herr Kollege Stobbe. Der Bundeskanzler und die Fraktion haben immer klar gesagt: Hilfe für die Menschen muß sofort erfolgen. Weitergehende Hilfen können im Grunde genommen nur dann gewährt werden, wenn bestimmte Voraussetzungen, was die Reformbemühungen in der DDR angeht, erfüllt werden. Zu den Voraussetzungen gehören damals wie heute unumkehrbare Prozesse in der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Das hat überhaupt nichts mit Vorbedingungen zu tun. Diese Bundesregierung hat nie Vorbedingungen gestellt, wenn es darum ging, den Menschen zu helfen. Im Gegenteil, wir haben den Menschen schon geholfen, bevor Sie überhaupt mit einer solchen Diskussion begonnen haben.
Ich sage Ihnen noch eines: Wir hatten eine Diskussion über Wendehälse in der Politik; das ist ja ein interessanter Begriff. Gemeint sind damit eigentlich die eifrigen Wender von der SED. Ich sage Ihnen auch: Wendehälse mögen die SPD-Kollegen in den vergangenen Jahren vielleicht nicht gewesen sein, aber unberechenbare Wackelhälse in der Deutschlandpolitik waren und sind sie immer noch.
({6})
Der Bundeskanzler hat heute als erster ein ausführliches Konzept für ein mögliches Zusammenwachsen der beiden Staaten in Deutschland vorgelegt, eingebettet in einen Prozeß für eine neue europäische Friedensordnung. Damit hat sich gezeigt, daß sorgfältiges Sondieren vor Entscheidungen verantwortungsbewußter ist als manch gutgemeinter Ratschlag, der oftmals eher einem blinden Aktionismus in Einzelfragen gleichkommt. Falsch in diesem Zusammenhang ist der ständige Vorwurf der SPD über angebliche Vorbedingungen, die von der Bundesregierung der DDRFührung gegenüber nie gestellt worden sind.
({7})
- Sie werden mit der Diskussion nicht durchkommen.
Wir haben folgendes hierzu grundsätzlich festzuhalten:
Erstens. Der Sozialismus hat abgewirtschaftet ohne Wenn und Aber.
Zweitens. Im Interesse unserer Landsleute in der DDR müssen wir unseren Beitrag leisten, damit der Reformdruck nicht von der SED genommen wird. Eine künstliche Stabilisierung im jetzigen Übergangsstadium könnte sich verheerend auf die weiteren Reformschritte auswirken und würde auch von den Menschen in der DDR nicht verstanden werden.
Drittens. Es wäre unverantwortlich, bereits heute für Wirtschaftshilfen feste Zusagen in Milliardenhöhe zu geben, da noch keine einzige konkrete Maßnahme beschlossen, geschweige denn umgesetzt worden ist, um das bankrotte sozialistische Wirtschaftssystem von Grund auf zu ändern.
({8})
- Das sind eben keine Vorbedingungen. Wir hatten
vielmehr das Glück, keine SPD-Planwirtschaft, sondern die von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard beschlossene Soziale Marktwirtschaft zu bekommen. Wir wollen, daß die Erfahrungen mit der Sozialen Marktwirtschaft Eingang in die Wirtschaftsreformen finden. Wenn Sie einmal mit den Menschen reden, dann werden sie Ihnen folgendes sagen: Wie konntet ihr mit euren Zahlungen in den vergangenen Jahren letztendlich die Privilegien der SED-Bonzen finanzieren? Anders ausgedrückt, wie die Berliner es sagen: Transitpauschale und Zwangsumtausch finanzierten das Luxusleben in dem Ost-Berliner Prominenten-Getto Wandlitz. Das denkt der normale DDR-Bürger.
({9})
Er hat auch Verständnis dafür, daß diesem System im Kern nur dann geholfen werden kann, wenn es den Menschen nutzt. Den Menschen wird es nur dann nutzen, wenn Reformen grundlegender Art eingeleitet werden. Das ist die Reihenfolge.
({10})
Nun konkret zum Haushalt des Ministeriums für innerdeutsche Beziehungen. Die SPD war sicherlich so weise, daß sie selbstverständlich schon bei der Beratung über den Etat im Mai, Juni die Entwicklung in Deutschland vorausgesehen hat. Deswegen haben Sie heute darüber gemäkelt, daß die neuen Aufgaben nicht erfüllt würden. Das ist die Weisheit der SPD. Diese Weisheit haben Sie gepachtet. Sie ist zwar irreal, aber Sie träumen noch immer davon.
Wir meinen, ausgehend von unserem Ziel der politischen Einheit - wir erwarten, daß Sie unsere Politik aktiv unterstützen; einzig und allein daran werden Sie gemessen - , daß im Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen drei neue Schwerpunkte zu erwägen sind. Erstens. Die Zonenrandförderung müßte zu einer innerdeutschen Regionalförderung auf beiden Seiten der noch bestehenden innerdeutschen Grenze erweitert werden. Die jetzt noch auf beiden Seiten benachteiligten Grenzregionen, die in der Vergangenheit oft eine Einheit gebildet haben, können so wieder zu Wirtschafts- und Kulturregionen zusammenwachsen.
Zweitens. Die Förderung von Reisen nach Berlin und in das Zonenrandgebiet sollte zu einem Förderungskonzept für innerdeutsche Reisen mit dem Schwerpunkt z. B. bei Schulklassen und Jugendlichen aus beiden Teilen Deutschlands fortentwickelt werden.
({11})
Zu diesem Konzept könnte auch eine Aktivierung der Städtepartnerschaften gehören.
({12})
Neben den eigentlichen Reisen sollten Investitionen für Jugendherbergen, preiswerte Hotels und Campingplätze in der DDR gefördert werden. Schwerpunkte könnten Mecklenburg, Thüringen und die Mark Brandenburg - ich benutze bewußt die drei alten Namen - mit den Einzugsgebieten Hamburg,
Frankfurt/Main und Berlin sein. Bei einer schnellen Umsetzung eines derartigen Tourismuskonzepts könnten einmal westliche Devisen erwirtschaftet werden, die von der DDR so dringend benötigt werden. Zum anderen würde durch eine Vielzahl von Begegnungen das Zusammengehörigkeitsgefühl gestärkt werden.
Drittens. Die Mittel für den innerdeutschen Umweltschutz im Grenzbereich sollten aufgestockt werden. Durch derartige Umweltschutzprojekte profitieren die Menschen sofort in diesen neu entstehenden innerdeutschen Regionen.
Zusammengefaßt heißt das für mich: Das Ministerium für innerdeutsche Beziehungen bedarf keiner Umbenennung, sondern sollte zum Zentrum für eine innerdeutsche Offensive werden:
({13})
für ein Zusammenwachsen der grenznahen Wirtschafts- und Kulturregionen, für menschliche Begegnungen mit einem besonderen Schwerpunkt beim Jugendaustausch und für einen verstärkten grenzübergreifenden Umweltschutz.
({14})
Sie sagen: sollte werden. Ich sage noch einmal, Herr Kollege Büchler: Sie haben natürlich schon vor Monaten vorausahnen können, daß wir heute diese Debatte führen.
({15})
Wenn wir heute etwas vorschlagen, bedeutet das vor allem, daß wir uns nicht anmaßen, alles bis ins letzte Detail bereits durchdacht zu haben. Vielmehr stehen das innerdeutsche Ministerium wie überhaupt die gesamte Deutschlandpolitik vor entscheidenden Veränderungen. Diesen Veränderungen muß natürlich auch die Politik angepaßt werden. Ich bin gespannt, wie Sie sich in diesen Prozeß entsprechend einschalten werden.
({16})
Noch ein abschließendes Wort. Der Kollege Meisner hat ja das Vergnügen gehabt, hier aufzutreten.
({17})
- Ich nehme an, er ist inzwischen wieder nach Berlin gefahren. - Als Berliner kann man zunächst einmal folgendes nüchtern festhalten - auch daran wird die Glaubwürdigkeit der SPD gemessen, insbesondere der Berliner Bundestagsabgeordneten - : Die AL will die Zweistaatlichkeit Deutschlands und die Anerkennung von Ost-Berlin als Hauptstadt der DDR zur Grundlage ihrer Politik machen und den Status von Berlin ({18}) europäisieren,
({19})
was immer das in der Praxis auch heißen mag. Das wissen die Autoren des Papiers wahrscheinlich selber nicht.
Die Forderungen der GRÜNEN - damit sind Sie ja gemeint - und der AL decken sich in der Sache mit den Positionen der SED. Hoffentlich haben Sie das bedacht. Schlimmer wäre nur noch die Forderung, den freien Teil Berlins gleich der DDR einzugliedern. Tatsache bleibt: Wer die Zweitstaatlichkeit fordert, will die Zweiteilung Berlins auf Dauer zementieren und untergräbt damit die Lebensfähigkeit Berlins.
({20})
Die AL verletzt mit dieser Position nicht nur die sogenannten Essentials der Koalitionsvereinbarung, sondern verstößt damit auch gegen die elementaren Lebensinteressen Berlins. Ich fordere den Regierenden Bürgermeister auf, die Koalition zu beenden, falls die AL nicht dazu bereit ist, ihre Position zurückzunehmen. Wenn sich die Berliner SPD noch einen Rest von politischer Glaubwürdigkeit erhalten will, ist das die einzige Konsequenz; sonst bleibt der berechtigte Vorwurf des nackten rot-roten Machterhaltungskartells in Berlin.
({21})
Das sind die Punkte, Herr Vorredner. Blankes Unterstützen der zehn Punkte wird nicht reichen. Aktiv an der Einheit mitzuarbeiten, heißt auch, aktiv an der Einheit Berlins mitzuarbeiten. Erst wenn Sie auch in Berlin die Konsequenzen ziehen, sind Sie glaubwürdig. Solange Sie diesen Schritt nicht tun, bleiben Sie unglaubwürdig.
({22})
Abschließend sage ich - neben dem Petitum, dem Einzelplan 27 zuzustimmen - : Im Gegensatz zum Schlingerkurs der SPD - das müssen Sie sich in der Diskussion vorhalten lassen - war für uns der Kurs immer klar: ein Berlin, ein Deutschland und ein Europa.
Schönen Dank.
({23})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Frieß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Jedes Jahr aufs neue steht der Einzelplan 27 an, der Haushalt des innerdeutschen Ministeriums, eines Ministeriums, das unserer Meinung nach schon lange weg sein müßte,
({0})
daß es nie hätte geben dürfen. Und wie in den Jahren vorher haben wir auch heute einen Antrag auf Auflösung gestellt, einen Antrag, der an Aktualität nichts verloren hat.
({1})
Denn wann sind in diesem innerdeutschen Ministerium - ich denke, der Name allein ist schon Programm - wirklich relevante politische und finanzielle Entscheidungen getroffen worden, Entscheidungen, die die Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten verbessert hätten? Nie! Die Werra-WeserEntsalzung scheiterte an der Konkurrenz des bundesdeutschen Kapitals und an der Unterstützung der Bundesregierung. Atomenergie wurde, anstatt ihre
Nutzung zu beenden, durch die Stromtrasse in die DDR hineingetragen.
({2})
- Ja, so sieht Ihre Politik aus. - Der bundesdeutsche Müll hat seinen Platz im Osten gefunden.
Andere Ansätze sind unserer Meinung nach dagegen viel besser in anderen Ministerien aufgehoben. Warum Zonenrandförderung? Warum nicht grundsätzlich regionale Strukturpläne und damit Behandlung im Einzelplan 09? Genauso sollten die Begrüßungsgelder direkt über das Finanzministerium in einen Devisenfonds umgewandelt werden.
({3})
Das innerdeutsche Ministerium ist und bleibt also das, wofür es konzipiert wurde: ein aufgeblähter Apparat, die bürokratische Installierung eines bundesdeutschen Anspruchs; es ist ein Kalter-Krieg-Ministerium,
({4})
ein Ministerium allein für die ideologische Aufrüstung, für Gebiets- und Alleinvertretungsansprüche, für die Obhutspflicht eines deutschen Staates, nämlich des bundesdeutschen, über den anderen deutschen Staat.
({5})
Es ist die Installierung einer bewußten Fehlinterpretation des Grundgesetzes; denn nähme man die Buchstaben der Verfassung ernst, was Sie ja immer vorgeben zu tun, dann wäre dieses Ministerium in keiner Weise legitimiert, egal, ob die Fortbestands- oder Untergangstheorie präferiert würde.
Die Gelder für diese Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Kalte Krieger
({6})
könnten unserer Meinung nach viel sinnvoller ausgegeben werden. Ich denke z. B. nur an die Diäten von Frau Wilms und ihres Staatssekretärs von fast 500 000 DM im Jahr. Die würden bestimmt zur Renovierung mehrerer Häuser in Leipzig beitragen.
({7}) Dieses Ministerium muß also weg.
({8})
Wenn Sie die Legitimation immer noch aus dem Grundgesetz ziehen, dann muß auch das Grundgesetz verändert werden. Es muß endlich konkretisiert werden, um sogenannte Mißverständnisse endgültig auszuräumen. Und wenn wir Sie von allen Fraktionen hier beim Wort nähmen, wäre die Zweidrittelmehrheit im Parlament für eine Grundgesetzänderung gesichert. Denn Sie vertreten doch heute alle lautstark die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung der Menschen in der DDR. Oder höre ich da nicht richtig? - Natürlich.
({9})
Sie meinen mit Selbstbestimmung die Kanalisierung der legitimen Forderungen der Menschen in der DDR auf BRD-Verhältnisse. Sie meinen mit Selbstbestimmung dort, was Sie auch hier darunter verstehen. Sie meinen damit die Einschränkung des Streikrechts. Sie vertreten das Verbot der Abtreibung. Sie meinen über 4 Millionen Erwerbslose. Sie treten ein für Flexibilisierung im Unternehmerinteresse. Sie verstehen unter Selbstbestimmung die Kopie des bundesrepublikanischen Systems, die Ablösung einer Unfreiheit durch die andere.
({10})
Und wenn Sie jetzt hier für freie Wahlen eintreten, dann meinen Sie doch Wahlen, die Ihrer Strategie und Ihrem politischen Konzept genehm sind, und nicht freie Wahlen im Interesse der Menschen dort; denn Sie wollen die Ablösung einer stalinistischen durch eine kapitalistische Herrschaft. Mit Selbstbestimmung hat das sehr wenig zu tun.
({11})
Ihr Ziel ist die politische und wirtschaftliche Übernahme der DDR. Zur Zeit streiten Sie sich noch ein bißchen über die Wege, wobei sich das, seit es das Zehn-Punkte-Programm gibt, etwas geändert hat. Wo die CDU derzeit noch am offensten auf Bedingungen setzt, bevor überhaupt das Kapital fließt, und dabei gleichzeitig auf dumpfe Wiedervereinigungsansprüche und „Deutsch sein ist anders" baut, hoffen Sie von der FDP, daß das Kapital auch die politischen Fragen löst. Sie von der SPD setzen, wie Herr Vogel ständig propagiert, auf die Sozialdemokratie weltweit.
({12}) - Die Frage ist nur, was das heißt.
Am offensten, vielleicht am dümmsten, aber auch am gefährlichsten formuliert es also die CDU/CSU. Sie will wirtschaftliche Hilfe erst nach dem Zusammenbruch der DDR anbieten. Denn je schlechter es den Menschen dort geht, um so eher sind sie für Wiedervereinigung zu haben. Bundeskanzler Kohl erweist sich also derzeit als das größte Investitionshemmnis für das bundesdeutsche Kapital.
({13})
Ich frage mich, ob Sie von der FDP nicht mittlerweile Druck aus dem Unternehmertum bekommen haben ob der Ungeschicklichkeit Ihres Koalitionspartners. Denn da, wo das bundesdeutsche Kapital zur Zeit noch auf den Startschuß wartet, setzt sich die Konkurrenz - Beispiel: Japan oder Österreich - schon ins warme Nest.
Einig sind Sie sich also alle in dem Ziel, die DDR einzuverleiben. Die kapitalistische Marktwirtschaft soll ihr Comeback in der DDR finden. Der Schlußpunkt ist dann die Wiedervereinigung.
({14})
Das Zehn-Punkte-Programm, das heute vorgestellt wurde, ist eine Variante davon. Das alles soll nach dem Motto geschehen: Am bundesdeutschen Wesen soll das Volk genesen.
({15})
Egal, ob Ihre Strategie klüger oder wenig klug ist: Breite Unterstützung finden Sie im bundesdeutschen Unternehmertum. Herr Herrhausen, Chef der Deutschen Bank, denkt zur Zeit schon über Transferaktionen zwischen BRD und DDR nach wie zwischen Bayern und Niedersachsen.
({16})
Daimler-Benz träumt vom Mercedesstern auf dem Palast der Republik. Und Siemens bietet Arbeitsplätze in der DDR mit D-Mark-Löhnen an, natürlich unter unserem Tarifniveau, um in einem zukünftigen Großdeutschland das Lohnniveau für alle drücken zu können.
({17})
Erreichen wollen sie alle dasselbe: die Vormachtstellung eines Großdeutschland in der EG und der NATO. Mittlerweile bekommen sie sogar Flankenschutz von EG und NATO. Denn das gemeinsame Ziel aller ist der Kapitalismus vom Atlantik bis zum Ural. Wenn dabei für jedes Land ein Stück Ostkuchen herausspringt, dann nehmen die anderen Länder sogar die herausragende Stellung der BRD hin. Adenauers Traum steht also vor der Tür:
Wir wollen, daß die Ostzone zu den Zuständen gelangt, in denen wir leben, damit wir dann die Einheit Deutschlands als gesichert ansehen können.
({18})
Die Deutschen sind also wieder wer. Souverän tönen sie zum drittenmal in der Geschichte spontan „Einigkeit und Recht und Freiheit" im Parlament, und das am Jahrestag der Reichskristallnacht.
({19})
Zum drittenmal kennt das Parlament keine Parteien mehr.
Deutsche Geschichte wird auch vergessen gemacht und verdrängt, wenn Herr Augstein, „Spiegel"-Herausgeber, formuliert:
Laßt uns doch aufhören, die preußisch-deutsche Geschichte als Schreckgespenst ins Feld zu führen. Mit ihr ist es zu Ende. Der neue Staat würde wie andere auch nur noch wirtschaftlich expandieren wollen.
„Nur noch" meint er, als ob das deutsche Kapital 1933 etwas anderes gewollt hätte.
Frau Abgeordnete Frieß, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kittelmann?
Nein.
({0})
Dem Traum von einem Großdeutschland sind also keine Grenzen gesetzt. Für uns gilt dabei immer noch, was Max Horkheimer gesagt hat:
Wer vom Faschismus redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.
Gegen diese Strategien werden wir uns mit allen Mitteln und auf allen Wegen zur Wehr setzen. Wir verstehen deshalb unter Selbstbestimmung auch Selbstbeschränkung. Für uns macht die Teilung in zwei deutschen Staaten aus folgenden Gründen immer noch einen Sinn.
Erstens. Selbstbestimmung heißt für uns, Freiraum für die Vorstellungen der Menschen in der DDR zu garantieren. Wesentliche Oppositionsbewegungen in der DDR haben dies auch so formuliert. Sie wollen ihren eigenen, unabhängigen Weg gehen, auch einen sozialistischen Weg, und sich keine Form von System überstülpen lassen. Sie wollen nicht das Armenhaus in einem Großdeutschland werden. Die Anerkennung dessen, was faktisch schon lange gegeben ist - die Anerkennung ihres Staates -, ist die Grundvoraussetzung für ihren eigenen Weg.
Zweitens. Gerade aus geschichtlicher Verantwortung haben wir keinerlei Interesse an einer Wiedervereinigung. 75 Jahre Deutsches Reich, aus Kriegen hervorgegangen, hat zwei Weltkriege ausgelöst. Wir wollen keine Bedrohung mehr für andere Länder sein, heute nicht und nicht in Zukunft.
({1})
Und wenn die Teilung in zwei deutsche Staaten die Folge aus dem begonnenen und verlorenen Zweiten Weltkrieg ist, dann wäre, wir Hermann Gremliza von „Konkret" zugespitzt formuliert, die Einverleibung der DDR der spätere Kriegsgewinn.
({2})
Selbstbeschränkung, nicht Größenwahn, ist angesagt, Selbstbeschränkung für das friedliche Miteinander-Leben der Staaten.
({3})
- Gilt bei dir genauso. Ich bin gleich fertig.
Drittens. Kapitalistische Marktwirtschaft hier heißt nicht Freiheit, sonder auch Unterdrückung, eine besonders perfide Form der Unterdrückung. Es heißt, 10 % der Menschen leben unterhalb des Existenzminimums. Über vier Millionen erwerbslose Menschen, Hamburger Kessel, § 129 a, § 218, Umweltzerstörung und Hochrüstung sind die Kennzeichen dafür.
({4})
- Ich danke für das Kompliment!
Nicht die Ausbreitung eines solchen menschenverachtenden und umweltzerstörenden Systems ist in unserem Interesse, sondern die Überwindung desses als Voraussetzung für verbesserte Lebens- und Arbeitsbedingungen für die Menschen. Fazit kann für uns folglich nur sein: erstens Anerkennung der Zweistaatlichkeit als erster Schritt, zweitens finanzielle Solidarität gegenüber der DDR ohne Bedingungen und als
wichtigster Schritt Veränderung der Verhältnisse hier in der Bundesrepublik im Interesse von mehr Mitbestimmung, im Interesse von besseren Lebensbedingungen und Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen, auch im Interesse der Menschen in der DDR.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Hoppe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie kann man nur so an der Zeit, an den Ereignissen in Deutschland, an dem Fühlen und Denken der Menschen in beiden Teilen Deutschlands vorbeireden!
({0})
Wenn Frau Frieß hier vom Kalter-Krieg-Ministerium redet, dann kann ich doch nur sagen, das ist kalter Haß, der sich hier artikuliert. Auf eine so demagogische Polemik verbietet es sich einfach zu antworten.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist heute eine politisch hoffnungsvolle konstruktive Vorgabe vom Bundeskanzler für unseren deutschlandpolitischen Handlungsbedarf gegeben worden, den es zu konkretisieren gilt. Daß die Opposition darauf positiv antwortet, kann ich in diesem Augenblick, der ich mich in Fragen der Außen- und Deutschlandpolitik vor allen Dingen immer um Gemeinsamkeit bemüht habe und weiter bemühen werde, nur dankbar registrieren. Ich will es deshalb auch nicht zurückweisen oder auf Distanz schicken.
Ich sage allerdings, Herr Kollege Hiller: Wenn Sie das, was sich im Augenblick abspielt, nutzen, um zu sagen, die Politik der SPD sei dadurch bestätigt, dann würde ich sagen, uns allen täte etwas weniger Hochmut gut.
({2})
Denn die Peinlichkeiten, die wir auch zu registrieren und zu bilanzieren haben, werden dabei doch nur verdrängt. Die Bürger der DDR haben die Phase der Anbiederei, Herr Hiller noch gut im Gedächtnis.
({3})
Wenn Sie jetzt hier in einer verkrampften Kritik am innerdeutschen Ministerium Zuflucht suchen, dann, würde ich sagen, hilft uns das doch allen nicht weiter. Jedenfalls sollten wir das Haus und seine Mitarbeiter heute nicht zur Müllhalde der Haushaltsdebatte machen.
({4})
Meine Kollegen, der 9. November ist mit der Öffnung der schändlichen Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands erneut zu einem geschichtsträchtigen Datum geworden. 1961 wurde mit dem Bau der Mauer die Abstimmung mit den Füßen gestoppt, und so wurde sie zu einem Symbol für den Freiheitswillen der Menschen in der DDR und für die Unterdrückung des Zusammengehörigkeitsgefühls. Der Januskopf der jetzt eingerissenen Mauer wird in der geschichtlichen Erinnerung wohl die Züge Erich Honeckers tragen, der Anfang dieses Jahres noch die törichte Formulierung wählte: Sie wird noch hundert Jahre stehen.
Dieser Satz hat die Menschen in der DDR aufgerüttelt, er hat sie auf die Straße und außer Landes getrieben. Mit diesem verzweifelten und mutigen Schritt haben sie demonstriert, daß der Mörtel der Berliner Mauer brüchig geworden war.
({5})
Die Deutschen in der DDR haben ein neues, ein friedliches Kapitel in der Geschichte des Kampfes der Bürger für ihre demokratischen Rechte und für ihre Freiheit geschrieben. Es bleibt allerdings das historische Verdienst Ungarns, daß es als erstes Land den eisernen Vorhang zerschnitten und damit den Blick auf ein einheitliches Europa freigegeben hat.
({6})
Die Menschen im Osten Europas schütteln jetzt das Joch der Unfreiheit und der Bevormundung ab. Die Reformen in der DDR und die Überwindung der Mauer sind Teil eines Gesamtprozesses, der Europa aufeinander zuführt. Eine Vision, die 1967 der Harmel-Bericht als europäische Friedensordnung beschrieben hat und die Generalsekretär Gorbatschow mit seinem Bild vom gemeinsamen europäischen Haus aufgegriffen hat, ist nun in Deutschland sichtbare und erlebte Wirklichkeit geworden.
Es wird uns wieder eindriglich vor Augen geführt, daß es nur e i n Deutschland gibt. Der Tag ist nun da, an dem die Schlagbäume niedergerissen werden und wir wieder von Nord nach Süd und von Ost nach West ohne Behinderung fahren können.
Meine Damen und Herren, es ist schon pikant, daß dies im Vorwort eines Autoatlasses abgedruckt war, der am 1. Februar 1950 in der DDR erschien, und die Aufforderung enthielt: „Kämpfen Sie gemeinsam mit dem ,Neuen Deutschland' für dieses höchste Ziel unseres Volkes. "
({7})
Ein Besucher aus Rostock hat dieses Dokument jetzt in Erinnerung gebracht.
Uns Deutschen liegt der Erfolg der Reformen in der DDR natürlich besonders am Herzen. Wir alle verfolgen mit innerer Bewegung, mit Bewunderung und ein wenig auch mit Stolz, wie die Bevölkerung der DDR ihrer Obrigkeit Reform um Reform abtrotzt.
({8})
Für uns kommt es jetzt darauf an, diesen Prozeß mit Behutsamkeit, mit Hilfs- und Unterstützungsbereitschaft zu begleiten.
({9})
Wir haben jedoch allen Anlaß, die DDR-Führung an ihre Verpflichtung zu erinnern, die sie auf Grund internationaler Absprachen, wie z. B. im Rahmen der
KSZE, auf dem Gebiet der Menschenrechte eingegangen ist. Der entscheidende Schritt, den die DDR-Führung noch tun muß, sind baldige allgemeine, freie und geheime Wahlen. Dies setzt voraus, daß der in der Verfassung der DDR verankerte Führungsanspruch der SED aufgegeben wird, daß neue Parteien zugelassen werden und daß ein Wahlgesetz in Kraft tritt, das allen Parteien gleiche Rechte einräumt.
({10})
Die Führung der DDR hat dies zugesagt. Wir erwarten jetzt, daß diese Zusage bald in konkretes Handeln umgesetzt wird.
({11})
Eine demokratisch gewählte Führung in der DDR wird neben der politischen Umgestaltung vor allem ein umfassendes und grundlegendes Reformprogramm der Wirtschaft durchführen müssen. Die sozialistische Planwirtschaft hat auch in der DDR versagt. Das Land ist wirtschaftlich und technologisch weit hinter den internationalen Standard zurückgefallen.
({12})
Die DDR muß deshalb so schnell wie möglich marktwirtschaftliche Reformen durchführen. Das heißt vor allem Eigenständigkeit der Betriebe, Zulassung privatwirtschaftlicher Tätigkeit sowie Abbau von staatlichen Subventionen. Die DDR braucht für diese Wirtschaftsreform in großem Umfang Kapital und Knowhow. Dies kann sie nur aus der Zusammenarbeit mit freien Unternehmern westlicher Demokratien erhalten. Die dazu notwendigen Voraussetzungen muß die DDR selbst schaffen.
Meine Damen und Herren, wir haben Reformen in der DDR immer wieder mit Nachdruck angemahnt. Die Entwicklung der letzten Tage, über die wir alle glücklich sein können, stimmt hoffnungsvoll. Sie steckt aber noch in den Anfängen. Deshalb ist jetzt nicht die Zeit für finanzielle Schnellschüsse. Vielmehr muß mit Augenmaß und auf der Basis sorgfältiger Überlegungen entschieden werden. Vorschläge für finanzielle Hilfen an die DDR gibt es jetzt zuhauf. Aber den Schrei nach mehr Geld für die bei uns entstehenden Belastungen hört man ebenfalls.
Bevor allerdings finanzielle Blumensträuße gebunden und überreicht werden, sollte zunächst auch bei uns die Gewißheit bestehen, daß sie dann auch gepflegt werden. Erst wenn ein zusätzlicher Handlungsbedarf korrekt ermittelt worden ist, kann der Sachverhalt als entscheidungsreif angesehen werden. Können wir dann die zusätzlich beschlossenen Maßnahmen nicht aus dem verabschiedeten Haushalt decken, muß - auch darüber besteht natürlich Klarheit - notfalls auch ein Nachtragsetat her.
Meine Damen und Herren, bei einer Intensivierung der wirtschaftlichen und politischen Zusammenarbeit mit dem Westen und insbesondere mit der Bundesrepublik Deutschland wird sich auch die Frage der deutschen Einheit von selbst stellen. Der Reformprozeß in der DDR eröffnet erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg eine Perspektive dafür, daß die Bürger in beiden deutschen Staaten eines nicht allzu fernen Tages darüber entscheiden können, ob und in welcher
Form sie die Einheit Deutschlands haben wollen. Diese Entscheidung wird selbstverständlich nur im Rahmen der vertraglichen Bindungen und im Einvernehmen mit den Nachbarn getroffen werden können.
Der Weg von der Vision des Harmel-Berichts bis zum Fall der Mauer war gekennzeichnet von innenpolitischen Auseinandersetzungen, von außenpolitischen Rückschlägen und von Phasen der Verhärtung und des Immobilismus. Die Freien Demokraten sind den Weg von den Ostverträgen, die die Vertrauensbasis für den erfolgreichen Abschluß der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 gelegt haben, konsequent gegangen bis hin zum NATODoppelbeschluß, der gleichzeitig eine Verhandlungs-und Kooperationsofferte war, die schließlich zu einem Bündel praktischer Abrüstungsmaßnahmen geführt hat.
({13})
Jetzt muß und wird es unser Ziel sein, die Dynamik des Prozesses der Abrüstung und der Vertrauensbildung beizubehalten und zu fördern.
So stehen wir heute vor politischen Herausforderungen größten Ausmaßes. Die Aufbruchstimmung in den West-Ost-Beziehungen dürfen wir nicht ungenutzt lassen. Dieser wichtigen Aufgabe müssen wir uns gemeinsam stellen. Über die Parteigrenzen hinweg müssen wir für die Bewältigung der jetzt anstehenden Probleme ein Handlungskonzept erarbeiten. Nur so können wir die Veränderungen in Europa für die Gestaltung der deutsch-deutschen Beziehungen nutzen und die Hoffnung auf eine Überwindung der Teilung Deutschlands mit realistischem Inhalt füllen.
So bleibt die Deutschlandpolitik eine europäische Aufgabe. Wenn wir sie in einem nationalen Konsens anpacken, werden wir auch das Engagement unserer Freunde wecken und die Akzeptanz bei unseren Partnern herbeiführen können.
({14})
Das Wort hat die Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen, Frau Dr. Wilms.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nie ist über den Haushalt des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen in einer solch bewegten Zeit der Veränderungen in der DDR diskutiert worden. Nie war die Chance für eine Wiedervereinigung größer als heute. Der Ruf aus Leipzig, „Wir sind ein Volk! ", geht mir nicht mehr aus dem Sinn.
({0})
- Nein. „Wir sind ein Volk!" Vielleicht lesen Sie die Plakate einmal genau nach, und begehen Sie nicht hier schon Geschichtsklitterung!
({1})
- Lassen Sie sich einmal Filme zeigen, und begehen Sie hier keine Geschichtsklitterung!
({2}): Ihr habt daraus eure Wahlplakate gemacht!)
Die Massenflucht unserer Landsleute aus der DDR in den freien Teil Deutschlands und die großen Demonstrationen in fast allen Städten der DDR haben in kurzer Zeit zu den Veränderungen geführt, die noch zu Beginn des Jahres kaum möglich erschienen. Die Menschen, die Bürger dort wollen endlich ihre Angelegenheiten in die eigenen Hände nehmen. Sie wollen Demokratie, sie wollen Freiheit und Menschenrechte, sie wollen selbstbestimmte Reformen, sie wollen eine freiheitliche Entwicklung, wie sie für uns im Westen Europas schon lange selbstverständlich ist. Dabei rechnen sie auf uns, auf die Unterstützung ihrer Landsleute im Westen. Wir dürfen und wir werden sie nicht enttäuschen. Gemeinsam müssen wir jetzt, fast 45 Jahre nach Kriegsende, ein weiteres Stück deutscher Nachkriegsgeschichte bewältigen, aber in Hinwendung zur europäischen Zukunft.
Mein höchster Respekt gilt denen, die seit Monaten mit großem Mut und unter persönlichen Opfern in der DDR Reformen einfordern und auch allmählich durchsetzen. Die europäische Geschichte hat bislang wenige solcher unblutigen Revolutionen erlebt. Hohe Achtung bringe ich aber auch denen entgegen, die ihre Heimat aus Hoffnungslosigkeit verließen. Auch sie haben den revolutionären Prozeß in der DDR mitbewirkt. Ihnen gegenüber Neid- und Ablehnungsgefühle bei uns zu schüren, wie Herr Lafontaine es tut, halte ich für menschlich schäbig und politisch für falsch.
({3})
Entscheidend ist, daß sich in der DDR jetzt ein tiefgreifender Wandel in Staat, Gesellschaft und Wirtschaft unumkehrbar vollzieht. Politische Gefangene sollten endgültig der Vergangenheit angehören.
({4})
Mit halbherzigen Reformen ist niemandem gedient.
({5})
Deshalb ist für die Landsleute das Recht unverzichtbar, über die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Formen ihres Zusammenlebens in wirklich freien, gleichen, allgemeinen und geheimen Wahlen entscheiden zu können. Dies muß auch die Möglichkeit einschließen, den Sozialismus als solchen zur Disposition zu stellen; denn er hat versagt, in der DDR wie auch anderswo.
Wir fordern die Selbstbestimmung für unsere Landsleute in der DDR. Ihre Ergebnisse haben wir zu respektieren. Diese Bundesregierung hat allerdings nie einen Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie entsprechend dem Auftrag des Grundgesetzes am Ziel der nationalen und staatlichen Einheit in Freiheit festhält. Die aktuelle Entwicklung in der DDR zeigt, daß diese Politik richtig war und richtig ist.
({6})
Gerade für das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen war dieses Ziel nie strittig. Im Gegenteil: Es hat auf dieses Ziel stets hingearbeitet, oft im Stillen, aber immer intensiv. Breite Publizität ist nicht immer der Maßstab erfolgreicher Sacharbeit.
({7})
Die aktuelle Entwicklung stellt an die Deutschlandpolitik und auch an das Bundesministerium neue und zusätzliche Herausforderungen. Wir nehmen sie an, sei es in Spezialbereichen, sei es in Koordinationsfunktionen auf Bundesebene oder zwischen Bund und Ländern. Lassen Sie mich dazu einige Stichworte nennen.
Der Reiseverkehr von Ost nach West muß noch reibungsloser, der von West nach Ost geöffnet werden.
({8})
Die Verhandlungen über einen gemeinsamen Devisenfonds mit der DDR laufen. Der Mindestumtausch muß fortfallen.
({9})
Die DDR muß sich hier mit eigenen Devisen engagieren.
({10})
- Herr Kollege Büchler, Sie wissen genausogut wie ich, daß diese Forderung von uns seit langem in allen Verhandlungen erhoben wird. Aber die SED, mit der Sie lange Verhandlungen gepflogen haben, hat dem bisher nicht stattgegeben.
({11})
Das Begrüßungsgeld gibt es auf jeden Fall bis Ende 1989 weiter.
({12})
Es wird allerdings auch 1990 ausgezahlt werden, falls es nicht rechtzeitig zu vernünftigen Vereinbarungen mit der DDR kommen sollte.
({13})
Ich würde dies aber nicht für gut halten und erwarte eine Vereinbarung mit der DDR.
Auch einige Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungsprobleme sind angesichts des freieren Reiseverkehrs zwischen hüben und drüben, insbesondere für Berlin und die Gebiete an der innerdeutschen Grenze, neu zu bedenken und zu lösen.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß uns die kommende Zeit - der Bundeskanzler hat dies in seinem Zehn-Punkte-Programm dezidiert ausgeführt - vor die ganz große Aufgabe stellt, ein dichtes Netzwerk von Verbindungen und Beziehungen zwischen Menschen, gesellschaftlichen Gruppen und Institutionen aufzubauen, das die beiden Teile Deutschlands eng miteinander verbindet und verklammert; denn
dies entspricht auch dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen.
({14})
Das gilt für wirtschaftliche Verflechtungen ebenso wie für kulturelle. Der Sport ist in gleicher Weise betroffen wie Gewerkschaften oder Kirchen. Junge Menschen sollen ebenso zueinanderfinden wie Wissenschaftler oder Handwerker. Schul- und Bildungsabschlüsse sollten wieder vergleichbar werden können. Umweltschutz und Telekommunikation können in Deutschland Klammern bilden.
({15})
Die zu schaffende „gemeinsame Wirtschaftskommission" - unter Einschluß Berlins - kann hier Beispiel für vieles sein.
({16})
Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze, meine Damen und Herren, wachsen den Städtepartnerschaften völlig neue Möglichkeiten zu. 58 Partnerschaften gibt es bisher; viele können hinzukommen, der Wunsch dazu ist vorhanden. Hier kann das gesamte Spektrum an innerdeutschen Kontakten auf kommunaler Ebene bürgernah umgesetzt werden. Dem Ideenreichtum der Partnergemeinden sollten hier keine Grenzen gesetzt sein!
({17})
Die Restaurierung erhaltungswürdiger historischer Bausubstanz in den Städten und Gemeinden der DDR könnte unter Einschluß privaten Mäzenatentums zu einem Schwerpunkt der partnerschaftlichen Städtebeziehungen werden.
({18})
Frau Dr. Wilms, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Herrn Büchler?
Bitte schön.
Warum ist denn dann unser Antrag, der genau in diese Richtung zielt, von Ihrer Fraktion abgelehnt worden?
Herr Kollege Büchler, vielleicht ist Ihnen entgangen, daß wir seit dem 9. November eine andere Situation in der DDR mit ganz anderen Gesprächs- und Vereinbarungsmöglichkeiten haben.
({0})
Die Förderung der Reisen von Jugendlichen aus der DDR, die jetzt ohne staatliche Beschränkungen zu uns kommen können, wird eine wichtige Aufgabe sein.
Ich denke, die jüngere Generation in Deutschland muß sich besser kennenlernen.
({1})
Dafür werden wir die organisatorischen und haushaltsmäßigen Voraussetzungen treffen.
Auch das Interesse an Jugendfahrten von West nach Ost wird zunehmen. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR werden auch im nächsten Jahr einen besonderen Stellenwert in den Diskussionen haben. Wir werden diesem Informationsbedürfnis nachkommen.
({2})
Deutschlandpolitische Themen stehen mehr als je zuvor auch international im Brennpunkt des Interesses. Davon geht im In- und Ausland eine kräftige Sogwirkung nach Informationsmaterialien, nach Seminaren und Vortragsveranstaltungen aus. Mit der Möglichkeit, Gäste aus der DDR zu derartigen Veranstaltungen einzuladen, eröffnen sich völlig neue Horizonte, und wir werden dem entsprechen.
Der Tourismus war bisher in beiden Richtungen durch Devisenmangel, Genehmigungszwang, Zwangsumtausch, Mangel an Gästebetten behindert. Er muß sich jetzt freizügig und ungehindert entwikkeln können. Ich bin sicher, daß sich angesichts des großen Interesses in unserer Bevölkerung genügend Reiseveranstalter finden, die sich bei der weiteren touristischen Erschließung der DDR in großem Umfang engagieren werden.
({3})
Ich erwarte übrigens auch, daß DM-Einnahmen aus Touristenreisen in der DDR den Bau von neuen Hotelbetrieben - eventuell in Kooperation mit uns -befördern;
({4})
Devisen können durch Verrechnung zwischen den Reiseveranstaltern auch für Reisen in umgekehrter Richtung - von Ost nach West - zur Verfügung gestellt werden.
Meine Damen und Herren, viele Besucher aus der DDR haben keine Verwandten oder Bekannten im Westen. Wir haben daher die Wohlfahrtsverbände und die beiden großen Kirchen gebeten, kostengünstige Übernachtungsmöglichkeiten wenigstens für jeweils einige Tage zur Verfügung zu stellen. Dieser Appell ist auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Ich möchte mich hier ausdrücklich bei den Organisationen für ihre Hilfsbereitschaft bedanken.
({5})
Die Arbeit des Ministeriums ist seit jeher in besonderem Maße dem humanitären Dienst am einzelnen verpflichtet gewesen. Ich nehme an, daß diese Aufgabe noch eine gewisse Zeit weiter fortgesetzt werden muß.
({6})
Mit Maßnahmen im notleidenden medizinisch-sozialen Bereich in der DDR wird diese Aufgabe noch eine weitere neue Dimension erhalten.
Lassen Sie mich hier noch ein besonderes Wort zur Zonenrandförderung sagen. Sie hatte ja stets zum Ziel, die Nachteile des Zonenrandgebiets durch die Lage an der weitgehend undurchdringlichen Grenze auszugleichen. Erst wenn sich die Grenzen nachhaltig und uneingeschränkt für Personen- und Güterverkehr in beiden Richtungen öffnen, wird man die Zonenrandförderung in der bisherigen Art vermindern oder aufgeben können. Aber so weit sind wir noch nicht.
({7})
Es gibt im Gegenteil jetzt zusätzlichen Handlungsbedarf.
({8})
Dies betrifft insbesondere die Verkehrsanbindung der insgesamt 83 Grenzübergänge zur DDR.
Auch die Hilfen zum Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur müssen angesichts der vielen Besucher aus der DDR und der großen Zahl von Übersiedlern, die dort ankommen, verstärkt werden.
Die Gebiete nahe der innerdeutschen Grenze haben jetzt die große Chance - nicht zuletzt in sozialer und kultureller Hinsicht - eine breite Brücke in die notleidenden grenznahen Gebiete der DDR zu werden.
({9})
Wir sollten diese Chance nutzen und fördern.
({10})
Die rasante Entwicklung in der DDR erzeugt auch einen hohen Analyse- und Politikberatungsbedarf. Deshalb gewinnt die deutschlandpolitische Forschung eine neue aktuelle Bedeutung. Sie wird hier entsprechend tätig werden. Ich denke, in dieser historischen Situation sind die fähigsten Köpfe aus allen Bereichen, nicht nur aus Wissenschaft und Forschung, sondern auch aus Kultur oder Wirtschaft gefordert, ihren Beitrag für die gemeinsame Entwicklung des deutschen Volkes in Freiheit zu leisten.
({11})
Dazu gehört auch, daß wir die Kultur und Geschichte aller deutschen Landschaften weiter aufarbeiten,
({12})
Landschaften, die Thüringen oder Sachsen, aber auch Pommern oder Schlesien heißen.
({13})
Die dramatische Entwicklung dieser vergangenen Wochen hat erneut die besondere Rolle Berlins in den innerdeutschen Beziehungen bestätigt. Ich denke, Berlin hat einen Standortvorteil, der auch in der künftigen Zeit gerade unter wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten genutzt werden muß.
({14})
Meine Damen und Herren, vor allem meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, Sie haben bereits sehr schnell in den Beratungen mit großer Sensibilität und Tatkraft auf die Veränderungen reagiert. Ich danke dafür sehr herzlich.
({15})
Mein besonderer Dank gilt den Herren Berichterstattern in allen Fraktionen.
Lassen Sie mich noch einmal sagen, daß die Entwicklung in der DDR heute im Mittelpunkt des politischen Interesses weltweit steht. Unsere Kinder werden uns einmal daran messen,
({16})
wie wir uns mit unserer Deutschlandpolitik auf diese neue Situation eingestellt haben. Die seit Jahren geradlinige Deutschlandpolitik der Bundesregierung gewährleistet, daß der Prozeß der Öffnung in der DDR zum Wohl unserer Landsleute unterstützt wird. Wir haben nichts von unseren programmatischen Aussagen der Vergangenheit zurückzunehmen, weil wir immer auf den Freiheitswillen der Menschen gesetzt haben. Wir haben nie den sogenannten Geraer Forderungen Honeckers zustimmen wollen, wie es uns aus der SPD empfohlen worden ist. Wir haben uns immer, auch als dies weniger modern war, mit der Präambel unseres Grundgesetzes identifiziert.
({17})
Ich bin heute sicherer denn je, daß sich alle Deutschen, auch unsere Landsleute in der DDR, in freier Selbstbestimmung für die Einheit und Freiheit Deutschlands entscheiden werden.
({18})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Terborg.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über den Einzelplan 27 hat in diesem Jahr zwangsläufig einen Stich ins Irreale. Der Haushalt schreibt im Grunde fort, was all die Jahre hindurch vom Ministerium gefördert worden ist. Die stürmischen Veränderungen der letzten Wochen in der DDR finden in den Etatansätzen keine Entsprechung.
Nun, das werfe ich Ihnen nicht vor. Was wir Sozialdemokraten kritisieren, ist vielmehr die Tatsache, daß das Ministerium in den wichtigsten Wochen deutschdeutscher Politik seit 40 Jahren praktisch weggetreten war.
({0})
Es führte nicht einmal mehr ein Schattendasein, an das man sich schon gewöhnt hatte. Es war schlicht auf Tauchstation gegangen.
({1})
Man hat schon hingenommen, daß die wichtigsten Entscheidungen ohnehin in anderen Ministerien gefällt werden:
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Wirtschaftsprobleme im Hause Haussmann, staatspolitische Fragen im Kanzleramt, soziale Probleme im Arbeitsministerium.
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Aber wo, frage ich Sie, ist die ressortübergreifende Clearingstelle geblieben? Wo hat es sich auch nur in Ansätzen ausgewirkt, daß wir über all die Jahre mit Millionen und aber Millionen Institute unterhalten und Forschungsprojekte über die deutsch-deutsche Problematik finanziert haben? Jetzt, wo es darauf ankäme, die Arbeit dieser Institute, die Ergebnisse dieser Forschungen in praktische politische Schritte umzusetzen, herrscht schlicht Sendepause.
Der Verdacht ist sicher nicht abwegig, daß in den Schubladen des Hauses Wilms möglicherweise Pläne für alle denkbaren Krisensituationen schlummern, nichts aber für den Ernstfall der friedlichen Annäherung beider deutschen Staaten.
({4})
Dies ist ein Testfall, ich finde, der Testfall schlechthin, und wir alle sind sehr ernüchtert, wir sind betroffen über das absolute Vakuum, das wir vorfinden.
Der Hinweis von Frau Ministerin Wilms auf Lafontaines Äußerungen ist weder originell noch ein Beleg für die Tatsachen, um die es geht. Lafontaine hat sich viel verklausulierter geäußert, als Sie ihm unterstellen.
({5})
Aber er hat etwas gesagt, das uns noch erheblich beschäftigen muß, das auch Ihnen allen schon jetzt Kopfzerbrechen bereitet, wie ich weiß: Es ist nun einmal die Wahrheit, daß unser soziales Sicherungssystem hoffnungslos ins Schleudern gerät, wenn die Übersiedlerwelle nicht nur anhält, sondern vielleicht sogar wieder steigt, und daß für die DDR die Lage geradezu aussichtslos wird, wenn die Leistungstüchtigsten diesen Staat verlassen. Darüber werden auch Sie nachzudenken haben, wenn nicht heute, dann aber doch in einer sehr nahen Zukunft.
({6})
Wir werden uns also ohne das innerdeutsche Ministerium behelfen müssen. Kein Wunder, daß immer mehr die Meinung vertreten, man käme ganz gut ohne dieses Ressort aus.
Dabei steht aber sehr viel zur Entscheidung an. Mit einigen Fragen möchte ich mich in meinem Beitrag beschäftigen.
Mich erfüllt z. B. mit Sorge, daß die Meinungsbildung in unserem Volk derzeit auf zwei Ebenen verläuft, die strikt voneinander getrennt sind, ja, einander zuwiderlaufen. Da ist einmal die veröffentlichte Meinung, die, auf die Verfassung gestützt, die Umsiedler willkommen heißt und ihre selbstverständliche Einbindung in unser Sozialsystem garantiert, und da gibt es die Meinung vieler kleiner Leute bei uns, die sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen. Nicht wenige von ihnen begreifen die Neubürger als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt, als Konkurrenten im Kampf um einen Arbeitsplatz, als Belastung unseres sozialen Netzes.
Wie, so frage ich Sie, reagieren wir darauf? Reicht es wirklich, wenn wir - und mit uns die veröffentlichte Meinung - im Tone der Entrüstung über Anwandlungen von Sozialneid an Stammtischen räsonieren? Ich kann die Sorgen dieser kleinen Leute sehr gut verstehen.
({7})
Ich finde, wir müssen ihnen nicht nur das Gefühl, sondern wir müssen ihnen die Gewißheit geben, daß ihre Probleme über unsere Fürsorgepflicht für die Neubürger nicht vergessen werden.
({8})
Wenn Wohnungen fehlen, müssen sie gebaut werden, und zwar in einer großen Kraftanstrengung und unter Mobilisierung aller Reserven. Wenn wir über zwei Millionen tatsächliche Arbeitslose - nicht nur die amtlich registrierten - haben, dann müssen wir Arbeitsplätze schaffen, dann muß den schon seit vielen Monaten, ja, seit Jahren Arbeitslosen ebenso eine Chance gegeben werden wie den leistungsverdächtigen Neubürgern.
Wenn die Übersiedler unser soziales Netz beanspruchen, dann ist das nicht eine Frage an die alteingesessenen Versicherten, sondern ein Problem, das der Staat durch Aufbringen zusätzlicher Mittel zu bewältigen hat.
({9})
Das heißt für uns Sozialdemokraten aber auch eine konsequente Abkehr von der Philosophie der Zweidrittelgesellschaft und eine Rückkehr zu den ethischen Werten, die unseren Sozialstaat einmal ausgezeichnet haben.
Ich kann auch verstehen, daß es bei uns Menschen gibt, die an die Politik die Frage stellen, wo denn ihr Begrüßungsgeld bleibe, die, die auch gern einmal die Möglichkeit hätten, sich ein paar Wünsche zu erfüllen, die über die Sicherung ihrer Existenz hinausgehen.
({10})
Ich halte es für einen großen Fehler, wenn wir uns solchen Forderungen gegenüber taub stellen, sie gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Solidarität ist nun einmal von jenen Mitbürgern leichter zu leisten, die materiell dazu in der Lage sind.
({11})
Sie ist nicht von jenen zu leisten, die selbst unserer Solidarität bedürfen.
Dabei hat es - Gott sei Dank - an selbstloser Hilfe für die Neubürger nicht gefehlt. Da haben sich die Herzen von Hunderttausenden geöffnet; da ergriff eine Welle des guten Willens unser Volk. Das hat mich mehr als dankbar gestimmt. Da war ich stolz auf unsere Mitbürger. Aber lassen Sie mich bitte in diese Solidarität alle mit einschließen: die, die jetzt zu uns kommen, und die, die schon lange unter uns leben. Vieles kann der einzelne nicht tun; hier ist der Staat und ist unsere Wirtschaft gefordert. Ganz an der Spitze steht dabei unsere Pflicht, mit dazu beizutra13550
gen, daß die Menschen in der DDR selbst eine neue Chance haben und nicht ihr einziges Heil in einem Grenzwechsel sehen müssen.
({12})
Darüber ist schon eine ganze Menge Kluges gesagt worden. Deshalb möchte ich mich auf einige andere Dinge beschränken, die jetzt und von uns angepackt werden müssen. Jetzt, so meine ich, können sich die vielerorts schon angebahnten Städtepartnerschaften bewähren, nicht nur, indem die Bürger einander besuchen, sondern auch, indem es zu einem lebhaften Erfahrungsaustausch zwischen den Vereinen, zwischen den Kirchen und zwischen den Betrieben kommt. Jetzt können wir die an sich schon ermutigende Vielzahl von Jugendbegegnungen auf eine sehr viel breitere Basis stellen und zu einem deutsch-deutschen Jugendwerk ausbauen. Jetzt können, nein, jetzt müssen wir den Studentenaustausch sinnvoll organisieren, ihn materiell überhaupt erst möglich machen. Es ist jetzt an der Zeit, die ersten Schritte zu einem umfassenden Austausch junger Facharbeiter zu machen, möglichst viele Betriebe und Verwaltungen diesseits und jenseits der Grenze dazu zu ermutigen. Jetzt sollten wir uns alle daranmachen, einen völlig neuen Rahmen für Familienurlaube hier und in der DDR zu finden.
({13})
Jetzt müssen wir nach so vielen vergeblichen Anläufen einen neuen Versuch starten, damit sich die Pädagogen in beiden deutschen Staaten auf ein gemeinsames Konzept der Friedenserziehung in den Schulen verständigen.
({14})
Jetzt können die Sportbegegnungen ihren Ausnahmecharakter verlieren, können kirchliche Gemeinden hier und drüben zu neuen Gemeinsamkeiten finden, kann der deutsch-deutsche Kulturaustausch zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn wir nicht nur den guten Willen dazu haben, sondern auch die Bereitschaft, alle diese Kontakte nach Kräften zu fördern.
Vieles von dem, was ich hier andeute, ist schon vorgedacht, ist schon vorbehandelt worden, beispielsweise in den Gesprächen mit der FDJ-Fraktion der Volkskammer, über die ich diesem Hause schon mehrfach berichtet habe. Glauben Sie nun ja nicht, daß ich mich jetzt davon distanziere, im Gegenteil. Ich fand sie damals nützlich und unverzichtbar. Ich denke, daß sie noch ungleich fruchtbarer werden können, wenn wir einmal ein frei gewähltes Parlament als Partner haben werden.
({15})
Die ersten Schritte, die wir Sozialdemokraten gegangen sind, waren ungleich mühsamer als das, was jetzt auf uns zukommt. Ein Erfolg wird sich aber erst dann einstellen, wenn wir als Partner und nicht als Besserwisser auftreten, wenn wir keinen vom Gespräch ausschließen und wenn wir bereit sind, in einer Vielzahl kleiner Schritte das Auseinanderleben der Deutschen in ein Miteinander zu überführen.
Was mich am meisten in den letzten Wochen fasziniert hat, war die Tatsache, daß uns die Menschen in der DDR durch ihre stille Revolution vor eine völlig neue Lage gestellt haben. Sie - nicht wir - haben das Tempo und das Ausmaß der Veränderung bestimmt. Sie haben uns vor eine Situation gestellt, die ein rasches Reagieren auf unserer Seite erforderte. Uns blieb gar nicht erst die Zeit, die neue Situation in unser altes Kästchendenken einzuordnen und zu überlegen, wie das politisch wohl der einen oder der anderen Seite zum Vorteil gereichen könnte. Es mußte gehandelt werden, und das war eine gute Ausgangslage. Sie verliert sich, je normaler die deutschdeutsche Lage wieder wird. Damit wird auch die Lust zur Rechthaberei, zum parteipolitischen Kleinklein und zum Zerreden wieder wachsen. Aber das wäre das letzte, was die Menschen bei uns und in der DDR von uns erwarten.
({16})
Was die Menschen in der DDR bewirkten, ihre Bereitschaft, die Obrigkeit und ihren gesellschaftlichen Alltag radikal in Frage zu stellen, muß auch auf bundesrepublikanischer Seite eine Entsprechung finden. Ich fürchte, diesen Test haben wir noch nicht bestanden. Wenn ich mir so manchen Beitrag von heute vergegenwärtige, dann zeichnete er sich eher durch die beim innerdeutschen Ministerium beklagte Sprachlosigkeit aus als durch den Mut, Neues zu denken, Neues zu wagen und unsere noch ausgebliebene stille Revolution in den eigenen Köpfen und Herzen nachzuholen.
Ich danke Ihnen und bitte Sie, mit mir in diese Richtung weiterzudenken.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lintner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Deutsche hier und in der DDR können stolz auf das sein, was sich in den letzten Wochen bei uns ereignet hat. Vor aller Welt wurde sichtbar, nicht nur daß, sondern auch wie lebendig die Einheit der Nation bei uns tatsächlich noch ist. Dieses Ereignis hätte mancher bei uns sicherlich nicht mehr für möglich gehalten. Wir von der Union haben dies aber eigentlich immer behauptet und sind dafür häufig verspottet und belächelt worden, beispielsweise leider auch von Ihnen, von der sozialdemokratischen Seite. Hier wäre Ihr heutiges deutschlandpolitisches Zugpferd Willy Brandt zu zitieren, der immerhin die Wiedervereinigung seinerzeit als Lebenslüge der Republik bezeichnet hat.
Meine Damen und Herren, wir freuen uns natürlich im Interesse der Bedeutung des Anliegens darüber, daß Sie angeboten haben, die zehn Punkte des Herrn Bundeskanzlers ohne Wenn und Aber zu unterstützen. Wir greifen dieses Angebot gern auf. Die neue Gemeinsamkeit schlägt sich bereits in einer interfraktionellen Entschließung nieder, die hinter den KulisLintner
sen vorbereitet wird und die der Kollege Hornhues dankenswerterweise eingebracht hat.
Was soll dann, Herr Hiller, die Mäkelei, die Sie hier an den Tag gelegt haben, die krampfhaft wirkte und an den Haaren herbeigezogen war? Man kann das Angebot des Fraktionsvorsitzenden Dr. Vogel nicht dadurch realisieren, daß man im großen nach außen das Ja erklärt, sich aber dann im Detail in der Zusammenarbeit verweigert. Das kann nicht laufen, so wird es nicht funktionieren. Ich wundere mich ohnehin über Ihren Beitrag. Das ganze Jahr über haben Sie sich im Ausschuß nicht so gegeben, wie Sie hier waren, nämlich destruktiv und großtönend. Sie wissen doch, daß das Ministerium viel Arbeit im Stillen leisten muß und daß diese Arbeit wirklich wertvoll ist.
Jetzt kommt es darauf an - das würde ich auch der Frau Kollegin Terborg empfehlen -, daß das Ministerium die zehn Punkte, die hier genannt worden sind und die Ihre Zustimmung gefunden haben, konkretisiert und dann koordiniert, und zwar jenes, was an Einzelmaßnahmen dahintersteckt. Das ist eine Aufgabe, die die Bedeutung des Ministeriums eher steigert als vermindert.
({0})
Deshalb, meine Damen und Herren, verstehe ich die Kritik nicht. Die Konstruktion, daß das Kanzleramt die operative Deutschlandpolitik mit der DDR verabreden muß, stammt nicht von uns. Sie war damals sicherlich unvermeidlich. Ich will das gar nicht kritisch anmerken. Aber man kann sich heute nicht hinstellen und dem Ministerium daraus einen Vorwurf machen. Ich finde das unehrlich und auch ungerechtfertigt.
({1})
Im übrigen ist es ja ohnehin eine etwas merkwürdige Logik, daß Sie sich vorhin, Dr. Vogel noch einmal, zwar bereit erklärt haben, die deutschlandpolitische Konzeption zu unterstützen, sich aber jetzt wieder hinstellen und beabsichtigen, die Konkretisierung oder Teilkonkretisierung dieser Konzeption im Haushalt des innerdeutschen Ministeriums offiziell wieder abzulehnen. Wie Sie diesen Schlingerkurs der Öffentlichkeit klarmachen wollen, das ist Ihr Problem.
({2})
Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Die Bundesregierung hat in allen Dingen, bei denen jetzt spontane Anforderungen an sie sichtbar geworden sind, etwa auf dem Bausektor, mit einer doch wirklich unkonventionellen Schnelligkeit gehandelt. Die ersten konkreten Beschlüsse, Gesetzentwürfe, Maßnahmen liegen heute bereits in der Realität vor, so daß ich zuversichtlich bin, daß es uns gelingen wird, die Schwierigkeiten auch zu meistern.
Meine Damen und Herren, was sich in der DDR abspielt, kann angesichts der Dynamik und der Entschlossenheit der Landsleute dort wirklich nur als eine friedliche oder stille Revolution bezeichnet werden, wie Sie es gesagt haben, Frau Terborg, eine Revolution, die zur Überwindung der Diktatur einer Partei und zur Erlangung von Freiheit in allen Lebensbereichen dienen soll.
In dieser Eruption ist eine schonungslose Abkehr vom Sozialismus an sich und nicht nur von seiner realen SED-Variante zu sehen. Das ist - zugegebenermaßen - für manche Sozialisten hier bei uns eine ganz schmerzliche Erkenntnis. Sie wollen den Sozialismus unter allen Umständen retten und verlangen deshalb die Bereitschaft der Bundesregierung, auch eine sozialistische Wirtschafts- und Politikordnung in der DDR ohne jede Voraussetzung umfassend finanziell zu unterstützen. Das kommt aber - das ist ja schon mehrfach gesagt worden - der Aufforderung gleich, ein Faß ohne Boden zu füllen. Damit würde im übrigen unseren Landsleuten in der DDR nicht gedient sein. Denn so etwas könnte nur dazu dienen, das Regime selbst zu stabilisieren.
Meine Damen und Herren, über unsere nationale und moralische Verpflichtung hinaus gibt es, glaube ich, einen weiteren sehr realen, handfesten politischen Grund, sich um mehr Wohlstand und Freiheit in der DDR und - darüber hinaus - im ganzen Ostblock zu bemühen. Bei heute schon gravierenden Wohlstandsunterschieden, die ohne Veränderungen im Osten und in der DDR noch dramatisch anwachsen müßten, gibt es auf die Dauer keine Aussicht auf ein reibungsloses, friedliches Zusammenleben. Denn das Streben, an diesem Wohlstand zu partizipieren, wird ständig zunehmen. Die Folgen müßten in der Tat gigantische Wanderungsströme in die reichen Teile Europas, vor allem in die Bundesrepublik, oder eben zwangsläufig - bei Verweigerung dieser Partizipation - von Neid und Mißgunst gespeiste Spannungen sein, die letztlich sogar eine lebensgefährliche Brisanz für Europa erreichen könnten. Wenn wir also zur Hilfe und zur Unterstützung bereit sind, dann eben auch, weil es um die Sicherung unserer eigenen friedlichen Zukunft und nicht nur um pure Humanität geht. Ich sage das vor allem für diejenigen, meine Damen und Herren, die schon heute draußen im Lande über die Hilfsbereitschaft der Bundesrepublik zu murren beginnen und ihrerseits Neidkomplexe schüren. Das Begrüßungsgeld ist für unsere Bürger zwar ein Opfer, aber ein Opfer, daß ohne fühlbare Belastung für den einzelnen eben viel Gutes bewirkt und viel Freude bereiten kann.
Kritisch muß gegenwärtig allerdings noch vermerkt werden, daß sich die DDR-Führung in vielen wichtigen Bereichen bisher leider nur in verbalen Ankündigungen bewegt; Taten müssen da noch folgen. Es ist, finde ich, völlig undenkbar, daß die Bundesregierung großzügige Unterstützung gewährt, während Menschen in der DDR aus politischen Gründen noch unschuldig inhaftiert sind.
({3})
Auch besteht zwischen der SED und den konkurrierenden politischen Gruppen noch längst keine Chancengleichheit. Denen fehlt es nämlich an technischer Ausstattung. Selbst Papier gibt es ja höchstens nach monatelanger Voranmeldung. Die Ausstattung aus der Bundesrepublik ist anscheinend immer noch illegal und verboten.
Unsere Bürger, die ihre Landsleute an der innerdeutschen Grenze - mein Wahlkreis befindet sich ja dort - mit wirklich eindrucksvollem und sehr großem Enthusiasmus empfangen haben und betreuen, möch13552
ten alsbald natürlich auch die Möglichkeit haben, einen spontanen und ungeplanten Besuch drüben machen zu können, und zwar ohne Zwangsumtausch und ohne monatelange Wartezeit für die Visaerteilung.
Entlang der innerdeutschen Grenze muß im Interesse der betroffenen Menschen zwangsläufig allmählich auch wieder der Alltag einkehren, d. h. die Wochenenden müssen wieder zu Ruhezeiten für die arbeitende Bevölkerung werden. Dafür müssen wir unsere Landsleute in der DDR um Verständnis bitten. Deshalb halte ich auch die Lösung des Begrüßungsgeldes im Rahmen eines gemeinsamen Fonds für begrüßenswert.
Die SED erweckt an ihrer Spitze immer noch den Anschein, als sei sie nur unter dem Druck ständiger Demonstrationen zu den notwendigen grundlegenden Änderungen bereit. Das ist ein fataler Eindruck, der den Schluß nahelegt, die Führung selbst könnte geradezu demokratieunfähig sein. Ein in diesem Sinne unfähiges und unwilliges Regime wirksam zu unterstützen, hieße aber, das alte ungewollte und überholte System zu stabilisieren, und das kann bei uns im Ernst niemand wollen, auch niemand von Ihnen.
Wer deshalb jetzt umfassende Hilfe ohne jede Voraussetzung fordert, handelt nicht im Interesse der Menschen in der DDR, sondern hintertreibt das Verlangen nach schnellen und grundlegenden Veränderungen. Diese Einschätzung ist mir und anderen im übrigen immer wieder von Gesprächspartnern aus der DDR vom „Neuen Forum" bis hin zu ganz Unorganisierten ans Herz gelegt worden.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber hinter der Deutschlandpolitik der Bundesregierung.
({4})
- Frau Schulte, Sie waren so seltend anwesend; darum haben Sie die Konzeption nicht mitbekommen.
- Das gilt für die großen grundsätzlichen Züge dieser Politik ebenso wie für die Details. Nicht zuletzt die Bundesregierung hat mit ihrem beharrlichen Festhalten am Selbstbestimmungsrecht und auch an der staatlichen Wiedervereinigung und ihrer praktischen Politik der Stärkung des Willens zur Einheit der Nation eine wichtige Voraussetzung für die heutige von allen begrüßte Lage geschaffen. Dafür, daß die Regierung diese Politik trotz häufiger und heftiger Angriffe aus den Reihen der Opposition in diesem Hause und außerhalb dieses Hauses unbeirrt durchgehalten hat, muß man dem Bundeskanzler, der Frau Bundesminister und der ganzen übrigen Bundesregierung herzlich danken.
({5})
Heute - wir alle begrüßen das ja - sind daraus echte historische Perspektiven geworden, denen wir alle - nicht nur wir von der Regierungskoalition - jetzt allerdings auch gerecht werden müssen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Herr Professor Heimann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich deshalb zu Wort gemeldet, weil das, was der Herr Kollege Neuling hier vorgetragen hat, nicht ohne Antwort bleiben kann. Herr Kollege Neuling, wir sind beide Berliner. Als Sie ihre Gefühle vom 13. August 1961 geschildert haben, habe ich gedacht, ich könnte Ihnen voll zustimmen, denn das entsprach auch ganz genau meinen eigenen Gefühlen. Ich war genauso empört wie Sie und wie alle Berliner damals. Ich meinte damals: Das kann doch nicht wahr sein. Das Thema Mauer ist zum Thema meines Lebens geworden. Ich habe übrigens seltsamerweise nie daran gezweifelt, daß ich erleben würde, daß diese Mauer eines Tages fällt. Deshalb war der 9. und 10. November für mich auch die Erfüllung eines wichtigen Teils dessen, wofür ich immer eingetreten bin.
Hier, Herr Kollege Neuling, hätten wir uns wirklich treffen können. Aber dann hat Sie der Teufel geritten, diese ungeheure Geschichtsklitterung vorzutragen. 1961, 1989 - das sind 28 Jahre. Was lag denn eigentlich dazwischen? Was ist denn in den 28 Jahren geschehen? Wer hat denn zum erstenmal die Mauer durchlässig gemacht? Mußte nicht der äußere Status in Europa anerkannt werden, bevor der innere Status geändert werden konnte, das, was wir jetzt erleben? Oder im Klartext: Mußte nicht zuerst mit der Regierung der DDR geredet werden? Mußte nicht die DDR anerkannt werden,
({0})
um die Mauer durchlässig zu machen, um - im übertragenen Sinn - die Gemeinsamkeiten der Nation herzustellen?
Unser Ziel als Sozialdemokraten war immer, den trennenden Charakter der Grenzen zu überwinden. Aber war es nicht die SPD in Berlin, die zuerst die praktische Gemeinsamkeit der Menschen wiederhergestellt hat, Willy Brandt damals und Walter Momper jetzt?
({1})
Auch jetzt handelt der Regierende Bürgermeister Momper praktisch. Früher als Sie hat er eine Gemeinsame Kommission vorgeschlagen, bestehend aus dem Senat von Berlin, aus dem Magistrat von Berlin, aus der Bundesregierung und der Regierung der DDR, um die Probleme - ich sage jetzt ganz bewußt - der Region Berlin - um die geht es - praktisch zu lösen.
({2})
Deshalb, Herr Neuling, muß sich die Berliner SPD nicht von Ihnen sagen lassen, was sie zu tun hat, um die Wiedervereinigung der Menschen - darum geht es jetzt - zu erreichen.
({3})
Der Herr Bundeskanzler hat unter seinen zehn Punkten den KSZE-Prozeß genannt und ihm zu Recht eine ganz zentrale Rolle zugewiesen. Was würden Sie sagen, meine Damen und Herren von der Union,
wenn wir in dieser Stunde daran erinnern würden, daß es überhaupt keinen KSZE-Prozeß gegeben hätte, wenn die CDU/CSU damals die Mehrheit gehabt hätte?
({4})
Was würden Sie sagen, wenn wir dem toten Franz Josef Strauß vorwerfen würden, einen Milliardenkredit zur Stützung des SED-Regimes gegeben zu haben, wenn wir das als Anbiederei bezeichnen würden?
({5})
- Das stimmt nicht. Die Pauschale haben Sie erhöht.
Ich stelle die Frage: Erwarten die Bürgerinnen und Bürger in diesem Staate jetzt von uns diesen kleinlichen Streit?
({6})
Wenn wir ehrlich sind, müssen wir alle zugeben, daß wir damit gerechnet haben, daß es auf lange Zeit zwei stabile Blöcke in Europa geben wird, die man friedens- und kooperationsfähig machen muß, um sie zu überwinden. In diesem Zustammenhang hat unsere Dialogpolitik ihren Sinn, ihre Notwendigkeit und ihre Rechtfertigung gehabt. Dafür braucht man sich nicht zu entschuldigen.
Nun haben wir eine neue Lage. Wir haben diese neue Lage nicht, weil die Union 28 Jahre Sonntagsreden zur Deutschlandpolitik gehalten hat.
({7})
Wir haben die neue Lage, weil es einen Gorbatschow und weil es einen Reformprozeß und eine Revolution im anderen Teil Deutschlands - übrigens nicht bei uns - gibt.
({8})
Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Union, die neue Lage gibt uns jetzt die Möglichkeit, auch neu nachzudenken und, wenn wir wollen, gemeinsam zu handeln; und zwar nicht deshalb, weil Sie recht gehabt haben
({9})
oder weil wir recht gehabt haben, sondern nur deshalb, weil wir Deutschen alle noch nicht über den Berg sind und daher die Gemeinsamkeit brauchen.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Weisskirchen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Licht - hat Alexander Dubcek vor zwei Tagen gesagt - ist wiedergekommen. Er hat es gemeinsam mit den Menschen in der
CSSR angezündet. Zu lange - hat er gesagt - haben sie in der Dunkelheit leben müssen, in der sich das amtliche Wort in Lüge verwandelt hat.
Sie haben versucht, in der Wahrheit zu leben, wie Václav Havel es nannte: meine Freunde Anna Sabatova und Petr Uhl, Jiri Hajek und Václav Maly, Jiri Dienstbier und all die anderen. Ich grüße sie, und ich freue mich grenzenlos.
Ich möchte eins hinzufügen: Wie groß muß die Freude bei unserem ehemaligen Kollegen Milan Horacek sein, der sein Land nach 1968 verlassen mußte.
({0})
Und damals hat alles begonnen, im Frühling in Prag. Und wieviel Anfang gab es unter dem Zeichen eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht"?
Und in den letzten Tagen des August 1968 mordeten Panzerketten eine aufblühende Hoffnung. Und auch Deutsche waren dabei, zum drittenmal in diesem Jahrhundert,
({1})
das randvoll ist von Blut und von Leid, das von Deutschen im geschändeten Namen Deutschlands über andere Völker gebracht wurde.
In jenen Tagen war es auch, als der Lauf eines Lebens zerstört wurde, das sich der Zukunft zuwenden wollte und sich öffnen für eine Revolution der Menschlichkeit, für eine andere, solidarische Welt. Einen Tag, nachdem er zurückgekommen war aus Prag nach Berlin, traf ihn der Schuß eines Auf gehetzten, und nie wieder konnte er sich erholen von diesem Anschlag. Es war Rudi Dutschke.
Doch die Hoffnung kann nicht erschossen werden, die Hoffnung auf eine neue Gestalt unseres Kontinents, auf ein Europa, das zu sich selber kommt, weil es seine eigenen Möglichkeiten ernst nimmt. Vor unseren Augen findet eine Revolution statt. Sie ist sanft, und sie will kein Ende nehmen. So fröhlich, so bunt, so voller Frieden wie kaum eine. Sie ist nicht deutsch, sie ist nicht tschechisch, sie ist nicht slowakisch. Sie ist wahrhaft europäisch.
({2})
Sie verläßt die Enge der Nation. Sie lebt Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit, 200 Jahre nach der großen französischen Revolution.
In wenigen Tagen vergehen ganze Jahre, sagen uns die Sozialdemokraten in der Deutschen Demokratischen Republik. Und wer hat das bewirkt? Es sind die Menschen selbst, die das bewirkt haben, die sich ihre Rechte nehmen. Und sie setzen ihre Zeichen selbst - unauslöschliche und unverwechselb are Zeichen der Hoffnung, Orientierungspunkte der Reife eines Beginns, der neu ist.
Und diese Zeichen dieser Hoffnung gehören diesen Menschen selbst - in Polen, in Ungarn, in der DDR, in der CSSR, ja auch in der Sowjetunion. Und wir würden den Ernst dieser Menschen beschädigen, den
Weisskirchen ({3})
Ernst dieses neuen Anfangs, wenn wir ihre Würde mißbrauchten als billige Münze in irgendeinem Wahlkampf.
({4})
Die Vernunft der Straße, von der Christoph Hein an diesem großen 4. November gesprochen hat, sie hat gesiegt über die Reste des Stalinismus. Und ein junger Arbeiter hat in Bratislava am Samstag hinzugefügt und diesen Gedanken vertieft:
({5})
Ja, wir sind die Straße, aber wir sind eine freundliche Straße. Welch ein Wort. Und welch ein Anfang dort, Herr Lintner, im Osten Europas.
Den Anfang haben unsere Freunde von Solidarnosc in Polen gesetzt. Und bei ihrer Geburt war schon zu erkennen, daß sie es war: Solidarnosc, das Herz Polens und der Verstand Polens dazu.
Und das ist es, worum es wirklich geht in diesem anderen Teil Europas.
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Bis nach Moskau hinein geht es um den Aufbruch zur zivilen Gesellschaft Europas. Ihre Impulse wachsen von unten, wachsen aus den kulturellen Strömungen der Völker. Und vergessen Sie, bitte, nicht: Es sind die Zweifler, es sind die moralisch Verletzten, es sind die Nachdenklichen, es sind die, die ihre Empfindsamkeit bewahrt haben im Lärm, an dem sich die Mächtigen zu berauschen suchten. Aber die Ohnmächtigen sind doch stärker, weil sie die Hoffnung auf ihrer Seite haben, weil sie sich ihre Visionen nicht haben nehmen lassen:
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Jiri Ruml vom Bürgerforum in Prag, Bärbel Bohley vom Neuen Forum in Ost-Berlin, Juliane Matrai vom FIDESZ in Budapest, Yuri Karjakin von der Memorial-Gruppe in Moskau, Kazik Wojcicki vom Bürgerkomitee in Warschau. Und ich möchte das mal ganz persönlich sagen: Ich bin stolz darauf, daß ich all ihnen ein Freund sein darf.
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Und was ist ihre wirkliche Vision? Es ist eine Vision von einem gemeinsamen Europa, einem Europa, das den Nationen einen gleichberechtigten Platz läßt. Und ich würde mir wünschen, daß wir eine klare Antwort geben könnten auf ihre Frage. Ihre Frage, an uns gerichtet, heißt: Wird es uns gemeinsam gelingen, in West und in Ost, die nationalen Sprengsätze der Vergangenheit zu entschärfen? Das ist die Frage, die demnächst viel deutlicher gestellt werden muß.
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Wäre es dabei nicht die Aufgabe besonders der Deutschen in beiden deutschen Staaten, der Nation einen neuen Sinn zu geben, den der Offenheit? Sollten wir nicht e i n Europa wollen, das jeder kulturellen Strömung Schutz bietet und zugleich grenzenlos ist für farbenfrohe Mischungen? Das sind die Entwürfe von György Konrad und Jorge Semprun, von Jewgenij Jewtuschenko und Günter Grass, von Andrzej Wajda und Christa Wolf. „Wir sind der verbale Kontinent", sagt György Konrad. Noch sind wir es. Wir können aber ein Kontinent des Friedens werden. Seine tragenden Pfeiler im Osten sind dissidente Gruppen. Sie waren Ausdruck einer neuen Legitimität noch in der Illegalität. Jede Gesellschaft - das ist auch an Sie von der CDU gerichtet; hören Sie an diesem Punkt gut zu - braucht diejenigen, die querdenken,
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braucht diejenigen, die eine andere Vision vom Leben haben als die, die nur vom Industrialismus geprägt ist. Diese Menschen brauchen auch wir im Westen Europas, weil wir gemeinsam ein neues, ein ziviles Europa über die Grenzen unseres Kontinents hinweg aufbauen wollen.
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Wo ist denn unsere Antwort auf die Revolution im Osten Europas? Wo ist unsere Korevolution? Wann endlich befreien wir die Europäische Gemeinschaft von den vordemokratischen Fesseln, die eher aus dem 19. Jahrhundert stammen als auf das Jahr 2000 gerichtet sind?
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Wo bleibt unsere demokratische Revolution für die von uns selbst tödlich verletzte Natur? Wo ist unsere Bereitschaft, einen Teil des Reichtums den 800 Millionen Menschen zu geben, die heute auf dieser Erde noch Hunger haben müssen, den 40 000 Kindern, die täglich sterben müssen, nur weil wir ihnen nichts zu essen geben und weil wir in einem unglaublichen Rüstungswettlauf Waffe auf Waffe türmen?
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Was wir in diesen späten Wochen des Jahres 1989 erleben dürfen, ist das Erwachen eines neuen Europas. Die Zivilisierung der Macht ist der Schlüssel für dieses neue Europa. Die Ökologisierung der Wirtschaft ist seine Notwendigkeit, die Demokratisierung seine Bedingung. Ich frage uns alle: Sind wir Europäer dazu bereit, unseren konzeptionellen, unseren konstruktiven Beitrag dazu zu leisten, daß dieser Kontinent Europa endlich zu dem werden kann, zu dem er wirklich werden könnte, zu einem Kontinent des Friedens? Streiten wir doch lieber darum, wer den besseren Weg für dieses Europa hat, und gemeinsam mit denen, die im Osten aufgebrochen sind, daß dieser Kontinent eine andere Zukunft hat als die, die wir ihm bislang gegeben haben. Darüber könnten wir streiten. Ich vermisse - das muß ich ehrlich sagen - den Beitrag der Konservativen zu dieser Vision, zu dieser Zukunft, zu einem anderen Europa als dem,
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Weisskirchen ({15})
was wir bislang aus diesem Kontinent gemacht haben.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache zum Einzelplan 27.
Der Abgeordnete Stratmann hat gebeten, eine Erklärung zur Abstimmung über den Einzelplan 27 abgeben zu können. Ich erteile ihm das Wort gemäß § 31 unserer Geschäftsordnung.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger!
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Ich werde den Einzelplan 27 ablehnen. Aber ich möchte die Begründung meiner Fraktionskollegin Frieß zurückweisen. Die Anerkennung der DDR ist gerade in der jetzigen Situation angezeigt. Das bedeutet jedoch nicht die Forderung nach Zweistaatlichkeit für alle Zeiten. Eine wachsende Zahl von GRÜNEN, zu denen ich auch gehöre, sieht in der Einheit der Deutschen, auch in der staatlichen Einheit, mehr politische Chancen als Gefahren. Wir suchen einen Weg der deutschen Einheit, der der Bevölkerung der DDR eine eigenständige, selbstbestimmte Entwicklung garantiert und sie nicht einem Mehrheitsvotum von 60 Millionen Bundesbürgern unterwirft. Wir wollen auf die Ängste vieler Nachbarn vor einem militärisch starken Deutschland antworten, indem eine deutsch-deutsche Abrüstung eine Initiativrolle für den gesamteuropäischen Abrüstungsprozeß wahrnimmt. Wir wollen keinen neutralistischen Sonderweg Deutschlands, sondern, wenn aus den waffenstarrenden Frontstaaten BRD und DDR Kooperationsund später Konföderationspartner werden, dann wird die deutsch-deutsche Einigung den Prozeß beschleunigen können, der zur Auflösung der Militärblöcke NATO und Warschauer Pakt und zur Schaffung einer neuen gesamteuropäischen Friedensordnung führt. Wir wollen schließlich, daß ein sich einigendes Deutschland ein freundschaftliches Verhältnis zu Polen entwickelt. Dazu gehört wesentlich, daß den Polinnen und Polen Ängste vor Deutschland dadurch genommen werden, daß die Oder-Neiße-Grenze von den Deutschen de facto und de jure als deutsch-polnische Grenze anerkannt wird.
Danke schön.
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Meine Damen und Herren, wir kommen nun zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nr. XVI. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Änderungsantrag ist abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 27. Wer stimmt für den Einzelplan 27 - Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen - in der Ausschußfassung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Einzelplan ist mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen.
Ich rufe auf:
Einzelplan 05
Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts - Drucksachen 11/5555, 11/5581 Berichterstatter:
Abgeordnete Dr. Rose Hoppe
Frau Vennegerts
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5748 bis 5751 ({0}) und ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nr. II vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nachdem jetzt der Etat des Auswärtigen Amtes aufgerufen ist, ist zunächst darauf hinzuweisen, daß die Bundesrepublik Deutschland in einem Gesamtbudget von 300 Milliarden DM für das Jahr 1990 etwa ein Prozent, nämlich etwa drei Milliarden DM für auswärtige Angelegenheiten vorsieht; das ist die vorletzte Zahl. Von diesen drei Milliarden ist etwa ein Drittel, nämlich eine knappe Milliarde, für die auswärtige Kulturpolitik bestimmt.
({0})
An den Zahlen läßt sich also der Stellenwert der Außenpolitik wohl kaum ablesen.
Das jetzt ablaufende Jahr 1989 sollte nach dem Willen des Deutschen Bundestages vom vergangenen Jahr daran erinnern, daß vor 50 Jahren von deutschem Boden Krieg ausging und daß vor 40 Jahren nach der Niederschlagung der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft eine stabile Demokratie mit einem Grundgesetz bei uns aufgebaut wurde, das die Menschen- und die Freiheitsrechte in den Vordergrund allen politischen Handelns stellt.
Die Bundesrepublik Deutschland wurde als antifaschistischer Staat gegründet und hat als Leitlinie ihrer politischen Kultur zu beachten, daß es ihr aufgegeben ist, zur friedlichen Entwicklung in Europa und in der Welt beizutragen. Nun, meine Damen und Herren, ist Europa in Bewegung geraten. Konnte zur diesjährigen Europawahl in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft, also auch bei uns, noch Europamüdigkeit diagnostiziert werden, zumal ja das direkt gewählte Europaparlament im Sinne der parlamentarischen Demokratie immer noch wenig Kompetenzen und Rechte besitzt, so scheint in diesen Tagen eher eine Europaeuphorie ausgebrochen zu sein. Selbstbestimmungsrecht für alle Staaten und für alle Völker in Europa beginnt sich durchzusetzen. Es gibt die Chance, festgefügte Freund-Feind-Verhältnisse zu überwinden und starres Blockdenken bei der internationalen Zusammenarbeit zu beseitigen, den Kalten Krieg durch eine neue Architektur eines europäischen
Hauses zu ersetzen. Insgesamt also gute politische Voraussetzungen für ein friedliches Miteinander, das nicht frei sein wird von Konflikten, das aber von Waffengeklirr und von Gewaltandrohung frei sein könnte.
Auf vielen Gebieten, meine Damen und Herren, können wir als Opposition im Deutschen Bundestag die Außenpolitik der Bundesregierung, die für die Bundesrepublik Deutschland betrieben wird, mittragen. Mit Sorge sehen wir, daß es innerhalb der Regierungskoalition Versuche gibt, hier und da eine Nebenaußenpolitik zu betreiben.
({1})
Das gilt hinsichtlich der hier in den letzten Wochen und Monaten zur Sprache gekommenen Infragestellung der polnischen Westgrenze ebenso wie gegenüber einer nicht konsequenten Antiapartheidspolitik in Südafrika.
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Im letzten Falle kommen politische Grundsätze offenbar immer dann ins Wanken, wenn wirtschaftliche Interessen durch menschenrechtliche Erwägungen gestört werden könnten. Nach wie vor gibt es die Bemühungen der Hafenstädte Rotterdam, Bremen, Bremerhaven und Hamburg zu einer wirtschaftlichen und politischen Boykottpolitik gegenüber dem südafrikanischen Rassismusregime. Nach wie vor hat das Europaparlament Sanktionsbeschlüsse gegen Südafrika gefaßt, nach wie vor sperrt sich aber auch der Ministerrat der Europäischen Gemeinschaft, die Handelsbeziehungen zwischen Europa und Südafrika spürbar zu treffen. So sehr wir es begrüßen, daß in Namibia und Angola durch UNO-Vermittlung Fremdbestimmung abgelöst wurde und die Tür geöffnet ist, um dort zu menschenwürdigeren Verhältnissen und Selbstbestimmung zu gelangen, so sehr fordern wir darüber hinaus eine glaubwürdige Politik gegenüber dem Apartheidsstaat Südafrika.
({3})
Wir begrüßen es, daß in den beiden vergangenen Jahren das Auswärtige Amt gegenüber Chile eine Haltung eingenommen hat, die auch wir im großen und ganzen so tragen können. Wir hoffen, daß übermorgen in vierzehn Tagen das chilenische Volk in freien und geheimen Wahlen in Ausübung seiner Selbstbestimmung die dort über sechzehn Jahre währende Diktatur ablöst. Wir unterstützen die Bundesregierung, wenn danach mit einem wieder demokratischen Chile vertrauensvolle, dem Geist der friedlichen Zusammenarbeit und der Beachtung der Menschenrechte entsprechende Beziehungen gestaltet werden. Wir wollen dazu beitragen, die helfende Hand anzubieten und unsere Solidarität mit dem chilenischen Volk zu beweisen und auch nach diesem Schritt der Rückkehr zur Demokratie fortzusetzen.
({4})
Wir hoffen auch, daß dann neue Schritte unternommen werden können, um Probleme deutscher Staatsbürger zu lösen, die in der sogenannten Deutschen Siedlung, genannt „Colonia Dignidad" festgehalten werden und immer noch ihrer Freiheitsrechte beraubt sind.
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Die neue Entwicklung, meine Damen und Herren, in Europa hat sich nun aber schon weit vor dem 9. November dieses Jahres angedeutet. Die Bundesregierung hat gegenüber Polen, gegenüber der Sowjetunion, gegenüber Ungarn und gegenüber anderen osteuropäischen Staaten durch Regierungsmitglieder Angebote gemacht und u. a. kulturelle Zusammenarbeit angeboten. Dies alles findet unsere grundsätzliche Zustimmung.
Um so verwunderter mußten wir feststellen, daß entsprechende Vorkehrungen im Bundesetat und im Regierungsentwurf des Budgets 1990 nicht oder höchst unzureichend getroffen wurden.
({6})
Das gilt ganz besonders für den Bereich der auswärtigen Kulturpolitik. Da werden Goethe-Institute in Moskau, Warschau, Sofia und Budapest gegründet oder erweitert;
({7})
da werden Stipendienprogramme und Ausbildungsprogramme zugesagt, und dann findet sich im Etat des Auswärtigen Amtes zunächst nichts oder nur sehr wenig von den schönen Versprechungen.
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Wenn Europa in Bewegung gerät, kann nicht der Haushalt unserer außenpolitisch und kulturpolitisch wirksamen Aktivitäten in starrer Bewegungslosigkeit verharren.
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Neue Aufgaben, am europäischen Haus mit friedlichen und kulturellen Mitteln zu bauen, setzen die Zurverfügungstellung entsprechender zusätzlicher Baumaterialien voraus.
Meine Damen und Herren, die Haushaltspolitiker aller vier Fraktionen dieses Hauses haben zwar versucht, wenigstens einiges nachzubessern und einiges von diesen Baumaterialien nachzuliefern. Aber dies konnte gegen den Widerstand des Bundesfinanzministers nur unzulänglich gelingen.
So ist zu befürchten, daß z. B. Goethe-Institute in Osteuropa ihre von uns verlangte Arbeit nur unzureichend aufnehmen können, und es ist zu befürchten, daß Erwartungen, die wir geweckt haben, enttäuscht werden.
({10})
So ist ebenfalls die Sorge berechtigt, daß andere Mittlerorganisationen und Kulturstiftungen an der Enge der Haushaltsansätze für kulturelle Außenpolitik verzweifeln werden. Eine Politik des „Weiter so" im Haushalt des Auswärtigen Amtes können wir nicht mittragen.
({11})
Wir halten es für wichtig und für notwendig, neue und größere Anstrengungen zu unternehmen, und dies nicht nur in Europa, um die Begegnung von Menschen und die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern, Forschern, Künstlern und Lernenden mit einer erheblichen Ausweitung der kulturellen Möglichkeiten und Mittel voranzutreiben und die dazu notwendigen Umschichtungen im Bundeshaushalt vorzunehmen.
Meine Damen und Herren, Herr Bundesminister, wir erkennen auch die großen, weit über jegliche Dienstvorschrift hinausgehenden Bemühungen vieler kleiner und großer diplomatischer Vertreter, wenn ich das so sagen darf - es sind nicht nur die Botschafter oder die Missionschefs, es sind alle Bediensteten - in den Botschaften in Prag, Budapest und Warschau im Sommer dieses Jahres gegenüber den DDR-Flüchtlingen an und danken ausdrücklich für deren Einsatz rund um die Uhr, mit dem sie Ehre für die Bundesrepublik Deutschland eingelegt haben.
({12})
Die Bundesregierung scheint in Kürze einen Gesetzentwurf für den auswärtigen Dienst vorlegen zu wollen.
({13})
Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen eigenen Entwurf bereits im Sommer dieses Jahres in den Bundestag eingebracht. Einige hämische Pressemeldungen veranlassen mich, folgendes festzuhalten:
Erstens. Es wird darum gehen, die Aufgaben eines modernen auswärtigen Dienstes zu beschreiben und daraus die Konsequenzen für die Rechtsverhältnisse der Bediensteten in unseren Auslandsvertretungen und ihrer mit ihnen im Ausland lebenden Familienangehörigen zu ziehen.
({14})
Es geht nicht um Sonderbesoldung oder um Besoldungserhöhungen allgemeiner Art.
Zweitens. Wohl aber müssen besondere Nachteile ausgeglichen werden, die dadurch entstehen, daß sich Beschäftigte für ein ganzes Berufsleben verpflichten müssen, sich jederzeit an einen beliebigen Dienstort im Ausland versetzen zu lassen, was gleichzeitig seine oder ihre Familie mit trifft.
Drittens. Auch die Ehepartner oder Ehepartnerinnen leisten im Ausland im Interesse der Bundesrepublik Deutschland Dienste, die nicht vergütet werden und auch nicht vergütet werden sollen, aber sie müssen gleichzeitig in den meisten Fällen auf eine eigene Berufstätigkeit und eine eigene Alterssicherung aus Arbeitsverhältnissen heraus verzichten. Hier passen die im Inland geltenden Dienstvorschriften nicht.
Viertens. Deshalb werden wir uns nach einer gründlichen Beratung einer angemessenen Lösung nicht versagen, die notwendige Regelungen auf Gesetzesbasis schafft, ohne zu einer Besoldungsordnung für Diplomaten zu führen.
Meine Damen und Herren, ich habe mich bewußt auf einige wenige positive und negative Beispiele beschränkt. Die SPD-Bundestagsfraktion will mit ihrem Abstimmungsverhalten hervorheben und deutlich machen, daß wir im Bereich der Außenpolitik eine andere Haltung einnehmen als in anderen Bereichen unserer Oppositionspolitik gegenüber der Bundesregierung. Bei vielen außenpolitischen Themen kann der Bundesaußenminister mit unserer Unterstützung rechnen.
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Andererseits können wir den Etat des Auswärtigen Amtes und auch den Einsatz des Bundesaußenministers selbst für eine wirksamere und spürbare positive Veränderung seines Etats nicht als zureichend betrachten. Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den Einzelplan 05 der Stimme enthalten.
Vielen Dank.
({16})
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Rose.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Angesichts der außenpolitischen Sensationen dieses insgesamt ereignisreichen Jahres 1989 kann man trotz einer Debatte über den Etat des Außenministeriums nicht einfach haushälterisch von Zahlen und Planstellen reden. Ich möchte deshalb in meinem Beitrag zur zweiten Lesung drei Schwerpunkte setzen: erstens unsere Antwort auf die Freiheitsrufe aus Osteuropa, zweitens unsere Chancen einer friedlicher werdenden Entwicklung im südlichen Afrika und drittens als Fortsetzung zu einer europäischen Friedensordnung auch unseren Beitrag zu einer neuen Weltfriedensordnung, die ihren sozialistischen Fehlgeschmack verloren hat.
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Trotzdem sollen auch die Zahlen nicht unter den Tisch fallen. Immerhin sind durch die Beratungen im Haushaltsausschuß und durch das Engagement der Berichterstatter strukturelle Verbesserungen erreicht worden.
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Sie eröffnen neue Chancen. - Ich bedanke mich, daß Herr Koschnick sagt, das ist wahr. Es ist tatsächlich wahr, weil wir z. B. noch den chinesischen Stipendiaten geholfen haben und eine Reihe anderer Forderungen, die auch vom Fachausschuß vertreten wurden, umgesetzt haben, weil wir auch innerhalb des Parlaments ein angenehmes Klima wünschen.
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Daß dies unter der Verantwortung der CDU/CSU und der FDP erfolgte, betone ich gerne. Die freundliche Unterstützung durch die Opposition, Herr Kollege Waltemathe, war natürlich nicht unwillkommen.
War ursprünglich im Regierungsentwurf eine Steigerung der Ausgaben des Auswärtigen Amtes gegenüber dem Vorjahr um 2,8 % bei einer Steigerung des Gesamthaushalts um 3,4 % vorgesehen, so hat der Haushaltsausschuß beim Auswärtigen Amt noch fast
49 Millionen DM draufgelegt, so daß sich dort eine neue Steigerung um 4,5 To ergibt, während die Steigerung des Gesamtetats durch Sparmaßnahmen auf 3,0 % zurückgefahren wurde, was die positive Entwicklung beim Auswärtigen Amt besonders auffallend macht. Mit nunmehr gut 3 Milliarden DM kann sich das Auswärtige Amt um wesentliche Politikbereiche kümmern. Wir wünschen Ihnen, Herr Bundesminister, und Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern dazu viel Erfolg.
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Bei der Stellenausstattung bekommt das Amt im Vergleich zum Vorjahr seinen Zuschlag von 75 Stellen plus 1 Stelle beim Deutschen Archäologischen Institut. Allein 23 Stellen können für den Auf- und Ausbau der neuen Auslandsvertretungen in Windhuk in Namibia, in Ulan-Bator in der Mongolei und in Fünfkirchen, oder soll ich noch ungarisch Pécs sagen, in Ungarn verwendet werden. In den letzten vier Jahren wurden insgesamt 393 Stellen dem Auswärtigen Amt zugedacht. Mit über 6 300 Mitarbeitern ist unser Außenministerium auf die veränderten Zeiten gut eingestellt.
Ich muß eine Bemerkung zum Personalrat machen. Daß der Personalrat trotzdem noch Wünsche hat, ist verständlich. Über Sinnvolles kann man auch in den kommenden Jahren reden.
Sinnvoll könnte nicht nur sein, deutsch-französische Gemeinschaftsbotschaften wie in Ulan-Bator und in Gaborone einzurichten, sondern sinnvoll könnte auch sein, die deutsch-deutsche Gemeinsamkeit im Ausland zu manifestieren. Zumindest bei Kultureinrichtungen könnte das neue Bild eines gemeinsamen Deutschlands, also ein neuartiges Deutschlandbild, gefördert werden.
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Meine Damen und Herren, 1978 besuchte der damalige Kremlchef Leonid Breschnew die Bundesrepublik. Es ist interessant, einmal zurückzuleuchten, vor allen Dingen auf das, was damals Franz Josef Strauß bei der anschließenden Aussprache im Deutschen Bundestag insbesondere zur aufkeimenden Euphorie sagte; denn wann immer ein Chef aus Moskau nach Deutschland kam, war man ja voller Hoffnung. Strauß sagte:
Der Silberstreif muß am Horizont sichtbar und nicht am Fernrohr angebracht sein.
Im Schlußteil seiner denkwürdigen Rede äußerte er:
Nur eine Zielorientierung darf nicht verlorengehen: Es gibt ein russisches Volk, und es gibt ein deutsches Volk. Und bei keiner Gelegenheit . . . habe ich mich anders geäußert, als daß man mit der künstlichen Legende aufhören soll, daß die Deutschen von heute aus zwei Nationen bestehen. Es gibt keine zwei deutschen Nationen, auch wenn die Deutschen 1949, schnell vorweggenommen, in zwei Staaten eingeteilt worden sind. Es gibt nur eine deutsche Nation. Und vielleicht ist das, was ich heute sage, sozusagen nur ein Proömium, ein Vorwort zu einem Kapitel der Geschichte, das geschrieben werden muß. Wenn Rußland,
- so fährt Strauß fort gleichgültig unter welchem System und heute unter dem Kommunistischen Machtsystem, wenn die Führer des Kreml endlich begreifen, daß eine Änderung ihrer Haltung und Politik zu Deutschland in seiner Gesamtheit eine Wende herbeiführen würde, bei der wir viele Sorgen, aber auch sie viele Sorgen loshätten, wenn sie einmal über den Graben dieser Ideologie, dieser zum Teil pervertierten Geschichtsphilosophie springen könnten, wenn sie begreifen würden, daß eine gerecht behandelte freie deutsche Nation ein dankbarer, gerechter, freundschaftlich verbundener Partner sein wird, dann würden viele andere Sorgen wie Berlin in den Müllkorb der Geschichte gehören. Darauf müssen wir hinarbeiten!
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Meine Damen und Herren, das ist - vorhin sagte jemand: Gott hab' ihn selig! - wirklich die Vision von Franz Josef Strauß auf Grund des Besuchs eines Parteichefs gewesen, die sich heute in geradezu phantastischer Weise erfüllt.
Ich meine, der Müllkorb der Geschichte, von dem Strauß gesprochen hat, wird gerade gefüllt: mit den Steinen der Berliner Mauer, mit ideologischem Ballast und mit den Überresten der sozialistischen Murkswirtschaft. Der Müllkorb wird dann beiseite gestellt werden und als überholt vergessen sein, obwohl er im Archiv zur Erinnerung an die Irrläufer der Geschichte eigentlich bleiben sollte.
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Denn wäre es nach Breschnew gegangen, dann hätte es zwar auch ein Gesamteuropa gegeben, aber kein „europäisches Haus" mit frischer Luft in allen Zimmern und mit pluraler Demokratie, sondern mit einer „Pax sovietica" , die auch in Westeuropa ein afghanisches Abenteuer erzwungen hätte. Der Standhaftigkeit des Westens war es zu verdanken, daß alles anders kam und daß von einem echten friedvollen Europa gesprochen werden kann. Dazu, meine Damen und Herren, muß aber noch viel geschehen. Um nochmals mit Strauß zu sprechen: Der Silberstreif am Horizont ist sichtbar, ein goldenes Prag oder überhaupt goldige Zeiten müssen aber erst noch erschuftet werden.
Während Polen und Ungarn nämlich pluralistische Demokratien westlichen Zuschnitts anstreben, sind manche Politiker in der DDR und in der CSSR dem Wunschbild eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" verhaftet. Wann immer ich dieses Wort höre, sage ich: Ich habe nichts gegen ein menschliches Antlitz. Aber ist diese Redewendung erstens nicht das Eingeständnis, daß die bisher so gepriesenen „Errungenschaften des real existierenden Sozialismus" unmenschlich sind? Ist diese Redewendung zweitens nicht der Versuch, erneut eine sozialistische Käseglocke über alles zu stülpen und darauf zu hoffen, daß nur ein freundlicheres Gesicht den angestauten Mief vergessen läßt?
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Das dürfte nicht Ziel der Massenbewegung von Leipzig, Berlin oder Prag sein.
Freiheit heißt, das freie Wort zuzulassen. Aus dem freien Wort wird die Vielfalt, aus der Vielfalt des Wortes wird das freie Denken, daß 40 Jahre Sozialismus eben auch 40 Jahre der Gewaltherrschaft bezeichnen. Kardinal Tomasek aus Prag, den ich übrigens in den letzten Jahren mehrmals treffen durfte, hat gerade für diese Worte, nämlich daß 40 Jahre Sozialismus 40 Jahre der Gewaltherrschaft sind, starken Beifall beim Volk in Prag bekommen.
Er, aber auch besonders Kulturschaffende waren und sind es, die Freiheit und Gewalt am besten einordnen können. So hat auch ein Wissenschaftler aus Dresden um Hans Modrow für die Verbreitung des Spruchs gesorgt: Um das elektrische Licht zu erfinden, war es sinnlos, die Kerze zu verbessern. Das gilt auch für den Sozialismus.
Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was kann unser Beitrag sein, den Nachbarn im östlichen Mitteleuropa auf ihrem Weg zur Freiheit und zum Wohlstand zu helfen? Nach den Ausführungen beim Kanzleretat, wo es um Wirtschaft, Politik und vieles andere mehr ging, beschränke ich mich auf die Möglichkeiten im kulturellen Bereich.
Hier hat sich Gott sei Dank ein weites Feld aufgetan. Während man uns bis vor kurzem noch einzureden versucht hat, daß alles Deutsche verpönt sei, daß, wenn überhaupt, nur der sozialistische Deutsche ein guter Deutscher sei, rufen jetzt dieselben Leute „Verrat!", weil angeblich nicht schnell genug gehandelt wird.
In der Begleitung zur Haushaltsaufstellung gab es tatsächlich reichlich schrille Musik. Besonders der Betriebsrat des Goethe-Instituts beklagte sich in seinem September-Schreiben an alle Bundestagsabgeordneten - Herr Kollege Waltemathe hat es etwas verändert gerade erwähnt - , daß die Bundesregierung verlangt habe, in Moskau, Warschau, Sofia oder auch Washington Goethe-Institute nahezu ohne Personal zu eröffnen.
Tatsache ist, daß in allen osteuropäischen Hauptstädten der Kulturbetrieb anlaufen kann, daß er dann noch ausgebaut wird und daß auf ihn Hoffnungen gesetzt werden. Mit den lautstark geforderten 63 Stellen wurde es zwar für 1990 noch nichts, weil noch nicht einmal die entsprechenden Gebäude gefunden wurden; in Moskau geht es nicht so schnell wie in einem freien Land.
Die Mittel sind vielleicht auch deshalb nicht so leicht geflossen, weil für den großen Neubau in München Mittel gebunden sind und das Geld nicht so ohne weiteres fließen kann.
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Bekanntlich verschlingt dieser Bau 55 Millionen DM und belastet natürlich den Haushalt in den nächsten Jahren ebenfalls.
Aber auch die tatsächlich genehmigten Stellen bieten Gewähr, daß die kulturelle Begegnung beginnen kann. Manche Kritiker sind zwar der Meinung, daß man mit schwacher Besetzung gar nicht anfangen solle. Die Praxis zeigt jedoch, daß eine stellenschwache Besetzung noch lange nichts mit fehlender Aufbaustärke zu tun hat. Statt zu lamentieren heißt es jetzt reüssieren, heißt es Weichen stellen, heißt es Linien ziehen. Das kann ich vom Goethe-Institut nur fordern.
({9})
Meine Damen und Herren, ich stelle auch mit Freude fest, daß das Goethe-Institut auf den ost-mitteleuropäischen und osteuropäischen Sprachenmarkt überhaupt drängt. Ich erinnere mich sehr wohl an eine Debatte über die deutsche Sprache in der Welt. Vor noch nicht allzu langer Zeit hörte man aus verschiedenen linksliberalen Kreisen, daß jeder, der nach mehr Förderung der deutschen Sprache ruft, ein Chauvinist oder gar Nationalist ist.
({10}) Jetzt hat sich das Bild gewandelt.
({11})
Ich hoffe auf diesen Wandel auch bei der Präsentation des Deutschlandbildes. Unsere Nachbarn im Osten haben sich sowieso schon ihr Bild gemacht. Das bewiesen sie nicht zuletzt durch ihre Abstimmung mit den Füßen.
In den nächsten Jahren kommt es darauf an, die kulturellen Verbindungen ebenso eng zu knüpfen wie die wirtschaftlichen oder politischen. Unsere Hoffnung ist, daß sie ebenso selbstverständlich werden wie die Beziehungen zu unseren westlichen Nachbarn. Kulturabkommen zwischen den Staaten sind gut; Kulturbegegnungen zwischen den Menschen, ohne den Staat fragen zu müssen, sind besser.
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In diese Richtung müssen wir arbeiten.
Meine Damen und Herren, das gilt für alle Bereiche. Auch Begegnungsschulen stehen auf der Wunschliste. Die wissenschaftliche Zusammenarbeit mittels der Alexander-von-Humboldt-Stiftung oder des Deutschen Akademischen Austauschdienstes ({13}) muß ausgebaut werden. Vor allem wird es auch darauf ankommen, daß private Einrichtungen wie Agenturen oder Verlage ohne schwerfällige Bürokratie unmittelbare Kontakte knüpfen. Erst dann ist von Normalisierung, von gutnachbarlicher Beziehung zu sprechen, die uns allen so sehr am Herzen liegt.
Osteuropa, unsere östlichen Nachbarn, fordert uns.
Es ist aber nicht bloß von Polen, Ungarn oder der Tschechoslowakei die Rede. Ich meine, auch das rumänische Volk sollte von diesem neuen Luftstrom mitgerissen werden. Als Vorsitzender der deutsch-rumänischen Parlamentariergruppe appelliere ich an dieses stolze Volk, in Europas Geschichte einer freiheitlich friedlichen Zukunft nicht zu spät zu kommen.
({14})
Übrigens hat Rumänien vor rund zehn Jahren als erstes sozialistisches Land in Europa ein bundesdeutsches Kulturinstitut zugelassen. Dieses sollte aber mit
viel mehr Leben erfüllt werden. Die Deutschen in Rumänien könnten wieder eine wertvolle Brücke bilden.
Bei aller Freude über die Möglichkeiten in Europa dürfen wir andere Problemfelder unserer Außenpolitik nicht übersehen. Dazu zählt nach wie vor das südliche Afrika und jetzt besonders Namibia.
({15})
Dort will sich die Bundesrepublik besonders engagieren und auch Mittel bereitstellen,
({16})
geht es doch um eine friedlichere Zukunft in der Region und vor allem um die etwa 30 000 Deutschen oder Bürger deutscher Abstammung im ehemaligen Südwest-Staat.
Die Wahlen in Namibia sind zwar vorbei, aber die drängenden Fragen sind geblieben.
({17})
Die Unabhängigkeit ist noch nicht vollzogen, und die SWAPO wird wegen ihres Wahlergebnisses auch noch lernen müssen, mit anderen demokratischen Parteien die Zukunft gemeinsam zu gestalten.
({18})
Von einem marxistischen Einheitsstaat wollten die Leute dort jedenfalls nichts wissen. Hoffentlich konnten dort, auch wenn es weit weg ist, inzwischen Fernsehbilder aus Osteuropa begutachtet werden, damit der Irrweg zur Freiheit über den Sozialismus erspart bleibt.
({19})
Mit Hoffnung erfüllt, daß die Republik Südafrika offensichtlich ihren Frieden mit der Entwicklung in Namibia geschlossen hat. Zumindest hatte Staatspräsident de Klerk geäußert, man werde auf der Grundlage gutnachbarschaftlicher Beziehungen zusammenarbeiten,
({20})
um Frieden und Wohlstand auf dem Subkontinent zu fördern. Man kann das diesem Gebiet nur wünschen, aber nicht bloß Namibia, sondern auch den anderen Frontstaaten. Hoffentlich meint Nujoma nicht, den bisherigen Krieg aus dem Norden des Landes und aus Angola in den Süden und jenseits des Oranje tragen zu müssen.
({21})
Einige Äußerungen dieser Art sind leider schon gefallen.
({22})
Die Bundesregierung bleibt aufgerufen, mit ebensolcher Konsequenz die Friedenserhaltung zu verlangen, wie sie die Friedenserreichung durch die UNO unterstützt hat. Die bekanntermaßen guten Beziehungen des deutschen Außenministers mit dem SWAPOChef können dazu hoffentlich genutzt werden.
({23})
Darüber hinaus brauchen wir für dieses Gebiet die gleiche Begeisterung wie für unsere östlichen europäischen Nachbarn. Wirtschaftliche Hilfe, der Aufbau von Bildungsstätten, die hochschulpolitische Zusammenarbeit und die Unterstützung beim Flechten demokratischer Strukturen dürfen nicht am Geld scheitern.
({24})
Es ist gut, daß die Bundesregierung bei der Entsendung von Blauhelmen über ihren Schatten sprang. Sie sollte auch bei der Hilfe für die Zukunft eines jungen Staates alles Bisherige in den Schatten stellen.
({25})
In Namibia haben wir die Chance, in anderen Regionen der Welt leider nicht.
Mit Entsetzen muß man die Lage im Libanon verfolgen, mit Ärger und Wut die momentane marxistische Expansion in Zentralamerika, und auch andernorts gibt es Leid und Elend, die uns nach wie vor fordern.
Wir hoffen, daß der Abbau der Ost-West-Spannungen Freiräume bietet, um in den anderen Problemregionen auf dem Weg zu einer gesicherten Zukunft voranzukommen. Das können die Deutschen nicht allein schaffen; das soll auch lieber in internationaler Verflechtung geschehen. So wie Rüstungskontrolle und Abrüstung ein universales Thema sind, so muß auch die Weltfriedensordnung multilateral angestrebt werden.
({26})
Dabei geht es nicht ohne gewisse Gravitationsf elder. Eines davon ist bekanntermaßen die Europäische Gemeinschaft. Sie arbeitet trotz mancher Probleme freundschaftlich mit einem anderen Machtzentrum in der Welt zusammen, nämlich mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken strebt die fruchtbare Zusammenarbeit mit der EG sowie mit den USA an. Die Gravitationsfelder Japan, die ASEAN-Staaten und Südasien sind inzwischen in diese Kooperation einbezogen.
Mit dem großen Maghreb taucht ein neues arabisches Zentrum vor den Toren der Gemeinschaft auf. Das südliche Afrika entwickelt sich und rückt näher. Weitere Gravitationsfelder ließen sich am Golf oder in Südamerika ausmachen.
Sie alle gehören in den Rahmen der Rüstungskontrollverhandlungen der UNO. Nur wollen das leider noch nicht alle. Doch die zunehmend kleiner werdende Welt mit ihren zunehmend größer werdenden globalen Themen wird dieses Ergebnis erzwingen. Es kommt um so mehr darauf an, daß in offener, freier Gesinnung miteinander und nicht übereinander diskutiert wird.
({27})
Das Jahr 2000 war für manche Pessimisten der Zeitpunkt der Apokalypse, des Untergangs. Die Ost-West-Entwicklung, auch die UNO- oder UNESCOFortschritte erlauben inzwischen ganz andere Hoffnungen. Die Bundesrepublik Deutschland, alle Deutschen, können diese Hoffnungen nur verstärken. UnDr. Rose
sere Verantwortung als anerkannte Industrienation ist groß. Wir müssen uns ihr stellen.
Dazu haben wir u. a. das Instrument unseres auswärtigen Dienstes. Hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bestimmten und bestimmen die Themen z. B. bei der KSZE, bei der KVAE, bei MBFR oder bei SALT. - Das sind zwar alles Fachausdrücke, aber unter den Diplomaten bekannt. - Die Diplomatie erlebt überall besondere Herausforderungen.
Sie dürfen sicher sein, Herr Bundesminister, daß das deutsche Parlament Ihnen bei diesen Herausforderungen den Rücken stärkt. Mit dem Haushalt 1990 erfolgt dazu ein weiterer Schritt.
Wenn dann auch noch das Gesetz über den auswärtigen Dienst, wie vorgesehen, zu Beginn des Jahres 1990 über die Bühne geht, maßvoll, wie es inzwischen geworden ist, damit vernünftig, damit auch durchsetzbar, damit auch in Bezug zu den anderen Ministerien entsprechend gestaltbar, wenn also auch dieses Gesetz über den auswärtigen Dienst verabschiedet sein wird, bin ich sicher, daß eine gute deutsche Außenpolitik für die 90er Jahre und das Ende dieses Jahrtausends gesichert und gewährleistet ist.
Auf diesem Weg unterstützen wir von der CDU/CSU unsere Bundesregierung.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lippelt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Herbstwochen erleben wir zum zweitenmal in der Geschichte Eurpoas einen „Völkerfrühling". Damals, vor 150 Jahren, als dieses Wort aufkam, vergewisserten sich die Völker Ostmitteleuropas erstmals ihrer nationalen Identität. Sie wollten heraus aus dem Völkergefängnis jener Habsburger Monarchie, die für die Urenkel, aufgewachsen unter weit schärferen Repressionen einer Einparteienherrschaft, heute oft schon nostalgische Züge bekommen hat.
In diesen Herbstwochen des zweiten „Völkerfrühlings" haben wir schon zum zweitenmal den großartigen Akt einer gewaltfreien Revolution erlebt, den Akt der Selbstbefreiung einer Gesellschaft. Während noch an jedem Montag abends in Leipzig die Geschichte einer wirklich demokratischen DDR geschrieben wird, ist die Geschichte schon zu jenem Platz im Herzen Europas zurückgekehrt, auf dem vor 21 Jahren so viel begann: dem Wenzelsplatz in Prag.
Wir haben dieser Tage Alexander Dubcek neben Václav Havel erlebt, den jungen Priester Václav Maly neben Kardinal Tomasek. Wir haben gestern erlebt, wie den Schülern, den Studenten, der Bevölkerung von Prag sich die Arbeiter des ganzen Landes angeschlossen haben. Wir erinnern uns an all die vielen, die damals, vor 21 Jahren, für die Sache der Demokratie und der Freiheit standen, und nennen für sie alle nur zwei: Josef Smrkovsky und Frantisek Kriegel, den einzigen, der dem ungeheuren Druck in Moskau widerstand und nichts unterschrieb. Wir erinnern uns an die, die später, in den Jahren der sogenannten Normalisierung, die Fackel hochhielten, und nennen auch für sie zwei: Jan Patocka, den Philosophen, der für die Charta 77 einstand und nach demütigenden Verhören durch den Staatssicherheitsdienst starb, und Jan Palach.
Wir freuen uns mit all denen, die in all den Jahren unbeugsam blieben und Verhör und Gefängnis immer wieder über sich ergehen lassen mußten, und nennen für sie: Jiri Hajek, Václav Havel, Jaroslav abata, Anna abatova. Indem wir sie nennen, erinnern wir uns auch daran, daß im August 1968 in Moskau einige Dissidenten gegen den Einmarsch sowjetischer Truppen in Prag Transparente hochhielten, einige wenige Augenblicke, bis die allgegenwärtigen Sicherheitsdienste sie abgeschleppt hatten. Wir nennen für diese: Larissa Bogoras, Pavel Litwinow und Andrej Sacharow.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, die Geschichte ist an ihren Ausgangspunkt zurückgekehrt. Dieser Tage hat sich Gorbatschow erstmals auch zu dem zentralen Anliegen des Prager Frühlings bekannt und erklärt, ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz sei auch das Ziel seiner Politik. Die Abgeordneten des Obersten Sowjets, die ihn begleiteten, haben ausgesprochen, daß es an der Zeit sei, daß auch das Moskauer Parlament den damaligen Einmarsch in die Tschechoslowakei verurteile.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich habe auf diesen großen Zusammenhang eingehen wollen, weil ich denke, daß wir Deutschlandpolitik nicht losgelöst von diesem Kontext betrachten dürfen.
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40 Jahre gemeinsamer Geschichte der DDR mit den Nationen Ostmitteleuropas können ebensowenig geleugnet werden wie zuvor die Jahrhunderte gemeinsamer deutscher Geschichte. Es muß uns darum gehen, daß dieser Gesamtzusammenhang der mittelosteuropäischen Reformbewegung nicht zerreißt. Er ist aber bedroht.
Die wirtschaftliche Lage Polens in diesem Winter ist weit schwieriger als die der DDR. Die Lage in der Sowjetunion ist noch gefährlicher. Die Perestroika stagniert; die Nationalitätengegensätze verschärfen sich; in Transkaukasien ist längst der Bürgerkrieg ausgebrochen.
Es mag ja sein, daß das uns über Mitterrand und über „Le Monde" überlieferte Wort Gorbatschows, daß sich noch an dem Tage, an dem eine deutsche Wiedervereinigung angekündigt werde, ein Sowjetmarschall auf seinen Sessel setzen werde, übertrieben ist. Es mag ja auch sein, daß der Appell, den Gorbatschow am Tage des Mauerdurchbruchs an die EG-Ministerkonferenz richtete, nämlich nochmals die Unantastbarkeit der Grenzen in Europa zu bekräftigen, d. h. konkret auch die Doppelstaatlichkeit, keinen großen Widerhall bei den westeuropäischen Kollegen gefunden hat. Trotzdem ist die Verkündung nun gar eines Stufenplans zur Wiedervereinigung nicht nur eine unerträgliche Anmaßung gegenüber der noch um politische Artikulation ringenden Opposition in der DDR; sie ist gerade auch gegenüber der Gesamtdemokratiebewegung unverantwortlich.
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Dr. Lippelt ({2})
Wenn sich der Bundeskanzler - das sei angefügt - hier so deutlich dafür ausspricht, das Selbstbestimmungsrecht der DDR zu achten, und sich zugleich auf Gespräche mit der Opposition beruft, so muß ich sagen: Ja, es gibt im breiten Spektrum der Opposition auch solche Stimmen, aber die große Mehrheit der Opposition denkt anders. Vor allem besteht sie darauf, daß man ihr Zeit läßt zur unbeeinflußten eigenen Meinungsbildung. Der Hinweis des Bundeskanzlers auf die Differenzierungsprozesse in der SED war insofern verräterisch, als es in der Tat in der Funktionärsschicht der SED die Tendenz gibt, lieber die Allianz mit der Regierung hier zu suchen als die mit dem eigenen Volk.
Ich habe selten Anlaß, einem Gedanken des Bundeskanzlers zuzustimmen. Aber richtig war doch, was er in Lublin sagte und hier heute wiederholte, daß nämlich ohne den langen Kampf um die Demokratie in Polen und in Ungarn die Entwicklung in der DDR nicht möglich gewesen wäre.
Nun trägt der Bundeskanzler einen 10-Stufen-Plan zur Wiedervereinigung vor. Er trägt ihn einige Tage vor dem Malta-Gipfel Gorbatschows und Bushs vor,
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bei dem die deutsche Frage gewiß oben auf der Agenda stehen wird und bei dem Bush nach eigenen Aussagen vor allem der Perestroika helfen will. Ob so etwas jetzt bei so schweren anderen Sorgen in die internationale Politik hineinzugeben richtig ist und so klug ist, das mag der Außenminister dann beurteilen.
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- Ja, ich weiß, daß es um Ihre Fraktion ging.
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Wenn man sich nämlich fragt, warum dieses jetzt kommt, so ist der Zusammenhang mit der Lafontaine-Diskussion zu offensichtlich. Lafontaine hat zu Recht darauf hingewiesen, welche Probleme aus der gemeinsamen deutschen Staatsbürgerschaft auf uns zukommen. Sie in der CDU können sich dieser Einsicht natürlich auch nicht verschließen. Sie wissen das natürlich auch. Statt sich mit dem Problem ehrlich auseinanderzusetzen, treten Sie mit dem Bundeskanzler die Flucht nach vorn an, übertönen die Probleme mit dem Schlagwort „Wiedervereinigung". Das heißt, Sie machen das, was Sie mit diesem Thema immer gemacht haben, Sie nutzen es zu innenpolitischer Konsumtion.
Der Wahlkampf wirft seine Schatten voraus. Es wird ein Wahlkampf der nationalen Agitation werden ohne jede Rücksicht auf die Demokratiebewegung in Osteuropa und auf Kosten einer klugen Außenpolitik in Westeuropa, die unser Außenminister doch sonst immer so überzeugend vertritt.
Zeit, um zu differenzieren und um nachzudenken, scheint die Regierung ohnehin nicht zu haben. Sie hat es auch nicht fertiggebracht, für den hier zu verabschiedenden Haushalt noch eine tiefgreifende Anderungsvorlage zu machen, mit der wir auf die historischen Veränderungen Osteuropas und die großen auf uns zukommenden Aufgaben durch eine dramatische Umschichtung von Aufgaben und Mitteln reagieren könnten. So deckt sie alle Probleme mit dem Schlagwort „Wiedervereinigung" zu, und so verabschieden Sie einen anachronistischen Haushalt. Wo sind die tiefen Einschnitte in den Militäretat, die nötig wären, nicht nur um die Vertrauensbildung in Europa zu vertiefen, sondern auch um die Mittel zu gewinnen, die wir jetzt für Osteuropa brauchen? Wo ist die Reorganisation der Einnahmeseite? Statt dessen stellt der Bundeskanzler weitere Steuererleichterungen für die Wirtschaft in Aussicht, all das aus dem strotzenden Selbstbewußtsein: Die Wirtschaft ist der Motor der Politik.
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Sie dürfen sich nicht wundern, wenn dann vor dem Hintergrund permanenter struktureller Handels- und Zahlungsbilanzüberschüsse in den Staatskanzleien in Ost und West Zurückhaltung gegenüber der von Ihnen proklamierten Politik entsteht. Weil die Bundesregierung unsicher ist, und dies im Grunde alles weiß, betont sie immer wieder, wir müßten uns um so stärker der westeuropäischen Integration verschreiben, damit auch nicht der Hauch von Mißtrauen gegen einen Sonderweg, den sie jetzt doch geht, aufkommt. Auch wir wollen wahrhaftig keinen deutschen Sonderweg. Aber auf den Widerspruch möchten wir hinweisen, daß eine vertiefte Westintegration einem gleichberechtigten Verhandeln über gesamteuropäische Institutionen im Wege steht. Der Stufenplan macht das sehr deutlich. Stufe 7: Die EG kann sich ja nach Osten bis zum Ural ausdehnen. Stufe 8: Der KSZE-Prozeß wird unterstützt. Neue institutionelle Reformen europäischer Zusammenarbeit können entwickelt werden. Wäre es umgekehrt, Herr Bundesaußenminister, nicht sinnvoller? Muß man nicht erst über den Grundriß Europas sprechen, wenn man sich nicht dem Verdacht aussetzen will, nur auf die Macht von durch wirtschaftliche Stärke geschaffenen Tatsachen zu setzen?
Die Geschichte kennt Phasen glücklicher Entwicklung. Sie sind oft kurz, und sie sind immer von Rückschlägen bedroht. Wir möchten den Prozeß der Wiedergewinnung Europas, den Prozeß der großen demokratischen Reformbewegung ganz Osteuropas zu seinem Ziel kommen lassen. Wir möchten keinen Sonderweg, wie ihn der 10-Stufen-Plan der Bundesregierung gerade gefährlich entwirft.
Eine Nachbemerkung: Herr Außenminister, meine Kollegin Frau Eid hat Sie auf einen anderen Fall eines deutschen Sonderwegs angesprochen, mit dem sich die Bundesregierung in die internationale Isolierung begeben hat. Wir erwarten darauf von Ihnen eine Antwort. Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der UNO-Resolution? Werden die Firmen IKL und HDW gerichtlich verfolgt? Glauben Sie, daß mit dieser UNO-Resolution die außenpolitischen Beziehungen der Bundesrepublik erheblich geschädigt sind? Wir erwarten die Antworten heute.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie zum Einzelplan des Innerdeutschen Ministeriums Frau Frieß, so hat sich auch Herr Lippelt mit seinem Beitrag zum Einzelplan des Auswärtigen Amtes in das Abseits gestellt. Ich kann ihn da nur stehen lassen.
Meine Damen und Herren, auf dem Felde der Außenpolitik begann das Jahr 1989 mit einem erfreulichen Auftakt. Das KSZE-Schlußdokument von Wien verhieß den Menschen in Osteuropa mehr Freizügigkeit und die Verbesserung der Menschenrechte. Es brachte auch eine neue Dynamik in die Deutschlandpolitik. Dies wurde vom Deutschen Bundestag in der gemeinsamen Entschließung vom 15. März 1989 aufgearbeitet. An der so wichtigen Thematik der Menschenrechte orientiert, fanden die Parteien zu einer als sensationell empfundenen Gemeinsamkeit zurück, wie sie 1984 zum erstenmal im Deutschen Bundestag auf diesem Feld zustande kam.
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1989 wird als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem Europa begonnen hat, die Fesseln abzulegen, mit denen es nach zwei Weltkriegen durch ideologische und militärische Konfrontation seinen Handlungsspielraum viele Jahre eingeengt hatte.
In Polen ist zum erstenmal ein nichtkommunistischer Regierungschef gewählt worden. Die Reise des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers nach Polen hat den deutsch-polnischen Beziehungen einen wichtigen Impuls gegeben.
Die Freien Demokraten begrüßen nachhaltig das vereinbarte Programm zur Intensivierung der wirtschaftlichen, finanziellen, technologischen und ökologischen Kooperation.
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Es wird jetzt darauf ankommen, diese Vorhaben so bald wie möglich zu realisieren, damit Polen über die schwierige Anfangsphase des Reformprozesses hinwegkommt. Dazu bedarf es nicht nur der bilateralen Hilfe durch die Bundesrepublik, sondern auch der tatkräftigen Unterstützung durch die übrigen westlichen Staaten und durch internationale Organisationen. Die Bundesrepublik wird ihr Gewicht in diesen Institutionen für dieses Ziel einzusetzen haben.
Das gleiche gilt für Ungarn. Auch die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei ist bereit, eine pluralistische Demokratie mit Parteienvielfalt sowie rechtsstaatlichen Prinzipien zu akzeptieren. Die Verwirklichung der Menschenrechte ist für die Ungarn bereits heute eine Realität, die nicht auf die eigenen Staatsbürger beschränkt wird. Ungarn ist der Flüchtlingskonvention beigetreten und wendet sie nach Geist und Buchstaben an.
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Wir haben der ungarischen Regierung Dank zu sagen für die wahrhaft großherzige, unbürokratische Regelung der Übersiedlung von Deutschen aus der
DDR, die über Ungarn den Weg in die Freiheit gesucht haben.
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Die Freien Demokraten begrüßen deshalb die beabsichtigte Reise des Bundeskanzlers nach Ungarn noch in diesem Jahr und erwarten, daß es einen zusätzlichen Impuls zur Intensivierung der deutschungarischen Zusammenarbeit geben wird.
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21 Jahre nach der Unterdrückung des Prager Frühlings durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Pakts hat nun auch die Bevölkerung der Tschechoslowakei die Initiative ergriffen. Auch sie fordert Freiheit und Demokratie. Die umfassende Unterstützung dieser Freiheitsbewegung durch das Volk hat die tschechoslowakische Führung schließlich zum Rücktritt gezwungen. Wir freuen uns mit den Menschen, daß sich nunmehr auch in ihrem Land Freiheit und Demokratie durchsetzen.
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Auch die Entscheidung der Führung der DDR, die Grenzen zu öffnen, wurde letztlich durch den landesweiten Protest und nicht zuletzt durch diejenigen erzwungen, die den Weg über Polen, die Tschechoslowakei und Ungarn in die Bundesrepublik gesucht haben.
Meine Damen und Herren, die sich aufhellende europäische Landschaft vermittelt Hoffnungen, Chancen und neue Aufgaben für die Zusammenarbeit zwischen Ost und West. Dies galt es auf dem Feld der auswärtigen Kulturpolitik anzupacken und in die Tat umzusetzen. Herr Kollege Waltemathe, deshalb hatte ich in der ersten Lesung des Haushalts bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, die aus den neuen Aufgaben bei den Kultureinrichtungen entstehenden Mehrbelastungen auch finanziell abzusichern.
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Die damals geäußerte Hoffnung, daß wir im Einvernehmen auch mit dem Bundesfinanzministerium eine adäquate Lösung finden werden, hat sich in erfreulicher Weise erfüllt. Mit dem jetzt vorliegenden Entwurf sind wir für die im Kulturbereich auf uns zukommenden Aufgaben der 90er Jahre gerüstet. Die neuen Möglichkeiten in Mittel- und Osteuropa können aktiv genutzt werden.
Unsere kulturellen Aktivitäten in der Sowjetunion werden ausgebaut und erstrecken sich jetzt auch auf Polen und Ungarn. Die neuen Goethe-Institute in Osteuropa können ihre Arbeit aufnehmen. Die notwendige Personalausstattung für die Anlaufphase ist gesichert. Aber selbstverständlich werden künftige Haushalte in dem Maße, in dem die jetzt angepackten Aufgaben wachsen, zu einem weiteren Ausbau beitragen müssen.
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Meine Damen und Herren, die Sonne scheint nun aber, so scheint es mir, auch auf die Angehörigen des auswärtigen Dienstes selbst, die in den letzten Wochen und Monaten wahrlich gefordert waren. Aber
der Kabinettsbeschluß über das Gesetz über den auswärtigen Dienst steht nun unmittelbar bevor. Die Kummerfalten sind geglättet, und es fügt sich, daß dieses Gesetz am Ende eines für den auswärtigen Dienst arbeitsreichen, aber doch für die Außenpolitik so erfolgreichen Jahres fast den Charakter eines Weihnachtsgeschenks bekommt,
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auch wenn es, meine Kollegen, wie wir ja wissen, erst im nächsten Jahr Gesetz werden kann. Aber so, wie wir jetzt auf diese Aufgabe eingestellt sind, wird es auch Gesetz werden.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stobbe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß sagen, daß die Debatte heute morgen über den Kanzleretat bei mir viele Erinnerungen freigesetzt hat, die auch jetzt - nach nun schon fast neun Stunden Debatte - noch nicht abgeklungen sind. Da hat die Bundesrepublik Deutschland jetzt also wieder einen Plan, einen Zehn-Punkte-Plan für die Deutschlandpolitik. Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik nun weiß Gott nicht der erste. Aber Bundeskanzler Kohl hat die Frage der Einheit, über die wir heute hier so viel und zu Recht diskutieren, an das Ende eines Prozesses gesetzt, an dem alle Europäer teilnehmen müssen, um die Spaltung des Kontinents zu überwinden.
Dabei ist mir in Erinnerung gekommen, daß das nicht immer so war. Ich darf an die Debatten in den 50er und 60er Jahren in diesem Haus erinnern. In diesen Debatten ging es darum, daß die Wiedervereinigung gerade von der CDU zur Voraussetzung, ja, zur Vorbedingung dafür gemacht wurde, daß sich in Europa irgend etwas bewegen sollte. Erst sollte der große Schritt für die Deutschen gegangen werden; dann mochte das andere kommen.
Ich erinnere mich gleichzeitig daran, daß wir Sozialdemokraten uns damals, Ende der 60er Jahre, mit unserer Ostpolitik für den anderen Weg, für den langen, den schwierigen Weg, den mühsamen Weg des europäischen Interessenausgleichs über die Politik der kleinen Schritte entschieden haben. Ich erinnere mich auch noch daran, welch leidenschaftliche Diskussion das hier im Bundestag und im ganzen deutschen Volk ausgelöst hatte und wieviel Widerstand dem entgegengesetzt wurde.
Nun setzen wir uns also mit dem heutigen Plan auseinander. Wenn ich das so geschichtlich sehe, dann muß ich sagen: Bei dieser Seite des Deutschen Bundestages ist doch ganz schön viel deutschlandpolitischer Realismus eingekehrt. Ich glaube auch, daß er uns Deutschen guttun wird, weil wir jetzt konkret Schritt für Schritt weiterarbeiten können, und zwar immer im europäischen Verbund; denn sonst versteuern wir uns eh.
Deshalb hat die SPD durch ihren Sprecher Karsten Voigt ja auch im Prinzip zugestimmt. Ich glaube, da wir uns jetzt hier im Bereich der Außenpolitik befinden, daß sich das, was da an gemeinsamer Kraft generiert werden könnte, positiv auf bestimmte Aufgaben der Außenpolitik, die ich als ganz dringlich ansehe, auswirken kann. Denn wir wissen doch, daß wir Deutsche von dem Demokratisierungsprozeß in Osteuropa aus zwei Gründen in ganz besonderer Weise betroffen sind: wegen der Verantwortung, die uns unsere Geschichte auferlegt, und wegen der Teilung unseres Landes.
Die Bundesrepublik Deutschland muß sich deshalb, was die Außenpolitik angeht, intensiver als andere westliche Staaten für eine weitsichtige und weitgreifende Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft und des gesamten westlichen Bündnisses einsetzen. Das ist meine These. Die Bundesrepublik Deutschland muß gerade jetzt wie auch am Beginn der Ostpolitik in den 60er Jahren um eine kluge und um Verständnis werbende Westpolitik bemüht sein, weil die vor uns stehenden Aufgaben nur in engster Abstimmung mit unseren Freunden zu meistern sein werden, weil es sich eben um eine gesamteuropäische und nicht nur um eine deutsche Aufgabe handelt.
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Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb in den vergangenen Tagen Gespräche in Washington und in einer Reihe von europäischen Hauptstädten geführt, um ihre eigene Position dort darzulegen und die Einschätzungen der dortigen Regierungen und Parlamente kennenzulernen.
Wir müssen es uns ja wohl ganz nüchtern eingestehen: Die Demokratiebewegung in Osteuropa löst in Westeuropa und gerade auch in Amerika Begeisterung aus. Aber die Osteuropäer finden im Westen, wenn es materiell konkret wird, bislang nur sehr zögerlich Antworten. Die Bundesrepublik ist in einer Vorreiterrolle, zumindest gegenüber Polen und Ungarn.
Ich denke, wir könnten uns im Bundestag sehr leicht darauf verständigen, daß es darauf ankommt, darauf hinzuwirken, daß sich der gesamte Westen in diesem Prozeß engagiert, und zwar durchaus auch materiell, und daß der Westen mit der Formierung seiner Politik gegenüber den Demokratiebestrebungen in Osteuropa und deren wirtschaftlicher Abstützung nicht so lange warten darf, wie er auf die Abrüstungsinitiativen Gorbatschows gewartet hat. Das darf jedenfalls nicht passieren.
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Bislang sind die Ansätze im Westen trotz Gipfels und anderer Dinge also noch keineswegs fest.
Aber es gibt auch einiges, was ich ausdrücklich begrüßen möchte. Es ist z. B. begrüßenswert, wenn die amerikanische Administration erklärt, daß der Westen die Entwicklung in Osteuropa sicherheitspolitisch nicht gegen die Sowjetunion ausnutzen werde. Diese kluge Zurückhaltung, die wohl nicht jeder in der Bundesrepublik von den USA erwartet hat, wenn man an die Rhetorik früherer Jahre zurückdenkt, schafft nach meiner Meinung ein Stück notwendiger Ost-West-Stabilität, die dem Demokratisierungsprozeß in Osteuropa zugute kommen wird.
Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Art und Weise, wie das Gipfeltreffen im Mittelmeer vorbereitet wird, nimmt den Europäern in West und Ost die Befürchtung, sie könnten durch zweiseitige Abmachungen der Supermächte überrascht oder gar überrannt werden, wie das in der Vergangenheit ja gelegentlich der Fall war.
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- Ich dachte, ehrlich gesagt, weniger an Reykjavik. Als Berliner dachte ich an Wien und an Kennedy und Chruschtschow.
Was in Malta besprochen werden wird, wird eben nicht Jalta sein, auch wenn sich die beiden Namen reimen. Jedenfalls gilt doch: Ein funktionierender und immer breiter angelegter Dialog zwischen den Supermächten ist die erste Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung des Friedens und gerade auch für die sich jetzt so stark abzeichnende Chance, das Zusammenwachsen der europäischen Staaten voranzubringen. Deswegen müssen wir unseren Einfluß auf die USA und, wenn es geht, auch auf die Sowjetunion so wahrnehmen, daß aus diesem Superdialog möglichst viel Gutes gerade auch für Europa herauskommt. Denn wenn Europa aus der neu entstandenen Lage etwas Gutes für die Zukunft machen will, dann muß es zuallererst daran interessiert sein, daß der Ost-WestAbrüstungsprozeß weitergeht, und zwar aus sicherheitspolitischen wie aus ökonomischen Gründen.
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Die SPD ist in Washington für eine quantitative und qualitative Akzeleration des Abrüstungsprozesses eingetreten.
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Das gilt einmal für das START-Abkommen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dieses Abkommen zwar in erster Linie das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten berührt, daß es aber natürlich auch seine sicherheitspolitischen Rückwirkungen auf Europa hat. Es wäre für uns alle wünschenswert, wenn in Malta politische Fortschritte für das anvisierte START-Abkommen erzielt würden.
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Das gilt natürlich auch und erst recht für die konventionelle Abrüstung. Da erwarten wir alle, daß Wien im nächsten Jahr einen großen Fortschritt bringt in der Beseitigung der Asymmetrien bei den Streitkräften beider Bündnisse.
Für mich war es wichtig, in der vergangenen Woche in Washington mitzuerleben, daß die Bereitschaft dort wächst, bereits jetzt und nicht erst, wenn das erste Abkommen geschlossen oder gar implementiert ist, darüber nachzudenken, wie man in eine zweite Stufe gehen könnte, wenn es denn zu den echten Reduzierungen kommt.
Ich will hier nur darauf hinweisen, daß die Ankündigungen des amerikanischen Verteidigungsministers über Kürzungen in Höhe von 180 Milliarden Dollar im Verteidigungshaushalt der USA im Verlauf von fünf Jahren wohl den Wandel deutlich machen, der heute auch in den USA in dieser Frage eingetreten ist.
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Mir liegt daran, den Bundestag zu erinnern, daß die SPD-Bundestagsfraktion hier ihre Schularbeiten gemacht hat. Wir sind, glaube ich, die einzige Fraktion in diesem Haus, die ein „Sicherheitskonzept 2000" vorgelegt hat, wo wir unsere Vorstellungen für Reduzierungen und Umstrukturierungen der Streitkräfte in Europa darlegen. Es war interessant, zu sehen, daß die SPD mit diesem Konzept in den Vereinigten Staaten Diskussionspartner und Gesprächspartner findet.
Für die westliche Sicherheitspolitik muß jedenfalls eines klar sein: Der Abrüstungsprozeß in Europa und die dadurch freizusetzenden Ressourcen sind eine weitere entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche gesamteuropäische Zusammenarbeit.
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Lassen Sie mich hier anfügen: Die SPD hat immer klargemacht und tut es hier heute wieder, daß ihrer Auffassung nach die von der NATO in Aussicht genommene Modernisierung von atomaren Kurzstrekkenraketen schon immer falsch war, aber in das heutige Europa nun schon überhaupt nicht mehr paßt.
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Auch hier ist nicht versteckte Aufrüstung, sondern Abrüstung notwendig.
Meine Damen und Herren, auch die weitere konzentrierte Arbeit am Helsinki-Prozeß bleibt eine unbedingte Notwendigkeit für den gesamten Westen. Dabei muß und kann die wirtschaftliche Dimension dieses Prozesses in dem Maße in den Vordergrund rücken, in dem die Freiheitsfrage zunehmend gelöst wird.
Bei der Wahrnehmung dieser wirtschaftlichen Aufgabe deuten sich innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft bedeutsame Veränderungen an, auf die ich ausdrücklich aufmerksam machen will. Präsident Bush selbst hat vorgeschlagen, daß die EG die Koordinierung der wirtschaftlichen Hilfe für Polen und Ungarn übernehmen solle. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß das, was die Vereinigten Staaten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als unbestrittene Weltwirtschaftsmacht Nummer eins mit dem Marshallplan gegenüber Westeuropa leisteten, hinsichtlich der Umstrukturierungshilfen für Osteuropa jetzt zu einer Aufgabe für die EG wird. Darin drückt sich eine Anerkennung der westeuropäischen Integrationsleistung durch die USA aus und auch eine Anerkennung der EG als politischer Akteur in der Weltpolitik. Wir Sozialdemokraten möchten hoffen und wünschen, daß die EG dieser Aufgabe auch wirklich gerecht wird.
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Wir möchten uns auch bei der Beratung dieses Etats ausdrücklich dazu bekennen, daß der westeuropäische Integrationsprozeß weitergeführt, nicht etwa angesichts der neuen Lage in Osteuropa abgebremst wird. Allerdings fügen wir hier etwas hinzu - wir hoffen, daß die Bundesregierung uns hört - : Dieser Integrationsprozeß muß den Berg der noch ungelösten
Probleme auch wirklich bewältigen und darf vor allen Dingen nicht einseitig verlaufen. Wir brauchen die Schaffung einer Sozialcharta. Wir müssen in den Währungsfragen weiterkommen. Wir müssen die EG vor allen Dingen demokratisieren, z. B. dadurch, daß die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament gestärkt wird.
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Undenkbar für mich wäre, daß wir in eine Situation hineinlaufen, in der die EG Partner sich entwickelnder Demokratien in Osteuropa wird, aber selbst Demokratiedefizite hat.
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Meine Damen und Herren, die EG und die NATO, wenn sie denn zu einer einheitlichen Osteuropa- oder Ostpolitik kommen, müssen von einer möglichst einheitlichen Bewertung der Entwicklungen ausgehen, die sich im Warschauer Pakt abspielen. Heute wissen wir, daß Gorbatschow einer Transformation des Sicherheitskordons, wie ihn Stalin konzipierte und brutal durchsetzte, nicht nur keine Steine mehr in den Weg legt, sondern sie sogar bewußt fördert.
Von Stalin bis Breschnew war die sowjetische Politik gegenüber den kleineren Warschauer-Pakt-Staaten durch vier Kernelemente gekennzeichnet: erstens durch die Sowjetisierung der Gesellschaften der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten, zweitens durch die sowjetische Garantie der Monopolstellung der kommunistischen Parteien, drittens durch die Sicherung dieser Gesellschaftssysteme mit der Sowjetarmee, notfalls im Wege der Intervention, und viertens durch die Sicherung des territorialen Status quo in Europa mit den sowjetischen Streitkräften.
Wir sind inzwischen in einer Situation, in der die ersten drei dieser vier Kernelemente weggefallen sind. Wir müssen uns fragen, ob Moskau das nur toleriert, hinnimmt oder ob diese Umformung von Stalins Sicherheitsgürtel in Moskau einkalkuliert und rational verarbeitet wurde. Ich glaube, das letztere ist der Fall; darauf deuten alle Anzeichen hin.
Aus der Sicht Moskaus sollen und können die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten eine Brückenfunktion zu den EFTA-Staaten Europas und zur EG hin erhalten. Die heutige sowjetische Führung weiß ganz offensichtlich, daß die westlichen Demokratien gar nicht anders können, als den demokratischen Transformationsprozeß in Europa aktiv zu unterstützen, vor allem wirtschaftlich, versündigten sie sich nicht an ihren eigenen Wertevorstellungen. Ein solcher Unterstützungsprozeß liegt heute im sowjetischen Eigeninteresse, weil die Sowjetunion ihren Weg aus der wirtschaftlichen Selbstisolierung finden muß und über eine solche Brücke den wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen besser organisieren kann als innerhalb des bestehenden RGW-Systems. Das, was Sie, Herr Außenminister, vorhin in der Debatte dazu gesagt haben - daß wir die Sowjetunion bei der Kooperation gerade im wirtschaftlichen Bereich nicht aus dem Blick nehmen dürfen - , kann man nur voll unterstützen.
Meine Damen und Herren, was ist das, wenn wir den Warschauer Pakt heute betrachten und die letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen, für eine Veränderung innerhalb weniger Jahre! Die Chancen, die sich daraus ergeben, sind größer als die Risiken, die es natürlich auch gibt. Wir haben allen Grund, uns zu freuen. Wir sollten die Aufgaben, die vor uns liegen, in einem wahrhaft europäischen Geist angehen. Die Sozialdemokratie sieht das so. Sie verweist dabei nicht ohne Stolz auf den Beitrag, den sie dazu geleistet hat, daß diese Entwicklung in Europa möglich wurde.
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Durch kluge Analyse der Entwicklungen in Polen und Ungarn und auch durch Instinkt wissen die Menschen in der DDR, was die gegenwärtige Lage in Europa hergibt und was nicht. Dem entspricht ihre Konzentration auf die Durchsetzung von politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Veränderungen in der DDR selbst. Denn sie wissen nur zu genau, daß das vierte Kernelement sowjetischer Politik, die militärische Sicherung des territorialen Status quo oder auch, anders ausgedrückt, der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, aufrechterhalten bleibt, wenn auch erklärtermaßen verbunden mit der Bereitschaft zu tiefgreifender Abrüstung.
Wir müssen uns hier im Deutschen Bundestag darüber im klaren sein, wenn wir über die Zukunft der Deutschen sprechen, daß dieses vierte Kernelement sowjetischer Politik gegenüber Osteuropa die Frage der deutschen Einheit direkt berührt. Die Mauer war das brutale Symbol des kalten Krieges; aber sie wurde auf einer politischen Demarkationslinie errichtet, die nicht der Kalte Krieg geschaffen hat und dessen Ende wir jetzt hoffentlich erleben, sondern der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg.
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Sie ist eine Folge der Nachkriegsabmachungen zwischen den vier Siegermächten. Das heißt also, daß die politischen Demarkationslinien in Deutschland, in Berlin fortbestehen. Diese sind auch durch den Freiheitskampf der Menschen in der DDR nicht so ohne weiteres aufzuheben.
Die Forderung Gorbatschows, daß auch eine veränderte DDR Teil des Warschauer Pakts bleiben müsse, drückt die Aufrechterhaltung dieser vierten Säule der sowjetischen Nachkriegspolitik gegenüber Osteuropa klar und deutlich aus. Die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in Ost und West stößt hier an eine politische Grenze, deren Überwindung jedenfalls nicht jetzt und, wenn überhaupt, was ich hoffe, dann in einer noch weiter veränderten europäischen Landschaft möglich ist.
In welchem Sinne die Deutschen dann ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen, ob im Sinne einer Aufrechterhaltung von zwei deutschen Staaten, im Sinne einer Konföderation oder im Sinne der Herstellung einer staatlichen deutschen Einheit bis zur OderNeiße-Grenze, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, welches neue Sicherheitssystem für Europa gefunden wird
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und ob bis dahin die europäischen Staaten in Ost und West demokratisch und wirtschaftlich im Sinne einer gesamteuropäischen Integration zusammengewachsen sind.
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Ein solcher Prozeß läßt sich heute nicht nur konzeptionell entwerfen, sondern bereits auch aktiv verfolgen. Aber wir wissen - und das wurde heute in dem Zehn-Punkte-Plan deutlich - , daß bis zu seiner Vollendung Zeit vergehen wird. Deshalb konzentrieren sich die Bürger der DDR heute zu Recht auf die Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik und nicht so sehr auf die Wiederherstellung der staatlichen deutschen Einheit; das sehen sie möglicherweise als eine Abfolge.
Dabei liegt aber auf der Hand - auch das muß deutlich sein -, daß mehr Freiheit in der DDR automatisch mehr Einheit der Nation mit sich bringt. Die Reisefreiheit hat es zutiefst bewegend demonstriert. Wenn es zur Vertragsgemeinschaft oder gar zur Konförderation kommt, wird ebenfalls größere Einheit folgen, auch wenn sie gar nicht anders konzipiert werden kann als auf der Grundlage von zwei deutschen Staaten.
Wie es dann mit den Deutschen weitergeht, hängt entscheidend davon ab, ob die NATO und ob der Warschauer Pakt als Bündnisse mit zunehmend politischen Aufgaben - mal ein bißchen die rein militärische Sichtweise der Dinge zurückstellend - , ob eine so strukturierte NATO und ein so strukturierter Warschauer Pakt es schaffen, für Europa ein Sicherheitssystem zu konzipieren und zu installieren, das der politischen Demarkationslinien im Sinne von Jalta, im Sinne der Sicherung von politischen Einflußzonen durch Großmächte eben nicht mehr bedarf. Dieses Sicherheitssystem kann nur nach den Kriterien gemeinsamer Sicherheit ausgerichtet sein.
Wir Sozialdemokraten verweisen auch hier auf die Denkanstöße, die wir konsequent seit Jahren in die europäische Debatte eingebracht haben.
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Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben diese Grundlinien deutscher Außenpolitik seit vielen Jahren vertreten und wissen uns erfreulicherweise in Übereinstimmung mit dem Außenminister, der den Einzelplan 05 hier im Deutschen Bundestag vertritt. Wir werden uns bei der Abstimmung als Oppositionspartei der Stimme enthalten. Wir werden dem Etat unsere Zustimmung aber auch deshalb nicht geben, weil wir in anderen Feldern der Außenpolitik kritische Anmerkungen zu machen haben. Herr Waltemathe hat einige Punkte genannt; ich will jetzt auf Grund der Zeit nur noch auf zwei weitere Themen eingehen.
Herr Außenminister, am kritischsten sehen wir bei Ihnen die seltsam entschlußlose und oft gar nicht mehr einsehbare Haltung zu Rüstungsexportgeschäften der deutschen Wirtschaft. Ich sage „uneinsehbar", weil sich hier eine Gefährdung der deutschen Außenpolitik und ein Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Welt auftun, die doch mit Händen zu greifen sind und denen Sie als Minister dennoch seltsam unschlüssig und abwartend, ja, in einem Fall sogar abwiegelnd gegenüberstehen.
So war z. B. die Feststellung des Auswärtigen Amtes, es sei nach dem Verkauf der U-Boot-Blaupausen durch die bundeseigene Firma HDW und durch IKL kein außenpolitischer Schaden entstanden, aus meiner Sicht einfach unverantwortlich. Mußte es denn dazu kommen, Herr Minister, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgefordert wird, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen die Beteiligten einzuleiten? Werden Sie das denn jetzt veranlassen, oder werden Sie im Kabinett darüber sprechen? Ist das jetzt etwa kein außenpolitischer Schaden?
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Die letzte Frage - ich weiß, ich muß zum Schluß kommen - : Wie steht es mit den fortlaufenden Hinweisen der amerikanischen Administration an die Bundesregierung und an Ihr Amt - man spricht von etwa 1 000 Demarchen - zu der Beteiligung deutscher Firmen an politisch gefährlichen Waffenexporten? Ich frage: Wie haben Sie die bearbeitet? Falls Sie das Wort ergreifen, könnten Sie vielleicht auch noch etwas zu möglichen Beschlüssen des Bundessicherheitsrates über den Verkauf von U-Booten nach Israel, den wir ablehnen, sagen. Falls sich da Ihre Auffassung gewandelt haben sollte, Herr Außenminister, würden wir das auch als einen sehr starken Minuspunkt in Ihrer Außenpolitik ansehen. Die Opposition hat eben die Pflicht, auf solche Punkte hinzuweisen und nicht nur die Übereinstimmungen herauszustellen, was ich allerdings auch getan habe, und zwar gerne.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Wende von den 80er zu den 90er Jahren ist von einer Umstrukturierung der europäischen Nachkriegsordnung gekennzeichnet. Zugleich herrscht allerdings in weiten Kreisen der Dritten Welt ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Unstabilität, es herrschen Hunger, Verzweiflung, Vertreibung, Ausbeutung und Bürgerkriege. Die Bundesrepublik befindet sich am Ende der 80er Jahre in einer Situation, in der sie sich der ersten Chance zu einer tatsächlichen europäischen Friedensordnung gegenübersieht. Auch wenn die Bundesregierung aus notdürftig verhüllter nationalistischer Gier, wie sie heute deutlich wurde, diese Chance vermutlich verspielen wird - von diesem Vorwurf möchte ich Sie, Herr Genscher, ausdrücklich ausnehmen - , so ist heute die Chance doch noch vorhanden, zumindest heute noch.
Anders stellt sich die Lage jenseits des europäischen Tellerrandes dar: Dort ist von Frieden zwar manchmal die Rede, aber er wird gerade in der Dritten Welt sicher nicht zum Ausbruch kommen. Die Morde an den sechs Priestern in El Salvador durch das dortige Militär, der nicht enden wollende Bürgerkrieg im Libanon, die Kriege gegen die Kurden in der Türkei, dem Iran und dem Irak sind nur einige Beispiele für
das noch vorhandene Potential an Konflikten und für die blutigen Arten ihrer Austragung.
Die Beiträge der bundesdeutschen Außenpolitik zu den skizzierten Problemen sind zum einen kläglich gering, zum anderen geradezu schädlich und kontraproduktiv. Ich kann hier nur ein Beispiel ausführlich nennen: Die Türkei ist ein Land, das an der Nahtstelle zu einem der explosivsten Konfliktfelder in der Welt liegt, dem Nahen Osten und dem Mittleren Osten. Die Türkei ist ein Land, das außerdem durch ein ungeheures Maß an Repression, an Verletzung der Menschenrechte gekennzeichnet ist, eine demokratisch verkleidete Militärherrschaft. Die Türkei führt politisch und militärisch Krieg gegen die kurdische Minderheit in ihrem Land. Und die Türkei ist ein Land, in dem gerade zur Zeit ein neues, gigantisches Programm militärischer Aufrüstung durchgesetzt werden soll, nämlich 10 Milliarden US-Dollar für die Verstärkung der eigenen Rüstungsindustrie in den nächsten Jahren. Das ist für ein Entwicklungsland keine Kleinigkeit.
Was tut die Bundesregierung angesichts dieser explosiven Mischung aus Repression, Scheindemokratie und Aufrüstung? Nimmt sie alle ihre Einflußmöglichkeiten wahr? Nein, sie unternimmt nichts. Darüber hinaus belohnt sie objektiv durch die Zahlung von Rüstungssonderhilfe und Militärhilfe diese Regierung, deren Praxis Menschenrechtsverletzungen heißt.
Auf der anderen Seite erweist sich die Bundesregierung als weniger großzügig, wenn es um humanitäre Angelegenheiten, die ja auch von diesem Einzelplan betroffen sind, geht. So hat sie läppische 2 Millionen DM für die Opfer der irakischen Giftgasangriffe in der Türkei bereitgestellt, und zwar ausgerechnet über offizielle türkische Stellen. Das Geld selbst ist nach Aussagen der dortigen Lagerinsassen nie dort angekommen.
Die Bundesregierung setzt also auf die falschen Prioritäten. Statt großzügige Hilfe für Menschen, die durch politische und militärische Konflikte heute in unhaltbaren Verhältnissen leben müssen, zu leisten, liegt ihr Schwerpunkt bei einer machtpolitisch begründeten Unterstützung von Regierungen und Regimen, die auf ausgesprochen brutale Weise mit ihrer Bevölkerung umgehen.
Herr Außenminister Genscher, durch die UN-Resolution ist die häßliche Fratze einer Regierung, die Kriegswaffenexporte an das Rassistenregime Südafrika höhergestellt hat als eine humane Politik der Menschenrechte, sichtbar geworden. Eine Politik, die legale und illegale Rüstungsexporte in einem Maße betreibt, wie es die Bundesregierung tut, hat jedes Recht verwirkt, von einer Förderung der Menschenrechte als Ziel eigener Politik zu sprechen. Die Wirkung ihrer Politik ist nämlich genau das Gegenteil.
Diese Regierung hat versagt. Diese Regierung ist einmal mehr anzuklagen. Ich fordere Sie auf, jetzt sofort Stellung zu nehmen. Es ist peinlich genug, daß Sie es heute mittag nicht schon getan haben.
Die kapitalistische Zwangsjacke, die heute in Ihrem Programm der DDR als Druckmittel, bevor man ihr helfen will, umgelegt worden ist, ist nicht weit von dieser Exportpolitik entfernt und zeigt, daß diese Politik nicht erstrebenswert sein kann für die demokratische Erneuerung in der DDR und in Osteuropa. Wir wollen ein friedliches Europa, ein gesamtes Europa, das mit dieser Regierung und mit dieser Politik nicht zu erreichen ist.
Vielen Dank.
({0})
Ich erteile dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe zunächst Anlaß, den Fraktionen des Hohen Hauses Dank zu sagen für die Anerkennung, die sie den Mitarbeitern des auswärtigen Dienstes, vor allem den Angehörigen unserer Botschaften in Budapest, in Prag und in Warschau, ausgesprochen haben. Ich möchte die Botschaft in Wien ausdrücklich mit einbeziehen,
({0})
und einbeziehen möchte ich auch die Familienangehörigen unserer Botschaftsbediensteten.
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Allein mit denen, die ein Gehalt beziehen, hätten
diese großen Aufgaben nicht erfüllt werden können.
Mein Dank gilt auch der Unterstützung des Hohen Hauses für das Gesetz über den auswärtigen Dienst. Ausdrücklich erwähnen möchte ich auch, daß eine Verständigung mit dem Bundesminister des Innern und dem Bundesminister der Finanzen über dieses Gesetz erzielt werden konnte. Diese Verständigung zeigt die Anerkennung, die dem auswärtigen Dienst und seinen Angehörigen, aber auch den Familienangehörigen zuteil wird. Ich glaube, daß das für alle unsere Mitarbeiter eine Motivation sein wird, eine Motivation nicht nur für diejenigen, die unter schwierigen Umständen an den genannten Botschaften Menschen, die in Not waren und ihre Zuflucht in der Freiheit suchten, menschlich zur Seite stehen mußten, sondern auch für diejenigen, die in den Krisengebieten dieser Welt unter großer eigener Gefährdung und Gefährdung auch ihrer Familienangehörigen Dienst tun.
Meine Damen und Herren, ich möchte in den Dank und die Anerkennung für die Mitarbeiter des Dienstes auch die Mitarbeiter der Goethe-Institute einbeziehen.
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Sie entfalten ein Deutschlandbild in der Welt, das sicher in seiner Gesamtheit nicht dem Deutschlandbild jedes einzelnen von uns entspricht, weil niemand von uns ein Monopol auf die Darstellung unseres eigenen Volkes und unseres eigenen Staates hat. Aber ich glaube, daß es gelingt, ein Bild unserer Republik und ihrer Menschen zu entfalten, das der Pluralität unserer Gesellschaft und der Pluralität unseres Staates entspricht, auf die wir stolz sind, einer Pluralität, die die Menschen in dem anderen deutschen Staat gerade in diesen Tagen und Wochen erkämpfen und erstreben.
Herr Kollege Rose hat gewisse „linksliberale Umtriebe" vermutet, und zwar solche, die sich gegen die deutsche Sprache richten. Herr Kollege Rose, der Liberalismus ist die umfassendste Alternative zu jeder Form der Unfreiheit.
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Er ist Freiheit an sich. Es gibt keine linke und keine rechte Freiheit, sondern es gibt nur die Freiheit und diejenigen, die dafür eintreten.
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Der deutsche Liberalismus hat immer und zu allen Zeiten auf den Seiten des Fortschritts gestanden. Die großen Namen der deutschen Literatur der Vergangenheit und der Gegenwart sind immer auch auf der Seite des Fortschritts gewesen. Wir können auf sie stolz sein, denn sie haben dazu beigetragen, daß auch die deutsche Sprache ihre Geltung in der Welt bekommen hat. Dafür möchte ich ihnen danken.
({5})
Das sollte hier gesagt sein, wenn es um die Verbreitung der deutschen Sprache geht. Man muß nicht mit jedem einzelnen in den politischen Auffassungen übereinstimmen. Aber ich denke, was Christa Wolf und Heinrich Böll für die Bedeutung der deutschen Sprache in der Welt getan haben, ist schier unersetzlich und kann jedenfalls von keinem von uns in diesem Hause erbracht werden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist von verschiedenen Rednern auf die Waffenexportpolitik Bezug genommen worden. Sie richtet sich nach den Richtlinien, die eine frühere Bundesregierung erlassen hat, und hält sich im Rahmen dieser Richtlinien. Da wird es immer Grenzfälle geben, über die man unterschiedlicher Meinung sein kann; das kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung bestätigen. Aber es ist auf jeden Fall eine Exportpolitik im Rüstungsbereich, die das Prädikat „Zurückhaltung" unverändert verdient. Daran hat sich nichts geändert.
({6})
Was die jüngste Entschließung und Resolution der Vereinten Nationen angeht, so möchte ich mit aller Klarheit darauf hinweisen, daß die Vereinten Nationen das Verhalten zweier Unternehmen in der Bundesrepublik Deutschland bedauert, aber nicht das Verhalten der Bundesregierung verurteilt haben.
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Ich muß auch darauf hinweisen, daß dieses Bedauern zwar von der Mehrheit, aber nicht von der Mehrheit der an der Abstimmung Teilnehmenden ausgesprochen worden ist, denn wenn Sie Enthaltungen und Nein-Stimmen zusammenrechnen, dann sind das
mehr als diejenigen, die sich dafür entschieden haben.
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Nein, da ist nichts gelobbyt worden, sondern da ist klargestellt worden. Es ist die Aufgabe der deutschen Auslandsvertretungen, die Politik der Bundesregierung richtig darzustellen und zu vermeiden, daß Fehleinschätzungen dieser Politik stattfinden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aussprache über den Haushalt des Bundesministeriums des Auswärtigen - ({9})
- Ja, das war alles. Ich hatte Ihnen heute morgen schon gesagt, daß nicht beabsichtigt ist, die Beratungen des Untersuchungsausschusses nunmehr in das Plenum des Deutschen Bundestages zu verlegen.
({10})
Daran möchte ich mich halten.
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Aussprache über den Haushalt des Bundesministeriums des Auswärtigen, also des Auswärtigen Amtes - ({12})
- Wir haben Gott sei Dank ein parlamentarisches System, in dem auch ein Bundesminister sagen kann: Wir sind die Volksvertretung. Ich gehöre diesem Hohen Hause an und halte das für eine Vorzug unseres Systems - nicht daß ich ihm angehöre, aber daß ich ihm angehören kann.
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- Das aber auch, Herr Kollege Koschnick. Ich möchte, da Sie das gesagt haben, dafür sorgen, daß das namentlich im Parlamentsprotokoll vermerkt werden kann.
Meine Damen und Herren, was sich bei einer solchen Gelegenheit anbietet, ist eine Bilanz, eine Bilanz der deutschen Außenpolitik, und zwar nicht nur des letzten Jahres, sondern angesichts der dramatischen Ereignisse dieses Jahres eine Bilanz der Zeit seit Bestehen dieses Landes. Sie ist Friedenspolitik von Anfang an gewesen. Sie ist eine Politik gewesen, die von Anfang an darauf ausgerichtet war, in guter Nachbarschaft mit allen unseren Nachbarn zu leben, so wie unser Grundgesetz uns den Auftrag gegeben hat, dem europäischen Frieden zu dienen und in diesem europäischen Frieden auch auf die Einheit der Nation hinzuarbeiten, so wie es der Brief zur deutschen Einheit sagt, der dem Moskauer Vertrag und dem Grundlagenvertrag mit der DDR als Teil des Vertrages beigefügt ist: auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit vollenden kann.
Diese Grundphilosophie der Einbettung unseres nationalen Schicksals in das Schicksal Europas muß unser Handeln in jeder Phase unserer Außenpolitik
bestimmen. Sie hat dazu geführt, daß wir uns dem westlichen Verteidigungsbündnis angeschlossen haben, eirem Bündnis, das in einer Zeit expansiver und aggressiver sowjetischer Außenpolitik und militärischer Bedrohung Westeuropas geschaffen wurde. Dies ist eine Tatsache, die auch heute in der Sowjetunion von niemandem bestritten wird. Ich denke, daß deshalb die Entscheidung richtig war, daß wir nicht nur diesem Bündnis als Mitglied beigetreten sind, sondern daß wir mit der Bundeswehr für Freiheit und Frieden in Europa bis auf den heutigen Tag einen wesentlichen Beitrag geleistet haben.
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Deswegen ist und bleibt der Dienst in der Bundeswehr für mich Friedensdienst.
Wir haben zugleich als ein aktives Mitglied der Europäischen Gemeinschaft dazu beigetragen, daß sich die europäischen Demokratien nicht nur organisiert haben, sondern daß in diesen europäischen Demokratien eine neue europäische Identität gewachsen ist, die sich vom ganzen Europa nicht abschließt, sondern die ihre gesamteuropäische Aufgabe erkennt: Offenheit gegenüber allen Staaten Mittel- und Osteuropas, nicht nur gegenüber allen Völkern, sondern auch gegenüber allen Staaten - ich sage das, weil ich die DDR ausdrücklich mit einbeziehen möchte - , Offenheit auch für neue Formen der Zusammenarbeit, der Kooperation und der Assoziierung.
Diese Europäische Gemeinschaft hat durch die Dynamik ihrer Entwicklung eine große Attraktivität ausgeübt und übt sie auf die Reformpolitik in Mittel- und Osteuropa noch aus. Deshalb wird der Straßburger Gipfel auch zu einer Zusammenkunft der Bewährung im europäischen Denken sein. Das gilt für die soziale Struktur unserer Gemeinschaft genauso wir für die Fortentwicklung zur Wirtschafts- und Währungsunion und für die Entwicklung einer gemeinsamen Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft. Wir müssen erwarten, daß sich alle unsere Partner gerade in dieser Phase der europäischen Politik ihrer Verantwortung für den europäischen Einigungsprozeß würdig erweisen und ihr gerecht werden.
Ich möchte Ihnen, Herr Kollege Stobbe, ausdrücklich zustimmen, wenn Sie auch ein Wort zu dem demokratischen Charakter unserer Gemeinschaft gesagt haben. Wir sind eine Gemeinschaft demokratisch verfaßter Staaten; aber die Gemeinschaft selbst ist noch nicht demokratisch verfaßt.
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Je mehr wir im Rahmen der Integration dazu kommen, Zuständigkeiten aus der Verantwortung der nationalen Parlamente auf die Organe der Europäischen Gemeinschaft zu übertragen, um so dringlicher ist es, daß diese Organe einer absoluten parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden,
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damit Souveränität und Zuständigkeit nicht in eine politische und parlamentarische Grauzone geraten, die weder von den nationalen Parlamenten kontrolliert noch vom Europäischen Parlament auch nur beeinflußt werden kann. Deshalb ist die demokratische Struktur der Europäischen Gemeinschaft von einer so entscheidenden Bedeutung.
Es war für die Entwicklung der Politik der guten Nachbarschaft mit dem Osten notwendig, mit den Ostverträgen die Voraussetzungen für ein geregeltes Miteinander zu schaffen. Der Moskauer Vertrag, der Warschauer Vertrag, der Vertrag mit der Tschechoslowakei und der Grundlagenvertrag mit der DDR
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waren die unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, daß, aufbauend auf diesen Verträgen, der KSZE-Prozeß mit der Schlußakte von Helsinki eingeleitet werden konnte.
Es ist in dieser Phase der politischen Entwicklung von entscheidender Bedeutung, daß wir keinen Zweifel daran lassen, daß wir als Bundesrepublik Deutschland ohne Wenn und Aber zu jedem dieser Verträge und auch zu allen Grundprinzipien und der gesamten Schlußakte von Helsinki stehen.
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Herr Bundesminister, gestatten Sie bitte eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Klejdzinski?
Bitte schön, wenn ich nur den Satz zu Ende führen darf: Denn sie, die Schlußakte, ist die Kursbestimmung für ein besseres Europa.
Herr Kollege, bitte.
Herr Bundesminister, stimmen Sie mir zu, daß das, was Sie über die EG gesagt haben, teilweise auch für das Verhältnis zwischen der Parlamentarischen Versammlung der WEU und dem Ministerrat gilt?
Herr Kollege, auch eine größere Zuständigkeit der Parlamentarischen Versammlung gegenüber dem Ministerrat in der Westeuropäischen Union entspricht unserem demokratischen Grundverständnis, weil alle Organe, die Entscheidungskraft haben - sie ist im Ministerrat der Westeuropäischen Union geringer als in der Europäischen Gemeinschaft - , im Grunde der demokratischen Kontrolle unterliegen sollten. Aber ich sehe die absolute Priorität in der Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments, weil wir uns auf den Weg zur Europäischen Union begeben.
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Wir sehen ja jede Entscheidung in dieser Finalität.
Es wird, meine sehr verehrten Damen und Herren - auch das ist heute in allen Beiträgen deutlich geworden - , jetzt darauf ankommen, daß wir die Möglichkeiten, die die Schlußakte von Helsinki bietet, nutzen, und zwar auch die Möglichkeiten gerade des Korbes 2, der Zusammenarbeit. Hier wird das Wirtschaftsforum, das in der Bundesrepublik Deutschland abgehalten wird, Gelegenheit geben, auch neue ForBundesminister Genscher
men der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu entwikkeln.
Genauso entscheidend ist, daß wir dem Abrüstungsprozeß neue Impulse geben; denn die sowjetische Hochrüstung und die Antwort des westlichen Bündnisses darauf waren das Ergebnis einer expansiven sowjetischen Außenpolitik. Diese expansive sowjetische Außenpolitik ist abgelöst worden durch eine neue Außenpolitik, die auf diese expansiven Ziele verzichtet. Das ist deutlich geworden in dem Rückzug aus Afghanistan. Es ist deutlich geworden in der Zustimmung zur weltweiten Beseitigung der nuklearen Mittelstreckenraketen. Es ist deutlich geworden in der Zustimmung der Sowjetunion zu den Verifikationsmaßnahmen, wie sie der Westen lange gefordert hatte und wie wir sie schließlich in der Stockholmer Konferenz durchsetzen konnten. Es wird auch deutlich im Verhalten der Sowjetunion am Verhandlungstisch in-Wien und bei den Gesprächen der beiden Großmächte über die Abrüstung der nuklearen strategischen Potentiale.
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Ich habe keine Sorge vor der Zusammenkunft der beiden Großmächte in Malta. Ich will Ihnen ganz offen sagen, warum. Ich habe auch kein Problem gehabt mit der Konferenz in Reykjavik; denn am Ende hat sich aus Reykjavik ein neues Denken zur Abrüstungspolitik auf beiden Seiten ergeben.
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Ich denke, daß auch ein neues Verständnis der Sicherheitspolitik und ein neues Sicherheitsverständnis auf der sowjetischen Seite deutlich wird. Die früheren sowjetischen Führungen gingen davon aus, daß es um die Sicherheit der Sowjetunion dann besonders gut bestellt sei, wenn die verbündeten Staaten unter dem absoluten Druck und der absoluten Fremdbestimmung aus Moskau leben. Die heutige sowjetische Führung hat erkannt, daß mit ihr verbündete Staaten dann für die Stabilität und Sicherheit in Europa mehr bedeuten, wenn die Führungen dort auf der Zustimmung der Bürger beruhen - ein Sicherheitsverständnis, das wir hier im Westen immer gehabt haben, weshalb auch für uns der sicherheitspolitische Konsens gerade in einem Staat mit einer Wehrpflichtarmee immer eine so große Bedeutung gehabt hat.
Wenn ich in diesem Zusammenhang die Funktion der Bündnisse erwähne, so möchte ich denjenigen, die dem westlichen Bündnis eine Absage erteilen, sagen: Die Bündnisse werden an politischer Bedeutung gewinnen. Die Bündnisse sind heute Instrumente der Abrüstungspolitik. Sie haben einen Bedeutungswandel durchzumachen. Aber sie werden noch für eine lange Zeit Garanten der Stabilität in Europa sein. Sie werden für eine lange Zeit noch notwendig sein, um die kooperativen Strukturen der Sicherheit in Europa zu schaffen, die es ermöglichen, daß sich die politische, die wirtschaftliche, die technologische, die kulturelle Zusammenarbeit ohne Angst vor der anderen Seite, ohne Mißtrauen gegenüber der anderen Seite entfalten kann.
Deshalb werden wir in unserer Politik im Bündnis dafür sorgen, daß die Abrüstung neue Impulse erhält und daß die politische Bedeutung der Bündnisse und ihrer Teilnahme an dem Prozeß der Zusammenarbeit zwischen West und Ost zunehmend Gewicht bekommt. Denn die Einbettung unseres nationalen Schicksals in das Schicksal Europas ist nicht nur eine Folge der vorgegebenen Werteentscheidung unseres Grundgesetzes. Sie ist ein Ergebnis unserer Geschichte, und sie ist ein Ergebnis auch der Bedeutung unseres Landes gerade in seiner geographischen Lage. Daß wir mehr als andere Völker in Europa von dem betroffen sind, was in Europa geschieht, zeigt, daß die Trennung Europas die Trennung Deutscher von Deutschen bedeutet. Kein anderes Volk wird durch die Trennung Europas so unmittelbar betroffen wie wir.
Deshalb ist die Überwindung der Trennung Europas auch in Übereinstimmung mit unseren nationalen Interessen. Daher verbietet sich jeder nationale Alleingang. Er wäre in zwei Richtungen möglich: Der eine wäre der Versuch, die Deutschen zusammenzuführen, ohne daß Europa sich aufeinander zubewegt. Der andere wäre der Versuch, Europa aufeinander zuzuführen, aber die Deutschen von dieser Zusammenführung auszunehmen. Auch auf diesen Sonderweg sollte uns niemand schieben oder hinschieben wollen.
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Deshalb kann ich mich, Herr Kollege Lippelt, nicht mit dem einverstanden erklären, was Sie hier zur deutschen Staatsbürgerschaft gesagt haben. Nicht nur, weil es im Grundgesetz so steht, sondern weil man eine Nation auch nicht künstlich trennen soll, bekennen wir uns zur einheitlichen deutschen Staatsbürgerschaft. Wir wollen nicht die Mauer aus Steinen durch eine Mauer von Rechtsvorschriften ersetzen, die Deutsche daran hindern, ihren Lebensstandort dort zu suchen, wo sie ihn suchen möchten. Aber wir wollen alles dafür tun, daß in dem Teil unseres Vaterlands, in dem jetzt die Menschen um Freiheit ringen, das Leben in Zukunft so lebenswert sein möge, daß sich niemand mehr vor die Frage gestellt sieht, ob er seine Heimat verlassen soll, sondern daß er dort seine Chance im Aufbau eines freien Staates und einer freien Gesellschaft sieht und daß dann zwei deutsche Staaten, die frei über ihr inneres Schicksal entscheiden, auch darüber entscheiden, wie sie zukünftig ihr Verhältnis zueinander gestalten wollen.
Das, was heute dazu im Deutschen Bundestag gesagt worden ist, war nicht ein Diktat über unsere deutschen Mitbürger in der DDR. Es ist ein Angebot des freien Parlaments in der Bundesrepublik Deutschland. Zu diesem Angebot wird hoffentlich schon im Jahr 1990 ein freies Parlament in der Deutschen Demokratischen Republik seine Meinung sagen können. Das ist unser herzlicher Wunsch.
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Die beiden deutschen Staaten werden sich sehr wohl ihrer Verantwortung für die Stabilität in Europa bewußt sein. Sie werden wissen, daß es auch im Bewußtsein unserer Geschichte bei unseren Nachbarn
Sorgen gibt, die wir ernst nehmen. Deshalb blickt die Welt mehr auf uns als auf andere, wenn es darum geht, ob Freiheit und Stabilität, aber auch Sicherheit gewahrt werden können. Wir werden dabei sehen, daß es auch andere Völker gibt, die Sicherheitsinteressen haben, so wie wir unsere eigenen Sicherheitsinteressen kennen und sie wahrnehmen. Wir werden das als gute Europäer tun können. Und wenn wir gute Europäer sind, sind wir auch gute Deutsche.
Deshalb, Herr Kollege Lippelt, sage ich Ihnen zum Schluß: Man kann über vieles reden in der Politik, die es immer auch notwendig macht, Verständigung mit anderen zu erzielen. Aber ausgebürgert werden Deutsche in der Bundesrepublik Deutschland nicht.
Ich danke Ihnen.
({5})
Die Aussprache ist geschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN, die ich nach der Reihenfolge der Drucksachennummern aufrufe:
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5748 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer dem Änderungsantrag auf Drucksache 11/5749 seine Zustimmung gibt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5750 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5751 ({0}) stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Der Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nummer II. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Einzelplan 05. Wer für den Einzelplan 05 - Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts - in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltung? - Hier konkretisiert: Die CDU/CSU hat dafür gestimmt.
({1})
- Entschuldigung; auf diese Idee wäre ich überhaupt nicht gekommen. - Die Fraktion der GRÜNEN hat dagegen gestimmt, und die Fraktion der SPD hat sich der Stimme enthalten.
Damit ist dieser Geschäftsbereich abgeschlossen und dem Einzelplan 05 zugestimmt worden.
Ich rufe auf: Einzelplan 10
Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten
- Drucksachen 11/5560, 11/5581 Berichterstatter:
Abgeordnete Schmitz ({2}) Diller
Frau Vennegerts
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5772 bis 11/5774 und 11/5912 sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nummer VII vor.
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist eine Aussprachezeit von einer Stunde vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es wird so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Diller.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Bundesregierung hat die Förderung in der Agrarpolitik das Ende der Fahnenstange erreicht, was die Finanzen angeht. Der Finanzplan für die Jahre 1989 bis 1993 zeigt, daß er mittelfristig die Obergrenze der Förderung der Landwirtschaft aus dem Bundeshaushalt bei 10 Milliarden DM jährlich sieht.
Weil der größte Kostenblock die landwirtschaftliche Sozialpolitik mit jährlichen Wachstumsraten von 6 % überproportional von 5,1 auf 6,4 Milliarden DM steigt, will die Bundesregierung, um die Marke von 10 Milliarden DM Bundesmittel einzuhalten, die Mittel für die Gemeinschaftsaufgabe bei 1,8 Milliarden DM einfrieren und alle übrigen Maßnahmen für die Landwirtschaft in den nächsten Jahren stetig zurückfahren. Dies ist mit ein Grund, warum die Bundesregierung mit dem vorliegenden Haushalt gegenüber den Landwirten wortbrüchig wird. Für die zu Beginn der Wahlperiode angekündigte große Agrarsozialreform ist jedenfalls auch im nächsten Jahr und damit im letzten Jahr Ihrer Wahlperiode keine müde Mark vorgesehen.
Nicht nur ökologische, sondern auch gewichtige finanzielle Gründe zwingen also dazu, die Ausgaben im Haushalt daraufhin zu überprüfen, ob sie den Erfordernissen einer Neuorientierung der Agrarpolitik entsprechen. Wir Sozialdemokraten lassen uns dabei von dem Gedanken leiten, daß wir wegkommen müssen von den produktionssteigernden Subventionen. Die so freiwerdenden Mittel brauchen wir einmal für eine gerechte Agrarsozialpolitik, zum anderen für produktionsneutrale Beihilfen an die bäuerlichen Familienbetriebe.
({0})
In diesem Sinne wäre das Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft zu begrüßen, wenn es nicht den Begriff „bäuerliche Landwirtschaft" poliDiller
tisch mißbrauchen und jedem Gefühl für soziale Gerechtigkeit widersprechen würde; denn die bereitgestellten 700 Millionen DM gehen in Beträgen zwischen 1 000 DM und 8 000 DM an Empfänger, die z. B. bis zu 120 Milchkühe halten können, was einer Produktion von bis zu 600 0001 Milch, abgenommen zum Garantiepreis, entspricht, an Empfänger, die z. B. bis zu 700 000 Hähnchen jährlich produzieren dürfen, an Empfänger, die außerlandwirtschaftlich in unbegrenzter Höhe hinzuverdienen dürfen. In aller Regel werden dabei die notleidenden kleinen Familienbetriebe eher mit 1 000 DM bis 2 000 DM abgespeist,
({1})
während die Großagrarier mit weiteren 8 000 DM begünstigt werden und damit die Mittel genau auf die Falschen konzentriert werden.
({2})
Die zweite groß angekündigte Neuerung, das FELEG, also die Produktionsaufgaberente, von der SPD mit Gründen abgelehnt, hat sich mittlerweile als agrarpolitische Pleite der Koalition entpuppt.
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Die Bauern haben die von der SPD kritisierten Schwachpunkte und Fallstricke des Gesetzes erkannt und nehmen es nur in sehr kleinem Umfang an.
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Der Ansatz wurde deshalb einvernehmlich um 80 Millionen DM auf 100 Millionen DM gekürzt.
Die geringe Akzeptanz des FELEG verschärft im übrigen die Bauchladenprobleme des Herrn Kiechle; auch das gibt es. Bis Oktober lagen die deutschen Milchbauern um 2 % über der Garantiemenge. Es zeichnete sich ab, daß 116 Millionen DM als Superabgabe nach Brüssel gezahlt werden müssen. Da ist die nun beschlossene einprozentige Milchquotenerhöhung durch die EG nur ein schwacher Trost. Während in anderen Mitgliedstaaten, die ihren Milchmarkt bereits in Ordnung haben, diese Mengen zur Förderung junger Landwirte eingesetzt werden können, Herr Kiechle, bewirkt der Beschluß bei uns nur eine geringe Verminderung der finanziellen Belastung, die sich aus den beiden Anlastungsrisiken und Ihrem Bauchladen ergibt und die immerhin bei rund 500 Millionen DM liegt - eine Erblast, die sich Kiechle selbst vermacht hat und die er so sehr verdrängt, daß er keine Mark im Haushalt veranschlagt hat, mit der er sie endgültig aus der Welt schaffen könnte.
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Ein neues Subventionsfaß hat die Koalition auf Geheiß des Kanzlers aufmachen müssen. Trotz des Moserns der FDP, insbesondere des Kollegen Weng, über des Kanzlers teure Reisen in die Provinz werden in den nächsten Jahren 75 Millionen vom Bund und 75 Millionen DM von Niedersachsen den Steuerzahlern abgeknüpft, damit großtechnisch Biosprit erzeugt wird.
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Die Zuckerindustrie in Niedersachsen und ein paar Landwirte werden die Begünstigten sein. Ein Forscherteam wird mit weiteren 7 Millionen DM begleitend erforschen dürfen, was alle Experten für komplett überflüssig erachten.
({7})
Das alles nur, damit der Regierung Albrecht bis zum Frühjahr noch ein paar Wähler erhalten bleiben!
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Wie auch immer, der Biosprit, der dort erzeugt wird, muß, weil er so komplett unverkäuflich ist, ganz hoch subventioniert werden, damit er überhaupt Abnehmer findet.
Wir werfen Ihnen, Herr Kiechle, deshalb vor, die Empfehlungen des Bundesrechnungshofs zu mißachten, den fachlichen Rat aus Ihrem eigenen Ministerium und dem Forschungsministerium zu ignorieren, einen einseitigen Anbau in einer Region massiv zu fördern und damit ökologische Schäden zu konzentrieren, kurz: aus Angst vor einem Wahltermin Unsinniges mit Steuermitteln in Millionenhöhe zu fördern.
Ihrer bösen Tat werden weitere folgen. Wie zu hören ist, hat Rheinland-Pfalz und damit eine weitere auf der Kippe stehende CDU-Regierung bereits ähnliche Wünsche unter dem Stichwort „Biodiesel aus Rapsöl" für das dortige Wahljahr - das ist 1991 - an den Bund herangetragen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, positiv werten wir dagegen, daß jetzt aus den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe auch Umschulungsbeihilfen an Vollerwerbslandwirte gezahlt werden können, die sich beruflich verändern und in den Nebenerwerb gehen wollen.
Positiv vermerken wir auch, daß meine Kritik vom Vorjahr an Ihnen, Herr Kiechle, nämlich daß Sie für die Schaffung teurer Staatssekretärsposten - er hat, daran sei erinnert, genauso viele wie das Verteidigungsministerium, zwei Parlamentarische und zwei beamtete ({9})
und für Spitzenbeamtenstellen mehr tun als für die Übernahme von Auszubildenden, auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Wurde 1988 von Ihnen nur jedem fünften der Ausgebildeten eine Stelle angeboten, war es dieses Jahr immerhin jeder zweite, und zwar trotz erheblich gestiegener Zahl der Absolventen. Ich hoffe, sehr geehrter Herr Kiechle, daß die befristeten Arbeitsverhältnisse noch in unbefristete umgewandelt und Sie im nächsten Jahr jedem einen Dauerarbeitsplatz anbieten werden.
Positiv ist drittens die Bereitschaft der Koalition, dem SPD-Antrag auf Bereitstellung von 5 Millionen DM Bundesmitteln zur Rettung der Insel Sylt im Grundsatz zu entsprechen. Ich sage „im Grundsatz", weil wir diese 5 Millionen DM zusätzlich zu den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe haben wollten, während die Koalition leider nur bereit war, von den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe 5 Millionen DM eigens für Sylt zu reservieren. Damit hängt nun alles Wohl und Wehe vom PLANAK ab, dem gemeinsamen Ausschuß von Bund und Bundesländern, weil dieser die Mittel festlegt und verteilt und entscheidet, ob für
Sylt etwas getan werden kann. Die SPD-Fraktion jedenfalls appelliert an den PLANAK, die besondere Notlage der Insel und die Eilbedürftigkeit von Rettungsmaßnahmen anzuerkennen und das Geld zu bewilligen.
Dies war im übrigen der einzige SPD-Antrag, dem zumindest ein Teilerfolg beschieden war. Alle anderen haben Sie abgelehnt. Unser Fazit lautet deshalb: Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die Koalition nach wie vor auf dem falschen agrarpolitischen Kurs. Deshalb müssen wir den Einzelplan 10 ablehnen.
Die Anträge der GRÜNEN müssen wir ebenfalls ablehnen, weil beispielsweise der Antrag auf Drucksache 11/5772 völlig unberücksichtigt läßt, daß die Leute eine Übergangszeit zur Umstellung brauchen. Ihr Antrag auf Drucksache 11/5773 läßt völlig unberücksichtigt, daß man nicht zum 1. Januar 1990 knallfall aussteigen und die Leute ihrem Schicksal überlassen kann. Der Antrag auf Drucksache 11/5774 übersieht völlig, daß keine Gesetzesgrundlagen, noch nicht einmal Gesetzesentwürfe vorliegen und deshalb die Mittel überhaupt nicht etatfähig sind. Ich hoffe, daß irgendwann die ansonsten von mir sehr geschätzte Kollegin Christa Vennegerts dies einsieht und solche Anträge künftig überläßt.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schmitz ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch in diesem Jahr hat der Einzelplan 10 gegenüber dem Vorjahr eine Steigerung erfahren. Der Agraretat für das Jahr 1990 ist nunmehr auf die Rekordhöhe von 9,568 Milliarden DM angestiegen.
({0})
- Ich höre das gern, Herr Kollege Walther. Die Bauern werden es mit Sicherheit nicht so gerne hören, wenn Sie als Vorsitzender des Haushaltsausschusses dies sagen. - Das ist gegenüber dem laufenden Agraretat eine Steigerung von immerhin 1,1 % und entspricht einer Anhebung von 101 Millionen DM. Der Etat des Jahres 1990 - das sollten wir hier einmal festhalten - ist damit zwischenzeitlich sicherlich der größte Agrarhaushalt in der gesamten Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
In Zeiten der SPD-geführten Bundesregierung sah die Entwicklung noch ganz anders aus - und das sollten Sie sich einmal merken - : Im Zeitraum von 1979 bis 1983 ist der Gesamthaushalt des Bundes um durchschnittlich fast 6 % gewachsen, der Agrarhaushalt dagegen um annäherend 2 % jährlich gesunken!
({1})
- Ach, wissen Sie, die Lautstärke ist nicht immer ein
Argument dafür, daß Sie recht haben. - In der Zeit
der Verantwortung einer unionsgeführten Bundesregierung ist der Agraretat allein von 1983 bis 1988 um 44 % aufgestockt worden.
({2})
In der gleichen Zeit wuchs der Gesamthaushalt nur um 12 %.
({3})
1989 erfuhr der Einzelplan 10 eine nochmalige Steigerung um 10,7 %.
({4})
Dies alles macht deutlich, wie ernst diese Koalition und die von ihr getragene Bundesregierung die Sorgen der Landwirtschaft nehmen und ganz konkrete Schritte zur Lösung anstehender Probleme eingeleitet haben.
Lassen Sie uns zu den Einzelheiten kommen: Den mit Abstand größten Schwerpunkt im Agraretat bildet die Sozialpolitik. Hierauf entfallen für das Jahr 1990 weit über 50 % der Ausgaben des Einzelplans 10. In diesem Bereich beläuft sich die Steigerungsrate gegenüber dem Vorjahr auf 4,2 % oder, in absoluten Zahlen ausgedrückt, auf 188 Millionen DM.
Wegen dieses erheblichen Ausgabenanstiegs für Altersgelder wurde der Bundeszuschuß zur Altershilfe um 115 Millionen DM auf 2,855 Milliarden DM gegenüber 2,74 Milliarden DM im laufenden Jahr aufgestockt. Die Ausgaben für die landwirtschaftliche Krankenversicherung wurden auf Grund aktueller Bedarfsschätzungen um 79 Millionen DM erhöht. Meine Damen und Herren, die Mittel für die Agrarsozialpolitik insgesamt steigen damit 1990 auf 5,331 Milliarden DM.
Mit dem Gesetz zur Förderung der Einstellung landwirtschaftlicher Erwerbstätigkeit haben wir 1989, Herr Kollege Diller, ein Angebot gemacht.
({5})
- Darüber brauchen Sie sich gar nicht aufzuregen. - Ich verrate kein Geheimnis, daß das Angebot zur Zeit nicht in dem von uns gewünschten Maße angenommen wird.
({6})
Das heißt konkret: Die bereitgestellten Mittel fließen nicht in vollem Umfang ab. Deshalb haben wir im Haushaltsausschuß den Ansatz für 1990 dieser Entwicklung angepaßt; das ist nur logisch. Sollte dieser Zustand anhalten, so ist es überhaupt kein Beinbruch; das ist in der Geschichte solcher schwierigen Gesetze immer einmal der Fall. Wir sind dann bereit, dieses Gesetz einer nochmaligen Prüfung zu unterziehen, um es den veränderten Bedürfnissen 1990/91 anzupassen.
({7})
Das gilt auch für die von uns als notwendig erachtete Korrektur im Rahmen des 4. ASEG, des 4. Agrarsozialen Ergänzungsgesetzes. Hier gehen wir davon aus, daß wir nach dem vorliegenden, sorgfältig erarbeiteten Gutachten in der nächsten Legislaturperiode
Schmitz ({8})
1990/91 an die notwendigen Veränderungen herangehen können.
({9})
- Warten Sie das einmal ab! Das entscheidet der Wähler, nicht Sie.
({10})
- Frau Kollegin, das ist mit Sicherheit nicht von den GRÜNEN abhängig.
Lassen Sie mich an dieser Stelle, meine Damen und Herren, einen weiteren Schwerpunkt nennen: Ein weiterer Schwerpunkt ist die zukünftige Strukturpolitik im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes". Sie hat zwischenzeitlich einen Umfang in der Größenordnung von 1,775 Milliarden DM erreicht. Davon entfallen auf Maßnahmen zur Anpassung an die Marktentwicklung 250 Millionen DM. Diese Maßnahmen haben wir in einem Sonderrahmenplan aufgeführt. Im einzelnen handelt es sich dabei um die Stillegung von Ackerflächen, die endgültige Aufgabe von Rebflächen, Maßnahmen zur Extensivierung und Umstellung auf nicht überschüssige Erzeugnisse sowie um eine nationale Zusatzprämie für die Mutterkuhhaltung - eine Forderung, die immer im Raum gestanden hat. Hier sind also Maßnahmen ergriffen worden, die die Überproduktion verhindern.
Meine Damen und Herren, auch an dieser Stelle darf ich sagen, daß wir von der Koalition für den Schutz der Küste von Sylt gegen die dort drohenden Naturgefahren umgehend 5 Millionen DM bereitgestellt haben. Wir sehen dies sehr wohl als eine nationale Aufgabe an, gehen aber gleichzeitig von folgender Voraussetzung aus - Herr Kollege Diller, dahin gehend bestand ja ein Dissens - : Das Land Schleswig-Holstein kann ja machen, was es will. Nur, man sollte den normalen Weg einhalten, indem man zunächst einmal Mittel in den eigenen Haushalt einstellt, bevor man nach dem Bund ruft. In diesem Falle war es genau umgekehrt.
({11})
- Gut, wir können das ja noch vertiefen. - Wir gehen davon aus, daß das Land Schleswig-Holstein seine komplementären Mittel zur Verfügung stellt und daß sich im PLANAK kein Widerspruch gegen den von uns aufgezeigten Weg erhebt. Das ist unser Weg; es ist ein ganz normaler und logischer Weg.
Die Landwirtschaft, meine Damen und Herren, hat eine herausragende Funktion im ländlichen Raum. Deshalb ist es Sache der Politik, den bäuerlichen Familien einen angemessenen Lebensstandard zu ermöglichen - dies hat diese Bundesregierung und dieser Bundesminister getan -, dafür zu sorgen, daß ein breit gestreutes Eigentum erhalten bleibt - das ist ebenfalls erfolgt - , ihnen zu ermöglichen, auf dem Lande wohnen zu bleiben - das ist unsere Politik für den ländlichen Raum -, und den Betrieb dann, wenn er sich nicht mehr im Haupterwerb führen läßt, auch im Nebenerwerb führen zu können.
Hierzu haben wir im Laufe des Jahres wichtige Weichenstellungen vorgenommen. Im Juli dieses Jahres ist das Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft in Kraft getreten. Die bäuerlichen Familienbetriebe zu stärken, der Massentierhaltung entgegenzuwirken und umweltschonende Produktionsweisen zu fördern sind die wichtigsten Ziele der unionsgeführten Bundesregierung und der sie tragenden Bundestagsfraktionen. Mit dem Agrarstrukturgesetz ist ein weiterer Meilenstein dieser Politik gesetzt, die Landwirtschaft durch direkte Hilfen zu stärken.
So erhalten bäuerliche Familienbetriebe von 1989 bis 1992 einen betriebsbezogenen Einkommensausgleich für währungsbedingte Einkommensverluste.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Oostergetelo?
Gerne.
Herr Kollege, da Sie Ihre Taten rühmen, habe ich die Frage: Wird die Massentierhaltung wirklich verhindert, wenn Sie im Agrarstrukturgesetz ausdrücklich die Produktion bis zu 2,1 Millionen Tieren in einem Gemeinschaftsbetrieb erlauben,
({0})
und ist es ein international tragfähiges Ergebnis, wenn Sie Ihrerseits die Forderung nach einem Praktikantenaustausch, der im Ernährungsausschuß einstimmig entsprochen worden ist, im Haushaltsausschuß torpedieren?
({1})
Die letzte Frage beantworte ich gerne. Herr Kollege, bevor Sie überhaupt einmal Kontakt mit den zuständigen Berichterstattern aufgenommen haben, haben Sie in Ihrer Heimatzeitung bereits verkündet, daß das alles vom Haushaltsausschuß genehmigt worden sei.
({0}) Das ist natürlich die feine englische Art.
Nun zu Ihrer ersten Frage. Das ist ein Anfang, den wir in der Agrarpolitik gemacht haben. Ich gebe zu, daß solche Fälle dort, wo auch Teilungen vorkommen, nicht in unser Konzept passen. Das ist eine Frage, die wir auf europäischer Ebene im steuerlichen Bereich und auch im Zusammenhang mit dem Einkommensausgleich zu regeln haben.
Lassen Sie mich weiter fortfahren.
Der Herr Abgeordnete Ooestergetelo will noch eine Zusatzfrage stellen.
({0})
Nein, ich denke, wir haben diese Frage geklärt.
Sollten die Mittel für den sozio-strukturellen Ausgleich, den wir als Ersatz geben, nicht in vollem Umfange abfließen, weil nicht genügend Anträge gestellt worden sind und weil hier möglicherweise die Fristen versäumt worden sind, sind wir, so meine ich, im kom13576
Schmitz ({0})
menden Jahr aufgerufen, unter Umständen darüber nachzudenken, ob wir die Bemessungsgrundlage auf den Prüfstand zu stellen haben. Es ist jedenfalls unser entschiedener Wille, daß den Bauern das zuzukommen hat, was ihnen zusteht.
({1})
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich auch ein Wort zu Europa sagen. Auch für die Landwirtschaft wird der grenzüberschreitende Handelsverkehr im Hinblick auf 1993 zunehmen. Der gemeinsame europäische Markt mit rund 320 Millionen kaufkräftigen Verbrauchern bietet eine neue Chance für eine leistungs- und wettbewerbsfähige deutsche Landwirtschaft. Alle Probleme können daher nur dann gelöst werden, wenn wir die deutsche Landwirtschaft wettbewerbsfähig erhalten.
Die europaweiten Bemühungen um eine Extensivierung der Landbewirtschaftung und eine Herausnahme von landwirtschaftlichen Flächen aus der Produktion sind vernünftig.
({2})
Aber auch hier muß gewährleistet sein, daß sich alle Länder angemessen daran beteiligen. Im ersten Jahr sind in der Bundesrepublik Deutschland 170 000 ha stillgelegt worden - sie belasten die Produktion nicht mehr - , in der EG insgesamt 452 000 ha.
({3}) - Wir sitzen in der EG, nicht in Amerika.
Vor allem auf Drängen der Bundesregierung wurde eine deutliche Verbesserung der EG-Erstattung vorgenommen, so daß auch in den übrigen Mitgliedstaaten die Maßnahmen in Zukunft verstärkt in Anspruch genommen werden dürften.
Zur Anpassung an den Gemeinsamen Markt haben wir für den Rahmenplan in der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserungen vorgeschlagen, etwa die Förderung der Vermarktung nach besonderen Regeln erzeugter landwirtschaftlicher Erzeugnisse aufzunehmen - an dieser Stelle sollten Sie eigentlich Beifall klatschen -, eine Umstellungshilfe während der Teilnahme an einer beruflichen Umschulung zu gewähren, die Förderung für Kooperationen durch Ausnutzung der Möglichkeiten in der Effizienzverordnung wesentlich zu verbessern.
Bei allen staatlichen Unterstützungsmaßnahmen müssen wir dafür Sorge tragen, daß die internationale Wettbewerbsfähigkeit - ich sagte das eben schon - gewährleistet ist.
Die Union ist für vernünftige Hilfen für Voll-, Zu-und Nebenerwerbsbetriebe, die eine für uns unverzichtbare Arbeit leisten. Lassen Sie mich das sagen: Diese Hilfen sind - wie von verschiedener Seite schon behauptet worden ist - überhaupt nicht überdimensioniert. Wir wollen, daß die Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetriebe, daß der bäuerliche Mittelstand in der Bundesrepublik Deutschland tragende Strukturelemente bleiben.
({4})
Lassen Sie mich für die Unionsfraktion zusammenfassend feststellen: Diese Bundesregierung und dieser Bundesminister stehen zu diesem Leitbild. Wir werden die Anträge, die von seiten der GRÜNEN und von seiten der SPD gestellt worden sind, ablehnen.
({5})
Natürlich werden wir dem Bundeskanzler und auch dem Bundeslandwirtschaftsminister unsere Zustimmung geben. Deshalb stimmen wir diesem Etat zu.
Herzlichen Dank.
({6})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Flinner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In welche Richtung steuert die Landwirtschaft?
({0})
Bei Betrachtung des Agrarhaushalts, wenn man sieht, wofür rund 9 Milliarden DM an Steuergeldern ausgegeben werden, ist zu erfahren, wie sich die Regierung die künftige Landwirtschaft vorstellt und wünscht.
Wir müssen uns fragen: Entspricht das den Wünschen der Bäuerinnen und Bauern,
({1})
den Wünschen der Menschen auf dem Lande,
({2})
ja entspricht das den Wünschen der Wählerinnen und Wähler?
({3})
Für alle muß eindeutig gesagt werden: Nein.
({4})
Denn wofür werden die Mittel bereitgestellt? Bei wem kommt das Geld an?
({5})
Uns Bäuerinnen und Bauern geht es doch immer schlechter. Abgesehen von den Großbetrieben ist das Einkommen aus landwirtschaftlicher Arbeit immer geringer geworden. Die Bedingungen sind durch die Konzentration der ländlichen Strukturen immer schlechter geworden. In Baden-Württemberg ist fast jeder sechste Bauernhof in der Existenzkrise. Unter der drückenden Schuldenlast ist bei vielen die soziale Absicherung gefährdet.
Aber es ist falsch, zu glauben, die Bauern und Bäuerinnen seien selbst schuld am Niedergang so vieler Betriebe. Unter den gegenwärtigen Bedingungen, unter der Politik, die auch mit diesem Haushalt geführt wird, können sie dem Strukturwandel gar nicht entkommen.
Nun heißt es aber doch - wir haben es soeben auch gehört - , vom Ministerium würden groß angelegte Maßnahmen zur Förderung der Landwirtschaft aufgelegt, für die Bauern werde viel Geld ausgegeben. All das hört sich gut an. Aber diese sogenannten Hilfsprogramme haben doch einen ganz anderen Zweck: Der Strukturwandel wird beschleunigt, seine schlimmsten
Folgen werden sozial geringfügig abgefedert, damit unter den Bauern keine zu große Unruhe aufkommt.
Aber gleichzeitig wird mit diesem Haushalt gegen die Bäuerinnen und Bauern Politik gemacht. Hierzu ein Beispiel - hören Sie gut zu -:
({6})
Mit Mitteln dieses Haushalts sind Kosten im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde Daimler-Benz, Teststrecke Boxberg bestritten worden. Die Natur, die Landschaft und auch die bäuerlichen Höfe in diesem Gebiet sollten verschwinden. Welch ein Unsinn!
Mit steigendem Engagement verfolgt die Regierung Pläne für den Anbau nachwachsender Rohstoffe und von Industriepflanzen. Uns Bauern werden diese Pläne als Möglichkeit zur Sanierung der gesunkenen Einkommen verkauft.
Aber wie sieht das in Wirklichkeit aus? Den Gewinn machen doch die Chemiefirmen, die mit den Projekten in dieses Geschäft einsteigen wollen.
({7})
- Streiten Sie es nicht weg, Herr Eigen. Es stimmt.
({8})
Und sollte später einmal eine Großerzeugung und -verarbeitung erfolgen, dann machen sie den Gewinn erst recht. Aber die Bauern, die dann diese Pflanze anbauen - und ihnen wird bei Ihrer Politik auch gar nichts anderes übrigbleiben - , werden in weitere Abhängigkeit geraten.
({9})
Außerdem wissen wir alle, daß der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen und Energiepflanzen in großem Maßstab einschneidende Folgen für unser Ökosystem und schwere Veränderungen unserer Kulturlandschaft mit sich bringen wird.
({10})
- Herr Eigen, der Maisanbau bringt es an den Tag.
({11})
Der großflächige Anbau von Pflanzen, die hier nicht heimisch sind, ist nicht zu verantworten. Das gleiche gilt auch für schnell wachsende Baumarten.
Es ist doch bemerkenswert, daß von fast 6 Millionen DM, die für solch ein Programm vorgesehen sind, nur 69 000 DM zur Erforschung der Umweltwirkungen veranschlagt sind. Das zeigt, wie sehr das Programm einseitig ausgerichtet ist und wie wenig die ökologischen Aspekte berücksichtigt werden.
Die drohende Klimakatastrophe können wir nicht vermeiden, indem wir Energiepflanzen verbrennen, sondern indem wir mit den Ressourcen sparsam umgehen.
({12})
Nehmen wir als Beispiel die Ethanolfabrik. Sie wurde
hier heute schon angesprochen. Bis Ende dieses Jahres wird dieses Projekt 53 Millionen DM öffentliche
Gelder verschlungen haben. Mit jedem in der Anlage erzeugten Liter Alkohol wird ein Verlust von 1,20 DM erwirtschaftet.
({13})
Die ökologischen Probleme der Fabrik, insbesondere die Abwasserprobleme, sind inzwischen hinreichend bekannt. Warum, so frage ich Sie, hört man denn nicht endlich mit solchem Blödsinn auf?
({14})
Bisher erfordert die Entwicklung und Verwendung der Energiepflanzen in jedem Fall hohe Subventionen. Das heißt, die Steuerzahler bezahlen immer wieder ein unsinniges Experiment.
({15})
Es ist auch nicht richtig, auf eine Erhöhung des Ölpreises zu spekulieren und für diese Zeit die Wirtschaftlichkeit solch fragwürdiger Projekte zu erwarten.
({16})
Es ist unverantwortlich, daß wir in die Bundesrepublik immer noch riesige Mengen an Futtermitteln importieren und gleichzeitig die Nahrungsmittelüberschüsse beklagen und bekämpfen, während in der sogenannten Dritten Welt die Menschen an Hunger sterben. Den Menschen in diesen Ländern müssen die Anstrengungen in der EG, die Nahrungsproduktion einzuschränken - und dazu gehören auch die Maßnahmen im Agrarhaushalt, über den wir jetzt sprechen - , wie ein Hohn vorkommen. Ich denke auch an die Menschen in Polen und Rumänien, die nicht wissen, wie sie den Winter überleben sollen.
Die Milliarden, die für nachwachsende Rohstoffe und Energiepflanzen vorgesehen sind, brauchen wir dringend zum Aufbau einer eigenen vernünftigen Landwirtschaft.
({17})
Damit meine ich eine bäuerlich-ökologische Landwirtschaft,
({18})
die Nahrungsmittel und Futtermittel im eigenen Land erzeugt, die ohne Abhängigkeit von der chemischen Industrie und ohne Einfuhr von Futtermitteln, aber auch ohne Verseuchung des Bodens und des Grundwassers auskommt.
({19})
Deshalb fordern wir die Streichung aller Titel in diesem Haushalt, die der Förderung und Einführung der nachwachsenden Rohstoffe dienen. Die Mittel sollen statt dessen in ein Forschungs- und Entwicklungsprogramm zur Erhaltung und Förderung einer bäuerlich-ökologischen Landwirtschaft sowie einer eigenständigen Regionalentwicklung fließen.
Meine Damen und Herren, die Gemeinschaftsaufgabe, wie sie in diesem Haushalt vorgesehen ist, verschärft die Probleme der Landwirtschaft und des länd13578
lichen Raums. Sie ist ein Programm zur Beschleunigung des Strukturwandels und zur Belebung der Bauwirtschaft.
({20})
Wir stellen uns statt dessen eine Gemeinschaftsaufgabe vor, die den aktuellen wirtschaftlichen und ökologischen Bedingungen entsprechend umgewidmet wird und Maßnahmen für die Wiederherstellung und Erhaltung der ökologischen und wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des ländlichen Raums und gegen das Waldsterben enthält. Die Mittel sollen insbesondere zu folgenden Zwecken Verwendung finden: Ausgleichszulage für benachteiligte Gebiete
({21})
- das gibt es zum Teil - , Förderung des freiwilligen Landtauschs,
({22})
Förderung der ökologischen Landbewirtschaftung, Maßnahmen zum Erosionsschutz
({23})
- nein -,
({24})
Maßnahmen zum Schutz von Boden und Grundwasser
({25})
vor Belastung durch Pestizide und Düngemittel, Förderung der Gründung von Erzeugergemeinschaften,
({26})
ökologische Dorferneuerung, Erleichterung der Direktvermarktung, Förderung des Baus hofeigner Schlacht- und Verkaufsräume,
({27})
auch Maßnahmen des Küstenschutzes, die Natur und Küstenvorland schützen, und schließlich, besonders wichtig, Maßnahmen zum Schutz und zur Sanierung des Waldes mit einem Notprogramm zur Schutzwaldsanierung in der Alpenregion sowie der Anpflanzung von Jungwald durch Finanzhilfen für geschädigte Waldbauern.
Frau Flinner, das war ein guter Schlußsatz.
Ein ganz kurzer noch. - Angesichts all dieser Probleme leistet die Regierung mit dem Agrarhaushalt nicht das, was unbedingt getan werden muß.
({0})
- Das ist ja auch richtig; denn ihr lernt nichts dazu. Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Agraretat 1990 mit einem Nettovolumen von rund 9,6 Milliarden DM ist die konsequente Fortsetzung der erfolgreichen Politik dieser Bundesregierung
({0})
und der Koalitionsfraktionen, um die notwendigen Mittel für eine vernünftige und zukunftsgerichete Agrarpolitik zur Verfügung zu stellen.
({1})
Mit 5,4 Milliarden DM wird für die landwirtschaftliche Sozialpolitik mehr als die Hälfte des Einzelplans aufgewendet. Insbesondere steigen die Beträge für die Altershilfe und die landwirtschaftliche Krankenversicherung. Das wird von der FDP ausdrücklich unterstützt.
Wir bedauern aber auch, daß es in dieser Legislaturperiode nicht mehr zu der notwendigen Reform der Agrarsozialpolitik kommt.
({2})
Hier sind wir gefordert. Wir sollten, wollen und werden unseren Landwirten ganz klar sagen, daß wir gleich zu Beginn der nächsten Legislaturperiode diese Reform anpacken müssen und auf den Weg bringen werden.
({3})
Während die Mittel für die Agrarsozialpolitik um 3,6 % steigen, hat der gesamte Einzelplan 10 eine Steigerungsrate von rund 1 %. Wir müssen darauf achten, daß der Spielraum für strukturelle, ökologische oder marktentlastende Maßnahmen nicht zu gering wird. Wir brauchen zukünftig nämlich verstärkt Mittel, um unsere Landwirtschaft mit gezielten Maßnahmen auf den EG-Binnenmarkt vorzubereiten. So notwendig staatliche Maßnahmen auch sind, um Anpassungsprozesse zu flankieren: ohne stärkere Marktorientierung und mehr unternehmerisches Handeln werden wir unsere Wettbewerbsposition im Binnenmarkt nicht halten oder ausbauen können.
Herr Kollege Diller, Sie sprachen den Milchmarkt an, das Bauchladenproblem. Hier werden wir sicherlich sehr bald zu Entscheidungen kommen müssen. Sie haben das Anlastungsverfahren durchaus richtig angesprochen. Es darf nicht sein - darüber sind wir uns alle einig - , daß hier etwas auf uns zukommt, was wir nicht verantworten können. Ich kann nur an alle appellieren, einen Weg zu suchen. Ich muß sagen: Wir hatten schon einen Vorschlag; Minister Kiechle hatte den in Brüssel durchaus vertreten. Leider ist uns das von einigen kaputtgemacht worden. Ich hoffe, daß das in Zukunft nicht so laufen wird.
Mit den bereitgestellten Mitteln für Flächenstillegung, Extensivierung und Produktionsaufgabenrente sind alte FDP-Forderungen im Haushalt verankert. Es wird jetzt alles darauf ankommen, daß auch unsere EG-Partnerstaaten entsprechende Gesetze anwenden und finanziell ausgestalten, damit die Überschußproduktion in ganz Europa zurückgeführt wird.
Es kann nicht sein, daß wir alles durchführen und die Partnerstaaten dafür die Marktanteile übernehmen.
({4})
Leider sind wir bei der Produktionsaufgaberente auch in der Bundesrepublik noch nicht weit genug gekommen. Es ist absolut notwendig, daß wir dieses Gesetz attraktiver ausgestalten. Ich meine, dieses Gesetz ist nach wie vor richtig und vernünftig. Auch wenn bisher nur 3 400 Anträge vorliegen und die Mittel nicht abgeflossen sind - wir haben die vormals 180 Millionen DM auf 100 Millionen DM zurückgeführt - , meine ich, daß wir sehr schnell an die Arbeit gehen sollten. Denn auf dieses Gesetz warten unsere Bauern durchaus.
Auch das Programm zur Extensivierung der landwirtschaftlichen Produktion steckt noch in den allerersten Anfängen. Auch hier gibt es in der Bundesrepublik nur 1 200 Anträge. Auch hier scheint die Akzeptanz durch die komplizierten Bedingungen, an die die Gewährung gebunden ist, noch nicht genügend vorhanden zu sein. Ich schlage vor, daß uns die ersten Erfahrungen sehr schnell vorgelegt werden und wir dann im Ernährungsausschuß diese Dinge eingehend beraten und erörtern.
Erstmalig stehen im Agrarhaushalt 1990 Mittel für eine Umstellungshilfe zur Förderung der Umschulung von Landwirten, die aus der Landwirtschaft ausscheiden wollen und hierzu eine Qualifikation in einem außerlandwirtschaftlichen Beruf anstreben. Damit ist eine langjährige Forderung der FDP umgesetzt. Ich begrüße das ausdrücklich.
({5})
6,3 Millionen ha oder über 53 % der landwirtschaftlichen Fläche der Bundesrepublik sind jetzt als benachteiligte Gebiete ausgewiesen. Wenn sich diese Entwicklung so fortsetzt, dann ist in einigen Jahren die gesamte Republik benachteiligt. Die FDP bekennt sich zwar ausdrücklich zur gezielten Förderung der strukturschwachen Gebiete und der dortigen landwirtschaftlichen Betriebe; aber das sollte nicht ausufern. Hier sollte künftig wieder gezielter und konzentrierter vorgegangen werden. Ich meine, wir können eine gestaltende Agrarpolitik nicht durch Verteilung der Mittel mit der Gießkanne betreiben.
Die FDP will in dieser Legislaturperiode die Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes. So steht es ja auch im Koalitionsabkommen. Aus dem Bundesumweltministerium liegt uns inzwischen ein Gesetzentwurf vor, der, wie ich meine, sowohl die Erfordernisse des Naturschutzes als auch die Belange der Landwirte berücksichtigt.
Wir sind uns darüber einig, daß die Finanzierung zunächst über die Gemeinschaftsaufgabe Agrarstruktur erfolgen sollte. Die Länder sind zur Mitfinanzierung bereit. Zwar verstehe ich den Standpunkt unseres Bundesfinanzministers, dies sei eine reine Ländersache, sie müsse also auch allein von den Ländern finanziert werden; aber eine solche Argumentation geht letztendlich zu Lasten der Natur. Weil es ohne finanziellen Ausgleich für die Betroffenen kein neues Naturschutzgesetz geben kann, appelliere ich an den Bundesfinanzminister, seine Bedenken zurückzustellen. Es kann doch nicht wahr sein, daß wegen 120 Millionen DM bei einem Bundeshaushalt von über 300 Milliarden DM das Bundesnaturschutzgesetz scheitern soll.
Meine Damen und Herren, der Agraretat für 1990 zeigt, daß wir die Landwirtschaft nicht im Stich lassen, sondern daß sie nach wie vor für uns einen hohen Stellenwert hat. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß der EG-Binnenmarkt vor der Tür steht und daß sich der Wettbewerb zwischen den einzelnen Landwirtschaften noch verstärken wird. Die FDP wird auch weiterhin dafür sorgen, daß wir für unsere Landwirtschaft die Rahmenbedingungen schaffen, die sie den Konkurrenzkampf im zukünftigen gemeinsamen Markt erfolgreich bestehen läßt. Die FDP-Fraktion wird diesem Haushalt zustimmen.
({6})
Das Wort hat der Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich eine Vorbemerkung machen. Herr Kollege Diller, Sie haben immerhin anerkannt, daß wir ab und zu auch etwas richtig machen; aber Sie haben bei Ihrer Kritik überzogen. Sie sprachen davon - und Sie haben es etwas dramatisch dargestellt - : 700 Millionen DM gehen über das Strukturgesetz an Betriebe mit bis zu 120 Kühen und bis zu 700 000 Hähnchen. Sehr verehrter Herr Diller, 75 % des gesamten Bodens, soweit er landwirtschaftlich genutzt ist, wird in der Bundesrepublik Deutschland von Betrieben unter 50 ha genutzt.
({0})
Betriebe über 50 ha sind immer noch keine Riesenbetriebe; es sind insgesamt 7 % aller Betriebe. Ich sage es Ihnen nur.
Sie haben mir den Vorwurf wegen meines - Sie sagten: „Ihres" - Bauchladens gemacht. Na ja, verteilt haben ihn die Bundesländer, und es waren ziemlich alle beteiligt. Ich erinnere daran: als ich an den nordrhein-westfälischen Kollegen einen Brief schrieb, daß er gegen die Verordnung, also contra legem, Milch verteile, hat er mich wissen lassen - so auf seine Art, öffentlich - , ich könne ihn ja verklagen, wenn es mir nicht passe. So ist man damit umgegangen. Ich will aber nicht nur Nordrhein-Westfalen allein beschuldigen; sondern alle waren beteiligt. Nur, ich habe es also nicht allein verursacht. Vielleicht kann man mir das mal zugute halten.
Nun zu Frau Flinner. Es tut mir leid, zu Ihnen kann ich nicht viel sagen.
({1})
Was Sie hier predigen, ist wie eine Schallplatte. Ich kann das nicht ändern. Oben kommt eine Mark rein
- das ist die Redemöglichkeit -, und dann verkünden Sie, was Sie immer verkündigt haben. Sie haben auch etwas gesagt, was überhaupt nicht stimmt oder mindestens völlig unbedeutend ist.
Dramatisch, wie Sie es ja können, haben Sie hier gesagt: Und dann muß man bedenken, daß sogar für das Mercedes-Projekt aus dem Agrarhaushalt noch etwas bezahlt wird.
({2})
Ich habe mich gerade erinnert: Das sind 6 000 DM von 9 600 Millionen DM. Das war der Fall, weil bei dem Projekt die Flurbereinigung beteiligt war und wir ein Viertel der Kosten übernehmen mußten.
({3})
Für solche Punkte benutzen Sie das Rednerpult des Deutschen Bundestages, um zur Situation der deutschen Landwirtschaft zu sprechen. Aber es bleibt Ihnen ja letztlich unbenommen.
Im übrigen haben wir heute das bekannte Ritual wieder erlebt: Man nutzt die Haushaltsdebatte, um der Bundesregierung sozusagen vermeintliche Versäumnisse in der Politik vorzuhalten,
({4})
und man malt dabei doch in ziemlich dunklen Farben. Ich muß hinzufügen: Während die Bauern bereits verstanden haben, daß in der Agrarpolitik auch einiges vorwärts geht
({5})
- ich will nicht behaupten, daß sie mit allem zufrieden sind, aber sie haben erkannt, daß diese Politik auch positive Seiten hat und mittlerweile auch Erfolge zeitigt -, reden Sie darüber natürlich mit keinem Ton.
({6})
Nun wollen wir Ihre Schwarzmalerei aber nicht mit Schönfärberei erwidern
({7})
- ich habe das auch früher nie gemacht - , wir wollen die Tatsachen sprechen lassen. Eine der Tatsachen ist, daß sich die Einkommenslage in der Landwirtschaft seit dem vergangenen Jahr deutlich verbessert.
({8})
Auch der Bericht des Deutschen Bauernverbandes, der in Kürze kommt, wird dies bestätigen.
Wir wissen, daß noch nicht alle Probleme gelöst sind, auch jene nicht, die Sie, die SPD, uns aus der Zeit Ihrer agrarpolitischen Verantwortung hinterlassen haben. Stück für Stück sind wir im Laufe der Jahre aber einer längerfristig tragfähigen Agrarpolitik nähergekommen.
({9})
- Herr Gallus hat das gemacht, was der Bundeskanzler damals seinem Minister gestattet hat, nicht mehr und nicht weniger.
Die agrarpolitische Konzeption der Bundesregierung ist eindeutig, und ich will sie hier noch einmal wiederholen: erstens die Wiederherstellung des Marktgleichgewichts und damit die Stabilisierung der Marktpreise, zweitens die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe - dazu gehören vor allem gleiche rechtliche Produktionsbedingungen in der EG und ein Währungsausgleich, solange wir noch keine Währungsunion haben - , drittens ein neues Gleichgewicht zwischen Ökonomie und Ökologie in der Agrarproduktion, viertens ein System von flankierenden Einkommenshilfen und Alternativen und fünftens eine umfassende soziale Sicherung der in der Landwirtschaft Beschäftigten und ihrer Familien.
Mit rund 56 % - das sind immerhin 5,3 Milliarden DM - machen die Mittel für die Agrarsozialpolitik nun den größten Teil des Einzelplans 10 aus, und dieses Geld kommt unseren Bauern direkt und unmittelbar zugute. Die nächstgrößte Aufgabe ist die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes", immerhin auch 1 800 Millionen DM.
Mit obenan in der agrarpolitischen Zielhierarchie steht für uns die Ordnung der Märkte - ich habe das schon oft betont und muß es immer wieder sagen -, d. h. die Orientierung der Produktion am Bedarf. Unsere Politik zur Wiederherstellung dieses Marktgleichgewichts zeigt ja auch immerhin bei Milch den durchschlagendsten Erfolg. Ich brauche nicht über die abgebauten Butter- und Magermilchpulverberge zu reden; mit diesem Abbau ist der Erzeugerpreis deutlich gestiegen. Neben Milch zeigen übrigens auch die Märkte bei Rind- und Schweinefleisch: Die Ordnung der Märkte ist und bleibt also die beste Preis- und Einkommenspolitik für unsere Bauern.
Bei Getreide wurde auf unsere Initiative hin den Bauern in der EG das Angebot gemacht, die Getreideproduktion freiwillig einzuschränken, natürlich bei finanziellem Ausgleich. Die Bauern bei uns haben zwar regen Gebrauch davon gemacht, aber leider haben die Bauern in anderen Mitgliedstaaten das noch nicht getan. Die finanziellen Anreize waren dort zu gering. Wir haben erreicht, daß die EG-Beteiligung an der Finanzierung inzwischen verbessert ist. Ich hoffe, daß nunmehr auch die Teilnahme in anderen Mitgliedstaaten der EG verstärkt zur Flächenstillegung führt.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Sie kritisieren dennoch
({10})
- ja, gut; ich meine, wir brauchen nicht darüber zu streiten, ob es zu Recht ist; ich stelle es nur fest - das 1988 vom Europäischen Rat beschlossene Stabilisatorenkonzept bei Getreide. Sie werfen der BundesreBundesminister Kiechle
gierung vor, die Interessen der Bauern nicht genügend berücksichtigt zu haben.
Man sollte nicht nur agrarpolitische Details herausgreifen und sie dann dramatisieren. Tatsache ist, daß die EG-Kommission im Rahmen des Stabilisatorenkonzepts ursprünglich eine Getreidegarantieschwelle von 155 Millionen Tonnen durchsetzen wollte. Wir haben sie durch viele Verhandlungen und auch durch Verhandlungsdruck auf 160 Millionen Tonnen festgesetzt. Nur deswegen konnte man z. B. in diesem Jahr wenigstens für das kommende Jahr die Zusatz-Mitverantwortungsabgabe aussetzen. Auch Stützpreissenkungen bis zu 10 % haben wir damals verhindert. Man muß sich also schon an das Ganze erinnern, wenn man die Details von heute kritisiert.
Wir setzen nach wie vor wie auch bei Milch ebenso bei Getreide auf ein Konzept der direkten Mengenbegrenzung, sozusagen an der Quelle. Von Ihnen weiß ich, insbesondere von Ihnen, meine Herren von der SPD, Sie plädieren dagegen für mehr Markt. Mehr Markt heißt doch im Klartext mehr Preisdruck. Damit sitzt man halt mit der EG-Kommission in einem Boot, und man sollte das dann auch den Bauern so sagen und ihnen nicht über diese Marktphilosophie Sand in die Augen streuen.
Natürlich sagen Sie, bei mehr Markt müsse man dann mit direkten Einkommensbeihilfen negative Folgen auffangen. Wie aber solche Beihilfen aussehen, wie man sie verteilen soll und wie man sie überhaupt finanzieren soll, dazu schweigt man sich dann aus. Ich meine, es ist schon ein Luxus, Politik mit der Summe von Wunschbildern gleichzusetzen; eine agrarpolitische Konzeption ist das jedenfalls nicht.
Ich möchte offen bekennen, es ist ein hartes Geschäft, eine Korrektur dieser Agrarpolitik zu erreichen, und zwar so, daß diese Korrektur nicht nur auf dem Rücken der Bauern ausgetragen wird. Wenn es stimmt, daß uns die Sorge um die Landwirtschaft eine gemeinsame Sorge ist, dann würde ich mir manchmal wünschen, daß sich diese Gemeinsamkeit auch im Lastentragen, zumindest ein wenig, ausdrückt.
Oder umgekehrt: Wenn ich lese, daß der Obmann der SPD-Bundestagsfraktion im Wirtschaftsausschuß am 19. September erklärt hat: die amerikanische Forderung nach völliger Liberalisierung der Weltagrarmärkte mag zwar übertrieben sein, zielt aber in die richtige Richtung, oder: für uns ist es auf alle Fälle unakzeptabel, daß die GATT-Verhandlungen, von deren erfolgreichen Abschluß die deutsche Wirtschaft profitiert, an den Agrarfragen scheitert, dann heißt das doch im Klartext, daß Sie uns selbst in dieser Frage in den Rücken fallen, wenn auch auf einer anderen Ebene.
({11})
Also bitte, entweder gehen wir miteinander real um und führen eine einfache, klare Sprache, oder wir polemisieren gegeneinander. Ich will das aber umgekehrt versuchen.
Es gehört auch zu einer soliden Konzeption, daß es eben bei uns d i e Landwirtschaft gar nicht gibt. Es gibt kleine und es gibt größere Betriebe; es gibt Betriebe, die gut über die Runden kommen, und es gibt Betriebe, die in ihrer Existenz gefährdet sind, und nicht immer hat das nur mit Größe zu tun. Entsprechend differenziert muß eine Agrarkonzeption für unsere Landwirtschaft sein.
Ich sehe kein Industrieland auf der ganzen Welt, in dem der Agrarsektor etwa ohne staatliche Stützung auskommt. Deswegen brauchen auch unsere Bauern die Unterstützung des Staates. Falsch wäre es aber, unseren Bauern einzureden, der Staat könne sozusagen von oben herab jedem Betrieb seine Marktanteile und damit ein ausreichendes Einkommen aus der Nahrungsmittelproduktion sichern. Hier ist auch Eigeninitiative gefragt.
Eine wichtige Aufgabe der Politik ist es, den Bauern Einkommens- und Erwerbsalternativen aufzuzeigen. Eine solche Alternative - ob Sie es nun verstehen, Frau Flinner, oder nicht, ist ziemlich unbedeutend - ist der Anbau von nachwachsenden Rohstoffen für industrielle Zwecke.
({12})
Damit diese Möglichkeiten morgen zum Tragen kommen können, müssen wir heute auch die Pilotprojekte haben, und zwar auch solche wie die Ethanolproduktion z. B. in Ahausen-Eversen und Groß-Munzel. Sie etwas zu konzentrieren kann ja kein Fehler sein. Nur so können wir überhaupt irgendwann einmal klären, und zwar auf Grund von Erfahrungen, inwieweit dieser Weg gangbar ist und wie viele Landwirte ihn gehen können.
Man sollte nicht, wie Sie es von der Opposition leider tun, von vornherein unterstellen, daß der Weg der Produktions- und Verwendungsalternativen in der Landwirtschaft weniger oder gar nichts bringt. Wenn wir auch auf diesem Gebiet die Hände in den Schoß legen und einfach warten, wie sich alles entwickelt, dann verhalten wir uns auf jeden Fall falsch. Nichts tun löst halt gar keine Probleme, auch keine agrarpolitischen, so wenig wie blinder Aktionismus.
Ich kann deswegen auch Klagen über eine vermeintlich niedrige Steigerungsrate des Einzelplans 10 nicht ernst nehmen. Über die Steigerungsraten im Durchschnitt mehrerer Jahre hat Herr Kollege Schmitz ja gesprochen. Wir haben im laufenden Jahr wichtige neue Maßnahmen auf den Weg gebracht: Produktionsaufgaberente, Flächenstillegung, Extensivierung, Einkommensausgleich mit 700 Millionen DM, die benachteiligten Gebiete wurden noch einmal um 300 000 Hektar erweitert. Übrigens hat es da, als ich mein Amt antrat, 100 Millionen DM gegeben, und heute sind es 725 Millionen DM; auch das muß man um der Wahrheit willen sagen. Im Durchschnitt macht das für jeden berechtigten Betrieb heute schon 3 000 DM aus.
Zu einer soliden Agrarpolitik gehört es, neue Maßnahmen auf ihre Wirksamkeit erst einmal zu überprüfen, bevor man über weitere entscheidet. Es gibt bei der Lösung der Einkommensprobleme eigentlich nur zwei Alternativen: entweder noch mehr Staat - das bedeutet mehr Reglementierung durch Gesetze, Verordnungen und Auflagen - oder eine stärkere Besinnung der Landwirte auf die eigenen Fähigkeiten und die wirtschaftlichen Möglichkeiten.
Wir lehnen es aber ab, unseren Bauern ihre Einkommen sozusagen von Staats wegen zuzuteilen. Wir möchten ja eine Vielzahl selbständiger bäuerlicher Betriebe, die auch in der Lage sind, ihre vielfältigen Aufgaben für die Bevölkerung zu erfüllen. Mit dem Miteinander von Voll-, Zu- und Nebenerwerbsbetrieben sehen wir als Regierung immer noch die beste Garantie für eine sichere, qualitativ hochwertige Ernährung unserer Bevölkerung und für die Erhaltung unserer attraktiven, über Jahrhunderte von Menschenhand geschaffenen Kulturlandschaft.
Für ein leistungsfähiges Miteinander - ich sage ausdrücklich: Miteinander - selbständiger Betriebsformen wird sich die Bundesregierung weiterhin mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten einsetzen. Die Vergangenheit, meine Damen und Herren, hat gezeigt, daß sich der Erfolg nicht überall schnell einstellt. Wer in der Politik dicke Bretter bohren muß, braucht Zeit, und er braucht auch Geduld. Wer nur dünne Bretter bohrt, hat vielleicht manchmal schneller einen angeblichen Erfolg, diese Bretter tragen aber nicht, wenn es darauf ankommt.
Ich möchte allen Kolleginnen und Kollegen des Parlaments und des Haushaltsausschusses, die trotz zuweilen unterschiedlicher Standpunkte zum guten Gelingen der Beratungen über den Einzelplan 10 beigetragen haben, herzlich danken.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Koltzsch.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister Kiechle, ich bitte sehr um Nachsicht. Ich bin erst seit dieser Legislaturperiode im Deutschen Bundestag und gehöre seitdem dem Landwirtschaftsausschuß an. Ich habe Ihre Ausführungen sehr aufmerksam verfolgt. Ich muß sagen, ich schätze Frau Flinner sehr aufrichtig. Ich halte es für etwas ungehörig, daß Sie sich hier herstellen und sagen: Es lohnt nicht, auf die alten Platten einzugehen, die Frau Flinner immer wieder einspielt.
({0})
Selbst, meine Herren von der Regierungskoalition, wenn Sie das so sehen, Herr Minister, dann bitte ich Sie, Ihre Platten, die Sie hier abspielen, auch einmal zu überprüfen, ob da nicht auch immer wieder die gleichen Melodien zum Vorschein kommen.
({1})
Aber nun zur Debatte. Zum Agrarhaushalt bietet sich nun die Gelegenheit, eine Bilanz der Agrarpolitik insgesamt zu ziehen, denn auch im nächsten Jahr wird, wie wir es heute schon gehört haben, wieder viel Geld für die deutsche Landwirtschaft ausgegeben: fast 10 Milliarden DM. Wir reden hier schließlich nur über den Bundeshaushalt, nicht über die Haushalte der Länder und der Europäischen Gemeinschaft. Von daher, Herr Minister, werfen wir der Bundesregierung nicht vor, daß sie insgesamt zu wenig staatliche Mittel aufwendet. Die Frage ist nur, wofür und für wen diese Mittel verwandt werden.
({2})
Der Agrarhaushalt müßte doch eine konzeptionelle Antwort auf die tiefe Krise enthalten, in der sich nach unserem Dafürhalten die deutsche Landwirtschaft seit Jahren befindet.
({3})
Er müßte eine Antwort auf die beiden großen Herausforderungen in diesem Bereich geben: das Hineinwachsen in den europäischen Binnenmarkt und die Notwendigkeit einer ökologischen Neuorientierung der Landbewirtschaftung insgesamt.
Ich muß jedoch feststellen, daß dieser Einzelplan 10 wieder ein Haushalt ist, der ein klares Wort nicht aufzeigt.
({4})
Ich werde das an Hand einiger weniger Beispiele zu belegen versuchen.
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- Warten wir das einmal ab, Herr Bredehorn.
Der Vorwurf der Konzeptionslosigkeit gilt nach meinem Dafürhalten vor allem für die Sozialpolitik, mit 5,4 Milliarden DM der größte Ausgabenposten des Haushaltes.
({6})
Wir Sozialdemokraten haben die landwirtschaftliche Sozialpolitik mit aufgebaut. Ihre verschiedenen Bereiche tragen im wesentlichen unsere Handschrift. Nur, meine Damen und Herren, soziale Sicherungssysteme müssen weiterentwickelt und den Erfordernissen der Zeit angepaßt werden. Uns allen ist bekannt, daß bei der agrarsozialen Sicherung, vor allem bei der Altershilfe, die Probleme seit Jahren ständig zunehmen. Der Referentenentwurf eines 4. agrarsozialen Ergänzungsgesetzes ist bereits wieder an regierungsinternen Streitereien, meinen wir, gescheitert, obwohl das doch nur ein kleiner, ein erster Schritt hin zur Gesamtreform sein sollte.
Ich möchte hier für meine Fraktion ein paar Notwendigkeiten in diesem Bereich nennen dürfen.
Erstens. Es muß das tatsächliche Gesamteinkommen der landwirtschaftlichen Familie bei der Bemessung linearer Beitragszuschüsse in der Altershilfe bzw. linearer Beiträge in der landwirtschaftlichen Krankenkasse zugrunde gelegt werden.
({7})
Zweitens. Es muß der Versichertenkreis neu geregelt werden, um zu verhindern, daß sich hier gutverdienende selbständige Landwirte zu geringen Beiträgen versichern können.
Drittens. Die soziale Sicherung der Landfrauen ist nach unserem Dafürhalten zu verbessern.
({8})
Viertens. Eine Strukturreform der landwirtschaftlichen Sozialversicherungsträger ist längst notwendig.
({9})
Die Bundesregierung hat jedoch offenbar nicht mehr die Kraft, diese Reform in dieser Legislaturperiode voranzubringen. Sie nimmt sie nicht in Angriff.
({10})
Fazit, meine Damen und Herren: Der landwirtschaftliche Sozialetat wird den Notwendigkeiten nicht gerecht und hält Gerechtigkeit nicht für notwendig.
({11})
Vor einem knappen Jahr haben wir hier in diesem Hohen Haus die landwirtschaftliche Vorruhestandsregelung beraten. Damals haben wir Sozialdemokraten eindringlich vor einer restriktiven Gestaltung der Produktionsaufgaberente gewarnt, leider, wie wir heute feststellen müssen, ohne Erfolg. Inzwischen zeichnet sich ab, daß wir zu Recht gegen engherzige Regelungen eingetreten sind.
({12})
Die Vorruhestandsregelung droht zu einem totalen Mißerfolg zu werden.
({13})
Letztes Jahr hat die Bundesregierung 9 600 Antragsteller für 1989 erwartet. Bis zum Stichtag 30. September haben aber ganze 3 400 Landwirte einen Antrag gestellt. Davon wurden bis jetzt nur 840 bewilligt.
Das, meine Damen und Herren, belegt, daß dieses Gesetz die vorgesehene Abfederungsfunktion so, wie es gestaltet ist, nicht leisten kann.
({14})
Daher haben Sie auch die Mittelansätze für 1990 gegenüber der ursprünglichen Planung reduziert. Das zeigt deutlich, daß Ihre Entscheidung falsch war.
({15})
Dieses Ergebnis ist das Eingeständnis eines Fehlschlags.
({16})
- Gut.
Wir sollten daher umgehend prüfen, welche der untauglichen Regelungen in der Vorruhestandsregelung geändert werden müssen. Ganz dringend erscheint uns, daß die Altersgrenze von 58 auf 55 Jahre herabgesetzt werden muß. Damit kann erreicht werden, daß ältere Landwirte ohne Hofnachfolger bereits mit 55 statt mit 58 Jahren die Bewirtschaftung ihres Hofes aufgeben können. Häufig stellt für diese Gruppe von Landwirten die Bewirtschaftung nur noch eine Quälerei ohne Perspektive dar, die sie nur durchhalten, weil sie bei einer frühzeitigen Aufgabe bisher nicht sozial abgesichert sind.
Mit den dadurch freiwerdenden Produktionskapazitäten sollten vorrangig jungen Landwirten die
Chance geboten werden, sich in der stärker werdenden Konkurrenz des EG-Binnenmarkts erfolgreich behaupten zu können.
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat in Brüssel EG-Einkommenshilfen mitbeschlossen. Aber in diesem Haushalt sind dafür keine Ansätze gebildet worden. Daß das kein Versehen war, zeigt die Antwort von Herrn Gallus auf wiederholte Nachfragen meines Kollegen Herrn Oostergetelo. Die Bundesregierung will diese Hilfen überhaupt nicht einführen.
Aufrichtigkeit wäre hier am Platze. Wenn die Bundesregierung das Problem auf die Länder abwälzen will und diese - wie ich meine: zu Recht - auf die Zuständigkeit des Bundes verweisen, nutzt das den betroffenen Landwirten überhaupt nichts, die auf die Hilfe angewiesen sind. Aus ideologischen Gründen verweigern Sie Hilfen, die z. B. viele Marktfruchtbaubetriebe in der schweren Phase der Marktanpassung benötigen.
Die Koalitionsfraktionen haben klare Aussagen im Ausschuß dazu gemacht. Ich appelliere hier an Sie: Wirken Sie auf die Bundesregierung ein, damit diese ihre ablehnende Haltung zu den Einkommensbeihilfen ändert.
Der Deutsche Bauernverand hat erst kürzlich festgestellt, daß bei fast einem Fünftel der landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetriebe das Einkommen unter der Sozialhilfegrenze liegt. Hier wären die Einkommensbeihilfen sicherlich sehr willkommen.
Die Bundesregierung führt jedoch offensichtlich lieber fruchtlose Schaukämpfe gegen die EG-Kommission, anstatt wenigstens die Auswirkung der eingeleiteten Reform der gemeinsamen Agrarpolitik zu mildern.
Lassen Sie mich zum Schluß noch etwas zum Praktikantenaustausch mit Osteuropa sagen.
Lieber Herr Kollege, das ist zuviel, wenn Sie noch ein neues Thema anfangen wollen. Sie sind schon über die Zeit. Suchen Sie sich einen schönen Schlußsatz.
Meine Damen und Herren, wir haben vor dem Hintergrund dessen, was in Osteuropa vor sich geht, sehr bedauert, daß wir für den Praktikantenaustausch keine Unterstützung leisten konnten.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über die Änderungsanträge, die von der Fraktion DIE GRÜNEN gestellt worden sind. Das sind zunächst drei hintereinander, die ich in der Reihenfolge der Drucksachen-Nummern aufrufe.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5772? Den bitte ich ums Handzeichen. - Wer
Vizepräsident Westphal
stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5773? Den bitte ich ums Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit der gleichen Mehrheit wie der vorherige abgelehnt worden.
Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/5774? Den bitte ich ums Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Es ist dieselbe große Mehrheit wie die, die die vorherigen Änderungsanträge abgelehnt hat.
Wir stimmen jetzt über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nr. VII ab.
Wer stimmt für diesen Antrag? Den bitte ich ums Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer stimmt für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5912? Den bitte ich ums Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit großer Mehrheit abgelehnt worden.
Jetzt stimmen wir über den Einzelplan 10 - Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten - in der Ausschußfassung ab.
Wer für diesen Einzelplan stimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Einzelplan ist angenommen, und zwar mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen.
Ich rufe den heute abend letzten Einzelplan auf: Einzelplan 13
Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation
- Drucksachen 11/5563, 11/5581 Berichterstatter:
Abgeordnete Bohlsen Walther
Frau Rust
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nr. X vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.
Ich kann die Aussprache eröffnen. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Faße.
({0})
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Nun liegt er zur Verabschiedung vor, der erste Haushalt nach der Neustrukturierung der Bundespost, der erste Haushalt des umbenannten Ministeriums für Post und Telekommunikation. Farbe bekennen, in Zahlen darlegen, wo's langgehen soll, ist Aufgabe diese Plans.
Es besteht eine besondere Situation und damit die besondere Schwierigkeit, daß es keine Vergleichshaushalte aus den früheren Jahren gibt. Vergleichbarkeit mit anderen Ministerien in bezug auf Personalausstattung und Öffentlichkeitsarbeit herzustellen, ist nicht möglich.
({0})
Dieser Haushalt hat damit seine besondere Wertigkeit. Er hat die Chance, richtungweisend zu sein. Er trägt aber auch das Risiko, Fehleinschätzungen in sich zu bergen. Ich billige all denen, die an diesem Zahlenwerk gearbeitet haben, zu, daß es nicht einfach war, diesen Haushalt vorzulegen.
({1})
Andererseits haben alle gewußt, in welcher Form und wann das Poststrukturgesetz verabschiedet würde.
({2}) Zeit war also genug vorhanden.
({3})
Leider liegen uns die Wirtschaftspläne der Unternehmen noch nicht vor. Auch wenn sie nicht zur Beratung im Bundestag anstehen, wäre es doch sinnvoll gewesen, Einblick nehmen zu können.
({4})
Sie enthalten schließlich Aussagen zur Unternehmensphilosophie. Es steht die Zusage, gegeben in der Ausschußberatung, daß im Dezember die Vorstände ihr Votum abgeben. Aber, Herr Minister, gestatten Sie mir die Frage: Wo bleiben Ihre Vorstände?
({5})
In welcher geeigneten Form, frage ich hier - gibt es dazu konkrete Vorstellungen? - , sollen dann diese Wirtschaftspläne veröffentlicht werden?
({6})
Bei der Aufteilung des Ministeriums haben wir es mit fünf Abteilungen zu tun: Grundsatzabteilung, Regulierung und Wettbewerbskontrolle, Technische Zulassungen, Unternehmen der Bundespost, Zentralabteilung.
({7})
Hier sei die Frage gestattet, ob fünf Abteilungen eigentlich sinnvoll sind, auch wenn unterschiedliche Bereiche zu bearbeiten sind. Der Bundesrechnungshof wird gebeten, nach etwa zwei Jahren die Organisation zu überprüfen. Diesen Hinweis der Berichterstatter kann ich nur unterstützen.
Einige Bemerkungen zum Bereich Personal: Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß der Verwaltungsapparat mit demnächst 400 Mitarbeitern im Bundesministerium für Post und Telekommunikation gewaltig geschrumpft sei. Das Gegenteil ist der Fall:
Frau Faße
Rechnet man nämlich korrekterweise die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Generaldirektionen hinzu, so zählt man mittlerweile etwa 2 000 Beschäftigte. Gegenüber etwa 1 250 Beschäftigten im Bundespostministerium vor der Postreform ist das immerhin eine Steigerung von rund 70 %.
({8})
Ob diese Ausweitung des Verwaltungsapparates ebenso wie die Aufblähung der Entscheidungsgremien - Vorstände, Aufsichtsräte, Direktorium, Ministerium einschließlich aller nachgeordneten Kontroll-und Zulassungsbehörden sowie Infrastrukturrat - zu mehr unternehmerischer Freiheit führt, darf wohl mit Recht hinterfragt werden.
({9})
Personalprobleme, die noch zu lösen sind, finden sich reichlich, beispielsweise im Telekom-Bereich. Die Sorge der dort Tätigen besteht darin, daß die freie Wirtschaft viel lukrativer als der jetzige Arbeitgeber ist. Wechsel des Arbeitsplatzes ist angesagt, wenn hier nicht gehandelt wird.
In welche Richtung, in welchen Dimensionen wird gedacht, um für bisherige Beamte und neu einzustellende Arbeitnehmer attraktiv zu bleiben? Das sind Fragen, die schnellstens einer Antwort bedürfen.
Die Lösung darf auf keinen Fall heißen: Zulagen für den Telekom-Bereich und neue, schlechtere Bemessungsgrundlagen für das Personal in unseren Postämtern.
Der Eindruck, daß auf der einen Seite gespart werden muß, um Geld für andere Bereiche freizumachen, ist eindeutig vorhanden. Es geht nicht an, Arbeitsbedingungen für den einen zu verschlechtern, um andere Arbeitsbedingungen zu verbessern. Dies wird völlig unabhängig davon diskutiert, in welchem der drei Bereiche jemand tätig ist. Ungerechtigkeiten führen zu Unmut und sicherlich nicht zu besonderer Motivation.
({10})
Ich kann ja verstehen, daß man die Dreiteilung der Post in selbständige Unternehmen seinen Arbeitnehmern, aber auch der Bevölkerung schmackhaft machen muß. Daß dort große Schwierigkeiten bestehen, zeigt der Haushaltsansatz für entsprechende Werbemaßnahmen in Höhe von 600 000 DM.
Wir möchten Ihnen, Herr Minister, aber nicht dabei helfen, die Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens, die wir in dieser Form ablehnen, in der Öffentlichkeit als Wundertat des Jahrhunderts darzustellen. Wir beantragen die Kürzung des Titels 531 01 - Öffentlichkeitsarbeit - um 200 000 DM.
Wir wollen Ihnen beim Geldsparen aber gerne weiterhelfen, nämlich beim Kapitel 13 05. Beim Titel 531 01 - Kosten für Fachveröffentlichungen und Dokumentationen - schlagen wir vor, diesen Posten um 60 000 DM zu kürzen.
Wenn Ihr Konzept so gut ist, verkauft es sich doch fast von allein. Ich denke, auch Sie sind aufgefordert, wirtschaftlich zu handeln, wie Sie es von Ihren drei Unternehmen verlangen.
Beim Bundesamt für Zulassungen im Fernmeldewesen sind Sie ebenfalls sehr großzügig. Die Einnahmen decken nicht einmal die Personalausgaben. Es gilt die Frage zu stellen, ob dieses Amt nicht kostendeckend bzw. kostendeckender durch Erhöhung von Gebühren und tariflichen Entgelten unter Berücksichtigung des internationalen Gebührenniveaus arbeiten sollte.
Heute werden feste Preise für die Prüfung durch die Zulassungsordnung verabschiedet, im vergangenen Jahr durch den Postverwaltungsrat erhoben. Eine Überprüfung dürfte angesagt sein, wenn Kostendek-kung angestrebt wird.
Dieser vorgelegte Haushalt ist bei Ihnen im Ministerium - den Eindruck habe ich - unter „abgehakt" bereits zu den Akten gelegt.
({11})
Den mühsamen Versuch, konkrete Zahlen vorzulegen und Perspektiven aufzuzeigen, kann ich nur mit einem „Ungenügend" zensieren.
({12})
Aber Ihre Sorgen liegen zur Zeit ja auch in einem anderen Bereich. Hätten Sie den Mobilfunk, so wie wir dies fordern, nicht dem sogenannten freien Markt überlassen, denn hätten Sie in den letzten Tagen und Wochen sicherlich ruhiger schlafen können.
({13})
Einen privaten Netzträger wollen Sie zulassen. Da entscheidet der Minister für Post und Telekommunikation selbst über seinen Konkurrenten - schon ein spezieller Fall, oder meinen Sie nicht?
({14})
Wir sind dagegen, daß das Netzmonopol ausgehöhlt wird. Ich frage Sie: Wenn es denn nun schon so sein soll, warum dann nicht zwei oder drei Anbieter auf regionaler Ebene? Wofür werden Sie sich unter welchen Kriterien entscheiden? Oder haben Sie sich schon entschieden
({15})
und werden vielleicht sogar vor dem 12. Dezember die Öffentlichkeit informieren? Überflügeln deutschamerikanische Großunternehmen die Zusammenschlüsse des Mittelstands? Wer bekommt die Zulassung für einen expandierenden Markt, in dem jede investierte Mark eine Gewinngarantie hat?
Meine sehr geehrten Damen und Herren, diese von uns nicht gewollte unglückliche Entscheidung des Bundesministers, im Mobilfunk einen privaten Betreiber zuzulassen, die in der Öfffentlichkeit übereinstimmend als Lizenz zum Gelddrucken für diesen privaten
Frau Faße
Betreiber bezeichnet wurde, zeigt, daß wir mit unserer Befürchtung recht hatten, daß dieser Bundesminister zielstrebig den Plan verfolgt, Einnahmen aus dem öffentlichen Bereich der Deutschen Bundespost in private Taschen zu lenken.
({16})
Angesichts der enormen Aufwendungen, die die Deutsche Bundespost zur Modernisierung ihrer Fernmeldenetze aufbringen muß, und aufgrund des anerkannten Infrastrukturauftrags der Bundespost braucht diese auch die Einnahmen aus dem Mobilfunk zur Finanzierung ihrer Aufgaben.
Der Bundesminister gibt vor, mit der Zulassung eines zweiten Mobilfunkbetreibers im Interesse der Kunden mehr Wettbewerb einführen zu wollen. Diese Behauptung ist angesichts der Tatsache, daß in einem Markt, in dem nur zwei Anbieter tätig sind, ein echter Preis- und Leistungswettbewerb gar nicht möglich ist, nicht gerade überzeugend.
({17})
Ich will hier nicht erneut alle Argumente aufführen, die wir in der Debatte über die Postreform gegen das Poststrukturgesetz der Bundesregierung vorgetragen haben,
({18})
aber ich stelle fest, daß wir - im Unterschied zum damaligen Oppositionsverständnis der heutigen größten Regierungsfraktion - auch auf diesem Gebiet keine platte Blockadepolitik betrieben haben. Wir sind uns durchaus darüber im klaren, daß die rasche Entwicklung im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken Anpassungen und Änderungen erforderlich macht
({19})
und daß die Deutsche Bundespost von ihrer heutigen Verwaltungsstruktur zu einem effizienten, mehr markt- und kundenorientierten Unternehmen weiterentwickelt werden muß.
({20})
Wir haben uns jedoch mit Nachdruck dagegen gewehrt, daß die Bundesregierung mit ihrer Postreform die Einheit dieses Unternehmens zerstört, die einheitliche Personalvertretung schwächt und die wirtschaftliche Lebensfähigkeit der Bundespost und damit ihren Infrastrukturauftrag gefährdet.
({21})
Die Umsetzung dieses Gesetzes in die Praxis bestätigt diese Befürchtung.
({22})
Dies gilt etwa im Hinblick auf die Berufung der Vorsitzenden der Aufsichtsräte und Vorstände bei den drei Unternehmen. Hier wird deutlich, daß der Bundesminister den Einfluß der Wirtschaft bewußt gestärkt und die gemeinwirtschaftliche Orientierung in den Hintergrund gedrängt hat.
({23})
Wie wenig Wert der Postminister darauf legt, die tiefen Gräben, die er mit der Postreform insbesondere zu seinem eigenen Personal und zur Deutschen Postgewerkschaft aufgerissen hat, zu überbrücken, wird auch daran deutlich, daß er sich rundheraus geweigert hat, wenigstens das für Personal verantwortliche Vorstandsmitglied in den jeweiligen Postunternehmen mit Vorschlagsrecht durch die Gewerkschaft zu berufen.
({24})
Mit dieser ablehnenden Haltung verzichtet der Minister auf ein dringend notwendiges soziales Gegengewicht.
({25})
Er vergibt damit die Chance, nach langen kontroversen Auseinandersetzungen einen Weg zum Ausgleich einzuschlagen, der dringend erforderlich ist. Die Deutsche Bundespost und der für die Leistungsfähigkeit unserer Volkswirtschaft ausschlaggebende Sektor der Informations- und Kommunikationstechnik brauchen nach Jahren kontroverser politischer Diskussion eine Phase der Stabilisierung.
({26})
Die Unternehmen der Deutschen Bundespost brauchen engagierte und motivierte Mitarbeiter. Das bisherige Verhalten des Bundesministers bewirkt leider das Gegenteil. Bis heute, fünf Monate nach Inkrafttreten des Gesetzes, wissen die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch nicht, wo demnächst ihr Schreibtisch stehen wird, wer ihr künftiger Vorgesetzter sein wird und welche Aufgaben sie in Zukunft übernehmen sollen. Geradezu ein Witz, wenn es nicht so traurig wäre, ist die Tatsache, daß wichtige Vorstandsbereiche immer noch nicht besetzt sind, obwohl die Teilunternehmen ab 1. Januar voll funktionsfähig ihre Arbeit aufnehmen sollen. Kein privates Unternehmen könnte sich eine solche Umstrukturierung, eine solche lange Zeit der Lähmung und Stagnation leisten, wie sie dieser Postminister der Bundespost zumutet.
({27})
Unabhängig von allen sachlichen Einwendungen, die wir gegen diese Postreform haben, ist festzustellen, daß der Bundespostminister seine Schularbeiten, von denen er lange gewußt hat, schlicht und einfach nicht gemacht hat.
Meine Damen und Herren, der Bundesminister hat nicht nur bei der praktischen Umsetzung der Postreform versagt. Viel gravierender ist, daß er auch den
Frau Faße
sogenannten Gelben Bereich der Deutschen Bundespost in eine ungewisse Zukunft entläßt.
({28})
- Dusseliger ging es wohl nicht.
In den nunmehr sieben Jahren seiner Amtszeit hat es der Minister nicht geschafft, zukunftsweisende Konzepte insbesondere für den verlustbringenden Paket- und Päckchendienst zu entwickeln. Der Verdacht liegt nahe, daß mit der Wahl des Vorstandsvorsitzenden für die Deutsche Bundespost - Postdienst nunmehr eine Sanierung in diesem Bereich durch überzogene Rationalisierung und durch Diensteabbau eingeleitet werden soll.
({29})
Auch wir sind der Auffassung, daß die wirtschaftliche Lage des Paket- und Päckchendienstes verbessert werden muß. Dazu wäre es zunächst aber einmal notwendig, faktische Wettbewerbsverzerrungen, denen die Deutsche Bundespost gegenüber den privaten Paketdiensten ausgesetzt ist, abzubauen. Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß auch in diesem Bereich die Frage eines Beförderungsvorbehaltes unter bestimmen Konditionen geprüft werden müßte. Auch dieser Dienst ist eine Infrastrukturaufgabe, die die Deutsche Bundespost im Interesse der Bürger und der Wirtschaft flächendeckend und zu einheitlichen Bedingungen und Entgelten erbringen muß. Die Wahrnehmung und Erfüllung dieses öffentlichen Auftrages schließen ein rein betriebswirtschaftiches Vorgehen zur Verbesserung der Kostendeckung beim Paket-und Päckchendienst aus. Wir werden sehr genau darauf achten, welche Maßnahmen hier in der nächsten Zeit vom Unternehmensvorstand durchgeführt werden.
Gespannt bin ich auch, wie sich die Deutsche Bundespost - Postbank im Wettbewerb behaupten soll, wenn ihre Tätigkeit weiter auf den Spar- und Girodienst beschränkt bleibt.
({30})
Ich halte es für unverzichtbar, daß die Deutsche Bundespost - Postbank künftig in die Lage versetzt werden muß, ihre Tätigkeitsfelder auszuweiten. Auch hier wird sich zeigen, ob der Bundespostminister und sein Vorstand willens und in der Lage sind, für die zukünftige Entwicklung der Postbank tatsächlich etwas zu tun.
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Themenbereichen machen, die uns heute den ganzen Tag über beschäftigt haben: die wirtschaftliche Lage in der DDR. Für den hier diskutierten Bereich ist festzustellen, daß die notwendigen Sanierungen und Modernisierungen der Infrastruktur im Telekommunikationsbereich von größter Wichtigkeit sind. Zwischen Unternehmen der Bundesrepublik und der Post der DDR sind Kontakte bereits vorhanden. Wir haben die Rahmenbedingungen zu stellen, um unternehmerische Zusammenarbeit zu ermöglichen. Dies ist sicherlich nicht kurz- und auch nicht mittelfristig, sondern nur langfristig mit unserer Hilfe zu lösen. Ich halte dies für den einzelnen Menschen, aber natürlich auch für unsere gesamte Wirtschaft für sehr wichtig.
({31})
Der vorgelegte Haushalt, meine Herren, wird von uns abgelehnt.
({32})
Dies ist nicht unser Haushalt, weil er auf einem Gesetz basiert, das wir so nicht wollten.
({33})
Er wird von uns wegen der fehlenden Perspektiven und der für uns zu großen Risiken und Unsicherheiten abgelehnt, die in diesem Zahlenwerk ersichtlich sind.
Das war's, Herr Pfeffermann. Ich hoffe, Sie konnten es verkraften.
Danke schön.
({34})
Das Wort hat der Abgeordnete Bohlsen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Kollegin Faße hat einige kritische Anmerkungen zu diesem Reformwerk gemacht. Das macht deutlich, daß darüber auch kontrovers diskutiert wurde. Ich will dies aber zum Anlaß nehmen, denjenigen Damen und Herren, die im Fachausschuß sitzen und die erhebliche Arbeit geleistet haben - Mehrarbeit, die mit dieser Neustrukturierung verbunden war -, meinen herzlichen Dank zu sagen.
({0})
Nach der Neustrukturierung des Post- und Fernmeldewesens und des Sondervermögens der Deutschen Bundespost durch das Poststrukturgesetz vom 8. Juni 1989 wird der Bundesminister für Post und Telekommunikation die politischen und die hoheitlichen Aufgaben des Bundes auf dem Gebiet des Post-und Fernmeldewesens wahrnehmen. Die unternehmerischen und betrieblichen Aufgaben auf diesem Gebiet unterliegen der Bundespost, gegliedert in die drei öffentlichen Unternehmen Postdienst, Postbank und Telekom.
Diese Einnahmen und Ausgaben, meine Damen und Herren, werden in gesonderten Wirtschaftsplänen ausgewiesen. Der Einzelplan 13 des Bundesministers für Post und Telekommunikation bekommt
durch diese Neustrukturierung ein völlig neues Gesicht.
Die Reform der Deutschen Bundespost bringt Änderungen in der Ordnungspolitik und in der Organisation. Der Wettbewerbsbereich im Fernmeldewesen wird vom Monopolbereich neu abgegrenzt. Gegenüber den Regelungen in der Vergangenheit wird in der Telekommunikation künftig der Wettbewerb die Regel und das Monopol die Ausnahme sein. In der Generallinie entspricht dieses System Weltstandard und auch der Politik der Europäischen Gemeinschaft.
Nur das Fernmeldenetz und der Telefondienst bleiben im Monopol, alle sonstigen Telekommunikationsdienste und der Endgerätemarkt werden dem Wettbewerb eröffnet. Dieser Wettbewerb bedeutet mehr Markt und bedeutet gleichzeitig mehr Angebot.
Auch beim Fernmeldenetz wird es in den beiden Randbereichen, Satellitenkommunikation und Mobilfunk, Wettbewerb geben. Das entspricht im wesentlichen den Zielen der Europäischen Gemeinschaft und bereitet die Unternehmen der Deutschen Bundespost auch für die Zukunft auf eine Zeit vor, in der die Telekommunikation eine weitaus größere Rolle spielen wird, als dies bislang der Fall war. Im Wettbewerb der Nationen wird diese Neuausrichtung dazu beitragen, die Attraktivität des Standortes Bundesrepublik zu festigen.
Die von mir erwähnten Gliederungen Postdienst, Postbank und Telekom werden nach unternehmerischen Grundsätzen von Vorständen und Aufsichtsräten, die sich in nächster Zeit konstituieren, geleitet. Grundlage der Wirtschaftsführung der Unternehmen sind die Wirtschaftspläne, die nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen aufgestellt werden. Diese Pläne werden von den drei Aufsichtsräten festgestellt und gehören zum Sondervermögen Deutsche Bundespost, nicht also zum Bundeshaushalt.
Bislang war es so, meine Damen und Herren, daß in dem Einzelplan 13 nur das Ministergehalt, das Gehalt des Parlamentarischen Staatssekretärs, die Ablieferung der Deutschen Bundespost sowie die Bundesdruckerei enthalten waren. Alles andere gehörte bislang zum Sondervermögen. Hier ergibt sich der grundsätzliche Wandel.
Die haushaltsmäßige Trennung zwischen Ministerium und Unternehmen wurde aus praktischen Gründen nicht zum 1. Juli dieses Jahres, sondern erst ab 1990 vorgenommen. Künftig wird das gesamte Ministerium mit allen Einnahmen und Ausgaben in Einzelplan 13 geführt. Außerdem kommen zwei nachgeordnete Behörden hinzu, nämlich das bereits bestehende Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen, das in Saarbrücken angesiedelt ist, und das noch einzurichtende Bundesamt für Post und Telekommunikation. Diesem Amt obliegen die Hoheitsaufgaben hinsichtlich der Wahrnehmung der Frequenzverwaltung, der Verteilung von Funkgenehmigungen, der Funkkontrolle und der Funkentstörung. Langfristig ist geplant, daß dieses Amt etwa 50 Außenstellen im gesamten Bundesgebiet einrichtet. Mit dem Aufbau soll 1990 begonnen werden.
Bei dem Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen geht man von einer stärkeren Inanspruchnahme aus, auf die der Haushaltsausschuß mit Stellenumschichtungen reagiert hat. Die Entwicklung der Auftragseingänge wird in den nächsten Jahren kontinuierlich ansteigen. Bereits 1988 war ein starker Anstieg festzustellen. Dieser ist auf Gebührenveränderungen zum 1. Juni 1988 zurückzuführen.
Ein weiterer Punkt sind die Zulassungen in der Bundesrepublik Deutschland, denn deutsche Hersteller benötigen auf Grund der Zweckmäßigkeit eine deutsche Anlaufstelle für ihre Produkte für den EG-Bereich.
Das Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen ist auf Grund seiner Stellung die einzig wirklich unabhängige Prüfstelle. Das hier vorhandene Fachwissen betreffend das Prüfverfahren und die Prüfbedingungen gilt es nicht nur zu erhalten, sondern auch zu intensivieren, nämlich zum Nutzen der Anwender, der Industrie, des Netzbetreibers und der Dienstanbieter.
Insbesondere im Hinblick auf die Bedeutung des Telekommunikationsmarktes in der Bundesrepublik Deutschland wäre es industriepolitisch nicht vertretbar gewesen, wenn wir diese marktöffnenden Voraussetzungen außer Landes gegeben hätten.
Der EG-Markt wird für die USA im Bereich der Telekommunikation zunehmend interessanter. Anfragen und Zulassungsanträge aus den USA sind bereits jetzt im Zentralamt stark angestiegen, so daß zu erkennen ist, daß die USA die Bundesrepublik über das Zentralamt als Tor zu Europa für die Marktöffnung ihrer Einrichtungen ansehen wird.
Das Ministerium selbst wird neue Aufgaben der Regulierung und der Wettbewerbskontrolle wahrnehmen. Weiter sind Angelegenheiten der technischen Zulassung, der Funkfrequenzen und der Standardisierung sowie die Rechtsaufsicht über die drei Unternehmen wahrzunehmen. Hierfür sind zirka 400 Stellen vorgesehen. Hinzu kommen 168 Stellen für das Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen und 2 394 Stellen für das Bundesamt für Post und Telekommunikation.
Insgesamt ist durch die Neustrukturierung ein Personalmehrbedarf nicht zu erkennen. Nimmt man die Zahl der haushaltswirksamen Kräfte für das Haushaltsjahr 1989 für die Deutsche Bundespost und stellt sie der Zahl der haushaltswirksamen Kräfte im Bereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation und in den drei Unternehmen gegenüber, so ergeben sich keine wesentlichen Veränderungen.
Mit dieser Neustrukturierung müssen auch die dazugehörigen Vermögensgegenstände auf den Bundeshaushalt übergehen. Diese Vermögensgegenstände werden nach § 26 des Entwurfes des Haushaltsgesetzes 1990 ohne Wertausgleich übertragen, da sie ja nur zur Erfüllung dieser Hoheitsaufgaben beschafft wurden.
Die Neustrukturierung wird zur Folge haben, daß der Einzelplan 13 die höchste Steigerungsrate aller Ressorts hat, nämlich von 21 Millionen DM auf 308 Millionen DM. Andererseits müssen wir der Frage
nachgehen, wie es mit der Mehrbelastung für den Bundeshaushalt aussieht.
({1})
Die Gesamtmehrausgaben des Einzelplans 13 betragen 1990 307 Millionen DM. Davon entfällt die Hälfte auf das Bundesamt für Post und Telekommunikation. 287 Millionen DM sind neue Ausgaben, die durch die Neustrukturierung veranlaßt sind. Diesen neuen Ausgaben stehen allerdings auch neue Einnahmen aus Gebühren und Entgelten gegenüber.
({2})
Ich nenne hier z. B. die Einnahmen für Zulassungen und Genehmigungen, die mit einer Höhe von 188 Millionen DM angesetzt sind.
Nehmen wir all diese Zahlenvergleiche, so ergibt sich eine Mehrbelastung des Bundeshaushalts - das ist ja das, worauf Sie, Kollege Walther, vielleicht eingehen wollen - von knapp 100 Millionen DM. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß die Ablieferungen der Unternehmen der Deutschen Bundespost durch wachsende Erträge weiter steigen.
Einschränkend will ich allerdings noch einmal anmerken, daß es sich bei dieser Erstveranschlagung um einen Haushalt handelt, in dem sicherlich auch Unwägbarkeiten berücksichtigt werden müssen und mit dem damit auch ein gewisses Risiko verbunden ist.
Sie sehen, daß man bemüht war, die Neustrukturierung planmäßig im Haushaltsbereich umzusetzen. Dabei muß zunächst festgestellt werden, daß die Belastungen des Bundeshaushalts geringer ausfallen, als zunächst befürchtet wurde. Damit können der Bundesminister für Post und Telekommunikation und die drei Unternehmen der Deutschen Bundespost die erforderlichen Schritte in eine neue Zukunft der Post und Telekommunikation tun. Ihre Startbedingungen sind besser, als allgemein angenommen wurde; denn nicht nur Telekom erwartet Gewinn, sondern auch Postdienst und Postbank gehen mit der Erwartung bescheidener, aber positiver Zahlen an den Start.
Die Unternehmen werden in eine qualifizierte Führungsstruktur investieren und bemüht sein,
({3})
die Geschäftstätigkeiten zu aktivieren. Wir stehen in einer langfristigen Phase einer hervorragenden wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Lage der deutschen Wirtschaft ist so gut wie seit langem nicht mehr. Die Angebotsbedingungen sind gut und werden auch gut bleiben. Das ist auch die Meinung des Sachverständigenrates. Auf dieser guten Basis aufbauend, fordert der Rat wirtschaftspolitische Weichenstellungen für die 90er Jahre. Mit dieser Poststrukturreform nehmen wir eine dieser wichtigen Weichenstellungen vor.
Blicken wir auf die vielen Zitate aus dem Sachverständigengutachten, so heißt es dort u. a.:
Mit der deutschen Wirtschaft geht es in den nächsten Jahren weiter bergauf. In diesem Jahr haben die Investitionen weiter an Schwung gewonnen, und es sieht danach aus, als ginge im nächsten Jahr davon kaum etwas verloren. Die Angebotsbedingungen sind gut, und sie werden aller Voraussicht nach gut bleiben. Es lohnt sich für die Unternehmen, in Sachanlagen zu investieren.
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Lassen Sie mich abschließend feststellen, daß diese Strukturreform in Übereinstimmung mit der Entwicklung in der westlichen Welt und der Europäischen Gemeinschaft ein Schritt in die richtige Richtung ist. Das Parlament sollte Ihnen, Herr Bundesminister für Post und Telekommunikation, und Ihrem Parlamentarischen Staatssekretär, Herrn Willi Rawe, recht dankbar sein für das, was hier auf den Weg gebracht wurde. Ich darf hinzufügen, daß das alles mit der Unterstützung und der Forcierung des Bundeskanzlers geschehen ist. Durch ihren ganz persönlichen Einsatz wurde diese Reform auf den Weg gebracht. Wir alle sollten bemüht sein, dafür zu sorgen, daß das ein erfolgreicher Weg und ein Weg in die Zukunft ist.
Meine Damen und Herren, ich empfehle Ihnen die Annahme des Einzelplans 13.
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Das Wort hat der Abgeordnete Hoss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über die Schlußbemerkung und das Lob für den Herrn Minister kann man verschiedener Meinung sein.
Zur Kritik der GRÜNEN an der sogenannten Postreform: Es hat sich mittlerweile nur als allzu richtig erwiesen, daß sie den Interessen der Wirtschaft und einer kleinen Gruppe Wohlhabender dient. Das läßt sich auch an einigen kleinen Punkten des vorgelegten Etats des Ministeriums erkennen. Die Befürchtung, durch die Dreiteilung und die Schaffung des Ministeriums für Post und Telekommunikation komme es zu einer Wasserkopfbildung, war auch Gegenstand der Etatberatungen in den zuständigen Ausschüssen. Der Wunsch, die Trennungszulage für Fahrtkosten und Umzüge von 350 000 DM auf 650 000 DM fast zu verdoppeln, da zusätzliche Kräfte angeheuert werden müßten, ist dafür ein Indiz, wurde aber diesmal vom Haushaltsausschuß noch abgelehnt.
In dieselbe Richtung ging die Erhöhung der Werbegelder von 96 000 DM auf 203 000 DM, was mit der Notwendigkeit begründet wurde, daß zusätzliche 100 neue Leute anzuwerben seien. Auch dies hat der Haushaltsausschuß abgelehnt, was wir als GRÜNE nur unterstützen können.
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Bezeichnend ist die vom Haushaltsausschuß beschlossene Erhöhung des Ansatzes für den Infrastrukturrat um 128 000 DM auf 388 000 DM. Hier hat sich die Mehrheit der zukünftigen Mandatierten aus dem Bundestag selbst die Bezüge deutlich erhöht, was wir ablehnen, da die Abgeordneten des Deutschen Bun13590
destages und auch andere, die im Infrastrukturrat Platz nehmen werden, ohnehin schon mit Privilegien bestens ausgestattet sind.
Dagegen ist der Ansatz für Reisekostenvergütungen der Personalräte um 37 000 DM verringert worden. Die Vertretung der Arbeitnehmer wird dadurch gezielt erschwert. Es mag ja vielleicht in der Tat ein paar weniger Personalräte geben, aber die Aufgaben des Personalrates insgesamt nehmen zu, und es gibt überhaupt keinen Grund, die Ansätze für Kostenerstattungen in dieser Weise zu kürzen.
Schon am Etat ist deutlich festzustellen, wessen Charakters diese Reform ist. Sieht man sich dann die Entwicklung der drei neuen Unternehmen in den letzten Wochen an, bestätigen sich alle Befürchtungen der Reformkritikerinnen und -kritiker.
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Die für Personalfragen in den Vorständen Verantwortlichen wurden ohne Zustimmung der Beschäftigtenvertreter ausgewählt. Die Vorsitzenden der Aufsichtsräte kommen von Firmen wie Quelle und IBM. Und auch ein abgehalfteter Ex-Wirtschaftsminister der FDP findet hier noch eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.
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Es sind Böcke zu Gärtnern gemacht worden. Jetzt bestimmen diejenigen, die als Postkunden immer versucht haben, Privilegien und Sondertarife für sich durchzusetzen; die sitzen jetzt oben. Und als Spitzenleistung wird BDI-Chef Tyll Necker als Bundesvertreter in den Aufsichtsrat der Telekom geschickt. Dies entspricht ja folgerichtig der Unternehmerpolitik dieser Bundesregierung.
Auch Herr Zumwinkel wird sich mit seinen Erfahrungen als leitender Mann bei McKinsey und damit auch als Arbeitsplatzvernichter bei der Gelben Post zu schaffen machen und dort in Erscheinung treten.
Diese Besetzungen bedeuten zunehmende Arbeitshetze bei den Beschäftigten der Postunternehmen und Arbeitsplatzvernichtung bei gleichzeitiger Dienstverschlechterung. Die Bundesbahn ist mittlerweile das beste Beispiel für eine solche Politik an den Bürgern und Bürgerinnen vorbei.
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Damit nun aber die neuen Chefs nicht sofort auffallen, hat der Minister noch schnell vor dem Wechsel in der Verantwortung die Daumenschrauben angezogen. Die Arbeitszeitverkürzung wurde mit verschärfter Zeitbemessung der Arbeitsabläufe der Beschäftigten gekontert. Jetzt sind die Kolleginnen und Kollegen gezwungen, für menschenwürdigere Arbeitsbedingungen und einen Tarifvertrag für die Arbeitsbemessung zu kämpfen. Wir GRÜNE werden sie in dieser Auseinandersetzung voll unterstützen.
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Arbeitsplatzvernichtung durch „Entrümpelung" und verschärfte Krankenkontrolle, so sieht die soziale Verantwortung des Ministers für die Beschäftigten aus. Und die industriehörigen Verantwortlichen der drei
Teilunternehmen werden diese Politik konsequent mittragen und weiterführen.
Dienstverschlechterungen für die kleinen Postkunden werden auch bereits in Aussicht gestellt.
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So kündigte Gelbe-Post-Chef Zumwinkel an - wenn man der sicherlich nicht postreformfeindlichen „Welt" vom 25. Oktober glauben kann -, daß die Tarife nach der Beförderungsschnelligkeit geregelt werden sollen. Der Tante-Emma-Brief also mit der Schneckenpost
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und der Wirtschafts- und der Yuppie-Brief mit dem Jet, es sei denn, die Oma legt noch ein paar Mark drauf. So sieht in der Realität die Verantwortung zur Gleichbehandlung aus.
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Vor nicht allzulanger Zeit hat der Kollege Paterna bereits auf Pläne dieser Art hingewiesen. Dies hat damals das Ministerium weit von sich gewiesen. Aber, meine Damen und Herren, Herr Minister, glauben Sie nicht, daß die Leute im Land so vergeßlich sind! Und wir werden daran mitwirken, daß bei allen Werbekampagnen für die Post die Wahrheit nicht in den bunten Bildern untergehen wird.
Nichts ändern wird sich durch diese Reform an der ökonomisch falschen und demokratieschädigenden Technologiepolitik bei Telekom.
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Ich sehe das Licht am Pult leuchten
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und muß zum Schluß kommen.
Nach dieser Personalpolitik und nach dem, was von der Bundesregierung mit der Post gemacht worden ist, sollten Sie, Herr Minister, und auch andere, die daran beteiligt waren, so ehrlich und so konsequent sein, das Posthorn durch das IBM-Signum
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und das gelbe Telefonbuch durch den Quelle-Katalog zu ersetzen. Dann ist nämlich die Wahrheit wiederhergestellt.
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Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
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Ja, tue ich gerne.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Für den Bundesminister für Post- und Telekommunikation beFunke
ginnt mit dem Haushalt 1990 in der Tat eine neue Epoche.
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Auf Grund des Poststrukturgesetzes werden zu Beginn des Jahres 1990 die drei Unternehmen Postdienste, Postbank und Telekom ihre Arbeit in vollem Umfang aufnehmen.
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Das bedeutet natürlich auch eine Zäsur im Haushalt. Darauf ist bereits hingewiesen worden.
Damit die Reform des Postwesens erfolgreich sein kann, wird es wesentlich darauf ankommen, daß diese Unternehmen die Freiheit erhalten, unternehmerisch tätig werden zu können.
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Das heißt unter anderem, daß sie selbst auf Grund des genehmigten Wirtschaftsplans entscheiden können, was sie unternehmen wollen und was sie unterlassen wollen. Eine wie auch immer geartete Gängelung der Unternehmen durch den Bundespostminister wäre sicherlich nicht zweckmäßig. Dem Bundesminister ist es gelungen, für diese Unternehmen gute Vorstandsmitglieder zu bekommen, die unternehmerisch denken und die ihre unternehmerische Qualifikation in der Vergangenheit schon unter Beweis gestellt haben.
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Damit diese Unternehmen aber auch erfolgreich arbeiten können, brauchen sie den Wettbewerb wie die Luft zum Atmen. Wettbewerb wird die Innovationskraft dieser Unternehmen stärken und nicht etwa, wie manche Sozialisten und Gewerkschaftler meinen, schwächen. Noch in diesen Tagen wird das Unternehmen Telekom im Bereich Mobilfunk einen Mitwettbewerber erhalten. Das ist ein wichtiger Schritt. Es ist allerdings sehr darauf zu achten, daß es sich nicht um einen Wettbewerber sozusagen von Gnaden der Post handelt, sondern um einen solchen, der im Gegenteil dem Unternehmen Telekom Beine macht, nämlich im Wettbewerb.
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Hiermit ist ein Wettbewerb eröffnet. Es ist ein Anfang, der für die Post sehr wichtig ist. Weitere Dienste sollte die Post dem Wettbewerb öffnen. Das könnte z. B. verstärkt bei der Datenübertragung im Satellitenfunk erfolgen.
Wettbewerb ist kein Selbstzweck, sondern soll die Innovationskraft der Unternehmen stärken und den Verbrauchern günstige Preise und gute Leistungen bescheren.
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Die stark defizitären Bereiche des Postpaketdienstes müssen durch den neuen Vorstand durchforstet werden. Nicht etwa, wie Sie hier vermutet haben, durch Leistungsreduzierung, sondern durch verbesserte
Leistungen wird man gegen private Mitwettbewerber erfolgreich sein können,
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z. B. durch eine zweite Zustellung am späten Nachmittag in Wohnbereichen, wo viele Mitbewohner vormittags zur Arbeit gehen und nachmittags da sind,
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z. B. durch garantierte Laufzeiten von Postpaketen. Es ist ein untragbarer Zustand, daß auf derselben Strecke ein Paket einmal zwei Tage benötigt, ein anderes Mal eine Woche und dann wiederum drei oder vier Tage.
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- Das ist völlig richtig. - Die Wirtschaft ist darauf angewiesen, mit festen Laufzeiten zu rechnen. Nur so können Kunden, die zu den Privaten gegangen sind, zurückgewonnen werden.
Ähnliches gilt für den Postbankbereich. Das Postgironetz war einmal die modernste, schnellste und billigste Möglichkeit im Überweisungsverkehr. Dies gilt heute auch nicht mehr. Um so wichtiger ist eine radikale Modernisierung. Dasselbe gilt für den gesamten Bereich des Postscheckdienstes und den Bereich der Postsparkassen.
Die Unternehmen der Post werden nur dann florieren, wenn auch die Mitarbeiter mitziehen und motiviert werden. Hier haben die neuen Vorstände eine große Aufgabe vor sich, aber auch die Gewerkschaften, die sich bislang dem gemeinsamen Ziel verweigert haben. Wir fordern die Gewerkschaften auf, ihre bisherige Politik des Alles oder Nichts, die Bekämpfung der Politik der Bundesregierung aufzugeben und nunmehr konstruktiv zum Wohle der Arbeitnehmer und der Unternehmen mitzuwirken.
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Den Mitarbeitern des bisherigen Postministeriums danke ich für die erhebliche Arbeit, die sie im vergangenen Jahr geleistet haben, die sie aber auch im nächsten Jahr bei der Umstrukturierung der Post leisten müssen. - Vielen Dank.
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Das Wort hat der Bundesminister für Post und Telekommunikation.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sicherlich richtig, daß wir Neuland betreten, wenn wir diesmal zum erstenmal diesen Einzelplan 13 beschließen, eine Konsequenz aus der Postreform, die mit der Bildung der drei Generaldirektionen, die am 1. Januar 1990 entscheidende Konturen annehmen, verbunden ist.
Ich möchte mich am Anfang noch einmal sehr herzlich bei allen Abgeordneten des Deutschen Bundestages dafür bedanken, daß für diese sehr schwierige Umstrukturierung, die ja auch sehr viele spezifische Einzelfragen zum Gegenstand hatte, eine so kon13592
struktive Mitarbeit bei allen Auseinandersetzungen, die wir gehabt haben, gegeben war. Ich habe daran gelernt. Ich habe dabei viele Anregungen übernommen. Es ist hier im Einzelplan auch ein entsprechender Niederschlag zu finden.
Ich werde bei meiner Tätigkeit sehr darauf achten, daß die vom Poststrukturgesetz gezogenen Grenzen zwischen den politisch-hoheitlichen Aufgaben auf der einen Seite und den unternehmerisch-betrieblichen Aufgaben auf der anderen Seite klar eingehalten werden. Das Ministerium für Post- und Telekommunikation kann seiner neuen Rolle als neutrale Aufsichtsund Regulierungsinstanz für das Post- und Fernmeldewesen nur dann glaubhaft nachkommen, wenn die genannte Aufgabentrennung nicht nur in der Spitze der Organisation durchgeführt wird; auch die in der Fläche anfallenden Hoheitsaufgaben - z. B. die Frequenzverwaltung, Fragen der Zulassung - werden aus dem heutigen Verbund der Deutschen Bundespost herausgelöst und dem Haushalt des Bundesministers für Post- und Telekommunikation zugeordnet. Das war schon aus psychologischen Gründen notwendig, weil es bei der Internationalisierung der Märkte, insbesondere dem Europäischen Markt, keinem Unternehmen klarzumachen ist, daß es für die Zulassung bei einem Wettbewerber nachsuchen soll. Aus diesem Grunde war dies eine logische und konsequente Entscheidung.
Künftig wird das Gesamtministerium mit allen Einnahmen und Ausgaben im Einzelplan 13 geführt. Das Ministerium selbst soll neue Aufgaben der Regulierung und Wettbewerbskontrolle wahrnehmen, die durch die Reform neu entstehen.
Es wird hier beanstandet, es gebe im Ministerium zu viele Abteilungen; es wird von fünf Abteilungen gesprochen. Meine Damen und Herren, wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die Aufgaben, die in den Vereinigten Staaten eine ganze Behörde mit Tausenden von Menschen beschäftigen - die FCC, Federal Communication Commission - oder die OFTEL, Office of Telecommunication, in Großbritannien, die ebenfalls Hunderte von Menschen beschäftigt, in der Bundesrepublik nach diesem Gesetz nicht zu solchen Sonderbehörden führen, sondern im Rahmen des Ministeriums erledigt werden. Das sind ganz gewaltige zusätzliche Aufgaben, weil es nicht nur um die Kontrolle der drei Unternehmen, sondern um Frequenzen, Standardisierungen und ähnliches in der gesamten Bundesrepublik Deutschland geht. Hierfür sind 400 Stellen beim Ministerium vorgesehen. Hinzu kommen die 168 Stellen für das Zentralamt für Zulassungen im Fernmeldewesen und 2 394 Stellen für das Bundesamt für Post- und Telekommunikation.
Meine Damen und Herren, die Zahl der haushaltswirksamen Kräfte für den Bundesminister für Post-und Telekommunikation und die drei Unternehmen bleibt 1990 gegenüber 1989 gleich. Selbstverständlich werden Umstrukturierungen vorgenommen. Es ist sicher richtig, daß wir einen hohen Sachverstand brauchen, um den neuen Aufgaben auch in den drei Generaldirektionen, die im Wettbewerb mit internationalen
Unternehmen stehen, nachkommen zu können. Denn wo oben falsch entschieden wird, knirscht es unten.
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Das heißt, es kommt ganz gewaltig darauf an, daß mit professioneller Kompetenz in den verschiedenen Sparten gehandelt und entschieden wird.
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Aus diesem Grunde - das möchte ich noch einmal sagen - wird es Umstrukturierungen geben. Es ist sicherlich richtig, daß die Gesamtsumme des Personals der drei Generaldirektionen plus Ministerium höher sein wird als die des bisherigen Ministeriums; aber das hängt eben mit diesen erweiterten Aufgaben zusammen.
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Wenn wir es umgekehrt gemacht hätten und soundso viele Leute abgebaut worden wären, möchte ich nicht wissen, welche Kritik dann hier vorgebracht worden wäre.
Die Neustrukturierung hat zwar zur Folge, daß der Einzelplan 13 die höchste Steigerungsrate aller Ressorts hat, von 21 auf 308 Millionen DM, aber wie sieht es denn nun wirklich mit der Mehrbelastung des Bundeshaushalts aus? Die Gesamtausgaben des Einzelplans 13 betragen 1990 307 Millionen DM, wovon etwa die Hälfte auf das Bundesamt für Post- und Telekommunikation entfällt.
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- Das gibt es noch nicht; das wird im Jahre 1990 schrittweise eingerichtet. - 287 Millionen DM sind neue Ausgaben, die durch die Neustrukturierung veranlaßt sind. Diesen neuen Ausgaben stehen neue Einnahmen aus Gebühren und Entgelten, z. B. für Zulassungen und Genehmigungen, in Höhe von 188 Millionen DM gegenüber.
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- Sie sind insofern neu, als sie jetzt hier im Bundeshaushalt neu als Einnahmen erscheinen.
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Die Mehrbelastung des Bundeshaushalts beträgt also nur knapp 100 Millionen DM. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß die Ablieferungen der Unternehmen weiter steigen. Für 1990 nähert sich diese Ablieferung dem Betrag von 6 Milliarden DM; sie steigt von 5,5 Milliarden DM im Jahre 1989 auf 5,9 Milliarden DM im Jahre 1990. Trotz der Neustrukturierung bringt der Einzelplan 13 auch 1990 höhere Einnahmen als in den Vorjahren, nämlich eine Steigerung um 300 Millionen DM.
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Bei den Gebühren möchte ich eines hinzufügen: Selbstverständlich werden wir zu bedenken haben, wie das internationale Gebührenniveau bei entsprechenden Zulassungen sein wird. Nur konnte das nicht
die Aufgabe sein, ehe das Amt überhaupt eingerichtet und die Neustrukturierung ermöglicht wurde.
Die Aufgaben des neuen Ministeriums lassen sich in zwei Kategorien gliedern, in unternehmensbezogene Aufgaben bezüglich der drei Unternehmen der Deutschen Bundespost, die man auch als Eigentümerfunktionen bezeichnen kann, und in Regulierungsaufgaben bezüglich der Unternehmen und anderer Marktteilnehmer.
Die entscheidenden Aufgaben im Rahmen der Eigentümerfunktion sind zu sehen in der Bestellung und Abberufung der Organe der Unternehmen, in der Vorgabe der mittel- und langfristigen Ziele für die Unternehmen der Deutschen Bundespost, in der Genehmigung der Wirtschaftspläne der drei Unternehmen, und in der Rechtsaufsicht über die Unternehmen.
Im Rahmen der Regulierungsfunktion sind die Schwerpunkte zu sehen in der Abgrenzung der Monopolbereiche der Deutschen Bundespost, der Genehmigung von Monopoltarifen und der Ausübung des Widerspruchs bei Pflichtleistungstarifen, bei der Mitwirkung bei der Bestimmung der Pflichtleistungen der drei Unternehmen, der Wahrnehmung der speziellen Wettbewerbskontrolle über die Unternehmen, z. B. hinsichtlich des Finanztransfers, und in der Standardisierung und in dem Frequenzmanagment im Fernmeldewesen. Hier ist eine ganz sorgsame Balance zwischen Infrastruktur und Wettbewerb durchzuführen, die sicherlich auch viele Lernprozesse im Ministerium selbst erfordert.
Sie fragen: Warum ist das Ganze nicht überhaupt schon längst in Gang? Wenn Sie sagen, Schularbeiten hätten längst gemacht werden müssen, muß ich Ihnen entgegnen: Vor dem 1. Juli 1989 hätten sowohl die Personalsuche wie alle anderen entsprechenden Vorbereitungen von diesem Minister ja gar nicht in Gang gesetzt werden dürfen.
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Ich möchte einmal wissen, was Sie gesagt hätten, wenn ich die Personalsuche begonnen hätte, ehe überhaupt das Gesetz verabschiedet war. Bedenken Sie, daß für solche drei Unternehmen drei Vorstände von insgesamt 19 Personen und drei Aufsichtsräte mit 21, 21 und 15 Personen erforderlich sind. Dies alles in einem halben Jahr zustande zu bringen, das ist eine Sache, die in der Bundesrepublik Deutschland in diesem Umfang in einer so kurzen Zeit noch nie vorgenommen wurde und die noch kürzer gar nicht möglich ist.
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Wenn Sie mir jetzt vorhalten, das habe nun schon drei oder vier Monate gedauert, dann sage ich Ihnen: Ich warte lieber noch weitere drei oder vier Monate, um die geeigneten Persönlichkeiten an die richtige Stelle zu setzen, als daß ich hier wegen eines Wettlaufs um
zwei oder drei Monate falsche Positionsbesetzungen vornehme. Das möchte ich ganz deutlich sagen.
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Wenn es Ihnen um die Frage des Zeitpunktes geht, dann - so muß ich Ihnen sagen - hätten Sie ja 20 Jahre früher mit der Postreform beginnen können; dann wären wir überhaupt in eine andere zeitliche Größenordnung gekommen, und der Vorstand wäre dann schon Mitte der siebziger Jahre installiert worden. Das wäre sicherlich gut gewesen.
Nun, meine Damen und Herren, ist es sicherlich richtig: Ich hätte ein ruhigeres Leben, wenn ich den Mobilfunk jetzt nicht mit einer Lizenz für ein privates Unternehmen bzw. ein Konsortium ausgestattet hätte. Aber es ist die Aufgabe des Ministers, sich nicht um das ruhigere Leben zu bemühen. Er hat seinen Aufgaben nachzukommen, auch wenn sie aufregend oder nervenaufreibend sind. Es macht ja auch Spaß. Es ist auch eine Aufgabe, die eine wirkliche neue Perspektive für die Telekommunikation in der Bundesrepublik eröffnet.
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Da möchte ich Ihnen sagen: Ich hätte auch mehreren Konsortien eine Lizenz geben können. Nur, bei der Berechnung, ob man dann gegenüber demjenigen, der ja sowieso ein entsprechendes Netz betreiben wird, nämlich der Bundespost Telekom, wettbewerbsfähig wird, sind alle Sachverständigen, die ich befragt habe, zu dem Ergebnis gekommen: Die ist bei der geringen Größe der Bundesrepublik Deutschland, wo wir bereits heute in europäischen Perspektiven denken, nicht möglich. Ich muß also, wenn ich echten Wettbewerb entfalten will, der Deutschen Bundespost eine gleiche Größenordnung gegenüberstellen, weil sonst ein fairer Wettbewerb überhaupt nicht möglich ist.
Das wird anders werden, wenn wir die Lizenzen für Bündelnetze, Funkrufdienste und ähnliches vergeben. Dort werden wir regionale Lizenzen vergeben können, die viele Konsortien bedenken können. Das werden wir im nächsten Jahr tun.
Herr Hoss, nur eines möchte ich Ihnen wirklich sagen. Sie sollten Dr. Friderichs hier nicht als abgehalfterten Politiker bezeichnen, da er doch gerade im Moment dabei ist, dafür zu sorgen, daß bei den sogenannten gemeinwohlorientierten, abgehalfterten Unternehmen,
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wie beispielsweise Coop, wieder ordentliche Verhältnisse eintreten. Er ist dort von allen Beteiligten bestellt worden. Er hat dort auch eine entsprechende Anerkennung für seine Bemühungen gefunden. Wer das etwas objektiv beurteilt, der kommt zu einem ganz anderen Ergebnis als Sie. Wer mit solchen Dingen
wenig zu tun hat, sollte sich vor dem Deutschen Bundestag ein solches Urteil nicht erlauben.
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Ich möchte folgendes sagen. Es wird eine aufregende Zeit. Die Vorstandsvorsitzenden haben keineswegs die Absicht, die Kosten und die Erträge durch eine Schrumpfungspolitik in Balance zu bringen, sondern durch eine dynamische Weiterentwicklung der drei Unternehmen. Ich bin auch bei den Postdiensten der Überzeugung, daß dies gelingen wird. Natürlich kann man nicht davon ausgehen, daß sich dort, wo 2,5 Milliarden DM Verluste gemacht werden, man sich um die Kosten nicht weiter zu kümmern braucht. Daß bei einem Unternehmen, das, wenn es allein stünde und nicht immer wieder vom Fernmeldewesen unterstützt worden wäre, längst hätte Konkurs anmelden müssen, sich ein Vorstand darum zu bemühen hat, Kosten und Erträge in eine Balance zu bringen, ist wohl die richtige und erste Aufgabe, die er zu erfüllen hat.
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Nur durch diese Umstrukturierung sind wir in der Lage, diese Ziele zu erreichen.
Wenn Sie die große Perspektive vermissen - nun gut, ich mache jetzt keine Zehn-Jahres-Pläne. Aber das Datum 1989 wird als dasjenige Datum eingehen, das bei den Postdiensten ein ausgeglichenes Ergebnis in den 90er Jahren und bei der Telekommunikation den Anschluß an die europäische und an die Weltentwicklung ermöglicht hat. Wenn das erreicht wird, dann bin ich schon zufrieden, auch wenn ich hier keine großen Visionen für das Jahr 2000 gemacht habe.
Ich darf mich sehr herzlich bedanken.
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Meine Damen und Herren, wir schließen die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5882 unter Nr. X. Wer für diesen Änderungsantrag stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wir kommen nummehr zur Abstimmung über den Einzelplan 13. Wer für den Einzelplan 13, Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation, in der Ausschußfassung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Einzelplan mit Mehrheit angenommen.
Dem Abgeordneten Dr. Weng, der leider nicht mehr im Raum ist, wollte ich eigentlich noch mitteilen, daß leider kein Antrag auf Einführung einer dreieckigen Briefmarke vorliegt, der sicher die volle Zustimmung des Hauses gefunden hätte.
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Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Mittwoch, den 29. November 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.