Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs eines Elften Gesetzes zur Änderung des Abgeordnetengesetzes, eines Zehnten Gesetzes zur Änderung des Europaabgeordnetengesetzes und eines Gesetzes zur Änderung des Einkommensteuergesetzes
- Drucksache 11/5408 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wahlprüfung,
Immunität und Geschäftsordnung ({0}) Innenausschuß
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Eine Aussprache ist nicht vorgesehen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf der Drucksache 11/5408 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage soll außerdem an den Rechtsausschuß und den Finanzausschuß - zur Mitberatung - überwiesen werden. - Widerspruch dagegen erhebt sich offensichtlich nicht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung auf:
Wahlvorschlag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN
für die Wahl der vom Deutschen Bundestag gemäß § 32 Abs. 1 des Poststrukturgesetzes vorzuschlagenden Mitglieder des Infrastrukturrats beim Bundesminister für Post und Telekommunikation
- Drucksache 11/5409 - Auch hier ist eine Aussprache nicht vorgesehen.
Wir kommen zur Abstimmung über den interfraktionellen Wahlvorschlag auf Drucksache 11/5409. Wer stimmt diesem Wahlvorschlag zu? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Dann darf ich feststellen, daß der Wahlvorschlag einstimmig angenommen worden ist.
Ich rufe nun Punkt 16 der Tagesordnung auf:
a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Verbot von Selbstbedienung beim Verkauf von Arzneimitteln
- Drucksache 11/1127 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({1})
- Drucksache 11/3048 Berichterstatter: Abgeordneter Jaunich
({2})
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes
- Drucksache 11/5373 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({3})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 30 Minuten vor. - Das Haus ist offensichtlich damit einverstanden. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich eröffne die Debatte. Zunächst einmal hat die Ministerin um das Wort gebeten. Frau Minister Lehr, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der vorgelegte Entwurf einer vierten Novelle des Arzneimittelgesetzes soll das Zulassungsverfahren beschleunigen und das Nachzulassungsverfahren für Altarzneimittel vereinfachen. Eine unvorhersehbare Antragsflut im Jahre 1986 hat einen Antragsstau im Bundesgesundheitsamt ausgelöst, der allein durch Personalverstärkung und organisatorische Maßnahmen nicht abgebaut werden kann. Abhilfe soll vor allem durch externen Sachverstand geschaffen werden, der in das Zulassungsverfahren einbezogen wird. Eine solche Nutzung exter12708
nen Sachverstandes im Zulassungsverfahren ist nicht grundsätzlich neu.
Es geht darum, das Amt in den Stand zu setzen, die Aussagen von anerkannten unabhängigen Experten der Zulassungsentscheidung zugrunde zu legen und die Zulassung in wesentlichen Teilen auf deren Aussagen zu stützen. Das gilt vor allem bei bereits bekannten Arzneimitteln, kann jedoch im Einzelfall auch bei der Zulassung neuer Produkte notwendig und nützlich sein. In jedem Fall aber bleibt die arzneimittelrechtliche Zulassung eine Entscheidung der Zulassungsbehörde. Soviel zur Einbeziehung externen Sachverstands in das Zulassungsverfahren.
Ich stimme mit dem Bundesrat überein, daß bei der Beurteilung von Kombinationspräparaten der besonderen Therapierichtungen der Eigenart dieser Arzneimittel besonders Rechnung getragen werden soll. Das ist bereits in der Begründung des Gesetzentwurfs aufgeführt.
An dieser Stelle ist auch auf den Vorschlag des Bundesrates einzugehen, den Widerruf der Zulassung wegen mangelnder Wirksamkeit zu erleichtern. Jede Änderung an den Zulassungsversagungsgründen gerade in dem sensiblen Bereich des Nachweises der Wirksamkeit würde neue Befürchtungen über die Existenz der Naturheilmittel wachrufen. Es besteht meines Erachtens zudem gar kein Anlaß, von der bisherigen Konzeption abzuweichen, die auch für die Therapierichtungen mit Naturheilmitteln Platz läßt.
Die weit verbreiteten Befürchtungen in der Bevölkerung sind wirklich unbegründet. Naturheilmittel sind bewährt und sollen erhalten bleiben. Dazu trägt die Gesetzesnovelle bei. Durch sie wird gleichzeitig auch Ihrem Wunsch, dem Wunsch des Parlaments, entsprochen, in der Arzneimitteltherapie die Vielfalt der Therapierichtungen zur Geltung zu bringen.
Bestimmte Arzneimittelgruppen sollen auf die traditionelle Anwendung, auf tradierte Anwendungsverfahren hinweisen dürfen. Damit ist noch etwas Zusätzliches für die Gruppe der Vorbeugungsmittel und anderer Arzneimittel getan, deren Unbedenklichkeit gesichert, deren Wirksamkeit aber nach objektiven Kriterien schwer nachweisbar ist. Wir können meines Erachtens nicht darauf verzichten, auch diese Arzneimittel einer Überprüfung zu unterziehen.
Ein weiterer Schwerpunkt liegt im Bereich der Nachzulassung. Es ist vorgesehen, daß der pharmazeutische Unternehmer mit dem gesetzlich vorgeschriebenen Antrag auf Verlängerung der fiktiven Zulassung zunächst nur die Unterlagen zur Identifikation des Arzneimittels vorzulegen braucht. Alle übrigen Unterlagen müssen erst auf Anforderung der Zulassungsbehörde eingereicht werden. Dadurch soll erreicht werden, daß zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle Unterlagen vorliegen und Nachbesserungen unnötig sind.
Es ist abzusehen, daß eine ganze Reihe von Altarzneimitteln einer Anpassung an die Aufbereitungsmonographien bedarf. Wir wollen erreichen, daß möglichst viele Änderungen ohne ein formales Neuzulassungsverfahren durch Änderungsanzeigen vollzogen werden können.
Der Bundesrat hat angeregt, eine Erweiterung der bis jetzt vorgesehenen vereinfachten Anpassungsmöglichkeiten zu prüfen. Wir kommen dieser Anregung nach, sehen zusätzliche Möglichkeiten und werden in der Beratung des Gesetzentwurfs dazu berichten.
Noch ein Satz zum EG-Binnenmarkt. Wir nähern uns dem Jahr 1993 und damit dem europäischen Binnenmarkt. Dieser Binnenmarkt soll selbstverständlich auch für Arzneimittel gelten. Die Bundesregierung unterstützt dies. Nach der Vereinheitlichung der Zulassungkriterien fordert sie im Grundsatz eine gegenseitige Anerkennung der nationalen Zulassungsentscheidungen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Frau Bundesminister hat hier eben wieder einmal, wie in der Vergangenheit häufig, davon gesprochen, daß Befürchtungen hinsichtlich der Naturheilmittel unbegründet seien. Aber Reden und Handeln sind bei dieser Bundesregierung oft weit auseinander. Was das eine Haus tut, daß läßt das andere Haus noch lange nicht. Also sorgen Sie bitte dafür, daß solche Verunsicherungen durch die Pläne aus dem Hause Blüm, der ja mit dem, was die Öffentlichkeit als Negativliste erreicht hat, durchaus in Ihre Kompetenzen hineinregiert, nicht in die Öffentlichkeit gelangen können.
Auszuschließen ist diese Gefährdung nicht. Daran ändert auch das, was Sie hier gesagt haben, Frau Minister, nichts.
Der Entwurf eines Vierten Gesetzes, der hier heute in erster Lesung behandelt wird, ist nun nicht der große Wurf. Es ist jetzt der dritte Versuch, des Zulassungschaos, des Zulassungsstaus und der damit verbundenen rechtlichen Probleme Herr zu werden.
Zwischenzeitlich hat ja ein Gericht der Bundesregierung bescheinigen müssen, daß die pharmazeutischen Unternehmen einen Anspruch darauf haben, in angemessener Frist eine Entscheidung über ihre Zulassungsanträge zu erhalten. Eine Untätigkeitsklage, die erhoben worden war, ist also positiv beschieden worden. Daß die Bundesregierung in die nächste Instanz geht, wird an der endgültigen Entscheidung nichts ändern. Denn die Bestimmungen im § 27 des Arzneimittelgesetzes sprechen eindeutig von vier Monaten. Es können auch in Ausnahmefällen einmal drei Monate als Nachfrist hinzukommen. Aber die derzeitige Praxis, daß Entscheidungsprozesse jahrelang anhängig sind, bevor entschieden ist, ist mit rechtsstaatlichen Begriffen nicht mehr in Einklang zu bringen.
({0})
Nun ist es auch nicht so, als ob Sie von dieser Problematik über Nacht überrascht worden wären. Die Bundesregierung wird im Laufe der Ausschußberatungen darzulegen haben, was sie denn mit den Empfehlungen des Bundesrechnungshofs gemacht hat. Sie wird darzulegen haben, was sie denn in der VerJaunich
gangenheit unternommen hat, um diesen Zulassungsstau beim Bundesgesundheitsamt abzubauen. Sie wird auch darlegen müssen, was das, was mit der dritten Novellierung des Arzneimittelgesetzes an Instrumenten eingeführt worden ist, an Wirksamkeit erbracht hat. Darüber wäre eigentlich in der ersten Lesung etwas auszusagen gewesen.
Auch der Nachzulassungsprozeß ist auf Sie nicht heruntergekommen wie ein Gewitterregen, Frau Minister.
({1})
- Damit haben Sie schon lange genug zu tun.
Das Arzneimittelgesetz von 1976 ist am 1. Januar 1978 in Kraft getreten. Von dem Zeitpunkt an war klar, daß zum Beginn des Jahres 1990 der Nachzulassungsprozeß würde abgeschlossen sein müssen, meine Herren, die Sie so sachverständig nicken.
({2})
- Sie nicken immer - schön, daß das im Protokoll festgehalten ist -, insbesondere wenn die Bundesregierung etwas sagt? Das sind die rechten Parlamentarier. Irgendwo habe ich mal „Nickneger" als treffende Bezeichnung für solche Verhaltensweisen gelesen - wenn das Schwarze sind.
({3})
- Nein, das ist, glaube ich, nicht zu beanstanden.
Das ist noch durchaus parlamentarisch.
({0})
Nein, nein, wenn ich von „Schwarzen" spreche, meine ich immer Sie.
({0})
Aber kommen wir zu dem Vorgang zurück, der uns hier beschäftigt, der vierten AMG-Novelle. Zwölf Jahre war bekannt, daß bis zum Beginn des Jahres 1990 der Nachzulassungsprozeß würde absolviert sein müssen. Die Bundesregierung hat sich hier als nicht handlungsfähig erwiesen.
({1})
- Was heißt „Ach du lieber Gott"? Das sind doch die Fakten. Ich bitte Sie! Wovon reden wir denn hier?
({2})
Was hier an Instrumenten vorgeschlagen wird, ist nicht der große Wurf. Da frage ich die zuständige Ministerin: Sind denn nun wirklich alle Möglichkeiten durchdacht worden? Da ist z. B. als Möglichkeit ins Spiel gebracht worden, einen Gesundheits-TÜV für die Fragen der Arzneimittelzulassung zu installieren.
({3})
- „Igitt", sagt hier einer. Der hat wahrscheinlich immer ein schlecht repariertes Auto, wenn er zum TÜV fährt, und von daher einen Horror vor dem TÜV.
Aber ich sage Ihnen: Wir Sozialdemokraten legen Wert darauf, daß die Arzneimittelsicherheit oberste Priorität hat und behält. Aber wir nehmen nicht hin, daß Jahre vergehen, bis Präparate den Marktzugang finden, weil die Administration nicht in der Lage ist, innerhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Zeiten die entsprechenden Lösungen zu finden.
({4})
Zum Thema Naturheilmittel noch ein paar Sätze: Frau Minister, da müssen wir nicht nur berücksichtigen, was der Bundesrat dazu ausgeführt hat, sondern ich darf Sie daran erinnern, daß der Deutsche Bundestag am 28. November 1988 mit Mehrheit einen Entschließungsantrag angenommen hat, den meine Fraktion eingebracht hat, der Sie zu entsprechendem Handeln verpflichtet. Wir werden bei den anstehenden Beratungen sehr sorgfältig darauf achten, daß die besonderen Therapierichtungen nicht auf kaltem Wege eliminiert werden, weil die Möglichkeiten, diese Therapien anzuwenden, durch entsprechende Bestimmungen arzneimittelrechtlicher Art nicht gegeben sind.
Letzte Bemerkung zum Selbstbedienungsverbot. Wir Sozialdemokraten haben, von dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und von unseren gesundheitspolitischen Vorstellungen ausgehend, wonach Arzneimittel keine normalen Waren sind, sondern Waren mit einem besonderen Charakter, die Konsequenz gezogen, daß wir Selbstbedienung an keinem Orte zulassen wollen. Sie sagen, das könne man so nicht lösen. Es wäre ein Übermaß, wenn wir den Eingriff so vornähmen. Das vermögen wir angesichts der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht einzusehen, welches diese Möglichkeit ausdrücklich einräumt.
Sie sind bereit, eine Frage des Abgeordneten Weng zu beantworten?
Ja, Herr Präsident.
Könnten Sie, Herr Kollege, in der Kürze der Zeit - es wird nicht ganz einfach sein - vielleicht die Abgrenzungsfrage noch ansprechen: Was ist im Sinne Ihres Vortrags Arzneimittel und was nicht?
Herr Kollege, wenn Sie sich unseren Gesetzentwurf angeschaut hätten, wüßten Sie, daß der Arzneimittelbegriff in unserem Arzneimittelrecht so weit gefaßt ist, daß man nicht sagen kann, daß bei jedem Arzneimittel eine Gesundheitsgefährdung besteht, wenn es auf dem Wege der Selbstbedienung abgegeben wird. Denn Kamillentee z. B. ist ein Arzneimittel im Sinne unseres Arzneimittelgesetzes. Das wollten wir nicht. Wir haben in unserem Gesetzentwurf vielmehr vorgesehen, daß durch Rechtsverordnung, die der Zustimmung des Bundesrats bedarf, solche Gruppen von Arzneimitteln ausgenommen werden können, wo eine Gefährdung durch diese Vertriebsform nicht zu besorgen ist. Ein Blick in das Ge12710
setz, Herr Kollege, hätte Ihnen diese Frage erspart. Aber gut!
Auf diese Art und Weise hatte ich Gelegenheit, allen übrigen hier noch einmal zu erklären, was Gegenstand der Regelung in unserem Gesetzentwurf ist.
Sie haben gemeint, daß Problem - das auch Sie erkennen - müsse man auf andere Art und Weise lösen, nämlich durch eine Verschärfung der Apothekenpflicht. Das ist in der Tat ein weitergehender Eingriff. Jeder, der diesem Gedankengang anhängt, muß sich das vor Augen führen.
Die Verkaufsform der Selbstbedienung in den Rang eines Verfassungsrechts zu erheben - das tun Sie mit Ihrer Argumentation - , halten wir für abenteuerlich. Wir sind der Auffassung, daß Arzneimittel besondere Waren sind, die einer sachgerechten Abgabe bedürfen. Und so haben wir unseren Vorschlag vorgelegt. Wir werden darauf bestehen. Er wird von Ihnen heute allerdings abgelehnt werden. Aber es wird Möglichkeiten geben, das eines Tages zu korrigieren.
Ich habe noch eine Bitte, Herr Präsident. Für die sich anschließende Abstimmung bitte ich die Beschlußempfehlung des Ausschusses vom 3. Oktober 1988 in den zwei Punkten nacheinander zur Abstimmung zu stellen.
Ich danke.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit gebietet es, daß man sich wieder einmal auf einige wenige Punkte beschränkt. Ich möchte jedoch nicht versäumen, auf den gesundheitspolitischen Aspekt einzugehen, der uns zu einer vierten Änderung veranlaßt, nachdem das geltende Arzneimittelgesetz zum erstenmal 1983, dann 1986 und erneut 1988 geändert werden mußte. Jetzt sind wir wieder dran. Sie sehen also, die Abstände, nach denen geändert werden muß, werden immer kürzer.
Die Urheber der Zweiten Novelle zum Arzneimittelgesetz haben mit den Regelungen zur Aufbereitung der sogenannten Altarzneimittel und zur Nachzulassung zweifellos eine theoretisch hervorragende Arbeit geleistet. Diese Arbeit ist hinsichtlich der Arzneimittelsicherheit besonders verdienstvoll. Der Gedanke der Arzneimittelsicherheit war es auch, der uns in den Vorbesprechungen zum vorliegenden Entwurf geleitet brat und der in den kommenden Beratungen im Ausschuß für uns natürlich auch bestimmend sein wird.
Es ist schon erwähnt worden, daß die jetzige Situation bedauerlicherweise durch einen unerträglichen Stau bei der Bearbeitung von Arzneimittelzulassungsanträgen und dem Auslaufen der Nachzulassungsfrist am Ende dieses Jahres gekennzeichnet ist. Man kann im Grunde genommen nun trefflich darüber streiten, ob die heutige Lage durch die Industrie verursacht worden ist, durch das Bundesgesundheitsamt oder durch die Politik. Eine solche Erörterung ist im Grunde genommen müßig. Denn uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir müssen nach vorne sehen.
Worauf wir jetzt unsere Kraft konzentrieren müssen - und zwar alle gemeinsam, glaube ich -, ist, daß wir Mittel und Wege finden, wie wir den Patienten, den Herstellern und dem Bundesgesundheitsamt in dieser Situation gleichermaßen gerecht werden können. Dazu bieten sich grundsätzlich zwei Wege an.
Wir können einerseits die Personalkapazität des Bundesgesundheitsamtes erhöhen. Wir können auch die Bearbeitungszeiten für Zulassungsanträge sowie die Fristen für die Nachzulassung verlängern. Wir können aber andererseits das Bundesgesundheitsamt von Aufgaben entlasten, die genausogut von anderen Institutionen wahrgenommen werden könnten. Wir könnten den Herstellern das Nachzulassungsverfahren erleichtern, ohne Abstriche an der Arzneimittelsicherheit machen zu müssen. Ich denke, obwohl der zweite Weg schwieriger sein wird, ist er im Ergebnis sicherlich befriedigender.
Allerdings, meine Damen und Herren von der Opposition, brauchen wir auch dazu Ihren guten Willen. Wir müssen es einfach schaffen, das Gesetz bis zum 1. Januar 1990 in Kraft treten zu lassen. Ich denke, daß der Entwurf der Bundesregierung diesen Zielsetzungen weitgehend entspricht und daß wir unsere inhaltlichen Änderungswünsche in die Ausschußberatungen einbringen können.
Meiner Meinung nach müssen wir sicherstellen, daß die geschätzten 60- bis 80 000 Anträge auf Nachzulassung nicht nach der alten Rechtslage gestellt werden müssen, sondern daß diese dem Bundesgesundheitsamt bereits in der Form vorliegen, die wir mit der 4. Novelle sinnvollerweise schaffen wollen; denn andernfalls würde diese Antragsflut das Bundesgesundheitsamt bis zum Ende dieses Jahres erreichen mit der Folge, daß ab 1990 wiederum Tausende von Änderungsanzeigen an das Bundesgesundheitsamt gehen, womit im Grunde genommen der Kollaps dieser wichtigen Institution vorprogrammiert wäre.
Wir werden uns daher in den Beratungen dafür einsetzen, daß der Termin zur Abgabe der Verlängerungsanträge bis Ende Mai 1990 verschoben wird. Dies ist ja auch der von der entsprechenden EG-Richtlinie vorgesehene Termin, bis zu dem das Aufbereitungs- und Nachzulassungsverfahren abgeschlossen sein sollte.
Weiterhin werden wir uns um eine Regelung bemühen, die sicherstellt, daß die Herstellung der Identität zwischen den Angaben aus dem Zulassungsbescheid und den Texten der Packungsbeilage sowie der Fachinformation in die Verantwortung des Herstellers gelegt wird. Diese rein formale Prüfung muß nicht unbedingt Aufgabe des Bundesgesundheitsamts sein; denn sie bindet Kräfte, die an anderer Stelle dringend benötigt werden.
Schließlich werden wir dafür eintreten, daß es den Herstellern erleichtert wird, ihre Medikamente dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand, der vornehmlich durch die Monographien repräsentiert wird, anzupassen. Hierbei versteht es sich von selbst, daß dies nicht auf Kosten der Arzneimittelsicherheit gehen kann.
Eine Änderung der arzneilich wirksamen Bestandteile nach Art und Menge ist für mich dann durchaus akzeptabel, wenn damit den Vorgaben der Aufbereitungskommission entsprochen werden kann. Geklärt werden müßte allerdings noch eine Änderung von Indikationen oder ein „Springen" in verschiedene oder andere Anwendungsbereiche oder Anwendungsgebiete.
Abschließend noch ein Wort zu dem Gesetzentwurf der SPD. Sie kennen ja meine Haltung dazu; ich habe sie schon dargelegt. Wir können diesem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Ein Selbstbedienungsverbot für Arzneimittel in Apotheken wird es mit uns nicht geben. Sie wissen ja: Wir halten von einer Bevormundung unserer Bürger nichts.
Danke.
({0})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wilms-Kegel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuletzt haben wir uns vor anderthalb Jahren mit einer AMG-Novelle beschäftigt, die deswegen nötig wurde, weil das Bundesgesundheitsamt die ihm durch das Arzneimittelgesetz aufgegebenen Aufgaben nicht angemessen erledigen konnte. Auch bei der heute vorliegenden 4. AMG-Novelle ist der Bewältigung dieser Tatsache ein ganzer Abschnitt gewidmet. Insgesamt jedoch besteht der vorliegende Gesetzentwurf aus Versuchen, Lösungen für ein ganzes Sammelsurium von Problemen zu schaffen. Einiges davon ist durchaus ein Schritt in die richtige Richtung, anderes erscheint uns schlichtweg nicht durchführbar, und weiteres ist keinesfalls ausreichend.
Als ein Schritt in die richtige Richtung erscheinen uns im Augenblick die Regelungen, die sich mit Tierarzneimitteln befassen. Unzureichend erscheinen uns die Regelungen für den Import und Export von Arzneimitteln.
Für besonders ärgerlich halte ich es, daß bei dem Exportverbot für Arzneimittel, die in der Bundesrepublik nicht zugelassen sind, großzügige Ausnahmen gemacht werden können, wenn eine Genehmigung des Bestimmungslandes vorliegt. Dadurch können obsolete Arzneimittel und solche, die dem Standard der Industrienationen wegen der starken Nebenwirkungen keinesfalls mehr entsprechen, als Billigprodukte unverändert in Länder der Dritten Welt abgegeben werden.
Ärgerlich finde ich auch, daß in der 4. AMG-Novelle allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz weitere Hürden für Naturheilmittel eingebaut sind. Sie wissen sehr genau, daß etliche Regelungen der 4. AMG-Novelle von den Herstellern von Naturheilkundemitteln nicht erfüllt werden können - mit dem Ergebnis, daß diese Naturheilmittel den Verbrauchern nicht mehr zur Verfügung stehen werden. Als Beispiel nenne ich hier nur die Einfügung der Nr. 5 a in Abs. 2 Satz 1 des § 25 des AMG.
Naturheilmittel, insbesondere aus Pflanzen gewonnene Arzneimittel, sind keine Monosubstanzen, sondern immer komplexe Gebilde, so daß es selbstverständlich nie gelingen kann, für jeden einzelnen arzneilich wirksamen Bestandteil eine ausreichende Begründung der Wirkung zu liefern. Heilpflanzen sind eben nicht ein chemisches Produkt mit einheitlicher Wirkung, sondern eine diffizile Zusammenstellung unterschiedlicher Substanzen, deren Einzel- und Gesamtwirkung sich nicht mit den üblicherweise angewandten Wissenschaftsmethoden überprüfen läßt. Eine fehlende Bemessungsgrundlage, letztlich auf einem Forschungsdefizit basierend, darf kein Grund sein, Zulassungen für Naturheilmittel zu versagen.
Aber auch die sonstigen Regelungen dieser Novelle, die sich auf Naturheilmittel beziehen, scheinen mir angesichts der derzeit erarbeiteten Negativliste des Bundesarbeitsministeriums schon überholt zu sein. Was nützt es einem Hersteller, wenn er seine Präparate laut AMG einer Monographie anpassen kann, das Präparat jedoch laut Negativliste schon vorher aus der Kassenerstattungspflicht herausgenommen wurde? Was nützt es dem Bundesgesundheitsamt, wenn seine Kommissionen endlich Grundlagen für die Beurteilung von Kombinationsarzneimitteln der besonderen Therapierichtungen entwickeln, während beim Bundesarbeitsministerium die Zahl der per Gesetz wirksamen Kombinationen ausgewürfelt wird? Welche Befugnis hat das Bundesgesundheitsamt überhaupt im Zusammenhang mit Arzneimitteln, wenn durch eine Verordnung des Bundesarbeitsministeriums unverrückbare Tatsachen geschaffen werden? Hier muß gefragt werden, bei wem die Zuständigkeit für die Arzneimittelkontrolle liegt, beim Bundesgesundheitsamt unter Aufsicht des Bundesgesundheitsministeriums oder beim Ministerium für Arbeit und Sozialordnung.
Vielleicht werden wir ja im Rahmen der Beratungen im Ausschuß einige dieser Fragen klären. Schließlich ist extra eine Anhörung dafür ins Auge gefaßt. Nach den gemachten Erfahrungen befürchte ich jedoch, daß die Mehrheit der Koalitionsfraktionen auch die sinnvollsten Vorschläge aus der Anhörung mit der Begründung verwerfen wird, daß diese Bundesregierung fehlerlos ist - das hören wir ja immer wieder -, obwohl Sie damit ein Wunder der Logik vollbringen, wenn die Regierung selbst durch zwei verschiedene Ressorts gegensätzliche Initiativen in derselben Problematik startet. Dabei fehlerlos zu bleiben ist sicherlich ein Wunder.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Voigt ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Frau Wilms-Kegel, selbstverständlich ist diese Regierung fehlerlos,
({0})
aber wir werden die Fragen, die Sie angesprochen haben, zweifelsohne so behandeln, wie wir es bisher immer gemacht haben: Die Ergebnisse der Anhörung als Ergebnisse externer Befragung werden in das weitere Verfahren eingehen.
Dr. Voigt ({1})
Herr Jaunich, mir tut es ja immer leid, wenn Sie über das Bundesgesundheitsamt so reden müssen. Sie wissen selbst, daß das Bundesgesundheitsamt im Jahre 1976 mit einer Aufgabe betraut worden ist - allerdings, da haben Sie völlig recht, mit der Zielrichtung 1990 - , die eigentlich aus damaliger Sicht - wenn ich das jetzt einmal als Fachmann sagen darf - überhaupt nicht zu bewältigen war. Wir sind mit den Ergebnissen nicht glücklich - das ist gar keine Frage - , aber es hat doch in diesem Bereich in der Zwischenzeit die Entwicklung gegeben, daß die Anforderungen höher geworden sind, daß die Kritikfähigkeit zugenommen hat und daß die Meßverfahren genauer geworden sind. Das Bundesgesundheitsamt, für das die Gewährleistung der Arzneimittelsicherheit das oberste Ziel ist, ist mithin mit neuen, vielfältigen Aufgaben betraut worden. Das heißt, es ist im Grunde viel komplizierter geworden, ein Arzneimittel zuzulassen, als wir es uns 1976 überhaupt denken konnten.
({2})
- Lieber Herr Jaunich, Sie müssen doch einfach in Rechnung stellen, daß wir dann, wenn wir nach wie vor der Auffassung sind, daß ein Arzneimittel zuverlässig sein muß, daß es hinsichtlich der Sicherheit unseren Wünschen entsprechen soll, auch in der Entwicklung von neuen Befragungsmethoden oder Bewertungsmethoden weitergehen müssen. Von daher bin ich nicht glücklich über den Zulassungsstau, und ich bin der Meinung, daß wir da dringend Abhilfe schaffen müssen; aber wir müssen einfach auch sehen, daß dieses Amt in vielen Fragen überfordert ist, und zwar nicht durch eigene Inkompetenz, sondern einfach dadurch, daß sich die Fragestellungen verändert haben.
({3})
- Nein, das will ich Ihnen auch nicht unterstellen, Herr Jaunich; bloß sagen Sie, daß wir das Problem nicht gelöst haben,
({4})
und ich will Ihnen nur zeigen, weswegen die Probleme schwieriger geworden sind und weswegen sie einfach nicht lösbar waren.
({5})
- Wir bieten Ihnen ja die Möglichkeit, dem jetzt zuzustimmen, und ich bin fest davon überzeugt, daß wir, wenn wir den externen Sachverstand in die Begutachtung einbeziehen, zu einer vernünftigen Lösung kommen,
Lassen Sie mich noch eine weitere Bemerkung machen: Sie sprechen immer wieder die vermeintliche Diskrepanz zwishen dem, was aus dem Hause unseres Ministers Blüm kommt, und dem, was wir wollen, an und interpretieren das dann so, als ob wir in den Fragen der Naturmedizin bzw. der Alternativen Therapierichtungen nicht das erreichen, was wir auch wollen. Ich bin ganz sicher, daß wir gerade diese 4. Novelle zum Arzneimittelgesetz sehr intensiv unter diesem Gesichtspunkt befragen werden. Sie wissen, daß wir es uns, weil wir der Meinung sind, daß hier eine
seriöse Politik betrieben werden muß, nicht leisten können, alternative Therapierichtungen, die Naturheilverfahren anders zu bewerten, als wir es mit der „normalen Schulmedizin" oder der Allopathie machen. Das heißt also: Wir sind verpflichtet, hier die gleichen seriösen Maßstäbe anzulegen.
Da wir das wollen, haben wir zum einen gesagt: Wir bitten den Forschungsminister, vernünftige Forschungsarbeit zu leisten. Und wir sind zum anderen der Meinung, daß wir diese Dinge in der 4. Novelle bereits berücksichtigt haben. Sie wissen auch, daß über die Negativliste gerade in diesem Punkt eine sehr intensive Diskussion auch in unserer Fraktion eingesetzt hat. Sie wissen weiter, daß die Negativliste in dem Punkt, in dem die Naturheilverfahren, die Naturmittel betroffen sind, von uns nicht so akzeptiert wird, wie sie im Augenblick auf dem Tisch liegt. Darüber werden wir dann sicherlich noch reden können.
Zur Selbstbedienung, meine sehr verehrten Damen und Herren: Also, ich glaube, daß der weit gefaßte Arzneimittelbegriff, so wie er im Arzneimittelgesetz 1976 formuliert ist - wenn wir ihn heute noch einmal formulieren würden, würde ich sicherlich meine Bedenken haben, ob man da so weit gehen kann -, dazu geführt hat, daß dieses Problem aufgetaucht ist. Ich bin der Auffassung - da schließe ich mich Frau Würfel an - , daß wir überhaupt keine Veranlassung haben, diese Selbstbedienung auszuschließen, daß wir die Möglichkeit der Gleichbehandlung der Abgabestellen außerhalb der Apotheken und in den Apotheken hier herstellen müssen. Aus diesem Grunde können wir einer Ablehnung der Selbstbedienung, so wie Sie das vorschlagen, zweifelsohne nicht zustimmen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bin sicher - und da komme ich auf den Ausgangspunkt zurück -, daß wir die von uns vorgeschlagene Anhörung auch unter dem Gesichtspunkt der Negativliste sehr intensiv auswerten werden. Denn wir sind der Meinung, daß die alternativen Therapierichtungen, die in der Zwischenzeit für unsere Bevölkerung zu einem wichtigen Bestandteil der Medizin geworden sind, auch unter dem Gesichtspunkt der Eigenverantwortung des einzelnen beim Umgang mit sich und seinen Krankheiten eine wichtigen Stellenwert haben. Von daher glauben wir, daß diese Dinge auch bei der Beratung dieses Gesetzes berücksichtigt werden sollten.
Vielen Dank.
({6})
Da mir weitere Wortmeldungen nicht vorliegen, können wir jetzt zur Abstimmung kommen. Entsprechend dem Wunsch des Abgeordenten Jaunich lasse ich über die Beschlußempfehlungen Nr. 1 und 2 getrennt abstimmen.
Wir kommen zunächst zum Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zum Verbot von Selbstbedienung beim Verkauf von Arzneimitteln. Das liegt Ihnen auf Drucksache 11/1127 und 11/3048 vor.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3048 unter Nr. 1 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1127. In diesem
Vizepräsident Cronenberg
Fall ist es ständige Praxis, über die Ursprungsvorlage abstimmen zu lassen. Das heißt also: Ich stelle jetzt den Gesetzentwurf der SPD zur Abstimmung.
Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Gesetzentwurf in zweiter Beratung abgelehnt. Ich brauche die weitere Beratung somit nicht fortsetzen zu lassen.
Es ist dann noch über eine Entschließung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit abzustimmen, dessen Annahme der Ausschuß auf Drucksache 11/3048 unter Nr. 2 empfiehlt. Wer stimmt für diese Entschließung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Fraktion DIE GRÜNEN beteiligt sich an der Abstimmung nicht.
({0})
Darf ich noch einmal fragen: Enthaltung? - Also, bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist diese Entschließung angenommen worden.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Arzneimittelgesetzes auf Drucksache 11/5373 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Weitere Vorschläge werden nicht gemacht. Dann darf ich dies als beschlossen feststellen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Reddemann, Dr. Ahrens, Dr. Abelein, Antretter, Frau Beer, Bindig, Frau Blunck, Böhm ({1}), Büchner ({2}), Bühler ({3}), Eich, Frau Fischer, Dr. Hitschler, Höffkes, Frau Hoffmann ({4}), Dr. Holtz, Irmer, Kittelmann, Lenzer, Dr. Müller, Niegel, Pfuhl, Dr. Scheer, Schmidt ({5}), Schmitz ({6}), von Schmude, Dr. Soell, Steiner, Frau Dr. Timm, Dr. Unland, Zierer
Unterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen durch die Bundesrepublik Deutschland
- Drucksache 11/5180 Auch hier ist eine Debattenzeit von 30 Minuten vorgesehen, wenn das Haus damit einverstanden ist. - Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Debatte eröffnen. Das Wort hat Professor Soell.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist sehr erfreulich, daß der Antrag auf Drucksache 11/5180, der sich mit der kontinuierlichen Unterrichtung des Deutschen Bundestags über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung von Abkommen und Konventionen des Europarates durch die Bundesrepublik Deutschland befaßt, von Mitgliedern aus allen Bundestagsfraktionen der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats eingebracht worden ist. Dies ist ein sichtbares Zeichen für das gemeinsame Bewußtsein von der wachsenden Bedeutung des Europarats und seiner Parlamentarischen Versammlung.
Es ist nicht so, wie manche eher wohlwollenden Kommentare meinen, daß der Europarat jahrzehntelang in einen Dornröschenschlaf versunken sei und erst in jüngster Zeit hätte wachgeküßt werden müssen, z. B. durch Lech Walesa, der zusammen mit der Internationalen Helsinki-Vereinigung für Menschenrechte den Menschenrechtspreis des Europarats im Mai überreicht bekam, und durch den sowjetischen Staatspräsidenten und Generalsekretär der KPdSU, Gorbatschow, der am 7. Juli dieses Jahres durch seine Rede in Straßburg die Chancen des Europarats und seiner Institutionen im Prozeß der Vernetzung der Interessen zwischen Ost und West ausdrücklich gewürdigt hat. Es ist übrigens die erste Rede gewesen, die er vor einer europäischen parlamentarischen Versammlung gehalten hat.
Es ist eher so, daß die Schweigsamkeit der Medien den Eindruck des Dornröschenschlafs erweckt hat. Dieses Schicksal teilt der Europarat weitgehend mit anderen parlamentarischen Versammlungen in Westeuropa, bis hin zum direkt gewählten Europaparlament. Erst langsam bilden sich Ansätze einer funktionierenden europäischen Öffentlichkeit. Dennoch sind wir weit von einem Zustand entfernt, bei dem regelmäßig über Debatten der europäischen parlamentarischen Versammlungen berichtet und das Geschehen kommentiert wird, wie dies täglich auf der Ebene des Bundes, der Länder und der Gemeinden bei uns geschieht.
Der Europarat hat es außer seinem Engagement für die Menschenrechte und den über 130 Konventionen, die er bisher verabschiedet hat, durch eine Reihe von Aktionen verdient, stärker ins Bewußtsein gerückt zu werden. Ich erwähne nur drei dieser Aktivitäten.
Ich nenne erstens die Kampagne für den ländlichen Raum von 1988, die von der Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas, die sich unter dem Dach des Europarats organisiert haben, entscheidend mitgetragen worden ist und vor allem den Zweck verfolgte, den Auszehrungsprozeß, von dem zahlreiche ländliche Regionen in Europa betroffen sind, bewußt zu machen und gemeinsam nach Möglichkeiten zu suchen, diesen Prozeß umzukehren.
Ich erwähne zweitens die im Januar 1988 eröffnete europäische Öffentlichkeitskampagne über die Nord-Süd-Problematik, Interdependenz und Solidarität, die in der Bundesrepublik von einem breiten Bündnis von Gewerkschaften, Gemeinden und Städten, Dritte-Welt-Aktionsgruppen sowie Jugendverbänden getragen worden ist.
Ich nenne drittens die Schaffung eines besonderen Gaststatus' für Parlamentsdelegationen aus Ost- und Südosteuropa, zunächst aus Ungarn und Polen und Jugoslawien sowie aus der Sowjetunion. Das entspricht einem Beschluß der Parlamentarischen Versammlung im Frühjahr dieses Jahres.
Ich möchte hier eine gewisse Autoreneitelkeit nicht verhehlen. Vor drei Jahren habe ich in einer Debatte des Europarats auf Grund von Erfahrungen, die wir im Rahmen der Interparlamentarischen Union gemacht haben, den Vorschlag gemacht, alle Mitgliedsländer
der Helsinki-Charta möglichst bald unter das Dach des Europarats zu bekommen, in welcher Form auch immer. Dieser Vorschlag ist vor drei Jahren mit großer Skepsis aufgenommen worden. Dafür mußte man Verständnis haben. Inzwischen ist der Vorschlag von allen politischen Richtungen voll akzeptiert worden. Daß die Mitglieder der sowjetischen Delegation in ihren biographischen Angaben stolz darauf hinweisen, daß sie bei den jüngsten Wahlen zum Obersten Sowjet im ersten Wahlgang direkt gewählt worden sind - so etwas gab es früher bei Begegnungen mit Vertretern aus Parlamenten in Osteuropa und in der Sowjetunion nie -, wirft jedenfalls ein bezeichnendes Schlaglicht auf die Dynamik des dortigen Umbruchs, die so vor zwei oder drei Jahren noch nicht vorstellbar war.
Auch aus diesen Gründen muß die Arbeit des Europarates mehr Verbindlichkeit erhalten, müssen die Konventionen des Europarats und ihre Umsetzung auf nationaler Ebene stärker kontrolliert werden.
Mir liegt eine sicher nicht vollständige Liste von Konventionen des Europarats vor - es sind rund drei Dutzend - , die von der Bundesrepublik teils unterschrieben, aber nicht ratifiziert worden sind, teils überhaupt nicht unterschrieben worden sind. Dazu gehören Konventionen, die teilweise 25 Jahre und älter sind, zu so wichtigen Gebieten wie z. B. zur internationalen Gültigkeit der Strafgerichtsbarkeit, zur Berechnung von Rechtsfristen, zur Sozialversicherung, zur Haftung bei Verkehrsunfällen - wichtig gerade im grenzüberschreitenden Verkehr - , zu den internationalen Auswirkungen des Führerscheinentzuges, zur Produkthaftung in bezug auf Personenschäden oder Tod, zur Entscheidung über das Sorgerecht für Kinder, zur Verhinderung von Folter, unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung oder Bestrafung - wir haben ja vor kurzer Zeit einen Antrag eingebracht, der sich speziell mit dieser Konvention beschäftigt und in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, sie baldmöglichst zu ratifizieren - und zur - auch ein immer wichtiger werdendes Gebiet gerade im Zuge des Zusammenwachsens Europas - gegenseitigen Amtshilfe in Steuerangelegenheiten.
Hier wollen wir künftig eine kontinuierliche Berichterstattung der Bundesregierung über Unterzeichnung und Ratifizierung und, wenn die Unterzeichnung abgelehnt worden ist oder wenn die Ratifizierung - aus welchen Gründen auch immer - auf Hindernisse stößt, die Gründe dafür bekommen.
Ich möchte mit einer Bemerkung über das Verhältnis der europäischen Versammlungen zueinander schließen. Wir haben in den Haushalten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats wie der anderen Organe des Europarats, aber auch der Westeuropäischen Union praktisch ein Nullwachstum. Wenn man das einmal in die Größenordnungsverhältnisse übersetzt - die Europäische Gemeinschaft hat inzwischen, im Jahr 1989, einen Haushalt von über 95 Milliarden DM, während die Kosten für den Europarat im Jahr 1989 ungefähr 130 Millionen DM betragen -, dann kann man das praktisch nur noch in Promillesätzen ausdrücken. Gerade angesichts der wachsenden Aufgaben, der Möglichkeit, eine institutionelle Brücke sowohl zu Osteuropa zu bilden als auch
viele Initiativen hin zur Dritten Welt zu unterstützen, ist es wichtig, daß wir auch als Bundestag betonen, daß wir den Europarat sehr viel stärker fördern wollen. Es geht nicht um riesige bürokratische Wasserköpfe, aber um die Initiativen, die mit relativ wenig finanziellem Aufwand zu fördern sind.
Im übrigen: Wir stimmen der Überweisung an den Auswärtigen Ausschuß zu und hoffen auf eine zügige Beratung.
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Das Wort hat der Abgeordnete Böhm ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stimme dem, was der Kollege Professor Soell gesagt hat - ebenfalls als Mitglied der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung - , vollinhaltlich zu. Das ist ein gemeinsamer Antrag. Ich denke, daß wir ihn auch gemeinsam verabschieden werden.
Wenn wir im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland von Europa sprechen, richten sich unsere Blicke zwangsläufig nach Brüssel zur Europäischen Gemeinschaft. Sie steht im Mittelpunkt des deutschen Interesses, wenn es um Fragen der Europapolitik geht. Von ihr geht, gestützt auf ihre wirtschaftliche Bedeutung, in der Tat prägende Kraft für unsere gesamte Politik aus.
Wer spricht schon angesichts der weit über 80 Milliarden DM, die die Europäische Gemeinschaft jährlich zur Verfügung hat, über den Europarat mit seinen rund 132 Millionen DM, die er im Gegensatz dazu jährlich bewegen kann? Da bleibt dem Europarat wenig an Beachtung, obwohl er als die erste europäische zwischenstaatliche Gemeinschaft, der mittlerweile alle 23 demokratischen Staaten Europas angehören, eine bedeutende politisch-moralische Institution ist. Als Verfechter der Demokratie und der Menschenrechte tritt er für die Wahrung der Grundwerte des menschlichen Zusammenlebens und der Lebensqualität ein und kann dabei in den mehr als 40 Jahren seines Bestehens auf viele Erfolge verweisen.
Seine Parlamentarische Versammlung, das erste internationale Parlament und die größte Versammlung freiheitlich-demokratischer Staaten der Welt, hat in den 40 Jahren zahlreiche fachliche Initiativen ergriffen, die zu rund 130 Konventionen auf den verschiedensten Gebieten geführt haben. Diese mehrseitigen internationalen Abkommen ersetzen eine große Anzahl von Vereinbarungen, die sonst zweiseitig zwischen den Mitgliedstaaten hätten ausgehandelt werden müssen. Mit Kompetenz und Sachverstand wurden dabei große politische Fragen angegangen: von der Garantie der Menschenrechte über die Sozialcharta bis zum Umweltschutz, vom Drogenmißbrauch bis zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
Diese Konventionen prägten in ganz entscheidendem Maße die Gesetzgebung in den europäischen Mitgliedstaaten. Jene erwähnten 130 rechtlich verbindlichen Konventionen und Verträge des Europarates sind in der Tat ein großer Schritt hin zu einem gemeinsamen Rechtsraum im demokratischen EuBöhm ({0})
ropa. Gäbe es nicht die Konventionen, wäre das gleiche Ergebnis nur durch den Abschluß von weit über 25 000 zweiseitigen Abkommen erreichbar gewesen.
Angesichts der rasch wachsenden und zu begrüßenden Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft wächst die Bedeutung des Europarates besonders als Brücke zu den europäischen Nichtmitgliedstaaten der EG, also zu den Staaten der EFTA, in zunehmendem Maße aber auch zu den Staaten Ost- und Südosteuropas.
Die stürmische politische Entwicklung im Osten Europas hat dazu geführt, daß seit Mitte dieses Jahres Vertreter der gesetzgebenden Körperschaften Ungarns, Polens, Jugoslawiens und der Sowjetunion als ständige Gäste an den Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates teilnehmen und damit in das bereits bestehende gemeinsame europäische Haus Einzug gehalten haben.
Diese politischen Entwicklungen führen in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu einem neuen Selbstbewußtsein und fördern das Verlangen, dieses in vier Jahrzehnten gewachsene europäische Instrument systematisch für die Zukunft des gesamten Kontinents zu nutzen. Dazu gehört nicht nur eine stärkere Beachtung der Arbeit der Parlamentarischen Versammlung durch das Ministerkomitee, sondern auch eine Diskussion in den nationalen Parlamenten über das Schicksal der Konventionen und Abkommen des Europarates in den einzelnen Mitgliedsländern.
Diese Grundüberzeugung hat zu dem vorliegenden Antrag aus den Reihen der deutschen Delegation in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates geführt, mit dem eine Unterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen durch die Bundesrepublik Deutschland in zweijährigem Turnus verlangt wird.
Auch in den anderen europäischen Mitgliedstaaten wird in den nationalen Parlamenten auf eine solche regelmäßige Berichterstattung gedrängt, sofern sie nicht schon erfolgt.
Wir wissen, daß es in dem einen oder anderen Mitgliedsland, auch in der Bundesrepublik Deutschland, gute Gründe geben kann, daß Konventionen nicht sofort ratifiziert werden können; aber wir wollen diese Gründe kennen und diskutieren.
Wir sind der festen Überzeugung, daß diese Konventionen Grundlage einer echten europäischen Gesetzgebung sind, und verweisen, wie ich meine, mit berechtigtem Stolz auf die wichtige Rolle, die die Parlamentarische Versammlung bei ihrer Ausarbeitung gespielt hat.
Meine Damen und Herren, wir erwarten von den Staaten Osteuropas, die ihren Einzug in das gemeinsame europäische Haus der Freiheit vorbereiten, daß sie selbstverständlich nicht nur den grundlegenden Konventionen des Europarates beitreten, sondern so vielen Konventionen wie möglich, und das so bald als möglich.
Die Kollegen aus den osteuropäischen gesetzgebenden Körperschaften, die gemeinsam mit uns in Straßburg beraten, stellen schon die Frage, was aus den Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung im Ministerkomitee wird, und sie fragen natürlich auch nach dem Schicksal der Konventionen in den einzelnen Mitgliedsländern. Wie ernst nehmen die Regierenden in den westlichen Staaten Europas das, was die Parlamentarier vorschlagen und beschließen? Ich hoffe nicht, daß die osteuropäischen Parlamentarier eines Tages zwischen der Bürokratie hier und der Bürokratie dort Vergleiche anstellen müssen.
Alles in allem: Ein Grund mehr, hier bei uns mit Nachdruck auf einen sorgfältigen Umgang mit den Konventionen zu achten und alles daranzusetzen, unseren Beitrag zur Entwicklung des gemeinsamen europäischen Rechtsraums zu leisten. Diesem Anliegen gilt der vorliegende Antrag.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beer.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Da wir schon so viele lobende Worte über die Parlamentarische Versammlung des Europarats gehört haben, möchte ich den Antragstext kurz erwähnen und damit auch inhaltlich diese Debatte mit anderen Punkten füllen. Die Überschrift lautet: „Unterrichtung des Deutschen Bundestages über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen durch die Bundesrepublik Deutschland" .
In einer Zeit, wo das Wort „Europa" aus dem politischen Alltag überhaupt nicht mehr wegzudenken ist, entspricht die Aufforderung des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung, in regelmäßigem Turnus über den Stand der Unterzeichnung und Ratifizierung europäischer Abkommen und Konventionen zu unterrichten, eigentlich einer Aufforderung zu einer Selbstverständlichkeit, der die Bundesregierung von sich aus auch ohne besondere Einladung eigentlich längst hätte nachkommen sollen.
Die Vergangenheit hat allerdings gezeigt, daß dies keineswegs so ist. Ich erinnere in dieser Debatte an zwei Vorgänge: erstens die unverständlich lange Hinauszögerung der Ratifizierung der europäischen AntiFolter-Konvention, zweitens die Debatte vom 28. September dieses Jahres zum „Schengener Informationssystem".
Diese Debatte hat ein ganz anderes Problem deutlich gemacht, das auch dieser Antrag berührt: Die Bundesregierung hat versucht, am Parlament vorbei ein Thema voranzutreiben, das tiefe Eingriffe in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der betroffenen Bürger und Bürgerinnen vorprogrammiert hat. Hier ist das Fehlen des Zwangs und der Aufforderung zur regelmäßigen Unterrichtung dazu mißbraucht worden, eine europäische Polizeipolitik voranzutreiben, weil sich die Bundesregierung sehr wohl darüber im klaren war, daß bei einer Debatte
hier im Bundestag und in der Bundesrepublik innenpolitische Schwierigkeiten aufbrechen würden.
Die Zunahme europäischer Abkommen darf auch von uns, von diesem Parlament nicht falsch verstanden werden: Europäische Abkommen sind keine Entlastung der nationalen Parlamente, kein Grund mehr, hier noch weniger an Debatten teilzunehmen und sich auszuruhen. Sie sind keine Entlastung, sondern eine Herausforderung. Sie beinhalten eine größere Verantwortung für uns und die Notwendigkeit der Verstärkung der parlamentarischen Kontrolle.
Der heute zur ersten Beratung stehende Antrag sieht eine zweijährliche Unterrichtung vor. Das Anliegen meiner Fraktion war es immer und ist es - auch wenn ich diesen Antrag natürlich unterstütze - weiter, den positiven Ansatz dieses Antrags im Rahmen der Beratung in den Ausschüssen dahin zu verbessern, daß die Unterrichtung in noch kürzeren Zeitabständen stattfindet. Die oben schon erwähnte Debatte zum Schengener Abkommen hat deutlich gemacht, daß es sich hier nicht um eine Legalisierung der Verselbständigung der Bundesregierung handelt, sondern ein wirkliches Mitspracherecht der nationalen Parlamente auch in einem gemeinsamen Haus Europa gewährleistet sein muß.
Ich möchte außerdem betonen, daß dieser Antrag für uns nicht der Ersatz für Forderungen ist, daß regelmäßige Berichte der zuständigen Ministerien vor und nach wichtigen Konferenzen in den Ausschüssen gegeben und bei Bedarf im Plenum diskutiert werden, daß jährlich schriftliche Berichte an das Parlament zum Stand und Inhalt europäischer Vorgänge gegeben werden und gegebenenfalls die Beratung darüber im Parlament erfolgt und daß Informations- und Akteneinsichtsrechte der Parlamentarier und Parlamentarierinnen der nationalen Parlamente in bezug auf alle relevanten Unterlagen und die Öffentlichkeit von europäischen Konferenzen für die zuständigen Ausschußmitglieder der Parlamente sämtlicher Partnerstaaten gewährleistet sein müssen. Diese Punkte sind die Ergänzung zu einem Ansatz der Information, der weitergehen muß zur Mitverantwortung für dieses Europa, das jetzt von allen so gern im Mund geführt wird.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nicht wiederholen, was unter meiner Zustimmung die Kollegen Soell, Böhm und auch Frau Beer gesagt haben. Es passiert selten, daß ich mit Frau Beer übereinstimme; diesmal war es weitgehend der Fall.
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Ich möchte darauf hinweisen, daß schon ein hochinteressantes Dokument vorliegt, nämlich die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Reddemann und anderer vom 8. Februar
1989. Hier haben wir eine umfassende Darstellung, und da ist eigentlich schon das geliefert worden, was wir in unserem Antrag erbitten. Die Bundesregierung wird es leicht haben, wenn wir den Antrag verabschieden, dem Begehren gerecht zu werden; sie braucht nämlich nur dieses fortzuschreiben, was wir haben. Das Dokument ist außerordentlich interessant. Es geht vom Leichentransport bis zum Gesellschaftsrecht und von Randalierern in Fußballstadien bis zu Fragen der Menschenrechte - vielleicht hat das auch etwas miteinander zu tun - quer durch die gesamten europäischen Rechts- und Politikbereiche.
Als ich das Dokument gelesen habe, hat mich der Umstand besonders gefesselt, daß hier das Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen europäischen Institutionen deutlich wird. Wir haben nämlich beispielsweise das europäische Übereinkommen Nr. 57 über die Niederlassung von Gesellschaften vom 20. Januar 1966. Hier wird als Begründung dafür, daß das noch nicht ratifiziert worden ist, angeführt, hierfür sei die Bundesrepublik gar nicht mehr zuständig, nachdem die Kompetenz auf die Europäische Gemeinschaft übergegangen ist. In anderen Fällen wird zwar nicht die Zuständigkeit der Bundesrepublik verneint, aber es wird gesagt: Das ist eigentlich durch EG-Richtlinien bereits erledigt. Ein faszinierender Vorgang.
Meine Damen und Herren, überhaupt ist das Verhältnis der einzelnen europäischen Institutionen zueinander in Fluß geraten. Wir hatten früher eine ganz klare Aufteilung: Die EG war für Wirtschaft zuständig, die WEU für Verteidigung und der Europarat so mehr oder weniger für die schönen Dinge des Lebens, für das kulturelle Erbe, für die Menschenrechte. Das war die allgemeine öffentliche Auffassung. Wir erleben heute, daß sich die EG selbst, auch stark gefördert durch die Arbeit des Europäischen Parlaments, durch die Einheitliche Europäische Akte, zurückgehend auf die Genscher-Colombo-Initiative, neue Zuständigkeiten zugelegt hat, nämlich im Bereich der Außenpolitik. Es ist inzwischen allgemeine Meinung: Die EG soll zur europäischen Union ausgebaut werden, auch mit Kompetenzen für Sicherheitspolitik. Hier schafft nun allerdings die Entwicklung der letzten Monate und Wochen möglicherweise Bedarf zum Überprüfen dieser Konzeption.
Der Europarat ist aufgewertet durch die Entwicklungen im Osten. Der Gaststatus für Polen, Ungarn, Sowjets und Jugoslawen ist hier bereits gewürdigt worden. Selbstverständlich kann es dabei aber nicht bleiben. Diese Länder werden eines Tages Vollmitglieder des Europarats sein, und einige von ihnen haben bereits gesagt, daß sie auch Mitglieder der EG werden möchten. Wir haben außerdem den Beitrittsantrag eines neutralen Landes, Österreichs, und es stellt sich für uns in der EG die Frage, ob wir nach wie vor daran festhalten können, der europäischen Union, zu der die EG ausgebaut werden soll, letzten Endes auch die Kompetenz für Verteidigungsfragen zu geben.
Ich gebe heute keine Antwort. Ich sage nur: Wir müssen hierüber erneut nachdenken, ob wir nicht das europäische Haus anders aufbauen müssen, als wir es bisher vorgesehen hatten. Von daher erfährt auch die
WEU heute eine bedeutende Aufwertung, weil wir zunächst den Aufbau des europäischen Pfeilers innerhalb der NATO in der WEU betreiben sollten.
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Wie sich die Institutionen in Europa letzten Endes zueinander stellen werden, wie institutionell das gemeinsame europäische Haus ausschauen wird, das bleibt abzuwarten. Wir sollten alle Institutionen, die uns zur Verfügung stehen, nutzen, um auf dieses Ziel hinzuarbeiten.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Staatsministerin Frau Dr. Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Absicht der Antragsteller aus allen Fraktionen des Deutschen Bundestages, so wie sie in dieser Debatte deutlich geworden ist, möchte ich einmal so zusammenfassen: mehr Öffentlichkeit für die Arbeit des Europarates, regelmäßige Information über die Arbeit der ministeriellen Ebene des Europarates an die Parlamentarier und die Förderung des europäischen Rechtsraums. Alle diese Ziele teilt die Bundesregierung ausdrücklich.
Wie ernst wir die Arbeit des Europarates nehmen, sehen Sie daran, daß die Bundesregierung schon jetzt jedes halbe Jahr einen Tätigkeitsbericht erstellt und ihn dem Deutschen Bundestag zuleitet. Aber dies kann selbstverständlich nur e i n Ansatzpunkt sein. Denn ich teile die Einschätzung, die hier auch geäußert worden ist: Die Bedeutung des Europarates steigt gerade in einer so bewegenden Zeit, wie wir sie jetzt erleben. Zwischen Ost und West ist viel in Bewegung gekommen. Wohin die Reise geht, macht der Beschluß der Parlamentarischen Versammlung des Europarates deutlich, Jugoslawien, Ungarn, Polen und der Sowjetunion Gaststatus zu geben. Ich denke, daß dies nur der Beginn einer Entwicklung ist.
Ich möchte Herrn Soell sagen, daß es durchaus in der Absicht der Bundesregierung liegt, diese steigende Bedeutung des Europarates auch in den Mitteln zum Ausdruck zu bringen, die ihm für seine Arbeit zur Verfügung stehen. Allerdings ist dies nicht eine Entscheidung, die die Bundesregierung allein zu treffen hat, sondern hier muß eine Übereinstimmung mit allen anderen Partnerstaaten gefunden werden.
Den fast aktuellsten Stand der Ratifizierung von Konventionen und Abkommen finden Sie in der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Reddemann, Dr. Ahrens und Genossen vom 8. Februar 1989. Die Antwort macht deutlich, daß die Vorstellungen über die Entwicklung des europäischen Rechtsraums, so wie sie von den meisten Partnerstaaten gesehen wird, für uns nicht in allen Fällen relevant oder auch nur anwendbar sind. Ich möchte beispielhaft das europäische Abkommen zur sozialen Sicherheit von 1972 zitieren, das schon damals und ganz sicherlich in der Folgezeigt nicht der Entwicklung und dem Stand der sozialen Sicherheit in
der Bundesrepublik Deutschland Rechnung getragen hat und deshalb von der Bundesrepublik nicht ratifiziert worden ist. Andere Dinge sind deshalb für uns problematisch, weil sie ein Rechtssystem reflektieren, das unserem gewachsenen Rechtssystem nicht entspricht und deshalb in bestimmten Bereichen nicht damit in Übereinstimmung zu bringen ist. Trotzdem teile ich das, was hier zum Ausdruck gekommen ist, daß wir uns bemühen sollten, die Abkommen so schnell wie möglich zu ratifizieren, um auch deutlich zu machen, daß wir bereit sind, aktiv an der Herstellung dieses europäischen Rechtsraums mitzuwirken.
Besonders wichtig scheint mir das Profil des Europarates in Sachen der Kultur und der Einforderung der Menschenrechte zu sein. Ich halte dies - Herr Kollege Irmer, Sie gestatten diese Anmerkung; ich widerspreche Ihnen nur äußerst ungerne - für einen der entscheidenden Punkte des Europarates. Dies ist nicht etwas, was nur so eine Art umrahmendes Rankenwerk ist. Vielmehr hat der Europarat gerade bei der Einforderung und der Durchsetzung von Menschenrechten, aber auch bei der Formulierung des kulturellen Erbes, der kulturellen Wurzeln des gesamten Europas unschätzbare und von einer anderen Institution nicht wahrnehmbare Aufgaben.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, darauf aufmerksam zu machen, daß bei zwei besonders wichtigen Konventionen betreffend den Bereich des europäischen Menschenrechtsschutzes das Ratifizierungsverfahren gerade abgeschlossen wurde. Es handelt sich um die Konvention zur Abschaffung der Todesstrafe und das Zusatzprotokoll Nr. 8 zur Europäischen Menschenrechtskonvention. Mit dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls am 1. Januar 1990 wird die lange Verfahrensdauer vor den Konventionsorganen Menschenrechtskommission und Menschenrechtsgerichtshof verkürzt und damit der Menschenrechtsschutz funktionsfähig erhalten.
Zu der Bemerkung der Kollegin Beer, die Bundesregierung wolle im europäischen Raum irgend etwas am Parlament vorbei umsetzen
({0})
- z. B. das Schengener Informationssystem -, möchte ich folgendes sagen. Die Bundesregierung wird dies nicht tun, kann dies nicht tun, denn das Abkommen, das wir mit den Schengen-Partnern auch zur Einführung eines solchen Informationssystems schließen wollen, muß in jedem Fall im Parlament ratifiziert werden. Jede Bundesregierung ist deshalb gut beraten, so früh wie möglich das Parlament einzubeziehen.
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Lassen Sie mich zum Schluß sagen, daß die Bundesregierung selbstverständlich bereit ist, dem Unterrichtungswunsch des Deutschen Bundestages, wie er sich aus dem vorliegenden Antrag ergibt, zu entsprechen.
Ich danke Ihnen.
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Meine Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, den Antrag auf Drucksache 11/5180 an den Auswärtigen Ausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? -Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 8 der Tagesordnung auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Dritten Verstromungsgesetzes
- Drucksache 11/5392 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({0})
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Der Ältestenrat schlägt vor, eine Debattenzeit von einer Stunde anzusetzen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall.
Wir können mit der Debatte beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Gerstein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der heute vorliegende Entwurf zur Novellierung des Dritten Verstromungsgesetzes, den wir nun in erster Lesung beraten, dient dazu, die Koalitionsvereinbarungen vom 19. Juli 1989 und die Ergebnisse der Gespräche zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen und des Saarlandes zur Lösung der Kohlenfrage praktisch umzusetzen.
Ich bin der Meinung, daß diese Umsetzung gerade angesichts der großen Schwierigkeiten und des sehr komplizierten Sachverhalts sehr gut gelungen ist. Es ist Entscheidendes erreicht worden. Der Ausgleichsfonds zur Sicherung des Einsatzes deutscher Steinkohle in der Stromwirtschaft wird mit den vorgesehenen Maßnahmen stabilisiert. Der Absatz deutscher Steinkohle an die Stromwirtschaft wird nun auf durchschnittlich 40,9 Millionen t je Jahr bis 1995 festgeschrieben. Das bedeutet aber auch, daß der Anpassungsprozeß des deutschen Steinkohlenbergbaus so, wie er 1987 vereinbart worden ist, ohne Störungen ablaufen kann. Das gibt den Bergbauunternehmen Planungssicherheit für die kommenden Jahre.
Mit der parallel zu den Vereinbarungen erfolgten Berufung der Mikat-Kommission, der ja alle Beteiligten zugestimmt haben, ist darüber hinaus sichergestellt, daß die notwendigen Anschlußregelungen für die Zeit nach 1995 rechtzeitig entwickelt werden können. Wir werden, so hoffe ich, die ersten Ergebnisse dieser Kommissionsarbeit spätestens im März nächsten Jahres vorliegen haben.
Meine Damen und Herren, durch das Gesetz - das ist neu - wird die Ausgleichsabgabe, der sogenannte Kohlepfennig, zum erstenmal für vier Jahre im voraus festgelegt werden. Mit einer Ausgleichsabgabe von 8,25 %, die bis zum Jahre 1993 auf 7,5 % absinkt, können nach heutigem Preisstand nicht nur die laufenden Ansprüche des Fonds bedient werden, sondern, wie
dies bereits in diesem Jahr erfolgt, auch Schulden, die in den vergangenen Jahren aufgelaufen sind, abgetragen werden.
Der Ausgleichsfonds wird darüber hinaus dadurch entlastet, daß die Elektrizitätswirtschaft einmalig auf Ansprüche in Höhe von 650 Millionen DM verzichtet, weil eine Steigerung der Abnahmemengen in den kommenden Jahren entfällt. Dabei ist zu berücksichtigen, daß der Fonds bereits durch Maßnahmen der Bundesregierung, nämlich durch die seit Anfang 1989 geltende Heizölsteuererhöhung, entlastet worden ist.
Weiterhin sieht der Gesetzentwurf vor, daß in Zukunft die Erschwerniszuschläge für niederflüchtige Kohle und die Zuschüsse zum Ausgleich von Revierunterschieden gestrichen werden. Dadurch wird der Fonds jährlich um 480 Millionen DM entlastet. Es ist vereinbart - das festzuhalten ist wichtig - , daß die betroffenen Schachtanlagen für die Preisnachlässe, die sie nun in entsprechender Höhe ihren Abnehmern zu gewähren haben, Ausgleichszahlungen aus den Haushalten des Bundes und der Revierländer erhalten.
Meine Damen und Herren, vor der endgültigen Beschlußfassung des Deutschen Bundestages über diesen Gesetzentwurf müssen - das wird im Rahmen der anstehenden Beratungen auch geschehen - noch eine Reihe von Fragen abschließend und sicher geklärt werden. Uns geht es dabei vor allen Dingen um folgende Punkte.
Erstens. Es ist sicherzustellen, daß die Stromwirtschaft von der theoretischen, sich aus dem Vertrag ergebenden Möglichkeit, nach dieser Novellierung Vertragsverhältnisse zu kündigen, keinen Gebrauch macht. Hier sind noch Vereinbarungen erforderlich, die solche - natürlich nicht gewollten - Wirkungen der Novellierung sicher ausschließen.
Zweitens. Dies ist ein ganz wichtiger Punkt, gerade für das Saarland, für das Ruhrrevier und die Außenreviere: Die Bergbauunternehmen, die durch den Wegfall der bisher aus dem Fonds gewährten Erschwerniszuschläge betroffen sind, müssen haushaltsrechtliche Sicherungen erhalten, die gewährleisten, daß zum Ausgleich in ausreichendem Umfange öffentliche Mittel zur Verfügung stehen.
({0})
Drittens. Meine Damen und Herren, es muß alles getan werden, damit das gesamte Maßnahmenpaket von der EG-Kommission gebilligt wird. Wir gehen davon aus, daß dies möglich ist. Wir gehen ferner davon aus, daß durch die Beschlüsse des Deutschen Bundestages, die wir bis zur dritten Lesung zu fassen haben, die Möglichkeiten der Bundesregierung, bei der Kommission entsprechende Positionen hart zu vertreten, erheblich verbessert werden.
Lassen Sie mich hinzufügen, daß sicherlich auch der neue deutsch-französische Kohlekonsens - ich betone: Kohlekonsens -, der, wie wir hören, bei den Verhandlungen im Zusammenhang mit den Fragen der Kernenergie in Paris erzielt worden ist oder sich abzeichnet - vielleicht wird der Wirtschaftsminister noch Näheres darüber ausführen - , dazu beitragen
wird, die Verhandlungen mit der EG-Kommission zu erleichtern.
Bei den Beratungen wird natürlich gerade auch in Anbetracht der neuen Vierjahresfrist die Höhe der festzulegenden Ausgleichsabgabe für den genannten Zeitraum eine entscheidende Rolle spielen. Die jetzt vorgeschlagenen Sätze, die ich vorgetragen habe, sind notwendig, damit bei heutigem Preisstand nicht nur die Ausgleichszahlungen an die Stromwirtschaft, die jährlich entstehen, bedient werden können, sondern zusätzlich auch ein Schuldenabbau erfolgen kann.
Dennoch - damit wende ich mich an die Kollegen aus den revierfernen Ländern - habe ich Verständnis dafür, daß den revierfernen Ländern und den Kollegen, die deren Interessen hier im Deutschen Bundestag vertreten, die Zustimmung zu dieser Ausgleichsabgabe für vier Jahre und in dieser Höhe erhebliche Probleme bereitet. Ich bin hier heute morgen in der angenehmen Lage, darauf verweisen zu können, daß sich der Kollege Hinsken in seinem Beitrag insbesondere mit dieser Frage beschäftigen wird.
Insgesamt ist festzustellen - ich hoffe, Sie stimmen mit mir überein - : Der Gesetzentwurf und die damit zusammenhängenden Vereinbarungen sind für den deutschen Steinkohlenbergbau, seine Belegschaften und letztendlich für die Sicherung der Energieversorgung in der Bundesrepublik von hohem Wert. Ich möchte hinzufügen, daß diese Vereinbarungen immerhin bedeuten, daß der Absatz von mehr als 55 %, also von mehr als der Hälfte der Gesamtförderung des deutschen Steinkohlenbergbaus bis 1995 gesichert ist.
Lassen Sie mich noch darauf hinweisen, daß die getroffenen Entscheidungen und Vereinbarungen, die natürlich nicht alle zufriedenstellen, auch im Hinblick auf die energiepolitischen Veränderungen der letzten Jahre gewürdigt werden müssen. Es fehlt die Redezeit, um diesen Gedankengang im einzelnen auszuführen. Ich möchte aber doch sagen, daß es weltweit eine ganze Reihe von Entwicklungen gibt - die wir ja auch, was den Schutz der Erdatmosphäre angeht, hier in einer Enquete-Kommission behandeln - , die in den letzten Jahren eben nicht so sehr für, sondern eher gegen den Einsatz teurer Steinkohle sprechen.
Wir müssen weiter zur Kenntnis nehmen, daß das Argument, mit dem wir hier ja auch gemeinsam operiert haben, nämlich die Frage der Sicherheit unserer nationalen Energieversorgung, nicht verlorengegangen ist, aber doch immerhin auch weltweit zunehmend angezweifelt wird. Auch die Aussagen der Weltenergiekonferenz in Montreal vor wenigen Wochen haben deutlich werden lassen, daß weltweit die Fragen der Sicherung der Energieversorgung insgesamt, was die zur Verfügung stehenden Primärenergieträger und -mengen angeht, zur Zeit eher entspannt betrachtet werden. Dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf den deutschen Steinkohlenbergbau.
Lassen Sie mich zum Schluß noch eine Bemerkung mit Blick auf die beginnenden Beratungen machen. Ich bitte, dabei folgendes zu bedenken. Der Bundeskanzler hat zur Lösung der Kohlefrage im Gespräch
mit den Ministerpräsidenten der Revierländer Gemeinsamkeit - begrenzte Gemeinsamkeit, aber immerhin ein Stück Gemeinsamkeit - hergestellt, eine Gemeinsamkeit, die auch die Tarifpartner im wesentlichen mit einbezieht. Nur so sind die Vereinbarungen, über die wir heute beraten, möglich geworden.
Meine Damen und Herren, im Interesse einer sicheren Energieversorgung der Bundesrepublik, im Interesse der Bergleute in den Revieren und im Interesse des Bergbaus selbst ist jetzt die Fortsetzung dieser Gemeinsamkeit in der Kohlefrage gefordert. Es wäre allerdings hilfreich, wenn diese Gemeinsamkeit auch für den Bereich der Kernenergie, der hier bisher ausgeklammert ist, wiederhergestellt werden könnte.
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Ich bin sicher, wir können die noch offenstehenden Fragen, die ich hier kurz angerissen habe, bis zur dritten Lesung klären. Ich hoffe, meine Damen und Herren von der Opposition, wir werden dann auch Ihre Zustimmung zu dem Gesetzentwurf erhalten. Das wäre doch wirklich für die Verhandlungen in Brüssel ganz besonders hilfreich. Denn wir brauchen dort Stärke und Einigkeit. Wir können damit, wie ich meine, ein sicheres und tragfähiges Fundament für den Einsatz deutscher Steinkohle in den nächsten Jahren sichern.
Lassen Sie mich hinzufügen: Wie so oft in den vergangenen Monaten und Jahren können sich der deutsche Steinkohlenbergbau und die Bergleute auf den Bundeskanzler und diese Koalition verlassen.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jung ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit der von den Koalitionsfraktionen praktisch in der letzten Minute eingebrachten Novelle zum Dritten Verstromungsgesetz versuchen Sie, den Scherbenhaufen wieder zu kitten, den Sie mit Ihrer verfehlten Kohlepolitik angerichtet haben. Aber ich meine, Herr Gerstein, allein dieser Versuch ist es wert, anerkannt zu werden.
Wir erinnern daran, daß es der Bundeswirtschaftsminister und starke Kräfte der Regierungsparteien insbesondere in den revierfernen Ländern waren, die mit ihrer Salamitaktik Stück für Stück aus dem Jahrhundertvertrag herausbrechen wollten und damit die nationale Kohlepolitik in die Krise gestürzt haben. Der damalige Wirtschaftsminister Bangemann hat es nämlich nach dem Ölpreisverfall und nach dem Absacken des Dollarkurses bewußt unterlassen, den Kohlepfennig für die Jahre 1986 und 1987 rechtzeitig und gesetzeskonform anzuheben. Diese Unterlassung, die wir immer wieder kritisiert haben, hat den Verstromungsfonds in die bekannten Finanzierungsschwierigkeiten gebracht.
Wäre der Kohlepfennig seinerzeit ausreichend erhöht worden, dann hätte sich die Bugwelle von nicht erfüllten Ausgleichsansprüchen der Energieversorgungsunternehmen nicht so aufgetürmt. Dann wäre auch der Verstromungsfonds nicht in die Verschul12720
Jung ({0})
dung getrieben worden, die jetzt zum Anlaß für die Novellierung genommen wird. Dann hätte es nicht die völlig überflüssige Diskussion über den Beitrag der heimischen Steinkohle zur Sicherung unserer Energieversorgung gegeben.
Wenn die Bundesregierung wirklich zur Kohle gestanden hätte, hätte sie auch nicht die Interventionen aus Brüssel herausgefordert, die jede nationale Kohlepolitik in der Zukunft erschweren werden. Die Krise der Kohlepolitik ist also hausgemacht, meine Damen und Herren. Sie hat einzig und allein politische Gründe.
Erst als der Bundeskanzler, gedrängt von seinen Parteiverbänden in den Revierländern, mitbekam, daß die Kohlepolitik seines neuen Wirtschaftsministers Haussmann seine eigenen Zusagen an die Bergleute Lügen strafen könnte, hat er eingegriffen. Der vom Kanzler nun endlich geführte Dialog mit den Regierungschefs von Nordrhein-Westfalen und dem Saarland hat zu dem Kompromiß vom August geführt, der eine neue Ausgangslage geschaffen hat. Herr Haussmann, Sie sollten daher endlich damit aufhören, diesen Kompromiß durch so unbedachte Äußerungen wie auf dem Steinkohletag immer wieder zu gefährden.
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Dieser Kompromiß mutet den Bergleuten, den Zechengesellschaften und Revierländern zwar weitere Opfer zu, er könnte ihnen aber auch ein Stück Perspektive zurückgeben, wenn der Jahrhundertvertrag wirklich bis 1995 gesichert wird und eine Anschlußregelung ermöglicht, die über das Jahr 2000 hinausgeht. Das muß aber bei der vorgelegten Novelle bezweifelt werden.
Meine Damen und Herren, wir begrüßen es, daß der Jahrhundertvertrag bis 1995 gesichert bleiben soll. Wir begrüßen es auch, daß eine Expertenkommission eingesetzt wurde, die eine Konzeption für eine nationale Kohlepolitik, die im künftigen Europäischen Energiebinnenmarkt Bestand hat, und insbesondere eine konsensfähige Anschlußregelung nach 1995 erarbeiten soll. Wir müssen allerdings anmerken, daß dies auch das Eingeständnis des Wirtschaftsministers ist, der sich selbst außerstande gesehen hat, der deutschen Kohle eine langfristige Perspektive zu geben.
Wir nehmen zur Kenntnis, meine Damen und Herren, daß die zu verstromende Menge heimischer Steinkohle bei 40,9 Millionen t im Jahr stabilisiert werden soll. Das schafft zumindest vorübergehend Planungssicherheit für alle Beteiligten. Wir können aber auch nicht übersehen, daß die Bundesregierung damit ihre Zusagen aus der Kohlerunde vom Dezember 1987 nicht eingehalten hat.
Meine Damen und Herren, mit der vorgesehenen Novellierung bleiben eine ganze Reihe von Risiken bestehen, die sich nicht zuletzt aus der mangelhaften Absicherung des Gesetzesvorhabens ergeben. Ich möchte hier nur die wichtigsten erwähnen:
Erstens. Dem Bundeswirtschaftsminister ist es nicht gelungen, einen substantiellen Solidarbeitrag der Stromerzeuger zur Konsolidierung der Finanzsituation des Verstromungsfonds zu erreichen, wahrhaft
ein unzulängliches Ergebnis, wenn man sich daran erinnert, daß die Stromwirtschaft noch im Sommer 1988 einen Betrag von 2 Milliarden DM angeboten hatte. Der jetzt vereinbarte Verzicht der Stromerzeuger von rund 650 Millionen DM ist nämlich kein Solidarbeitrag; denn diese Ansprüche entstehen gar nicht, wenn die Verstromungsmenge auf 40,9 Millionen t begrenzt wird. Dabei ist sogar noch unklar, ob es bei einer Mengenreduzierung von 3,9 Millionen t bleibt, die ja von den Vertragspartnern noch verhandelt wird. Wir wissen bis heute nicht, welche zusätzlichen Anpassungsverlangen von der Stromwirtschaft noch gestellt werden. Wer von Ihnen in der Koalition kann bei diesen Unklarheiten eigentlich garantieren, daß die Mengen bei 40,9 Millionen t festgeschrieben sind? Wann gibt es hierzu eine klare Vereinbarung zwischen der Elektrizitätswirtschaft und dem Bergbau?
Wer kann darüber hinaus bestätigen, daß die mit Ihrer Novelle vorgesehene Stundung des Ölausgleichs von allen Elektrizitätsversorgungsunternehmen akzeptiert wird? Man hört von heftigem Widerstand süddeutscher Energieversorgungsunternehmen. Wer kann angesichts dieser Unklarheiten garantieren, daß alle Partner des Jahrhundertvertrags mitmachen? Oders anders gefragt: Wann gibt es eine Erklärung der Elektrizitätsversorgungsunternehmen, daß sie bei den beabsichtigten Änderungen des Verstromungsgesetzes auf die Möglichkeit verzichten, sich ihren Verpflichtungen aus dem Jahrhundertvertrag zu entziehen? Darauf hätten wir gerne klare Antworten des Bundeswirtschaftsministers.
({2})
Zweitens. Die Herausnahme des Revierausgleichs und der Erschwerniszuschläge für die niederflüchtige Kohle sollen den Verstromungsfonds um jährlich 480 Millionen DM entlasten. Völlig unklar ist, wie hoch der Selbstbehalt des Bergbaus angesetzt wird und welche Finanzlasten auf die Haushalte des Bundes und der Bergbauländer zukommen. Sie wissen so gut wie wir, daß eine Reihe von Zechen den Wegfall oder die Reduzierung der Erschwerniszuschläge für die niederflüchtige Kohle nicht verkraften können. Und Sie wissen auch, daß das Saarland bei seiner kritischen Finanzsituation keine anteilige Übernahme für den ausfallenden Revierausgleich vornehmen kann.
({3})
Drittens. Mit der Haushaltsfinanzierung werden neue Risiken im Hinblick auf die Genehmigungspraxis der Europäischen Gemeinschaft eingegangen. Wie aus Brüssel zu hören ist, gibt sich die Kommission mit den vorgelegten Plänen zum Abbau der Kohlehilfen ohnehin nicht zufrieden. Das bedeutet doch, daß die von der Bundesregierung verfolgte Strategie, mit der Kommission zu einer Verhandlungslösung zu gelangen, scheitern kann. Darum fordern wir die Bundesregierung nachdrücklich auf, meine Damen und Herren, der Klage der Bergbauunternehmen gegen die Entscheidung der Kommission vom März doch
Jung ({4})
noch beizutreten, um keine Rechtspositionen aufzugeben.
({5})
Damit werden die Chancen für eine Verhandlungslösung nach unserer Auffassung nicht geschwächt, sondern vielmehr gestärkt. Damit würden auch die Voraussetzungen geschaffen werden, den Kohlepfennig in einer ausreichenden Höhe festzusetzen, um die Finanzierungssituation des Verstromungsfonds endgültig zu konsolidieren.
Viertens. Die degressive Gestaltung des Kohlepfennigs bis 1993 beinhaltet ein doppeltes Risiko. Einmal ist überhaupt nicht erfindlich, warum Sie mit der Verstromungsnovelle die Ausgleichsabgabe nur bis zum Jahre 1993 festsetzen wollen. Das steht im offensichtlichen Widerspruch zu der Erklärung der Bundesregierung, sie wolle den Jahrhundertvertrag bis 1995 sichern. Das schafft erneut Verunsicherung bei allen Beteiligten.
({6})
Zum anderen ist völlig unklar, wie sich der Ölpreis und der Dollarkurs in den nächsten Jahren entwickeln werden. Sollten sie beide oder auch nur einer von ihnen wieder sinken, dann bringen sie den Verstromungsfonds erneut in Finanzierungsnöte, die in den letzten beiden Jahren des Jahrhundertvertrags noch schwerer zu überwinden sind.
Meine Damen und Herren, die so mit der heißen Nadel zuammengenähte Novelle bleibt so lange ein Flickwerk, wie Sie nicht die Risiken beseitigt haben, die der Bergbau, die vor allem die Bergleute und ihre Familien zu tragen haben. Wir hätten uns eine solidere Lösung der Probleme gewünscht, die bei gutem Willen auch möglich gewesen wäre. Aber an diesem guten Willen hat es eben gefehlt, zumindest beim zuständigen Bundeswirtschaftsminister. Ich hoffe daher auf die Koalitionsfraktionen. Wir sind zur Zusammenarbeit bereit.
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Das Wort hat der Abgeordnete Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Dritte Verstromungsgesetz ist die Rechtsgrundlage für den Jahrhundertvertrag zwischen Kohle- und Elektrizitätswirtschaft. Er sichert neben dem Hüttenvertrag den größten Anteil des Absatzes der deutschen Kohle. Die Sicherstellung der Finanzierung des Jahrhundertvertrags ist für die Kohle buchstäblich von existentieller Bedeutung. Ich denke, wir sind uns darüber einig, daß die vorliegende Novelle diese Aufgaben für den übersehbaren Zeitraum von vier Jahren in einem energiepolitisch sehr schwierigen Umfeld erfüllt.
Diese Novelle ist ein Schritt zu längerfristigen Perspektiven für den deutschen Steinkohlebergbau. Perspektiven und längerfristige Perspektiven braucht der deutsche Steinkohlebergbau. Durch den Preisverfall an den Energiemärkten, der länger anhält, als alle
anfangs vorausgesehen haben, ist auch kohlepolitischer Handlungsbedarf eingetreten. Aber die Steigerungen der Kohlebeihilfen sind über Jahre hinaus für die Volkswirtschaft nicht tragbar. Eine Entlastung ist schon deshalb notwendig, um den Jahrhundertvertrag insgesamt nicht zu gefährden.
Die immer wieder vorgetragene Forderung, Kernenergie zugunsten der Kohle zurückzufahren, ist nicht nur ökonomischer Unsinn. Die Stromwirtschaft als Vertragspartner des Jahrhundertvertrages kann keine kapitalintensiven Kernkraftwerke abschalten, weil damit die Basis der Mischkalkulation zwischen Kohle und Kernenergie verlorengeht. Ich möchte hier noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, daß der Konsens Kohle/Kernenergie essentieller Bestandteil des Jahrhundertvertrags ist.
({0})
Wer aber die ökonomische Grundlage des Jahrhundertvertrages in Frage stellt, der zerstört den gesamten Vertrag, der verschlechtert die Zukunftschancen des Kohlebergbaus. Wie sollen wir den Stromverbrauchern in Deutschland, die bereits mit das höchste Niveau in der Europäischen Gemeinschaft zu tragen haben, klarmachen, daß wir ihnen weitere Kosten aufbürden? Das kann niemand wollen, vor allen Dingen nicht im Hinblick auf die Wirtschaft. Das kann niemand wollen, der die Wettbewerbsfähigkeit unserer Industrie für den europäischen Binnenmarkt stärken will.
({1})
Die deutschen Stromverbraucher müssen noch auf Jahre hinaus mit einem sehr hohen Kohlepfennig leben. Es fällt schwer genug, die notwendige Zustimmung zu den jetzt vorgesehenen Festschreibungen für die nächsten vier Jahre überhaupt zu erreichen. Die kritischen Anmerkungen aller revierfernen Länder sind nicht zu überhören. Auch die EG-Kommission - der Vorredner hat darauf hingewiesen - hat ihre Vorbehalte angemeldet, selbst zu den jetzt vorgelegten Regelungen. Der Kohlepfennig ist als Sicherheitsprämie für die deutsche Kohle einfach zu teuer geworden. Zwischen dem Mehr an Versorgungssicherheit und der dafür aufzuwendenden Risikoprämie besteht kein ausgewogenes Verhältnis mehr.
Die revierfernen Länder machen uns deutlich, daß sie die Subventionen an die deutsche Kohle weniger als Preis für die Versorgungssicherheit, denn als Veranstaltung zum Schutz regionaler Wirtschaftsinteressen betrachtet.
({2})
Regionalpolitik in Nordrhein-Westfalen und an der Saar ist schließlich aber nicht Aufgabe der Stromverbraucher in Bayern, Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Deshalb muß der Verstromungsfonds von den Kosten für Revierausgleich und Erschwerniszuschlag für niederflüchtige Kohle entlastet werden. Diese Zuschüsse sind Mittel der Absatzsicherung für die Randreviere und haben damit vor allem eine regionalpolitische Funktion. Sie sollen künftig aus den Haushalten gezahlt werden.
Nordrhein-Westfalen und das Saarland müssen diese Hilfe mittragen. Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen hat diese Verpflichtung akzeptiert; ich begrüße dies hier ausdrücklich. Der saarländische Ministerpräsident hingegen verweigert eine eigene finanzielle Beteiligung an den Zuschüssen. Sein Hinweis auf den überlasteten Landeshaushalt an der Saar überzeugt aber so lange nicht, wie es ihm nicht gelingt, eine sparsame und den gegebenen Notwendigkeiten entsprechende Haushaltspolitik des Saarlandes darzustellen.
({3})
Er gefährdet mit einer grundsätzlichen Verweigerung der finanziellen Beihilfe und Beteiligung die Existenz von Randzechen wie Ibbenbüren und Sophia Jacoba und auch saarländischer Gruben. Ich kann die IG Bergbau und die SPD nur auffordern, ihren ganzen Einfluß geltend zu machen, damit das Saarland in den Gesprächen mit der Bundesregierung doch noch einlenkt.
({4})
Wir müssen uns in der Kohlefrage auch mit unseren europäischen Nachbarn und der Kommission verständigen. Das heißt nicht, daß wir in Brüssel zu Kreuze kriechen. Im Gegenteil: Wir melden unser Interesse dort deutlich an. Die FDP-Fraktion begrüßt deshalb nachdrücklich die sachlichen Verhandlungen des Bundeswirtschaftsministers in Brüssel.
({5})
Eine politische Lösung, wie mit dem Präsidenten der EG-Kommission vereinbart, läßt sich aber eben nicht vor dem Europäischen Gerichtshof ausfechten. Unser subventionspolitischer Hebel ist sehr kurz, wenn wir gleichzeitig fordern, daß andere Länder im Stahl arbeitsplatzerhaltende Subventionen unterlassen müssen. Wir müssen uns dazu verpflichten lassen, auch die Subventionen bei der Kohle zurückzuführen; daran geht kein Weg vorbei. Wer dies nicht sieht, belügt die Bergleute und stellt die Weichen für die Zukunft falsch.
Im Interesse des deutschen Steinkohlen-Bergbaues und der Bergleute sowie im Interesse der nationalen Sicherung der Energieversorgung bitten wir um eine zügige Beratung der Novelle, die jetzt vorgelegt wird.
Danke schön.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Der vorliegende Gesetzentwurf zur Novellierung des Dritten Verstromungsgesetzes gibt zwei Ziele vor: Sicherung des Jahrhundertvertrages und Stabilisierung des Kohleausgleichsfonds. Er sagt in der Begründung ausdrücklich, daß damit die Beschlüsse aus dem Gespräch vom August dieses Jahres zwischen Bundeskanzler Kohl und den Ministerpräsidenten Rau und Lafontaine umgesetzt werden sollen,
wobei in diesen Beschlüssen die derzeitige Verstromungsmenge der heimischen Steinkohle von 40,9 Millionen Jahrestonnen für die Zeit von 1991 bis 1995 festgeschrieben wird.
Ich möchte dieser Absichtserklärung des vorliegenden Novellierungsentwurfes den Vertragstext aus dem Jahrhundertvertrag entgegenhalten. In dem Jahrhundertvertrag ist für die Zeit von 1991 bis 1995 für die gesamte Kraftwirtschaft - also öffentliche und industrielle Kraftwirtschaft sowie Deutsche Bundesbahn - eine Verstromungsmenge von 225 Millionen t heimischer Steinkohle als Mindestmenge vorgesehen. Das heißt, pro Jahr sollen mindestens 45 Millionen Jahrestonnen verstromt werden. Als Höchstmenge ist in dem Zeitraum von 1991 bis 1995 eine Gesamtmenge von 240 Millionen t vorgesehen.
Orientieren wir uns an der Mindestmenge von 45 Millionen t pro Jahr, und setzen wir das in Verbindung zu dem vorliegenden Novellierungsentwurf. Dazu möchte ich aus dem Kommuniqué des Gesprächs zwischen Kohl, Rau und Lafontaine zitieren. Dort heißt es in Punkt eins:
Die Bundesregierung erklärt: Der Jahrhundertvertrag bleibt bis 1995 gesichert. Dabei wird die Abnahmemenge in den Jahren 1991 bis 1995 von 40,9 Millionen Jahrestonnen für die Verstromung beibehalten. Die Länder Nordrhein-Westfalen und Saarland nehmen dies zur Kenntnis.
Wenn hier - bei Kenntnisnahme von Rau und Lafontaine - behauptet wird, der Jahrhundertvertrag bleibe bis 1995 gesichert, kann ich nur entgegnen: Das Gegenteil ist der Fall. Hier wird im Konsens aller Beteiligten die Mindestverstromungsmenge von 1991 bis 1995 von 45 Millionen auf 40,9 Millionen Jahrestonnen reduziert. Das heißt, wir haben es mit einem ganz ausdrücklichen Bruch des Jahrhundertvertrages durch Reduzierung des Mengengerüsts zu tun.
Das bedeutet in der Größenordnung, daß zwei Großzechen mit einer Förderleistung von insgesamt ca. 4 Millionen Jahrestonnen stillgelegt werden müssen oder daß entsprechende Teilstillegungen über die Stillegungen hinaus erfolgen, die in der Kohlerunde im Dezember 1987 vereinbart worden sind; und damals ist schon eine Stillegung von 10 bis 12 Millionen Jahrestonnen vereinbart worden, wodurch ca. 25 000 Beschäftigte im Bergbau ihren Arbeitsplatz werden aufgeben müssen. Nun kommen also weitere 4 Millionen Jahrestonnen mit zusätzlich 4 000 bis 5 000 Beschäftigten hinzu.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ja.
Bitte schön, Herr Abgeordneter Lammert.
Herr Kollege Stratmann, würden Sie freundlicherweise unter Bezugnahme auch auf einschlägige Beschlüsse der GRÜNEN verdeutlichen, welche Mengen die GRÜNEN denn für das letzte Jahrfünft dieses Jahrhundertvertrages vorschlagen möchten?
Ja, lassen Sie mich nur vorher noch einen Gedanken einschieben, weil ich genau mit der Beantwortung dieser Frage meine Rede beenden möchte.
({0})
- Sie können sich darauf verlassen!
Zur Bewertung dieses Sachverhaltes, daß der vorliegende Novellierungsentwurf den Jahrhundertvertrag bricht, statt ihn zu sichern, möchte ich den Ministerpräsidenten Lafontaine zitieren.
({1})
Ich möchte das wiedergeben, was er in der letzten Aktuellen Stunde zur Haltung der Bundesregierung in der Kohlefrage hier im Bundestag gesagt hat.
({2})
Ich zitiere Herrn Lafontaine:
Der Jahrhundertvertrag aber, meine Damen und Herren, dies müssen Sie endlich einmal lernen, sieht für das letzte Jahrfünft eine Ausweitung der Verstromungsmenge vor. Wer also zum Jahrhundertvertrag steht, muß auch zu dieser Bestimmung des Jahrhundertvertrages stehen und nicht im nachhinein versuchen, der Kohle die Grundlage in der Verstromung zu entziehen.
In der damaligen Auseinandersetzung mit Bundesminister Blüm hat Lafontaine verdeutlicht:
Ich stelle noch einmal fest: Nicht nur die Äußerungen des Hauses Haussmann, sondern auch die damaligen Äußerungen des damaligen Kanzleramtsministers Schäuble zielen auf eine weitere Kürzung des Mengengerüsts. Um nichts anderes geht es. Wer dies hier in Abrede stellt, ist ein Lügner, meine Damen und Herren, um dies einmal in aller Klarheit zu sagen.
Herr Lafontaine hatte im Mai 1989 exakt recht mit dieser Aussage. Diese Aussage trifft voll zu auch für die Zielsetzung des vorliegenden Gesetzentwurfes. Ich wundere mich allerdings darüber, daß Herr Lafontaine dann heute die beabsichtigte Kürzung des Mengengerüsts und damit den beabsichtigten Bruch des Jahrhundertvertrages kommentarlos, heimlich, still und leise, zur Kenntnis nimmt.
({3})
Herr Lammert, zur Beantwortung Ihrer Frage: Wir GRÜNEN haben in den letzten Jahren immer deutlich gemacht, daß wir in der mittelfristigen Perspektive bis 1995 die Einhaltung des Jahrhundertvertrages fordern, d. h. die Sicherung des Mengengerüsts als einer Mindestmenge für die heimische Kohleverstromung. Wir haben darüber hinaus deutlich gemacht, daß wir in einer langfristigen Perspektive, also ab 1995, einen Anschlußvertrag brauchen. Wir fordern einen Anschlußvertrag an den Jahrhundertvertrag von 1995 bis
2010, der allerdings kein reiner Verstromungsvertrag mehr sein darf.
({4})
Wir fordern einen Kraft-Wärme-Kopplungs-Vertrag. Das heißt, daß die dann auch weiterhin notwendigen Subventionen für die heimische Steinkohle an die Bedingung „Kraft-Wärme-Kopplung" gebunden werden. Das bedeutet: in den Kraftwerken gleichzeitige Erzeugung von Strom und von genutzter Wärme.
({5})
Wir sagen heute schon: bis 1995 Einhaltung des Jahrhundertvertrages im vollen Mengengerüst; ab 1995 bis 2010 schrittweise und deutliche Reduzierung der Kohleverstromung, weil das CO2-Problem, das weltweite Klimaproblem,
({6})
eine Reduzierung der Nutzung aller fossilen Energieträger, natürlich auch der heimischen Kohle, dramatisch notwendig macht. Das können wir nur mittelfristig in Gang bringen, weil wir heute schon in den Kohlerevieren eine erhebliche Arbeitslosigkeit haben. Wir müssen heute eine regionale Strukturpolitik zum Umbau der Kohleregionen und zum rechtzeitigen Schaffen von Ersatzarbeitsplätzen einleiten.
Als Alternative zu dem vorgelegten Gesetzentwurf, der ja den Kohlepfennig bis 1993 festschreiben will, fordern wir die Einführung einer Primärenergiesteuer, auch auf die heimische Braunkohle,
({7})
grundsätzlich auch auf die heimische Steinkohle, wobei es dann zwischen der Primärenergiesteuer auf die heimische Steinkohle und der notwendigen Kohlesubventionierung einen Verrechnungsakt geben muß. Man kann beides, statt beides zweimal hintereinander zu tun, in einem einheitlichen Verrechnungsakt machen.
Aus dem dann beim Bundeshaushalt anfallenden Primärenergiesteueraufkommen von 50 Milliarden DM pro Jahr
({8})
kann der Kohleausgleichsfonds finanziert werden, und zwar in voller Höhe, wie es zur notwendigen Kohlesubventionierung auch nach 1995 notwendig ist.
({9})
Ebenfalls können daraus ein notwendiges Klimaschutzprogramm gegen den Treibhauseffekt und ein notwendiges Energiewendeprogramm finanziert werden, das dem ökologischen Umbau in den Kohleregionen durch den rechtzeitigen Aufbau alternaiver Ersatzarbeitspläne zugute kommt.
({10})
Danke schön. - Darf ich auf die Zwischenfrage gerade noch antworten?
Also, ich sehe nicht, daß jemand eine Frage gestellt hat.
Es bezieht sich auf den Zwischenruf. Einen Satz!
Also, bitte schön, Herr Abgeordneter.
Sie rufen dazwischen „Wie viele Bergwerke werden dann geschlossen?" Wir sagen: Es ist den Bergleuten und der gesamten Öffentlichkeit nur genutzt, wenn man ihnen heute, rechtzeitig die Wahrheit sagt, daß wir wegen Waldsterbens und Klimakatastrophe mittelfristig weniger heimische Steinkohle brauchen, und wenn man rechtzeitig, d. h. heute, eine Strukturpolitik betreibt, um Ersatzarbeitsplätze vor Ort aufzubauen. Sie dagegen, die Sie völlig unglaubwürdig dazwischenrufen, legen die Bergwerke heute schon still - Kohlerunde 1987, beabsichtigter Bruch des Jahrhundertvertrages - und stoßen damit auf unseren erheblichen Widerstand.
({0})
Nun hat der Bundesminister für Wirtschaft, Dr. Helmut Haussmann, das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach den Reden von Herrn Jung und Herrn Stratmann ist mir eigentlich nicht klar geworden, auf was sich die Bergleute angesichts der Kohlepolitik der Sozialdemokraten wirklich verlassen können.
({0})
Ich habe gestern bei einer Tagung der FriedrichEbert-Stiftung vernommen, daß der Wirtschaftssprecher der Sozialdemokraten für einen energischen Abbau der Subvention bei Kohle und Schiffbau eintritt.
({1})
Ich habe vor einiger Zeit vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages gehört, daß die dortigen Vertreter der Sozialdemokraten für eine Beschränkung der Kohlemengen eintreten.
Ich habe heute nacht eine Fernsehdiskussion mit Ihrer Steuerexpertin miterlebt, die für eine allgemeine Energieabgabe eingetreten ist. Auf die Frage, ob man die Kohle hier ausnehmen dürfe, hat sie gesagt, die könne man aus Umweltgründen natürlich nicht ausnehmen.
Meine Damen und Herren, deshalb warne ich nur davor, es sich zu einfach zu machen: Hier redet die Kohlefraktion, dort redet die Umweltfraktion, und dort redet die Steuerfraktion. Meine Gespräche im Bundeskanzleramt mit Herrn Rau, dem Ministerpräsidenten, mit den sozialdemokratischen Mitgliedern in der Mikat-Kommission lassen auf ein weit höheres Maß an Konsens schließen, als Sie es hier vorgeführt haben.
({2})
Sie werden diesen Konsens in Brüssel noch brauchen. Und ich empfehle den Sozialdemokraten das Gespräch mit ihren sozialistischen Vertretern in Paris, in Madrid und in Brüssel, meine Damen und Herren.
({3})
Wer Energiepolitik heute ausschließlich aus regionaler Sicht betreibt, wird langfristig scheitern. Genauso geht es all denjenigen, die Energiepolitik lediglich als Branchenpolitik begreifen und die nicht sehen wollen, wie energiepolitische Weichenstellungen auf fast alle anderen Bereiche der Wirtschafts-, Umwelt- und Wettbewerbspolitik einwirken.
({4})
Als verantwortlicher Minister habe ich diese Querverbindungen zu berücksichtigen. Deshalb kommt es mir so sehr darauf an, einen möglichst breiten energiepolitischen Konsens aller Fraktionen - bei den GRÜNEN weiß ich wirklich nicht, wo ich dran bin -,
({5})
der klassischen Fraktionen zu erreichen. Daß zwischen dem Bund, den Bergbauländern, vor allem dem Bergbauland Nordrhein-Westfalen - ({6})
Herr Minister, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller ({0})?
Gern.
Bitte schön, Herr Abgeordneter.
Herr Minister, ist Ihnen auch aufgefallen, daß gerade aus den Revierländern hier noch nicht einmal ein Beamter anwesend ist, weder aus Nordrhein-Westfalen noch aus dem Saarland - wenigstens ein Beamter hätte ja hier sein können, wenn gleichzeitig Bundesratssitzung ist - , und steht das nicht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den Äußerungen der Politiker dieser Landesregierungen in der Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung in Sachen Kohlepolitik?
({0})
So ist es, Herr Abgeordneter. Ich habe die Debatte erlebt. Herr Lafontaine war hier. Er war sehr polemisch. Heute, da es wirklich um Konsens geht, sind weder er
noch eine Vertretung der anderen Länder anwesend.
({0})
- Bei der Kohle-Runde des Bundeskanzlers waren beteiligt: der Wirtschaftsminister des Saarlandes, der Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen und der Bundeswirtschaftsminister. Ich bin hier, weil ich das für eine ganz wichtige Frage halte.
({1})
- Der Bundeskanzler hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet,
({2})
daß sich die Revierländer, zumindest das Revierland Nordrhein-Westfalen, bewegt haben. Aber es wäre aller Ehren wert, daß bei dieser wichtigen Debatte wenigstens Beamte dabei sind.
({3})
Meine Damen und Herren, die heute eingebrachte Novelle zum Dritten Verstromungsgesetz ist aus unserer Sicht ein wesentlicher Schritt zur Stabilisierung des laufenden Jahrhundertvertrags und des Verstromungssystems. Die Novelle ist notwendig, um die beim Bundeskanzler im Einvernehmen mit den Bergbauländern gefaßten kohlepolitischen Beschlüsse auf eine tragfähige Grundlage zu stellen. Wir haben uns bemüht, diese Entscheidung so zügig wie möglich umzusetzen. Herr Hinsken, ich bedaure auch, daß die Beratungszeit in den Arbeitskreisen und Fraktionen etwas kurz war. Ich bedaure dies.
Nach schwierigen Verhandlungen mit den Bergbauunternehmen und der Elektrizitätswirtschaft haben sich die öffentlichen EVU bereit erklärt, zur Entlastung des Verstromungsfonds einen Beitrag von 650 Millionen DM zu leisten. Durch diesen Forderungsverzicht wird die Abnahmeverpflichtung von 40,9 Millionen t jährlich nicht beeinträchtigt.
Die Kernpunkte sind bereits genannt worden. Die mehrjährige Festsetzung des Kohlepfennigs macht die Fondssituation berechenbar. Mir ist völlig klar, daß die Stromverbraucher insbesondere in den revierfernen Ländern eine stärkere Absenkung des Kohlepfennigs fordern. Es kommt jetzt darauf an, die Finanzierung der jährlichen 40,9 Millionen t auf eine solide Grundlage zu stellen. Inzwischen ist nämlich im Fonds ein Defizit von fast 6 Milliarden DM aufgelaufen. Ein Abbau kann deshalb nicht länger aufgeschoben werden.
Die von der EG-Kommission geforderte Degression des Kohlepfennigs und der Abau des Defizits werden eingeleitet. Sie sind aber nur möglich durch den Beitrag der öffentlichen Elektrizitätswirtschaft und durch die Entlastung des Fonds von den Zuschüssen für Revierausgleich und niederflüchtige Kohle.
Einen Teil der daraus für die Steinkohle entstehenden Lasten müssen die Bergbauunternehmen übernehmen, soweit dies für sie tragbar ist. Die Bundesregierung ist auch hier bereit, bei einem entsprechenden Beitrag der Bergbauländer den notwendigen Ausgleich aus dem Bundeshaushalt zu übernehmen. Ich möchte mich bei Herrn Waigel ausdrücklich bedanken, der als Finanzminister auf Bundesebene einen eigenen Haushaltsanteil einbringt.
({4})
Die Bundesregierung hat mit diesen Maßnahmen ihren Teil zum energiepolitischen Konsens geleistet. Dieser Konsens darf aber nicht bei der Kohle stehenbleiben. Er muß alle Energieträger einschließen. Nur so kann die Politik verläßliche Rahmenbedingungen schaffen. Diese brauchen wir für die zukünftigen Aufgaben und für die gerade in der Energiewirtschaft notwendige Planungssicherheit für langfristige Investitionen.
Die Opposition fordere ich erneut auf, nun auch ihren Beitrag zum Konsens in der Kernenergiepolitik zu leisten.
Ich möchte mir wünschen, daß die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zukünftig auch hier vom Versöhnen und nicht vom Spalten geprägt wird. Herr Reuschenbach hat ja bei einem seiner letzten Auftritte auf dem Steinkohletag einen Beitrag leisten wollen.
({5})
Aber wie ich höre, bekleidet er inzwischen sein Amt nicht mehr.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Nein. Ich bitte um Verständnis; ich möchte die Debatte nicht aufhalten. Wir haben genügend Gelegenheit, das im Wirtschaftsausschuß zu diskutieren.
Ich möchte deshalb zum Schluß kommen und drei abschließende Bemerkungen machen.
Erstens. Die Belastung der Steuerzahler bzw. der Stromverbraucher durch die Kohlepolitik ist nach wie vor sehr hoch. Das ist überhaupt nicht umstritten. Auch SPD-Vertreter in revierfernen Ländern sagen genau dasselbe.
({0})
Darüber sind wir uns einig. Die Lasten sind für die revierfernen Länder nur tragbar, wenn wir auch die Kernenergie so lange weiter nutzen, meine verehrten Kollegen von der Sozialdemokratie, wie keine anderen umweltfreundlichen, preisgünstigeren Energieträger zur Verfügung stehen. Der Konsens zwischen Kohle und Kernenergie ist und bleibt Grundlage des Jahrhundertvertrags.
({1})
Zweitens. Wenn wir der Gefahr des Treibhauseffektes begegnen wollen, müssen wir den CO2-günstigeren Energieträgern in Zukunft ein größeres Gewicht einräumen. Die Kernenergie ist sicher kein Königsweg zur Lösung der Klimafrage. Es kommt vor allem darauf an, Maßnahmen des Energiesparens, der Effizienz beim Umwandlungsprozeß und der Förderung erneuerbarer Energien stärker als bisher in den Vor12726
dergrund zu stellen. Die letzte Weltenergiekonferenz in Montreal und die Gespräche bei der IEA in Paris haben eindeutig gezeigt, daß diesem Aspekt auch international große Bedeutung zukommt.
({2})
Drittens und abschließend: Energiepolitik kann in der Europäischen Gemeinschaft nicht mehr nur im nationalen Rahmen entschieden werden. Die Bundesregierung muß deshalb den Ausgleich mit der Kommission finden. In diesem Zusammenhang ist auch ein wichtiges Element unser energiepolitisches Verhältnis zu Frankreich. Meine Gespräche und Verhandlungen mit Industrieminister Fauroux über die Zusammenarbeit in der Energiepolitik stehen vor dem Abschluß. Ich erwarte, dem deutsch-französischen Gipfel in Kürze einen gemeinsamen Bericht vorlegen zu können, der die Grundlage für eine bessere Zusammenarbeit bietet und der zugleich die deutschen Kohleinteressen wahrt.
Ich habe der EG-Kommission heute in Fortsetzung der bisherigen Kontakte den Entwurf der Novelle übermittelt. Mit Kommissar Cardoso ist ein Termin in der nächsten Woche verabredet. Dann gilt es abzuklären, wie die EG-Kommission auf unsere Vorstellungen reagiert und ob und wo es eine Verhandlungslösung geben kann. Das wird auf dem Hintergrund der bisherigen Entscheidungen der Kommission schwierig sein. Aber gerade deshalb ist es so wichtig, daß ich auf einer Basis verhandeln kann, die von einem breiten nationalen Konsens getragen wird.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Menzel.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Minister, Sie haben nach der Haltung der SPD gefragt. Wir sind für die Erfüllung der Vereinbarungen, die in der Kohlenrunde getroffen worden sind, und halten es für den Bergbau und für die Bergleute für unzumutbar, daß die Vereinbarung, wenn die Tinte darunter noch nicht trocken ist, schon wieder in Frage gestellt wird, ganz gleich von wem.
({0})
Herr Laermann, daß bei der Kohle eine geringere Menge zum Einsatz kommt, als ursprünglich bei Abschluß des Kohlevertrags vorgesehen war, kommt daher, daß die Prognosen, die damals gestellt worden sind und auf Grund derer den einzelnen Energieträgern bestimmte Margen zugedacht worden sind, nicht in Erfüllung gegangen sind, daß aber die Industrie ihre Kernkraftwerke, die sie auf Grund dieser Prognosen errichtet hat, ohne Einschränkung ans Netz hat gehen lassen. Das mußte natürlich zu Lasten eines anderen Energieträgers gehen. Darin liegt das Problem.
Wohl kaum ein Wirtschaftszweig benötigt eine derart langfristige Betriebsplanung wie der Bergbau. Seine Zielvorgaben aber werden stark von politischen Entscheidungen bestimmt. Das ist nicht neu. Damit mußte der Bergbau die letzten 30 Jahre leben. Die politischen Zielvorgaben aber sind immer wieder bestimmt von der jeweiligen Energiesituation auf der Welt.
Die politischen Entscheidungen fielen und fallen in der Bundesrepublik weitgehend in diesem Hause. In immer stärkerem Maße erfolgt auch hier - genau wie in anderen Wirtschaftszweigen - die Integration in die Europäische Gemeinschaft. Bereits heute versucht die EG-Kommission, sich immer stärker in die deutsche Kohlepolitik einzumischen. Während wir mit dem Vertragswerk zur Kohleverstromung ein Konzept haben, ist ein solches Konzept auf europäischer Ebene nicht zu erkennen.
Die EG-Kommission hat zwar 1986 energiepolitische Leitlinien aufgestellt, die bis 1995 gelten sollten, ihre Energiepolitik weicht aber stark von diesen Leitlinien ab.
Soweit es die Kohle betrifft, sahen diese Leitlinien eine Erhöhung des Anteils der festen Brennstoffe am Energieverbrauch vor. Trotz Stabilisierung der Steinkohlenförderung innerhalb der Gemeinschaft auf ca. 200 Millionen t wird aber der Importanteil bei Kohle von 26 auf 33 % innerhalb der EG steigen.
In der Bundesrepublik haben wir unsere Energiepolitik darauf ausgerichtet, den Erhalt einer bedeutenden Förderkapazität für eine Grundversorgung mit Energie zu sichern. Das ist auch die Konsequenz aus den Ölpreiserhöhungen 1972 und 1978 und aus den Erfahrungen, die wir damals gemacht haben. Eine solche Grundversorgung mit Energie auch in Krisenzeiten hat uns die EG-Kommission bis heute noch nicht garantiert. Dazu ist sie wohl auch nicht in der Lage.
Jeder weiß, daß die Kohle weiterhin erheblicher Hilfen bedarf, wenn die Förderkapazität im vereinbarten Umfang erhalten bleiben soll. Letztlich dient auch der vorliegende Gesetzentwurf diesem Ziel, geht es doch darum, den Ausgleichsfonds so zu stabilisieren, daß der Absatz in der vom Bundeskanzler mit den kohlefördernden Ländern vereinbarten Menge in der Größenordnung von 40,9 Millionen t an die Stromwirtschaft materiell ermöglicht wird.
Niemand wird bestreiten, daß es dazu einer großen Kraftanstrengung bedarf. Als Abgeordneter aus dem Revier sage ich allen Beteiligten, die zu dieser Regelung beigetragen haben, meinen herzlichen Dank. Ich möchte aber daran erinnern, daß die Stimmung im Revier zu diesem Zeitpunkt auf dem Siedepunkt war, und dazu, Herr Minister, haben Sie mit Ihrer Untätigkeit damals nicht unwesentlich beigetragen. Nun geht es darum, die Vereinbarung umzusetzen.
Es ist aber falsch, so zu tun, als ob es sich bei diesen notwendigen Leistungen für die Kohle um ein Almosen für den Bergbau und für die Bergleute handelt. Die Leistungen erbringen die Verbraucher, um sich einen Grundpfeiler an Sicherheit in der Energieversorgung zu erhalten.
Momentan leistet der deutsche Verbraucher einen Beitrag an die Kohle; das ist richtig. Ursache ist der Energiepreisverfall seit 1986. Dieser Energiepreisverfall hat uns in der Energieimportrechnung Ersparnisse von rund 60 Milliarden DM gegenüber 1985 gebracht. Er hat aber, da die Kohlehilfen vom jeweiligen EnerMenzel
giepreis abhängen, die Kohlehilfen um ca. 5 Milliarden DM pro anno ansteigen lassen. Die Einsparungen durch den vorübergehenden Weltenergiepreisverfall machen also ein Mehrfaches von dem aus, was die deutschen Verbraucher durch diesen Preisverfall an die Kohle leisten, um die Versorgungssicherheit durch den Erhalt des Bergbaus in seiner jetzigen Größenordnung zu gewährleisten. Ich sage das an die Adresse derer, die davon reden, daß diese Leistungen der Wirtschaft nicht mehr zumutbar sind.
Die Kritiker der Hilfen an die Kohle lassen auch außer acht, daß die Regelungswerte der Kohlepolitik so gestaltet sind, daß die Bergbauunternehmen unabhängig von den Weltenergiepreisen höchstens eine Kostendeckung erreichen können. Daraus folgt, daß in Zeiten von sehr hohen Weltenergiepreisen - da eine Anpassung der Kohlepreise an die Weltenergiepreise hier im Lande nicht möglich war - keine Reserve für schwierige Jahre gebildet werden konnte. Niemand kann davon ausgehen, daß die derzeitigen Weltenergiepreise langfristig Bestand haben werden.
Wer glaubt, die heimische Kohle im nennenswerten Umfang zur Stromerzeugung durch Importkohle ersetzen zu können, und weiter glaubt, daß das keinen Einfluß auf den Importkohlenpreis hätte, dem mögen folgende Zahlen zu denken geben: Die EG ist mit 64 Millionen t größter Importeur von Kesselkohle. Daneben setzt sie ca. 150 Millionen t Kohle aus EG-Förderung in den EG-Kraftwerken ein. Das Welthandelsvolumen für Kesselkohle liegt bei ca. 155 Millionen t.
Diese Zahlen lassen klar erkennen, daß jeder nennenswerte Ausfall heimischer Kohle drastische Auswirkungen auf den Weltkohlemarkt hätte. Gerade Marktwirtschaftlern dürfte einleuchten, daß das nicht ohne Folgen für die Energiepreise bleibt, was wir ja beim Ölpreis in den 70er Jahren schmerzlich zu spüren bekommen haben.
Bei der Bewertung der Hilfen für Kohle kann auch nicht die Rolle des Bergbaus als Produzent und Auftraggeber unberücksichtigt bleiben. Der Steinkohlebergbau beschäftigt heute nicht nur ca. 150 000 Menschen direkt, von ihm sind auch unmittelbar weitere 200 000 Beschäftigte in den Zulieferindustrien und im Versorgungsbereich des Steinkohlebergbaus abhängig. Der Produktionswert des deutschen Steinkohlebergbaus liegt bei 21 Milliarden DM. Das Auftragsvolumen des Bergbaus an seine Zulieferer beträgt 101/2 Milliarden DM. Da der Bergbau auf einige Reviere konzentriert ist, weiß jeder, welche Bedeutung er für diese Regionen hat.
Unvollkommen wäre es, würde man die Bedeutung des Bergbaus für die Entwicklung neuer Technologien außer acht lassen. Der deutsche Maschinenbau ist weltweit der größte Exporteur von Bergwerksmaschinen. Er hat auf diesem Gebiet einen Marktanteil von 40 % und liegt doppelt so hoch wie der durchschnittliche Weltmarktanteil des deutschen Maschinenbaus.
Wenn die deutschen Steinkohlekraftwerke hinsichtlich der Ausnutzung der eingesetzten Energie eine Weltspitzenstellung haben, wenn die bei uns eingesetzten Technologien zur SO2- und NOx-Minderung in der Welt ihresgleichen suchen, wenn bei uns eine Kraftwerksgeneration in der Entwicklung ist, durch die die eingesetzte Energie um 25 % besser genutzt werden kann als heute, dann ist auch dies das Ergebnis der engen Zusammenarbeit zwischen Kohleforschung und kohleverarbeitender Industrie. Jeder, der die momentanen Hilfen für die Kohle bewertet, darf auch diese Zusammenhänge nicht außer acht lassen.
Alle Maßnahmen zum Erhalt der heimischen Steinkohleförderung, die sich langfristig aus Versorgungssicherheitsgründen, aus regionalpolitischen Gründen, aus den Verpflichtungen, die wir alle gegenüber den Bergarbeitern haben, und aus technologischen Gesichtspunkten ergeben, sind gut vertretbar.
Der Bergbau und die Bergarbeiter sind keine Almosenempfänger der deutschen Wirtschaft und des deutschen Verbrauchers. Sie tragen mit ihrer Leistung dazu bei, die Sicherheit unserer Versorgung mit Energie und unseren technologischen Vorsprung auf diesem Sektor in der Welt zu erhalten.
Wir alle haben Grund, den Bergarbeitern für ihre Leistungen zu danken.
Das sind jedenfalls die Überlegungen, von denen aus wir an die Beratung des Gesetzentwurfes herangehen werden.
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Hinsken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Eben wurde darauf hingewiesen, daß sich seitens der Revierländer heute niemand auf der Bundesratsbank befindet.
({0})
Ich möchte das doch noch einmal aufgreifen, Herr Kollege Becker, weil zumindest die Beamten hierher hätten kommen können, damit das große und laute Dröhnen draußen auch durch Anwesenheit im Plenum unterstrichen wird, um hervorzuheben, wie sehr gerade dieses Problem auf den Nägeln brennt.
({1})
Daß als einziges Bundesland das Land Bayern hier vertreten ist, spricht dafür, daß man auch als revierfernes Land natürlich an der Entwicklung teilhaben möchte.
({2})
Es spricht für die Bundesregierung, daß Sie, Herr Bundeswirtschaftsminister, mit dem Staatssekretär und
anderen Bundesregierungsmitgliedern heute zuge12728
gen sind, um zu unterstreichen, welche Bedeutung gerade diese Debatte hat.
({3})
Herr Bundeswirtschaftsminister Haussmann hat bereits darauf hingewiesen, daß wir in den letzten Wochen in einer gewissen Beratungshektik waren. Um die Zeit zu verkürzen, waren die Koalitionsfraktionen bereit, diesen Gesetzentwurf einzubringen.
Der Gesetzentwurf ist ein Kompromißvorschlag, der den Vorstellungen der revierfernen Länder nicht gerecht wird. Deren Regierungen monieren vor allem, daß sie an der Entwicklung des sogenannten Kohlekompromisses, auf dem dieser Gesetzesvorschlag beruht, nicht beteiligt waren. Herr Bundeswirtschaftsminister, ich möchte deshalb die Bitte aussprechen, nicht nur die Wirtschaftsminister von Nordrhein-Westfalen und vom Saarland hinzuzuziehen, sondern in Zukunft auch die revierfernen Länder zu berücksichtigen und mit einzuladen.
Aber auch für die Revierländer weist gerade dieser Gesetzentwurf meines Erachtens keinen optimalen Weg. Für die Revierländer, auch für die Familien der Bergleute und für uns alle in der Bundesrepublik wäre es besser, statt in die Erhaltung einiger unwirtschaftlicher Zechen in den Strukturwandel, hin zu modernen, zukunftsträchtigen Industrien zu investieren. Erhaltungssubventionen zementieren Mißwirtschaft und lähmen den notwendigen Strukturwandel. Zuviel Kapital und zuviel Techniker werden durch die Kohle gebunden und fehlen dann den Revierländern bei der Bewältigung der Zukunftsaufgaben.
Die Auseinandersetzung, welchen Weg die Mehrheit der Bürger in Nordrhein-Westfalen und im Saarland in Zukunft gehen wollen, muß in den Ländern selbst geführt werden. Die revierfernen Länder und vor allen Dingen die bayerischen Stromverbraucher haben über den Ausgleichsfonds seit 1976 - das möchte ich besonders erwähnen - rund 3 Milliarden DM für die deutsche Steinkohle aufgebracht. Der Positivsaldo Nordrhein-Westfalens beim Ausgleichsfonds beläuft sich seit 1976 auf über 6 Milliarden DM. Wenn man sich vorstellt, dieses Geld wäre in eine zukunftsgerichtete Struktur- und Mittelstandspolitik geflossen, wann wären die Revierländer zugkräftige Motoren unseres Wirtschaftswachstums, und die Arbeitslosigkeit wäre wesentlich geringer. Aber ich fürchte, die notwendige Aufbruchstimmung in Nordrhein-Westfalen und im Saarland wird nicht zu erreichen sein, solange sich die zukunftsgerichteten Kräfte in diesen Ländern nicht durchsetzen und solange die alten Regierungen weiter werkeln, letztendlich subventioniert auch durch Milliardenzahlungen der Stromverbraucher, die aus anderen Bundesländern kommen.
({4})
Es war daher höchste Zeit, daß wenigstens der Revierausgleich und die Erschwerniszuschläge für niederflüchtige Kohle aus dem Ausgleichsfonds herausgenommen werden. Zwar übernehmen die Revierländer nur einen Bruchteil dieser Kosten, die Hauptlast trägt aber der Bundeshaushalt. Aber so wird damit doch wenigstens deutlich, wo die Verantwortlichkeiten liegen und worum es im Zentrum geht: weniger um die Sicherung der nationalen Energieversorgung, die angesichts des gemeinsamen europäischen Marktes heute in ganz anderen Dimensionen erfolgt, sondern vielmehr um strukturpolitische, sozialpolitische und vielfach konservierende Maßnahmen für eine heute unwirtschaftliche Branche, die sich in zwei Bundesländern konzentriert.
Meine Freunde in der CDU und in der CSU haben stets den Standpukt vertreten, daß wir diese Länder angesichts der besonderen Probleme des Kohlebergbaus nicht allein lassen können. Voraussetzung dafür ist und bleibt aber der Konsens in den Grundfragen der gesamten Energiepolitik.
({5})
Die SPD-geführten Regierungen der Revierländer haben mit ihrer Forderung nach einem Ausstieg aus der Kernenergie - das wurde heute mehrfach erneut betont - sowie mit ihrer Kohlevorrangpolitik diesen Konsens aufgekündigt. Nur wenn dieser Konsens wiedergewonnen wird und auch die Zukunft der Kernenergie dauerhaft und verbindlich abgesichert wird, können die revierfernen Länder an der Zukunftssicherung der Kohle mitwirken.
({6})
Dies ist die materielle und politische Grundlage des Jahrhundertvertrages und damit auch des Kohlepfennigs. Zumindest in der Begründung dieses Gesetzes muß deshalb klargestellt werden, daß die Kohleverstromungsfrage in engem Zusammenhang mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie steht einschließlich der Entsorgung der Kernkraftwerke und der Endlagerung.
Meine Kollegen, die EG hat der Bundesrepublik aufgegeben, ihre Kohleverstromungshilfen bis 1993 abzubauen. Ein Abbau um nur einen Viertelprozentpunkt jährlich entspricht weder den Vorstellungen der EG-Kommission, noch trägt er den berechtigten Interessen der Stromverbraucher der Nichtrevierländer ausreichend Rechnung. In guter Gesellschaft mit dem FDP-Wirtschaftsminister des Landes Niedersachsen, Herrn Hirche, halte ich für das kommende Jahr einen Kohlepfennigsatz von unter 8 % und eine jährliche Absenkung um rund 1 Prozentpunkt für zwingend erforderlich, und das ist auch machbar.
Meine Fraktion wird diese Frage nochmals überdenken und hat hierzu eine Arbeitsgruppe eingesetzt. Diese wird auch die Möglichkeiten zu prüfen haben, den Kohlepfennigsatz stärker regional zu spreizen und den Ölausgleich zu plafondieren.
Ich begrüße die vorgesehene Stundung von Forderungen aus dem Ölausgleich in Abhängigkeit von den Zahlungsmöglichkeiten des Ausgleichsfonds. Auch der Verlängerung des 2-Milliarden-DM-Kredits kann grundsätzlich zugestimmt werden.
Meine Damen und Herren, ich möchte zusammenfassen. Der vorgelegte Gesetzentwurf enthält richtige Ansatzpunkte, bedarf aber in einigen Positionen deutlicher Verbesserungen und Ergänzungen. Dazu ein Beispiel. Ein mittelständischer Betrieb im strukturschwachen Gebiet meiner Heimat mit ca. 300 Beschäftigten könnte jedem Mitarbeiter jährlich ca.
500 DM mehr Lohn zukommen lassen, wenn die Belastung durch den Kohlepfennig nicht wäre. So kann es doch nicht weitergehen.
({7})
Der vorliegende Gesetzentwurf sieht zu Recht einen schrittweisen Abbau des Kohlepfennigs vor. Aber die Schritte sind zu klein. Wenn unsere Fraktion diesen Gesetzentwurf trotz vieler Bedenken eingebracht hat, so bringt sie damit zum Ausdruck, daß sie nach wie vor zur Erfüllung des Jahrhundertvertrages für die deutsche Steinkohle steht. Es liegt jetzt an Ihnen, meine Kollegen von der SPD, daß die Grundlage dieses Vertrages wiederhergestellt wird: der Konsens in den Grundfragen der gesamten Energiepolitik einschließlich der friedlichen Nutzung der Kernenergie.
Ich bedanke mich.
({8})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5392 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Keine Gegenstimmen. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Zusatztagesordnungspunkt 9 auf: Aktuelle Stunde
Beteiligung und Verantwortung der Bundesregierung an der Entsendung der plutoniumbestückten Jupitersonde Galileo in den Weltraum durch die NASA
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem genannten Thema verlangt.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich kann mir denken, wie Sie auf diese Aktuelle Stunde und meine Rede reagieren werden.
({0})
Sie werden sagen: Wo ist die Aktualität?; alles gelaufen; die Sonde ist sicher gestartet; was wollen Sie denn noch?
({1})
Dazu habe ich zu sagen: Gott sei Dank ist sie heil nach oben gekommen, aber lieber wäre es uns, sie stünde noch am Boden, oder besser, sie wäre nie gebaut worden.
({2})
Welch ein Wahnwitz, 22 Kilogramm Plutonium in den Weltraum zu schießen! Was wäre passiert, wenn es nicht gutgegangen wäre?
({3})
22 Kilogramm Plutonium aus großer Höhe über den Erdball verteilt, das hätte ausgereicht, um die gesamte Menschheit zu vernichten.
Und, meine Damen und Herren, die Gefahr ist ja mit dem Start nicht vorüber. Noch zweimal wird sich die Sonde der Erde nähern, beim zweiten Mal auf 3 000 Kilometer. 3 000 Kilometer sind im Weltraummaßstab ein Katzensprung.
Was an diesem Unternehmen so empörend ist, ist die Kaltschnäuzigkeit der Verantwortlichen, die sich immer wieder mit einem „Es wird schon gutgehen" darauf einlassen, unverantwortliche Unternehmungen zu unterstützen.
({4})
Sie werden sagen: Für die Durchführung und die Sicherheit sind die Wissenschaftler verantwortlich, und auf die können wir uns verlassen. - Ich bedaure, meine Damen und Herren, niemand kann Sie aus der Verantwortung entlassen. Jemand, der Geld für ein solches Unternehmen gibt - die Bundesregierung ist mit 95 Millionen DM beteiligt - , ist mitverantwortlich.
Sie werden uns vorhalten, die Gerichte in den USA hätten die Klage der Umweltgruppen, der wir uns angeschlossen hatten, abgelehnt, weil sie durch die NASA von der Unbedenklichkeit überzeugt worden wären. Jedenfalls steht es so in der Zeitung. Wie es gelegentlich vorkommt, ist das nur die halbe Wahrheit. Schon die Tatsache, daß die GRÜNEN im Bundestag vom Appellationsgericht als Mitkläger anerkannt wurden, beweist, daß die Richter die weltweite Gefahr anerkannt hatten. Wörtlich steht in der Begründung des vorsitzenden Richters Ward:
Die Ablehnung bedeutet keineswegs, daß das Gericht „frivolerweise" bemüht wurde, die Ablehnung erfolgte wegen der Kürze der Zeit und dem Mangel an Sachverständigen beim Gericht.
Wenige Stunden vor dem ersten Start wurde ein Papier bekannt, nach dem in der Sonde 50 Schaltungen der Firma Avantek eingebaut wurden, die während der letzten Jahre eine enorm hohe Fehlerquote aufwiesen. Seit Bekanntwerden dieses Papiers beschäftigen sich die NASA und das FBI mit dieser Tatsache. Das Shuttle wurde gestartet, obwohl die Zeit nicht ausreichte, alle Schaltungen zu überprüfen. Ich sagte, das FBI beschäftigt sich damit; denn die gleichen Instrumente sind in viele Waffensysteme eingebaut worden, auch in solche, die in der Bundesrepublik stationiert sind.
Meine Damen und Herren, die Tatsachen, die ich bisher vorgetragen habe, sind nicht der einzige Grund, weshalb wir gegen den Start der Sonde protestieren. Wir protestieren auch gegen die Verletzung des von der Bundesrepublik unterschriebenen Weltraumabkommens.
({5})
Dort steht in Artikel IX: „Die Vertragsstaaten führen die Untersuchung und Erforschung des Weltraums . . . so durch, daß eine Kontamination vermieden . . . wird. " 22 Kilogramm Plutonium im Weltraum, egal,
wie man es dreht und wendet, bedeutet eine Kontamination.
({6})
Zum anderen soll ein Teil der Sonde in die Atmosphäre des Jupiters eindringen. Damit besteht die Gefahr, daß irdische Bakterien und Staubpartikel in die Atmosphäre eingebracht werden mit Folgen, die niemand voraussehen kann.
Sie werden sagen: Was interessiert uns das? Ich frage Sie: Wozu schließt man Abkommen, wenn man sie nicht einhält?
({7})
Wir können „Galileo" nicht zurückholen, aber wenn dieses Unternehmen nicht kritisiert und nicht abgelehnt wird, werden ähnliche Unternehmen folgen, und das müssen wir verhindern.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Anfang Ihres Beitrages, liebe Frau Kollegin Wollny, war hochinteressant. Sie mußten zuerst einmal begründen, was diese Aktuelle Stunde überhaupt noch für einen Sinn hat. „Galileo" befindet sich bereits auf dem Weg zur Venus: ein Bilderbuchstart; keine Katastrophe. Folge: Diese Aktuelle Stunde ist form-, frist- und fruchtlos.
({0})
Es gibt ein schönes Zitat, das lautet: „Die Überbewertung bestimmter persönlicher oder ideenbehafteter Komplexe zwingt zum ständigen Kampf nach außen. " - So wird in der Psychologie eine krankhafte Erscheinung beschrieben. Ich muß dazusagen: Daran habe ich mich erinnert gefühlt, als ich einige Äußerungen der vergangenen Monate zu der Jupitersonde „Galileo" nachgelesen habe. Ich will nur einen Kollegen dieses Hauses zitieren, der eine „Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes" befürchtete und wahrhaftig gesagt hat, „die ganze Menschheit könne getötet werden". Er fuhr dann fort: „Mit ,Galileo' wird der Zivilisation ein Höllengift gebracht. "
({1})
Mit Verlaub gesagt, das war und das ist unverantwortliches Geschwätz.
Amerikanische Bundesrichter und auch große amerikanische Umweltschutzorganisationen haben sich mit dieser Frage befaßt und den Start der Raumsonde mit dieser Isotopenbatterie für vertretbar gehalten. Interessant ist, daß es der Weltraumausschuß der Vereinten Nationen, in dem viele Staaten der Verwendung von nuklearen Energiequellen in der Raumfahrt kritisch gegenüberstehen, für unstreitig hält, daß solche Systeme bei entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen für Planetenmissionen durchaus verantwortbar sind. Ich meine, wir im Deutschen Bundestag hätten allen Grund, uns dieser Einschätzung anzuschließen.
„Galileo" ist kein fliegender Kleinreaktor wie etwa der sowjetische Satellit „Kosmos 954", der 1978 abstürzte. Eine künstliche Kernreaktion mit gefährlichen Spaltprodukten findet bei „Galileo" nicht statt. Vielmehr wird die natürliche radioaktive Zerfallswärme des Plutoniumdioxids zur Energieerzeugung genutzt. Diese verwendete Technik - auch das ist unter Fachleuten unstreitig - ist fehlerfreundlich. Sie ist nicht auf ein perfektes Funktionieren von Mensch und Maschine ausgelegt. Das radioaktive Material ist in einer vierfachen Ummantelung eingeschlossen. Es wird keine Strahlung in die äußere Umgebung abgegeben. Selbst einen höchst unwahrscheinlichen, unvorhergesehenen Wiedereintritt in die Erdatmosphäre würde das Sicherungssystem überstehen. Die Erfahrungen mit zwei verunglückten Missionen haben dies bereits belegt.
({2})
Sogar eine Explosion ähnlich der Challenger-Katastrophe führt nicht zu einem Bersten des vorhandenen Mantels. Selbst wenn bei einem Aufprall auf hartes Gestein das Behältersystem aufbricht, gibt es eben auch keine Katastrophe, denn das verwendete Plutoniumdioxid löst sich weder in Luft noch in Wasser auf, und es verteilt sich auch sonst nicht in die Umgebung. Deshalb kann von der Gefahr einer großflächigen Verseuchung in diesem Fall überhaupt keine Rede sein.
Galileo und sein Energieversorgungssystem sind in den Vereinigten Staaten einer intensiven technischen, rechtlichen und politischen Überprüfung unterzogen worden, an der auch Experten außerhalb der NASA und der Ministerien beteiligt waren. Eventualitäten und Fehlerszenarien sind berücksichtigt. Die Systeme sind entsprechend ausgelegt. Sicherheitsvorkehrungen sind getroffen. Ich glaube, auch das muß man einmal sagen: Bei der NASA arbeiten keine Selbstmörder, denn niemand hat ein größeres Interesse an einer sicheren Mission als die Vereinigten Staaten und die NASA selbst.
Von daher ist diese Aktuelle Stunde in der Sache nicht begründet.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Fischer ({0}).
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Entscheidung für die Jupiter-Sonde „Galileo" ist vor zwölf Jahren gefallen. Schon 1977 ist nach einer Vereinbarung zwischen dem Forschungsministerium und der US-Raumfahrtbehörde NASA mit den Vorbereitungen für den Flug begonnen worden. Zur Geschichte und zu den technischen Einzelheiten möchte ich nichts sagen, weil mein Kollege Bodo Seidenthal nachher Ausführungen dazu machen wird.
Der Start war erfolgreich, Frau Wollny; das stimmt, in der Tat.
({0})
Unter Umständen kann die gesamte Mission 1997 erfolgreich beendet werden.
Die Schwierigkeiten und Bedenken, die einen früheren Start verhinderten - der Start hätte ja schon 1982 erfolgen sollen - , konnten nach Ansicht der
Fischer ({1})
NASA-Experten vollständig ausgeräumt werden, wie Herr Rüttgers das soeben auch gesagt hat - und er glaubt daran - , so daß der amerikanische Präsident und die amerikanischen Gerichte den Start freigegeben haben. Aber keiner von uns weiß, wie glaubhaft die Angaben der amerikanischen Techniker sind und wie sie zu beurteilen sind.
({2})
Angeblich sollen die besonders geschützten Batterien der Sonde praktisch unzerstörbar sein. Sie würden sogar auch einen Absturz der Fähre überstehen. Die Wahrscheinlichkeit, daß der Container mit dem Plutonium beschädigt werde, sei nur 1 : 2 500. Die Chance, daß Plutonium austrete, sei noch viel geringer; so die Auskunft der NASA.
Wir alle kennen heutzutage diese Wahrscheinlichkeitsrechnungen und erfahren, wie Risikokalküle in verschiedenste Richtungen ausgelegt werden können und oft den Mund voller Mathematik, mit gegensätzlichen Ratschlägen zurückkommen. Mit Zahlen kann man sehr gut manipulieren. Ich weiß das, denn ich bin selbst Mathematiker. Ich glaube, selbst beurteilen zu können, was mit Statistiken, Zahlen und Wahrscheinlichkeitsrechnungen angestellt werden kann.
({3})
- Herr Seesing, ich habe Ihre Pressemitteilung gelesen. Vielleicht wird nachher noch ein Kollege auf Ihre grünen Männchen auf dem Jupiter eingehen.
Nach Tschernobyl mißtraut man diesen Zahlen zu Recht. Der bekannte Soziologe Ulrich Beck schreibt in seinem Buch „Die organisierte Unverantwortlichkeit"
- ich zitiere - : „Die Wahrscheinlichkeit unwahrscheinlicher Unfälle wächst mit der Zeit und Zahl durchgesetzter Großtechnologien. " Er sagt weiter: „Auch die NASA gibt regelmäßig Erklärungen über die Sicherheit von Raumflügen ab, und die Lehrerin, die den Flug an Bord der Challenger mitmachen sollte, glaubte ihnen."
Trotz der Untersuchung nach der Challenger-Katastrophe und den erdrückenden Beweisen, daß hier mit unverantwortlichem Leichtsinn gehandelt wurde, wird die NASA nicht müde, zu verkünden, Sicherheit sei immer ihr oberstes Ziel gewesen.
Wir Sozialdemokraten nehmen die Ängste und Sorgen, die auch in zahlreichen Briefen von Bürgerinitiativen an meine Fraktion zum Ausdruck gekommen sind, sehr ernst, auch wenn das Risiko dieses Projektes nach zahlreichen durchgeführten Tests und zumindest nach den überprüfbaren Angaben nicht so groß gewesen sein soll.
Wir fordern vor allen Dingen vom Bundesforschungsministerium, daß ein paar kritische Anmerkungen gemacht werden, daß nicht nur in Selbstzufriedenheit solche Pressemitteilungen wie z. B. „Riesenhuber lobt das Projekt der Jupiter-Sonde Galileo" herauskommen. Man hätte dann ja wohl auch ein bißchen Kritik verlangen können.
In dieser Aktuellen Stunde geht es nicht nur um „Galileo" - das möchte ich einmal sagen - , sondern
auch um ein ganz bestimmtes Wissenschaftsverständnis.
({4})
Technikgläubigkeit, die mögliche Gefahren und berechtigte Sorgen nicht mehr wahrnimmt, verkommt zur Überheblichkeit.
Die ministerielle Fortschrittsgläubigkeit haben wir bei der Aufbereitungsanlage, beim Schnellen Brüter und beim Hochtemperaturreaktor zur Genüge miterleben müssen.
Es gibt Zusagen zu Projekten - solche Zusagen haben wir bei Hermes und Kolumbus -, obwohl die finanzielle Absicherung nicht geklärt ist. Auch das haben wir miterlebt.
({5})
- Ja, gut, das ist eine Raumfahrtangelegenheit, selbstverständlich, genauso wie auch die Raumsonde eine Raumfahrtangelegenheit ist.
Wir Sozialdemokraten vermissen in Ihrer Amtsführung Einsichtsfähigkeit, kritische Untertöne und manchmal auch Zweifel. Immerhin sind bei 22 Raumfahrtprojekten - ich komme gleich zum Schluß, Frau Präsidentin -, die mit atomarer Energie versorgt wurden, drei Unfälle passiert.
Wir fordern Sie daher auf, Herr Minister: Nehmen Sie die berechtigten Ängste und Sorgen ernst. Verstärken Sie gerade in diesem Bereich die Grundlagenforschung - wir unterstützen ja diese Mission - , so daß zukünftige Projekte ohne diese Gefährdungen durchgeführt werden können.
Schönen Dank.
({6})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Dr. Laermann.
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich habe einige Schwierigkeiten mit der Begründung einer Aktuellen Stunde zu diesem Thema. Für mich kann die Begründung eigentlich nur darin gesehen werden, daß die Raumfähre Atlantis die Jupiter-Sonde nun erfolgreich auf die interplanetarische Mission gesetzt hat. Eine andere Aktualität sehe ich weiß Gott nicht.
Diese Feststellung, Herr Daniels, begründe ich wie folgt:
Erstens. Wir haben schon gehört, das Memorandum of Understanding über die „Galileo"-Mission wurde bereits vor zwölf Jahren zwischen der Bundesregierung und der NASA unterzeichnet. Also, seit zwölf Jahren könnten wir das alles wissen.
({0})
Zweitens. Seit 1961 sind 21 Sonden mit Radioisotopenbatterien, den sogenannten RTGs - das sind keine Reaktoren, um das noch einmal deutlich zu sagen -,
({1})
in erdnahen, lunaren und interplanetaren US-Missionen zum Einsatz gekommen. Über die Zahl der sowjetischen Sonden mit ähnlichen Energieversorgungssystemen habe ich leider in der Eile jetzt keine genauen Informationen einholen können. Aber ich schätze sie mindestens auf die gleiche Anzahl.
Drittens. Wenn es wegen des Challenger-Unglücks nicht zu einer mehrjährigen Startverzögerung gekommen wäre, dann hätte die Sonde „Galileo" den Jupiter wohl schon erreicht. Wo ist da die Aktualität, heute darüber zu diskutieren?
Viertens sage ich: Mindestens seit zweieinhalb Jahren - hier empfehle ich den GRÜNEN, einmal aufmerksam zuzuhören - wußte auch die Fraktion der GRÜNEN über die Radioisotopenbatterien in Raumsonden Bescheid,
({2})
insbesondere über „Galileo", das deutsch-amerikanische Gemeinschaftsprojekt. Sie wissen das - ich kann das belegen - genau seit August 1986, wenn nicht schon länger.
({3})
- Ich begründe meine Feststellung, daß diese Aktuelle Stunde hier und heute durch Sie wirklich nicht begründet werden kann. Denn damals auf einer Delegationsreise des F-und-T-Ausschusses unter Leitung des Ausschußvorsitzenden von der Fraktion DIE GRÜNEN haben wir in den USA darüber diskutiert, ob die Startverzögerung eventuell eine neue Batterie erforderlich mache, weil „Galileo" bereits soweit startklar war.
Wenn ich mich recht erinnere, Herr Daniels, waren Sie doch wohl Mitarbeiter dieses Vorsitzenden. Nun frage ich mich, wenn Sie heute mit der Aktuellen Stunde kommen, ob Sie inzwischen von einer lunaren Mission zurückgekehrt sind; auf deutsch würde man sagen: vom Mond gefallen sind.
Ich habe diese Frage - auch das möchte ich noch erwähnen - über die RTGs im Herbst 1986 im Ausschuß diskutiert.
({4})
Bereits da haben wir auch über die Sicherheitsfrage diskutiert. Nach meinen Aufzeichnungen, sowohl aus den USA wie aus dem Ausschuß, haben wir dort bereits über die Sicherheitsfrage diskutiert. Offensichtlich haben Ihnen die damaligen Informationen ausgereicht. Wozu also jetzt auf einmal das Aufpushen?
({5})
Ich denke, hier geht es Ihnen weniger um sachliche Informationen. Hier wollen Sie offensichtlich nur emotionale Reaktionen wecken.
Wie gesagt: Schon damals haben wir uns, jedenfalls ich, über die Sicherheitsmaßnahmen, über die thermische und mechanische Widerstandsfähigkeit der RTGs, des RTG-Sicherheitsbehälters, informiert, und
zwar über die Tests, über die Sicherheitsüberprüfungen und über die Überwachungsmaßnahmen. Ich möchte deutlich herausstellen, daß wir dies also schon vor zweieinhalb Jahren gemacht haben.
Schon damals ist eindeutig klargestellt worden, daß u. a. die Energieversorgung der Raumsonde allein Aufgabe der NASA sein würde. Auch das haben wir hingenommen.
({6})
Ich meine, daß nun zum heutigen Zeitpunkt überhaupt kein Anlaß besteht, das in einer Aktuellen Stunde abzuhandeln.
({7})
Ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir uns ernsthaft mit diesen Fragen auseinandersetzen müssen. Aber das Problem erschlagen wir doch nicht in einer Aktuellen Stunde. Das ist unseriös.
({8})
Der Weltraumausschuß der Vereinten Nationen befaßt sich bereits seit Jahren mit der Erarbeitung von Sicherheitsprinzipien im Weltraum, Informationsverpflichtungen, Sicherheitsanalysen, Sicherheitsanforderungen, Sicherheitsüberwachungen, Beistands- und Kompensationsregelungen. Und die Bundesregierung drängt auf baldige Verabschiedung solcher international verbindlichen Sicherheitsprinzipien. Da müssen wir einsetzen. Da ist unsere Aufgabe,
({9}) aber nicht in einer Aktuellen Stunde.
Das einzige Aktuelle an dieser Aktuellen Stunde ist die dringende Bitte der FDP-Fraktion an die Bundesregierung, ihre diesbezüglichen Bemühungen zur Verabschiedung dieser internationalen Sicherheitsprinzipien für den Weltraum, zur Ausfüllung und Erfüllung des von Ihnen erwähnten § 9 des Weltraumabkommens fortzuführen.
Danke schön.
({10})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Bundesminister Dr. Riesenhuber.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Herr Rüttgers hat den Sachverhalt zutreffend und präzise dargestellt. Und das, was Herr Laermann ergänzt hat, kann ich nur querschreiben. Das trifft zu.
Herr Fischer hat nach dem Wissenschaftsverständnis gefragt: Herr Fischer, das Wissenschaftsverständnis verlangt als eine notwendige, wenn auch noch nicht ausreichende Vorbedingung, daß man sich über die Sachverhalte klar wird und sie als Sachverhalte respektiert.
Daran will ich jetzt messen, was Frau Wollny gesagt hat. Frau Wollny hat zu Beginn ihrer Rede darauf hingewiesen, wenn hier ein Unglück passiere - ich wiederhole es, glaube ich, inhaltlich zutreffend - , könne es die gesamte Menschheit bedrohen - vielleicht sagten Sie sogar: vernichten. Nun ist es so, daß wir hier Untersuchungen haben, die jedermann offenliegen. Die NASA hat ja ihr Environmental Impact Statement vorgelegt, und zwar im Mai dieses Jahres, das sie nach dem Gesetz vorlegen muß. In dem hat sie jedes der denkbaren Szenarien durchgespielt. Es ist auch in der weiteren Diskussion über die seit Mai vorliegende Dokumentation kein weiteres vorgetragen worden.
Hier spricht man jetzt über zweierlei: Herr Fischer weist darauf hin, daß man mit komplexen Diskussionen über die Wahrscheinlichkeit von Unfällen alles Mögliche verwirren kann. Dies trifft zu. Eine Risikoanalyse enthält die Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmter Unfall eintritt und die Abschätzung der Folgen des schlimmsten Unfalls, den man sich vorstellen kann. Beides ist in den Analysen der NASA - und, soweit ich sehe, in der Sache unbestritten - seit einem halben Jahr vor aller Augen auf dem Tisch. Ich will jetzt nicht wiederholen, welche verschiedenen Szenarien da ausdiskutiert werden, sonst komme ich in die Verlegenheit, die Sie beschrieben haben, nämlich daß ich mit irgendwelchen 10-9-Wahrscheinlichkeiten diskutiere, die niemand mehr in der inneren Struktur durchschauen kann.
({0})
Aber ich möchte doch darauf hinweisen, daß wir uns bei der Summierung dieser Wahrscheinlichkeiten für den Fall, daß solch ein Unfall eintritt, und seiner Folgen immer noch in durchaus überschaubaren Verhältnissen bewegen. Es gibt nämlich eine extreme Unwahrscheinlichkeit eines Unfalls einerseits und extrem geringe Auswirkungen des größten annehmbaren Unfalls andererseits.
({1})
- Nein. Ich habe nicht davon gesprochen, Herr Daniels: Jetzt müssen wir präzise sein. Das Restrisiko betrifft die Wahrscheinlichkeit. Wenn man im Zusammenhang mit Restrisiko diskutiert, daß mit einer Wahrscheinlichkeit von einmal in zwei Milliarden Jahren oder wann auch immer irgend etwas passiert, kann man immer noch darüber die Diskussion führen, ob das, was passieren kann, unvertretbar sei. Insofern habe ich hier gesagt: Ich weise auch auf diese zweite Diskussion hin, nämlich, daß nach allen vorstellbaren Szenarios der NASA - die sind insofern nicht bestritten worden - auch für den Fall des schlimmsten anzunehmenden Unfalls die Auswirkungen außerordentlich gering sind. Es ist also etwas, was in der Krebswahrscheinlichkeitsquote in der Größenordnung von 10 oder vielleicht 57 - das, glaube ich, ist der Extremfall, den man hatte - liegen kann, bei einer Kumulation negativer Annahmen für den Unfall.
Ich möchte hier ein einzelnes Risiko nicht kleinschreiben. Aber ich möchte sagen: Wenn man das mit anderen Risiken vergleicht, die zu akzeptieren wir uns
täglich aufmachen, ist das eine vernünftige Angelegenheit.
({2})
- Nun fragen Sie: Was bekommen wir dafür? Ich komme sofort darauf zurück. Lassen Sie mich hier nur noch einen Punkt aufgreifen, damit ich das hier nicht vergesse.
In diesem Zusammenhang ist natürlich auch das schlüssig, was hernach Fischer sagte. Mein sehr verehrter Herr Kollege Lothar Fischer sagte hernach zusammenfassend: Wir unterstützen diese Mission. Das ist als Aussage seiner Fraktion eine Zusammenfassung der Pros und Cons der Probleme und der Gegenargumente, aber auch dessen, was man sich davon verspricht, die eindeutig ist. Hier ist er natürlich in einer großen Tradition. Ich habe mit Freude nachgelesen, was Hans Matthöfer vor zwölf Jahren sagte, als er das Memorandum of Understanding unterschrieb. Er sprach sehr beeindruckt von dem Beweis des Leistungsstands der deutschen Forschung. Er sprach von der fortschrittlichen Technik, von der sehr erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Er sprach von den faszinierenden Fragen zur Atmosphäre und zur Magnetosphäre des Jupiters. Das sind schon faszinierende Punkte. Da steht man hier in einer ganz beachtlichen Kontinuität auch in der Argumentation, die heute Herr Fischer vorgetragen hat.
Nun fragt Herr Daniels: Was kriegen wir dafür? Herr Kollege Daniels, bei der Grundlagenforschung kann man diese Frage immer stellen. Aber nun möchte ich zurückblenden. Es ist noch keine 400 Jahre her - für die Wissenschaftsgeschichte eine beachtliche Zeit - , daß Galilei die Jupitermonde entdeckt hat. 1610 war es, glaube ich. Was daraus entstand, war ein völlig neues Weltbild, ein Weltbild, das in die Keplerschen Bahnberechnungen einging, und jetzt über Pioneer und Voyager, die beide schon bei diesem Planeten waren, zu einer faszinierenden Erkenntnis über die Wirklichkeit dieses Planeten führt. Nun können wir diesen Planeten selbst besuchen, wissen, was dort ist. Wenn wir die menschliche Neugier, die Faszination durch die Wissenschaft nicht mehr zulassen, dann ist der Fortschritt im Denken
- ich spreche gar nicht von der Technik, sondern vom Fortschritt im Denken - in unserer abendländischen Kultur wahrscheinlich nicht mehr vorstellbar. Denn die Faszination, die eigentliche kulturelle Leistung der letzten zweihundert Jahre - ({3})
- Da bin ich mit Ihnen einverstanden. Nur reden wir nicht darüber, sondern wir tun etwas. Bis 1982 ist über den Wald dramatisch geredet worden. Aber die Waldschadensforschung im Forschungsministerium war bei 0,2 Millionen DM, bei anderthalb Wissenschaftlern. Bis 1982 ist über die Großfeuerungsanlagen-Verordnung dauernd geredet worden. Wir haben sie im
Februar 1983 verabschiedet. Damit mache ich die Klammer zu.
({4})
Damit komme ich zurück zu der Frage: Was kriegen wir dafür? Wir kriegen hier eine faszinierende Sicht auf die Wirklichkeit der Welt. Die kulturelle Leistung des Abendlandes in den letzten zweihundert Jahren war wahrscheinlich die Fähigkeit, Natur zu verstehen und Natur in einer vernünftigen Weise zu gestalten.
({5})
Nun sagt Frau Wollny - und Sie sagen gerade: zerstören - : Wir dürfen uns nicht auf die Meinung der Wissenschaftler verlassen. Verehrte Frau Wollny, die Grenze ist hier nicht die private Meinung von Wissenschaftlern.
({6})
- Laßt doch mal. Ich diskutiere wirklich fair. - Sie haben gesagt, wir sollten uns nicht auf die Meinung der Wissenschaftler verlassen.
({7})
Gnädige Frau, die Grenzen liegen nicht in der Meinung der Wissenschaftler oder der Wissenschaft. Die Grenzen für die Risiken sind durch das Gesetz gesetzt, und zwar durch den Staat. Das sogenannte NEPA, der National Environmental Policy Act, ist das Gesetz, das dieses faßt, unbeschadet dessen - was Laermann dargestellt hat - , was wir weltweit gemeinsam anstreben müssen. Dieses Gesetz schreibt vor, was eingehalten werden muß, einschließlich des Environmental Impact Statement. Dies war die Grundlage für die Entscheidung der Gerichte.
Es ist also nicht so, daß wir einer Wissenschaft das Wort reden, die sozusagen ihre eigenen Gesetze schreibt. Wir setzen Grenzen, wo Risiken aus der Technik und der Anwendung der Technik entstehen. Aber innerhalb der Grenzen geben wir der Wissenschaft ihre Freiheit, die die Voraussetzung dafür ist, daß sie gut ist und Neues entdeckt und daß sie Problemlösungen beispielsweise zur Rettung des Waldes schafft. Ihn kann ich nur mittelbar mit Weltraumforschung zusammenbringen; aber wenn Sie sehen, was wir zur Zeit an Fernerkundungen entwickeln, daß wir aus dem Weltraum feststellen, wie geschädigt Wälder sind, dann gehört auch dies zu einer umfassenden Wissenschaft.
Vor 12 Jahren hat Hans Matthöfer das Projekt unterschrieben.
({8})
In sieben, acht Jahren wird darüber zu diskutieren sein. Ich bin der festen Überzeugung, daß wir aus dem Geist des Muts und der Zuversicht, der Faszination vor dem Neuen, aber der Verantwortung für die Wirklichkeit auch zukünftig die Wissenschaft in Deutschland als Beitrag Deutschlands in der Welt gestalten, und daß wir dazu beitragen werden, daß weltweite Probleme gelöst werden. In diesem Geist wollen wir arbeiten und diskutieren. Selbst wenn ich in 12 Jahren vielleicht nicht mehr Forschungsminister bin, werden wir hier im gleichen Geist die Debatte weiterbetreiben.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Vosen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Ausführungen des Herrn Ministers sind aus meiner Sicht sehr technokratisch und auch sehr wissenschaftsgläubig. Ich meine, so leicht kann man es sich nicht machen.
({0})
Natürlich sagen wir ja zu einer solchen Grundlagenforschung. Sie ist ja von Sozialdemokraten auf den Weg gebracht worden.
({1})
Natürlich ist eine solche Entwicklung allemal besser als der Bau von irgendwelchen sinnlosen Weltraumfahrzeugen, wie wir sie zur Zeit z. B. mit Frankreich betreiben. Das ist eine Forschung, die wir im Grundsatz begrüßen; da sind wir nicht auseinander.
({2})
Nur, diese Forschung darf keine Risiken bergen, die die Menschen verängstigen.
({3})
Wenn man hier als Minister sagt: Das Krebsrisiko liegt zwischen 10 und 57 Personen, dann sage ich Ihnen: Die Angst, eine dieser Personen zu sein, ist millionenfach. Das ist doch das, was man begreifen muß. Wenn es nur einer wäre, wäre es schon zuviel.
({4})
Das ist das Problem, das man begreifen muß. Man kann nicht einfach sagen: zwischen 10 und 57 Personen. Nein, man muß nach Alternativen suchen, Kollege Rüttgers; das ist es doch.
Gibt es nicht Energieversorgungssysteme, die dieses eine Risiko ausschließen?
({5})
Fragen Sie die Menschen, die ein Kind haben, welches Leukämie hat. Denen ist diese Aussage niemals zu erklären.
({6})
Deswegen muß man die Angst der Menschen ernst nehmen. Deswegen müssen wir forschen, ohne solche Risiken einzugehen. Deswegen ist die Bundesregierung aufgefordert, im Rahmen der politischen Gespräche mit unseren Freunden in Amerika darauf hinzuwirken, daß wir Alternativen entwickeln. Es gibt ja weniger gefährliche Alternativen. Ich meine, man sollte diesen Weg gehen.
Niemand hier ist gegen Forschung, niemand ist gegen Grundlagenforschung.
({7})
Niemand ist gegen Technologie; der Eindruck kann hier nicht vermittelt werden. Aber Plutonium, einer der gefährlichsten Stoffe überhaupt, sollte man vermeiden, wo man nur kann. Es kann doch nicht falsch sein, Herr Minister, wenn man diesen Weg geht, wenn wir ihn zusammen gehen und wenn wir das Risiko so weit minimieren, wie es überhaupt nur geht.
Das ist unser Anliegen, und deswegen bin ich der Fraktion DIE GRÜNEN auch dafür dankbar, daß sie diese Aktuelle Stunde angeregt hat, die ja - ganz aktuell zu diesem Anlaß - schon am Mittwoch stattfinden sollte. Und es kann doch nie zu spät sein, auch nach 22 Starts nicht, wovon ja drei in die Hose gegangen sind, wie wir den Veröffentlichungen des „Spiegel" entnehmen können. Es kann doch nie zu spät sein, auf diesem Wege mit Bewußtseinsbildung anzufangen!
({8})
Meine Damen und Herren, ich glaube also, daß es schon in Ordnung ist, daß wir hier endlich - eigentlich vielleicht schon zu spät, und deswegen ist es ja so dringlich - darüber reden, ob wir nicht andere Systeme finden, und zwar - das ist unstrittig - unter Beibehaltung des Forschungsziels. Ich glaube, auch die GRÜNEN wollen ja nicht, daß Grundlagenforschung nicht mehr betrieben wird. Das muß ich im Blick auf diese Kollegen sagen, obwohl sie das sicher selber genauso zum Ausdruck bringen werden.
Wir sollten uns also bemühen, sachlich zusammenzuarbeiten, um Alternativen zu finden und Grundlagenforschung weiter wie bisher betreiben zu können.
Herzlichen Dank.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Seesing.
({0})
Dazu werde ich nachher etwas sagen! - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich wage zu bezweifeln, daß es in dieser Aktuellen Stunde nur um die Sorge vor einem Plutoniumunfall auf dem Jupiter geht. Wenn man nämlich einmal zusammenstellt, was von Vertretern der GRÜNEN zur Weltraumforschung schon alles gesagt wurde, muß der Verdacht aufkommen, daß nach der Kernenergie und der Gentechnologie nun die Weltraumforschung zum Angriffsziel dieser - von mir aus gesehen - Antiforschungspolitik der GRÜNEN werden soll.
({0})
Nun möchte ich etwas über den Namen sagen. Galileo Galilei ist zwar schon vor 347 Jahren gestorben, aber sein Forschen, sein Denken, seine Erkenntnisse, vielleicht auch sein Versagen wirken bis heute nach.
Über sein Versagen will ich gleich noch ein erläuterndes Wort sagen.
Seine Neugier, die Dinge der Erde und des Weltraums zu erfahren, hat ihn zum Forscher, zum Begründer der modernen Naturwissenschaften werden lassen. Mit einem selbstgebauten Fernrohr, das seinen Namen trägt, entdeckte er vor 380 Jahren neben den Sonnenflecken auch vier große Jupitermonde, und damit sind wir schon fast beim Thema.
Aber da ist noch das Versagen des Galileo Galilei. Schon vor seiner Geburt war im ermländischen Frauenburg der Domherr Nikolaus Kopernikus gestorben. Er hatte genügend geforscht und nachgedacht, um die Erde aus dem Mittelpunkt der Welt rücken zu können. Er widmete sein kopernikanisches Weltsystem mit der Sonne als Mittelpunkt des Planetensystems dem damaligen Papst Paul III. Ich glaube, er war gut beraten, so zu handeln, denn als Galileo Galilei diese Lehre bekräftigte, wurde er von der Inquisition zum Widerruf gezwungen. Wenn es auch heißt, Galilei habe gesagt „Und sie dreht sich doch" - gemeint ist: die Erdbahn um die Sonne -, so bleibt doch der Makel des Versagens an ihm haften. Wir würden heute sagen, er hat aus Angst um sein bißchen Leben gekniffen. Aber Galilei hat das Leben vorgezogen. Er setzte darauf, daß er schon recht bekommen würde - in der Zukunft, irgendwann. Seine Erwartungen erfüllten sich.
Die Neugier treibt den Menschen schließlich immer wieder dazu, nach neuen Erkenntnissen zu streben. Deswegen möchten wir z. B. auch alles über den Planeten Jupiter wissen - wie einst Galilei. Wie ich eingangs sagte, habe ich die große Sorge, daß die Bemühungen der GRÜNEN - oder von Teilen der Fraktion DIE GRÜNEN - weniger mit den Isotopenbatterien der NASA-Jupitersonde „Galileo" zu tun haben; denn auf Grund der intensiven Überprüfungen, die in den USA von externen Experten bei jedem konkreten Projekt durchgeführt werden, darf ich davon ausgehen, daß für die Sicherheit alles nur Erdenkliche getan wurde. Ich kann mir nicht denken, daß ein Forschungsminister Matthöfer das bei seinen Entscheidungen vorher nicht auch berücksichtigt hätte.
({1})
Deswegen glaube ich auch nicht - und jetzt passen Sie bitte auf - an eine Gefährdung von Leben oder Lebewesen auf dem Jupiter, und ich denke dabei noch nicht einmal an diese grünen Männchen, sondern an einfachste Formen von Lebensäußerungen. Ich glaube eher daran, daß Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN oder einige GRÜNE, sich nicht nur gegen den Fortschritt der Technik wenden, sondern nunmehr auch gegen den uralten Instinkt des Menschen, sein Wissen zu bereichern und seinen Horizont zu erweitern.
({2})
Herr Dr. Daniels, Sie haben das Wort.
Meine Damen und Herren! Die GRÜNEN - um das noch einmal
Dr. Daniels ({0})
deutlich festzustellen - sind auch daran interessiert, Informationen über Planeten, über den Weltraum insgesamt zu bekommen. Aber uns kommt es darauf an, das mit einer Technik zu machen, die eben nicht so risikoträchtig ist. Es ist eben nicht notwendig, 22 kg Plutonium 238 in den Weltraum zu schießen.
({1}) Das kann man auch anders machen.
Ich befürchte noch einen weiteren Zusammenhang: Der Umgang mit Plutonium oder überhaupt mit radioaktiven Stoffen im Weltraum ist ja auch ein Teil des SDI-Programms. Mit ihm sollen Kernreaktoren im Weltraum angesiedelt werden. Und das hier sind jetzt technische Vorbereitungen, um in dieser Hinsicht Erfahrungen zu sammeln. Also, wir werden uns in Zukunft noch wesentlich ausführlicher mit Fragen der Radioaktivität im Weltraum zu beschäftigen haben.
({2})
Herr Bundesminister, Sie haben von der angeblichen Faszination solcher Projekte gesprochen. Ich hoffe, daß diese Faszination nicht in einem faszinierenden Abenteuer mit der Verteilung von Plutonium 238 im Weltraum oder in der Atmosphäre enden wird. Und ich habe von Ihnen - bisher zumindest - noch nichts über die Faszination gehört, die sinnvollerweise mit der Herstellung erneuerbarer Techniken, mit umweltverträglichen und zukunftsträchtigen Techniken verbunden ist. Das ist meiner Meinung nach die Richtung, in der wirklich eine Faszination in der Bevölkerung erzeugt werden müßte.
Ich finde es auch interessant, daß der frühere Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann zeitweise, 1983, zu einer internationalen Kampagne gegen nukleare Weltraumflugkörper aufgerufen hat. In ideologischer Verblendung jedoch wollte er einen Verzicht auf Atomsatelliten nur von der Sowjetunion verlangen.
({3})
Das ist ein Faktum, das für diese Bundesregierung natürlich wieder typisch ist. Wie aber der Absturz amerikanischer Satelliten schon 1964 gezeigt hat,
({4})
ist die Gefährdung der Welt durch die atomaren Zeitbomben aus dem All kein Privileg der Sowjetunion.
Schon das zeigt, daß es sinnlos ist, für solche Projekte tagtäglich auch nur eine Mark des Steuerzahlers auszugeben. Wir halten diese Politik für unverantwortlich. Aus dem Grunde lehnen wir dieses Projekt mit dem Transport von Plutonium in das Weltall ab.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Timm.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Sonde „Galileo" ist zunächst einmal erfolgreich auf den Weg gebracht worden. Meine Fraktion und ich wünschen ihr den notwendigen Erfolg bei ihrer Mission.
({0})
Warum nun gerade sie als Sonde in die Schußlinie geraten sollte, ist eigentlich unerfindlich. Denn da Raumsonden aller Art seit vielen Jahren in den Weltraum geschickt und seit ungefähr 15 Jahren, insbesondere bei den Fernraumsonden, auch Radionuklidbatterien verwendet werden,
({1})
ist es eigentlich nicht korrekt, wenn Sie hier diese Sonde herausziehen und sagen, das sei sie nun, die böse, die man verurteilen sollte. Denn für die Radionuklidbatterien gelten ja besonders strenge Kriterien, zumindest von seiten der amerikanischen Regierung. In diesen strengen Auswahl- und Genehmigungsverfahren werden ebenso viele Fehlerszenarien erprobt, die nach den Ergebnissen der bisherigen 21 Einsätze dazu geführt haben, daß es überzeugende Sicherheitsstandards gegeben hat, insbesondere nach dem Fehlversuch von 1964, als eine ungeschützte Batterie in der Hochatmosphäre verglühte. Danach wurden die Batterien in sichere Kapseln eingeschlossen. Diese Kapseln haben sich bei zwei Fehlversuchen im Grunde bereits bewährt: Eine Kapsel wurde geborgen, und zwar heil, nicht zerbrochen, nicht verglüht. Eine andere befindet sich noch auf dem Meeresgrund.
({2})
Weitere sind bei Fehlversuchen nicht zum Einsatz gekommen.
Für „Galileo" wurden außerdem weitere Sicherheitsmaßnahmen eingeführt. So wurde in dem Fall nicht Plutonium 238, sondern ein Dioxid genommen. Das heißt: höhere Schmelztemperatur, keine Wasserlöslichkeit, auch keine Verbreitung in der Luft.
Und es kommt als Sicherheitsmoment im Grunde auch noch folgendes hinzu: Das Plutonium 238 hat eine relativ geringe Halbwertszeit gegenüber Plutonium 239,
({3})
nämlich von ungefähr 88 Jahren. Das Plutonium 239, das ja weitaus gefährlicher ist, hat eben eine Halbwertszeit von 24 000 Jahren.
({4})
Also, auch das ist ein Sicherheitsgesichtspunkt. Und: Das Plutonium 238 ist hinsichtlich der gesamten Menge ein Bruchteil der Menge des Plutoniums 239.
Daraus folgt doch, meine Damen und Herren, daß das Hauptkriterium für eine schadlose Nutzung von Radionuklidbatterien mit Plutonium 238 nicht das Plutonium 238 ist, sondern die äußeren Sicherheitsmaßnahmen. Das sind doch für die Nutzung die entscheidenden Kriterien. Sie haben sich - so kann man jedenfalls derzeit sagen - bis jetzt bewährt.
Es ist ja auch nicht so, daß in diesen Batterien etwa Kernspaltungsprozesse stattfinden, die gefährliche andere Isotope freisetzen, sondern es ist ein natürliTimm
cher Wärmezerfall, und die Wärme wird für die Gewinnung von elektrischem Strom genutzt.
({5})
Das sind sogar Prozesse, wie sie - allerdings in geringem Umfang - mit Plutonium 238 auch in der freien Natur vorkommen, durch die intensive kosmische Strahlung beeinflußt.
Von einer Gefahr der Verseuchung der Atmosphäre und der Planetenräume kann meines Erachtens nicht gesprochen werden. Wollte man das in den Vordergrund stellen, meine Damen und Herren, dann wäre natürlich die grundsätzliche Frage - ich glaube, Frau Wollny hat das vorhin schon angesprochen - der direkten körperlichen Erforschung von anderen Planeten mit irdischen Materialien zu stellen. Ich halte diesen Einwand nicht für real.
Es gibt den Forscherdrang des Menschen. Das ist zweifellos richtig.
({6})
Ich kann auch nicht erkennen, daß man Menschen davon abbringen kann, diese Forschung zu betreiben. Es ist Grundlagenforschung. Wenn wir vorher alles wüßten, brauchten wir überhaupt keine Forschung mehr zu betreiben.
Ich möchte in Abwandlung eines Wortes von Galileo Galilei sagen, daß man feststellen muß: Und es bewegt sich trotzdem.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Ganseforth.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Wir können erleichtert sein: Alles ist gutgegangen. Das ist jedoch nicht selbstverständlich. Viele Ereignisse der letzten Jahre haben auf schreckliche Weise klargemacht - dazu gehört auch das Challenger-Unglück - , daß es keine absolute Sicherheit gibt. Die Wahrscheinlichkeitsrechnungen sind so gut und so schlecht wie die Annahmen und Randbedingungen, die ihnen zugrunde liegen und mit denen die Rechnungen gefüttert werden.
Bundesforschungsminister Riesenhuber hat in seiner Presseerklärung vor dem Start der Jupitersonde zu den Radionuklidbatterien ({0}) gesagt - jetzt kommt das Zitat -: „Für die Genehmigung der RTGs, die bereits mehr als zehn Missionen erfolgreich geflogen sind, gibt es in den USA ein strenges Verfahren, welches alle denkbaren Fehlerszenarios untersucht. "
Damit soll das Thema der hochgiftigen Plutoniumbatterien abgehandelt sein. Dann fügte er noch beruhigend hinzu, daß es sich nicht um Kernspaltung handelt, sondern um den natürlichen Zerfall des Plutoniums. Das erweckt aber den Eindruck der Verharmlosung und der Beschwichtigung. Das wird dem Problem nicht gerecht.
({1})
22 kg hochgiftiges Plutoniumdioxid 238, von dem bereits geringe Mengen tödlich sind und Mengen in der Größenordnung von Milligramm Lungenkrebs hervorrufen, dürfen nicht verharmlost werden. Auch das Risiko, über das Herr Riesenhuber hier geprochen hat, geht in die Richtung der Verharmlosung.
Wir wissen, daß drei von den USA zur Stromversorgung von Raumfahrzeugen eingesetzte Plutoniumbatterien auf die Erde zurückgestürzt sind.
({2})
Zwei landeten im Meer, eine barst und verseuchte die Atmosphäre mit Plutonium.
Das ist nur der Anteil der USA. Wir wissen beispielsweise aber nicht, was auf seiten der UdSSR passiert ist. In diesem Fall sind wir - wie so oft - von besorgten und sensibilisierten Bürgerinnen und Bürgern auf diese Gefahren aufmerksam gemacht worden.
Ich muß kritisch anmerken, daß viele Entwicklungen, die zu mehr Sicherheit geführt haben, leider nicht von den Verantwortlichen und von den Wissenschaftlern, also von innen her gekommen sind, sondern entweder dadurch, daß eine Katastrophe oder eine Beinahe-Katastrophe geschah, oder dadurch, daß kritische Menchen gewarnt und Widerstand geleistet haben. Wir müssen also dankbar sein, wenn wir auf solche Gefahren aufmerksam gemacht werden; denn die Wissenschaftler selber, die an den Systemen arbeiten, leisten das nur in den seltensten Fällen.
({3})
Wenn sie es tun, werden sie zu Außenseitern gestempelt. Wir haben das oft genug erlebt.
Die Planetensonde „Galileo" ist ein System hoher Präzision und von hervorragender wissenschaftlicher Bedeutung. Aber die Akzeptanz der Weltraumforschung, die ja einen großen finanziellen Einsatz verlangt, in der Bevölkerung darf nicht durch unverantwortliche Risiken aufs Spiel gesetzt werden.
({4})
Die Wissenschaftler haben mit ihrer Leistungsfähigkeit bei diesem Projekt viele Probleme gelöst und bewältigt, besonders auch nach dem Challenger-Unglück. Ich kann nicht glauben, daß die gefahrlose Energieversorgung das einzige Problem ist, das nicht gelöst werden kann.
Weltraumforschung ist eine ehrgeizige und wichtige Grundlagenforschung, die wir bejahen, aber nicht um jeden Preis. Der Preis der Gefahr der radioaktiven Verseuchung der Erdoberfläche durch Plutonium nach einem Unglücksfall ist zu groß, selbst wenn uns die NASA-Ingenieure sagen, das sei unwahrscheinlich, oder wenn der Forschungsminister meint, alle denkbaren Fehlerszenarios seien untersucht.
Es geht nicht um die Verseuchung des Jupiter - wie Herr Seesing meint - , sondern es geht um die Verseuchung auf der Erde. Diesmal ist alles gutgegangen. Aber das Risiko dürfen wir nicht wieder eingehen.
Frau Ganseforth Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Rüttgers.
({0})
Ich freue mich, lieber Kollege Vosen, daß ich Gelegenheit habe, zu Ihrer wirklich epochemachenden Rede heute morgen kurz Stellung zu nehmen. Sie haben sich hier hingestellt und gesagt: Jawohl, wir haben ein Problem; wir müssen über Risiken nachdenken, und Forschung geht nur dann, wenn Sie ohne Risiko abläuft. Für diese Erkenntnis schlage ich Sie zum Nobelpreis vor. Sie sind der erste Mensch, der es geschafft hat, Forschung ohne Risiko überhaupt anzudenken.
({0})
Jeder weiß, daß Forschung etwas ist, was sich mit Unbekanntem beschäftigt und insofern immer risikobehaftet ist.
({1})
Ein Risiko, das gegen Null geht - das will ich allerdings auch auf der anderen Seite sagen -, ist natürlich nicht gleich Null. Niemand kann mit letzter Sicherheit einen Unfall ausschließen, so unwahrscheinlich das auch sein mag.
({2})
Allerdings gibt es, lieber Kollege Fischer, zur Zeit zum Einsatz der Isotopenbatterie keine technisch nutzbare Alternative.
({3})
Die Entfernung zur Sonne ist einfach zu groß, um Solarzellen noch sinnvoll einzusetzen.
Herr Daniels, wenn Sie über regenerative Energiequellen sprechen, sollten Sie vielleicht auch dazusagen, daß der Forschungsminister der Bundesrepublik Deutschland derjenige ist, der die meisten Mittel für die Erforschung der regenerativen Energiequellen weltweit einsetzt.
({4})
- Daß Sie das aufregt, verstehe ich.
Die Lösung ist nämlich nicht, wie Sie sagen, der Verzicht auf interplanetarische Forschung. Es ist zwar richtig, daß diese Forschung für das physische Überleben der Menschheit nicht unmittelbar notwendig ist. Aber diese Forschung gefährdet die Menschheit auch nicht. Die Galileo-Mission und auch das UlyssesProjekt bieten den Wissenschaftlern - ich finde, das ist eine faszinierende Angelegenheit - die Chance,
neue Erkenntnisse über die Entstehung, die Struktur und die Zukunft des Universums zu gewinnen.
({5})
Das elementare Interesse vieler Menschen an diesem kulturellen Nutzen der Raumfahrt läßt sich ja auch an einer Vielzahl von Beispielen belegen, angefangen bei Stephen Hawkings Buch „Eine kurze Geschichte der Zeit" bis zu der Aufmerksamkeit, die die Giotto-Mission zum Kometen Halley gefunden hat.
In einer hochkomplexen Gesellschaft ist es nun einmal so, daß es nicht um Risikovermeidung, sondern immer auch um Risikoabwägung geht. Das ist das Kennzeichen unserer Gesellschaft. Das gilt für das tägliche Leben genauso wie für den Umgang mit Hochtechnologien. Es geht eben nicht um das völlige Ausschalten von Risiken - was Sie ja zu suggerieren versuchen nach dem Motto: Wenn ich damit nicht einverstanden bin, dann lassen wir halt die Forschung, dann findet eben nichts statt - , sondern es geht darum, die Risiken so gering wie möglich zu halten.
In diesem Zusammenhang geht es dann allerdings auch darum, darüber zu diskutieren und nachzudenken, was eigentlich der Verzicht auf bestimmte Technologien für die Menschheit, für unsere Gesellschaft, für unser Land bedeutet. Da sind zwei Gesichtspunkte wichtig.
Der erste: Natürlich brauchen wir offene Informationen und Transparenz der Entscheidungsstrukturen; denn sie sind die beste Vorbeugung gegen Legendenbildung und Horrorszenarien. Nebenbei gesagt: Das dient auch der Glaubwürdigkeit von Experten und von Politikern. Das kann man heute morgen dem einen oder anderen hier sicherlich nur empfehlen.
Der zweite Gesichtspunkt: Der Blick auf eine bestimmte tatsächliche oder vermeintliche Gefahr darf eben nicht den Blick auf den Gesamtzusammenhang verdecken. Das geht nämlich nicht so wie bei den Pawlowschen Hunden: daß man das Nachdenken breits reflexartig einstellt, wenn von etwas die Rede ist, was auch nur im weitesten Sinne mit Kernenergie zu tun hat.
Heute morgen ist hier viel von Verantwortung gegenüber nachkommenden Generationen die Rede gewesen. Dies bedeutet auch, technische Optionen offenzuhalten; denn wir und auch spätere Generationen könnten es einmal sehr bedauern, wenn wir mit politischen oder ideologischen Denkverboten bestimmte Technologien in der Energieversorgung oder wissenschaftliche Forschung blockieren und dann keine Alternativen mehr haben.
({6})
- Das wollen Sie, Kollege Vosen, wenn Sie sich hier hinstellen und sagen: Ich trete für eine Forschung ohne Risiko ein.
({7})
Vielen Dank.
({8})
Darf ich mir eine Bemerkung erlauben, meine Damen und Herren: Wir überlegen immer, wie aktuell diese Stunden sein sollen und wie wir sie möglichst kurz und knapp halten können. Es stehen nun noch zwei CDU-Redner sowie ein SPD-Redner auf der Liste. Ich möchte einmal sagen: Wiederholungen bei der Argumentation sind nicht unbedingt nötig. Es steht mir eigentlich nicht zu, das zu sagen. Aber es wäre im Zusammenhang mit der Parlamentsreform ganz gut, auch einmal darüber nachzudenken, ob man die Redezeit bis zum letzten ausnutzt. - Danke, Herr Lenzer, Sie haben gerade Ihre Wortmeldung zurückgezogen. Das ist sehr liebenswürdig.
Dann hat der Abgeordnete Seidenthal das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich werde Ihr Angebot annehmen und mich sehr kurzhalten.
({0})
- Ich werde von meinem Redemanuskript ein bißchen abweichen.
Es ist hier heute morgen von der wissenschaftlichen Gläubigkeit gesprochen worden. Als Techniker, als Ingenieur einer jüngeren Generation hätte ich gern das Vertrauen, das jeder Berufsgruppe entgegengebracht wird, wenn es nun auch Beamte oder Landwirte sind. Wir Techniker und Wissenschaftler möchten dieses Vertrauen. Ich bin mir schon bewußt, was ich mache, und ich hoffe, daß diese Berufsgruppe das Vertrauen einmal bekommt.
({1})
Herr Rüttgers, Sie haben hier von einer Faszination gesprochen. Ich hatte den Eindruck, Sie selbst sind eine Faszination.
({2})
Herr Minister, Sie haben Ihren Beitrag so gestaltet, daß ich gemeint habe, Sie seien an Bord der „Atlantis".
Lassen Sie mich kurz zur Vorgeschichte kommen und zur Versachlichung dieses Themas beitragen: Das mit 1,4 Milliarden Dollar - fast 3 Milliarden DM - teuerste Projekt der interplanetarischen Forschung der USA sollte bereits vor sieben Jahren gestartet werden und ist aus verschiedenen ernstzunehmenden Gründen schon mehrfach verschoben worden. Daß sich Techniker Gedanken machen, liegt daran, daß es eben solange gedauert hat.
Die Bundesrepublik Deutschland ist an diesem Projekt mit 95 Millionen DM beteiligt. Ich möchte noch einmal in Erinnerung rufen: An Bord befinden sich zwei von bundesdeutschen Wissenschaftlern verantwortete Experimentierinstrumente, und fünf weitere wissenschaftliche Experimente sind von der Bundesrepublik gestaltet. Zusätzlich ist das gesamte Antriebssystem der Galileo-Sonde von einem deutschen Raumfahrtunternehmen entwickelt und gebaut worden. - Soweit zur bundesdeutschen Beteiligung.
Nach dem jetzt erfolgten Start soll „Galileo" auf der Reise zum Jupiter einer Bahn folgen - da kommt die Grundlagenforschung zum Tragen - , die die Sonde
einmal an der Venus und zweimal an der Erde vorbeiführen wird. Jupiter wird 1995 erreicht.
Nach Beendigung der Aufgaben wird die Sonde neben vielen anderen Meßdaten ca. 50 000 Bilder übermittelt haben, so daß wir auf Grund dieser Informationen unser Wissen und Verständnis über das Sonnensystem vergrößern können.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Hans Matthöfer ist hier schon mehrmals genannt worden. Wir Sozialdemokraten haben in unserem Antrag „Weltraumpolitik der Bundesrepublik" eindeutig unsere Vorstellungen beschrieben. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit unseres Landes hängt entscheidend davon ab, welche forschungs- und industriepolitischen Konzepte und Initiativen wir haben. Dazu gehört nach unserer Auffassung auch die Weltraumpolitik.
Wir haben die Fortsetzung der Projekte der Grundlagenforschung im Weltraum, der Erdbeobachtung und der Erderkundung, Projekte an Bord des Spacelab - die sogenannte D-2-Mission - sowie der Telekommunikation im bisherigen Umfang gefordert. Die Bundesrepublik Deutschland hat auf dem Gebiet der Weltraumtechnik und der Weltraumforschung seit 1972 durch sozialdemokratische Forschungsminister eine erfolgreiche Politik betrieben.
Diese Politik hat dazu geführt, daß die zivilen Zwekken gewidmete Weltraumforschung unser Wissen über die Entstehung des Universums und des Sonnensystems und auf vielen anderen Gebieten der Grundlagenforschung in diesen 30 Jahren entscheidend bereichert hat.
Lassen Sie mich ein Weiteres anmerken. Diese Politik brachte uns wichtige Fortschritte, u. a. durch die weltweite Wetterbeobachtung und Erderkundung mittels Satelliten, durch die erdumspannenden Fernmelde-, Rundfunk- und Fernsehsatellitensysteme und durch die verbesserte Luft- und Seeverkehrsnavigation mit der sich abzeichnenden ständigen Erreichbarkeit aller Flugzeuge und Handelsschiffe.
Lassen Sie mich zum Schluß anmerken, daß durch die Weltraumfahrt mit Menschen an Bord der nächste Schritt zur zivilen Nutzung eingeleitet wurde. Auch hier werden wir viele Erkenntnisse gewinnen.
({3})
- Herr Daniels, wenn wir diese Aktuelle Stunde aus einem aktuellen Anlaß durchgeführt hätten, wäre es zu einer vernünftigen Zusammenarbeit gekommen. Das sollten Sie sich auch einmal in Ihre Manuskripte schreiben: daß Sie hier eigentlich nur eine Politik für die Presse und die Tribüne machen.
Lassen Sie mich noch eines anmerken. Die „Welt" hatte folgenden Aufmacher: „Galileos Zickzack-Kurs quer durchs Sonnensystem". Diesen Zickzack-Kurs sollten Sie verlassen, Herr Daniels. Wir sollten gemeinsam einen Weg gehen und eine Politik betreiben, die an den Sorgen und Nöten der Bürger unseres Landes orientiert sind.
Ich danke Ihnen.
({4})
Der letzte Redner ist, wenn ich es richtig verstanden habe, Herr Jäger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine Kollegen von der CDU/CSU und von der FDP haben mit einer geradezu minuziösen Detailgenauigkeit dargelegt, daß dieses Projekt ungefährlich, tragbar, verantwortbar und für die Grundlagenforschung notwendig ist. Dem kann ich mich in vollem Umfang anschließen. Ich möchte mich für diese außergewöhnlich sachliche Information, die uns insbesondere der Bundesminister Riesenhuber gegeben hat, ausdrücklich bedanken.
({0})
Was mich hier beschäftigt, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist die Frage, weshalb wir uns eigentlich auf Antrag der linksradikalen GRÜNEN
({1})
mit einer solchen Aktuellen Stunde befassen müssen. Die Frage ist: Weshalb machen die Linksradikalen zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde? Dafür gibt es drei Gründe.
Der erste Grund: Ihre Antinuklearbesessenheit treibt inzwischen seltsame Blüten. Jetzt bekämpfen Sie nicht mehr bloß die Kernspaltung, sondern schon den ganz natürlichen Zerfall. Um ein bißchen ironisch zu werden: Ich habe den Eindruck, daß die Zerfallsprozesse in Ihrer eigenen Fraktion und die Unruhen, die da ausgebrochen sind, ein bißchen zu Ihrer Allergie gegen Zerfallsprozesse beigetragen haben. Vielleicht ist das eine Teilerklärung für Ihren Antrag hier.
({2})
Das zweite - und das muß schon ernster genommen werden - : In letzter Zeit häuft sich die Behinderung der sachlichen Parlamentsarbeit durch nutzlose, sinnlose, ja manchmal Nonsens-Anträge und -Initiativen aus Ihren Reihen,
({3})
die wirklich nur Schaueffekte bewirken sollen, wie mein Vorredner zu Recht hier bemerkt hat.
Ich will einmal darauf hinweisen, daß allein der Papierverbrauch, den Sie mit Ihren vielfältigen Nonsens-Initiativen hier in diesem Haus verursachen,
({4})
ganze Wälder umholzt.
({5})
Wenn ich allein an die letzten Haushaltsberatungen im Forschungsausschuß denke,
({6})
wo Ihr Kollege Briefs mit zentimeterdicken Antragspapieren in den Ausschuß kam,
({7})
von denen jedes bald einen halben Baum in Anspruch genommen hat, den man dafür umholzen mußte, dann kann ich nur sagen: Das ist der spezifische Beitrag der GRÜNEN zur Umweltpolitik, daß sie diesen Deutschen Bundestag mit einer wäldermordenden Papierflut überschwemmen. Auch das muß hier einmal gesagt werden.
({8})
Das dritte aber: Sie wollen Panikstimmung in die Öffentlichkeit tragen zum Thema Forschung und zum Thema Weltraumforschung ganz speziell. In der Tat geht es um die Akzeptanz in der Bevölkerung, aber solche Akzeptanz kann man auch durch Initiativen, wie sie die GRÜNEN hier vortragen, kaputtmachen, und ich habe den Eindruck, genau das ist Ihr Ziel.
Wenn es, meine Damen und Herren, hier überhaupt eine Verseuchungsgefahr gibt, dann ist es die Verseuchung der Öffentlichkeit mit derartigen Brunnenvergiftungen, wie Sie sie gegen die Weltraumforschung und die Weltraumsonde speziell, die hier zur Debatte steht, vortragen. Diese Art, das Parlament mit unsinnigen Initiativen zu beschäftigen und zu einem Instrument zu machen, um die Öffentlichkeit gegen notwendige Forschung aufzubringen, kann man gar nicht scharf genug geißeln.
Unser Trost besteht darin: Der Galileo wird den Jupiter nicht verseuchen, Ihnen wird es nicht gelingen, die öffentliche Meinung zur Grundlagenforschung zu verseuchen. Lassen Sie mich schließen mit einem Wort an unsere sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen: Wer zusammengeht mit GRÜNEN, muß für seine Sünden sühnen.
({9})
Mit diesem aktuellen Beitrag ist auch die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 18 auf: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Reform des Jugendgerichtsverfahrens - Drucksache 11/4892 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. Gibt es gegen diese eine Stunde Widerspruch? - Leider nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Dr. Däubler-Gmelin.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es kommt nicht häufig vor und ist schon deshalb bemerkenswert, daß der Bundestag und der Bundesrat am gleichen Tag über ein und denselben Problemkreis diskutieren, und zwar an
Hand von unterschiedlichen Initiativen. Heute tun wir das im Zusammenhang mit der Behandlung der Jugendstrafrechtspflege, mit dem Jugendgerichtsgesetz, und ich begrüße das, trotz - da stimme ich Ihnen ganz herzlich zu - der fortgeschrittenen Zeit. Aber, Frau Präsidentin, es liegt nicht an denen, die sich hier um Jugendliche und Jugendstrafrechtspflege bemühen, den Zeitpunkt solcher Debatten festzulegen; sonst wäre das bestimmt früher geschehen.
Ich glaube, wir sollten festhalten, daß Bundestag und Bundesrat gleichermaßen ernst nehmen, daß hier Veränderungen notwendig sind und daß wir auch fragen müssen, ob wir vernünftig genug mit unseren Jugendlichen umgehen, gerade mit denen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind. Ich denke, wir müssen fragen, ob wir die vorhandenen und die denkbaren staatlichen Mittel vom Erziehungsbereich bis hinein in den Bereich der Maßnahmen im Rahmen der Strafrechtspflege eigentlich sinnvoll genug, richtig und mit rechtsstaatlich geschultem Augenmaß einsetzen, um Gesetzesverstöße zu verhindern, die 14- und 15jährigen Kinder, die Jugendlichen und später dann die Heranwachsenden von weiteren Verstößen und Konflikten abzuhalten, um ihnen ein gesetzestreues Leben zu ermöglichen.
Meine Damen und Herren, wer sich mit diesen Fragen näher befaßt, wer mit den Praktikern redet, in den Erziehungsheimen, in den Strafanstalten, bei Gerichten, in Jugendbehörden, bei Sozialbehörden, mit Verteidigern, mit Sozialarbeiterinnen oder Sozialarbeitern diskutiert, der weiß ganz genau, daß wir relativ ernüchtert feststellen müssen: Unser Normenbestand ist wieder einmal weit, meilenweit hinter dem zurück, was heute eigentlich notwendig wäre. Wer dann noch darüber hinausgeht - das sollten wir Abgeordnete uns auch zur Pflicht machen - und zur Kenntnis nimmt, was uns viele engagierte Wissenschaftler hier für diesen Bereich an neuen Erkenntnissen vorlegen, der sieht diesen Eindruck bestätigt.
({0})
Nur ergibt sich daraus, daß der Handlungsbedarf schon länger besteht, und noch viel größer ist, als wir ihn bisher angenommen haben.
({1})
- Ganz herzlichen Dank. Es ist so; leider habe ich recht.
Auch die Praxis ist uns weit voraus. Sie hat in den letzten Jahren mit ambulanten Maßnahmen, wie Betreuungsweisungen, sozialen Trainingskursen, Arbeitsweisungen oder aber dem schon weitgehend praktizierten Täter-Opfer-Ausgleich, die erzieherischen Möglichkeiten des Jugendgerichtsgesetzes zu Lasten der stationären Maßnahmen längst erweitert.
Lassen Sie mich auf die Wissenschaftler zurückkommen. Die haben nicht nur interessante Grundfragen aufgegriffen oder Detailfragen geklärt, nein, die haben heute an Hand von langjährigen empirischen Untersuchungen nachgewiesen, daß solche Maßnahmen auch für den Geldbeutel interessant sind. Sie sind auch unter diesem Gesichtspunkt effizient. „Weniger
Haft zahlt sich aus", „die Abrüstung des Jugendstrafrechts vermeidet oft Rückfälle", so lauten, zwar etwas reißerisch formuliert, aber zutreffend Zeitungsüberschriften, die deutlich machen, worum es auch geht. Die Abrüstung des Jugendstrafrechts spart nach den Berechnungen etwa des Vorsitzenden der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen, Professor Pfeiffer aus Hannover, mindestens 170 Millionen DM im Jahr ein.
({2})
Bei der Eröffnung des 21. Jugendgerichtstags in Göttingen vor zwei Wochen erklärte er, der Verzicht auf Haftstrafen sei deshalb möglich geworden, weil es mittlerweile eine ganze Menge Projekte von unten gebe, die Haftvermeidung möglich machten. Er führte aus, die größere Milde habe eben nicht die Abschrekkungswirkung des Strafrechts vermindert, sondern bringe eher günstige Resultate. Empirisch klar sei, daß es bei jugendlichen Tätern, die einmal im Jugendarrest gesessen hätten, eine höhere Rückfallquote gebe, während die niedrigsten Rückfallquoten dort zu beobachten seien - er nannte ausdrücklich Essen oder beispielsweise auch Köln - , wo Staatsanwälte, die sich das überlegen, Verfahren öfter einmal einstellten und wo Richter mildere Strafen aussprächen.
Meine Damen und Herren, einige von uns waren in Göttingen; ich kann nicht gerade sagen: die Mehrzahl der hier Anwesenden, aber es war aber doch eine beachtliche Anzahl. Die Frau Bundestagspräsidentin, Frau Professor Süssmuth, hat dort ein beachtliches und auch viel beachtetes Referat gehalten. Sie hat besonders an die Verantwortung der Gesellschaft für jugendliche Straftäter erinnert. Die Beratungen auf diesem Kongreß haben bestätigt, daß dort, wo bereits jetzt in dem erwünschten Umfang von informellen Erledigungen und ambulanten erzieherisch wirksamen Maßnahmen Gebrauch gemacht wird, Untersuchungshaft, Arrest und Jugendstrafen zurückgegangen sind, ohne - ich betone das - daß damit ein Anstieg der Kriminalitätsbelastung verbunden ist. Hinzu kommt - auch das war ein Ergebnis - , daß der Einsatz von informellen Erledigungsformen wie auch von ambulanten Maßnahmen mit einer besseren Legalbewährung verbunden ist.
Mit diesen Ergebnissen hat die Kriminalpolitik von unten mit ihren inneren Reformen bewiesen, daß der Weg fortgesetzt werden kann. Die Verlagerung, die wir ausdrücklich wollen, schwächt die Rechtstreue der jungen Leute nicht etwa, sondern sie stärkt sie. Ich denke, davon sollten wir auch hier im Deutschen Bundestag ausgehen, weil das ja von niemandem mehr im Prinzip bestritten wird. Nur mit den Konsequenzen hapert es; die Bundesregierung ist am Zuge.
Was haben wir von der Bundesregierung gehört? Im Dezember 1986 oder im August 1988 war zu hören: Jawohl, es ist richtig, das Jugendgerichtsgesetz von 1953 muß geändert werden, es muß an die Ergebnisse neuer kriminologischer Forschungen und unsere heutigen sozialpädagogischen Möglichkeiten angeglichen werden. Auch wir haben das so gesehen, und wir unterstreichen das heute. 1953 gab es zwar eine Neuformulierung des Gesetzes. Sie war dringend erfor12742
derlich gewesen, weil die Nazis bekanntlich Anfang der 40er Jahre das, man kann schon sagen: vorbildliche, seiner Zeit weit vorauseilende Jugendgerichtsgesetz von 1923 auf ihr typisches NS-Denken umgepolt und auch mit ihrer pervertierten Sprache versehen hatten. Das wollte man 1953 nicht mehr haben, das hat man 1953 geändert und die offenkundigsten Relikte der NS-Vergangenheit herausgenommen. Aber, meine Damen und Herren, einiges hat man nicht herausgenommen, und das gilt bis heute.
Der erste Punkt, der mir wichtig ist, weil er auch jetzt wieder kommt, ist die verhängnisvolle Vermischung von Erziehung und Strafe im konzeptionellen Ansatz.
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Die Ideologie also, Erziehung sei durch strafrechtliche Sanktionen möglich, diese Verzerrung des Erziehungsgedankens ins Autoritäre, all das blieb im Gesetz, leider bis heute. Ich sage im 40. Jahr unseres Grundgesetzes mit besonders großem Nachdruck: Man muß sich entscheiden, was man will: erziehen oder strafen. Dabei ist klar, daß Strafe manchmal sein muß und dann auch und gerade bei Jugendlichen nach erzieherischen Grundsätzen ausgestaltet werden muß. Die ideologisch verbrämte Vermischung geht aber nicht.
Es gibt noch ein anderes, was im Gesetz geblieben ist und was heraus muß. Das ist der gummiartige, der dehnbare, eigentlich überhaupt nicht bestimmbare Begriff der sogenannten schädlichen Neigungen.
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Er bildet heute das Einfallstor einer zur Erziehung verhängten Jugendstrafe, stammt ebenfalls aus der NS-Ideologie von 1943 und muß gestrichen werden;
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übrigens schon deshalb, weil er - man muß sich das einmal vorstellen - einem Jugendlichen ein besonders ärgerliches, ja schädliches Etikett aufdrückt. Schädliche Neigungen, was heißt das eigentlich? Das spricht doch diesem Jugendlichen von Anfang an jede Veränderungsperspektive und jede Veränderungsmöglichkeit ab.
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Diese Abstempelung - völlig richtig - muß raus aus dem Gesetz; darauf bestehen wir. In einem sozialpädagogisch und rechtsstaatlich ausgerichteten Gesetz hat das nichts mehr zu suchen.
Übrigens wäre es ganz gut, das auch deswegen zu tun - Sie sehen, ich spreche aus ganz pragmatischen Gründen - , weil damit der Widerspruch, der derzeit nur unter Verrenkungen und nur verbal aufzulösen ist, zwischen der Annahme schädlicher Neigungen als Voraussetzung für die Verhängung von Jugendstrafe und den Anwendungsvoraussetzungen der Strafaussetzung zur Bewährung aufgelöst werden könnte, und zwar endgültig.
Sie wissen nun alle auch, daß es Versuche gegeben hat, solche grundlegenden Veränderungen schon früher zu machen. Das ist gescheitert. In den 70er Jahren ist es gescheitert, als man versucht hat, einige Punkte
im Zusammenhang mit dem sehr grundsätzlichen Ansatz des Jugendhilferechtes aufzugreifen. Dann hat es bis 1982, 1983 gedauert, bis der Herr Justizminister - im Frühjahr 1983 - einen Referentenentwurf hat vorlegen können. Dabei hat er sich auf die Vorarbeiten seines Vorgängers, auf den Arbeitsentwurf 1982 stützen können.
Das ist nun interessant, Herr Kollege Jahn, weil dieser Arbeitsentwurf aus dem Jahre 1982 einen der Punkte, um die es uns geht, nämlich die Herausnahme des Begriffs der „schädlichen Neigungen" , bereits berücksichtigt hatte. Der Entwurf des jetzigen Justizministers aus dem Jahre 1983 sieht dies nicht mehr vor. Man hat im übrigen nichts mehr davon gehört.
Jetzt haben wir - Gott sei Dank, darf ich sagen; der Bundesrat berät heute in erster Lesung, hat, glaube ich, zu diesem Zeitpunkt schon darüber beraten - einen Gesetzentwurf vorliegen. Wenn wir jetzt einmal vergleichen, was darin steht, dann müssen wir feststellen: Da stehen einige vernünftige Dinge drin, aber es gibt auch eine ganze Reihe von Mängeln, auf die wir hinweisen müssen und die wir - das sage ich Ihnen ganz deutlich - zusammen in diesem Hause beheben sollten.
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Wir haben in den letzten zwei Wochen noch eine Menge zusätzlichen Rat bekommen. Ich meine jetzt noch einmal den 21. Jugendgerichtstag. Dort war man sehr fair. Man hat nicht nur unseren Antrag, der schon ein bißchen älter ist als der Gesetzentwurf der Bundesregierung von Ende August, fair beurteilt und gesagt: Jawohl, es ist richtig, daß ihr in diese Richtung geht, sondern man hat auch den Gesetzentwurf der Bundesregierung nicht abgelehnt, hat gesagt: Jawohl, es gibt da einige Schritte; z. B. der Täter-Opfer-Ausgleich, der schon praktiziert wird, wird jetzt gesetzlich abgesichert und noch das eine oder andere, das wir in unserem Antrag auch haben.
Der Entwurf, meine Damen und Herren - und darauf möchte ich jetzt noch eingehen -, enthält aber eine Menge von zentralen Reformanliegen nicht. Auch das wurde in Göttingen festgestellt. Ihr Gesetzentwurf läßt nämlich Vorschläge vermissen, die die Möglichkeit der Anordnung von Untersuchungshaft, Jugendarrest und Jugendstrafe ohne Bewährung nachhaltig einschränken könnten. Das Problem der strafrechtlichen Behandlung Heranwachsender wird überhaupt nicht aufgegriffen, obwohl wir ganz genau wissen, daß heute 18- bis 21jährige häufig noch Jugendlichen gleichzustellen sind; es werden die immer wieder in der Praxis beklagten Defizite bei der Mitwirkung von Verteidigern bei der Jugendgerichtsbarkeit überhaupt nicht aufgegriffen, geschweige denn gelöst, und die unsinnige Trennung zwischen Erziehungsmaßregeln und Zuchtmitteln wird ebenfalls nicht aufgegeben. Statt dessen führt man das noch weiter und führt jetzt auch bei den Zuchtmitteln die Arbeitsleistung ein.
Was ich aber ganz besonders schlimm finde - ich denke, Sie sollten sich das noch einmal überlegen -, ist, daß entgegen dem, was der Justizminister mehrfach in der Öffentlichkeit erklärt hat, weiterhin UnterFrau Dr. Däubler-Gmelin
Buchungshaft und Jugendstrafe gegen 14- und 15jährige Kinder angeordnet werden können.
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Meine Damen und Herren, das sind Kinder, und wir wissen das von unseren eigenen Kindern. Sie sind nur per definitionem Jugendliche im Sinne des Jugendgerichtsgesetzes, und was für deren weiteres Leben kaputtgemacht wird, das wissen wir auch. Darum können wir uns nicht weiter herummogeln.
Ärgerlich finde ich auch, daß man nicht den Mut gehabt hat, die „schädlichen Neigungen" aus dem Gesetzentwurf herauszunehmen. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von der Richtung, in die wir gehen wollen. Wir halten diesen Vorschlag für falsch, für nicht ausreichend und im übrigen für zuwenig mutig.
Ich darf wiederholen: Wir werden uns bemühen - wenn es geht, gemeinsam mit Ihnen - , diese Mängel im einzelnen während des Gesetzgebungsverfahrens wieder zu beseitigen. Natürlich kennen wir die Hintergründe. Daß es Spannungen gegeben hat, ist uns nicht verborgen geblieben. Es gibt unterschiedliche Meinungen, auch unterschiedliche ideologische Ausrichtungen in den Reihen der Regierungskoalition, es gibt aber auch Bremser und Zaghafte. Ich habe natürlich mit großem Vergnügen die Presseerklärung der Kollegen Wittmann und Seesing gelesen. Darin steht ja nun - ich darf das einmal zitieren - , „nach schwierigen und langjährigen Verhandlungen habe man sich in den Koalitionsfraktionen auf diesen Gesetzentwurf geeinigt" . Jeder weiß, was das heißt. Hier ist also wieder einmal der kleinste gemeinsame Koalitionsnenner gefunden worden.
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Das ist ja an sich nichts Unanständiges. Allerdings sage ich Ihnen: Man sollte - wir sind gerne dazu bereit - ein bißchen konsequenter vorwärtsgehen. Das liegt gerade im Interesse der jungen Leute, um die wir uns kümmern müssen und für die wir auch Verantwortung tragen.
Übrigens fordern nicht nur wir das. Ich habe schon darauf verwiesen, daß sich der Bundesrat heute mit dieser Materie befaßt. Ich finde es außerordentlich gut, daß der Bundesrat in einigen Punkten über das hinausgehen will oder in diesen Minuten schon hinausgegangen ist, was in diesem Gesetzentwurf vorgeschlagen wird. Er befindet sich damit in Übereinstimmung mit ganz zentralen Punkten unseres Antrages. Ich finde das ganz besonders bemerkenswert, weil die Länder in der Tat die Hauptlast der Organisation und auch der Finanzierung zu tragen haben.
Es geht um dreierlei. Erstens hat der Bundesrat den Begriff der schädlichen Neigungen problematisiert. In der Tat, dieser Begriff muß eliminiert werden. Das habe ich schon zweimal gesagt.
Zweitens geht es um das Verhältnis der Erziehungsmaßregeln zu den Zuchtmitteln.
Es geht drittens um die grundsätzliche Abschaffung von Freizeit- und Kurzarrest.
Ich hätte gerne noch mehr erreicht - das wissen Sie -, aber ich denke, in diesen drei Punkten müssen Sie sich auf jeden Fall bewegen. Dann nämlich fühlen sich auch die Praktiker und die Wissenschaftler, die uns in den letzten Jahren so hilfreich zur Seite standen, von uns nicht immer nur entmutigt, sondern sie fühlen, daß sie wirklich ernst genommen werden.
Wir schlagen weiter vor, auch bei der Ausbildung, bei der Fortbildung und bei der Festigung der Stellung von Jugendstaatsanwälten und Jugendrichtern erheblich mehr zu tun. Wir werden in den Beratungen auch dazu einige Anträge vorlegen.
Übrigens, die Göttinger Beratungen haben uns auch davon überzeugt, daß wir in engem Kontakt mit den Praktikern das eine oder andere verbessern können. Wir haben z. B. - entsprechend dem Ergebnis der Jugendgerichtstagung - die Begrenzung im Zusammenhang mit der von uns vorgeschlagenen Möglichkeit, auch die Vollstreckung einer Jugendstrafe bis zu drei Jahren zur Bewährung auszusetzen, fallengelassen. Wir haben uns überzeugen lassen, daß der österreichische Weg für die jungen Leute erfolgversprechender ist, und wir werden diese Erkenntnisse im weiteren Beratungsgang berücksichtigen, und zwar aus dem Grunde, weil die Österreicher gute Erfahrungen mit ihrem Modell gemacht haben.
Lassen Sie mich noch eines sagen. Wir hören immer wieder, die Kassen seien leer, das alles koste viel Geld, und niemand sei bereit, jetzt die notwendigen Investitionen vorzunehmen. Da die Kosten im wesentlichen von Ländern und Gemeinden zu tragen sind, ist das natürlich ein gewichtiges Argument. Lassen Sie mich dem jedoch zwei Dinge entgegenhalten.
Erstens. Ich habe die Berechnungen von Professor Pfeiffer und anderen angeführt. Wir müssen jetzt investieren. Dieses Geld kommt mittelfristig in Form von Ersparnissen um ein Vielfaches wieder herein.
Zweitens. Meine Damen und Herren, wir müssen uns noch etwas genauer der Frage zuwenden: Wo fehlt das Geld? Es ist richtig: Die Gemeinden und die Länder haben heute weniger Geld. Das sage ich jetzt mit Blick auf Sie, mit Blick auf die Kollegen und Kolleginnen von der CDU/CSU und der FDP. Das hat seinen Grund. Dies liegt nämlich in der Sozialpolitik und in der Steuerpolitik begründet, die die Belastungen der Gemeinden und Länder ins Unermeßliche anwachsen ließen. Allein die Sozialhilfehaushalte - das wissen wir alle - hängen wie Mühlsteine am Halse manchen Kämmerers. Ich treffe hier jetzt keine abstrakte Feststellung, sondern dieser Umstand schlägt sich in jedem einzelnen Punkt nieder, den wir hier durchsetzen wollen.
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Ein Beispiel will ich Ihnen nicht ersparen: Es gibt eine Menge sehr erfolgreich arbeitender Projekte für straffällig gewordene Jugendliche, die wir alle - ob wir den Regierungsfraktionen angehören oder ob wir in Opposition zur Regierung stehen - wollen und die wir im Jugendgerichtsgesetz absichern wollen. Aber diese Projekte kämpfen mit drückenden Finanzsorgen. Im Aufbau befindliche neue Projekte werden von
Gemeinden häufig so unzureichend finanziert, daß eine fachgerechte Arbeit kaum mehr möglich ist. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, zu sagen, daß es nicht ausreicht, darauf zu verweisen, daß die Gemeinden die Finanzverantwortung dafür haben. Vielmehr werden wir im Gesetzgebungsverfahren sagen müssen, daß wir auch von seiten des Bundes hierfür Geld auszugeben bereit sind. Ich denke, gerade unsere Verantwortung für die jungen Leute, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, und gerade auch die gesellschaftliche Verantwortung, von der auch die Frau Bundestagspräsidentin geredet hat, erfordern dies.
Ganz herzlichen Dank.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Seesing.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wie gesagt, der Bundesrat behandelt heute den Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes. Ich hoffe, daß wir noch im November hier im Bundestag die erste Lesung durchführen und die Ausschußberatungen beginnen können.
Da ich nicht weiß, wie sich der Bundesrat zu den einzelnen Vorschriften geäußert hat oder noch äußern wird, möchte ich zunächst einmal etwas mehr auf die grundsätzlichen Fragen der Jugendkriminalität und des Fehlverhaltens von Jugendlichen eingehen. Dies kommt ja nun, Frau Däubler-Gmelin, unter der Ziffer II in Ihrem Antrag ebenfalls vor. Das bedeutet eben auch, daß ich nicht zu allen anderen Forderungen des Antrages der SPD hier Stellung nehmen kann und will. Das wird aber bei den Beratungen des Rechtsausschusses sehr ausführlich geschehen.
Immer, wenn wir uns mit dem Schicksal von Menschen auseinandersetzen und uns hiermit befassen müssen, stellt sich mir die Frage, ob ich bei der Beurteilung dieses Menschen oder dieser Menschen gerecht bin. Besonders problematisch wird es ja gerade dann, wenn es um junge Menschen geht. Ich möchte nun auf statistische Bewertungen verzichten, die da z. B. besagen, daß die Hälfte der männlichen Jugendlichen zu irgendeinem Zeitpunkt registriert straffällig geworden sei. Ich meine, daß sich die Strafverfolgung von jugendlichen Tätern auf die wirklich eklatanten Fälle zu beschränken hat.
Damit dieser Kreis möglichst klein gehalten werden kann, hat die Gesellschaft dafür Sorge zu tragen, daß das Lebensumfeld von Kindern und Jugendlichen stimmt. Die Förderung der Familie ist also ein gesamtgesellschaftliches Gebot, das wenig mit Bevölkerungspolitik, aber mit viel Menschenrechten und Menschenwürde zu tun hat.
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Das möglichst intakte Umfeld junger Menschen ist die Voraussetzung dafür, sich auf einen Lebensweg vorzubereiten, der der Familie, dem Umfeld, der Gesellschaft und schließlich auch dem Staat dient.
Wie sich nun der junge Mensch zum richtigen Zeitpunkt aus seiner Familie lösen kann, ist auch ein Ergebnis der Erziehung, die jeder Mensch erfahren muß. Dieser Lösungsprozeß ist es ja, der einen jungen Menschen oft auch zum Widerstand gegen alles führt, was ihm Vorschriften oder Vorgaben machen will, eigentlich machen muß. Er scheint sich auch häufig gegen Vorbilder zu wehren. Aber dennoch greift er gerne danach. Vorbilder sind das, wonach sich sehr viele Menschen, gerade junge Menschen zu richten pflegen. Ich will ganz offen meine Meinung bekennen, daß es sehr stark von den Vorbildern abhängt, in welcher Richtung sich ein junger Mensch entwickeln wird.
Ich folge dem SPD-Antrag, wenn dort gesagt wird, daß das Strafrecht viel zu spät eingreift, wenn man es denn überhaupt als Hilfe verstehen will.
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Wichtiger ist das, was zunächst die Familie zu geben vermag. Das hat nicht nur etwas mit der finanziellen Ausstattung der Familien zu tun, aber ganz sicher auch damit. Deswegen ist es richtig, wenn die Politik hier eine besondere Aufgabe sieht.
Wenn ich aber jetzt an die geistig-seelische Entwicklung der jungen Menschen denke, dann muß es eine ebenso wichtige Aufgabe sein, die Entwicklungsfähigkeit und Erziehungsleistung der Familie zu stärken.
Natürlich darf auch die Rolle der Schule für die Entwicklung der jungen Menschen nicht unterbewertet werden. Es wird mir von vielen Jungen und Mädchen berichtet, die in den Schulen z. B. ihre erste Begegnung mit Drogenverteilern und Drogenhändlern hatten, die hier zum erstenmal auf organisierte Banden trafen. Ich weiß von manchem Betroffenen, daß er, von Abenteuerlust gepackt, glaubte, hier mitmachen zu müssen, und sich nur äußerst schwer aus diesen Kreisen befreien konnte.
Ich plädiere auch auf Grund meiner eigenen schulpraktischen Erfahrung von allerdings nur 27 Jahren dafür, sich mehr Gedanken über überschaubare Bildungseinheiten zu machen. Zumindest die Grundschule sollte so nahe wie möglich beim Elternhaus liegen. Überschaubare Schulgrößen sind Mammutinstituten immer vorzuziehen.
Ich weiß, daß wir die gegenwärtigen Einheiten nicht einfach auflösen können. Ich könnte mir aber denken, daß Lehrer, Schultheoretiker, Facharchitekten, die noch nicht verblendet sind, und Regierungsbeamte, die sich von staatlich verordneter Ideologie lösen können, dazu fähig sind, innerhalb großer Schuleinheiten zu neuen Gliederungen zu kommen. Damit müßte der Wille verbunden sein, den Kindern und Jugendlichen in den Schulen so etwas wie ein zusätzliches Zuhause zu bieten.
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Wenn wir das wollen, müssen wir uns allerdings fragen lassen, ob wir immer die richtige Einstellung zu den Lehrerinnen und Lehrern haben. Wenn sie diese äußerst schwere Phase im Leben der Menschen positiv beeinflussen und gestalten sollen, dann brauchen sie Rückhalt und Anerkennung. Dann ist es mit
20-Stunden-Verträgen und abgesenkter Eingangsbesoldung eben nicht getan.
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In gleicher Weise müßte ich auch auf die Fragen der Jugendhilfe, der Freizeitgestaltung, der Berufsfindung und Berufsausbildung junger Menschen eingehen. Jede Deutsche Mark, die für diese Bereiche ausgegeben wird, verhütet ein finanziell vielfach höheres und dennoch notwendiges Engagement in Strafverfolgung, Strafvollzug, Bewährungshilfe, um nur einiges zu nennen.
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Frau Däubler, es ist nun nicht so, als ob die Länder unter dieser Finanzpolitik nur litten. Das Land Nordrhein-Westfalen hat bekanntgegeben, daß es 12 mehr Einkommensteuereinnahmen in diesem Jahr hat, als bisher angenommen.
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Vielleicht ist es ganz gut, diese Dinge in diesem Zusammenhang auch einmal vorzutragen.
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Trotz vieler Bemühungen gibt es dennoch junge Menschen - damit möchte ich auf das Thema zurückkommen - , die in schwerster Form mit den Gesetzen in Konflikt geraten. Für sie müssen wir nach Wegen suchen, wie sich Sühne und Vorbereitung auf ein neues Leben miteinander verbinden lassen. Ich bin der Auffassung, daß der Jugendrichter eine Fülle von Maßnahmen ergreifen können muß. Da sich mit ganz wenigen Ausnahmen jeder Mensch vom anderen unterscheidet, wird auch jeder straffällig gewordene junge Mensch unterschiedlich auf Maßnahmen der Rechtspflege reagieren. Insofern kommt eine ganz hohe Verantwortung auf Richter und Vollzugsbedienstete zu. Deswegen möchte ich nicht von vornherein sagen, daß bestimmte Maßnahmen ausgeschlossen werden sollten. Auch ich persönlich bin grundsätzlich dagegen, 14- oder 15jährigen Jungen oder auch Mädchen, die straf- oder auffällig geworden sind, in Untersuchungshaft zu halten. Dennoch habe ich die Erfahrung gemacht, daß in Einzelfällen die begrenzte Untersuchungshaft schon ein Stück der Therapie sein kann. Ich sage das hier ganz deutlich.
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- Es gibt wirklich noch vieles zu bedenken. Ich meine, daß wir uns dafür im Rechtsausschuß Zeit nehmen sollten. Ich glaube, es lohnt sich auch für die betroffenen jungen Menschen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Anwesende! Ich finde die Debatte interessant, vor allen Dingen weil in Ihrem Beitrag, Frau Däubler-Gmelin, und in dem von Herrn Seesing zwei
ganz wichtige Bereiche beleuchtet worden sind, bei Ihnen mehr mit dem rechtlichen und bei ihm mit dem sozialen Schwerpunkt. Ich finde es sehr wichtig, daß das heute noch einmal so beleuchtet worden ist.
Im Grunde genommen besteht bei denen, die sich damit befassen, Einigkeit in der Analyse. Ich habe mir noch einmal die Unterlagen angeguckt. Herr Minister Engelhard hat schon am 31. März letzten Jahres gesagt - ich zitiere - :
Jugendkriminalität führt nicht notwendig zur Kriminalität im Erwachsenenalter. Sie ist vielmehr überwiegend Ausdruck jugendlichen Probierverhaltens in einer für Jugendliche schwierigen Umwelt. Gelassenheit, Hilfe und Vermittlung von Chancen sind deshalb die bessere Antwort auf jugendliches Fehlverhalten als Vergeltung, Sühne und Abschreckung.
({0})
Frau Däubler-Gmelin hat das ja mit empirischen Forschungen belegt. Also kann man sagen: Problem erkannt. Frage: Problem gebannt?
Es ist wahr, wir haben jetzt einige Vorlagen. Die von der Regierung eingebrachte Novelle zum Jugendgerichtsgesetz liegt vor. Wir haben sie alle auch schon analysiert. Von den GRÜNEN gibt es aus dem letzten Jahr einen Gesetzentwurf zur U-Haft, in dem dazu auch etwas gesagt ist. Und jetzt kommt Ihr Antrag. Ich finde gut, daß so viele Vorlagen da sind, weil das Problem breit diskutiert und von allen Seiten beleuchtet werden muß.
Ich möchte noch gern auf die Statistik eingehen. Herr Seesing, Sie haben zwar gesagt, das könne man lassen; ich finde es aber wichtig, es zu tun. Ich meine, daß diese Analyse im SPD-Antrag sehr gut geleistet worden ist.
Ich will ein paar Punkte herausgreifen: Auf Seite 3 unten und auf Seite 4 oben sind die wichtigsten Feststellungen getroffen worden. Die SPD hat hier erstens noch einmal ganz klar offengelegt, daß nur 5 % der jungen Menschen, gegen die ein Verfahren eingeleitet wird, und die verurteilt werden, wegen Gewaltkriminalität auffällig geworden sind. Das ist ein wichtiger Punkt. Die allermeisten Fälle sind Bagatelldelikte, die der Herr Minister ja als Ausdruck jugendlichen Probierverhaltens qualifiziert hat.
Der zweite Punkt, den die SPD in ihrem Antrag dankenswerterweise auch noch einmal zum Ausdruck bringt, ist, daß Dunkelfeldforschungen erwiesen haben, daß die allermeisten jungen Menschen in dieser Weise auffällig werden, aber daß diese Auffälligkeiten nicht verfolgt werden und auch ohne Intervention des Gesetzgebers verschwinden. Diese jungen Menschen werden also überhaupt nicht kriminell. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.
Der dritte bedeutende Punkt ist, daß die Rückfallquote bei den jungen Leuten, die „behandelt" worden sind - ich sage das wirklich ironisch - , die Jugendarrest oder Jugendstrafe bekommen haben, extrem hoch ist. Bei 15- bis 20jährigen beträgt sie 92,6 %. Die empirischen Erfahrungen haben umgekehrt gezeigt, daß bei den jungen Menschen, bei denen überhaupt
nichts gemacht wird bzw. wo bei schwereren Delikten ambulante Maßnahmen durchgeführt wurden, die Rückfallquote erheblich geringer war. Die Erfolgsquote war viel höher.
Der vierte Punkt, den Sie auch in Ihrem Antrag ansprechen, ist das Problem der Untersuchungshaft für junge Leute. Ich finde, Frau Dr. Gmelin, Sie haben recht: Es ist unerträglich, daß junge Menschen von 14 bis 17 Jahren, noch halbe Kinder, in U-Haft genommen werden können. Es ist furchtbar, wenn man in ein Gefängnis kommt und diese Milchgesichter sieht. U-Haft für junge Leute muß abgeschafft werden.
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Sie haben zu Recht problematisiert, daß ein großer Teil der jungen Leute, die in U-Haft kommen, hinterher überhaupt nicht zu Haftstrafen verurteilt werden. Allein das spricht dieser Praxis Hohn. Hinzu kommt: Diese junge Menschen werden extrem belastet. Sie sind verzweifelt. Die Selbstmordrate ist überproportional hoch im Vergleich zum übrigen Strafvollzug. Das darf sich eine humanitäre Gesellschaft nicht leisten.
Diese vier wichtigen Bereiche hat die SPD in ihrem Antrag sehr gut analysiert.
Ich bin aber der Meinung, Frau Däubler-Gmelin, daß Sie, obwohl Sie etliche gute Lösungsvorschläge gemacht haben, in einigen Punkten an den Problemen ein Stück weit vorbeigehen, daß die Vorschläge im Kern teilweise halbherzig sind. Ich will das an den vier Punkten festmachen, die ich gerade vorgetragen habe.
Wenn es wirklich so ist, daß die allerwenigsten Taten der Gewaltkriminalität zuzuordnen sind, dann dürften für diese leichten Probierverhaltensdelikte - ich nehme den Ausdruck des Ministers auf - auch keine ambulanten Maßnahmen vorgesehen werden.
Die Verfahren müßten eingestellt werden. Die Bagatelldelikte müssen entkriminalisiert werden. Es ist die Frage, ob man sie nicht in das Ordnungswidrigkeitenrecht übernehmen sollte. Das ist ganz wichtig.
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Das heißt, die Verfahren müßten eingestellt werden, oder es müßte eine Verwarnung ausgesprochen werden.
Der zweite Punkt - das haben Sie schon genannt - : Die Jugendstrafe muß zurückgedrängt werden. Ich stimme mit Ihnen völlig überein: Es darf keine Jugendstrafe unter dem Aspekt der „schädlichen Neigungen" geben. Das ist richtig. Das haben Sie dankenswerterweise klargestellt. Wir sind auch der Meinung, daß die Jugendstrafe für 14- bis 16jährige abgeschafft werden sollte. Bei schweren Delikten sollten die ambulanten Maßnahmen greifen.
Wo die öffentliche Sicherheit wirklich bedroht ist, wo es gar nicht anders geht, sollten nach unserer Meinung diese jungen Leute nach §§ 71 und 72 des Jugendgerichtsgesetzes in Erziehungsheimen untergebracht werden.
Der vierte Punkt betrifft die U-Haft. Wir sind der Meinung, für 14- bis 17jährige darf überhaupt keine U-Haft ausgesprochen werden. Wir sind auch der Meinung, daß die Voraussetzungen für U-Haft generell eingeschränkt werden müssen. Es gibt einen Entwurf betreffend U-Haft von der SPD, und es gibt auch einen Entwurf von uns. Im SPD-Entwurf sind die Voraussetzungen für U-Haft im Erwachsenenbereich teilweise ausgedehnt worden. Das ist ein bißchen widersprüchlich. Ich möchte es in diesem Zusammenhang anmerken.
Der fünfte Punkt, der uns wichtig ist: Die Höchststrafen für die jungen Menschen sind zu senken. Ich beziehe mich auf das, was auf dem Jugendgerichtstag in Göttingen gesagt wurde und auf dem wir beide waren, Frau Däubler-Gmelin. Dort wurde gesagt:
Es geht darum, die Grundsätze von Subsidarität, Verhältnismäßigkeit und Zweckmäßigkeit durchzusetzen.
Das beinhaltet aber, daß auf jeden Fall die ambulanten Maßnahmen nicht zur Ausweitung des Sanktionenkatalogs führen dürfen, sondern eine Sperre gegen eine Ausweitung eingebaut werden muß. Diese Sperre fehlt sowohl im Entwurf der Regierung als auch in Ihrem Antrag. Die SPD müßte darauf achten, daß eine echte Sperre in das JGG eingebaut wird, damit nicht das, was gut gemeint ist, hinterher dazu dient, den Sanktionenkatalog auszudehnen.
Ich denke, daß wir darüber sehr eingehend beraten und im Interesse der jungen Leute ein ordentliches und gutes Konzept erarbeiten sollten.
Danke schön.
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Das Wort hat Herr Abgeordneter Irmer.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dem SPD-Antrag, den wir heute diskutieren, ist in einem wesentlichen Punkt inzwischen entsprochen worden. Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ich möchte aus diesem Grunde heute auf diesen Gesetzentwurf eingehen und dabei einiges von dem aufgreifen, was in der Debatte gesagt worden ist.
Es ist richtig, daß das derzeitige Jugendgerichtsgesetz reformiert werden muß, weil der Grundsatz, daß erzieherische und soziale Maßnahmen in diesem Bereich anzusetzen sind und daß Strafe allenfalls als Ultima ratio in Frage kommt, im geltenden Recht nicht ausreichend verwirklicht ist, obwohl das geltende Recht theoretisch von diesem Gedanken bereits beseelt ist.
Das geltende Recht hat sich in manchen Fällen als Hemmschuh für eine sachgerechte, eine menschliche und eine jugendbezogene Konfliktlösung erwiesen. Dies soll geändert werden. Ich freue mich, daß es über weite Bereiche Einigkeit gibt. Alle sind der Meinung, daß der Erziehungsgedanke dadurch stärker ausgeprägt werden kann, daß man den Katalog der Weisungen in § 10 erweitert, daß man den Betreuungshelfer einführt, soziale Trainingskurse im Gesetz verankert und insbesondere den Täter-Opfer-Ausgleich ins GeIrmer
setz hineinschreibt; denn es ist doch wohl so, daß sich manche Jugendlichen aus Leichtsinn oder Gedankenlosigkeit zunächst gar nicht klarmachen, was die Folgen für die Opfer sind. Wenn man ihnen dies deutlich vor Augen führt und sie sich somit in die Situation des Opfers hineinversetzen können, ist das gewiß eine wirksamere Vorbeugung gegen Wiederholung und Rückfall, als es irgendeine Strafe sein könnte, denn Einsicht ist sicherlich immer besser als Abschrekkung.
Der Jugendrichter bekommt durch diese neuen Instrumente die Möglichkeit an die Hand, flexibler und individueller auf den konkreten Fall einzugehen und dem Jugendlichen die Hilfestellung zu geben, die er braucht, um alle Chancen auf volle Wiedereingliederung und Rehabilitierung nutzen zu können. Ambulante Therapie statt stationärem Vollzug soll durch die Gesetzesänderungen erreicht werden.
Wir sind uns auch darüber einig, daß die verfassungsrechtlich ohnehin problematische Jugendstrafe von unbestimmter Dauer abgeschafft werden soll und daß erweiterte Möglichkeiten zur Strafaussetzung auf Bewährung eingeführt werden müssen. Frau Dr. Däubler-Gmelin hat vorhin gesagt, daß die SPD den Vorschlag, das auch auf die dreijährige Freiheitsstrafe auszudehnen, zurücknimmt. Hierüber könnte man streiten; aber wir haben ja ohnehin noch großen Beratungsbedarf. Wichtig ist, daß in Zukunft Verfahren auch ohne förmliche Reaktion beendet werden können, jedenfalls in größerem Umfang, als das bisher der Fall war.
Ich möchte hier einmal aus der Begründung des Entwurfes zitieren. Dort ist das nämlich sehr schön formuliert. Es spiegelt den Geist wider, von dem sich dank des Bundesjustizministers Hans Engelhard die Autoren des Entwurfes haben leiten lassen. Es heißt hier - Frau Präsidentin, ich zitiere mit Ihrer Genehmigung -:
Für einen nicht unerheblichen Teil der leichteren Jugendkriminalität stellt das abweichende Verhalten junger Menschen eine eher normale Erscheinung dar, die nicht als Symptom einer beginnenden oder möglichen kriminellen Verwahrlosung beurteilt werden und die keinerlei über die Entdeckung der Tat und über den Kontakt mit Polizei, Jugendgerichtshilfe und Staatsanwaltschaft hinausgehende Folgen nach sich ziehen muß. Der Interventionsbedarf erscheint in solchen Fällen wesentlich geringer, als bisher üblicherweise noch angenommen wird.
Dies sind goldene Worte. Wenn man die Formulierungen der Schwerfälligkeit der amtsdeutschen Ausdrucksweise entkleidet, dann heißt das ungefähr folgendes: Lieber Staat, schieße nicht mit Kanonen auf Spatzen. Jugendliche sind nun einmal noch nicht erwachsen und vor allem nicht angepaßt. Es wäre schlimm, wenn es anders wäre.
({0}) Erwachsen zu werden ist nicht leicht,
({1})
über die Stränge zu schlagen ist höchst normal.
Kommt es dabei zu Handlungen, die die Gesellschaft einfach nicht hinnehmen kann, so hüte dich vor Überreaktionen, lieber Staat. Nimm den Jugendlichen bei der Hand und hilf ihm dabei, zu sich selbst und aus Vernunft und Einsicht seinen eigenen Platz in unserer Gesellschaft zu finden. Er ist kein Verbrecher, sondern meist unreif und in jedem Fall hilfsbedürftig. Vor allem, lieber Staat, unterlasse alles, um einen Jugendlichen in dieser Situation durch die Art, wie du ihn behandelst, erst zum Verbrecher zu machen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben heute nicht die Zeit, über alle Punkte zu sprechen. Wir beurteilen den Entwurf der Bundesregierung im wesentlichen positiv. Dies heißt aber nicht, daß er nicht auch einige ganz gravierende Pferdefüße enthält. Der eine Pferdefuß ist hier angesprochen worden: Untersuchungshaft für 14- und 15jährige wird nach wie vor möglich sein. Ich stimme mit allen Vorrednern überein, die dies erwähnt haben: Für eine zivilisierte Gesellschaft ist das angesichts dessen, was ringsrum in der Welt alles an Scheußlichkeiten geschieht, nicht hinnehmbar. Es muß gelten: Kinder gehören nicht in den Knast.
({3})
Ich bedaure, daß die Kollegen, die hierzu anderer Meinung sind, heute der Debatte nicht beiwohnen können. Aber ich appelliere an Sie - Herr Seesing, vielleicht geben Sie das an Herrn Wittmann und andere weiter - : Suchen wir doch gemeinsam eine menschlichere und - das sage ich jetzt auch an Ihre Adresse - christlichere Lösung für das Problem als die, die bisher im Gesetz vorgesehen ist.
Sicher gibt es 14jährige, die gemeingefährlich sind - das kann niemand bestreiten - , die die Gesellschaft nicht frei herumlaufen lassen kann. Wenn jemand einen Mord und einen zweiten begangen hat, wenn er also einfach - selbst mit 14 Jahren - so strukturiert ist, dann ist das zwar sehr bedauerlich; aber er gehört dann eben in eine geschlossene Anstalt mit entsprechenden Therapiemöglichkeiten. In Untersuchungshaft gehört er jedenfalls nicht. Ein Kind in Untersuchungshaft zu nehmen ist der schlechteste Weg, der denkbar ist. Es ist unmenschlich, es ist phantasielos, hartherzig, kriminalitätsfördernd, kriminellenbildend,
({4})
zur Problemlösung ungeeignet und steht auch in krassem Widerspruch zu allen Grundsätzen, denen dieser Entwurf selbst verpflichtet ist.
({5})
Meine Damen und Herren, wir werden uns in den Beratungen darum bemühen, dies noch wegzubringen. Wir werden dafür kämpfen.
({6})
- Da können Sie mich beim Wort nehmen, Frau Nikkels, ganz selbstverständlich! Ich sage aber auch: Wir werden den Entwurf als solchen an dieser Frage nicht scheitern lassen. Denn mit diesem Entwurf ist, wie Frau Däubler-Gmelin richtig gesagt hat, das Thema „Jugendgerichtsverfahren und Jugendstrafrecht" ja
keineswegs beendet. Auf Seite 36 der Begründung des Entwurfs ist ein ganzer Katalog von weiteren Themen aufgeführt, die in der Gesetzgebung abgehakt werden müssen. Die Bundesregierung sagt im Augenblick: Dazu ist die Zeit noch nicht reif, einfach weil die Vorarbeiten noch nicht erledigt sind. Herr Jahn, ich hoffe doch, daß wir, wenn nicht in dieser Legislaturperiode, so doch spätestens zu Anfang der nächsten Legislaturperiode einen neuen Vorstoß unternehmen können, um auch diese Punkte zu erledigen.
Meine Damen und Herren, ich habe gesagt: Wir werden trotz einiger Kröten, die wir sehen, diesen Entwurf mittragen, wenn es uns nicht gelingt, im weiteren Beratungsverfahren die Änderungen, die wir wünschen, durchzusetzen. Aber ich sage Ihnen eines: Von uns verlange dann bitte niemand, daß wir dies als Schlußfolgerungen oder Errungenschaften liberaler Rechtspolitik verkaufen. Das werden wir nicht tun. Vielmehr werden wir auch der Öffentlichkeit gegenüber erklären: In einer Koalition ist es nun manchmal so - das weiß hier auch jeder - , daß man sich nicht mit allem durchsetzen kann. Wenn wir diese Kröten schlucken müssen, weil der Entwurf insgesamt sonst scheitern würde, werden wir der Öffentlichkeit sagen, daß wir hiermit nicht einverstanden waren und daß wir andere Vorschläge gemacht haben.
({7})
- Sie machen das ja auch, und das ist auch Ihr gutes Recht. Wir werden das auch eindeutig klarstellen.
({8})
Ein letzter Satz: Wir werden in den Beratungen in den Ausschüssen dafür kämpfen, daß diese Dinge, die wir nicht akzeptabel finden, noch bereinigt werden,
({9})
damit das Gesetz so verabschiedet werden kann, daß man sagen kann: Es trägt zur Rechtskultur in unserem Lande und zu einer menschlichen Behandlung unserer Jugendlichen bei.
Danke schön.
({10})
Frau Nickels, es tut mir leid, aber die Redezeit ist abgelaufen.
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich das Votum von Frau Däubler-Gmelin zusammenfasse, dann heißt es: Spät kommt ihr, doch ihr kommt.
({0})
- Wenigstens zum Teil, sagen Sie. Meine Antwort: Die Sozialdemokraten hatten von 1966 bis 1982 den Bundesminister der Justiz gestellt. Ich habe es bei uns im Hause noch einmal nachgeprüft. Eine Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes ist in dieser Zeit nicht in Angriff genommen worden.
({1})
Es lag kein Referentenentwurf vor, und es wurde auch kein Regierungsentwurf beschlossen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage? - Bitte schön, Frau Däubler-Gmelin.
Lieber Herr Kollege Jahn, würden Sie mir darin zustimmen, daß dieser Punkt schon x-mal eine Rolle gespielt hat und daß Sie, glaube ich, nicht bestreiten können, daß das zutrifft, was ich vorhin sagte, nämlich daß natürlich im Zusammenhang mit dem Jugendhilferecht große Problemkreise aufgegriffen wurden und daß im August 1982 selbstverständlich ein Arbeitsentwurf vorlag, auf den Sie sich im Herbst 1983 ja gestützt haben? Aber würden Sie mir auch darin zustimmen, daß ich lieber noch eine kleine Spitze von Ihnen hinnehme und Sie mir dafür garantieren, daß Sie aus Ihrem Entwurf etwas Vernünftiges machen?
Noch einmal meine Antwort: Sie haben meine Feststellung nicht bestritten, und ich füge hinzu, daß es bereits zu Ihrer Regierungszeit genügend Anlaß gab, dieses Thema zu regeln, da die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die Sie sich heute bezogen haben, zum Teil natürlich schon damals vorlagen. Aber ich greife gern auf, daß wir nicht das Trennende herausstellen sollten, sondern das, was wir gemeinsam wollen. Das wollte ich zur Klarheit an den Anfang setzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn ich heute Vergleiche anstelle, dann stelle ich fest: Es gibt viel Gemeinsamkeit. Ich begrüße dies, verspricht dies doch, daß bei den Beratungen des Regierungsentwurfs ein weitgehender politischer Konsens möglich sein kann.
Die Reform des Jugendgerichtsgesetzes ist deswegen ein vordringliches rechtspolitisches Anliegen, weil, wie gesagt wurde, neuere kriminologische Forschungsergebnisse uns zeigen, da der frühere Ansatz des Gesetzgebers, bei Kriminalität von Jugendlichen möglichst früh und möglichst intensiv mit Sanktionen einzugreifen, heute keine Gültigkeit mehr beanspruchen kann.
Die herausragendsten Ergebnisse der kriminologischen Forschungen zum Jugendstrafrecht sind die Erkenntnisse von der vorübergehenden Natur der Straffälligkeit Jugendlicher. Nach diesen Erkenntnissen ist für einen überwiegenden Teil der heute als Jugendkriminalität geltenden Auffälligkeit junger Menschen der Interventionsbedarf wesentlich geringer, als man noch 1953 angenommen hat.
Angesichts dieser Erkenntnisse müssen wir von einer Praxis der frühen und intensiven kriminalrechtlichen Intervention im Jugendstrafrecht Abstand nehmen. Es ist nach Überzeugung der Bundesregierung nicht damit getan, auf jugendliches Fehlverhalten mit Strafe und Repression zu reagieren, ohne den Anlaß oder die Gründe des Fehlverhaltens und die FolgewirParl. Staatssekretär Dr. Jahn
kungen solcher Reaktionen im Lichte neuerer Erkenntnisse in den Blick zu nehmen.
({0})
Wir müssen unseren jungen Menschen natürlich die Notwendigkeit klarmachen, Normen freiheitlichen und sozialen Zusammenlebens anzunehmen und zu respektieren, das Recht zu respektieren, die Akzeptanz des Rechts zu sehen. Dies muß aber nicht durch Kriminalstrafen erfolgen. Es gibt eben - das ist heute von allen Seiten des Hauses gesagt worden - effizientere Möglichkeiten.
Bessere Möglichkeiten als Strafe und Repression gibt es auch für jugendliche Straftäter, bei denen soziale Benachteiligungen oder erzieherische Defizite mit ein Grund für das Fehlverhalten gewesen sind. In diesem Bereich müssen wir uns verstärkt darum bemühen, den jungen Menschen aus der Verstrickung in die Kriminalität herauszuhelfen. Dies gelingt, meine Damen und Herren, nach neuesten Erkenntnissen besser mit ambulanten Maßnahmen und Betreuungen als durch Arrest und freiheitsentziehende Strafen; da stimmen wir überein.
Diesen Erkenntnissen und Schlußfolgerungen trägt die Bundesregierung mit dem Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Jugendgerichtsgesetzes weitgehend Rechnung. Der Gesetzentwurf will den das Jugendstrafrecht beherrschenden Grundsatz stärken, auf jugendliches Fehlverhalten mit erzieherischen, helfenden und fördernden Maßnahmen statt mit repressiven Sanktionen zu reagieren.
Der Entwurf verbessert deshalb die Möglichkeiten der informellen Erledigung eingeleiteter Verfahren. Er erweitert den Katalog erziehungswirksamer, ambulanter Maßnahmen um die sogenannte Betreuungsanweisung, den sogenannten Trainingskurs und den Täter-Opfer-Ausgleich. Der Entwurf schränkt Untersuchungshaft gegen junge Menschen erheblich ein; er bleibt nicht beim Status quo. Der Bundesrat hat diese Haltung soeben in seiner Sitzung bestätigt.
Der Entwurf streicht die Jugendstrafe von unbestimmter Dauer. Er erweitert die notwendige Verteidigung im Jugendstrafrecht um die Fälle, in denen Untersuchungshaft gegen Jugendliche vollstreckt wird. Er erweitert behutsam die Möglichkeiten der Strafaussetzung zur Bewährung. Er schränkt die Verhängung von Jugendarrest ein und erweitert die Möglichkeiten des Vollstreckungsrichters, in besonders gelagerten Fällen von der Vollstreckung verhängten Jugendarrests aus erzieherischen Gründen abzusehen. Und schließlich erweitert der Entwurf die Beteiligung der Jugendgerichtshilfe im Jugendstrafverfahren.
Das sind Ziele und Absichten, die heute auf einen breiten Konsens treffen.
Der Antrag der Opposition, Frau Kollegin DäublerGmelin, geht über den Regierungsentwurf hinaus. Er spricht Sachbereiche an, die der Regierungsentwurf noch nicht aufgegriffen hat, in denen er aber in Teilen durchaus auch Regelungsbedarf sieht. Der Bundesrat hat in seiner Sitzung heute morgen zum Ausdruck gebracht, daß er einen Prüfungsauftrag erteilt, ob der Begriff „schädliche Neigungen" stehenbleiben soll oder nicht.
Wir halten es seitens der Bundesregierung aus fachlicher Sicht für unabdingbar, daß wir zunächst eingehende Gespräche führen, Frau Däubler-Gmelin, mit den Praktikern der Jugendgerichtsbarkeit und natürlich der Jugendhilfe und daß wir insbesondere mit den einschlägigen und interessierten Verbänden Verbindung aufnehmen, um diese Materie, die Sie gern noch erweitern wollen, zu regeln.
Weitergehende Regelungen kann man, wenn Konsens besteht, in dieses Verfahren der Beratungen noch einbringen - das ist die Hoheit dieses Hauses -, oder man kann es in einer zweiten Novelle machen.
Ich glaube, abschließend eines gemeinsam feststellen zu dürfen: daß das Thema Jugendgerichtsbarkeit eine sehr sensible Materie ist. Hier darf es keine Schnellschüsse geben. Es darf auch nicht im Hauruckverfahren erledigt werden, sondern diese sensible Materie erfordert von uns, daß wir den Sachverstand aller am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten nutzen. Ich bin sicher, wenn es der gemeinsame Wille ist, daß sich das auch in dieser Wahlperiode lösen läßt.
Ich lade auf jeden Fall dazu ein, daß wir möglichst einen breiten Konsens in dieser sensiblen Materie finden. Wir werden alles daransetzen, daß wir noch in dieser Legislaturperiode auch zur zweiten und dritten Lesung kommen.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4892 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Kein Widerspruch; so beschlossen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Müntefering, Menzel, Conradi, Großmann, Dr. Niese, Oesinghaus, Dr. Osswald, Reschke, Scherrer, Weiermann, Börnsen ({0}), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Soziale Fortentwicklung des Wohngeldes - Drucksache 11/5267 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Menzel.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Die Wohnung ist ein elementarer Bestandteil des menschenwürdigen Daseins. Bürgern, deren Einkommen nicht ausreicht, eine angemessene Wohnung zu mieten oder zu kaufen, hilft die Gemeinschaft mit Steuergeldern. Insoweit dürfte über alle Parteigrenzen hinweg in diesem Hause Einigkeit bestehen.
Wir Sozialdemokraten unterschreiben diese Aussage voll und ganz. Sie stammt übrigens nicht von mir, sondern ich habe sinngemäß wiedergegeben, was der Kollege Kansy am 20. Juli 1985 bei der Beratung des Wohngeldgesetzes hier an dieser Stelle ausgeführt hat.
Mit dem Antrag, den wir heute in erster Lesung beraten, haben wir Sozialdemokraten die Konsequenz aus dieser Aussage und der aktuellen Entwicklung von Mieten und Preisen gezogen. Sozialer Wohnungsbau und Wohngeld waren und sind die beiden Grundpfeiler, über die der Bezug einer familiengerechten Wohnung für breite Schichten in unserem Lande sichergestellt werden soll.
({0})
Das eine kann das andere nicht ersetzen. Aber natürlich hat die Frage eines ausreichenden Wohnungsangebots Einfluß auf die Höhe der Mieten. Wenn das Wohngeld gewissermaßen die individuelle soziale Abfederung sein soll, muß es auch auf die Mietentwicklung reagieren. Beides muß geschehen: Das Wohnungsangebot muß durch Neubau ausgeweitet werden, und das Wohngeld muß angepaßt und novelliert werden.
Die Wohngeldleistungen sind zuletzt am 1. Januar 1986, also vor fast vier Jahren, an die Mietentwicklung angepaßt worden. Seitdem sind die Mieten ständig gestiegen, und zwar zweieinhalbmal so schnell wie die übrigen Preise. Dabei wissen Sie genausogut wie ich, daß der offizielle Mietindex die tatsächliche Entwicklung nicht richtig wiedergibt, sondern schönt. Seit einiger Zeit sind die Mietsteigerungen bei Neuvermietungen zweistellig. Das hat dazu geführt, daß ein immer größerer Teil des Nettoeinkommens - das betrifft insbesondere die Mieter der unteren Einkommensgruppen - für Miete aufgewandt werden muß. Die unteren 40 % der Einkommensskala geben heute schon 31 % ihres Einkommens für Miete aus. In Ballungsräumen wie München ist bei vielen die 50 %- Grenze schon überschritten.
Mit dem vorliegenden Antrag zieht die SPD-Fraktion die notwendigen Konsequenzen aus dieser Entwicklung, die sich ja schon lange nicht mehr auf die Ballungsräume beschränkt. Mit der Einführung der sechsten Wohngeldstufe, die wohl vom ganzen Hause getragen wird, werden wir zwar die Situation in den Ballungsräumen lindern, keinesfalls aber der allgemeinen Mietsteigerung gerecht werden.
Sie erhöhen die Wohngeldleistungen mit der sechsten Stufe um ca. ein halbes Prozent. Das ist angesichts der Mietentwickung geradezu lächerlich. Darüber, daß eine allgemeine Wohngelderhöhung notwendig ist, dürfte es keine Meinungsverschiedenheiten geben. Ich will einen unverdächtigen Zeugen zitieren. Das Vorstandsmitglied der Deutschen Pfandbriefanstalt Edgar Meister erklärte schon im April dieses Jahres:
Ohne zusätzliche öffentliche Mittel werden künftig die Mieten im freien Wohnungsmarkt für Arbeitnehmer nicht mehr zu bezahlen sein.
({1})
Diese Aussage wird durch das, was sich momentan auf dem Wohnungsmarkt abspielt, voll bestätigt.
Der Deutsche Städtetag hat deswegen schon im Februar dieses Jahres erklärt - im Februar! - , daß für eine wachsende Zahl von Haushalten das Wohngeld in seiner gegenwärtigen Höhe keine ausreichende Hilfe darstelle, um Wohnraum zu tragbaren Mieten zu finden. Wer es also ernst meint mit der Aussage, daß über das Wohngeld jedem der Bezug einer familiengerechten Wohnung ermöglicht werden soll, der muß auch bereit sein, die notwendigen Konsequenzen zu ziehen.
({2})
Hier, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wird es sich erweisen, ob Sie es wieder - genauso wie bei der pauschalierten Zahlung von Wohngeld an Sozialhilfeempfänger - bei vollmundigen Erklärungen belassen oder ob Sie bereit sind, diese Erklärungen in die Tat umzusetzen.
({3})
- Herr Kansy, es ist mir klar, daß es Ihnen peinlich ist, wenn Sie an manches erinnert werden, was Sie hier verkündet haben. Aber Sie sollten sich einmal fragen, wie es bei Ihnen mit dem Selbstverständnis des Parlamentes aussieht. Das Parlament hat doch die Regierung aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der in eine bestimmte Richtung geht. Die Regierung ist dem nicht nachgekommen. Nun liegt ein Antrag auf dem Tisch des Hauses, und jetzt ist festzustellen, daß Sie nicht bereit sind, über Ihren eigenen Schatten zu springen und der Vorlage zuzustimmen.
({4})
Darüber wird ja noch in der nächsten Woche zu reden sein.
Ich wiederhole: Hier, meine Damen und Herren von der CDU/CSU, wird es sich eben erweisen, ob Sie es wieder bei vollmundigen Erklärungen belassen.
Wenn Sie das Wohngeld als unerläßlich für eine marktwirtschaftliche Absicherung angemessenen, familiengerechten Wohnens und als einen wesentlichen Bestandteil der sozialen Wohnungsmarktwirtschaft - wie es der damalige Minister Schneider am 20. Juni 1985 erklärte - betrachten, dann gibt es keine andere Konsequenz, als das Wohngeld der veränderten Mietensituation anzupassen.
({5})
Für Sie ist das Wohngeld das zentrale Instrument der Wohnungspolitik. Das haben Sie nach der Wende ja immer erklärt. Aber Sie behandeln es nicht demgemäß. Im Zweifelsfall - das haben die verschiedenen Sparaktionen der letzten Jahre gezeigt - betrachten Sie das Wohngeld als finanzpolitische Verfügungsmasse.
Wo bleiben jetzt Ihre Vorschläge für die dringend erforderliche Anpassung? Gibt es Ihnen nicht zu denMenzel
ken, daß Menschen auf die Straße gehen und protestieren - wie gestern in München -, weil sie keine Wohnung finden oder sie nicht mehr bezahlen können?
Wir haben einen Vorschlag gemacht: Anpassung der Einkommensgrenzen und Miethöchstbeträge um 10 %. Das bedeutet eine durchschnittliche Erhöhung des Wohngeldes um 270 DM pro Haushalt und Jahr. Über diese allgemeine Aufstockung hinaus halten wir eine Reihe von Korrekturen und Änderungen bei den Freibeträgen für erforderlich.
Zunächst sollte der pauschale Abzug für steuerpflichtige Wohngeldbezieher der allgemeinen Entwicklung der Abgabenlast angepaßt und erhöht werden. Bei den Alleinerziehenden mit Kindern schlagen wir vor, den Freibetrag für jedes Kind auf 1 800 DM heraufzusetzen und die Altersgrenze für die zu berücksichtigenden Kinder auf 16 Jahre zu erhöhen. Die Praxis hat gezeigt, daß die alten Regelungen den Anforderungen der Wirklichkeit nicht mehr entsprechen.
Auch die abzugsfähigen Aufwendungen für Unterhaltspflichtige sollten jeweils in ihren verschiedenen Abstufungen nach § 12a des Wohngeldgesetzes erhöht werden.
Bei den Schwerbehinderten sieht unser Antrag eine Aufstockung des Freibetrages vor.
Ich will hier darauf hinweisen, daß wir Sozialdemokraten die jetzige Bagatellgrenze für ungerechtfertigt halten und für die Beseitigung oder jedenfalls Reduzierung auf ein vertretbares Maß eintreten.
({6})
Wir sind der Auffassung, daß die Novelle so schnell wie möglich in Kraft treten sollte. Den Zeitraum Mitte nächsten Jahres halten wir für realistisch.
Wir erwarten von der Bundesregierung daß sie die von diesem Hause geforderte Prüfung der Verbesserung des Wohngeldes für Familien mit Kindern vorlegt. Leider, muß ich sagen, haben wir die Erfahrung machen müssen, daß diese Regierung Beschlüsse des Parlaments in Sachen Wohngeld in sträflicher Weise mißachtet, wie wir es bei der Pauschalierung des Wohngeldes für Sozialhilfeempfänger erleben.
({7})
Darauf werden wir zurückkommen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie es ernst meinen mit dem Wohngeld als sozialem Instrument der Wohnungspolitik, tun Sie das Ihrige und stimmen Sie unserem Antrag bei den Beratungen hier im Parlament zu.
Recht schönen Dank.
({8})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Rönsch.
Frau Rönsch ({0}) [CDU/CSU]: Frau Präsidentin! Meine Herren! Meine Damen!
({1})
Herr Kollege Menzel, da wir erkannt haben, daß es Verzerrungen bei dem Wohngeld gibt, werden wir uns am nächsten Freitagmorgen zu einer etwas besseren Stunde hier im Parlament über unsere siebte Wohngeldnovelle unterhalten.
({2})
Sie haben die Proteste der Bürger in München angesprochen. Ich kann die Bürger in München verstehen: Sie wohnen in einer sozialdemokratisch geführten Stadt,
({3})
die sich aus der Wohnungsbauförderung vollkommen verabschiedet hat, die sich weigert, den Dachgeschoßausbau zu fördern, und bürokratische Hemmnisse aufbaut.
({4})
Ich habe Verständnis dafür, wenn die Bürger auf die Straße gehen.
({5})
Ich habe diese Bürger allerdings vermißt - wir haben gestern an gleicher Stelle darüber gesprochen -, als es um die Million Wohnungen der Neuen Heimat ging.
({6})
Wo waren diese Bürger, als sie erkennen mußten, daß ihre Wohnungen für 1 DM verschleudert werden?
({7})
Gestatten Sie?
Aber bitte, Herr Singer.
Frau Rönsch, ist Ihnen nicht bekannt, daß der Fraktionsvorsitzende der CSU im Münchner Stadtrat von einer Gestaltungsmehrheit von CSU, GRÜNEN und FDP gesprochen hat?
Das ist mir nicht bekannt, da ich nicht immer genau verfolge, was im Münchner Rathaus passiert. Bekannt ist mir aber, daß Ihr Oberbürgermeister Kronawitter - er gehört wohl der SPD an - sich aus dem kommunalen Wohnungsbau verabschiedet hat, wie es auch in anderen sozialdemokratisch geführten Städten - ich habe Ihnen gestern Beweise aufgezeigt, Herr Müntefering - geschehen ist. Ich halte das angesichts der momentanen Wohnungslage für einen Skandal.
({0})
Meine sehr geehrten Herren und Damen, wir werden uns mit der CDU/CSU-geführten Bundesregie12752
Frau Rönsch ({1})
rung weiterhin um die soziale Fortentwicklung des Wohngeldes kümmern.
({2}) - Wir werden im nächsten Jahr beraten.
Wir garantieren die zentrale Stellung des Wohngeldes als Stütze gerade für die einkommenschwachen Haushalte. Durch seine Ausrichtung am persönlichen Bedarf bleibt das Wohngeld das treffsichere Instrument der Absicherung von unteren Einkommensgruppen.
Diesen Zielen dient auch die Anfang des Jahres in Kraft tretende und am nächsten Freitag zu beratende siebte Wohngeldnovelle. Sie führt eine zusätzliche sechste Wohngeldstufe für all die Gemeinden und Kreise ein, in denen das Mietenniveau der Wohngeldempfänger um 25 % über dem Bundesdurchschnitt liegt. Da müssen wir etwas tun.
({3})
Diese neue Stufe entlastet die Menschen genau in den Regionen mit den größeren Engpässen auf dem Wohnungsmarkt. Jetzt komme ich noch einmal auf München zu sprechen. Dies sind die Gebiete mit der höchsten Dynamik im gegenwärtigen Wirtschaftsboom. Das sind die Gebiete, wo kommunalpolitisch für den Wohnungsbau nichts getan wird, siehe München.
({4})
Es sind aber auch jene Regionen, in denen die Bereitstellung von Wohnraum hinter dem übrigen Aufschwung herhinkt. Insgesamt elf Kreise und Gemeinden erfahren jetzt das erhöhte Wohngeld der Wohngeldstufe sechs.
Aber damit wollen wir es nicht bewenden lassen; wir tun noch mehr: Nicht nur die Mieter mit den Spitzenbelastungen erhalten eine Besserstellung, nein, auch weitere 60 Gemeinden und Kreise der unteren Mietenstufe werden höhergruppiert. Für Wohngeldempfänger bedeutet unsere Novelle je nach persönlicher Bemessungsgrundlage ein um 6 bis 13 % höheres Wohngeld.
({5})
Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?
Aber selbstverständlich.
Herr Abgeordneter Müntefering.
Frau Kollegin, finden Sie unseren Antrag, den wir hier beraten, über den Sie aber noch nicht sprechen, gut?
Ihr Antrag ist mit Sicherheit gut. Denn wenn es um Erhöhung von Wohngeld geht, ist er auch notwendig. Nur der Zeitpunkt ist verkehrt. Wir werden uns an den Zeitrahmen halten und Ihren Antrag weiter mitberaten, wenn der Wohngeld- und Mietenbericht vorliegt.
({0})
- Frau Präsidentin, mir wird die Zeit aber nicht angerechnet?
Sie wird Ihnen nicht angerechnet.
({0})
Danke. - Selbstverständlich.
Werden Sie unseren Antrag unterstützen, wenn er gut ist?
({0})
Wir werden eine Wohngelderhöhung unterstützen. Nur: Gute Anträge, Herr Kollege? Ich habe sie in der letzten Zeit vermißt. Wir haben gerade gestern darüber gesprochen. Und auch gestern waren die Initiativen der SPD, die wir hier beraten haben, leider sehr spärlich.
({0})
Aber, meine Herren und Damen gerade von der Opposition, ich glaube, wir sind alle darin einig, daß wir die Probleme der Wohnraumversorgung nicht allein mit einer Höhergruppierung des Wohngeldes regeln können. Wir sind uns wohl alle bewußt: Das Wohngeld bewirkt zwar Erleichterung für die Mieter, aber keinen Wohnungsneubau. Dazu sind andere Instrumente erforderlich. Diese Instrumente haben wir gestern hier diskutiert.
Bereits 1988 wurden wir initiativ und stellten angesichts des plötzlich wachsenden Aussiedlerstroms und der geburtenstarken Jahrgänge, die auf den Wohnungsmarkt gedrängt sind, 750 Millionen DM für den sozialen Wohnungsbau zur Verfügung. Wir unternahmen diesen Schritt auch deshalb, weil insbesondere die SPD-regierten Bundesländer - da nenne ich einmal Nordrhein-Westfalen - diesen ihren Verpflichtungen über Jahre nicht nachgekommen sind und dort die Defizite im Wohnungsbau deutlich zu spüren sind.
({1})
- Der Herr Zöpel ist ja ein deutliches Beispiel dafür.
Schon in diesem Jahr haben wir den Betrag auf gut eine Milliarde DM erhöht und für 1990 eine weitere Aufstockung auf 1,6 Milliarden DM vorgenommen. Das sind Leistungen, Herr Müntefering, die Sie natürlich am liebsten ignorieren würden.
({2})
Wir werden auch mittelfristig die Gelder für den Wohnungsbau den Erfordernissen des Wohnungsmarkts anpassen.
({3})
Vor kurzem schickten wir ein weiteres Maßnahmenpaket auf den Weg - auch darüber wurde schon
Frau Rönsch ({4})
diskutiert - , das die selbständigen Marktkräfte unterstützt. Mit einem Kreditvolumen von 2 Milliarden DM sollen Zinserleichterungen, Sonderabschreibungen für die Schaffung neuer Wohnungen, 10 000 neue Studentenwohnungen und der Dachgeschoßausbau im Bestand finanziert werden können.
({5})
Die Gemeinden erhalten günstige Kredite. Neue Flächen für den Wohnungsbau können bereitgestellt werden, sofern die Gemeinden nicht sozialdemokratisch geführt werden, weil auch dort die Hemmnisse bei der Bereitstellung neuer Grundstücke ganz deutlich zu vermerken sind.
Die entschiedenen Maßnahmen sind ein Schritt in die richtige Richtung, potentielle Investoren durch Anreize zu bewegen. - Das ist kein Satz, der von mir stammt. Er stammt von der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft. Und die steht Ihnen doch bekanntlich sehr nahe. Deutlicher kann Ihnen von der Opposition eigentlich nicht vor Augen geführt werden, daß unsere Politik Zustimmung erfährt. Und was für die weitere Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt noch wichtiger ist: Sie erfährt Unterstützung auch durch bauwillige Kreise der Bevölkerung.
({6})
Heute verzeichnen wir bei den Wohnungsbaugenehmigungen ein Plus von rund 25 % gegenüber dem Vorjahr. Ich hätte erwartet, daß Sie auch dazu einmal eine Aussage machen.
({7})
Beim Geschoßwohnungsbau beträgt der Zuwachs sogar ganze 60 %. Ich bin zuversichtlich, daß wir das von uns angepeilte Ziel innerhalb der nächsten drei Jahre erreichen werden.
In diesen Tagen und Wochen - ich sage das ganz ohne Zwischenton - stehen wir vor der großen Herausforderung, Zehntausende, ja Hunderttausende Aus- und Übersiedler aufzunehmen, unterzubringen und in die freie Welt zu integrieren. Sie sollten sich daran beteiligen. Wir und die Bundesregierung stellen uns dieser Aufgabe. Wir werden ihr gerecht werden.
Unsere Verantwortung gebietet es aber, allen gegenüber festzuhalten, daß niemand eine Bevorzugung erfährt: weder bei der Wohnraumvergabe noch bei anderen sozialen Leistungen. Die deutschen Landsleute aus der DDR und aus Osteuropa sind herzlich willkommen. Wir kämpfen für sie auch hier in der Freiheit auf allen Gebieten, auch für den entsprechenden Wohnraum. Aber wir werden andere Bevölkerungskreise nicht benachteiligen. Deren Schwierigkeiten kennen wir auch. Wir lassen sie nicht im Stich: die Studenten in den Universitätsstädten, die jungen Familien mit Kindern und Alleinerziehende, die Menschen ohne oder mit geringem Erwerbseinkommen. Für Angstlichkeit gegenüber den Zuwanderern aus der DDR oder aus Osteuropa besteht überhaupt kein Anlaß.
({8})
Ich warne vor der Neiddiskussion, die gerade jetzt in Nordrhein-Westfalen angefacht worden ist,
({9})
die sehr, sehr peinlich ist.
({10})
Wir liegen mit den Plänen, die wir vorgelegt haben, zeitlich in einem guten Rahmen. Ich wünsche mir aber und fordere die Bundesregierung auf, daß die Wohngeldanhebung zeitnah durchgeführt wird und daß der ursprünglich ins Auge gefaßte Zeitpunkt vorgezogen wird.
Ihnen, meine Herren und Damen von der SPD-Fraktion, rate ich aber: Setzen Sie sich doch einmal mit Ihrem Kanzlerkandidaten in spe in Verbindung und sprechen Sie mal mit ihm!
({11})
- Sie haben ja mehrere, aber einer hat da eine Kommission Z geführt, und derjenige, der diese Kommission angeführt hat, sollte doch mal etwas über den Wohnungsbau aussagen. In seinen ganzen Aussagen hat er nicht ein Wort darüber verloren.
({12})
Ich weiß auch, warum: Es ging zwar auf Kosten des kleinen Steuerzahlers, aber er hat wenigstens Gegenfinanzierungen parat gehabt. Aber Sie haben für Ihre Vorschläge noch nicht einmal eine Gegenfinanzierung. Wir werden Ihren Antrag überweisen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich verstehe wirklich nicht, warum Sie es sich eigentlich so schwermachen. Sie werden den Antrag jetzt ablehnen, und wenn Sie Ihre Wohnungspolitik so fortsetzen, wie Sie das jetzt machen, wird das dazu führen, daß Sie einige Zeit später diesen Antrag selbst werden stellen müssen.
({0})
- Aber er wird sich im Inhalt nicht sehr unterscheiden.
({1})
Es ist noch gar nicht allzu lange her, daß Bundesminister Schneider hier unheimlich stolz darauf war, wieviel die Bundesregierung für das Wohngeld ausgeben muß, obwohl unserer Meinung nach überhaupt kein Grund besteht, darauf besonders stolz zu sein.
Im Gegenteil, die Erhöhung des Wohngeldes ist jedesmal eine Bankrotterklärung der Wohnungspolitik der Bundesregierung. Es ist selbstverständlich, daß
das Wohngeld bei der derzeitigen Situation erhöht werden muß. Viele Haushalte sind überhaupt nicht mehr in der Lage, ihre Miete zu bezahlen, und deswegen wird sich kein vernünftiger Mensch dem Antrag der SPD widersetzen. Wenn allerdings die SPD, als sie selbst in der Regierung war, eine andere Wohnungspolitik gemacht hätte, hätten Sie es heute nicht nötig, diesen Antrag zu stellen.
({2})
Das Wohngeld behält nämlich auch dann seine Konstruktionsfehler, wenn es erhöht wird, und die Konstruktionsfehler sind folgende - sie sind altbekannt - : Erstens müssen Menschen, die Wohngeld haben wollen, die Schwelle zum Wohngeld überschreiten und dort in der Situation von Bittstellern und Bittstellerinnen ihre sämtlichen wirtschaftlichen und familiären Verhältnisse offenlegen. Viele scheuen diesen Gang zum Wohnungsamt. Ich sage, viele; nach Einschätzung der Wohlfahrtsverbände sind es über 50 % der Wohngeldberechtigten, die ihren Anspruch nicht wahrnehmen.
({3})
Zweitens vergrößert der staatliche Zuschuß natürlich auch den Spielraum für Mieterhöhungen: Da, wo mehr ist, kann mehr geholt werden. Jedesmal, wenn das Wohngeld erhöht wird, werden auch die Mieten steigen. Das ist der zweite Konstruktionsfehler, dem in der Wohngeldtabelle schon dadurch begegnet worden ist, daß es Höchstgrenzen gibt, über denen eine Miete nicht mehr gefördert werden kann. Dies schadet wiederum all denjenigen Mieterinnen und Mietern, deren Miete oberhalb dieser Grenze liegt, und das sind heute schon weit über 30 % aller Wohngeldberechtigten.
Das ist der Grund dafür, daß die GRÜNEN im Gegensatz zur SPD mit Forderungen nach Erhöhung des Wohngeldes immer zurückhaltend sind. Die Tatsache, daß viele Haushalte infolge Ihrer Politik heute nicht mehr in der Lage sind, ohne Wohngeld zu existieren, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Wohngeld an sich kein taugliches Mittel zur Beseitigung der Wohnungsnot ist. Das Wohngeld schreibt soziale Ungerechtigkeiten fest und macht den Gang zum Sozialamt zum programmierten Bestandteil der Wohnungspolitik. Wenn Sie gegen Wohnungsnot etwas tun wollen, dann müssen Sie anfangen mit der Bestandserhaltung, dann müssen Sie den § 10e abschaffen, dann müssen Sie nicht neue Steuergeschenke an Unternehmer geben, damit noch mehr teure Wohnungen gebaut werden - wir haben genug teure Wohnungen - , sondern dann müssen Sie etwas tun, damit der Umwandlungsboom eingedämmt wird, und dann müssen Sie in jedem Jahr 100 000 neue Wohnungen bauen, 100 000 neue soziale Mietwohnungen.
({4})
Alles andere ist Augenwischerei.
Trotzdem werden wir uns, weil wir uns in der Wohnungsnot befinden, weil es im Moment keine andere Möglichkeit gibt, selbstverständlich nach einer Detailprüfung dem Antrag der SPD anschließen, nicht weil wir Wohngeld gut finden, sondern weil wir wissen, daß viele gar nicht mehr ohne Wohngeld existieren können.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Hitschler.
({0})
Warten Sie es ab, Herr Müntefering. Sie werden überrascht sein.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns liegt hier ein Antrag zur sozialen Fortentwicklung des Wohngeldes vor, der inhaltlich zwei zentrale Forderungen enthält: einmal die generelle Erhöhung des Wohngeldes um 10 %, zum anderen eine drastische Erhöhung verschiedener Freibeträge bei der Ermittlung des für die Gewährung von Wohngeld maßgeblichen Einkommens. Beide Forderungen werden damit begründet, daß seit der letzten Anpassung vom 1. Januar 1986 die Mieten, insbesondere jene im preiswerten Altbaubestand, erheblich stärker gestiegen seien als die allgemeinen Lebenshaltungskosten. Letztere Feststellung ist richtig, aber dennoch keine hinreichende und sachgerechte Begründung für das vorgetragene Begehren, denn nicht das Verhältnis der Mietsteigerung zur Entwicklung der Lebenshaltungskosten, in denen die Mieten maßgeblich enthalten und inbegriffen sind, kann man und muß man als Berechtigungsnachweis für die Wohngeldanpassung betrachten, sondern das Verhältnis der Mietentwicklung zur Einkommensentwicklung oder das Verhältnis der Lebenshaltungskosten zur Einkommensentwicklung. Nur die Betrachtung dieser Relation erlaubt eine Beurteilung der Notwendigkeit der Fortentwicklung des Wohngeldes.
Lassen Sie mich dennoch zunächst etwas Grundsätzliches sagen. Die Freien Demokraten werden sich einer Anpassung des Wohngeldes nicht verschließen. Im Gegenteil, wir werden zu den ersten gehören, die dies fordern, weil sich das Wohngeld in unseren Augen als ein sozial äußerst treffsicheres Instrument der Wohnungspolitik erwiesen hat.
({0})
Menschen, die Schwierigkeiten haben, ihre Miete zu zahlen, werden mit Hilfe des Wohngeldes in die Lage versetzt, eine Wohnung zu mieten, die sich an den Lebensbedürfnissen der Familie orientiert. Das Wohngeld wirkt auf dem Wohnungsmarkt, indem es die Nachfrage bedürfnisorientiert steuert und stärkt. Die FDP-Bundestagsfraktion ist daher der Auffassung, daß das Wohngeld in der Tat als marktorientiertes Mittel zur Sicherung angemessenen und familiengerechten Wohnens dient. Wir sind deshalb eine wohngeldfreundliche Partei, Herr Müntefering, und messen dem Wohngeld eine zentrale Bedeutung bei.
Aber wir lassen uns bei der Anpassung von objektiven Kriterien leiten. Wir werden einer Anpassung zustimmen, wenn diese Kriterien - dazu gehört im wesentlichen eben das Verhältnis der MietenentDr. Hitschler
wicklung zur Einkommensentwicklung - eine Anpassung erforderlich machen. Bei Beachtung dieser Beziehung von 1986 bis heute ist eine Anpassung gegenwärtig objektiv verfrüht, in der Höhe absolut überzogen und in der Wirkung einer erheblichen Ausweitung des Bezieherkreises unangebracht.
({1})
Von 1986 bis 1988 sind die verfügbaren Einkommen - Sie können statt der verfügbaren Einkommen auch die Bruttolöhne oder auch die Nettolöhne nehmen, ohne daß sich in der Grundaussage etwas ändert - doppelt so stark gestiegen wie die Mieten. Das ist eine Tatsache, an der Sie nicht vorbeikommen. Dabei sind merkwürdigerweise die Mieten im sozialen Wohnungsbau beispielsweise bei den Neubaumieten immer wesentlich stärker gestiegen als im freifinanzierten Wohnungsbau. Auch im Altbaubestand stellen wir fest, daß die Mietsteigerungen im freifinanzierten Wohnungsbau keineswegs stärker ausfallen als im sozialen Wohnungsbau. Dies ist eine Tatsache, die bis in den September 1989 festzustellen ist.
({2})
Das spricht nun nicht gerade für die von Ihrer Seite gern verbreitete These, daß sich private Vermieter am Wohnungsmarkt wie kapitalistische Ausbeuter gerieren. Nein, die Mietenstatistik legt nahe, daß sich private Vermieter ihrer sozialen Eigentumsverpflichtung in aller Regel durchaus bewußt sind und sich in ihrem Mietverlangen ausgesprochen sozial verhalten.
Nun wissen wir alle, daß eine Übernachfrage am Wohnungsmarkt, wie wir sie gegenwärtig und wohl auch noch in nächster Zukunft haben werden,
({3})
Druck auf die Mieten ausübt und sie tendenziell stärker steigen läßt, was wir seit Anfang dieses Jahres auch beobachten können. Wir wissen also gegenwärtig nicht, wie stark sich die Steigerungen ausprägen werden. Deshalb können wir gegenwärtig auch noch keineswegs sagen, ob im April, im Juni, im Oktober 1989 oder erst im Frühjahr 1990 eine Wohngelderhöhung von den objektiven Kriterien her notwendig sein wird.
Wir müssen diese Entwicklung genau beobachten und kündigen an, daß wir die Wohngeldanpassung zur rechten Zeit fordern und mit unserem Koalitionspartner auch beschließen werden.
Der heute vorgelegte Antrag, Herr Müntefering, ist ein Antrag auf Verdacht, der nicht solide begründet ist. Er zielt wohl darauf ab, sagen zu können: Wir waren die ersten, welche die Wohngelderhöhung gefordert haben.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns in unserem politischen Alltagsgeschäft wirklich mehr von solchen im Blick auf bevorstehende Wahlen angestellte Überlegungen leiten ließen statt von sachlichen Argumenten, würden wir in den Augen unserer Bürger zu Recht unsere Glaubwürdigkeit ganz verlieren. Die Opposition ist mit diesem Antrag, mit seiner dürftigen Begründung, die in keinem realen Verhältnis zur wirtschaftlichen Entwicklung steht, auf ein bedenklich niedriges Niveau gesunken.
({4})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär, Herr Echternach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Für die Bundesregierung ist das Wohngeld ein zentrales Instrument, um ihre marktwirtschaftlich orientierte Wohnungspolitik auch sozial abzusichern. Soweit die gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen, hat jeder Bürger einen Rechtsanspruch auf diese Leistungen, und dem entspricht die Verpflichtung, jährlich seine Miete, sein Einkommen und seine Haushaltsgröße offenzulegen. Das Wohngeld vermeidet insofern die Fehlförderung, die uns in anderem Zusammenhang in diesem Bereich erhebliche Sorgen macht.
Wir wissen aber auch, daß Wohngeld nicht alle Probleme am Wohnungsmarkt lösen kann. Die Bundesregierung verfolgt mit ihrer Wohnungspolitik zwei Ziele, erstens die Wohnungsversorgung generell durch eine Ausweitung des Angebots zu verbessern und zweitens die Bürger individuell sowohl durch das soziale Mietrecht wie eben auch durch das Wohngeld sozial abzusichern.
Die Entwicklung des Wohnungsmarktes hat in den letzten Jahren gezeigt, daß beide Ziele eng miteinander verzahnt sind. Als vor wenigen Jahren Hunderttausende von Wohnungen leerstanden, hatten wir die geringste Mietsteigerungsrate der Nachkriegszeit mit 1,8 % im Jahre 1987. Inzwischen steigt der Mietenindex wieder um über 3 % jährlich an. Die von uns eingeleitete Ausweitung des Angebots soll also nicht nur den Engpaß am Wohnungsmarkt beheben, sondern soll auch den Druck auf die Mietenentwicklung mildern. Ich verweise auf die Beschlüsse, die wir im Frühjahr dazu gefaßt haben und die eben zitiert wurden, aber auch auf die Sofortmaßnahmen, die wir zu Beginn dieses Monats beschlossen haben. Daß dieses Programm greift, zeigen die Zahlen der Baugenehmigungen, die deutlich gestiegen sind.
Mit noch so umfangreichen Wohnungsbauprogrammen kann aber nicht allen Haushalten geholfen werden, die ihre Wohnkosten nicht aus eigener Kraft aufbringen können. Deshalb muß die individuelle Absicherung über das Wohngeld weiter ein wesentlicher Bestandteil unserer Politik bleiben. Mit dem Wohngeld senken wir die durchschnittliche Wohnkostenbelastung der knapp 2 Millionen Wohngeldempfänger von über 40 % ihres Einkommens auf 24 %. Die Wohngeldleistungen sind seit 1982 um mehr als 1 Milliarde DM gestiegen, und das Wohngeldsystem selbst haben wir in den letzten Jahren mit der Einführung von fünf Gebietsstufen, die sich jeweils am örtlichen Mietniveau orientieren, weiter verfeinert. 12 To aller Mieterhaushalte und 1,5 % der Eigentümerhaushalte erhalten im Durchschnitt ein Wohngeld von 148 DM im Monat.
Wir wissen, daß das Wohngeld seiner Aufgabe auch künftig nur gerecht werden kann, wenn es rechtzeitig
an die Entwicklung des Marktes angepaßt wird. Insofern gibt es gar keinen Dissens zu der Auffassung der SPD-Fraktion. Im Rahmen der 7. Wohngeldnovelle werden wir das Wohngeld in einem ersten Schritt an die unterschiedliche Entwicklung der regionalen Märkte anpassen. Wir werden über diese 7. Wohngeldnovelle am nächsten Freitag eingehend zu sprechen haben. Wir wissen aber, daß mit ihr nur punktuell geholfen wird, und wir werden deshalb die allgemeine Mietenentwicklung aufmerksam beobachten und rechtzeitig die notwendige allgemeine Anpassung des Wohngeldes vornehmen.
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Wir werden im Dezember den Wohngeld- und Mietenbericht vorlegen, und zwar auf der Basis aktueller Zahlen. Im Lichte dieses Berichtes werden dann Bundesregierung und Bundestag zu entscheiden haben, wann die nächste allgemeine Wohngelderhöhung erfolgen soll.
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Staatssekretär?
Ja, gerne.
Herr Staatssekretär, nach der positiven Bewertung der Funktion des Wohngeldes und nach dem Hinweis auf den Mietenbericht: Heißt das, daß in der für den 7. November angekündigten Stellungnahme der Bundesregierung, ausgelöst durch den Prüfungsauftrag des Bundeskanzlers, für das nächste oder übernächste Jahr keine Wohngeldmodelle enthalten sein werden?
Ich kann Ihnen heute nicht sagen, was die Beschlüsse der Koalition im nächsten Monat ergeben werden, aber
ich meine, der Wohngeld- und Mietenbericht der Bundesregierung ist ein wichtiges Datum und wird die Fakten darlegen, die der Bundesregierung und dem Bundestag eine sachgerechte Entscheidung ermöglichen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend festhalten: Daß das Wohngeld an die gestiegenen Mieten und Einkommen anzupassen ist, ist für die Bundesregierung auch in Zukunft - ebenso wie in der Vergangenheit - eine Selbstverständlichkeit. Dazu bedarf es keiner Aufforderungen der Opposition.
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Beide Maßnahmen - Wohnungsneubau ebenso wie Wohngeldanpassung - sind wichtige Instrumente unserer sozial ausgerichteten Wohnungsmarktpolitik, die zusammen gesehen werden müssen und in ihrer Effizienz erhalten und weiter verbessert werden, wie unsere jüngsten Beschlüsse auch gezeigt haben.
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Meine Damen und Herren, ich schließe hiermit die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5267 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Kein Widerspruch. So beschlossen.
Wir sind damit am Ende der heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Dienstag, den 24. Oktober 1989, 13.30 Uhr ein. Es geht in dieser Sitzung vorläufig nur um die Regierungsbefragung.
Die Sitzung ist geschlossen.