Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den in der 159. Sitzung des Deutschen Bundestages bereits überwiesenen, von der Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes auf Drucksache 11/4909 nachträglich dem Ausschuß für Verkehr zur Mitberatung zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses ({0})
a) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Lippelt ({1}) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einstellung der Tiefflüge der Bundesluftwaffe in Ntesinan ({2})
b) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Einstellung von Tiefflügen
c) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Beer, Dr. Lippelt ({3}), Dr. Mechtersheimer, Frau Schilling, Schily und der Fraktion DIE GRÜNEN
Einstellung von Flugveranstaltungen Abschaffung von Tiefflügen
- Drucksachen 11/2354, 11/2866, 11/2904, 11/3836 -Berichterstatter:
Abgeordnete Francke ({4}) Heistermann
Zu der Beschlußempfehlung liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5249 vor.
Im Ältestenrat ist vereinbart worden, daß die Debatte 90 Minuten dauern soll. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Schilling.
Um gleich die Debatte zusammenzufassen: Tiefflug? Da gibt es nur eines: Sagt nein!
Herr Stoltenberg, was Sie mit Ihrem Konzept - dieses Wort möchte ich in Anführungsstrichen verstanden wissen - der Öffentlichkeit vorzulegen und weiszumachen versucht haben, ist ein erneutes Herumkurieren an Symptomen. Sie werden den Interessen der Bevölkerung in keinster Weise gerecht. Es besteht wiederum keinerlei Hoffnung, daß Bestimmungen oder gesetzliche Regelungen eingehalten werden. Wenn nämlich bisher bereits gesetzliche Regelungen eingehalten worden wären, wäre eine Entlastung der Bevölkerung vom Tiefflugterror schon längst vorhanden.
({0})
Das ständige Herumkurieren an Symptomen als Beruhigungspille für die Bevölkerung machen wir nicht mit.
({1})
Sie sollten damit endlich aufhören und sich einmal in diesem Rechtsstaat, wenn Sie sagen, daß es einer sei, über die Gesetzeslage genauestens informieren. Damit verstoßen Sie nämlich gegen sämtliche Gesetze, die in dieser Richtung existieren. Das Interesse der Bevölkerung geht dahin, daß sie endlich Ruhe bekommt. Mit Ihrem sogenannten Konzept ist das natürlich nicht möglich.
Tieffluglärm macht nachgewiesenermaßen krank, verseucht die Umwelt, verstärkt den Treibhauseffekt, beschleunigt das Waldsterben.
Zum Tiefflugexport - das ist der eigentliche Hintergrund Ihres ganzen gestern vorgelegten sogenannten Konzepts. Sie wollen das, was hier krank- und die Natur kaputtmacht, anderen Völkern und anderen Ländern zumuten. Das wollen Sie exportieren.
({2})
Das ist keine Lösung. Es gibt im Tiefflugbereich keine Lösung außer dem sofortigen Stopp. Es gibt keine andere. Alles andere ist nur ein Herumkurieren an Symptomen.
Wir brauchen auch gar keinen Tiefflug; denn selbst militärtechnisch ist er völlig sinnlos, da Radar nicht mehr unentdeckt unterflogen werden kann.
Das Grundrecht auf körperliche und geistige Unversehrtheit wird durch Tiefflug außer Kraft gesetzt.
Tiefflug dient nicht der Verteidigung. Wer tieffliegt, will angreifen. Das ist verfassungs- und völkerrechtswidrig. Tiefflug ist damit völlig sinnlos, allein schon durch die militärtechnische Entwicklung überholt. Das heißt also, es gibt keinen Grund, auch nicht die Gründe, die die Militärs hier angeben, für Tiefflug - es gibt überhaupt gar keinen.
({3})
Die Bundesrepublik ist ein souveräner Staat. Allein sie entscheidet - und hier wiederum Sie, Herr Stoltenberg - , ob endlich die berechtigten Interessen ihrer Bevölkerung zum Durchbruch kommen. Wir hier im Bundestag als von der Bevölkerung gewählte Volksvertreter und Volksvertreterinnen haben das Recht und die Pflicht, das hier zu beschließen, nämlich: sofortigen Tiefflugstopp. Wir haben das Recht und die Pflicht, sage ich.
Der Verteidigungsminister kann einen Tiefflugstopp mit seiner Unterschrift sofort einleiten und so endlich auch einmal seinem Amtseid gerecht werden, nämlich Schaden vom Volk abzuwenden.
Sie versuchen es gar nicht erst, Herr Stoltenberg. - Im übrigen wäre es ganz schön, wenn Sie sich zumindest den Anschein gäben, als würden Sie zuhören.
({4})
Sie versuchen gar nicht erst, Herr Stoltenberg, Schaden vom Volk abzuwenden, sondern Sie versuchen, die Interessen der Militärs und der Industrielobby hier durchzusetzen, und das in einer Art und Weise, die ich wirklich als zynisch und menschenverachtend brandmarken muß; denn wer die Bevölkerung dermaßen verarscht und ihr vormacht, daß sich jetzt etwas ändern würde, der lügt ganz einfach, der lügt einfach, weil schon die vorherigen Bestimmungen nicht eingehalten wurden.
Frau Abgeordnete Schilling, dieser Ausdruck, den Sie eben gebraucht haben und den ich nicht wiederholen möchte, ist unparlamentarisch. Ich erteile Ihnen einen Ordnungsruf.
: Also darüber, was man hier alles lernt, was angeblich parlamentarisch ist und was unparlamentarisch sein soll, wollen wir jetzt mal lieber schweigen.
Frau Abgeordnete Schilling, über Ordnungsmaßnahmen des Präsidenten gibt es in diesem Hause keine Diskussion.
Ja, ja.
Ich möchte Sie wirklich alle bitten, entgegen den Voten, die in den Ausschüssen getroffen worden sind, den GRÜNEN-Anträgen zuzustimmen. Wir haben zwei Anträge eingebracht, einen zum Tiefflugstopp und einen zum Tiefflugexport, der besagt, daß Tiefflug nicht noch in andere Länder, speziell Labrador, verlagert werden sollte.
Ich möchte Sie bitten, an den Tiefflugexport auch in der Form zu denken, daß damit anderen Völkern die Lebensgrundlage entzogen wird. Um das etwas zu verdeutlichen, möchte ich Ihnen den offenen Brief des Volkes der Innu vorlesen; denn da ist die Argumentation ganz klar drin. Ich bitte Sie schon jetzt, zu überlegen, wie sich der Bundestag dazu verhält. Der Bundestag muß sich nämlich zu dem Problem verhalten, daß Kanada der bundesdeutschen Luftwaffe Gelände zur Verfügung stellt, damit sie Tiefflug, Tiefstflug in 30 Metern Höhe, machen kann. Dieses Gelände gehört Kanada aber gar nicht. Dieses Gelände hat sich Kanada schlicht von den Innus angeeignet. Die Innus haben dieses Land niemals Kanada abgetreten. Und eine Bundesrepublik, die ein Rechtsstaat sein will, muß auch hier überlegen, was sie da tut.
Ich möchte Ihnen jetzt zur Begründung unseres Antrages in bezug auf Labrador diesen offenen Brief vorlesen:
An die Völker von Großbritannien, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland
Airbase Camp, Ntesinan, 12. Oktober 1988
Wir sind das Volk der Innu von Ntesinan. Andere nennen unser Land Labrador. Wir haben schon immer auf diesem Land gelebt. Es wurde von einer Generation zur anderen weitergegeben. Heute sind wir die Verwalter dieses Landes. Die vorige Generation hat es uns anvertraut, damit wir es unseren Nachkommen weitergeben können, mit all seiner Schönheit und seinem Reichtum. Unser Volk zählt 10 000 Menschen. Wir leben in Sheshatshit, der Innu-Siedlung, die dem Flughafen am nächsten liegt, den Kanada illegal auf unserem Land errichtet hat. Die Siedlung hat 800 ständige Einwohner, aber wir verbringen viel Zeit beim Jagen und Fischen auf unserem Land.
Wir schreiben, weil wir um Ihre Hilfe bitten möchten. Kriegsflugzeuge mit den Abzeichen Ihrer Länder üben über unserem Land illegale Tiefflüge und das Abwerfen von Bomben. Täglich erleben die Menschen unseres Volkes und die Tiere, die wir jagen, den fürchterlichen Schrekken dieser lärmenden Düsenflugzeuge. Sie fliegen nur 30 Meter über unsere Köpfe hinweg. Die kanadische Regierung hat zudem die NATO eingeladen, die illegale Flugbasis zum vollausgebauten Tiefflug- und Bombenabwurfsübungszentrum auszuweiten.
Unsere Bitte ist einfach, aber für uns geht es dabei um Tod oder Leben. Bitte nehmen Sie Kontakt mit Ihren Regierungen auf, und verlangen Sie, daß diese die Verletzung unserer fundamentalen Menschenrechte einstellen.
Der Brief geht noch etwas weiter. Ich möchte aber nach diesem Teil das Zitieren des Briefes erst einmal beenden.
Wenn alle diese Argumente, die ich jetzt genannt habe, Ihnen noch nicht ausreichen, um endlich einmal den berechtigten Interessen der Bevölkerung Rechnung zu tragen, dann denken Sie doch zumindest einmal an die Kinder. Denken Sie einmal an Tieffluglärm und Kinder. Auch Ihre sogenannten Verbesserungen, Herr Stoltenberg, werden diesen Kindern nicht helfen. Denn der Lärm, der trotz alledem noch entsteht und auch weiter entstehen wird - denn es wäre ein Wunder, wenn sich einmal jemand an diese Bestimmungen hielte - , schädigt nachweislich insbesondere Kinder. Es entstehen nachweislich Lernbehinderungen, Lernstörungen und Entwicklungsbehinderungen bis zu einem Jahr. Wenn man sich einmal klarmacht, was hier mit den Kindern, die in diesen Gebieten aufwachsen und die auch weiterhin davon betroffen sein werden, passiert und was damit alles verbunden ist, dann ist das ein Thema für sich.
Ich denke, daß in diesem Bereich ganz bestimmt etwas getan werden muß, und zwar wenigstens den Kindern zuliebe, wenn Sie schon alle anderen Argumente vom Tisch wischen.
Ich möchte Sie hier auffordern, die vorliegenden Beschlußempfehlungen zu revidieren und sich unserem Antrag auf sofortigen Tiefflugstopp anzuschließen.
Ich will Ihnen einmal sagen, daß das einzige, was hier tieffliegen darf, vielleicht so eine Frisbeescheibe ist,
({0})
aber sonst nichts.
({1})
Frau Abgeordnete Schilling, auch Sie haben sich an die Ordnung dieses Hauses zu halten.
({0})
Ich möchte Sie noch einmal darauf aufmerksam machen, nicht zu glauben, Sie könnten Ihre eigenen Vorstellungen ohne Rücksicht auf die Würde dieses Hauses - ich halte davon noch etwas - verwirklichen. Deshalb erteile ich Ihnen einen weiteren Ordnungsruf.
Das Wort hat der Abgeordnete Francke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Dezember 1987, also vor knapp zwei Jahren, hat der Unterausschuß „Militärischer Fluglärm - Truppenübungsplätze" seine Arbeit aufgenommen. Seither hat sich dieser Unterausschuß, aber auch jeder einzelne Kollege noch intensiver mit den Problemen im Zusammenhang mit militärischem Tiefflug beschäftigt als vorher.
Zu den Erkenntnissen, die wir als Mitglieder dieses Unterausschusses aus zahlreichen Besuchen, aus Gesprächen vor Ort, aber auch aus den zahlreichen Eingaben der vergangenen Monate gewonnen haben, gehört die Feststellung, daß trotz der bereits erfolgten Reduzierungsmaßnahmen der vergangenen Jahre die Sensibilität in der Bevölkerung nicht abgenommen, sondern eher zugenommen hat. Es gibt in diesem Hause keinen einzigen, der für die Besorgnisse, die Ängste und die daraus erwachsenden Abwehrreaktionen der betroffenen Bevölkerung kein Verständnis hätte.
Aus diesem Grunde sind in den vergangenen Jahren zahlreiche Maßnahmen ergriffen worden, um die Bevölkerung vom Tieffluglärm zu entlasten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, daß die Tiefflugausbildung der Luftwaffe über der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1980 und 1986 um nahezu die Hälfte verringert worden ist.
({0})
Seit 1986 unterbleiben in den Monaten Mai bis einschließlich Oktober in der Zeit zwischen 12.30 Uhr und 13.30 Uhr alle Flüge strahlgetriebener Kampfflugzeuge unterhalb einer Höhe von 450 m über Grund. Die Verweildauer in den Tiefflughöhen ist auf maximal 50 Minuten je Einsatz reduziert worden. Es erfolgte ein weitgehender Verzicht der Einsatzverbände auf Tiefflüge im Nahbereich der Heimatflugplätze, um die ohnehin stark belasteten Flugplatzrandgemeinden und die umliegenden Ortschaften zu entlasten.
Es ist also gerade unter den Verteidigungsministern der von der CDU/CSU und der FDP getragenen Bundesregierungen seit 1982 eine Menge geschehen, was den berechtigten Anliegen der Bevölkerung entgegenkommt.
({1})
Auf der anderen Seite jedoch haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP nie einen Zweifel daran gelassen, daß für sie eine ersatzlose Streichung militärischer Tiefflugübungen über der Bundesrepublik nicht in Frage kommt. Diese Haltung ist die logische Folgerung aus dem Bekenntnis zur Bundeswehr als unserem Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung im Rahmen der westlichen Allianz,
({2})
und sie ergibt sich aus der Tatsache, daß die Bundeswehr, die ja auch eine Ausbildungsarmee ist und sein muß, ihren Verteidigungsauftrag nur dann auf glaubwürdige Weise erfüllen kann, wenn sie auf Grund hinreichender Übungsmöglichkeiten einen möglichst hohen Ausbildungsstand erreicht und hält.
({3})
Diese unsere Überzeugung gilt auch im Hinblick auf den Zeitraum nach dem Abschluß von Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen.
Wir vertreten damit im übrigen eine Position, die früher auch von der sozialdemokratischen Seite dieses Hauses getragen worden ist.
({4})
Francke ({5})
Dafür zwei Beispiele: Am 16. Juli 1981 hat der Kollege Penner als damaliger Parlamentarischer Staatssekretär an alle Mitglieder des Hauses geschrieben - ich zitiere - :
Vielen Mitbürgern ist die Notwendigkeit von Überschall- und Tiefflügen nicht bekannt. Häufig erreichen mich Klagen über Fluglärmbelastung aus allen Regionen der Bundesrepublik Deutschland. Kaum jemand versteht,
- so schreibt der Staatssekretär warum nicht gerade sein Wohnort aus den Flugbereichen ausgespart wird. Ich nehme diese Besorgnisse sehr ernst. Das Bundesministerium der Verteidigung ist nach Kräften bemüht, vermeidbare Fluglärmbelastungen abzubauen. Der Rahmen für diese Bemühungen jedoch wird durch den Verteidigungsauftrag begrenzt. Militärische Ausbildungsflüge müssen stattfinden,
({6})
um die Einsatzbereitschaft der Luftstreitkräfte aufrechtzuerhalten.
So die SPD-geführte Bundesregierung im Jahre 1981.
Der Vorsitzende des Unterausschusses Tiefflug, der Kollege Kolbow, hat am 10. Dezember 1987 zu Beginn der Ausschußtätigkeit erklärt: Es muß im Ernstfall sehr tief, noch unter 100 m über Grund, und sehr schnell, mindestens 800 km/h, geflogen werden; daran hat sich die militärische Flugausbildung im Frieden auszurichten. - Soweit der Vorsitzende.
({7})
Herr Abgeordneter Francke, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kolbow?
Wenn es nicht von meiner Redezeit abgeht, ja. Sonst bitte ich um Nachsicht dafür, daß ich das ablehne.
Das wird nicht angerechnet.
Dann bitte sehr!
Herr Kollege Francke, würden Sie mir freundlicherweise darin zustimmen, daß ich in der von Ihnen zitierten Passage lediglich wiedergegeben habe, was die Luftwaffenführung selbst gewollt hat, daß ich von dieser Situation ausgegangen bin und in diesem Zusammenhang nicht meine Meinung vertreten habe?
({0})
Herr Kollege Kolbow, Sie haben die Luftwaffenführung zum Beweis Ihrer eigenen These herangezogen und die These der
Luftwaffenführung zu Ihrer eigenen gemacht. Das ist die Antwort auf Ihre Frage.
({0})
Was also, meine Damen und Herren, von sozialdemokratischen Kollegen damals noch als notwendig im Sinne des Erhalts der Einsatzbereitschaft unserer Luftstreitkräfte bezeichnet wurde, das nennen andere in der SPD heute „Luftterror", „Rowdytum" und sogar „Krieg gegen die eigene Bevölkerung". Wie glaubwürdig - so frage ich Sie - ist eigentlich eine Partei, die sich auf sicherheitspolitischen Symposien, bei Truppenbesuchen und in sonntäglichen Grundsatzreden zum Verteidigungsauftrag unserer Bundeswehr bekennt, aber dann im konkreten Einzelfall - wie hier in Sachen Tiefflug - die Soldaten eben dieser Bundeswehr nicht nur im Stich läßt, sondern auch noch der öffentlichen Diskriminierung preisgibt?
({1})
Wer die Bundeswehr als Instrument der Friedenssicherung bejaht, der darf ihre Angehörigen - in diesem Falle die Piloten - nicht mit einem Ton der Feindseligkeit überziehen,
({2})
der es den Soldaten schwermacht, sich noch als integrativer Bestandteil dieser Gesellschaft zu fühlen. Sie, meine Damen und Herren von der Sozialdemokratischen Partei, leisten auf diese Weise - ähnlich wie bei der Verbannung von Gelöbnissen hinter die Kasernenmauern - einen unseligen Beitrag zur Ausgrenzung der Bundeswehr aus dieser Gesellschaft.
({3})
Der SPD-Abgeordnete Roth hat in einer Pressemitteilung vom 13. September erklärt, Tiefflieger seien ein größeres Risiko als Gorbatschow und all die anderen, Tiefflüge seien ein Mittel des Kalten Krieges.
({4})
Dazu kann ich nur sagen: Wer so unverantwortlich daherredet, ist ein größeres Risiko als die Tiefflieger,
({5})
die nichts anderes tun, als ihren Verteidigungsauftrag zu erfüllen.
Ein weiteres Beispiel: Auf eine Einladung der Bundeswehr schreibt der Vorsitzende der Jungsozialisten in Lübeck: Ihre Veranstaltung „ist der Versuch den Militarismus in die Köpfe junger Menschen hineinzutragen, es soll der Versuch gemacht werden die Bundeswehr in die Normalität des Alltags" zu retten. „Die Jusos lehnen die Bundeswehr ab und sind an einer Zusammenarbeit mit ihnen nicht interessiert. " Meine Damen und Herren, das ist das wahre Gesicht der
Francke ({6})
Mehrheit der Sozialdemokraten und ihrer Unterorganisationen.
({7})
Wir widersetzen uns energisch dieser populistischen Attitüde der SPD und setzen eine Politik dagegen, die bemüht ist, einen Kompromiß zwischen den Besorgnissen der Bevölkerung und den Erfordernissen der Verteidigungsbereitschaft zu finden. Auf der Suche nach diesem Kompromiß sind wir mit der Vorlage des Tiefflugkonzeptes durch Bundesminister Dr. Stoltenberg ein gutes Stück vorangekommen. Wir haben immer gesagt, daß wir einen Handlungsrahmen erwarten, der ein Bündel von kurz-, mittel- und langfristigen Maßnahmen enthält. Zu den kurzfristig wirksam werdenden Maßnahmen gehört die Reduzierung der Tieffluggeschwindigkeit. Damit wird eine Reduzierung der Lärmbelästigung je nach Flugzeugtyp um bis zu 25 % erzielt.
({8})
Eine weitere kurzfristig greifende Maßnahme ist die Verminderung der Tiefflugabfangübungen. Bei diesen Übungen halten sich gleichzeitig und für mehrere Zeiträume Flugzeuge mit hoher Triebwerksleistung in einem eng begrenzten Raum auf, so daß sie besonders lärmintensiv sind.
({9})
Wir erwarten durch die nun beschlossene Maßnahme eine sofortige Verringerung dieser Abfangübungen um etwa ein Drittel.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Gerster?
Unter der Prämisse, die ich vorhin aufgestellt habe, ja.
Herr Kollege Francke, da Sie meinen, die Position der Sozialdemokratischen Partei mit einzelnen Zitaten umschreiben zu können, frage ich Sie: Identifizieren Sie sich mit allen Aussagen aller Funktions- und Mandatsträger der Union, z. B. auch mit antisemitischen Äußerungen christdemokratischer Bürgermeister vor Ort?
({0})
Erstens hat die Frage keinen Sachzusammenhang mit dem Thema, das wir behandeln.
({0})
Zweitens weise ich den untauglichen Versuch, Mitglieder oder Funktionsträger der CDU/CSU in irgendeine Nähe zu antisemitischen Äußerungen zu stellen, entschieden zurück.
({1})
Gebiete, die bislang durch eine besondere Tiefflugdichte belastet waren, werden entlastet. Zu diesem Zweck werden bis Ende März 1990 in zwei Gebieten
Modellversuche durchgeführt und ausgewertet. Von besonders einschneidender Bedeutung ist die Reduzierung der Verweildauer im 75-Meter-Band auf durchschnittlich 15 Minuten, was in Verbindung mit der bereits erwähnten Fluggeschwindigkeit zu einer größeren Lärmverminderung führt. Es ist besonders zu begrüßen, daß die Alliierten in diese Maßnahmen einbezogen sind.
Richtig ist aber auch: Nicht alles, was wir gewünscht haben, konnte schon erreicht werden. Dazu gehört insbesondere die Forderung nach Einführung eines weiteren tiefflugfreien Tages. Schwerpunkte bei den Bemühungen um weitere Entlastungen müssen nach unserer Auffassung die Errichtung eines EDV-gestützten Luftiagezentrums unter Einbeziehung der Verbündeten, der weitere Ausbau der Kapazitäten, insbesondere in Goose Bay, Decimomann und Konya, um zu einer weiteren Verlagerung von Tiefflugübungen in das Ausland zu gelangen, und die forcierte Entwicklung von leiseren Triebwerken und Simulatoren sein.
Eine Schlußbemerkung. Einen wichtigen politischen Schwerpunkt bildet nach unserer Auffassung das notwendige und bereits in die Wege geleitete Gespräch mit den Bundesländern, um zu einer Entzerrung der Tiefflugbelastungen in der Bundesrepublik zu kommen. Wir erwarten, daß sich die Bundesländer ihrer Verantwortung hierbei nicht entziehen und bei ihrer Haltung die Erfordernisse der Verteidigungsbereitschaft angemessen in Rechnung stellen. Es handelt sich um eine Gesamtverteidigung, und die Belastungen können nicht nur Teilen der Bevölkerung aufgelastet werden. Hier ist die Bundestreue gefordert. Ich sage aber auch: Sollten die Ergebnisse nicht in angemessener Weise zu einem befriedigenden Ergebnis führen, erwarten wir, daß die Bundesregierung alle rechtlichen Möglichkeiten prüft und ausschöpft, um eine entsprechende Entscheidung auch allein fällen zu können.
Abschließend möchte ich feststellen: Die CDU/ CSU-Fraktion geht davon aus, daß das Parlament über die Fortschritte bei der Umsetzung der geplanten Maßnahmen und aller weiteren fortlaufend informiert wird. Bei allen Maßnahmen, über die wir hier diskutieren, halten wir jedoch die Notwendigkeit, militärischen Tiefflug über der Bundesrepublik auch künftig in einem zu bestimmenden Mindestmaß zu üben, für nicht widerlegt.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heistermann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Francke, lassen Sie mich einmal ganz offen sagen: Der Versuch, hier ein Feindbild SPD aufzubauen, mag zwar zur Selbstbefriedigung reichen, aber damit werden Sie keinen Eindruck bei den betroffenen Bürgern erzeugen, denn die erwarten politische Antworten.
({0})
Ich möchte deshalb zu dem kommen, worum es heute eigentlich geht, nämlich zur Frage: Was kann die Bundesrepublik tun, um Belastungen von der Be12292
völkerung wegzunehmen, die in Tieffluggebieten wohnt? Meine Damen und Herren, die abrüstungspolitischen Möglichkeiten waren selten so gut wie in diesen Zeiten. Die Supermächte haben das mit ihren jüngsten Abkommen und Vereinbarungen aufs neue gezeigt. In Zentral- und Osteuropa gehen Veränderungen vor sich, die vor nicht allzu langer Zeit ins Reich der Fabeln verwiesen worden wären, Veränderungen im übrigen, die auch und gerade abrüstungspolitischen Schritten vorzügliche Bedingungen schaffen.
Im Ost-West-Verhältnis stehen die Signale auf Entspannung. In Wien wird auf Grund der Initiative Präsident Bushs auch über die Abrüstung bei Kampfflugzeugen verhandelt. Nur eines scheint in dieser Welt des Wandels sicher zu sein: Diese Bundesregierung hält an der Tiefflugrepublik Deutschland fest. Diese Bundesregierung betreibt Tiefflugübungen so, als müßten sich die NATO-Luftstreitkräfte darauf einrichten und vorbereiten, morgen bomben- und raketenbeladen an Weichsel oder Oder zu fliegen.
({1})
Tiefflug verfolgt in der heutigen Strategie und den Operationsplanungen des westlichen Bündnisses in erster Linie den Zweck, die gegnerische Luftverteidigung zu unterfliegen und Zerstörung im feindlichen - ich sage es in Anführungszeichen - „Hinterland" anzurichten. Macht das alles noch Sinn angesichts der Entwicklungen in Osteuropa und in der DDR? Müssen wir unsere Piloten, die einen politisch erteilten Auftrag erfüllen, im Frieden in einer solchen Ausbildungsstufe halten? Müssen Bürger wegen dieser Luftverteidigungsdoktrin den Höllenlärm des Tiefflugs auf Dauer ertragen? Ich sage: Das ist unvorstellbar.
({2})
Die SPD hält ihre im vergangenen Jahr gestellten Forderungen nach Einstellung der Tiefflüge über der Bundesrepublik Deutschland und nach einer neuen Verteidigungskonzeption im Sinne des Mandats für die Wiener Abrüstungsverhandlungen unverändert aufrecht. Nicht die Bürger müssen hinzulernen, was Tiefflug bedeutet. Vielmehr sind es die Luftkriegsstrategen in den Ministerien und ihre parlamentarischen Helfer, die sich auf eine veränderte Lage einstellen müssen.
({3})
Schon bei Minister Wörner, Minister Scholz und nun auch bei Minister Stoltenberg soll alles so bleiben, wie es war. Stoltenbergs Strickmuster für den Tiefflug lautet: Darf es für fünf Pfennig weniger sein? Daß Sie, Herr Minister, mit Ihrem jetzt vorgelegten, schon seit Monaten angekündigten Tiefflugkonzept nicht mit der Akzeptanz der Bevölkerung rechnen können, ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich gestatte eine Zwischenfrage. Bitte schön, Kollege.
Herr Kollege Heistermann, wie beurteilen Sie denn die Aussagen der ehemaligen Minister Leber und Apel, die ja aus Ihrer Fraktion kommen, daß man auf Tiefflug nicht ganz verzichten könne, und die Ihnen ins Stammbuch Ihrer Partei geschrieben haben, daß es unehrlich sei, zu sagen, daß man auf Tiefflug ganz verzichten könne? Wie beurteilen Sie diese Aussagen?
Kollege Nolting, wenn Sie sich unseren Antrag ansehen, dann werden Sie feststellen, daß wir Tiefflug nicht über der Bundesrepublik Deutschland wollen. Es geht nicht um die Einstellung der Ausbildung im Tiefflug, sondern um die Tiefflugausbildung über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Hätten Sie sich das genau angeguckt, dann hätten Sie diese Frage hier so nicht gestellt.
({0})
Herr Minister, glauben Sie wirklich, daß, wenn Düsenjets nicht mehr als 28, sondern nur noch 15 Minuten in der 75-m-Zone fliegen, dies die Zustimmung der Betroffenen findet? Glauben Sie wirklich, daß es ausreicht, die Zahl der Städte und der dichtbewohnten Gebiete, die nicht in 75 m Höhe überflogen werden dürfen, von 25 auf 61 zu erhöhen? Welche Städte sind das im übrigen? Warum haben Sie nicht schon längst die Fluggeschwindigkeit reduziert, übrigens eine alte Forderung der SPD? Fragen Sie doch einmal die Bürger, die Bürgerinitiativen, die Kirchen, die Parteien, die Stadt- und Gemeinderäte, die Kreistage und Landtage, die Kinder und ihre Eltern, die seit Jahr und Tag auf eine Heimat ohne Tiefflug hoffen. All diese Menschen werden Ihnen das gleiche sagen, Herr Minister: Wir können Ihren Vorschlag nicht akzeptieren; wir wollen die Einstellung der militärischen Tiefflüge über unserer Stadt und über unserem Land.
So positiv es im einzelnen sein mag, wenn die angekündigten Verbesserungen in die Tat umgesetzt werden, so wenig werden die vorliegenden Vorschläge im Ganzen nutzen. Sie nutzen weder der Mehrheit der leidgeplagten Bürger, noch der Hardthöhe in ihrer Hoffnung, etwas Dampf aus dem Kessel zu lassen.
Wir Sozialdemokraten stimmen mit den Bürgerprotesten weiterhin überein. Wir bleiben bei unserer Auffassung, daß Schutz, Fürsorge und Entlastung unserer Bevölkerung im Frieden Vorrang vor überzogenen militärischen Forderungen haben. Aber dies alles darf nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben werden.
Herr Minister, Sie haben eine große Chance verpaßt. Sie hätten mit einer neuen Konzeption viele Bürger hinter sich bringen können. Diese Bundesregierung trägt nicht unerheblich die Schuld an der schon heute erheblichen Spannung zwischen Bevölkerung und Luftwaffe, d. h. auch zwischen Bevölkerung und Bundeswehr. Ihr Tiefflugkonzept baut keine Spannungen ab, sondern schafft neue.
({1})
Ich darf Ihnen eine erste Reaktion von einem sicherlich unverfänglichen Zeugen einmal vorhalten. Aus der Zeitung aus Südoldenburg darf ich Ihnen folgende Kritik vorlesen - ich zitiere - :
Mit Kritik hat gestern der Sprecher der Bundesvereinigung der kommunalpolitischen Arbeitsgemeinschaften gegen den Tieffluglärm, Jürgen Wiehe aus Löningen, auf die Entscheidung von Verteidigungsminister Stoltenberg zur Verminderung des Fluglärms reagiert. Stoltenbergs Konzept entspreche insgesamt nicht den Erwartungen seiner Organisation, sagte Wiehe.
Immerhin sind es nicht Sozialdemokraten, sondern Christdemokraten, die das ausführen. Ich nehme an, daß es Ihnen ausreicht, darüber nachzudenken, was für ein Konzept Sie hier tatsächlich vorgelegt haben. Sie sehen: Es sind nicht Sozialdemokraten, die hier Kritik üben, es sind vielmehr Ihre eigenen Fraktionen, Ihre eigenen betroffenen Bürger, die sich hier zu Protest melden. Diese Bürger werden wir auch hier im Bundestag durch unsere Stellungnahme vertreten.
Herr Minister, wenn Sie sich das alles noch einmal vor Augen führen - ich sage Ihnen das heute schon voraus: Ein paar Prozent Reduzierung, eine kleine Geschwindigkeitsverringerung, das alles macht kein Konzept aus, das auf breite Zustimmung in der Bevölkerung stoßen könnte. Es muß mit der unerträglichen und unnötigen Tiefflugbelastung in unserem Land Schluß gemacht werden. Das ist die politische Aufgabe, der Sie sich zu stellen haben. Ihrem Tiefflugkonzept liegt der Ernstfall zugrunde. Wo aber ist Ihr Konzept, wenn durch Abrüstung und Entspannung die Menschen in Europa einander immer näherrücken und eine gemeinsame, friedliche Entwicklung wollen? Wie gedenken Sie darauf zu reagieren? Bleiben Sie bei Ihrer Luftverteidigungsdoktrin?
({2})
Im Gegensatz zu Ihnen sind wir der Auffassung, daß die Einstellung der Tiefflüge bei uns auch ein wichtiges Element der Vertrauensbildung sein könnte. Deshalb bitten wir die Abgeordneten aller Fraktionen um ihre Zustimmung zum Änderungsantrag der Fraktion der SPD, zu der Beschlußempfehlung und dem Bericht des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 11/3836.
Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung und die NATO auf, ein Konzept vorzulegen, das den Verzicht auf Tiefflugübungen endgültig möglich macht, und ein Verteidigungskonzept zu erarbeiten, das der eigenen Bevölkerung das Leid und die Schrecken erspart, die durch Tieffluglärm entstehen. Herr Kollege Nolting, das ist die politische Aufgabe, die gestellt ist. Es geht nicht um kleinliche Reduzierungen oder den Versuch, der Bevölkerung Sand in die Augen zu streuen.
({3})
Herr Minister, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei Reduzierungen endlich einmal auf eine klare Regelung verständigen könnten. Sie sprechen von Minimierung der Flugstunden, aber wieviel Flugeinsätze tatsächlich stattfinden, darüber sagen Sie nichts mehr aus. Sagen Sie der Bevölkerung, ob auch die Flugeinsätze reduziert werden oder ob nur die Verweildauer, also die Flugstunden reduziert werden!
({4})
Ich kann nur sagen: Hier wird der Bevölkerung Sand in die Augen gestreut, weil jeweils die Zahl genommen wird, mit der man ein günstiges Ergebnis erzielen will. Das ist keine ehrliche Politik, und weil diese Politik nicht ehrlich ist, löst sie bei der Bevölkerung die entsprechenden Proteste aus.
({5})
Wir sind der Auffassung, daß schon bevor dieses Konzept erarbeitet und verwirklicht wird, militärische Tiefflüge der Bundeswehr über dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingestellt werden können. Die Ausbildung der Piloten für Tiefflüge kann in Gebieten durchgeführt werden, die unbewohnt sind, oder über See. Militärisch gibt es keine nachvollziehbare Begründung, die 75-Meter-Flüge in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin durchzuführen.
({6})
Unser Konzept stellt sicher, daß die Menschen, die in den Tiefflugzonen wohnen, endlich von den unzumutbaren Belastungen befreit werden. Heute haben alle betroffenen Mitglieder des Deutschen Bundestages, die in Tieffluggebieten wohnhaft sind, die Chance, ihrer Bevölkerung zu helfen. Stimmen Sie so ab, wie Sie zu Hause reden!
Nach eingehender Prüfung aller vorliegenden Anträge sind wir uns sicher, daß der SPD-Antrag der umfassendste ist. Aus vielen Gesprächen und Beratungen weiß ich, daß die meisten Abgeordneten in die gleiche Richtung denken. Vielen Punkten, die in Anträgen der Koalitionsfraktionen oder der GRÜNEN gefordert werden, könnten wir Sozialdemokraten ohne weiteres zustimmen. Sie haben aber nicht den umfassenden Ansatz, wie er in unserem Antrag zum Ausdruck kommt.
Wie wäre es mit einer Allparteienkoalition gegen Tieffluglärm? Voraussetzung für eine Allparteienkoalition des Tiefflugstopps über der Bundesrepublik wäre allerdings, daß die Koalitionsfraktionen ihre Regierungsloyalität und daß die GRÜNEN ihre Basisloyalität in diesem Falle in den Hintergrund treten ließen. Es mag sein, daß das etwas zuviel verlangt ist, aber im Interesse der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wäre es wünschenswert.
Ansonsten bliebe es bei dem, was Minister Stoltenberg hier heute vorgestellt hat. Zur Information des Hauses sei gesagt, daß er den Mitgliedern des Verteidigungsausschusses erst nach einigen handverlesenen Journalisten die Ehre gab, von den Ministervorschlägen zu erfahren.
({7})
Das war kein guter Stil, Herr Minister. Wenn sich heute nichts änderte, bliebe es also bei dem Sammelsurium von Vorschlägen, das die Bezeichnung „Konzept" jedenfalls nicht verdient.
({8})
Ansonsten bliebe es dabei, daß wir die historische
Möglichkeit verspielten, der Tiefflugplage in Ost und
West ein Ende zu machen. Wir wollen die Chance
nutzen, unseren Beitrag zur friedlichen Entwicklung der Völker zu leisten.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoyer.
({0})
Herr Ehmke, die Mittellinie ist bei mir immer gewährleistet. Wir sind ja ohnehin der Meinung, die Mitte müsse gestärkt werden. Deswegen werde ich dabei bleiben.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Kollege Heistermann hat von einer Allparteienkoalition gegen den Tiefflug gesprochen. Eine solche Allparteienkoalition wird sicherlich nicht zustande kommen. Aber es wäre schon, wenn es hier wieder eine Allparteienkoalition gäbe, die einen sicherheitspolitischen Grundkonsens widerspiegelte.
({0})
Manchmal bin ich der Meinung, daß wir im Grunde auch nicht so furchtbar weit voneinander entfernt sind. Dieser Meinung bin ich immer dann, wenn wir uns in aller Ruhe der Sacharbeit zuwenden oder wenn wir gemeinsam auf Reisen sind und bei diesen Gelegenheiten über solche Themen sprechen. Aber hier im Plenum klingt das alles anders.
({1})
Wir sollten unsere Sprache wägen. - Ich rede nicht für andere, sondern für mich. Wer jemanden als parlamentarischen Helfershelfer eines anderen bezeichnet, stößt mit Appellen, Allparteienkoalitionen in bezug auf eine bestimmte Sache zu bilden, sicher nicht gerade auf Begeisterung.
({2})
Meine Damen und Herren, namens der FDP-Fraktion danke ich Minister Stoltenberg - ich schließe in diesen Dank auch den Parlamentarischen Staatssekretär und die Luftwaffenführung ein - dafür, daß er und seine Mitarbeiter sich vom Tage der Amtsübernahme an mit aller Energie der Bewältigung der Tiefflugproblematik gewidmet haben.
({3})
Wir Liberalen haben auf unserem vorletzten Bundesparteitag ein Maßnahmenbündel vorgeschlagen, das wir nach wie vor für geeignet halten, das Problem zu entschärfen. Dieser Forderungskatalog ist zum größten Teil in die Beschlußfassung des Unterausschusses „Militärischer Fluglärm" und in die Beschlußfassung des Verteidigungsausschusses eingegangen. Der Verteidigungsausschuß hat auf der Basis einer Vorlage der Koalitionsfraktionen im Dezember letzten Jahres einen entsprechenden Beschluß gefaßt. Wir haben das, was der Minister gestern im Verteidigungsausschuß vorgetragen hat, daran zu messen.
Ich gebe mich überhaupt nicht der Illusion hin, wir könnten alle Erwartungen erfüllen, die an uns gerichtet werden. Wir können, wir wollen und wir dürfen nicht die Erwartungen derer erfüllen, die die Problemlösung schlicht und einfach in einer Beseitigung des militärischen Tiefflugbetriebes sehen. Auch die Einhaltung von bestimmten im Raume stehenden Mindestflughöhen läuft auf nichts anderes als auf eine faktische Beseitigung des militärischen Tiefflugtrainings hinaus.
Wir müssen uns darum bemühen - der Verteidigungsminister hat dies mit großem Engagement getan - , einen Ausgleich zwischen denjenigen, die von uns eine möglichst große und spürbare Entlastung von dem von vielen Betroffenen verständlicherweise als unerträglich empfundenen Tieffluglärm erwarten, und denjenigen zu schaffen, die von uns als für die äußere Sicherheit unseres Landes mitverantwortlichen Politikern erwarten, daß wir unseren Luftstreitkräften die Mindestübungsmöglichkeiten verschaffen, die sie zur Erfüllung des von uns erteilten und von uns zu vertretenden Auftrags unbedingt benötigen. Man wird auch auf uns schauen, ob wir dieser Verantwortung gerecht werden und ob wir uns neben dem Bemühen um eine echte spürbare Lärmentlastung auch eindeutig und klar vor diejenigen stellen, die in unserem Auftrag - ich füge hinzu: unter Inkaufnahme höchster physischer und psychischer Belastungen - den militärischen Flugbetrieb durchführen.
({4})
Ziel war und ist es, den überall in der Bundesrepublik, wo tiefgeflogen werden darf, auftretenden Fluglärm so weit wie möglich zu vermindern, und zwar speziell dort, wo der Fluglärm ganz besonders unangenehm ist, nämlich dort, wo bis in 75 m Höhe hinunter geflogen werden darf. Darüber hinaus war es, ist es und bleibt es unser Ziel, die mit jeder Übungsaktivität verbundenen Risiken auf das unbedingt erforderliche Maß zu begrenzen. Die Forderungen, die wir im Dezember dazu aufgestellt haben, lassen sich in sechs Punkten zusammenfassen:
Erstens. Die Quantität des militärischen Tiefflugs ist so weit, wie es vertretbar ist, zu reduzieren.
Zweitens. Die Qualität des militärischen Tiefflugs und des Luftkampfes ist, wo immer möglich, im Sinne der Zielerreichung zu verändern.
Drittens. Technologische Alternativen zum militärischen Tiefflug und zum Üben des Tiefflugs sind zu nutzen.
Viertens. Verlagerungsmöglichkeiten sind, allerdings bei erheblichen Anstrengungen sozialer und infrastruktureller Absicherung und Flankierung, auszuschöpfen.
Fünftens. Eine gerechtere Verteilung des verbleibenden notwendigen Rests des militärischen Tiefflugs ist erforderlich.
Sechstens. Die Flugvorschriften sind strikt durchzusetzen, und ihre Einhaltung ist zu überprüfen.
Auf diesem Wege, meine Damen und Herren, ist der Verteidigungsminister einen sehr guten Schritt vorangekommen. Dies ist auch und nicht zuletzt ein Erfolg des Parlaments, das sich in den letzten zwei Jahren
immer wieder mit dem Thema befaßt hat und das im Verteidigungsausschuß und im Unterausschuß „Fluglärm" ein seriöses Maßnahmenbündel erarbeitet und nunmehr zum großen Teil durchgesetzt hat.
({5})
Dabei ist es mir ungeheuer wichtig, daß nach der erheblichen Reduzierung des Tiefflugbetriebs in den letzten zehn Jahren - einer Reduzierung, die allerdings fast ausschließlich auf das Konto unserer eigenen Luftstreitkräfte geht - nunmehr endlich auch die Alliierten dazu bewegt werden konnten, bei der Problemlösung mitzuwirken.
({6})
Dies ist auch dringend erforderlich, wenn nicht denjenigen, die das Thema „Tiefflug" als Aufhänger für eine unselige Souveränitätsdebatte mißbrauchen wollen, Vorschub geleistet werden soll.
Ich begrüße sehr, daß das Konzept nicht vordergründig auf eine nur zahlenmäßige Verminderung setzt - denn hier ist in der Tat in den letzten Jahren schon sehr viel geleistet worden - , sondern am Hauptziel der Verminderung der Lärmeinwirkung ansetzt. Hier kann vermutlich die Verminderung der Geschwindigkeit auf maximal 420 Knoten einen wesentlichen Beitrag leisten, obwohl man sich unter rein fachlichen Gesichtspunkten vielleicht auch hätte vorstellen können, daß man eine nach Flugzeugtypen differenzierte Lösung anstrebt. Daß damit praktische Probleme verbunden wären, ist mir klar; aber eine Idee wäre es durchaus gewesen.
Wichtig ist, daß nach den bisher vorliegenden Zwischenergebnissen der Untersuchungen der Lärm- und Lärmwirkungsforschung Geschwindigkeit einen ganz wesentlichen Faktor für die mit Tieffluglärm möglicherweise verbundenen Gesundheitsrisiken darzustellen scheint.
({7})
Mit einer Reduzierung auf 420 Knoten, die natürlich - das muß man klar sehen - Abstriche am Ausbildungsziel bedeutet, dürften wir in Größenordnungen der Lärmeinwirkung kommen, bei denen keine Gesundheitsrisiken zu befürchten sind.
({8})
Ich sage dazu aber auch ganz klar, daß nach unserer Auffassung das Tiefflugkonzept nach Vorlage der endgültigen Untersuchungsergebnisse im nächsten Jahr auf seine Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zu überprüfen sein wird.
({9}) Das ist eine pure Selbstverständlichkeit.
({10})
Wir Liberalen begrüßen darüber hinaus, daß der Verteidigungsminister auch modernste Technologie in den Dienst einer Problemlösung und Problementschärfung stellt. Ich habe die Substitutionsmöglichkeiten für Tiefflüge durch entsprechende neue Simulatoren zwar immer recht skeptisch beurteilt; ich muß aber zugeben, daß der Fortschritt auf diesem Gebiet - begonnen bei der Generierung der Datenbasis über die Leistungsfähigkeit der Parallelrechner bis hin zur fast revolutionären Verbesserung der Bildauflösung und Außensichtdarstellung - rasant ist.
({11})
Dasselbe gilt natürlich auch im Hinblick auf die Möglichkeiten eines computergestützten Tiefflugmanagements; allerdings hoffentlich eines Tages nicht nur als nachträgliche Aufzeichnung von Belastungsschwerpunkten, sondern im vorhinein. Das wäre die eigentliche Hilfe.
({12})
Es gilt des weiteren im Hinblick auf die Möglichkeiten eines rechnergestützten Luftkampftrainings über See und einer verbesserten Ausrüstung unserer Flugzeuge, die zumindest zum Teil die Notwendigkeit des Fluges in ganz niedriger Höhe im Rahmen des Luftkampfes deutlich reduzieren wird.
({13})
Das wird uns allerdings nicht der Notwendigkeit entheben, das noch auf absehbare Zeit gegebene Erfordernis militärischen Tiefflugs - wenn auch in deutlich reduziertem Umfang und mit drastisch reduzierter Lärmeinwirkung - gegenüber unserer Bevölkerung besser zu begründen. Natürlich wünschen wir uns alle, daß das eines Tages überflüssig wird. Die Abrüstungspolitik dieser Bundesregierung weist ja in die richtige Richtung.
({14})
Aber nicht nur die Aufträge der der Luftverteidigung zuzuordnenden Flugzeuge, sondern auch die derjenigen, die im Zweifel in der Lage sein müssen, in den gegnerischen Luftraum einzudringen und Angriffsoperationen gegnerischer Luft- wie Landstreitkräfte frühzeitig zu verhindern, werden auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag leisten müssen, Konflikte erst gar nicht entstehen zu lassen oder sie im Falle ihrer Entstehung sofort zu beenden, um politischen Problemlösungen eine Chance zu geben. Darin ist die Aufgabe zu sehen. Deshalb leisten diejenigen, die für uns diese Aufgabe erfüllen, einen wertvollen Friedensdienst.
({15})
Nachdem die Bundesregierung in diesem Zusammenhang ihre Aufgabe erfüllt hat, sind nunmehr die Bundesländer am Zuge. Ich fordere die Länder auf, endlich ihre Sankt-Florians-Haltung aufzugeben und ihren Beitrag zur Lösung des Problems zu leisten.
({16})
Denn die Bürger in den am stärksten betroffenen Regionen, dort, wo 75 m tief geflogen werden darf, tra12296
gen seit Jahrzehnten die Hauptlast des Fluglärms alleine. Das ist auf Dauer nicht hinnehmbar,
({17})
wenngleich die Verminderung des Lärmes um 50 eine wesentliche Verbesserung darstellt.
({18})
Verstecken hinter der Bundesregierung und ihrem nunmehr weitgehend erledigten Auftrag, mit den Alliierten zu verhandeln, können sich die Bundesländer jetzt auf jeden Fall nicht mehr.
Ich bedanke mich.
({19})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Müller ({0}).
({1})
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Gestern hat mich der Verteidigungsminister in seiner Pressekonferenz heftig angegriffen. Ich muß gestehen, ich war überrascht; denn ich hätte ein Dankeschön von Ihrer Seite erwartet. Ohne den beständigen Druck, den wir zusammen mit den Betroffenen erzeugt haben, hätten Sie sich nämlich nicht bewegt; und ohne diesen Druck hätten Sie auch bei den Alliierten nichts erreicht.
({0})
- Fragen Sie doch einmal Herrn Würzbach; der kann bestätigen, daß sich ohne dieses parlamentarische Zusammenspiel in der Sache nichts bewegt hätte. Herr Hoyer, wir mußten Sie doch zum Jagen tragen. Sie haben x-mal behauptet, Sie hätten das Minimum schon erreicht, und dann haben Sie beim nächsten Mal weitere Minimierungen angekündigt und das hinterher gefeiert, ohne daß sich in der Realität etwas bewegt hat.
Der ständig wiederholte Standardsatz der Vertreter des militärischen Tiefflugs lautet: Auf Tiefflug kann man nicht verzichten. Dies ist heute von Herrn Francke gekommen, von Herrn Hoyer,
({1})
und gestern wurde diese Floskel auch von Herrn Stoltenberg in der Pressekonferenz verwendet. Wer so spricht, hat die Dringlichkeit des Problems immer noch nicht begriffen. Wer so spricht, gibt damit gleichzeitig zu, sich nicht einmal die Mühe zu machen, zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen ein Verzicht auf militärischen Tiefflug heute möglich ist.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Francke?
Ja gerne, natürlich mit den bekannten, von Herrn Francke eingeführten Regeln.
Herr Kollege Müller, könnten Sie dem Haus bitte einmal erklären, warum Sie sich seit zwei Jahren nicht bemüht haben, an der sachlichen Arbeit des Unterausschusses Tieffluglärm teilzunehmen, sich aber hier als Fachmann gerieren?
({0})
Ich habe das schon mehrmals erklärt - vielleicht haben Sie geschlafen - : Weil ich nicht Mitglied des Verteidigungsausschusses bin, kann ich in diesem geschlossenen Unterausschuß auch nicht Mitglied sein.
({0})
- Mein Gott, lieber Herr Francke, daß man sich als betroffener Mitbürger und Abgeordneter eines betroffenen Gebietes nicht mehr bemühen darf, ohne im Verteidigungsausschuß zu sein, ist eine wirklich armselige Anmerkung.
({1})
Nicht einmal unsere maßvolle Forderung, ein Konzept zu erarbeiten, das den Fluglärm auf lange Sicht unnötig macht, wird von der Bundesregierung und den Kollegen im Ausschuß - und wahrscheinlich auch hier im Parlament - akzeptiert. Zu Ihren Gunsten nehme ich an, Sie wissen nicht, was in den vom Tiefflug betroffenen Regionen unseres Landes los ist. Deshalb trage ich Ihnen einmal vor, was Betroffene an Erfahrungen aufgeschrieben haben. Ich habe das in einer Dokumentation zusammengestellt; Sie können sich gerne diese Dokumentation bei mir abholen. Dann werden Sie sehen, was sich wirklich bewegt.
({2})
Ein Vater aus Landau schreibt:
Immer wieder muß ich erleben, wie mein kleiner Sohn, 14 Monate, aus seinem Mittagsschlaf, den er noch unbedingt benötigt, gerissen wird. Die versprochene Mittagspause für die Jets wird nicht eingehalten.
Ein Bürger aus Bellheim schreibt:
Wenn meine Frau nach dem Nachtdienst schlafen soll und muß, ist das fast unmöglich.
Ein Bürger aus Landau berichtet:
Ich habe vor fünf Jahren einen Hörsturz erlitten. Auslöser dieses Leidens waren extrem tieffliegende Kampfflugzeuge. Mein Recht auf körperliche Unversehrtheit laut Grundgesetz ist sträflich verletzt worden.
({3})
Ein Vater aus Herxheim berichtet von einem Fahrradausflug:
Während der Sommerferien im Juli 1988 hatte ich
mit unseren zwei Kindern eine kleine Radtour
Müller ({4})
gemacht zum nahegelegenen Bach, um Enten zu füttern. Unser vierjähriger Sohn, der aufgrund einer schweren Krankheit insgesamt zehn Monate im Krankenhaus war und gerade mal wieder für zwei Tage nach Hause durfte, saß bei mir auf dem Fahrrad, während der Ältere mit seinem eigenen Fahrrad fuhr. Wir waren gerade auf dem Nachhauseweg, als zwei extrem tieffliegende Tornados hinter dem Wald hervorkamen und genau auf uns zujagten. Aufgrund der fast täglich gemachten bitteren Erfahrungen mit Tieffliegern wußten die Kinder, daß im nächsten Moment ein höllischer Lärm über sie hereinbrechen würde. Der Große wollte sich schnellstens die Ohren zuhalten und sprang vom noch rollenden Fahrrad. Dabei stürzte er, das Fahrrad fiel auf ihn und verletzte ihn am Bein. Im gleichen Augenblick jagten die Jets mit ohrenbetäubendem Lärm über unsere Köpfe. Nach wenigen Sekunden war der Spuk vorbei, und ich stand da mit zwei völlig verstörten, heulenden und am ganzen Körper zitternden Kindern, eines davon noch verletzt, mit einer blutenden Fleischwunde am Oberschenkel. PS: Für diejenigen, die es noch nicht erfahren oder begriffen haben: Dies ist das Gesicht des fast täglich in der Pfalz stattfindenden Tiefflugterrors.
Der Bericht einer Großmutter aus Landau:
Mein Enkel hält sich die Ohren zu und drückt sich an mich. Was soll man einem Kind von 26 Monaten erklären? Daß dies notwendig sei? Nein, denn davon bin ich selbst ja nicht überzeugt.
Zum Schluß aus dem Bericht einer Frau aus Gleisweiler, wo auch Herr Geißler wohnt:
Das Schlimmste an den Tieffliegern ist meine Ohnmacht.
Der Direktor des Pfalzinstituts für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Herr Dr. Peter Altherr, hat seine langjährigen Erfahrungen mit Tieffluggeschädigten in einem Gutachten zusammengefaßt. Das empfehle ich Herrn Minister Stoltenberg zusammen mit den Berichten der Betroffenen eindringlich zur Lektüre. Ich habe ihm deshalb eine Dokumentation gegeben.
({5})
Was in den von mir zusammengetragenen Erfahrungsberichten beschrieben ist - das ist das Motiv meines Engagements - , ist die fortwährende Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person nach Art. 2 des Grundgesetzes. Allein in meinem Wahlkreis leben 15 500 Kinder unter sechs Jahren. Bundesweit gibt es etwa 1 Million dieser Altersgruppe. Millionenfach werden also werktäglich die Grundrechte dieser schutzlosesten Glieder unserer Gesellschaft verletzt, ohne Not. Nach herrschender Rechtsauffassung - das nehme ich ernst - ist eine Einschränkung der Grundrechte möglich, soweit dies zur Verteidigungsfähigkeit notwendig ist. Die Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit ist also möglich, wenn Tiefflug eine notwendige Bedingung für unsere Verteidigungsfähigkeit ist, und nur dann.
Tiefflug ist heute aber weder sinnvoll noch notwendig. Das sagen selbst eingefleischte Militärs,
({6})
die begriffen haben, was es an neuen Verteidigungsmöglichkeiten gibt. Das sagen vor allem jene, die begriffen haben, daß die entspannte Lage zwischen Ost und West und die Veränderungen im Osten die Situation grundlegend verändert haben.
({7})
Ich weiß, die Regierungskoalition weigert sich, diese Veränderungen zur Kenntnis zu nehmen. Diese Weigerung kommt aber mehr und mehr einer aktiven Beteiligung bei der Verletzung der Grundrechte gleich. Die Bundesregierung und die Koalition sind hier nicht mehr gutgläubig. Sie wissen seit langem, was Tiefflug anrichtet.
({8})
Sie kennen auch die anderen verteidigungspolitischen Möglichkeiten, und sie wissen um die Abrüstungschance im Bereich des militärischen Fliegens.
Warum, so frage ich, hat die Bundesregierung nicht den Mut, im Vorgriff auf die Wiener Regelung für unser Land zu entscheiden, daß wir ab sofort auf militärischen Tiefflug verzichten?
({9})
Das hätte eine vertrauensbildende Wirkung, wie mein Kollege Heistermann schon sagte, und es würde den Menschen bei uns helfen. Wenn Sie nicht den Mut zu einer endgültigen Entscheidung haben, dann verfügen Sie doch wenigstens ein Moratorium, eine Pause!
({10})
Statt entschieden zu handeln und Vertrauen in die Einsichtsfähigkeit der Politiker zurückzugewinnen, flüchten Sie in krampfhafte Versuche der Rechtfertigung. Sie betrachten die Tiefflugbelastung als eine Art Einbildung der Menschen und das Ganze vor allem als ein Problem der Öffentlichkeitsarbeit. Deshalb werden wir jetzt mit Broschüren zur Verteidigung des militärischen Tiefflugs zugeschüttet. Vor kurzem erschien eine wunderschöne Broschüre mit dem Titel „Tiefflugtraining über der Bundesrepublik Deutschland", herausgegeben vom Hauptquartier der Luftstreitkräfte der Vereinigten Staaten in Europa, bunt gedruckt auf Hochglanzpapier von mindestens 130 Gramm. In dieser Broschüre wird die angebliche Bedrohung aus dem Osten in den schönsten Farben des Kalten Krieges dargestellt. Wörtlich heißt es auf Seite 1:
Der Warschauer Pakt erhält sich die Fähigkeit, mit schnell vorgetragenen Angriffen auf das Gebiet der NATO vorzudringen.
({11})
In welcher Welt leben die Autoren dieser Broschüre? Wir erleben heute Nationalitätenkonflikte in der UdSSR. Wir haben erlebt, daß das dortige Militär
Müller ({12})
nicht einmal fähig ist, Hilfe nach dem Erdbeben in Armenien zu organisieren, und nicht sicherstellt, daß ein Eisenbahnzug von einer Republik in die andere fahren kann. Polen hat eine bürgerliche Regierung; Ungarn entwickelt sich zu einem Mehrparteienland; in der DDR gärt es; in der CSSR herrscht Unlust. Und dann erzählen uns die Verteidigungspolitiker immer noch, der Überraschungsangriff der WarschauerPakt-Staaten und die Besetzung Westeuropas seien möglich. Ich habe kein Vertrauen zu Verteidigungspolitikern, die an einem solchen Mangel an Realitätssinn leiden.
({13})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Breuer?
Ja, bitte schön.
Bitte sehr.
Herr Kollege, da ich feststelle, daß Sie sich mit dem vorgelegten Konzept überhaupt nicht beschäftigen wollen,
({0})
darf ich Sie fragen, ob Ihnen bekannt ist, daß in einer Veröffentlichung der SPD in Nordrhein-Westfalen - im nordrhein-westfälischen Kommunalwahlkampf - , nämlich in der „Zeitung am Sonntag" vom 17. September 1989, das zu erwartende Konzept, das vom Bundesverteidigungsministerium jetzt veröffentlicht worden ist, als Erfolg der Sozialdemokraten nach Verhandlungen von Johannes Rau in den Vereinigten Staaten von Amerika angekündigt worden ist?
({1})
Ich verstehe Sie gar nicht. Ich habe vorhin zu Beginn schon gesagt, daß sich Herr Stoltenberg bei uns bedanken sollte, weil das, was erreicht worden ist, dieses Minimum, nur zustande gekommen ist, weil wir den Druck auf Sie erhöht haben.
({0})
Und das andere: Wir diskutieren hier über die Anträge, die wir vorgelegt haben. Und unser Antrag hat den Stopp des Tiefflugs zum Ziel, unser Antrag hat zum Ziel, ein Konzept zu erarbeiten. Damit beschäftige ich mich.
({1})
Ich halte es für grotesk, die Bedrohungsszenarien der 50er und 60er Jahre wieder aufleben und unser Volk auch noch unter der täglichen Last einer falschen Konzeption leiden zu lassen, nur weil die Militärpolitiker nicht fähig sind, eingefahrene Gleise zu verlassen. Warum können die betroffenen Menschen nicht endlich die Früchte der Entspannung zwischen Ost
und West ernten? Warum sagen Sie, Herr Stoltenberg, ein völliger Verzicht auf Tiefflug sei nicht möglich?
Wahrscheinlich gibt es ein ganzes Bündel von Gründen für diese Weigerung, überhaupt nachzudenken. Einen Schlüssel zur Erklärung dieses Rätsels sehe ich in einer Erklärung von Herrn Wörner in der Bundestagsdebatte vom 14. April 1988 und in der Erklärung von Herrn Stoltenberg gestern vor der Presse. Herr Wörner hat damals von einer Gesetzmäßigkeit gesprochen und festgestellt: Die Alliierten werden nicht einstellen. Das haben sie längst bekundet.
Herr Minister Stoltenberg sprach gestern vor der Presse davon, „eine völlige Einstellung des Tiefflugs würde auch unsere Bündnisfähigkeit in der NATO in Frage stellen". Und er fügte außerhalb des Manuskripts hinzu: Ich weiß, wovon ich spreche.
({2})
In einigen Teilen unseres Landes werden nahezu 100 % der gesamten Tiefflugbelastung von alliierten Flugzeugen erzeugt. Die von Ihnen und zuvor von Herrn Wörner kategorisch vorgetragene Prognose, die Alliierten würden nicht einstellen, verbreitet deshalb ein besonderes Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht in diesen Gebieten. Deshalb möchte ich von Ihnen, Herr Stoltenberg, gerne wissen, was hinter Ihren sibyllinischen Bemerkungen steckt. Was würde denn passieren, wenn die Bundesregierung das Ende des Tiefflugs verfügen würde? Würde dann schon unsere Bündnisfähigkeit in Frage stehen? Was heißt das dann? Würden die amerikanischen, die britischen und die französischen Luftstreitkräfte dann weiter üben? Gegen deutsches Recht?
Sie wissen, wovon Sie reden, haben Sie gestern gesagt, Herr Minister Stoltenberg. Was heißt das denn? Ist es richtig, daß die amerikanischen Luftstreitkräfte wegen des Ost-West-Konfliktes bei uns sind und hier üben, aber nicht nur wegen des Ost-WestKonfliktes? Ist es richtig, daß sie unabhängig davon, wie sich der Ost-West-Konflikt entwickelt, in Übung - konkret: in Tiefflugübung - bleiben müssen, auch für andere mögliche Aufgaben, für die sie als Streitmacht einer Weltmacht möglicherweise gebraucht werden?
Ich kann das ja verstehen. Wenn ein amerikanischer Luftwaffenchef damit rechnen muß, daß seine Piloten, die heute in der Bundesrepublik stationiert sind, auch für andere Zwecke gebraucht werden, dann wird er zunächst einmal auf der Fortsetzung der Tiefflugübungen bei uns bestehen müssen. Das hat für uns dann die bittere Konsequenz: Unabhängig davon, wie sich der Ost-West-Konflikt entwickelt, und unabhängig davon, wie sich der NATO-Auftrag wandeln könnte, werden amerikanische und andere Piloten hier bei uns üben.
Ich komme zurück zur Problematik der Grundrechtsverletzung. Wenn die Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses, wie wir meinen, Tiefflugübungen nicht mehr erforderlich macht, dann fällt die Rechtfertigung zur Einschränkung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person weg; denn dieses Grundrecht darf sicherlich nicht durch alliierte militärische Tiefflugübungen im Hinblick auf potentielle Einsätze in Libyen, am Persischen Golf oder sonstwo in der Welt
Müller ({3})
eingeschränkt werden. Das Grundrecht auf Unversehrtheit dürfte übrigens auch nicht eingeschränkt werden von tieffliegenden Militärmaschinen der französischen Luftwaffe, die in der Südwestregion der Bundesrepublik Deutschland die Verteidigung ihres Landes gegenüber möglichen Angreifern üben.
({4})
Auch diese Übungen haben mit der grundgesetzlichen Abwägung der Verletzung des Grundrechts auf der einen Seite und der erforderlichen Verteidigungsfähigkeit auf der anderen Seite nichts zu tun. Ich hoffe, mich zumindest in dieser Einschätzung mit der Bundesregierung zu treffen.
Die Bundesregierung kann der Verletzung der Grundrechte vieler Millionen Bürger in der Bundesrepublik nicht tatenlos zusehen. Es wird auch besser sein, etwas zu tun, als sich von einem Gericht nach dem anderen zur Einstellung von Tiefflügen verurteilen zu lassen. Eine Bundesregierung, die die Grundrechte nicht durchzusetzen vermag, sondern sie eher stört, zerstört auch die Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt.
({5})
Ich schließe mit einigen Anregungen, Bitten und Forderungen. Erstens. Machen Sie einen Schnitt, machen Sie Schluß mit dem schon immer unzumutbaren und heute auch unnötigen Tiefflug. Nutzen Sie die große Chance der Entspannung zwischen Ost und West und der Veränderungen im Osten, eine Chance, die der letzte sozialdemokratische Bundeskanzler leider noch nicht hatte.
Zweitens. Sorgen Sie auch bei den Alliierten dafür, daß deren Tiefflugübungen über unserem Land eingestellt werden. Schenken Sie der deutschen Öffentlichkeit reinen Wein über die Hindernisse auf diesem Weg ein, statt in drohenden Andeutungen zu verharren.
({6})
- Das ist doch wirklich eine blödsinnige Bemerkung. Entschuldigung.
Drittens. Wir bitten und wir raten den Alliierten, sich in dieser militärisch-technisch unbedeutenden, aber atmosphärisch bedeutsamen Frage, weil sie für die Menschen wichtig ist, nicht zu versteifen.
Viertens. Wir bitten vor allem das amerikanische Volk um Unterstützung bei unserer Forderung, dem deutschen Volk 44 Jahre nach dem Krieg nicht zuzumuten, was die anderen Völker so nicht zu ertragen haben.
Fünftens. Wir bitten die vom Fluglärm Betroffenen, mit dem Protest nicht nachzulassen. Die gestern von Herrn Stoltenberg verkündeten Verbesserungen sind, wenn sie zu einem Teilergebnis führen sollten, der Erfolg unseres gemeinsamen zähen Protestes.
({7})
Die Bundesregierung hat sich nur bewegt, weil wir Druck ausgeübt haben. Deshalb ist es wichtig, diesen Druck aufrechtzuerhalten.
({8})
Wenn tiefliegende Militärmaschinen über Menschen hinwegfliegen, verspüren sie - das habe ich vorhin zitiert - zu allererst bittere Ohnmacht. Aus dieser Ohnmacht muß Macht wachsen, damit Schluß ist mit der Hölle an unserem Himmel.
({9})
Wir bekennen uns zum Vorrang der Würde des Menschen, hat der Bundeskanzler am 1. September an dieser Stelle gesagt. Es wäre gut, würden diesem Bekenntnis endlich auch die Taten folgen.
Vielen Dank.
({10})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Uelhoff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ein Verteidigungsminister Helmut Schmidt, Georg Leber oder Hans Apel diese Rede gehört hätte,
({0})
er hätte sie für populistische Ausfälle eines Fundamentaloppositionellen gehalten.
({1})
Ihnen wäre die Röte ins Gesicht gestiegen, und zwar vor Zorn und Scham zugleich.
({2})
Herr Kollege Müller, ich will Ihnen noch eines sagen: Als Sie als Planungschef im Kanzleramt in den siebziger Jahren die Gelegenheit dazu hatten, kam aus Ihrer Gegend nichts von dem, was Sie heute hier fordern.
({3})
Sie haben in der Exekutive offensichtlich versagt, denn das, was Sie heute fordern, haben Sie damals nicht duchgesetzt.
({4})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Vielleicht hört der Kollege Müller erst einmal zu, damit er anschließend auf das, was ich vortragen möchte, mit einer Frage reagieren kann.
({0})
Wir haben es in einem Punkt nicht nötig, von Ihnen Nachhilfestunden zu nehmen:
({1})
Der Tiefflug belästigt die Bevölkerung bei Ihnen so wie bei uns über dem dicht besiedelten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland. Das wissen wir genauso wie Sie, und wir brauchen uns das von Ihnen nicht vorrechnen zu lassen.
({2})
Ich sage aber noch eines dazu, was bei dem einen oder anderen von der Opposition klammheimliche Freude hervorrufen könnte: Der Tiefflug belastet auch die Akzeptanz der Landesverteidigung.
({3})
Weil beides vorhanden ist, Belästigung und Belastung, bemühen wir uns - der damalige Verteidigungsminister Scholz mit seinem Rahmenvorplan und Verteidigungsminister Stoltenberg mit dem gestern vorgelegten Konzept - intensiv um eine drastische Reduzierung des Tieffluglärms.
({4})
Das gestern vom Verteidigungsminister vorgelegte Konzept ist nicht nur Ausweis des redlichen Bemühens, sondern es macht konkrete Hoffnungen, daß wir der drastischen Reduzierung des Lärms einen großen Schritt näher gekommen sind.
({5})
Die Reduzierungen in den vergangenen Jahren sind vor allem unserer Bundesluftwaffe zu danken. Die wesentliche Grundlage des Erfolgs von Minister Stoltenberg - und das verdanken wir unserer Partnerschaft im Bündnis und nicht den Angriffen gegen das Bündnis, die von Ihnen soeben deutlich geworden sind ({6})
ist die Einbindung unserer Bündnispartner in das Entlastungskonzept.
Die Tiefflugübungen in der Bundesrepublik sind dank der Luftwaffe in den letzten Jahren objektiv erheblich reduziert worden.
({7})
Aber die Sensibilität der Bevölkerung gegen den dröhnenden Lärm von Tiefflugübungen ist gewachsen, und das Gefühl der Bedrohung durch den Osten ist erheblich gesunken.
({8})
In dieser Situation - hören Sie einmal genau zu - ist zunächst festzustellen, daß bisher kein Staat im Warschauer Pakt trotz aller Abnahme der Bedrohungsgefühle auf die Idee gekommen ist, die Anzahl
seiner Kampfflugzeuge zu reduzieren oder im Warschauer Pakt auf Tiefflugübungen zu verzichten.
({9})
Keine Regierung der NATO - das wollen Sie alles nicht hören, aber ich sage es Ihnen trotzdem - , weder die sozialdemokratische in Norwegen noch die sozialistische in Frankreich noch eine andere Regierung im Bündnis und nicht einmal die neutrale Schweiz sind bisher auf die Idee gekommen, auf Tiefflugübungen zu verzichten. Denn das defensive NATO-Konzept der Vorneverteidgung hat nach wie vor Gültigkeit.
In dieser Situation ist es nur mit Populismus, aber keineswegs mit sachlicher Einsicht zu erklären, daß die SPD der deutschen Öffentlichkeit suggerieren will, wir könnten in der Bundesrepublik Deutschland ersatzlos auf Tiefflug verzichten.
({10})
Dies ist - sehr vornehm ausgedrückt - eine falsche Informierung der deutschen Bürger.
({11})
Mit ihrer Ansicht steht die SPD ziemlich allein in Ost und West. Sie verabschiedet sich von allen Erklärungen ihrer eigenen früheren Regierungsmitglieder.
({12})
Sie nimmt übereinstimmende Erklärungen aller NATO-Verbündeten nicht ernst bzw. nicht zur Kenntnis. Und beachten Sie bitte auch dies: Sie ignoriert das fliegerische Verhalten im Warschauer Pakt.
({13})
Wer mit seiner Forderung nach ersatzlosem Verzicht auf Tiefflug so mutterseelenallein in der Welt steht wie Sie, der hat mindestens die Bringschuld der Argumentation.
({14})
Bisher haben Sie immer nur die Forderung und die These aufgestellt. Aber nach wie vor fehlt die Argumentation, warum Sie das entgegen allen Staaten in Ost und West und der neutralen Schweiz fordern, die mit ihren Mirages und Hunters gerade in Schweden Tiefflugübungen durchführen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?
Bitte schön, Herr Kollege Müller.
Da Sie offenbar genau wissen, wie viele Stunden hier und dort geflogen werden, frage ich Sie: Könnten Sie uns die Zahlen einmal nennen? Und könnten Sie bestätigen, daß im Osten sehr viel weniger Stunden pro Pilot Tiefflug geflogen wird als bei uns?
({0})
Nein! Es ist schlicht und einfach die Wahrheit,
({0})
daß der Osten leider - ({1})
Meine Damen und Herren, bitte geben Sie dem Abgeordneten, wenn er gefragt ist, doch die Möglichkeit, in aller Ruhe darauf zu antworten!
Es hat sich ja noch ein weiterer Fragesteller gemeldet. Geben Sie auch Herrn Schily im Anschluß die Möglichkeit, zu fragen?
Ja, aus Kollegialität und Konsequenz natürlich.
Aber bitte erst die Antwort auf die Frage des Herrn Abgeordneten Müller.
Herr Abgeordneter Müller hat durch Sich-Setzen im Grunde schon auf die Antwort verzichtet.
({0})
Er wollte ja eine Antwort letztlich auch gar nicht hören. Ihm ging es ja nur darum, mich nach Möglichkeit vom Konzept abzubringen.
({1})
Aber ich wiederhole: Im Osten und im Westen, auch im Warschauer Pakt, ist bisher von einer Reduzierung der Kampfflugzeuge überhaupt keine Rede.
({2})
- Entschuldigen Sie einmal. Ich könnte Ihnen doch die Gebiete in der DDR nennen, wo tiefgeflogen wird, ob in Stendal, Neuruppin oder sonstwo. Nur ist es doch so, daß die Bürger in der DDR nicht die Chance haben, Bürgerinitiativen zu bilden und dagegen anzugehen.
({3})
Möglicherweise ist das auch mit einer der Gründe, daß sie zu uns kommen; denn hier gibt es ganz zweifellos mehr Freiheit.
Bitte schön, Herr Kollege Schily.
({4})
- Ich weiß gar nicht, ob Sie ihn überhaupt hören wollen.
Herr Abgeordneter Mechtersheimer, Sie verhindern, daß Ihr Fraktionskollege Schily jetzt seine Frage stellen kann.
({0})
Herr Kollege, die Bundesregierung hat ja stets mit großer Emphase einseitige Abrüstungsschritte der Sowjetunion nachhaltig begrüßt. Wie wäre es, wenn sich auch einmal die Bundesregierung ein kleines Lorbeerblatt mit einer einseitigen Abrüstungsmaßnahme in Gestalt des Verzichts auf Tiefflüge verdiente?
Herr Kollege Schily, die Vorgabe Ihrer Frage - die einseitige Abrüstungsinitiative der Sowjets - ist schon nicht richtig. Hier geht es lediglich um eine teilweise Reduzierung einer Überrüstung in allen Bereichen der konventionellen Rüstung, die inzwischen ja auch von den Sowjets selbst eingeräumt worden ist. Wenn hier einseitige Reduzierungen vorgeschlagen werden, kann ich Ihnen nur sagen: Die Leistung dieser Bundesregierung ist sehr deutlich geworden beim NATO-Gipfel in Brüssel, wo der Vorschlag gemacht worden ist, daß gemeinsame Obergrenzen 10 bis 15 % unterhalb der NATO-Rüstung mit der Folge festgelegt werden sollen, daß im Osten eine unglaublich höhere Abrüstung zu erfolgen hätte.
({0})
Angesichts der Leistung dieser Bundesregierung im Bereich der Abrüstung bedarf es nicht des Nachhilfeunterrichts durch Sie, Herr Kollege Schily.
({1})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Hoyer?
Ich gehe immer davon aus: Es wird mir nicht von der Zeit abgezogen.
Nein, ich habe die Uhr gestoppt.
Herr Kollege, können Sie mir im Anschluß an die Frage des Kollegen Müller bestätigen, daß die Piloten und Besatzungen der Flugzeuge der Warschauer-Pakt-Staaten zwar pro Mann erheblich weniger fliegen, leider aber auch eine erheblich höhere Unfallrate haben?
Das muß ich leider bestätigen.
({0})
Die Piloten fliegen weniger, d. h. mit weniger Training, allerdings gibt es wesentlich mehr Kampfflugzeuge, was eben auch zu der erhöhten Unfallrate führt.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, man mag es bedauern, aber die Verteidigungsstrategie der NATO - sie wird, nehmen Sie das doch bitte einmal zur Kenntnis, von allen Bündnispartnern geteilt - kann nicht ersatzlos auf das tieffliegerische Können der Piloten verzichten. Die deutsche Öffentlichkeit muß deshalb wissen: Was die SPD mit ihrer Forderung
nach ersatzlosem Verzicht auf Tiefflug propagiert, bedeutet das Ende der Bündnisfähigkeit und damit das Ende der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
Anstatt sich gemeinsam mit uns um die innere und äußere Sicherheit zu bemühen, pervertieren Sozialdemokraten heute das Streben nach Frieden zu einem Krieg der Worte. Vom Kollegen Roth ist bereits das Wort „Mittel des kalten Krieges" erwähnt worden.
Herr Kollege Müller, Sie haben neulich erklärt, die Bemühungen unseres Verteidigungsministers müßten zu einer härteren Gangart bei den Verhandlungen mit den Alliierten führen. Das ist ohne jede Detailkenntnis geäußert worden. Dann fuhren Sie wörtlich fort - ich zitiere jetzt den SPD-Kollegen Albrecht Müller ({3}) -:
Notfalls muß Bonn mit dem Austritt aus der NATO drohen.
({4})
Mir geht es nicht darum, einen einzelnen Kollegen im Parlament vorzuführen. Ich halte es aber für einen Skandal, daß der Kollege Albrecht Müller mit dem Austritt aus der NATO droht und daß niemand in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands diese Formulierung bisher öffentlich zurückgewiesen hat.
({5})
Am Beispiel der Tiefflugdiskussion wird deutlich, daß bei der SPD eine sicherheitspolitische Wende stattgefunden hat. Ich weiß, daß es bei der SPD viele Kollegen gibt, denen das alles nicht paßt.
({6})
Aber es ist in der Tat kaum möglich, in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Sozialdemokraten noch eine klare Linie zu erkennen. Die einen - Nürnberger Parteitag - stehen zu den Streitkräften und bejahen die Wehrpflicht, die anderen beteiligen sich an pazifistischen Sit-ins und wollen der Bundeswehr öffentliche Gelöbnisse verweigern - Parteitag Münster -. Die einen bekennen sich zum NATO-Bündnis, die anderen - Herr Kollege Müller - reden von Austritt.
({7})
Die einen bejahen bei Diskussionen mit Luftwaffenoffizieren etwa im Bundestag, den Verteidigungsauftrag in der Luft, die anderen reden im Hinblick auf Tiefflugübungen von Bedrohungen der Bürger und denunzieren das Training der Piloten als Terror.
({8})
Aus dem klaren Bekenntnis der SPD zur NATO in den 60er und 70er Jahren - verbunden mit den Namen Fritz Erler und Georg Leber - ist in den 80er Jahren eine unglaubliche politakrobatische Meisterleistung
geworden, ein Purzelbaum in alle Richtungen - und dies gleichzeitig, meine Damen und Herren.
({9})
Lassen Sie mich abschließend noch auf die besondere Situation unseres Bundeslandes Rheinland-Pfalz eingehen. Wenn es dort auch keine 75-Meter-TiefflugArea gibt, so gibt es doch kein anderes Bundesland mit einer so starken Belastung durch 12 militärische Flugplätze, durch Tiefflugübungen, durch Depots und durch Garnisonen. Die Arbeitnehmer - insbesondere bei den Amerikanern - werden seit Jahren durch Einsparungspläne aus Washington verunsichert. Bei Aufträgen aus dem Verteidigungshaushalt steht Rheinland-Pfalz leider nur an achter Stelle aller Bundesländer. Nicht einmal Schuhe für die Bundeswehr werden in nennenswertem Umfang in der Schuhregion Pirmasens hergestellt,
({10})
und Anträge auf Entschädigungen für Flugplatzanwohner - ob in der Eifel oder in der Pfalz - werden nur sehr zögerlich behandelt.
Herr Minister Stoltenberg, Sie haben mit dem Konzept über Maßnahmen zur weiteren Entlastung einen großen Schritt nach vorne getan. Dafür sind wir Ihnen sehr dankbar.
({11})
Aber im Interesse einer dauerhaften Akzeptanz von Verteidigungsbelastungen sind in der Zukunft weitere Schritte erforderlich. Außer den genannten Ausgleichsmaßnahmen im wirtschaftlichen Bereich sehe ich auf Dauer weitere Chancen zur Reduzierung von Fluglärm. Der Kollege Hoyer hat eine ganze Reihe von Maßnahmen bereits aufgeführt. Ich möchte drei weitere hinzufügen.
Erstens. Das zur Zeit bei der Luftwaffe getestete computergestützte System für Tiefflugkontrolle muß auch für die Alliierten gelten.
Zweitens. Ich verkenne nicht die Notwendigkeit der Einsatzreserve, doch stellt sich die Frage, ob sogenannte Inübungshalter jährlich ca. 2 600 Tiefflugstunden über der Bundesrepublik fliegen müssen.
Drittens. Bei einem Erfolg der VKSE-Verhandlungen in Wien erwarten auch wir, daß die Reduzierungen um 10 bis 15 % im Gebiet der Bundesrepublik spürbar werden.
Um dieses und hoffentlich noch sehr viel mehr zu erreichen, kann ich Sie, Herr Minister Stoltenberg, nur ermuntern, weiter mit den Alliierten im Gepräch zu bleiben. Uns alle, insbesondere auch die Kollegen von der SPD, kann ich nur dringend auffordern, nie zu vergessen, daß die Alliierten unsere Partner im westlichen Bündnis sind und daß nur dieses westliche Bündnis der NATO uns in den vergangenen 40 Jahren die Freiheit nach innen und die Sicherheit nach außen gewährleistet hat.
Wenn es jetzt im Osten bröckelt, dann ist dies kein Anlaß für Traumtänzerei im Westen. Die Freiheit in der menschlichen Natur, aber auch die StandfestigDr. Uelhoff
keit in der Wertegemeinschaft der NATO haben im Osten einen Wandel ermöglicht, nicht einen Wandel durch Annäherung, nicht einen Wandel durch Abstand, sondern einen Wandel durch Standfestigkeit bei uns in der Wertegemeinschaft der NATO.
({12})
Wir alle hoffen, daß dieser Wandel im Interesse der Menschen
({13})
von Dauer sein möge.
({14})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Verteidigung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist schon daran erinnert worden: Tiefflug ist ein Thema, Tiefflug ist eine Realität, Tiefflug ist auch ein schwieriges Problem über vier Jahrzehnte hinweg. Frühere Regierungen haben sich immer wieder dazu geäußert. Ich will kurz ein Zitat aus dem Jahre 1982 in Erinnerung bringen:
Eine erneute aufwendige Überprüfung aller Tiefflüge läßt keine zusätzlichen Erkenntnisse mehr erwarten. Der militärische Tiefflug und damit auch Tiefflüge im Rhein-Main-Gebiet erscheinen unabdingbar.
({0})
Das war eine der letzten amtlichen Äußerungen der sozialdemokratisch geführten Bundesregierung unmittelbar vor dem Regierungswechsel. Es handelt sich um eine Erklärung des Kollegen Dr. Penner - damals Parlamentarischer Staatssekretär - gegenüber dem Deutschen Bundestag.
Nun kann man, Herr Kollege Müller und meine Kolleginnen und Kollegen der SPD, natürlich begründen, weshalb man Auffassungen geändert hat. Diese Begründungen unterliegen natürlich auch einer kritischen Bewertung. Herr Kollege Müller, was mir aber schwer erträglich zu sein scheint, ist, daß Sie, der Sie an entscheidender Stelle in der Regierung Schmidt mitgewirkt haben, heute schlichtweg etwas als verfassungswidrig bezeichnen, was Sie und die sozialdemokratische Regierung damals für verfassungskonform erklärt haben. Das ist unannehmbar.
({1})
Ich empfinde das - ich muß Ihnen das in aller Deutlichkeit sagen - unter den Grundsätzen der Wahrhaftigkeit und der Volksverbundenheit als unerträglich.
({2})
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Müller?
Bitte, Herr Kollege.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter Müller!
Würden Sie bitte zugestehen, daß ich gesagt habe, daß man bei Verletzung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person abwägen muß, ob diese Verletzung im Interesse der Verteidigungsfähigkeit notwendig ist, und daß ich versucht habe zu erläutern, daß sich die Dinge so verändert haben, daß genau diese Bedingung heute nicht mehr gegeben ist?
Nein, Herr Kollege Müller. Sie haben in einer wesentlich zugespitzteren Form zu diesem Thema Stellung genommen, nicht in einer abwägenden Form, sondern in einer aggressiven und scharfmacherischen Form, wie wir das von Ihnen seit langem erleben.
({0})
Deshalb bleibt mein Vorwurf bestehen, daß Sie, wenn Sie die Verfassung anführen, um ihre politische Kehrtwendung zu begründen, unglaubwürdig werden, weil von 1969 bis 1982 derselbe Verfassungsgrundsatz galt, dem auch wir heute gerecht zu werden haben.
({1})
- Nein, Herr Kollege Ehmke. Tiefflug ist gegenüber Ihrer Regierungszeit deutlich reduziert worden. Er hat nicht zugenommen.
({2})
- Ich nehme dazu Stellung.
Meine Damen und Herren - ich spreche hier vor allem die Kolleginnen und Kollegen der SPD an -, Sie wissen, daß die Sicherheitspolitik des westlichen Bündnisses in den letzten Jahren nachhaltige Erfolge errungen hat und daß die Bundesregierung einen entscheidenden Beitrag dazu leistet. In der Tat: Es gibt Verbesserungen in den Beziehungen zwischen West und Ost, und auf dem Gebiet der Rüstungskontrolle sind vor allem auch dank unserer Initiativen höchstwahrscheinlich Ergebnisse zu erreichen, die vor kurzer Zeit noch für unvorstellbar gehalten wurden. Dies alles ist aber nur möglich - daran möchte ich Sie wirklich eindringlich erinnern - , weil unsere Bereitschaft zum Dialog auf gesicherter Verteidungsfähigkeit im Rahmen des Bündnisses beruht. Das gilt für heute, und das muß für morgen gelten,
({3})
auch wenn wir die Bedingungen dafür verändern und verbessern wollen. Wir wären nicht so weit gekommen, wie sich das in Wien jetzt als positive Zwischenbilanz abzeichnet, wenn wir nicht gut ausgerüstete und für unseren Verteidigungsauftrag ausgebildete Verbände als Eckpfeiler unserer Politik gehabt hätten und weiter haben werden.
({4})
Dazu gehören nun auch einmal Luftstreitkräfte, die eigenen und die aus verschiedenen Nationen des Bündnisses auf deutschem Boden, als ein ganz wesentlicher Faktor.
Bei allen Veränderungen - ich spreche über Veränderungen, die wir jetzt erreicht haben, und über weitergehende Perspektiven - gilt, daß es zur Erhaltung der Einsatzbereitschaft und der Flugsicherheit der Luftwaffe und der verbündeten Streitkräfte unverändert erforderlich ist zu üben,
({5})
und zwar nach der übereinstimmenden Meinung aller involvierten Regierungen im Westen, nach der übereinstimmenden Einschätzung übrigens auch der Regierungen des Warschauer Paktes - Herr Uelhoff hat darauf hingewiesen - mit einem Element Tiefflug in der erforderlichen Ausbildung. Zu behaupten, Herr Kollege Müller, daß wir nur auf Ihren Druck hin verhandelt hätten, ist - ich muß das wirklich sagen - schon ein starkes Stück.
({6})
Wir wollen keine umweltpolitische Debatte führen. Ich will nur folgendes sagen: Diese Regierung und diese Koalition übertreffen auch in ihrer umweltpolitischen Bilanz bei weitem das, was Sie in Ihrer Regierungszeit geleistet haben.
({7})
Wir bejahen das geschärfte Umweltbewußtsein der Bürger eindeutig. Wenn Sie in der bekannten polemischen Art übrigens sagen, wir wüßten nicht, wovon wir redeten, wenn wir über Tiefflug diskutierten, dann will ich Ihnen nur sagen: Eine der sieben Areas liegt im Westen Schleswig-Holsteins, und sie berührt auch einen Teil meines Wahlkreises. Wir wissen, wovon wir reden, auch im Hinblick auf Sorgen der Bürger. Meine Erfahrung ist, daß man mit kritischen Bürgern fair diskutieren muß, daß man nicht Emotionen verstärken, Sorgen vergrößern und Stimmungen anheizen sollte, um sie irrational für eigene Zwecke zu nutzen, wie Sie, Herr Kollege Müller, das in wirklich bedenklicher Weise tun.
({8})
- Ich möchte im Augenblick ein Stück fortfahren, Herr Kollege Gerster. Vielleicht ist nachher noch Gelegenheit, eine Zwischenfrage aufzunehmen.
({9})
- Nein. Ich halte die Art, wie Herr Kollege Müller die Diskussion führt, für Stimmungsmache. Ich halte es auch nicht für nachvollziehbar, wenn er am Tag vor der Vorstellung meines Tiefflugberichts in den Ausschüssen und vor der Presse in einer eigenen Pressekonferenz die intensiven Gespräche mit den Alliierten, ohne die wir ja politisch und rechtlich gar nicht das erreicht hätten, was heute vorgetragen werden kann, als Kumpanei bezeichnet. Was ist das für eine Sprache?
({10})
Dieser Mann will im tiefsten Innern aus der NATO heraus, meine Damen und Herren. Dieser Mann gefährdet durch die Sprache
({11})
die vertrauensvolle Zusammenarbeit im Interesse der Bürger. Er ist nicht der Anwalt der Bürger, sondern er ist derjenige, der durch diese Sprache die Interessen des Bündnisses und der deutschen Bürger schädigt.
({12})
Das ist meine Einschätzung, die ich Ihnen hier in aller Deutlichkeit vortragen will.
({13})
- Nachdem ich Ihre erste Zwischenfrage beantwortet habe, Herr Kollege, möchte ich jetzt fortfahren. - Wir werden uns hier und auch in Rheinland-Pfalz mit dieser Art weiter sehr kritisch auseinandersetzen.
Wir haben aus diesem geschärften Umweltbewußtsein heraus von Anfang an - das gilt auch gerade für meine Vorgänger Manfred Wörner und Professor Scholz - wirklich viel getan, um Belastungen zu verringern. Wir machen deshalb - ich bedanke mich für die positive Würdigung durch die Kollegen der Koalition - einen weiteren bedeutenden Schritt.
({14})
- Ich komme nachher noch auf ein paar weitergehende Perspektiven zu sprechen, Herr Mechtersheimer. Wir machen wirklich einen bedeutenden Schritt.
Natürlich weiß Herr Kollege Müller genau, daß wir aus rechtlichen und politischen Gründen, wenn es um die Alliierten geht - die einen bisher nicht dagewesenen bedeutenden Beitrag leisten - , diesen Schritt nur im Konsens tun können. Alles andere ist Spiegelfechterei.
({15})
Eines aber bringt dieses Konzept nicht: den völligen Verzicht auf Tiefflug; das ist wahr.
Meine Damen und Herren, seit Ihrem Antrag vom 6. September 1988, den Tiefflug abzuschaffen, haben sich die Verteidigungsexperten Ihrer Fraktion im Verteidigungsausschuß immer wieder - ich muß sagen: vergeblich - bemüht, die neue Behauptung, der Tiefflug sei völlig überflüssig, mit fachlichen Argumenten zu untermauern. Die Ergebnisse waren nicht überzeugend. Ihre Argumente stimmen nicht.
({16})
Deswegen haben Sie wohl in den letzten Monaten
auch den Argumentationskurs gewechselt. Es wird
nicht mehr in erster Linie oder überhaupt nicht ernstBundesminister Dr. Stoltenberg
haft realpolitisch, militärisch-fachlich, sondern illusionär argumentiert.
({17})
Da schlägt etwa der Kollege Müller vor, ein Tiefflugmoratorium für die Bundesrepublik und den europäischen Teil des Warschauer Pakts zu vereinbaren.
({18})
Herr Kollege Heistermann, auch Sie sagten vorhin sinngemäß - ich respektiere Ihre Sachkompetenz in Verteidigungsfragen -, es gehe ja um die Bundesrepublik, nicht um die anderen. Was heißt das denn? Im Ernst, Herr Kollege Müller, haben Sie die Vorstellung - so entnehme ich es Presseberichten -, daß in Belgien, Holland, Großbritannien und Kanada weiter Tiefflug auch unserer Luftwaffe stattfindet - die ja nicht nur in Kanada, sondern auch in westeuropäischen Ländern übt - und bei uns nicht? Glauben Sie wirklich, daß man auf dieser Grundlage vertrauensvolle Zusammenarbeit im Bündnis organisieren und gemeinsame Verteidigungsfähigkeit sicherstellen kann?
({19})
Ich muß Ihnen sagen, das wäre mit der Denkweise eines Georg Leber und eines Hans Apel sowie mit den Erfahrungen, die auch Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung gemacht haben, wirklich unvereinbar.
({20})
Wenn es stimmen würde, daß wir den Tiefflug unter Berufung auf beginnende und ermutigende Verbesserungen im Ost-West-Verhältnis jetzt sofort abschaffen könnten - also sozusagen als Vorschuß auf erhoffte Entwicklungen -,
({21})
dann wären mit der gleichen Logik auch die übrigen Bereiche unserer Verteidigungsfähigkeit überflüssig. Das ist nicht der Fall.
({22})
Im übrigen muß ich sagen, daß es sein kann, daß sich die SPD von schweren Entgleisungen der Jungsozialisten distanziert, wie wir gehört haben. Aber die Sprache der Kränkung, die Sprache der Belastung unserer Beziehungen zu den befreundeten Staaten geht schon weit in die sozialdemokratische Führung und Fraktion hinein.
({23})
Da schreibt mir die Kollegin Conrad am 31. Mai dieses Jahres einen Brief, in dem Sie gegen den - so wörtlich - „Tiefflugterror" protestiert. Der Ausdruck „Terror" in Verbindung mit unseren Piloten und den Piloten der Alliierten ist unerträglich, meine Damen und Herren.
({24})
Da erklärt der Innenminister des Saarlandes im Geiste seines Chefs Oskar Lafontaine die Luftkampfausbildung für „verantwortungslose Kriegsspielerei". Bei allen Gegensätzen sind wir Christdemokraten, freien Demokraten und Sozialdemokraten uns doch seit Ende der 50er Jahre darüber einig, daß unsere Verteidigungsstreitkräfte und ihre Übungen ausschließlich der Friedenssicherung gelten.
({25})
Gilt das für die saarländische Landesregierung nicht mehr? Herr Ehmke, statt Zwischenrufe zu machen, sollten Sie einmal den Mut haben, sich offen mit solchen Entgleisungen prominenter Parteifreunde der SPD auseinanderzusetzen.
({26})
Es sind zunehmend sozialdemokratische und sozialistische Regierungsmitglieder aus den befreundeten und verbündeten Ländern, die uns und mich persönlich - dies gehört zu den stärksten Eindrücken der letzten Monate - auf solche Entwicklungen führender Mitglieder Ihrer Partei mit größter Sorge ansprechen.
({27})
- Das ist beunruhigend.
({28})
Er muß auch Sie beunruhigen, sofern wir über die Grundlagen der Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland in diesem Hause noch ernsthaft miteinander reden wollen.
({29})
Meine Damen und Herren, äußere Sicherheit läßt sich auch in unserer Zeit, auch bei ersten Erfolgen von Abrüstungsverhandlungen, nicht ohne moderne Streitkräfte gewährleisten. Moderne Streitkräfte sind ohne moderne Luftstreitkräfte nutzlos, und sie müssen üben, um ihren Auftrag zu erfüllen. Nun will ich hier hervorheben, daß die neuen Konzepte für Übungen in einem breiteren Spektrum zu sehen sind. Wir haben durch Initiative des deutschen Heeres erreicht, daß nun nicht nur bei uns, sondern auch im Rahmen der Nato mit deutlich weniger Soldaten und damit deutlich weniger Umweltbelastungen geübt werden kann.
({30})
- Herr Kollege Ehmke, seien Sie doch ganz friedlich. Ich komme gleich auf Ihre Zeit. Sie waren ja auch einmal Mitglied der Bundesregierung Brandt. - Ich habe letzte Woche nach monatelangen intensiven Gesprächen durch eine Vereinbarung mit meinem britischen Kollegen erreichen können, daß es in der Anwendung des Soltau-Lüneburg-Abkommens eine erhebliche Entlastung für die Menschen in diesem Raum gibt.
({31})
- Sie sind insofern beteiligt, als mir bei der Vorbereitung der Materialien in die Hand fiel, daß der damalige Bundeskanzler Brandt in einer Zeit, als Sie Bundesminister im Kanzleramt waren, 1971 ein Abkommen mit der britischen Regierung abgeschlossen hat, daß das Soltau-Lüneburg-Abkommen der Nachkriegszeit im Prinzip bestätigt. Es wurde dem Deutschen Bundestag zur Ratifizierung zugeleitet. Jetzt erreichen wir eine wesentlich schonendere Anwendung dieses Abkommens. Die Briten verzichten auf vertragliche Rechte. Sie sind bei dieser Vorgeschichte nicht berufen, uns Vorhaltungen zu machen, meine Damen und Herren.
({32})
Sie müssen einmal zur Fairneß und Sachlichkeit zurückkehren. Ich rate Ihnen bei all diesen Reden über die Aufkündigung völkerrechtlicher Abkommen, die in unserem Interesse liegen und die in Einzelfällen, wie dieses Beispiel zeigt, auch die Handschrift der Sozialdemokraten tragen, zur Vorsicht.
({33})
Bitte sehr, Herr Kollege Müller.
Herr Minister Stoltenberg, ist es richtig, daß, wie der „Spiegel" berichtet hat, die britische Regierung nur dann bereit war, die Tiefflugübungen zu reduzieren, wenn dafür beim Jäger 90 ein britisches Radar eingebaut wird, oder ist das falsch?
Das ist falsch, um es kurz zu sagen.
({0})
Aber ich bedanke mich für die Zwischenfrage, weil ich das klarstellen kann. Es ist ein klärender Beitrag; ich bedanke mich dafür.
({1})
Ich komme noch zu einigen kurzen Erläuterungen zu dem gestern von mir im Verteidigungsausschuß und auch im Haushaltsausschuß vorgestellten und diskutierten Bericht. Bis 1980 hatten wir etwa 100 000 Tiefflugstunden; 1988 sind es 68 000.
({2})
- Ich verlasse mich auf sorgfältige Erhebungen. Wir haben doch ziemlich deutliche Anhaltspunkte. Aber Sie haben recht: Weil in den 13 Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, nichts zur Erfassung geschehen ist, haben wir in den letzten Jahren die Voraussetzungen geschaffen. Wir führen jetzt ein computergestütztes System ein, das hier zu Recht gefordert wurde.
Ich habe selbst, Herr Kollege Müller, intensiv mit meinen alliierten Kollegen auf der Grundlage der Gespräche der Luftwaffenchefs darüber geredet, daß wir ihre Beteiligung wünschen. Es gibt eine grundsätzliche Bereitschaftserklärung der Alliierten. Es gibt
noch keine endgültige Bindung, weil noch ein paar Probleme geklärt werden müssen. Aber ich habe hier in wenigen Monaten mehr getan als Sie in den 13 Jahren Ihrer Regierungszeit; auch das will ich Ihnen einmal sagen.
({3})
Die Kombination der Verringerung der Tieffluggeschwindigkeit mit der Neuordnung der Tiefflugabfangübungen und vor allem die nachhaltige Entlastung der Lärmwirkungen in den sieben Areas sind bedeutende Verbesserungen. Wir kommen insbesondere in den sieben Areas, wo die Menschen wirklich eine schwere Belastung zu tragen haben, zu einer Reduzierung der Übungen in 75 m Höhe um 45 %. Wir kommen durch verschiedene Maßnahmen zu einer Reduzierung der Lärmbelastung um etwa 50 %. Das ist ein bedeutender, großer Schritt voran.
({4})
- Wenn ich ein paar Minuten mehr bekomme, Herr Präsident, lasse ich die Zwischenfrage gerne zu.
Bitte sehr, Frau Abgeordnete.
Herr Minister, da Sie von den großen Schritten sprechen, die wir vorangekommen sind: Ich werde von den Menschen, die in der Nähe von Flugplätzen wohnen, auch gefragt, welchen Fortschritt Sie denn nun erreicht hätten? Welche Verbesserungen gibt es für Menschen in Flugplatznähe, beispielsweise in Ramstein, Kaiserslautern oder Sembach, durch Ihre Neuerungen?
Ich will in diesem Zusammenhang gerne einen Punkt hervorheben, Frau Kollegin, den ich wegen der Kürze der Zeit nicht erwähnt habe. Wir haben in der Tat in mehreren Bereichen der Bundesrepublik Deutschland folgende Situation: Dort gibt es in der Infrastruktur relativ viele Flugplätze, die im zivilen wie im militärischen Bereich durch An- und Abflug zu Belastungen führen. Wenn sich dies noch mit anderen Übungen etwa des Tiefflugs kombiniert, ist die Belastung sehr groß. Deshalb konnten wir - das haben die Chefs der Luftwaffe getan - mit den Alliierten vereinbaren, daß wir erstmals, und zwar jetzt im Oktober, in zwei dieser Bereiche - der eine ist in der Pfalz, der andere ist in Norddeutschland - einen Modellversuch durchführen. Das Ziel des Modellversuchs ist, die Überflughöhe - das kann natürlich nicht für Starts und Landungen gelten - auf 300 m anzuheben.
({0})
- Ich spreche von den Problemgebieten, nach denen Sie gefragt haben.
Diese Anhebung auf 300 m im Modellversuch soll, wenn er sich als erfolgreich bewährt, fortgesetzt und gegebenenfalls auch in anderen Bereichen eingeführt werden. Ich glaube, das ist ein sehr konkreter wichtiBundesminister Dr. Stoltenberg
ger Punkt, der eine Reihe von überlasteten Umfeldern von Flugplätzen berührt.
({1})
Meine Damen und Herren, ich muß ein bißchen auf die Redezeit achten und will zum Schluß folgendes sagen: Wir sind mit den jetzt angekündigten Maßnahmen, die relativ kurzfristig wirksam werden, nicht am Ende der Debatte.
({2})
Ich will nicht das, was jetzt konkret vereinbart wurde, nach kurzer Zeit gegenüber den Alliierten wieder in Frage stellen; das kann man nicht. Aber es gibt einige Entwicklungslinien, in denen wir mittelfristig Perspektiven für eine weitere Entlastung sehen. Dabei will ich abschließend besonders zwei Punkte hervorheben.
Es ist richtig: Wenn das westliche Verhandlungskonzept für Wien in dieser oder in einer geringfügig abgewandelten Form vereinbart werden kann, zeichnen sich weitere Entlastungen ab. Dieses Konzept würde eine Reduzierung der Zahl der Kampfflugzeuge um 10 bis 15 % bedeuten, wobei die genaue regionale Verteilung noch im Bündnis erörtert werden muß. Die Implementierung eines solchen Konzepts würde aber entlastende Wirkung in der Bundesrepublik haben, die wir heute noch nicht quantifizieren können.
({3})
Ein zweiter kurzfristiger Punkt ist mir noch wichtiger. Ich habe, Herr Kollege Heistermann, mit Schreiben von vorgestern an die Ministerpräsidenten der Bundesländer nicht nur das Konzept übersandt, sondern auch die Kommission, die der Bundeskanzler und die Regierungschefs der Länder Ende letzten Jahres vereinbart haben, für Oktober eingeladen. Diese Kommission hat nämlich den Auftrag, zu prüfen, ob eine gerechtere Verteilung des Tiefflugs möglich ist, nachdem wir Entlastungen erzielt haben.
Ich will hier unterstreichen, was Kolleginnen und Kollegen schon gesagt haben. Es kommt jetzt auch die Nagelprobe für andere. Man kann nicht immer nur mit dem Finger auf Bonn weisen. Man muß sich auch einmal im Interesse der besonders stark betroffenen und belasteten Menschen fragen, ob man bereit ist, an gerechteren Lösungen mitzuwirken. Daran wird sich auch ein Stück Fähigkeit im Bundesstaat erweisen.
({4})
Wir sind weit vorangekommen. Diese Diskussion hat auch klare Gegensätze deutlich gemacht, was ich im Interesse der Alternativen begrüße. Wir werden verantwortungsbewußt, aber wenn es sein muß, auch offensiv unser Konzept für Sicherheit, Frieden und Freiheit, für Abrüstung, aber auch für fortwährende Handlungsfähigkeit im Bündnis vertreten.
Herzlichen Dank.
({5})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
({0})
Das Pult senkt sich, und die Stimmung im Saal hebt sich, wenn ich hier nach vorne gehe. Das ist immer wieder erbaulich.
Meine Damen und Herren! Das Stichwort Tiefflugterror, das auf der rechten Seite des Hauses in der Verneinung soviel Beifall gefunden hat, soll mir den Einstieg geben.
Ich möchte Ihnen nur ein konkretes Beispiel nennen. Meine Lebenspartnerin arbeitet im Kreißsaal in Bremervörde. Das ist ein Tieffluggebiet. Dort „naschen" ständig Tiefflieger über das Krankenhaus. Was meinen Sie, was in der Situation noch möglich ist? Dort kann man die Gesichter der Piloten erkennen, wenn man sich anstrengt. Das gleiche gilt natürlich für die Intensivstation. Genau darüber liegt eine solche Tiefflugschneise. Es ist eine Intensivstation, in der sich also sämtliche Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bemühen, die Patienten abzuschirmen. Und dann kommt plötzlich dieser ohrenbetäubende Lärm.
Dies ist nur ein Beispiel dafür, warum es gerechtfertigt ist, von Tiefflugterror zu sprechen. Sie stören sich doch weniger an dem tatsächlichen Tatbestand des Tiefflugs als vielmehr an der Wortwahl „Terror". Es ist Tiefflugterror, der durch diese militärstrategische Übung ausgelöst wird.
({0})
Was jetzt von Herrn Stoltenberg vorgeschlagen wurde und der Öffentlichkeit so wohlpreisend angeboten wird, das ist exakt das, was er notwendigerweise schaffen muß, um dem stark aufgebauten Druck nicht bloß von der Bevölkerung, sondern - das ist für die Vorgehensweise der Regierung viel wesentlicher - von den Gerichten nachzugeben. Sie wissen selbst, meine Damen und Herren, wie häufig Gerichte inzwischen so urteilen, daß die Tiefflüge als rechtswidrig eingestuft werden. Exakt das ist die Linie - das sehen wir in den Maßnahmen, die in diesem Paket ergriffen worden sind -, die Herr Stoltenberg der Bevölkerung verkauft.
Daraus kann nur folgender Schluß gezogen werden: Der Druck muß erhöht werden. Der Druck wird nicht mehr von den Gerichten erhöht werden, weil das praktisch durchdiskutiert ist. Was justitiabel ist, ist inzwischen entschieden. Druck kann also nur noch von der Bevölkerung, im wesentlichen außerparlamentarisch, weiter aufgebaut werden, natürlich auch von der Opposition hier im Hause. Daher ist es in der Tat erfreulich, daß alles, was sich zur Opposition rechnen darf, in diese Richtung denkt.
Lassen Sie mich noch etwas Grundsätzliches sagen. Mit der Einführung von Air Land Battle 2000 hat sich etwas gravierendes geändert. Mit Air Land Battle 2000 gibt es eine Offensivstrategie für die Bundeswehr, auch wenn Sie es gerne anders titulieren.
({1})
Sprache ist Macht, meine Damen und Herren. Genau damit wird auch in diesem Bereich jongliert.
Seit Air Land Battle 2000 gibt es erstmals in der Bundesrepublik groß angelegte Heeresoperationen, und zwar - im übrigen zeitlich nicht weit entfernt vom 1. September 1989 - bis nach Polen hinein. Polen wird zwar nicht genannt, aber es ist geradezu zwangsläufig daraus zu entnehmen, wie diese Heeresoperationen angelegt sind. Für solche offensiven Vorgehensweisen ist natürlich der Tiefflug notwendig. Die defensive Komponente - die Sie immer so gern in den Vordergrund stellen - , daß man die Verteidigungsfähigkeit auch im eigenen Land bewahren müsse und daß das gegnerische Radar auch in unserem Land die Tiefflieger oder die etwas höher fliegenden Geräte erfassen könne, ist fachlich auch nicht mehr haltbar, weil es inzwischen möglich ist, jeden Tiefflieger mit der Radartechnik zu erfassen. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen: Es bleibt nicht mehr viel übrig. Es bleibt nur das übrig, was auch heute morgen als wesentliche Kernaussage in den Zeitungen zu lesen ist: Die Bündnisfähigkeit könnte gefährdet sein, diese kurze Leine, an der die Bundesrepublik in vielen Bereichen und gerade im Verteidigungsbereich von den Alliierten immer noch gehalten werden kann, also das Souveränitätsdefizit, das inzwischen auch von der SPD sehr vehement kritisiert wird.
Kurzum, es gibt keine Begründung mehr - jedenfalls keine auf die Defensive gestützte ; von einer Offensive wollen wir aus verfassungsrechtlichen und auch aus moralischen Gründen überhaupt nicht reden - , Tiefflug weiterzubetreiben. Tiefflug gehört gänzlich eingestellt.
Wenn Sie die Verteidigungsfähigkeit innerhalb Ihrer Logik sicherstellen wollen, dann reichen Fluggeräte wie der Alpha Jet vollkommen.
({2})
Das wissen auch alle, die etwas von der Sache verstehen. Sie können sämtliche Tornados und Phantoms verschrotten. Die Kontinuität, auch in der Fortschreibung des Luftwaffenprogramms mit dem Projekt „Jäger 90", geht in die gleiche Richtung wie beim Tornado und beim Phantom. Das ist eine fatale Entwicklung angesichts der Großwetterlage, sprich: der Phase der Entspannungspolitik, in der wir uns zur Zeit glücklicherweise befinden.
Meine Damen und Herren, ich muß meine Rede leider abbrechen, weil meine fünf Minuten abgelaufen sind
({3})
und der sitzungsleitende Präsident mich sicherlich nicht unbegrenzt über die fünf Minuten hinaus sprechen läßt.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({4})
Herr Abgeordneter Wüppesahl, gemessen an den anderen Fraktionen haben Sie hier einen hochprozentigen Vorschuß zum Reden.
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 11/3836, und zwar zunächst zu Buchstabe A dieser Beschlußempfehlung.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5249 vor. Wer für diesen Änderungsantrag zu stimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei drei Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag abgelehnt.
({0})
Wir kommen jetzt zur Abstimmung über Buchstabe A der Beschlußempfehlung des Verteidigungsausschusses auf Drucksache 11/3836. Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe A, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2866 in geänderter Fassung anzunehmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser geänderte Antrag angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt unter Buchstabe B, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2354 abzulehnen. Wer für diese Ablehnung ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({1})
Bei drei Enthaltungen mit großer Mehrheit abgelehnt.
Der Ausschuß empfiehlt ferner unter Buchstabe B, den weiteren Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/2904 abzulehnen. Wer für die Ablehnung ist, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Zwei Enthaltungen. - Damit ist dieser Antrag mit großer Mehrheit abgelehnt.
Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, hat Herr Abgeordneter Kleinert ({2}) um das Wort zur Geschäftsordnung gebeten.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich beantrage eine kurzfristige Sitzungsunterbrechung, damit Gelegenheit besteht, eine interfraktionelle Vereinbarung zu erzielen, damit für den heutigen Tag noch eine zusätzliche Aktuelle Stunde vereinbart werden kann zu dem Thema „Bündnis und parlamentarische Zusammenarbeit zwischen CDU und rechtsradikalen Parteien".
Ich will das kurz begründen: Gestern abend hat in der nordhessischen Stadt Bad Hersfeld das Bündnis von CDU und NPD die Wiederwahl des Bürgermeisters gemeinsam durchgezogen.
({0}) Damit ist ein monatelanges Tauziehen -
Herr Abgeordneter Kleinert - Kleinert ({0}) ({1}) : Nein! - Damit ist ein monatelanges Tauziehen -
Herr Abgeordneter Kleinert, wenn ich das Wort wünsche, dann bitte ich, darauf Rücksicht zu nehmen! - Sie haben den Antrag auf eine kurzfristige Unterbrechung gestellt - dieser Antrag steht hier zur Diskussion - , und zwar mit der Begründung: Sie wollen eine Vereinbarung über eine zusätzliche Aktuelle Stunde treffen. Der Inhalt dieser Aktuellen Stunde bleibt den Besprechungen zwischen den Geschäftsführungen oder Fraktionsführungen vorbehalten. Es gibt hier keine weitere sachliche Begründung.
Herr Präsident, ich muß Gelegenheit haben, die Notwendigkeit
({0})
dieser zusätzlichen Aktuellen Stunde zu begründen.
({1})
- Ich kenne die Geschäftsordnung besser als Sie!
Sie wollten zur Geschäftsordnung hier etwas sagen; dem ist stattgegeben worden. Sie haben das getan mit dem Antrag auf kurzfristige Unterbrechung. Sie haben auch den Zweck angegeben. Eine inhaltliche Debatte über eine eventuell zu vereinbarende Aktuelle Stunde ist im Rahmen der Geschäftsordnung nicht möglich.
({0})
Herr Präsident, dann gestatten Sie mir einen letzten Satz. - Diese Aktuelle Stunde muß heute hier durchgeführt werden - deshalb bitte ich alle Seiten, dem zuzustimmen, damit diese Aktuelle Stunde hier noch möglich wird -, weil Sie alle wissen, welche Erklärungen es in der Vergangenheit gegeben hat, welche Beschlüsse auch Ihr Parteitag gefaßt hat, in welcher Weise sich auch der Bundeskanzler zu diesem Thema ausgelassen hat.
({0})
Das muß hier und heute sofort diskutiert werden können.
({1})
Herr Abgeordneter Kleinert, Sie waren doch lange genug Geschäftsführer und wissen, daß die Wortmeldung zur Geschäftsordnung nicht dazu gebraucht oder mißbraucht werden darf, hier eine inhaltliche Diskussion über einen Gegenstand zu führen, der weder auf der Tagesordnung steht noch sonst hier aufgerufen worden ist. Wir müssen uns an die Ordnung halten. Es hilft doch nichts. - Da ist noch eine Wortmeldung. Herr Abgeordneter Bohl!
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zunächst sollte man einmal feststellen, was das Begehren des Kollegen Kleinert ist. Das Begehren des Kollegen Kleinert ist eine Unterbrechung der Sitzung, damit die Fraktionen mit
der Fraktion DIE GRÜNEN beraten können, ob es heute noch eine Aktuelle Stunde geben sollte.
({0})
Ich kann dazu erklären, daß wir selbstverständlich bereit sind - wie es in diesem Hause üblich ist -, einer Unterbrechung der Sitzung zuzustimmen, wenn eine Fraktion für sich meint Beratungsbedarf zu haben.
Die Fraktion der CDU/CSU hat keinen Beratungsbedarf. Es gibt hier offenbar ein aktuelles politisches Ereignis, das wir bisher nicht haben zur Kenntnis nehmen können, auch aus den Medien heute noch nicht. Es handelt sich offenbar um ein lokales nordhessisches Ereignis, das ich jetzt hier nicht bewerten kann, weil ich es gar nicht kenne.
Wenn Sie den Wunsch haben, mit uns zu diesem Thema eine Aktuelle Stunde zu vereinbaren, dann kommen Sie, Herr Kleinert, bitte auf mich oder auf uns zu und tragen das vor. Es war bezeichnend, daß Sie eben, als ich Sie fragte, welche Wortmeldung Sie hätten, mir das nicht sagten. Sie wollten offenbar eine Demonstration vor Öffentlichkeit und laufender Kamera, was Ihnen partiell auch gelungen ist. Aber damit ist die Mitwirkung der CDU/CSU an dieser Operation abgeschlossen.
Wenn Sie den Wunsch haben, mit uns eine Aktuelle Stunde zu vereinbaren, dann kommen Sie bitte mit dem Sachverhalt zu mir. Dann werden wir im Laufe der fortschreitenden Beratungen des heutigen Vormittags darüber miteinander reden und Ihnen anschließend unsere Entscheidung mitteilen.
Den Antrag auf Unterbrechung der Sitzung, weil Sie mit uns reden wollen, lehnen wir ab.
({1})
Meine Damen und Herren, es ist der Antrag auf Unterbrechung der Sitzung gestellt. Ich stelle diesen Antrag zur Abstimmung.
({0})
- Er hat das Wort nicht gewünscht. Ich habe ihn so liebevoll angeguckt.
({1})
Wer für die Unterbrechung ist, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltung. - Mit Mehrheit ist dieser Antrag auf Unterbrechung abgelehnt.
Wir fahren mit der Tagesordnung fort. Der Tagesordnungspunkt 15 wird, wie bereits mitgeteilt, im Anschluß an den Tagesordnungspunkt 16 aufgerufen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Unterhaltssicherungsgesetzes und des Arbeitsplatzschutzgesetzes
- Drucksache 11/5058 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Verteidigungsausschuß ({2})
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
Vizepräsident Stücklen
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Parlamentarische Staatssekretärin Hürland.
({3})
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Kernstück des Ihnen zur ersten Lesung vorgelegten Gesetzentwurfes, die achte Novelle des Unterhaltssicherungsgesetzes, sind die wesentlichen Verbesserungen des Lebensunterhaltes für Wehrübende, für Reservisten, oder besser gesagt: für Soldaten der Resreve, die nicht Angehörige des öffentlichen Dienstes sind. Damit kommt die Bundesregierung einer schon lange erhobenen Forderung der Abgeordneten aller Fraktionen des Deutschen Bundestages - natürlich, wie in solchen Fällen üblich, mit Ausnahme der GRÜNEN - , ich muß ehrlicherweise sagen: endlich nach.
Bereits am 17. April 1986 wurde eine entsprechende Entschließung gefaßt. Ich habe bei der Verabschiedung der siebten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz 1987 bereits angekündigt, daß die Bundesregierung sich um eine schnelle Regelung und damit um die Beseitigung von unterschiedlicher Behandlung der Reservisten aus dem öffentlichen Dienst auf der einen Seite und der Reservisten aus der freien Wirtschaft auf der anderen Seite bemühen wird.
Auch der Reservistenverband hat immer und immer wieder auf die Ungerechtigkeit der Unterhaltssicherung bei Wehrübenden hingewiesen. Es geht nicht ohne Reservisten; das betonen wir, die wir die Landesverteidigung bejahen, ständig. Doch wenn wir dies fordern, muß der Unterhalt auch gerecht geregelt sein.
Bereits 1961 hat der Deutsche Bundestag beschlossen, daß Wehrübungen nicht mit Einkommenseinbußen für die Reservisten verbunden sein sollen. Eigentlich kommen wir dieser Forderung erst heute nach, sofern es die Wehrübenden aus der freien Wirtschaft betrifft.
Die komplizierte, unverständliche, zeitaufwendige und zeitraubende, ich nenne sie einmal: Schlußrechnung, dieses Verfahren der Abrechnung über den Lohnsteuerjahresausgleich bzw. über die Steuererklärung, hat ein Ende. Steuererklärungen sind sehr kompliziert, angenehm sowieso nicht, und die Verknüpfung der Verdienstausfallentschädigung mit der Steuererstattung ist letztlich nur für Experten des Steuerrechts erkennbar. Wir sollten also nicht an gesetzlichen Regelungen festhalten, die für die Betroffenen nur schwer verständlich sind und ihnen zudem auch noch Nachteile bringen.
Diese Bundesregierung will mit dem vorliegenden Gesetzentwurf Abhilfe schaffen. Die künftige Regelung sieht nun vor, daß auch den Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft sofort eine volle Verdienstausfallentschädigung gezahlt wird, ohne den Zeitverzug der nachträglichen Steuererstattung. Eine entsprechende Änderung des Einkommensteuergesetzes wird bereits vorbereitet.
Die von mir eingangs zitierte Bundestagsentschließung vom 17. April 1986 fordert auch eine Verbesserung der rentenversicherungsrechtlichen Absicherung der Wehrübenden. Der heute vorliegende Entwurf sieht das leider noch nicht vor. Ich möchte aber darauf hinweisen, daß dieses Anliegen im Rahmen des Rentenreformgesetzes gelöst werden wird. Diejenigen unter Ihnen, die sich mit der Rentenreform befassen, wissen das. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm, ist in dieser Frage persönlich sehr stark engagiert.
Der zweite Teil dieses Gesetzentwurfes behandelt die Ansprüche auf Leistungen für eine private zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung der Wehrpflichtigen. Es soll verhindert werden, daß Wehrpflichtige Lebensversicherungsverträge nur im Hinblick auf die Erstattungsmöglichkeit während des Grundwehrdienstes abschließen und sich diese von Dritten finanzieren lassen. Diese Bundesregierung hat viel für die aktiven Soldaten und ihre Familien getan. Jetzt tun wir etwas für die Reservisten und ihre Familien.
Ich möchte an dieser Stelle den Wehrübenden, den Reservisten, aber auch den Handwerkern, den mittelständischen Unternehmern, den Arbeitgebern und dem Reservistenverband mit seinen vielen Mitgliedern für ihr Verständnis und ihr Engagement danke sagen.
({0})
Die Bedeutung der Reservisten wird in Zukunft noch wachsen. Deshalb werden wir weiterhin auf ihre Mithilfe und Unterstützung setzen. Ich bitte, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, um zügige Beratung.
Danke.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Steiner.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Staatssekretärin, diese zügige Beratung sagen wir Ihnen schon jetzt zu, es sei denn, daß neue Hemmnisse in den Weg gelegt werden, die nicht wir zu verantworten haben.
Ich glaube, mit der achten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz, über die wir heute in erster Lesung beraten, kommt die Bundesregierung - Sie haben das zu Recht gesagt - endlich einer seit langem geforderten Gleichstellung von Wehrübenden aus der freien Wirtschaft mit denen des öffentlichen Dienstes nicht etwa nach, sondern erst einmal ein Stückchen näher. Damit versucht sie nach dreieinhalb Jahren endlich, den ihr durch den Deutschen Bundestag 1986 erteilten Auftrag zu erfüllen - nach dreieinhalb Jahren.
({0})
Seit diesem Zeitpunkt ist eine Verbesserung der Rechtslage zugunsten der Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft von uns immer wieder nachdrücklich angemahnt worden. Die Wirkung war die einer Dienstaufsichtsbeschwerde, die man formlos, fristlos, aber meistens auch erfolglos einlegt.
Als am 5. November 1987 des Bundestag die Siebte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD beschloß, wurde in die Beschlußempfehlung zu diesem Änderungsgesetz die Erklärung der Bundesregierung aufgenommen, daß der Bundesminister der Verteidigung zur Zeit einen Gesetzentwurf vorbereite, der eine Verbesserung der Rechtsfolge zugunsten der Wehrübenden der privaten Wirtschaft vorsieht. Auf eine Nachfrage wurde sogar versichert, man sei bereits in der Phase der Schlußzeichnung. Das war der angebliche Sachstand vor zwei Jahren. Nur auf Grund dieser Ankündigung, dieser Zusage hat die SPD-Fraktion der siebten Novelle seinerzeit zugestimmt, weil der Nachholbedarf mit der siebten Novelle keinesfalls abgedeckt war.
Heute wissen wir, daß die Bundesregierung uns seinerzeit unrichtig informiert hat. Es tat sich nämlich nach dieser Vorankündigung - wie so oft - auch hier nichts.
({1})
- Ich werde jetzt darauf eingehen, Herr Kollege Ganz. - Auf eine schriftliche Anfrage im September 1988 erklärte nämlich der damalige Parlamentarische Staatssekretär Würzbach: Der angekündigte Gesetzentwurf wird innerhalb der Bundesregierung noch beraten. - Also, ein Jahr später. ({2})
Sie wird aber auf Grund einer - und jetzt kommt es - Koalitionsvereinbarung zur Finanz- und Haushaltspolitik über die Vorlage dieses Gesetzentwurfs ebenso wie über andere Gesetzentwürfe, die neue Leistungen vorsehen, nicht vor Mitte der Legislaturperiode entscheiden. - Das war der wahre Grund.
({3})
Das heißt: Das, was man uns da 1987 gesagt hat, Sie seien bereits in der Phase der Schlußzeichnung, war schon seinerzeit nicht wahr, weil Sie genau wußten, es gibt eine Koalitionsvereinbarung, die es verhindern würde, weitere Leistungsgesetze bis zur Mitte der Legislaturperiode im Bundeskabinett überhaupt zur Abstimmung zu bringen.
({4})
- Deshalb gehe ich noch einmal so genau darauf ein. - Sie haben also nicht nur uns hier im Bundestag, sondern damit, auch die Wehrübenden, denen Sie angeblich schnell helfen wollten, hinters Licht geführt.
({5})
Auf der einen Seite wurde den Reservisten, nicht zuletzt durch das neue Reservistenkonzept des Bundesministers der Verteidigung, eine zunehmende Bedeutung für die Bundeswehr in den 90er Jahren attestiert, auf der anderen Seite aber haben Sie ihren sozialen Belangen bis heute wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
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Denn selbst - das wissen Sie ja, Sie haben es ja mit uns immer angemahnt - die längst überfällige Gleichstellung der Wehrübenden untereinander wurde bis heute nicht vorgenommen.
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Wir wollen es jetzt zügig beraten, natürlich.
Nachdem der Unmut draußen schon recht groß geworden war, haben Sie dann gesagt: Nun gut, den Unmut können wir ja abfangen. Wir werden im Haushalt 1989 dafür einen Ansatz vorsehen; der betrug 25 Millionen DM.
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Das haben Sie getan. Damit haben Sie den Unmut erst einmal abgefangen und neue Hoffnungen dahin geweckt, nun werde sich was tun. Getan hat sich nichts! Das Haushaltsjahr 1989 wird zu Ende gehen, ohne daß man auf diese 25 Millionen DM, die dafür vorgesehen waren, zurückgreifen muß.
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Mich interessiert, was Sie mit diesem Geld anders gemacht haben.
Nun, die achte Novelle liegt jetzt vor. Die Anhebung der Unterhaltssicherungsleistungen entspricht im wesentlichen den auch von uns erhobenen Forderungen. Ungereimtheiten gibt es aber nach wie vor. Vor allem die Situation der Wehrübenden ohne eigenes Einkommen - ich nenne hier z. B. die Studenten oder die „Hausmänner" - ist nicht nur den Betroffenen, sondern auch mir und der SPD-Fraktion insgesamt weiterhin unklar.
Der vorliegende Gesetzentwurf beseitigt zwar die unterschiedliche Abfindung für Wehrübungen bis zu drei Tagen. Danach steht jetzt auch kurzzeitig Wehrübenden ohne eigenes Einkommen der Mindestsatz nach der neuen Anlage zum Unterhaltssicherungsgesetz zu. In der Begründung werden die Wehrpflichtigen jedoch nur in Arbeitnehmer - mit und ohne Anspruch auf Weiterzahlung der Bezüge gemäß Arbeitsplatzschutzgesetz -, Selbständige und Bezieher sonstiger Einkünfte eingeteilt. An Wehrübende, die für sich selbst - Studenten - oder für ihre Familien - „Hausmänner" - arbeiten, wird offenbar überhaupt nicht gedacht. Diese Personengruppen müssen aber in den Beratungen, meine ich, berücksichtigt werden,
({10})
damit sichergestellt ist, daß die Gewährung des Mindestzusatzes bei kurzzeitigen Wehrübungen für diese von mir genannten Wehrübenden nicht aus Versehen unter den Tisch fällt. Der Hinweis, wie das bei einem Reservisten geschehen ist, der sich danach erkundigt hat, seine berufstätige Ehefrau könne sich ja Urlaub nehmen und die Kinderbetreuung übernehmen, ist da wenig hilfreich und auch wenig praxisorientiert. Diese Ungereimtheiten müssen wir in der parlamentarischen Beratung klarstellen und ausräumen.
Hinzu kommt noch, daß die achte Novelle hinsichtlich der vom Bund an die Rentenversicherungsträger zu entrichtenden Rentenversicherungsbeiträge für wehrübende Reservisten keine Regelung enthielt. Frau Parlamentarische Staatssekretärin, Sie haben darauf hingewiesen, die fällige Neuregelung solle angeblich jetzt im Rahmen des Rentenreformgesetzes erfolgen: Ich hoffe, daß dies dann auch geschieht, und zwar in dem Maße, wie wir Parlamentarier aller Fraktionen es bisher für angemessen gehalten haben. Ich glaube, da wird noch einige Überzeugungsarbeit zu leisten sein. Das gilt auch im Hinblick auf den Kollegen, den Sie vorhin hier namentlich genannt haben.
In der vom Deutschen Bundestag am 17. April 1986 angenommenen Beschlußempfehlung wurde mit den Stimmen der SPD gefordert, die vom Bund an die Rentenversicherungsträger zu entrichtenden Rentenversicherungsbeiträge für Wehrübende sollen so angehoben werden, daß persönliche Nachteile für die Betroffenen vermieden werden. Ich meine, damit ist das ausgesagt, was ich in den Vorbemerkungen dazu ausgedrückt habe.
Rundum zufrieden kann man also mit der vorliegenden achten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz nicht sein. Dies vor allem deshalb, weil sie eine erneute Einschränkung bzw. den Abbau einer finanziellen Leistung - diesmal für die Grundwehrdienstleistungen - enthält. Nach der vorliegenden Novelle werden nur noch Beiträge zur Lebensversicherung erstattet, wenn die Beitragsleistung vorher aus eigenem Einkommen erfolgt ist. Damit werden zukünftig eindeutig diejenigen Grundwehrdienstleistenden benachteiligt, die vor ihrem Wehrdienst Schüler, Studenten oder Auszubildende ohne eigenes Einkommen waren. Sie werden keine Beiträge mehr erstattet bekommen. Ich meine, daß wir in den vor uns liegenden Beratungen auch noch einmal darauf eingehen sollten. Vielleicht wird es uns gemeinsam gelingen - ich glaube, wir würden damit den Wehrpflichtigen helfen - , auch bei diesem Punkt die Ungereimtheiten auszuräumen.
({11})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ganz.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch ich als zuständiger Berichterstatter meiner Fraktion komme nicht umhin, Herr Kollege Steiner, mich zweier Daten zu erinnern, bei denen uns der heute in Erster Lesung zur achten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz - kurz USG genannt - anstehende Sachverhalt schon beschäftigt hat.
Erstens. Im Frühjahr 1986 ist der Bundestag einer Entschließung des Verteidigungsausschusses beigetreten, in der die Gleichbehandlung von Wehrübenden aus der freien Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst sowohl materiell als auch versicherungsrechtlich gefordert wurde, wozu die Administration die dazu notwendigen gesetzlichen Vorbereitungen treffen sollte.
Zweitens muß ich mich an die Beratung der siebten Novelle zum USG im Herbst 1987 erinnern, die in der Hauptsache eine bedeutende Verbesserung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts der Wehrpflichtigen und Wehrübenden zum Inhalt hatte. Ich hatte damals von dieser Stelle aus zum Ausdruck gebracht, daß wir das, was heute Inhalt der achten Novelle ist, schon gerne in der siebten Novelle mit erledigen wollten. Um die Weitergabe der in der siebten Novelle vorgenommenen Verbesserungen an die Soldaten nicht zu verzögern, aber auch wegen der Zusicherung des Ministeriums, daß die vorbereitenden Maßnahmen für eine achte Novelle bereits in die Wege geleitet worden seien, haben wir damals davon Abstand genommen. Vor diesem Hintergrund kann ich meine Enttäuschung über die zeitliche Abfolge des Vorhabens nicht verbergen. Drei Jahre zwischen dem Beschluß des Parlaments und der Gesetzesvorlage sind ein zu langer Zeitraum.
({0})
Ich verkenne nicht, daß die hier anstehende Materie im Detail sehr kompliziert ist und daß es zu deren Aufbereitung schwieriger und damit auch wohl langwieriger Ressortsabstimungen zwischen BMVg, BMA und BMF bedurfte. Dennoch wäre zu wünschen, daß in Zukunft die Umsetzung des Willens des Parlaments seitens der Administration zügiger vorbereitet würde. Diese Bemerkungen wollte ich im Interesse des Selbstschutzes und der Selbstachtung des Parlaments vorangestellt haben.
Was den Gesetzentwurf betrifft, darf ich - ohne den Ausschußberatungen vorgreifen zu wollen - sagen, daß er unsere Zustimmung findet, weil er das behinhaltet und nach meiner Meinung auch zufriedenstellend regelt, was wir seit langem als änderungsbedürftig erkannt haben und daher ändern wollen.
Das Kernstück des Entwurfs ist, wie die Frau Staatssekretärin bereits gesagt hat, die Gleichstellung der Wehrpflichtigen aus der privaten Wirtschaft mit denen aus dem öffentlichen Dienst für die Dauer einer Wehrübung. Nach unserer Auffassung war dies bisher deshalb nicht zufriedenstellend geregelt, weil Wehrübende aus dem öffentlichen Dienst, ob Richter, Beamte, Angestellte oder Arbeiter, während der Dauer einer Wehrübung einen gesetzlichen Anspruch auf Fortzahlung ihrer Bezüge haben. Arbeitnehmer aus der privaten Wirtschaft dagegen haben diesen Anspruch nach dem Arbeitsplatzschutzgesetz nur in dem besonderen Fall einer Wehrübung von nicht länger als drei Tagen. Bei Wehrübungen von längerer Dauer - und dies ist der Regelfall - entfällt die Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers, weil das Arbeitsverhältnis während des Wehrdienstes ruht. Dafür erhält der wehrübende Abeitnehmer eine Verdienstausfallentschädigung nach dem Unterhaltssicherungsgesetz. Sie beträgt bisher für Verheiratete
Ganz ({1})
90 % und für Ledige 70 % des bisherigen Nettoeinkommens und ist bestimmten Höchstgrenzen unterworfen.
Das war seit 1961 deshalb so geregelt, weil der Gesetzgeber davon ausging, daß der Teil des entfallenden Nettoeinkommens, der durch die Verdienstausfallentschädigung nicht gedeckt ist, dem Arbeitnehmer nach der Wehrübung über die Einkommensteuerrückerstattung bzw. den Lohnsteuerjahresausgleich wieder zufließen würde. Daß dieser Ausgleich erst geraume Zeit nach der Wehrübung und für die Betroffenen oft nicht nachvollziehbar vorgenommen werden kann, hat man dabei in Kauf genommen.
Gerade durch diese kaum nachvollziehbare Erstattung auf Umwegen und die in zunehmendem Maß zu niedrigen Höchstgrenzen ist der Eindruck entstanden, daß die Arbeitnehmer der privaten Wirtschaft im Gegensatz zu denen des öffentlichen Dienstes Einkommenseinbußen durch die Wehrübung hinnehmen müßten, was in einigen Fällen sicher zutrifft.
Der vorliegende Gesetzentwurf beendet diese unbefriedigende Regelung und sieht im wesentlichen folgende Neuregelung vor.
Einem Arbeitnehmer der privaten Wirtschaft wird das durch die Einberufung zu einer Wehrübung entfallende Arbeitsentgelt durch eine Verdienstausfallentschädigung nach dem Unterhaltssicherungsgesetz ersetzt. Diese Entschädigung wird jedoch künftig nicht mehr nach dem durchschnittlichen Einkommen im Jahr vor der Einberufung bemessen, sondern - wie im öffentlichen Dienst - nach dem Arbeitslohn, den der Arbeitnehmer für die Zeit der Wehrübung im Fall eines Erholungsurlaubs beanspruchen könnte. Das heißt, ihm wird der volle Nettolohn ersetzt. Die dabei zu berücksichtigenden Höchstgrenzen werden deutlich angehoben, und zwar für Verheiratete von zur Zeit 5 200 auf 10 800 DM monatlich oder 360 DM täglich, für Ledige von zur Zeit 4 100 DM auf 9 000 DM monatlich oder 300 DM täglich.
Ich kann mir kaum einen Fall vorstellen, Herr Kollege Steiner, bei dem diese Höchstgrenzen die Erstattung des vollen Nettolohns nicht gewährleisten würden. Insofern betrachten wir diese Höchstgrenzen als ausreichend.
Zweitens sieht der Gesetzentwurf vor, daß einem Selbständigen, z. B. dem Inhaber eines Gewerbebetriebs oder einem frei praktizierenden Arzt, nicht nur wie bisher die Kosten ersetzt werden, die ihm dadurch entstehen, daß er für die Zeit seiner wehrdienstbedingten Abwesenheit einen Vertreter für sich einstellt, sondern auch die Aufwendungen, die ihm entstehen, wenn er seine Aufgaben für die Zeit der Wehrübung Betriebsangehörigen überträgt.
Wie bisher gibt es aber für all diejenigen, die über kein eigenes Einkommen verfügen bzw. deren Einkommen einen gewissen Höchstbetrag nicht übersteigt, eine Mindestleistung, die je nach Dienstgrad und Familienverhältnissen gestaffelt ist. Daß auch diese Mindestleistungen deutlich erhöht worden sind, findet ebenfalls unsere Zustimmung.
Ich sprach eingangs von der Kompliziertheit des Vorhabens im Detail. Die Tatsache, daß künftig der
Nettolohnausfall voll erstattet wird, hat natürlich auch Konsequenzen für andere Bereiche. Eine wehrdienstbedingte Steuerrückerstattung kommt deshalb künftig nicht mehr in Betracht.
Mir fehlt die Zeit, mich an dieser Stelle mit den Änderungsbestimmungen des Artikel 2 der Gesetzesvorlage auseinanderzusetzen. Aber auch hier steckt, wie Sie bereits gesagt haben, der Teufel im Detail. Die bisherige Praxis bei der Erstattung von Leistungen für zusätzliche Alters- und Hinterbliebenenversorgung hat zu einer gewissen Rechtsunsicherheit geführt, die es zu beseitigen gilt. Wir werden uns dieser Materie bei der Beratung im Ausschuß mit besonderer Gründlichkeit annehmen und eine für alle Beteiligten gerechte und einsichtige Lösung anstreben.
Ich bitte um Zustimmung zu diesem notwendigen und wichtigen Gesetzesvorhaben und garantiere für meine Fraktion eine zügige Beratung im Ausschuß, so daß das Gesetz, wie vorgesehen, am 1. Januar 1990 in Kraft treten kann.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, nach dem die Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft den Wehrübenden aus dem öffentlichen Dienst gleichgestellt werden sollen. Dazu ist zunächst einmal grundsätzlich festzustellen, daß uns GRÜNEN Wehrübungen an sich und auch in Form von Manövern ein Dorn im Auge sind. Nicht nur daß der ökologische Wahnsinn, der auch in diesem Herbst wieder durch deutsche Lande rollt, durch Reservisten verstärkt wird, auch abrüstungspolitisch stellen die Reservisten eine Reservearmee dar.
Aus vielfältigen Diskussionsüberlegungen aus den Reihen der Regierungsfraktionen und auch der Sozialdemokratie , eventuell nötige Personaleinsparungen infolge Geburtenrückgangs oder Abrüstung durch erhöhte Reserveüberei auszugleichen, zeigen, daß in diesem Bereich Anlaß zu größter Vorsicht gegeben ist.
Da es uns aber in absehbarer Zeit nicht gelingen wird, den Reserveübungen Einhalt zu gebieten - man kann das vielleicht schon daran sehen, daß es dem Wehrbeauftragten noch nicht einmal gelungen ist, die Einberufung von über 60jährigen zur Reserveübung zu verhindern - , haben wir uns der sozialen Ungleichbehandlung zu stellen, die die Bundesregierung mit Artikel 1 des Entwurfs beheben will.
Er stellt, nüchtern betrachtet, mit der finanziellen Gleichstellung der Entschädigungsleistung während der Wehrübung zwischen Wehrübenden aus dem öffentlichen Dienst und Wehrübenden aus der privaten Wirtschaft einen Schritt in die richtige Richtung dar.
Im Artikel 2 will die Regierung einen Teil der Lebensversicherungsverträge, die Wehrpflichtige abgeschlossen haben, nicht während der Wehrdienstzeit weiterfinanzieren. Gab es bereits mit Wirkung vom
1. Januar 1984 die Regelung, daß solche Lebensversicherungsverträge bereits zwölf Monate vor dem Wehrdienst bestanden haben mußten, soll jetzt noch nachgeforscht werden, ob sie aus Eigenarbeit finanziert worden sind. Anderenfalls komme, so der Regierungsentwurf, keine Erstattung in Frage.
Nun könnte man gute Gründe dafür finden, gerade junge Menschen wie Siggi Frieß vor dem Abschluß einer Kapitallebensversicherung zu warnen, die ja nicht nur verspricht, das Risiko zu decken, sondern auch mit günstiger Geldanlage wirbt, aber in aller Regel keine günstige Geldanlage ist und meistens den Menschen unter Umständen, die sich hart den Betrugstatbeständen nähern, angedreht wird. Dies ist jedoch nicht Intention dieses Gesetzentwurfs, sondern die Furcht, irgend jemand könnte im Hinblick auf Erstattungsmöglichkeiten während der Bundeswehrzeit solche Versicherungen abgeschlossen haben. Sie möchten den unterstützen, der nicht nur vor dem Wehrdienst einen Teil seines Geldes dieser Versicherung in den Rachen geworfen hat, sondern bei dem die Hoffnung besteht, daß er dies auch nach Ableistung seines Wehrdienstes fortsetzt. Dafür sorgt schon die starke Versicherungslobby hier im Hause.
Die anderen sollen ausgeschlossen bleiben - und das angesichts der Tatsache, daß eigentlich allen jungen Männern, die sich um jemanden zu sorgen haben, zum Abschluß einer Risikolebensversicherung für die Bundeswehrzeit zu raten ist, da die staatlichen Unterstützungsleistungen im Falle eines Manövertodes oder der Realisierung anderer erhöhter Risiken, denen man auch bei der Bundeswehr ausgesetzt ist - und gerade da - , nicht allzu üppig ist.
Für diese Politik wie auch eine Vielzahl anderer Maßnahmen dieser Regierung gegenüber Wehrpflichtigen und Zivildienstleistenden, für die der Artikel 2 ja auch gelten soll, gibt es einen charakteristischen Satz in der Begründung des Entwurfs, der da lautet:
Durch die Ableistung des Wehrdienstes sollen die Dienstleistenden aber auch keinen Vorteil haben.
In diesem Sinne schreitet diese Regierung von Erfolg zu Erfolg.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Nolting.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit der vorliegenden achten Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz wird ein seit langen Jahren bestehendes Unrecht beseitigt. Wehrpflichtige aus der privaten Wirtschaft werden bei Wehrübungen ihren Kameraden aus dem öffentlichen Dienst endlich gleichgestellt. Als FDP-Fraktion können wir das nur begrüßen.
({0})
Es ist hier schon darauf hingewiesen worden, daß bisher Angehörige des öffentlichen Dienstes ihr Arbeitsentgelt weiterbezahlt bekamen, während alle übrigen Wehrpflichtigen nur eine Verdienstausfallsentschädigung von 70 % bei Ledigen bzw. 90 % bei
Verheirateten bekamen, wobei es zudem noch
Höchstgrenzen gab. Die FDP-Fraktion hat diesen Zustand bereits vor vielen Jahren für unhaltbar erklärt.
Wir haben deshalb immer wieder dazu aufgerufen und darauf gedrungen, daß die Bundesregierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegt. Dies ist heute der Fall. Ich darf aber in Richtung Bundesregierung auch mit Kritik sagen: leider sehr spät;
({1})
denn die zur Verfügung stehenden Mittel fließen - das ist hier schon gesagt worden - in diesem Jahr nicht mehr ab. Es liegt jetzt aber, Herr Kollege Heistermann, an uns, dieses Gesetz zügig zu beraten, damit es zum 1. Januar 1990 wirklich in Kraft treten kann. Dazu gehört - das will ich an dieser Stelle noch einmal sagen - auch die rentenrechtliche Berücksichtigung. Auch das ist eine alte Forderung von uns. Ich habe hier die Bitte an die Kollegen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, diese Frage vorrangig zu behandeln und auch in unserem Sinne zu beschließen.
Einen weiteren Punkt möchte ich anfügen; das ist die bisherige Verwaltungspraxis. Ich denke, daß diese verbessert werden muß und daß die Auszahlung der Gelder dann auch beschleunigt werden muß.
({2})
- Vor allen Dingen - Sie geben das Stichwort - darf es nicht mehr angehen, daß diese Gelder dann über das Sozialamt ausgezahlt werden. Auch da müssen wir neue Möglichkeiten suchen. Genauso sollten wir, Herr Kollege Steiner, die Ansprüche von Wehrpflichtigen in der Frage der Alters- und Hinterbliebenenversorgung auch im Ausschuß beraten. Wir werden da vielleicht auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Ich glaube, auch das entspricht unserem parlamentarischen Selbstverständnis. Vor allen Dingen haben wir da mehr Fachkollegen - wenn nicht überhaupt mehr Kollegen - , die mitberaten.
Meine Damen und Herren, immer wieder ist in diesem Hause die mangelnde Motivation der Reservisten zur Ableistung von Wehrübungen angesprochen worden. Mit diesem Gesetz leisten wir jetzt einen ersten finanziellen Beitrag zur Verbesserung dieser Motivation. Ich möchte für die FDP-Fraktion aber darüber hinaus festhalten, daß die Reservisten kein beliebiges Anhängsel der Bundeswehr sind. Sie sind für uns integraler Bestandteil der Bundeswehr. Für die Steigerung der Attraktivität des Dienstes in den Streitkräften ist es von besonderer Bedeutung, daß nicht nur die sich aktiv im Dienst befindlichen Soldaten einen Motivationsschub erhalten, sondern gerade auch die Reservisten. Dies setzt unserer Meinung nach neben dem Unterhaltssicherungsgesetz folgendes voraus:
Erstens: mehr Planungssicherheit für die Reservisten und deren Familien, aber natürlich auch für die Arbeitgeber und die Arbeitskollegen.
Zweitens: Konzepte zur besseren inhaltlichen Ausgestaltung der Reserveübungen. Meine Damen und
Herren, wir wissen alle, daß ein Reservist, der nach einer Übung mit dem Gefühl nach Hause geht, Zeit verplempert zu haben, ein schlechter Multiplikator für die Bundeswehr ist. Der Soldat, insbesondere der Reservist, will gefordert sein. Er muß den Sinn seines Tuns positiv empfinden. Umfragen gehen dahin, daß fast 70 % der Reservisten hierin auch ihre Hauptforderung sehen.
({3})
Drittens: der heimatnahe Einsatz in zusammenbleibenden Einheiten.
Viertens: die sinnvolle Nutzung der im Zivilleben erworbenen beruflichen Fähigkeiten und Qualifikationen.
Fünftens: eine bedarfsgerechte Ausbildung für die Mob.-Verwendung der Reservisten während der aktiven Zeit.
Meine Damen und Herren, die achte Novelle zum Unterhaltssicherungsgesetz sollte auch gleich die neunte Novelle anmahnen. Ich will das an dieser Stelle tun. Wir setzen uns hier für gezielte Verbesserungen für verheiratete Wehrpflichtige mit der neunten Novelle ein. Aus Gründen der Gleichbehandlung befürworten wir Pläne, allen Wehrpflichtigen das gleiche Entlassungsgeld zu zahlen und daneben den Verheirateten ein Überbrückungsgeld zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig fordern wir die Zahlung eines zusätzlichen Weihnachtsgeldes für Verheiratete.
Das Bundeskabinett wird die neunte Novelle im Oktober beraten. Frau Parlamentarische Staatssekretärin Hürland-Büning, ich gehe davon aus, daß wir auch hier im Parlament noch in diesem Jahr die neunte Novelle behandeln können und wahrscheinlich - ich hoffe es - im Rahmen des Attraktivitätsprogramms auch verabschieden können, damit nach dem richtigen Schritt in die richtige Richtung, den wir heute vollziehen, weitere richtige Schritte erfolgen können.
Vielen Dank.
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Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 11/5058 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es Widerspruch dagegen? - Das ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines RechtspflegeVereinfachungsgesetzes
- Drucksache 11/3621 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({0})
Innenausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Das ist dann so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Jahn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit Jahren hat der Geschäftsanfall bei den Gerichten zugenommen. Die erstinstanzlichen Zivilgerichte sind heute um gut 30 % mehr belastet als im Jahre 1980. Die Berufungsgerichte haben 40 % mehr Rechtsstreitigkeiten zu bewältigen. Der Gesetzgeber bemüht sich seit langem, dem vielschichtigen Problem dieser Prozeßflut zu begegnen.
({0})
Er hat schon in den 70er Jahren wesentliche Maßnahmen zu einer zeitgerechteren Gestaltung und Verkürzung der Verfahren getroffen. Damit hat er die Möglichkeiten zur Entlastung der Gerichte weitgehend ausgeschöpft.
Der nunmehr vorgelegte Entwurf eines Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes beinhaltet ein Bündel von Maßnahmen, die in ihrer Gesamtheit zu einer weiteren Beschleunigung und zu einer Erleichterung der Arbeit der Gerichte beitragen werden. Zum Teil waren solche Maßnahmen schon im Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Zivilprozeßordnung und anderer Gesetze enthalten, der in der letzten Legislaturperiode nicht abschließend beraten werden konnte.
Mit anderen Vorschlägen wird Neuland betreten. Dabei denke ich besonders an Regelungen, die eine außergerichtliche Streitbeilegung begünstigen. Streitigkeiten, deren Entscheidung wesentlich vom Gutachten eines Sachverständigen abhängt, werden künftig vermehrt auch vom Gutachter selbst beigelgt werden können. Ich verspreche mir davon nicht nur eine erhebliche Entlastung der Gerichte von schwierigen und zeitraubenden Verfahren, sondern auch - das ist sehr wichtig - einen größeren Befriedungseffekt.
Aus den Einzelheiten des Entwurfs möchte ich fünf Neuregelungen hervorheben:
Erstens. Für eine Reihe von Verfahrensschritten ist künftig eine mündliche Verhandlung nicht mehr vorgesehen.
Zweitens. Der Zeugen- und Sachverständigenbeweis soll zweckmäßiger gestaltet werden. Dazu gehört auch die gerade erwähnte Ausweitung der Möglichkeiten zu vorgerichtlicher Streitbeilegung in einem selbständigen Beweisverfahren, die dem Sachverständigen eine neue, wichtige Rolle zuweist.
Drittens. Die letztmalig im Jahre 1975 erhöhte Revisionssumme soll der wirtschaftlichen Entwicklung angepaßt werden, und die Möglichkeit der Einlegung von Beschwerden soll begrenzt werden.
Viertens. In Wohnungseigentumssachen sind Verbesserungen vorgesehen, um Schwierigkeiten bei einer großen Zahl von Beteiligten auszuräumen.
Fünftens. In der Zwangsvollstreckung soll der Gerichtsvollzieher den Gläubiger künftig unter bestimmten Voraussetzungen über Forderungen des Schuldners gegen dritte Personen unterrichten können, um weitere, für Schuldner und Gläubiger zeit- und ko12316
stenaufwendige Zwangsvollstreckungsmaßnahmen unnötig zu machen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, über solche Einzelmaßnahmen hinaus schlägt der dem Rechtsausschuß des Bundestages bereits vorliegende Bundesratsentwurf eines Gesetzes zur Entlastung der Zivilgerichte eine Anhebung der Wertgrenzen vor, von deren Höhe die Zuständigkeit des Amtsgerichts und die Möglichkeit von Berufung und Beschwerde abhängig sind. Dadurch soll die Belastung insbesondere unserer Landgerichte abgebaut werden. Die Bundesregierung hat derartige Regelungen im Entwurf eines Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes nicht vorgeschlagen, weil sie Nachteile für den Schutz des rechtsuchenden Bürgers und die Einheitlichkeit der Rechtsprechung befürchtet. Sie hält bei einer Erhöhung der Wertgrenzen flankierende Maßnahmen für erforderlich.
Die Bundesregierung ist mit dem Bundesrat der Meinung, daß der Überlastung der Gerichte auf Dauer nachhaltig nur durch weiterreichende Maßnahmen begegnet werden kann, die möglicherweise auch in die Strukturen des geltenden Verfahrensrechts eingreifen werden.
({1})
Solche grundlegenden Änderungen bedürfen jedoch eingehender rechtstatsächlicher und rechtssystematischer Vorarbeiten, die im Einvernehmen mit den Ländern bereits in Angriff genommen worden sind. So wird der Frage nachgegangen, wie der Einsatz des Einzelrichters bundesweit möglichst rationell gestaltet werden kann, ob das komplizierte System der Rechtsbehelfe und Rechtsmittel übersichtlicher zu regeln ist und ob für Bagatellstreitigkeiten, also Sachen mit geringem Streitwert, ein vereinfachtes Verfahren eingeführt werden sollte.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte schön.
Herr Abgeordneter Wiefelspütz.
Herr Staatssekretär, ich stimme mit Ihnen überein, daß wir wohl weitaus durchgreifendere Maßnahmen benötigen, um im Bereich der Entlastung der Gerichte nennenswerte Fortschritte zu erzielen. Es gibt eine Äußerung des Vorsitzenden des Rechtsausschusses, Herrn Helmrich. Er hat anklingen lassen, daß solche Reformen im Grunde genommen gar nicht möglich seien, weil die Widerstände auf seiten der Verbände so stark seien. Teilen Sie diese Einschätzung?
Es kommt darauf an, was wir unter dem Stichwort Reform im einzelnen verstehen und wie wir das Wort Reform interpretieren. Was wir hier machen, sind Schritte zu dem richtigen Ziel, der Prozeßflut Herr zu werden. Jedes Gesetz, das wir hier diskutiert haben, ist dazu ein Beitrag. Ich habe ja gesagt, daß ein durchgreifender Schritt bereits in Angriff genommen
worden ist. Da geht es um die Frage, wie wir auch die Strukturen ändern, um die es hier geht.
Meine Damen und Herren, ich bin zuversichtlich, daß diese Untersuchungen uns weiterführende Wege aufzeigen. Die Erwartungen und Hoffnungen, die wir hieran knüpfen, sollten unseren Blick aber nicht von den Möglichkeiten ablenken, Herr Kollege, die der vorliegende Gesetzentwurf bietet.
Unseren Richterinnen und Richtern, die durch die Prozeßflut der letzten Jahre starken Belastungen ausgesetzt waren und sind, möchte ich bei dieser Gelegenheit meinen Dank und meine Anerkennung aussprechen. Der Entwurf des Rechtspflege-Vereinfachungsgesetzes zeigt, daß der Gesetzgeber - ich hoffe, gemeinsam - die Dritte Gewalt bei der Bewältigung der Prozeßflut nicht im Stich läßt.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung ist wesentlicher Bestandteil des sozialen Rechtsstaates. Für alle Bürgerinnen und Bürger muß Rechtsprechung durch unabhängige Gerichte in angemessener Nähe und vertretbarer Zeit erreichbar und verfügbar sein. Die staatlichen Gerichte sind derzeit hoch belastet, teils überlastet, obwohl die Bundesrepublik, gemessen an der Einwohnerzahl, die höchste Richterdichte aufweist.
Nun hat die Bundesregierung ein Rechtspflegevereinfachungsgesetz vorgelegt. Ziel des Entwurfs ist es, der seit Jahren gestiegenen Belastung der Zivilgerichte entgegenzuwirken. Allein der Gesetzentwurf, Herr Staatssekretär, beunruhigt niemanden; er wird aber auch niemanden zufriedenstellen. Über eine justizpolitische Großtat reden wir heute morgen nicht.
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Denn der Entwurf meidet mit Akribie alle wichtigen Problemzonen. Der Entwurf enthält eine Reihe von Verfahrensänderungen, die, jeweils für sich genommen, durchaus diskussionswürdig sind und von Fall zu Fall auch unsere Zustimmung finden werden. Die Verfahrensänderungen leisten aber in ihrer Summe nicht das, was die Bundesregierung verspricht, nämlich die Entlastung der Zivilgerichte, geschweige denn eine Rechtspflegevereinfachung.
Es ist bezeichnend, daß der Entwurf spürbar hinter dem in der vorigen Legislaturperiode gescheiterten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung der Zivilprozeßordnung zurückbleibt. Die Belastung der Zivilgerichte hat aber keineswegs abgenommen. Sie ist weiter gestiegen. Sie haben zu Recht darauf hingewiesen, Herr Staatssekretär. Die Nachteile dieser Entwicklung werden auf dem Rücken der Rechtsuchenden, der Anwaltschaft und der überlasteten Richterinnen und Richter ausgetragen. Daran kann in diesem Hause niemand ein Interesse haben. Die Rechtsuchenden haben einen Anspruch darauf, daß ihre Verfahren zügig zu Ende geführt werden. Die Richterschaft hat einen Anspruch darauf, nicht mit
Arbeit zugeschüttet zu werden. Aus elementaren rechtsstaatlichen Gründen darf es nicht dazu kommen, daß „kurzer Prozeß" gemacht wird, um der Verfahrensflut überhaupt noch Herr werden zu können.
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Bei dieser wenig befriedigenden Sachlage verdient die Initiative des Bundesrates besondere Beachtung. Der Bundesrat schlägt eine spürbare Anhebung der amtsgerichtlichen Zuständigkeitswertgrenze vor. Dieser Vorschlag beansprucht zu Recht Aufmerksamkeit. In der heutigen ersten Beratung will ich für die SPD-Fraktion keine abschließende Wertung abgeben. Wir stehen diesem Vorschlag, der eine Stärkung der Amtsgerichte bedeutet, aufgeschlossen gegenüber. Allerdings machen solche Vorschläge nur Sinn, wenn Richterplanstellen von den Landgerichten zu den Amtsgerichten verlagert und bei den Amtsgerichten mehr Planstellen für Richterinnen und Richter im Beförderungsamt geschaffen werden. Es wird auch zu prüfen sein, ob die Verlagerung von bisher landgerichtlichen Zuständigkeiten auf die Amtsgerichte durch eine Mitverlagerung des Anwaltszwangs bei höheren Streitwerten zu flankieren ist. Wir sind bereit, diesen Problemkreis im Rechtsausschuß sorgfältig zu beraten, gegebenenfalls wird dazu eine Anhörung im Ausschuß erforderlich sein. Ich weise aber schon jetzt darauf hin, daß streitwertbezogene Maßnahmen nicht den Rechtsschutz sozial schwächerer Schichten verkürzen dürfen.
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Wir werden, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch zu beachten haben, daß die Verlagerung von Zuständigkeiten auf Amtsgerichte in einem Flächenland wie beispielsweise Nordrhein-Westfalen hilfreich sein kann, in einem Stadtstaat wie Hamburg aber zu erheblichen finanziellen Mehrbelastungen führen kann.
Der Bundesrat schlägt auch vor, Berufungssumme und Beschwerdesumme anzuheben. Diesen Vorschlag werden wir unter dem Gesichtspunkt einer möglichen Verkürzung des Rechtsschutzes besonders kritisch zu prüfen haben.
Die Bundesregierung entschuldigt die auch für sie erkennbaren Mängel ihres Gesetzentwurfs mit der noch nicht abgeschlossenen Strukturanalyse der Rechtspflege. Die Frage ist aber - liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Frage wird von Rechtsuchenden, Rechtsanwälten und der Richterschaft immer häufiger gestellt - : Können wir es uns leisten, mit entlastenden Maßnahmen noch länger zu warten? Ich meine: nein.
Die SPD-Fraktion vermißt vor allem durchgreifende Vorschläge zur Förderung der außergerichtlichen Streitbeilegung.
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Dazu gehört auch die Stärkung der Schiedspersonen; häufig wird das vergessen. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die verdienstvolle Initiative meines Fraktionskollegen Professor Pick. Vor allem die Anwaltschaft, die hier bereits Erhebliches leistet, müßte weitere Anreize erhalten, um Rechtsstreitigkeiten außergerichtlich sachgerecht zum Abschluß zu bringen.
Ähnliches gilt für die nichtstreitige Erledigung im gerichtlichen Verfahren. Jeder Jurist weiß oder kann zumindest wissen, daß in zahlreichen gerichtlichen Verfahren nicht die streitige Entscheidung durch Urteil oder Beschluß, sondern die nichtstreitige, mit den Beteiligten einvernehmlich herbeigeführte Erledigung die interessengerechte und wirklich Rechtsfrieden herstellende Beendigung eines gerichtlichen Streites darstellt. Die Beteiligten des gerichtlichen Verfahrens, aber auch Richter und Anwälte müssen motiviert und tatsächlich in die Lage versetzt werden, von diesen Möglichkeiten stärker als bisher Gebrauch zu machen.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, so verschieden Justiz und Bundestag sind, in einem sind sie sehr vergleichbar: In der Anwendung zeitgemäßer Bürotechniken und der verantwortbaren Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung hinken wir der Entwicklung um Jahre hinterher. Zu diesem Themenkreis enthält der Regierungsentwurf magerste Vorschläge, nämlich die Möglichkeit, das Mahnverfahren auf automatische Datenverarbeitung umzustellen, und die Möglichkeit, das Protokoll auf Datenträger aufzunehmen. Das ist, so meine ich, entschieden zu wenig. Die moderne Daten- und Kommunikationstechnologie muß in ihren Chancen - auch die Risiken dürfen sicherlich nicht verdrängt werden - für den richterlichen und gerichtlichen Arbeitseinsatz endlich aktiv gestaltet und nutzbar gemacht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich eine abschließende Bemerkung machen. Mit Änderungen des Verfahrensrechts wollen wir der steigenden Belastung der Zivilgerichte Einhalt gebieten. Als probates Rezept wird auch immer wieder die Aufstokkung des richterlichen und nichtrichterlichen Personals genannt. Bei allem Respekt, diskutieren wir nicht zu sehr an der Oberfläche, konzentrieren wir uns nicht ausschließlich auf Symptome, statt die Ursachen zu bekämpfen. Wer Rechtspflegevereinfachung und nicht lediglich eine gesetzliche Überschrift gleichen Wortlauts wirklich will, wird sich zu weiterreichenden Überlegungen und Entscheidungen durchringen müssen.
Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Kollege Helmrich, hat im vergangenen Monat der „Deutschen Richterzeitung" ein lesenswertes Interview gegeben und zum Ausdruck gebracht, Reformen größerer Reichweite halte er heute wegen des Widerstandes der Verbände nicht mehr für machbar. Wäre das richtig, liebe Kolleginnen und Kollegen, versagte Politik vor ihrem eigentlichen Auftrag, nämlich gesellschaftliche Wirklichkeit zu gestalten.
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Meine Fraktion ist bereit, mit Augenmaß und Leidenschaft für den Rechtstaat die Reform unserer Rechtspflege voranzutreiben.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Buschbom.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Zum RechtspflegeVereinfachungsgesetz bin ich mit meinem Herrn Vorredner einig. Ich habe Zweifel, ob das Wort „Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz" und der Entwurf tatsächlich zu der von uns erwünschten Vereinfachung der Rechtspflege führen.
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- Das stimmt.
Auf den Inhalt brauche ich mich nicht zu beziehen; meine Vorredner haben dazu Stellung genommen. Ich möchte das nicht wiederholen. Außerdem erlaubt mir die zur Verfügung stehende Redezeit nicht, zu dem Gesetzentwurf sachlich Stellung zu nehmen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten de With?
Ja.
Herr Kollege Buschbom, sind Sie mit mir der Meinung, daß es an der Zeit gewesen wäre, daß die Bundesregierung hier die möglichen Änderungen der Struktur nach hätte bekanntgeben sollen, damit die Diskussion hierüber endlich in Gang gesetzt werden kann?
Herr Kollege de With, ich werde dazu jetzt etwas sagen.
Ich werde mich im Hinblick auf die gebotene sachliche Auseinandersetzung im Ausschuß mit diesem und dem vom Bundesrat vorgelegten Pendant für die Gerichtsverfassung und das Zivilverfahrensrecht wichtigen rechtspolitischen Vorhaben auf drei Feststellungen beschränken.
Erstens. Im Jahre 1987 haben in der ersten Instanz bei den Amts- und Landgerichten 4 190 Richter 1 764 659 Zivilrechtsstreitigkeiten erledigt. Von dieser Gesamtzahl haben 1 766 Amtsrichter gleich 42 der Erstinstanzrichter 1 314 642 Verfahren gleich 74,5 % aller Verfahren und 2 424 Landrichter gleich 58 % der erstinstanzlichen Richter 450 017 Verfahren gleich 25,5 % aller Verfahren erledigt. Das heißt, 42 % aller erstinstanzlichen Richter haben bei den Amtsgerichten 74,5 % der Zivilverfahren erledigt, während die Landgerichte 58 To der erstinstanzlichen Richter benötigt haben, um 25,5 % der Gesamtverfahren, also etwa ein Drittel der von den Amtsrichtern erledigten Verfahren, zum Abschluß zu bringen.
Zweitens. Die Anzahl der in der Bundesrepublik Deutschland am 31. Dezember 1988 tätigen Richter von insgesamt 17 627 ist kaum noch erhöhbar; das gilt auch für das nichtrichterliche Personal.
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In den Staaten der Europäischen Gemeinschaft beträgt die Richterdichte auf 100 000 Einwohner 1 in Dänemark, 10 in Frankreich, 12 in Belgien und bis zu 35 in der Bundesrepublik Deutschland.
Drittens. Die Vereinheitlichung des europäischen Marktes und die Entdeckung des Wirtschaftsgutes Rechtspflege durch die Versicherungswirtschaft läßt eine Verringerung der Zivilrechtsstreitigkeiten jedenfalls nicht erwarten.
Auf Grund dieser tatsächlichen Feststellungen muß bezweifelt werden, daß die Probleme der staatlichen Rechtsgewährung in Zivilrechtsstreitigkeiten ohne Eingriffe in die Struktur unseres derzeitigen Gerichtsverfassungs- und Zivilverfahrensrechts lösbar sind. Ich habe den Eindruck, daß es höchste Zeit wird, sich mit der rechtspolitischen Frage zu beschäftigen, ob es rechtsstaatlich wirklich geboten ist, für die Erledigung von Zivilrechtsstreitigkeiten neben einer einzelrichterlichen Instanz, nämlich dem Amtsgericht, drei kollegialrichterliche Instanzen - Landgericht, Oberlandesgericht und Bundesgerichtshof - zur Verfügung zu stellen.
Namens der CDU/CSU-Fraktion bitte ich, dem Vorschlag des Ältestenrates zu entsprechen.
Schönen Dank.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Gesetzentwurf heißt Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz, er heißt nicht Verbesserungsgesetz. Klar ist, daß Vereinfachungen auch Verbesserungen sein können - aber es muß nicht unbedingt so sein.
Wir finden, daß einige vorgeschlagene Vereinfachungen wirklich Verbesserungen sind. Wir meinen aber, daß der Entwurf auf weiten Strecken eine beabsichtigte Verschlechterung der Rechtspflege darstellt, und zwar deshalb, um Kosten zu sparen.
Es stimmt auch, was Sie hier schon alle vorgetragen haben, daß an die Justiz immer höhere Anforderungen gestellt werden. Vor allen Dingen ist auch die Zahl der Verfahren erheblich gestiegen. Ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen wäre darauf stolz. Es wäre für sie ein Beweis dafür, daß die Dienstleistungen mit Erfolg angeboten worden sind. Vielleicht hinkt der Vergleich ja; es sind verschiedene Ebenen. Jedenfalls meinen wir, daß sich die Justiz in keinem Falle den gestiegenen Anforderungen dadurch entziehen darf, daß sie ihre Dienstleistungen für die Gesellschaft verschlechtert. Das geht nicht. Wir sind der Meinung, daß die Justiz für den Fiskus sowieso noch ungewöhnlich preiswert arbeitet. Eine Verschlechterung wollen wir jedenfalls nicht hinnehmen.
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Natürlich hängt die Qualität der gerichtlichen Entscheidung auch wesentlich von der Qualität der Richterinnen und Richter ab. Trotzdem hat sich unserer Meinung nach gezeigt, daß mit großer Wahrscheinlichkeit in einem Kollegium von Richtern und Richterinnen erarbeitete Entscheidungen besser sind als die eines Einzelrichters oder einer Einzelrichterin. Der Entwurf will aber das Einzelrichtersystem weiter verFrau Nickels
festigen. Dagegen haben wir von den GRÜNEN erhebliche Bedenken. Wir sind der Meinung, daß die Übertragung des Verfahrens an Einzelrichter in jedem Fall von der Zustimmung der Prozeßparteien abhängig gemacht werden sollte.
Weiter wird in dem Entwurf vorgeschlagen, die Revisionssumme zum Bundesgerichtshof von 40 000 DM auf 60 000 DM zu erhöhen. Dabei kann die wirtschaftliche Bedeutung eines Zivilprozesses für die eine Partei bei einem Streitwert unter 40 000 DM existenzbedrohend sein, anderen Parteien machen selbst Streitwerte von 60 000 DM überhaupt nichts aus. Wir sind der Meinung, daß man deshalb zusätzlich eine Revisionsmöglichkeit schaffen sollte, wenn der Prozeßausgang für eine der Parteien von existentieller Bedeutung ist.
Ein weiterer Punkt, zu dem wir erhebliche Bedenken haben, ist die vorgesehene Regelung, wonach unter bestimmten Voraussetzungen statt einer Zeugenvernehmung die schriftliche Beantwortung von Beweisfragen möglich sein soll. Die Richtigkeit eines Urteils hängt von der Zuverlässigkeit der Beweisaufnahme ab. Darum darf es hier keine Abstriche geben. In dem Entwurf soll die schriftliche Beantwortung einer Beweisfrage sogar unabhängig von den Anträgen der Prozeßparteien möglich sein. Das erscheint uns als besonders problematisch. In Verfahren wegen einer Ordnungswidrigkeit hat es sich heute schon vielfach eingebürgert, daß die Betroffenen und die Zeugen schriftlich befragt werden. Die Erfahrungen damit sind denkbar schlecht. Den Prozeßparteien sollte daher unserer Meinung nach das Recht eingeräumt werden, in allen Fällen die richterliche Vernehmung zumindest verlangen zu können.
Ein weiterer Punkt, der für uns von großer Bedeutung ist, ist die Schlüssigkeitsprüfung bei Mahnbescheiden. Aus Rationalisierungsgründen ist seinerzeit die Schlüssigkeitsprüfung bei Mahnbescheiden abgeschafft worden. Als Folge davon sind heute schon Tausende von Mahnbescheiden rechtskräftig geworden, die einer noch so bescheidenen Schlüssigkeitsprüfung nicht standgehalten hätten. Gerade aus diesem Grund sind die „Kredithaie" zu einem großen Problem geworden. Bei jährlich ca. 7 Millionen Anspruchsverfolgungen durch Mahnantrag oder Klage unterzieht sich der Anspruchsteller heute nur noch in einem von sieben Fällen der Mühe eines anspruchsbegründenden Tatsachenvortrags in Form der Klage. Dabei braucht er mit einer Wahrscheinlichkeit von nur 1: 8 damit zu rechnen, daß es zu einem Widerspruch oder Einspruch kommt. Je undurchsichtiger der Anspruch ist, um so geringer ist die Widerspruchsquote. Ein seit Generationen selbstverständliches Fairneßgebot wurde damit aufgegeben. Leidtragende sind besonders Menschen, die von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Scheidung betroffen sind. Selbst als sittenwidrig erkennbaren Ansprüchen wird damit im Regelfall Unanfechtbarkeit und für 30 Jahre Vollstreckbarkeit verliehen.
Die Schlüssigkeitsprüfung sollte deshalb unbedingt wieder eingeführt werden. Im Referentenentwurf vom Oktober 1987 wurde eine zumindest beschränkte Schlüssigkeitsprüfung in Mahnverfahren bei aufwendigem Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung
in Betracht gezogen. Dieser Vorschlag wurde von seiten der Regierung fallengelassen. Statt dessen soll jetzt auch noch nach vorangegangenen Mahnverfahren ein Versäumnisurteil im schriftlichen Verfahren möglich sein. Hier handelt es sich um Verfahrensstraffung ausschließlich zu Lasten der im Mahnverfahren sowieso benachteiligten Schuldner und Schuldnerinnen. Für so eine Politik haben wir dann kein Verständnis mehr. Da werden wir auch im Ausschuß nicht mitziehen.
Danke schön.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Beinahe hätte ich gesagt: „Meine Damen und Herren des Rechtsausschusses! " Im Rechtsausschuß sind aber mehr Damen und Herren anwesend als heute im Plenum.
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Wenn wir heute die erste Lesung des RechtspflegeVereinfachungsgesetzes vor uns haben, könnte man denken, daß es sich um eine ganze einfache und harmlose Angelegenheit handelt. Tatsächlich handelt es sich um ein für die Rechtspflege und die Rechtsordnung unseres Staates ungewöhnlich wichtiges Gesetz der Bundesregierung, das durch die Vorschläge des Bundesrates, insbesondere im Hinblick auf die Streitwertgrenzen, eine zusätzliche Brisanz gewonnen hat.
Der Bundesregierung ist sicherlich einzuräumen, daß der Geschäftsanfall bei den Zivilgerichten und deren Arbeitsbelastung in den letzten Jahren zu einem Dauerproblem geworden sind. Der Kollege Buschbom hat das ja sehr schön mit Zahlenmaterial unterfüttert. Die Neuzugänge sind in den Jahren 1980 bis 1986 um ein Drittel gestiegen.
Auf der anderen Seite - das müssen wir auch ganz offen sagen - hat jeder Bürger Anspruch auf ordnungsgemäße und sachgerechte Entscheidung seines Falles. Die Einstellung des Bürgers zu unserer demokratischen Ordnung wird auch davon beeinflußt, daß er sein Recht behält und erhält.
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- Das ist völlig richtig. Ich komme gleich darauf zu sprechen, Herr Wiefelspütz. Wir sind da wahrscheinlich gar nicht weit auseinander, wie Sie wissen.
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Wir Juristen neigen ja manchmal - vielleicht auf Grund der hohen Zahl der Verfahren - dazu, die Dinge zu objektivieren und dann zu sagen: Das muß auf Grund des Sachzwangs so oder so geregelt werden. Das haben jetzt auch der Bundesrat und die Bundesregierung gesagt. Der Rechtsuchende dagegen möchte subjektiv seinen Fall, der für ihn, weil er betroffen ist, der wichtigste ist, richtig und gut entschieden haben. Deswegen müssen wir versuchen, den subjektiv berechtigten Anspruch des Bürgers auf ein ihn befriedigendes Verfahren mit den Erfordernissen
der zweckmäßigen staatlichen Rechtspflege in Einklang zu bringen. Hierfür hat die Bundesregierung mit dem Rechtspflege-Vereinfachungsgesetz eine Reihe von guten Lösungsvorschlägen vorgelegt, z. B. die erleichterte Verweisung von Rechtsstreitigkeiten, die Verbesserung im Beweisrecht und die technischen Vereinfachungen im Mahnverfahren.
Soweit jedoch die Streitwertgrenzen durch die Bundesregierung und vor allem durch den Bundesrat erhöht worden sind, muß man sich fragen, ob hier nicht wieder einmal an Symptomen kuriert wird, ohne daß man des Hauptproblems, nämlich der wachsenden Prozeßflut, Herr würde. Mein Kollege Detlef Kleinert hat in der Vergangenheit auch von diesem Platz aus mehrfach zu Recht darauf hingewiesen, daß zur Entlastung der Gerichte außergerichtliche Schiedsverfahren und die Möglichkeiten eines vollstreckbaren Anwaltsvergleichs ausgebaut werden sollten. Diese Forderung kann ich nur unterstützen. Ich bitte die Regierung, im Zuge der Beratung hierzu Gesetzesvorschläge zu unterbreiten.
Es ist einzuräumen, daß jede Erhöhung der Streitwertgrenzen in allen Verfahrensstufen zur Entlastung der Gerichte führt. Das kann man rein rechnerisch nachvollziehen. Es ist jedoch zu fragen, ob damit nicht auch eine Gefährdung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung verbunden ist. Wesentliche Fragen wie z. B. das gesamte Mietrecht, das Unterhaltsrecht, das Kaufrecht und das Werkvertragsrecht werden von unterschiedlichen Gerichten der ersten Instanz unterschiedlich - und dann noch abschließend - beurteilt. Auch die Einschränkung des Mündlichkeitsprinzips bei sogenannten Bagatellrechtsstreitigkeiten ist im Hinblick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht unbedenklich.
Worüber wir in den Beratungen nachdenken sollten, ist: Beim Amtsgericht sollte ein gespaltener Anwaltszwang mit eingeführt werden. Dies ist sicherlich, wie wir wissen, nicht unproblematisch, aber wahrscheinlich ein gangbarer Weg.
Der Entwurf der Bundesregierung und die Vorschläge des Bundesrates sind insgesamt intensiv zu beraten. Wir sind den beteiligten Verbänden sehr dankbar, daß sie hier schon einiges an Vorarbeit geleistet haben.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 11/3621 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung sowie Zusatzpunkt 7 der Tagesordnung auf:
17. Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes
- Drucksache 11/5120 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
ZP 7 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Frau Unruh
Novellierung des Heimgesetzes
- Drucksache 11/5244 -Überweisungsvorschlag :
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Auch hiergegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Lehr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der Bundesrepublik Deutschland gibt es heute rund 8 000 Heime, in denen etwa 600 000 Bürger leben. Es sind etwa 3 % aller über 60jährigen, die in Heimen leben; doch in der Gruppe der 60- bis 70jährigen sind es nur 0,6 %, in der Gruppe der 70- bis 80jährigen 2,4 %, erst in der Gruppe der 80-bis 90jährigen sind 10 % in Heimen, und in der Gruppe der über 90jährigen schließlich sind es 21 %. Viele dieser Menschen sind nicht mehr in der Lage, ihre Interessen in einem Heim voll zu wahren. Sie bedürfen besonderer Hilfe und des Schutzes unserer Gemeinschaft.
Im Jahre 1975 ist daher das Heimgesetz erlassen worden, welches die Bewohner in Heimen vor Beeinträchtigungen schützen und ihre angemessene Unterkunft, Verpflegung und Betreuung sichern soll. Dieses Gesetz hat sich durchaus bewährt und hat wesentlich dazu beigetragen, die Situation in vielen Heimen zu verbessern.
Doch ist in der stationären Alten- und Behindertenhilfe die Entwicklung nicht stehengeblieben. Neue Erkenntnisse wurden gewonnen. Anforderungen, Erwartungen und Vorstellungen, die sich mit der Aufnahme in ein Heim verbinden, haben sich geändert. Heime sollen heute nicht nur Unterkunft, Verpflegung und Betreuung bieten, sondern sollen Wohnung sein, sollen ein Zuhause bieten.
Die Sicherung der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung sowie die Förderung der Eigenaktivität der einzelnen Bewohner haben heute vorrangige Bedeutung. Das Wohl der Heimbewohner und ihre Zufriedenheit hängen wesentlich davon ab, daß sie weitgehend selbst bestimmen können, daß ihre Wünsche respektiert werden, daß sie vielseitige Anregung erhalten, und zwar auch und gerade, wenn sie pflegebedürftig sind.
Frau Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Nickels?
Ja, wenn es nicht auf meine Zeit angerechnet wird.
Nein, das mache ich nicht.
Frau Ministerin, ich finde das richtig, was Sie gerade gesagt haben. Ich verstehe aber nicht, wie sich das, was Sie da sagen, mit dem decken soll, was in dem neuen § 1 des Gesetzentwurfs formuliert ist, wo es heißt:
Heime im Sinne des Satzes 1 sind Einrichtungen, die zum Zwecke der Unterbringung der in Satz 1 genannten Personen entgeltlich betrieben werden und in ihrem Bestand von Wechsel und Zahl ihrer Bewohner unabhängig sind.
Das widerspricht genau dem, was Sie gerade gesagt haben, und das kann ich nicht verstehen.
Keinesfalls! Auch dort, wo eine aktivierende Pflege betrieben wird - auf die wir großen Wert legen - , kann man von „Unterbringung" sprechen. Es ist eine Frage der Semantik.
Aktivierende Pflege und Rehabilitation sind gefragt. Wohl und Zufriedenheit eines Heimbewohners hängen davon ab, in welchem Maße er auch im Heim seine noch vorhandenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten nutzen, üben und bewahren kann, hängen davon ab, daß Möglichkeiten der Wiederherstellung oder wenigstens der Verbesserung seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten erkannt und genutzt werden. Einschränkungen bei einzelnen Funktionen dürfen nicht dazu führen, daß der Mensch insgesamt hilflos wird und mit der Etikettierung „pflegebedürftig" als nicht mehr behandelbar gilt. Auch alte Menschen haben ein Recht auf Rehabilitation.
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Meine Damen und Herren, der Ihnen vorliegende Entwurf eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Heimgesetzes trägt dieser Entwicklung, soweit ein Gesetz das leisten kann, Rechnung.
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Mit ihm soll zum einen die Gesetzesmaterie gestrafft und praxisnäher gestaltet werden. Es sollen Lücken ausgefüllt und bestehende Unklarheiten bei der Durchführung des Gesetzes ausgeräumt werden. Zum anderen wird die rechtliche Stellung des Heimbewohners weiter verbessert. Der Bürger darf mit Einzug in ein Heim nicht recht- und hilflos dem Heimträger ausgeliefert sein.
Ich weiß, daß es sehr viele gute, ausgezeichnet geführte Altenheime gibt, bei denen eine solche Befürchtung gar nicht erst aufkommen kann.
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Es gibt aber auch andere Heime, vor allem jene, die wir in den Medien zu sehen bekommen, die eine stärkere Absicherung der Heimbewohner notwendig machen.
Lassen Sie mich kurz einige Schwerpunkte der Neuregelungen nennen. Bisher war im Heimgesetz lediglich vorgeschrieben, daß ein Heimvertrag abzuschließen ist. Seine inhaltliche Ausgestaltung war jedoch weitgehend den Verhandlungen der Vertragsparteien überlassen. Dies hat vielfach zu rechtlichen Problemen geführt, und zwar zum Nachteil der Heimbewohner. Die Neufassung sieht daher insbesondere Einschränkungen bei der Kündigung des Heimvertrags vor. Auch eine Erhöhung des Entgelts der Heimkosten durch den Heimträger darf nicht ohne weiteres stattfinden; ihr sind Schranken gesetzt. Die Neufassung enthält auch eine Verpflichtung des Heimträgers, die Versorgung des Bewohners an dessen jeweiligen Gesundheitszustand anzupassen, und zwar nicht nur dann, wenn sich der Gesundheitszustand verschlechtert, sondern auch in Fällen, in denen sich der Gesundheitszustand eines Bewohners verbessert hat und dessen Unterbringung in der Pflegestation nicht mehr notwendig ist. Altenheime und Pflegeheime dürfen bei uns keine Einbahnstraßen mehr sein.
Das geltende Recht sieht Mitwirkung der Heimbewohner in inneren Angelegenheiten des Heimbetriebs durch die Bildung von Heimbeiräten vor. Es hat sich jedoch gezeigt, daß in etwa einem Viertel der Heime ein Heimbeirat nicht gebildet werden kann, weil die Heimbewohner wegen Krankheit dazu außerstande sind.
Damit auch diese Bewohner - gerade für sie ist es besonders nötig - ihre Wünsche und Meinungen gegenüber dem Heimträger artikulieren können, soll für sie ein Heimfürsprecher nach Anhörung des Heimträgers bestellt werden, wenn nicht schon - wie in vielen Einrichtungen - bereits ein anderes geeignetes Gremium besteht. Die Unabhängigkeit des Heimfürsprechers gegenüber Behörde und Heimträger, sein Einsatz für die Interessen der Heimbewohner, aber auch Fragen seiner persönlichen und fachlichen Eignung werden in der Heimmitwirkungsverordnung näher geregelt.
Die Vorbereitung der Novelle war nicht einfach und ist mancherorts von kritischen Äußerungen begleitet worden. Wegen gegensätzlicher Interessen der Heimträger und der Heimbewohner sind den einen die Neuregelungen zu umfangreich und zu weitgehend, anderen hingegen viel zu eng; wieder andere halten sie überhaupt nicht für erforderlich, weil sie eine staatliche Einflußnahme im Heimbereich grundsätzlich ablehnen. Beispiele zeigen jedoch, daß die manchmal nötig ist. Wir werden in einer bald vorzulegenden Heimmindestpersonalverordnung die Voraussetzungen der Eignung des Leiters und der Qualifikation der Beschäftigten festlegen.
Die Bundesregierung ist in dem vorliegenden Entwurf darum bemüht, einen gerechten Ausgleich der unterschiedlichen Standpunkte zu erreichen. Sie hat sich allerdings in ihren Überlegungen besonders von
dem Wohl und den Interessen der Heimbewohner leiten lassen.
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Wenn es uns ernst ist um die Sorgen der älteren Menschen in unseren Heimen, dann müssen wir ihre besonderen Anliegen und Bedürfnisse auch bei gesetzgeberischen Maßnahmen berücksichtigen.
Die Bundesregierung ist danach verfahren. Sie bittet den Deutschen Bundestag, sie hierbei zu unterstützen und dem Entwurf zuzustimmen.
Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Jaunich.
Werte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau Bundesministerin Lehr hat eine schöne Rede gehalten.
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Nur, von den schönen Worten steht in diesem Entwurf der ersten Novelle zum Heimgesetz nichts! Dies ist der deutliche Unterschied zwischen Reden und Handeln.
({1})
Selten hat ein Schlagwort treffender einen sozialpolitischen Mißstand offenbart als das vom Pflegenotstand. Tausende von Pflegekräften aus dem Krankenbereich wie auch aus dem Altenpflegebereich haben auf schier untragbare Zustände hingewiesen. Die Situation im Bereich der Pflege ist auch dem Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit sicherlich nicht unbekannt. Wie man darauf so reagieren kann wie mit diesem Entwurf, dies bleibt die Frage, die zu beantworten Ihnen noch obliegt.
Bei solchen Gelegenheiten wird immer Dank gesagt, Dank jenen Menschen, die sich dieser aufopferungsvollen Arbeit der Pflege widmen. Ich will das im Namen meiner Fraktion gern tun.
({2})
Nur, der geeignete Dank würde darin bestehen, daß man entsprechende Voraussetzungen schafft, unter denen sich diese Arbeit zu vollziehen hat.
({3})
Er würde darin bestehen, daß man ein Berufsbild schafft und Weiterbildungsmöglichkeiten organisiert, aber nicht zu finanziellen Lasten derer, die in diesen Berufen tätig sind.
({4})
Hier ist angekündigt worden, es werde nunmehr auf der Basis des § 3 eine Rechtsverordnung erlassen werden, die die Qualifikation der Heimleiter beinhaltet. Nun frage ich Sie, Frau Lehr: Warum hat die Bundesregierung dies nicht längst getan? Das ist ja Gegenstand des 1974 verabschiedeten Gesetzes.
({5})
- Nein, einstimmig verabschiedet.
({6})
- Nein, vom Bundesrat damals eingebracht. Herr Link, Sie sollten einmal die Akten studieren, bevor Sie Zwischenrufe machen. Machen Sie sich erst einmal sachkundig!
({7})
Eingebracht worden war der Entwurf vom Land Berlin über den Bundesrat in das Haus, und hier wurde er einstimmig verabschiedet. Die von mir sehr geschätzte Kollegin Schroeder ({8}) hat damals für die Union in erster wie in zweiter und dritter Lesung gesprochen. Sie hat gesagt: Das ist ein gutes Gesetz, aber es kann nur der Anfang sein; es müßte unter Umständen zu einem Heimfinanzierungsgesetz ausgebaut werden. Sie hat davon gesprochen, daß die Qualifikation für die Heimleiter bald geregelt werden müßte. Die Bundesregierungen, die wir zu vertreten haben, haben den Versuch gemacht, die Personalmindestverordnung zu realisieren. Die sozialdemokratisch geführten Bundesregierungen sind mit diesem Versuch an der Mehrheit des Bundesrats gescheitert, was von Ihnen zu vertreten ist, meine Damen und Herren von der Union.
Die Frau Lehr oder auch die Frau Süssmuth haben einen solchen Nasenstüber nicht bekommen, weil sie gar keinen Versuch gestartet haben. Die Logik, die Sie jetzt an den Tag legen, besteht darin: Man streicht dieses Instrument.
({9})
Die Ermächtigung zum Erlaß einer Mindestverordnung, was die Anzahl der Pflegekräfte anbelangt, wird herausgestrichen!
({10})
Ich vermag hierin wirklich keinen Fortschritt zu sehen. Wenn ein legislatives Instrument nicht zum Zuge gekommen ist, weil Borniertheit und Engstirnigkeit im Denken bei einigen wohl Pate gestanden haben, dann kann ich daraus doch nicht die Konsequenz ziehen, das Instrument zu beseitigen, sondern dann muß ich mutig anpacken, zumal wenn es um meine eigenen Parteifreunde geht. Denn die Mehrheiten im Bundesrat sind immer noch die gleichen wie damals. Frau Lehr, Sie hissen hier die weiße Fahne, Sie kapitulieren. Damit werden Sie den Problemen der alten Menschen nicht gerecht.
({11})
Jeder, der gemeint hat, daß die Entscheidung des Bundeskanzlers, Sie auf diesen Stuhl zu setzen, bedeuten würde, daß nunmehr die Probleme der älteren Menschen in unserem Lande angepackt werden, muß sich bitter enttäuscht sehen.
({12})
Ich hätte an Ihrer Stelle nicht den Mut gehabt, mit einer so dürftigen Novelle vor dieses Haus zu treten.
({13})
- Das muß ja nicht erst erforscht werden. Das wissen wir.
Die Mindestpersonalverordnungsermächtigung
wird also herausgestrichen. Für die Qualifikation der Leiter hätten Sie längst eine Regelung schaffen können, denn das war damals mit dem Bundesrat nicht strittig. Das hätten Sie längst abkoppeln können, zumindest Ihre Vorgängerin, die jetzige Präsidentin des Deutschen Bundestages. Auf diesem Sektor bietet die Novelle also keinen Fortschritt, sondern ganz im Gegenteil einen Rückschritt.
Wie sieht es mit den Mitwirkungs- und Mitbestimmungsrechten aus? Kriegen Sie eigentlich die Briefe nicht, die wir Parlamentarier bekommen? Glauben Sie ernsthaft, daß durch die Einsetzung eines Heimfürsprechers die berechtigten Wünsche und Forderungen gerade der aktiven Seniorengeneration, die Sie in Worten immer so hochloben und feiern, erfüllt werden? Ganz im Gegenteil!
Im übrigen muß es da wohl Abstimmungsprobleme mit dem Haus des Bundesjustizministers geben. Denn was sich hier in der Änderung befindet, scheint im Hause Engelhard, welches Ihrem Entwurf zugestimmt hat, nicht berücksichtigt worden zu sein, und bei Ihnen scheinen die Bestrebungen dort wohl auch nicht angekommen zu sein. Kurzum: Auch was diesen Punkt anlangt, ist das, was Sie hier vorlegen, eine dürftige Antwort auf die Forderung nach wirksamer Mitbestimmung der Heimbewohner.
({14})
Man kann daraus den Schluß ziehen, den Sie, Frau Unruh, oder die Fraktion der GRÜNEN gezogen haben. Sie wollten heute, glaube ich, eine Drucksache zur Behandlung einreichen, die die Bundesregierung auffordert, den Entwurf zurückzuziehen.
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- Gut, entschuldigen Sie. Das ist in diesem Ersatzplenarsaal nicht so ganz einfach, wie Sie wissen.
Als Parlamentarier kann man aber natürlich auch andere Konsequenzen daraus ziehen. Wir Sozialdemokraten werden den vorliegenden Gesetzentwurf durch eigene Anträge anreichern. Denn eine Regierung, die gerade etwas eingebracht hat, zum Zurückziehen aufzufordern ist etwas illusorisch,
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- Zu dem Thema „Pflegegesetz" komme ich gleich noch.
Abschließende Bewertung zum Thema „Mitwirkung und Mitbestimmung" : So, wie Sie sich das denken, ist es kein Fortschritt. So ist das zu dürftig. Wir werden unsere Vorstellungen hier in die Debatte einbringen.
Zusammenfassend sage ich: Ich sehe nicht, daß die Bundesregierung auf die Herausforderungen auf diesem Sektor eine Antwort gefunden hat. Die jetzt vorgelegte Erste Novelle zur Änderung des Heimgesetzes geht an der Sache vorbei. Insgesamt führen die vorgelegten Ergänzungen und Änderungen zu einer weiteren Formalisierung und Bürokratisierung in diesem Bereich. Zentrale Interessen der Heimbewohner können aber nicht durch Ordnungsvorschriften gesichert werden. Die Lebensqualität der Heimbewohner ist vielmehr in erster Linie von befriedigenden Rahmenbedingungen abhängig. Hierzu gehört in erster Linie, daß die Kosten für Heimpflege neu geordnet werden. Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß mehr als 70 % aller Pflegeheimbewohner wegen der hohen Kosten auf Sozialhilfe angewiesen sind. Wenn es auch das gute Recht eines jeden Bedürftigen ist, Sozialhilfe in Anspruch zu nehmen, so wissen wir doch, daß Menschen, die ein erfülltes Arbeitsleben hinter sich haben, dies als unwürdig empfinden.
Mit dem von uns im Zusammenhang mit dem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz im Deutschen Bundestag eingebrachten Entwurf eines Pflegegeldgesetzes, der auch Leistungen an stationär untergebrachte Pflegebedürftige vorsah, haben wir den ersten Schritt in die richtige Richtung aufgezeigt. Auf dieser Basis gilt es fortzuschreiten. Ihren Entwurf werden wir nicht nur der kritischen Öffentlichkeit im Wege einer Anhörung präsentieren, sondern wir werden ihn auch mit unseren eigenen Vorstellungen anreichern. Dann wird der Deutsche Bundestag darüber zu befinden haben, ob daraus ein richtungweisendes Instrument, orientiert an der Interessenlage älterer Menschen, geworden ist oder nicht. Davon wird dann unsere Zustimmung abhängen.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Walz.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Wie kann man ohne Zähne beißen? Auch der vorliegende Entwurf bietet darauf keine Antwort.
Vor 14 Jahren wurde das Heimgesetz verabschiedet; es hat sich im großen und ganzen bewährt. Allerdings wird es den veränderten Verhältnissen in unserer Gesellschaft und auch in den Heimen in Teilen nicht mehr gerecht. Wir haben es heute mehr und mehr mit alten Menschen zu tun, die auch im höheren Alter noch über sich selbst bestimmen möchten. Die Einsicht in der Gesellschaft wächst, altersbedingte Hilflosigkeit nicht mit Entmündigung zu beantworten. Das Betreuungsgesetz war die nötige Antwort darauf. Wir haben die Würde des Alters zu achten.
Das heißt, daß Alter heute kein Lebensabschnitt ist, der allein von der Rentenformel oder einem sonnigen Plätzchen auf einer Bank im Park bestimmt wird. Alte Menschen wollen die letzte Phase ihres Lebens bewußt erleben und auch selbst mitgestalten, soweit und solange dies möglich ist. Das gilt vor allem bei einem Heimaufenthalt, der häufig mit der totalen Trennung vom bisherigen Leben verbunden ist.
Zwar werden nach wie vor - das hat Frau Minister Lehr schon gesagt - 95 % der Älteren zu Hause gepflegt und betreut, doch ca. 5 % müssen in stationären Einrichtungen leben. Die Gründe dafür sind: keine Angehörigen - das wird in Zukunft das Schicksal vieler Menschen sein - , die Familie kann die Pflegeleistungen nicht erbringen oder die Behinderungen, die Erkrankungen sind so stark bzw. schwer, daß häusliche Pflege nicht mehr möglich ist. Die Zunahme der Pflegebedürftigkeit wird dieses Haus deshalb noch sehr stark beschäftigen müssen. Bei diesem Thema wird in Zukunft niemand mehr weghören können. Die Absicherung des Pflegerisikos muß kommen.
Da immer mehr Menschen immer älter werden und da die ambulanten Dienste ausgebaut wurden, kommen die Menschen immer älter und immer pflegebedürftiger in die Heime. Diese sind inzwischen quasi zu Kleinstkrankenhäusern geworden. Das hat die Situation in den Heimen grundlegend geändert. Neben der Betreuung sind die Pflege und - was bisher vernachlässigt wurde - die Rehabilitation sowie die reaktivierende Pflege in den Vordergrund getreten.
Heute sind Heime leider Gottes weitgehend noch Endstation. Aber dies entspricht in keiner Weise den Erkenntnissen der rehabilitativen Medizin in anderen Ländern.
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Heime sollten auch in Zukunft die Möglichkeit der Rückkehr in das häusliche Leben eröffnen. Davon muß in einem Heimgesetz die Rede sein. Wir werden in den Ausschußberatungen auf diesen sehr wichtigen Punkt zurückkommen.
Heute ist die Situation in den Heimen jedoch von der Sorge um die Qualität der Pflege geprägt. Der Pflegenotstand droht. Sicher kann ein Heimgesetz nach herkömmlichem Verständnis darauf nicht die alleinige Antwort geben. Doch wir sollten uns darüber unterhalten, an welcher Stelle Vorgaben zur Qualifizierung der Pflegeleistungen gemacht werden müssen, die dann auch für die Kostenträger verbindlich sind. Wir müssen also über eine Verbesserung der Rahmenbedingungen für die Pflege nachdenken.
Wir halten es für ganz wichtig, daß durch die Transparenz der Heimleistungen die Rechtsposition der Heimbewohner gestärkt wird und daß die Fragen der Kündigung geklärt werden. Wir haben allerdings Bedenken dagegen, wenn Entgelte daran gemessen werden sollen, was in der Gemeinde oder in vergleichbaren Gemeinden für Heimplätze gleicher Art bezahlt wird. Dies bedeutet, daß weder Heimbewohner noch Heimträger einen Einfluß auf die Gestaltung der Pflegesätze haben werden. Das Prinzip der Vertragsfreiheit ist damit fraglich geworden. Auch darüber werden wir im Ausschuß reden müssen.
Ein weiteres Kernstück der Novelle ist die Bestellung eines Heimfürsprechers. Die dafür vorgesehenen Regelungen können von uns nicht mitgetragen werden. Die Bestellung eines Heimfürsprechers durch die zuständige Behörde ist für uns kein gangbarer Weg.
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Wir meinen, daß der Heimfürsprecher eine Person des Vertrauens sein soll. Dies kann ein Angehöriger sein, ein Vertreter eines Seniorenrates oder ganz schlicht jemand, der in der Altenpolitik aktiv tätig ist.
Schließlich - auch das ist ein ganz wichtiger Punkt - halten wir eine Regelung für unumgänglich, die sich mit der Heimaufsicht befaßt. Es muß möglich sein, daß die Heimaufsicht auch unangemeldete Kontrollbesuche vornehmen kann. Bei vorher angemeldeten Kontrollen können Mißstände vertuscht werden.
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Wir meinen, eine sinnvolle Überprüfung der Heime nach einheitlichen Kriterien ist dringend nötig.
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Niemand darf in einer Einrichtung anderen Menschen hilflos ausgeliefert sein. Wir werden in den Ausschußberatungen unsere Vorschläge im einzelnen erläutern, stimmen aber einer Novellierung des Heimgesetzes vom Grundsatz her zu. Wir werden versuchen, dem Heimgesetz Biß zu geben.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das war eine erstaunliche Rede von seiten der FDP.
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Ich hoffe, Sie bleiben dabei. Das wäre schön; denn dann würde man vielleicht etwas Gutes für die Heimbewohnerinnen und Heimbewohner erreichen.
Wie Sie wissen, ist es das Ziel grüner Politik, Heime durch den Aufbau ambulanter Hilfen zu ersetzen, und zwar deshalb, weil Heime nach wie vor Einrichtungen sind, bei denen die Interessen der Organisation und der Kostenträger zwangsläufig die Bedürfnisse der dort lebenden Menschen beherrschen.
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Die von der Bundesregierung vorgeschlagene Novellierung des Heimgesetzes schreibt diesen Zustand aber fort. In der Definition von Heimen - ich habe das eben schon einmal die Frau Ministerin gefragt - sagt die Bundesregierung selbst, daß diese Einrichtungen „in ihrem Bestand und Zweck von Wechsel und Zahl ihrer Bewohner unabhängig sind". Ich finde, gerade das geht nicht. Wir brauchen nämlich Hilfsformen, deren oberstes Ziel es ist, auch dem Willen und der Selbstbestimmung der Bewohnerinnen und Bewohner gerecht zu werden. Frau Ministerin, ich finde, daß auch das Wort Unterbringung eine sprachliche Fehlleistung ist. Sprache ist ja oft enthüllend. Wenn Sie sagen, Sie wollten, daß sich diese Menschen zu Hause fühlen könnten, dann ist das eine Negativsteigerung. Die Negativsteigerung würde dann so aussehen: sich zu Hause fühlen, wohnen, unterbringen oder abstellen. Die Sprache in Ihrem Gesetzentwurf ist verräteFrau Nickels
risch. Ich denke, man muß da wirklich noch einmal die Grundsatzabsicht hinterleuchten.
Das von uns schon vor langer Zeit eingebrachte Pflegegesetz will ein selbstbestimmtes Leben der Pflegebedürftigen in ihrer gewohnten Umgebung - das ist ganz wichtig - ermöglichen. Es sichert dem Pflegebedürftigen die Verfügungsgewalt über die Hilfsdienste. Den gleichen Ansatz fordern wir beim Heimgesetz, das sicherlich noch so lange nötig sein wird, wie Heime noch nicht ersetzt werden können. Für die Übergangszeit brauchen wir aber ein Schutzgesetz für die Bewohnerinnen und Bewohner und kein Schutzgesetz für die Interessen der Heimträger.
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Die Bundesregierung will aber kein Schutzgesetz, wenn sie es nun den Heimträgern erlaubt, durch die Aufnahme einer einfachen Klausel in den Heimvertrag das Monatsentgelt für Miete, Verpflegung, Betreuung oder Pflege einseitig zu erhöhen. Das widerspricht dem genannten angeblichen Willen.
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Die Bundesregierung will auch kein Schutzgesetz, wenn auch die Novellierung den Heimbewohnerinnen und Heimbewohnern nur eine Mitwirkung, nicht aber eine Mitbestimmung zubilligt. Der Heimbeirat hat das Recht auf Information und Erörterung, nicht aber Anspruch auf Berücksichtigung seiner Vorschläge, den er unserer Auffassung nach haben müßte.
Mich wundert es angesichts dieser Situation in den Heimen überhaupt nicht, daß viele der Betroffenen keine Lust mehr haben, im Heimbeirat mitzuarbeiten. Wir fordern die Mitbestimmung in so wichtigen Bereichen wie Finanzen, Personaleinstellung und -kündigung, Erweiterung und Umbau des Heimes, Gestaltung der Heimordnung.
Die Bundesregierung will auch kein Schutzgesetz, wenn für den Fall, daß kein Heimbeirat gebildet werden konnte, eine Heimfürsprecherin oder ein Heimfürsprecher eingesetzt wird von der Behörde, die gleichzeitig die Interessen der Kostenträger zu vertreten hat. Da macht man den Bock zum Gärtner. Das geht überhaupt nicht.
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Wir fordern für den Fall, daß auch bei der Ausstattung mit wirkungsvollen Mitbestimmungsrechten kein Heimbeirat durch die Betroffenen selber gebildet werden kann, die Vertretungsmöglichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner durch Vertrauenspersonen, denen jederzeit das Vertrauen entzogen werden kann, wenn sie es nicht verdient haben.
Die Bundesregierung will weiterhin kein Schutzgesetz, wenn sie eine Heimaufsicht duldet, die ihren Aufgaben nicht gerecht wird. So werden über Jahre hin menschenunwürdige Zustände bis hin zu Freiheitsberaubung und Mißhandlungen nicht erkannt oder gar geduldet. Die Gründe dafür sind vielfältig, hauptsächlich aber Interessenverquickung und Überlastung.
Wir GRÜNEN fordern ein wirklich unabhängiges Aufsichtsgremium als Heimaufsicht, das sich aus Bewohnerinnen und Bewohnern aus ihren Vertrauensleuten, aus Vertretungen der Organisationen der Betroffenen und der Kommunen zusammensetzt. Diese Gremien sollen in der Lage sein, Ombudsleute zu ernennen, die mit weitestgehenden Aufsichtsmöglichkeiten versehen werden.
Zum Schluß bringe ich einen Punkt zur Sprache, den auch Sie schon erwähnt haben und der geradezu skandalös ist. Die Bundesregierung kann hier nicht von der Vorlage eines Schutzgesetztes für die Betroffenen reden, wenn sie den Personalschlüssel in den Heimen dem freien Spiel der Kräfte überläßt, in dem die Bewohnerinnen und Bewohner nur verlieren können. Wir fordern die Festlegung von Mindestschlüsseln, die deutlich besser als die heutigen bemessen sind.
Aus den Gründen, die ich nur kurz skizzieren konnte, lehnen wir die Vorlage ab. Wir haben einen eigenen Antrag eingebracht, der ja ebenfalls beraten wird. Ich hoffe, daß die Beratungen für die Betroffenen etwas Vernünftiges ergeben und daß Ihr Entwurf nicht Gesetz wird.
Danke schön.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Link.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Jaunich, bis jetzt hatte ich immer den Eindruck, daß dann, wenn wir uns über diese Fragen, die uns gemeinsam bewegen, im Ausschuß und im Plenum des Deutschen Bundestages unterhalten, der eine dem andern nicht Unkenntnis oder Ahnungslosigkeit vorwirft, wie es gerade Mittwoch im Ausschuß geschehen ist. Wissen Sie, wenn wir als große Volksparteien einander bei politischen Fragen ständig bescheinigen, du hast keine Ahnung und du hast keine Ahnung,
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dann dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Ränder am linken und rechten Rand, Herr Jaunich, wachsen.
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Ich meine, gerade in den Fragen, die wir heute morgen behandeln, sollte der Umgangston ein anderer sein. Das sollten Sie auch Ihren Kollegen im Ausschuß sagen.
Im übrigen darf ich Ihnen sagen, Herr Jaunich, daß doch auch Sie wissen, daß das Ausbildungspflegegesetz, das die Ausbildung regelt, zur Zeit im Ministerium vorbereitet wird und daß wir uns bald darüber unterhalten werden.
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Link ({3})
Die Tatsache, daß heute etwa 600 000 ältere Mitbürgerinnen und Mitbürger - behinderte und nichtbehinderte - in 8 000 Heimen leben, macht verständlich, daß sich Erwartungen und Anforderungen bei der Unterbringung in Heimen seit 1974 verändert haben. Früher war das Heim eine Art Versorgungseinrichtung. Heute sind Selbständigkeit und Eigenverantwortung mehr gefragt.
In der Vergangenheit hat es immer wieder Schwierigkeiten bei der Auslegung des Begriffs Heim gegeben. Eine Klarstellung auch hinsichtlich einer besseren Abgrenzung gegen sogenannte Wohngemeinschaften, Übergangsheime und andere Wohnformen der Altenhilfe ist daher dringend geboten. Wir werden ja während der Beratungen und einer Anhörung Zeit haben, uns darüber zu unterhalten.
Ein Schwerpunkt der Neufassung des Heimgesetzes - ich weiß gar nicht, warum Sie heute morgen so sehr kritisiert haben, der Gesetzentwurf bringe nichts Neues; deshalb trage ich Ihnen das vor - ist die Regelung über den Heimvertrag. Das ist ein ganz wichtiger Punkt für uns. Bislang war festgelegt, daß zwischen den jeweiligen Heimträgern und den Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Heimen ein Vertrag zu schließen ist, allerdings ohne im einzelnen eine bestimmte inhaltliche Ausgestaltung vorzunehmen. Heute ist es notwendig, insbesondere Regelungen über die genaue Beschreibung der einzelnen Rechte und Pflichten der Mitbürgerinnen und Mitbürger festzulegen. Hierzu gehören vor allem Regelungen über die genaue Beschreibung der einzelnen Rechte und Pflichten der Beteiligten. Ich meine, das wäre, Frau Ministerin, schon ein ganz großer Fortschritt.
Eine Verbesserung ist die Mitwirkung der Mitbürgerinnen und Mitbürger in Heimen bei der Gestaltung des Heimbetriebs durch die Bildung von Heimbeiräten. Wir alle wissen, daß viele Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserem Land schon seit Jahren ehrenamtlich in den Heimen mitarbeiten und viel Gutes tun.
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In der Praxis hat sich allerdings gezeigt, daß in einem Viertel der Einrichtungen infolge Krankheit oder Behinderung ein solcher Heimbeirat nicht gebildet werden konnte. Auch hier ziehen wir Konsequenzen. Um Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Heimen zukünftig die Möglichkeit zu schaffen, ihre Vorstellungen gegenüber dem Heimträger darzulegen, kann nunmehr ein Heimfürsprecher bestellt werden, der dann die Interessen der Heimbewohner wahrnimmt. Dieser muß - darauf legen wir großen Wert - unabhängig sein gegenüber der zuständigen Behörde und auch gegenüber dem Heimträger.
Mit der Neufassung des Heimgesetzes wird zukünftig auf eine pauschale Festlegung der Personalausstattung verzichtet. Wir wissen aber, daß in vielen Ländern bereits Konsequenzen gezogen worden sind und daß sich die Personalausstattung zwar nicht schnell genug, aber doch langsam verbessert.
Zu begrüßen ist auch die Verbesserung hinsichtlich der Gewährung von Darlehen - auch das ist ein
neuer Punkt - an den Heimträger zum Bau, zur Ausgestaltung und zum Betrieb eines Heimes. Diese Darlehen sind in der Regel unverzinslich. Künftig sollen nunmehr diese Beträge verzinst werden,
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wenn bei der Berechnung des Entgelts für die Unterbringung der Vorteil der Kapitalnutzung nicht zugunsten des Heimbewohners berücksichtigt worden ist. Auch das ist ein Fortschritt, Herr Jaunich. Darüber dürfen wir doch nicht hinwegschauen. Damit wird nämlich sichergestellt, daß dem Bewohner keine finanziellen Nachteile gegenüber dem Heimträger entstehen.
Mit der Neufassung des Heimgesetzes wird ein weiterer Schritt vollzogen, unseren älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in den Heimen mehr Selbstbestimmung zu verschaffen und somit eine aktive Teilnahme am Heimgeschehen zu gewähren. Mittlerweile ist es in das Bewußtsein der Bundesbürger gedrungen, daß auch die dritte Phase des Lebens nach Schule, Ausbildung und Beruf eine aktive und beglückende Phase im menschlichen Leben ist. Um diese aktive und beglückende dritte Phase auch für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in Heimen zu gewährleisten, müssen alle Voraussetzungen geschaffen werden.
Hätten die GRÜNEN den vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung richtig gelesen, hätten sie festgestellt, daß die zu verwirklichenden Maßnahmen bereits in ihm enthalten sind. Übernähme man die Vorschläge der GRÜNEN - Frau Unruh, ich habe das nach unserem Gespräch gestern wirklich noch einmal überprüft - , würden sich nach meiner Ansicht in Heimen zu bürokratische Verfahrensweisen entwickeln.
Im Gesetzentwurf der GRÜNEN wird die Forderung aufgestellt, bei der Bestellung des Heimbeirates oder des Heimfürsprechers Familienmitglieder zu berücksichtigen. Das kann durchaus gut sein. Aber, ich glaube, es ist nicht immer gut; wir haben uns gestern darüber unterhalten.
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Mit unserer Novelle des Heimgesetzes wollen wir die Rechtsstellung der Mitbürgerinnen und Mitbürger in Heimen verbessern. Dies allein genügt jedoch nicht. Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg hat gezeigt, wie schnell Vorurteile gegenüber unseren älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Heimen entstehen können. Darum erkläre ich an dieser Stelle für die gesamte CDU/CSU-Fraktion: Unsere in Heimen lebenden älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger verdienen unsere uneingeschränkte Anerkennung für ihre großen Leistungen, die sie in den vergangenen 40 Jahren beim Wiederaufbau der Bundesrepublik erbracht haben. Sie alle haben das Recht, mitten unter uns zu leben - auch in Heimen mitten unter uns zu leben ({7})
Link ({8})
und nicht auf die grüne Wiese oder an den Stadtrand abgeschoben zu werden.
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Ich erlaube mir, zur Information der Zuhörer zu sagen, daß es sich um die erste Lesung eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung handelt und daß all die Vorschläge in den Ausschüssen beraten werden. Sonst wissen die Zuhörer gar nicht, warum wir hier schon alle Probleme ansprechen.
Jetzt hat die Frau Abgeordnete Unruh das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Volksvertreter und Volksvertreterinnen! Drei Minuten, die mir als Redezeit zugestanden worden sind, zwingen mich, jetzt vorzulesen.
Sie, Frau Altersforscherin und heute zuständige Ministerin Lehr, wissen seit 1978 konkret Bescheid, wie über Altenheimer - auch hier in Bonn - verfügt wurde nach dem Motto: Und bist du nicht willig, so brauch' ich Gewalt. Ihr sogenannter Doktorvater Professor Dr. Hillebrand, ehemaliger Ordinarius der Universität Bonn, als Heimbeiratsvorsitzender sowie Herr Landgerichtsdirektor Johannes Brahms, Bonn, klärten sie über Wehrlosigkeit und Peinigungen in Heimen auf. Beide Herren wurden fast zu Tode gequält. Die Prozesse brachten nicht viel.
Wir Grauen Panther demonstrierten zusammen mit Angehörigen viermal in Bonn für unsere Mitglieder Hillebrand und Brahms. Sie, Altersforscherin Lehr, verurteilten uns als „Kommunistenweiber". Wir Grauen Panther haben uns nicht beirren lassen und bundesweit bis heute weiter gegen Menschenrechtsverletzungen in Heimen demonstriert.
Sie, Frau Ministerin, haben in Bonn auf Einladung des Justizministers das realistische Theaterstück der Hamburger Vormundschaftsrichter über „Heimalltag" - ich nehme an, ohne gespielte Erschütterung - wahrgenommen und legen nach allem einen Gesetzentwurf vor, der nicht vorrangig die Lebensinteressen und das Schutzbedürfnis der Heimbewohner regelt, sondern Heimträgern und Kostenträgern noch mehr willkürliche Verfügungsgewalt über abhängige, hilflose alte Menschen einräumt. Sie, Frau Ministerin, haben mein Buch „Tatort Pflegeheim" mit Lösungsvorschlägen erhalten. Ich habe Sie in einem kurzen persönlichen Gespräch gebeten, den Schutz und die Menschenwürde der Bewohner in den Heimen mit der Novellierung des Heimgesetzes endlich nach unserem Grundgesetz zu ordnen. Statt dessen stecken Sie wieder zig Millionen in irgendeine Altersforschung. Die Forschungsinstitute können sich auf Sie verlassen.
Heimbewohner, Angehörige und Vertrauenspersonen verzweifeln in der Zeit ob der Menschenrechtsverletzungen in unseren Heimen. Bitte, Volksvertreter und Volksvertreterinnen, lassen Sie uns gemeinsam an Hand des vorliegenden Antrags auf Drucksache 11/5244 ein Heimgesetz mit vorrangigem Schutz für die Bewohner gestalten.
Danke schön.
Das Wort hat Frau Bundesminister Dr. Lehr.
Sehr verehrte Frau Unruh, ich möchte nur folgendes feststellen.
Erstens. Das Wort „Kommunistenweib" habe ich nie in den Mund genommen.
Zweitens. Die genannte Problematik in einem Bonner Altersheim aus dem Jahre 1978 habe ich zum Wohl der Bewohner gelöst. Daß es Wege der Lösung gibt, die nicht gerade über öffentliche Demonstrationen, sondern über Interventionen bei den maßgeblichen Verantwortlichen führen, müssen Sie einsehen.
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Ich habe die Problematik zum Wohle der Betroffenen gelöst.
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Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/5120 und 11/5244 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 18 der Tagesordnung auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Scheer, Bahr, Fuchs ({0}), Horn, Gansel, Jungmann ({1}), Dr. Soell, Stobbe, Verheugen, Voigt ({2}), Dr. Ehmke ({3}), Büchner ({4}), Dr. Hauchler, Kretkowski, Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Einstellung aller Atomwaffenversuche - Drucksache 11/5032 Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 45 Minuten vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Verheugen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Versuche, Atomwaffentests teilweise oder ganz zu verbieten, haben eine lange, wechselvolle und wohl auch leidvolle Geschichte. Ein erster teilweiser Erfolg ist bereits vor 30 Jahren mit dem Antarktisvertrag erzielt worden, 1963 gab es den Vertrag über den teilweisen Teststopp, und seit mehr als 25 Jahren sind wir eigentlich nicht weitergekommen.
Dabei sind die Sorgen, die mit den Atomexplosionen verbunden sind, die gleichen geblieben. Es geht immer noch um die Frage, ob Atomtests ein Instrument sind, mit dem man Abrüstung vorantreiben oder umgekehrt verhindern kann.
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Es geht selbstverständlich auch immer noch um die Frage, welche ökologischen Auswirkungen Atomtests haben.
In dieser Woche ist das Thema nun wieder sehr aktuell geworden. Darum ist es gut, daß wir heute darüber reden. Der sowjetische Außenminister Schewardnadse hat vor den Vereinten Nationen eine Reihe von Vorschlägen gemacht, die es möglich machen, endlich einen Schritt weiterzukommen. Er hat vorgeschlagen, für alle Atomwaffentests ein Moratorium zu vereinbaren, also einen Teststopp. Er hat vorgeschlagen, die Produktion von waffenfähigen Kernbrennstoffen einzustellen. Er hat erklärt, daß die Sowjetunion bereit ist, einen ihrer Reaktoren unter die Kontrolle der Internationalen Atomenergiebehörde zu stellen, um die Wirksamkeit umfassender Verifikationsmaßnahmen vor Ort zu prüfen und dann entsprechende Schlüsse zu ziehen. Wir denken, daß dieses Angebot der Sowjetunion angenommen werden sollte und daß es eine schnelle und positive Antwort des Westens verdient.
Nach unserer Meinung ist der Teststopp in der Rüstungskontrollpolitik eine Schlüsselfrage. Die Diskussion konzentriert sich ja in der letzten Zeit darauf, das quantitative Wettrüsten zu vermindern; das gilt ganz besonders bei den Atomwaffen. Es ist aber doch die Gefahr gegeben, daß dieses quantitative Wettrüsten zu einem qualitativen Wettrüsten wird, daß die Reduzierung der Anzahl der Atomwaffen in der Welt nur ein Teilerfolg sein wird, weil die Atomwaffen, die dann noch übrig sein werden die gefährlicheren Atomwaffen sein werden.
Dieselbe Gefahr - das darf ich hier noch anmerken - haben wir natürlich auch bei den konventionellen Waffen. Wenn wir auch mit großer Freude sehen, daß es in Wien bei den Verhandlungen über konventionelle Abrüstung schnell vorangeht, so haben wir dort doch exakt dasselbe Problem. Die Reduzierungen, zu denen es möglicherweise kommt, bedeuten ja nicht, daß die dann übrigbleibenden Waffen die weniger gefährlichen sind.
Wir denken, daß die weiterreichenden Abrüstungsvorschläge auch im Bereich des Teststopps von der Seite des Westens kommen sollten. Ich finde den Zustand allmählich unerträglich, daß wir immer wieder in die Lage versetzt werden, wie im Märchen vom Hasen und vom Igel hinter den Abrüstungsvorschlägen der Sowjetunion herlaufen zu müssen.
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- Das ist so, Herr Lamers. Seit Jahren ist der Westen in der Position, auf Vorschläge reagieren zu müssen, die aus dem Osten kommen.
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Eigene weiterreichende Vorschläge wären besser.
Lassen Sie es mich etwas zugespitzt sagen: Der Rüstungswettlauf der vergangenen Jahrzehnte ist immer verdammt worden, aber er ist mitgemacht worden. Wenn es jetzt zu einem Abrüstungswettlauf kommen sollte, dann kann man fast das Gefühl bekommen, daß es bei uns manche gibt, die den Abrüstungswettlauf als Gefahr empfinden.
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Rüstungswettlauf verdammen und mitmachen, Abrüstungswettlauf mit Worten begrüßen, aber nicht mitmachen - das scheint uns die falsche Politik zu sein.
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Der Teststopp ist ja selber ein ganz ernsthafter Test hinsichtlich der Glaubwürdigkeit unserer Rüstungskontrollpolitik; denn die Kernfrage heißt: Will die Bundesregierung wirklich noch einen umfassenden Teststopp als ein abrüstungspolitisches Ziel an sich, oder hat sie sich längst auf einen anderen Weg begeben?
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Bleibt die Bundesregierung bei der früheren Auffassung, daß die einzige Bedingung für ein umfassendes Verbot aller Kernwaffenversuche eine gesicherte Verifikation sein soll, oder ist es so, daß jetzt, nachdem sich die Verifikationsfrage anders darstellt, vorsorglich schon einmal neue Barrieren aufgebaut werden?
Früher hat man uns immer gesagt: Verifikation ist das Problem. - Eine Reihe von Aktivitäten, die die Bundesregierung selber entwickelt und mitgetragen hat, hat dazu geführt, daß das Verifikationsproblem technisch gelöst ist. In diesen Tagen, bei den Besprechungen zwischen den Außenministern der USA und der Sowjetunion, sind wir dem Verifikationsprotokoll, dessen Fehlen der Ratifizierung der Testbegrenzungsverträge aus den 70er Jahren bisher entgegenstand, sehr nahegekommen. Es ist sehr zu begrüßen, daß der Senat der USA jetzt wahrscheinlich die notwendigen Voraussetzungen als erfüllt ansieht, um endlich zur Ratifizierung der Schwellenverträge zu kommen. Aber das muß gleichzeitig der Zeitpunkt sein, den nächsten und weitergehenden Schritt ernsthaft anzugehen.
Der unmittelbare Zusammenhang zwischen Teststopp und Abrüstung muß in den Mittelpunkt dieser Diskussion gestellt werden. Er muß immer gesehen werden. Daß ein solcher Zusammenhang besteht, meine Damen und Herren, ergibt sich sehr deutlich auch aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion, die uns im August dieses Jahres erteilt worden ist und in der die Bundesregierung sehr deutlich sagt, daß nach ihrer Meinung die Glaubwürdigkeit der nuklearen Abschreckung von der Funktionsfähigkeit der Atomwaffen abhängt. Frau Thatcher hat das bei anderer Gelegenheit - eine Diskussion, die wir noch gut in Erinnerung haben - etwas präziser ausgedrückt. Sie hat gesagt: Atomwaffen müssen up to date sein, und dazu muß man sie eben auch testen.
Die Funktionsfähigkeit von Atomwaffen, so sagt auch die Bundesregierung - nicht im Sinne einer eigenen Erkenntnis; sie sagt, sie wisse das aus allgemein zugänglichen öffentlichen Quellen - , muß getestet werden. Das gilt für vorhandene und für neu zu
entwickelnde. - Das wirklich Erstaunliche ist, daß die Bundesregierung sagt, sie könne zu dieser technischen Frage, ob für die Funktionsfähigkeit von Atomwaffen Tests notwendig seien oder nicht, keine eigene Auffassung äußern. Es ist wirklich merkwürdig, daß ein Land, das keine Atomwaffen besitzt und keine Atomwaffen besitzen will, wohl aber Tausende von Atomwaffen auf seinem eigenen Boden hat, der Meinung ist, man müsse keine eigene Auffassung zu der Frage des Zusammenhangs zwischen Atomtests und Kernwaffenverwendung haben.
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Das ist eine Position, die eine ganz seltsame Logik ergibt; denn diese Logik heißt: Solange es Atomwaffen gibt, wird eben auch getestet, und wir können nichts daran machen.
Wenn wir uns das Verhandlungsziel ansehen - z. B. bei den START-Verhandlungen, bei denen es ja nicht um Abschaffung, sondern um 50 %ige Reduzierung geht - , dann heißt das eben, daß selbst nach einem Erfolg der Verhandlungen zwischen den beiden Supermächten über die Reduzierung der strategischen Atomwaffen immer noch weiter getestet werden wird.
Diese Sache hat für uns auch noch in einem anderen Zusammenhang unmittelbare Relevanz. Es wird Ihnen ja nicht erspart bleiben, meine Damen und Herren von der Koalition, die Diskussion über die LanceNachfolge noch einmal zu führen. Sie haben dieses Thema gerade noch einmal zeitlich ein bißchen weggeschoben. Aber das kommt ja auf Sie zu. Je schneller wir in Wien vorankommen, desto schneller kommt es auf Sie zu. Die Bundesregierung sagt jetzt, ihr sei gar nicht bekannt, ob im Zusammenhang mit der Frage der Modernisierung der Nachfolgeraketen für die Lance Tests stattfinden müssen, stattfinden werden, schon stattgefunden haben oder vielleicht sogar schon abgeschlossen sind. Ich muß Ihnen sagen, ich finde das haarsträubend; denn es handelt sich um Waffen, die bei uns stationiert werden sollen. Wenn die Bundesregierung schon sagt, sie wisse darüber nichts, dann ist es doch nicht allzuviel verlangt, wenn man sagt, daß sie unseren Verbündeten einmal fragen sollte, ob er im Zusammenhang mit der Diskussion über die Lance-Nachfolge Atomtests durchgeführt hat oder durchzuführen gedenkt.
Die Bundesregierung spricht heute vom Teststopp als einem wichtigen Ziel, das schrittweise verwirklicht werden kann. Das ist ein wörtliches Zitat. Ich halte das für viel zuwenig. Unser Antrag, der hier vorliegt, bemüht sich darum, in dieser Frage endlich einmal Klarheit zu schaffen. Wir möchten wissen, ob für die Bundesregierung der umfassende Teststopp ein aus sich heraus begründetes Ziel mit der einzigen Bedingung der Verifizierbarkeit ist oder nicht und inwieweit die Bundesregierung bereit ist, aktiv etwas für die Verwirklichung dieses Ziels zu tun.
Ich will darauf hinweisen, daß es auch einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Teststopp und Nichtweiterverbreitung gibt. Das System der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen läuft 1995 aus. Im Nichtweiterverbreitungsvertrag ist Teststopp ausdrücklich als Instrument der Abrüstung vereinbart worden. Wir wissen: Die Nichtatomstaaten haben wahrlich kein Interesse an der Fortsetzung der Atomtests. Nach deren Auffassung haben die Nuklearstaaten mehr als genug Atomwaffen - auch nach Reduzierungen - , um sich selbst und alle anderen sozusagen mehrfach umzubringen. Der Punkt ist nur der, daß die Atomstaaten laut NV-Vertrag das Recht haben, Tests durchzuführen. Daß ihnen dieses Recht vorenthalten wird, war ja für bestimmte Staaten ein Grund, diesem Nichtweiterverbreitungsvertrag nicht beizutreten.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Teststopp und Nichtweiterverbreitung, den die Bundesregierung leider ganz bewußt verschleiert, wenn sie in der Antwort auf die bereits erwähnte Kleine Anfrage sagt, daß die Frage der Atomtests für den Nichtbeitritt einiger Staaten zum NV-Vertrag nicht hauptursächlich sei, sondern die Unausgewogenheit der Rechte und der Pflichten aus dem Vertrag für die unterschiedlichen Vertragspartner hauptursächlich sei. Aber genau das ist es: Die Unausgewogenheit der Rechte ist nichts anderes als der Teststopp. Deshalb würde ein umfassender Teststopp auch das System der Nichtweiterverbreitung stärken. Weitere Staaten würden dem Vertrag beitreten können.
Die Gefahr nuklearer Proliferation wird immer größer. Wir müssen damit rechnen, daß sich am Ende dieses Jahrhunderts eine Reihe von weiteren Staaten Atomwaffen zugelegt haben wird mit der Gefahr wachsender Instabilität in der Welt. Ich brauche hier nicht auszuführen, was es bedeutet, wenn in Krisenregionen unberechenbare Staaten oder Regierungen sich in den Besitz von Atomwaffen setzen. Diese Sorge haben wir alle wahrlich gemeinsam. Darum ist jeder Schritt zur Stärkung des Systems der Nichtweiterverbreitung notwendig.
Aber leider will die Bundesregierung eine entsprechende Initiative, die von Mexiko ausgegangen ist, nicht unterstützen. Mexiko möchte bei der Überprüfungskonferenz im nächsten Jahr die Frage des Teststopps zu einer zentralen Frage machen. Die Bundesregierung sagt dazu, sie unterstütze nicht Bestrebungen in der Richtung, das System der Nichtweiterverbreitung vom Teststopp abhängig zu machen. Aber das verlangt auch keiner; Mexiko hat das nicht verlangt. Das ist wiederum eine Verschleierung, weil diese Bedingung gar nicht gestellt wird. Ich kann hier keine andere Schlußfolgerung ziehen als die, daß die Bundesregierung inzwischen auf eine Linie eingeschwenkt ist, die eben Atomtests auch nach substantiellen Abrüstungsschritten noch möglich machen soll.
Dazu paßt, daß die Bundesregierung eine Konferenz der Nichtkernwaffenstaaten ebenfalls nicht unterstützen will, wie sie uns erklärt hat. Dabei gibt es durchaus Möglichkeiten für Nichtkernwaffenstaaten wie die Bundesrepublik den Teststopp voranzutreiben. Sie wissen, daß die Vereinten Nationen im vergangenen Jahr beschlossen haben, eine AmendmentKonferenz zum Teststopp-Vertrag von 1963 durchzuführen. Dieser Antrag ist von einer genügend großen Zahl von Teilnehmerstaaten dieses Vertrages unterstützt worden. Das heißt, es wird dazu kommen, daß
dieses Anliegen, um in der Sprache der Vereinten Nationen zu sprechen: mandatorisch, also verpflichtend wird. Diese Konferenz kommt, aber die Bundesregierung hält sie nicht für einen geeigneten Weg. Dabei wäre es ein geeigneter Weg, durch eine solche Konferenz Druck auf die Atomstaaten zu erzeugen.
Ich frage mich ernstlich, wessen Interessen die Bundesregierung in der Teststoppfrage eigentlich vertritt. Vertritt sie die Interessen eines Landes, das Atomwaffen nicht besitzt und nicht besitzen will, aber davon bedroht ist und deshalb als ein Ziel seiner Politik haben muß, die Atomwaffen weltweit abzuschaffen, oder vertritt sie die Interessen einer Supermacht, die auf Atomwaffen und damit auf Atomtests nicht verzichten will?
Meine Damen und Herren, ein umfassender Atomteststopp ist heute erreichbar, wenn wir uns einig sind, daß Verifizierung die einzige Bedingung ist. In Wahrheit ist es nur noch eine Frage des politischen Willens. Mit unserem Antrag wollen wir erreichen, daß die Bundesregierung diesen politischen Willen entwikkelt und aktiv wird, um das heute mögliche Ziel zu erreichen.
Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lamers.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Am 9. April 1986 hat der Bundeskanzler in einer Pressekonferenz folgendes erklärt:
Ich wünsche und hoffe aber auch, daß die beiden Weltmächte über das Stadium spektakulärer öffentlicher Erklärungen hinaus einen Weg finden werden, um in der Frage des Teststopps eine schrittweise Annäherung der Standpunkte zu erreichen.
Eine Politik des Alles oder Nichts wird nach allen Erfahrungen nicht zum Erfolg führen.
In der Gemeinsamen Erklärung von Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl vom 13. Juni dieses Jahres heißt es:
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion treten ein für ... die Vereinbarung eines zuverlässig verifizierbaren nuklearen Teststopps im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Bei den laufenden Gesprächen zwischen den USA und der Sowjetunion ist ein schrittweises Herangehen an dieses Ziel wünschenswert.
Als der Bundeskanzler 1986 diese von mir zitierte Äußerung erstmalig machte, wurde er von der SPD verdächtigt, er und seine Regierung rückten von dem Ziel eines umfassenden verifizierbaren Teststopps ab. Diese Verdächtigung, Herr Kollege Verheugen, haben Sie heute wirklich zum x-ten Male wieder vorgetragen. Auch in Ihrem Antrag steht an einer Stelle, irgendwelche - nicht näher genannten - Vertreter der Regierung gäben Anlaß zu diesem Verdacht. Ich möchte Sie wirklich bitten, einmal einen Beleg für diese von der Bundesregierung nun bei jeder Gelegenheit und sicherlich auch heute wieder von Frau Staatsminister Adam-Schwaetzer widerlegten Behauptung anzuführen. Es gibt diesen Beleg nicht. Es ist unsinnig.
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Wonach wir vielmehr zu handeln versuchen, ist die Erkenntnis, die der Bundeskanzler ausgedrückt hat: Eine Politik des Alles oder Nichts hat immer nur nichts zum Ergebnis und nie alles.
Es ist schon interessant, daß sich die USA und die Sowjetunion genau nach diesem Rezept richten. Nicht nur in der Gemeinsamen Erklärung von Generalsekretär Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl ist das so festgehalten, sondern auch das tatsächliche Verhalten der beiden Atommächte belegt dies. Es gibt seitdem aus den Jahren 1987, 1988 und 1989 eine ganze Fülle von Vereinbarungen. Es gibt seit wenigen Tagen insbesondere eine Festlegung von Verifikationsmaßnahmen zur Kontrolle unterirdischer Atomtests, die den Weg zur Ratifizierung der Verträge von 1974 und 1976 bahnen.
Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt diesen möglicherweise entscheidenden Schritt zu einem Atomteststopp nachdrücklich. Man könnte den Eindruck haben, bei dem, was die beiden Supermächte tun, hat die Bundesregierung, hat vor allen Dingen der Bundeskanzler Regie geführt.
({1})
Die uns angeborene Bescheidenheit läßt uns nicht so weit gehen, meine verehrten Kollegen von der SPD; aber es ist schon sehr kennzeichnend, daß wir mit unseren konstruktiven, präzisen und konkreten Beiträgen ganz offensichtlich einen wirklich entscheidenden Beitrag zum Fortschritt in dieser Frage geleistet haben; doch, das haben wir, auch in anderen Fragen, während Sie in allen Positionen, verehrte Kollegen von der SPD, nach dem Motto verfahren „Alles oder Nichts", so auch heute wieder.
Es müßte Sie doch schon ein wenig stutzig machen, daß Sie sich zunächst, wie ich betonen möchte, immer in Einklang mit der Sowjetunion und gegen die Position der USA befinden, allerdings nur vorübergehend; denn in dieser wie in vielen anderen Fragen erweist sich nach einiger Zeit, daß die Sowjetunion sehr wohl zwischen Propaganda und realistischen Möglichkeiten zu unterscheiden weiß und daß sie deswegen den Vorschlägen folgt, die der Westen unterbreitet. Denken Sie doch an den INF-Vertrag! Was haben wir denn heute? Sie wollen das bis heute nicht einsehen: Wir hätten noch heute SS-20 und keine auf westlicher Seite.
({2})
So haben wir keine einzige, weder im Osten noch im Westen. Sie werden das bei START genauso erleben. Sie werden das bei den Chemiewaffen erleben, wo wir in Wyoming gerade einen Fortschritt hatten.
Wenn Sie jetzt zum x-ten Male, Herr Kollege Verheugen, das alte Märchen verkünden, daß immer nur der Osten die Vorschläge mache, dann möchte ich Sie doch wirklich einmal ganz ernsthaft und ohne jedLamers
wede Polemik fragen, was Sie von folgendem Vorgang halten: In Wien bei den Verhandlungen über die konventionelle Abrüstung haben wir die Situation, die in der ganzen deutschen Öffentlichkeit viel zu wenig, wenn überhaupt, beachtet worden ist, daß diese Verhandlungen auf der Basis der Vorschläge des Westens verlaufen, daß es überhaupt keine verhandlungsfähigen Vorschläge des Ostens gibt. So ist die Wirklichkeit. Natürlich hat der Osten eine Reihe von Vorschlägen gemacht, Kollege Ehmke, auch begrüßenswerte, entgegenkommende; das weiß ich wohl. Aber das, worüber man verhandeln kann, was konkret und detailliert ist, das stammt vom Westen; so ist das.
({3})
Erkundigen Sie sich doch in Wien, Kollege Ehmke.
({4})
Es ist so, daß der Osten großartige Vorschläge macht; dann aber, wenn es darauf ankommt, daß man die Vorschläge so formuliert, daß darüber verhandelt werden kann, dann sind es die westlichen Vorschläge. Erkundigen Sie sich, rufen Sie in Wien an, Kollege Ehmke. Sie werden diese Auskunft erhalten.
({5})
Ich bin in der Tat der Meinung, Sie sollten sich einmal überlegen, wie es eigentlich kommt, daß Sie von der Wirklichkeit immer überholt, korrigiert, ja zurechtgewiesen werden. Das ist doch die Wirklichkeit in der Abrüstungssituation, wie wir sie schon seit Jahren haben.
({6})
Wenn Sie sich nicht ändern, wenn Sie nicht aufhören, immer „Alles oder nichts" zu sagen, wenn Sie nicht aufhören, dauernd Sprünge statt Schritte zu verlangen, wenn Sie nicht aufhören, dauernd irgendwelche Patentrezepte wie auch dies in Ihrem heutigen Antrag anzubieten, wenn Sie nicht aufhören, zu meinen, immer nur die USA behinderten die Abrüstung, wenn Sie nicht aufhören, immer alles übertreffen zu wollen, dann werden Sie nicht nur in der internationalen Diskussion nicht ernstgenommen werden, sondern Sie werden auch erleben, daß die deutsche Öffentlichkeit längst anders denkt als Sie; denn sie weiß sehr wohl, daß die Politik der Abrüstung auf einem guten, auf einem zuversichtlichen Wege ist und daß sie das dank der beharrlichen und konsequenten Politik der Bundesregierung ist.
({7})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Eich.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die SPD hat einen Antrag zur Einstellung aller Atomwaffenversuche eingebracht. Das ist zunächst einmal zu begrüßen, da die großartig gefeierte Übereinkunft zwischen den USA und der UdSSR verschleiert, daß die Atomwaffenversuche im „teilweisen
Teststopp-Vertrag" in einer Größenordnung zur Diskussion stehen, die beim Stand der Atomwaffentechnik kaum noch Bedeutung hat. Überdies stellen die von den USA, Großbritannien und Frankreich in Nevada und im Pazifik durchgeführten Atombombenexplosionen nach wie vor eine Form des Nuklearkolonialismus dar. Die Rechte der Eingeborenen, der Indianer und Polynesier, werden hier mehr als nur mit Füßen getreten.
Zu Recht heißt es im vorliegenden Antrag der SPD:
Ohne eine vollständige Beendigung der Atomwaffentests würde insbesondere der qualitative Rüstungswettlauf, die Modernisierung und Verfeinerung von Atomwaffen unbehindert fortgesetzt werden können, auch wenn in Rüstungskontrollverhandlungen quantitative Begrenzungen und Reduzierungen vereinbart würden.
Atomtests dienen also der Aufrechterhaltung des perversen Systems atomarer Abschreckung, auch bei reduzierten Arsenalen. Durch die Weiterentwicklung von Atomwaffen werden dabei nicht nur eventuelle Reduzierungen über Rüstungskontrollverhandlungen zwischen den USA und der UdSSR wertlos; vielmehr wertet eine Modernisierung von Atomwaffen die gegenwärtigen, kleineren Atomarsenale von Ländern wie Großbritannien, Frankreich oder China oder die potentiellen Atomwaffenarsenale von sogenannten Schwellenländern wie Israel, Brasilien, Indien, Südafrika, Pakistan und auch der Bundesrepublik sogar noch auf.
Zwar soll die Bundesregierung laut SPD-Antrag darauf hinwirken, daß sich diese Länder an den Atomteststopp-Verhandlungen beteiligen. Doch, warum hat die SPD auf ihre französische Schwesterpartei in der Sozialistischen Internationale bisher nicht intensiven Druck ausgeübt, damit Frankreich dem auch unvollkommenen Teststopp-Abkommen beitritt?
({0})
- Im letzten Jahr hatten wir dazu gegenteilige Meldungen.
({1})
- Sie können ja die Veröffentlichungen lesen, die über die Protokolle der Gespräche zwischen den Parteien zustande kamen. Warum der Umweg über die Bundesregierung?
Außerdem vermissen wir seitens der SPD Initiativen, die mit dem gleichen Nachdruck auf die Beteiligung der europäischen NATO-Verbündeten an den Verhandlungen über die Reduzierung von Atomwaffen zielen. Erst massiver Druck auf diesem Gebiet würde Anstrengungen, zur Überwindung der atomaren Abschreckung beizutragen, wirklich glaubwürdig machen.
Allerdings wenden sich solche Initiativen gegen originäre Interessen der beiden Staaten, mit denen die BRD - leider auch nach Meinung der Wortführer der SPD - zukünftig sicherheitspolitisch enger zusammenrücken soll: Großbritannien und vor allen Dingen Frankreich.
Bei einer möglichen Reduzierung des Atomwaffenarsenals der USA und der UdSSR, bei gleichzeitiger ungebremster Modernisierung der Atomwaffen Frankreichs und Großbritanniens, steigt die Bedeutung der kleineren Atomwaffenländer in der internationalen nuklearen Diplomatie.
Betrachten wir das nun vor dem Hintergrund der geplanten „Europäischen Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik" , so bekommen diese Entwicklungen noch eine weitere Dimension. Denn an einer solchen Europäischen Union, in der es auch eine atomare Streitmacht geben soll - so jedenfalls das CDU-Programm - , soll natürlich die BRD gleichberechtigt beteiligt sein. Damit ginge ein alter Traum der BRD-Politik endlich in Erfüllung, nämlich der von der Mitverfügung über Atomwaffen. Dann endlich könnte auch die BRD ein gewichtiges Wörtchen in der nuklearen Diplomatie mitreden. Die BRD ist auf dem besten Wege dorthin.
So wurde beispielsweise in diesem Hause am 2. Dezember 1988 eine atomare Kooperation mit Frankreich im Rahmen des bundesdeutsch-französischen Verteidigungsrates beschlossen. Daß die SPD dem zustimmte, macht Initiativen wie die vorliegende äußerst unglaubwürdig. Dabei gibt es durchaus positive Ansätze. Wenn ich mir den Grundsatzentwurf der SPD für das neue Programm ansehe, kann ich lesen:
Die Bundesrepublik Deutschland darf atomare Waffen nicht herstellen, besitzen oder verwenden.
Dies ist vom Sinn her gar nicht soweit von der Formulierung des Gesetzentwurfes entfernt, den wir zum 50. Jahrestag - vor vier Wochen - eingebracht haben, um einen Atomwaffenverzicht im Grundgesetz zu verankern. Wir hoffen, daß dieser Satz Ihre parteiinterne Diskussion überlebt und bei der Abstimmung über unseren Antrag auch zu praktischen Konsequenzen führt.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Verheugen, in der Grundtendenz stimmen wir mit dem, was im ersten Absatz Ihres Antrags steht, voll überein. Dort steht: Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich dafür einzusetzen, daß sobald wie möglich die Vereinbarung eines zuverlässig verifizierbaren und umfassenden Teststopps im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz abgeschlossen werden kann. - Insoweit besteht volle Übereinstimmung. Nur, wenn man den Antrag weiter liest, dann gewinnt man den Eindruck, daß Sie von diesem Gedanken völlig abgekommen sind.
({0})
Das, was Sie dort schreiben, ist teils völlig widersprüchlich, und teils geht es an den tatsächlichen Entwicklungen der letzten Zeit völlig vorbei.
({1})
- Nämlich indem Sie sagen, Sie seien für die Einberufung einer sogenannten Amendment-Konferenz.
({2})
Sie soll das Ziel haben, den beschränkten Teststoppvertrag von 1963 zu einem allgemeinen Atomtestverbot einschließlich der unterirdischen Tests auszuweiten.
({3})
- Ja, es ist ein Instrument. Aber Sie sagen doch oben völlig zu Recht, das solle im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz gemacht werden.
Wie eigentlich soll diese Amendment-Konferenz ausschauen? Sie sagen ja selber mit Recht: China und Frankreich gehören nicht zu den Vertragsstaaten dieses Abkommens aus dem Jahre 1963. Ist denn anzunehmen, daß diese beiden Staaten bei einer solchen Amendment-Konferenz mitmachen würden, daß sie zugezogen würden? Weiterhin ist es ja so, daß sich die drei Signatarstaaten noch nicht einmal einig sind, ob sie überhaupt eine solche Konferenz haben wollen, nämlich die USA, Großbritannien und die Sowjetunion, ganz zu schweigen davon, daß über die Inhalte einer solchen Konferenz, wenn sie denn zustande käme, natürlich auch keinerlei Einigung in Sicht ist.
Indem Sie sagen, da laufe gar nichts, haben Sie auch völlig vergessen, daß es ja doch zu dem Außenministertreffen zwischen Shultz und Schewardnadse vom September 1987 gekommen ist, auf dem vereinbart wurde, das Ziel der völligen Beseitigung von Atomtests umfassend und allerdings schrittweise anzustreben. Das ist so vereinbart worden. Inzwischen sind die Verhandlungen aufgenommen worden. Es ist doch nicht so, als ob da nichts geschähe.
Insofern kann ich wirklich nur feststellen, daß dieser Antrag eigentlich unnütz ist. Er ist nicht einleuchtend. Wissen Sie, mir tut das fast weh. Ich stimme ja vollkommen mit dem Ziel überein. Nur, es wundert mich schon, daß Sie jetzt wieder diese alten Greuelmärchen auftischen, indem Sie, wie soeben geschehen, fragen: Wen vertritt denn eigentlich die Bundesregierung? Vertritt sie ein Land, das keine Atomwaffen hat? - Damit meinen Sie ja die Bundesrepublik Deutschland. Natürlich vertritt sie sie.
Sie haben auch gefragt: Vertritt sie eine der Atomsupermächte? - Damit meinen Sie wohl die USA. Ich fühlte mich lebhaft an die Zeiten kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert. Wir haben ja jetzt gejubelt. „Kanzler der Alliierten", das war, glaube ich, ein Ausspruch von Kurt Schumacher. War es nicht so? - Das können Sie nicht wissen. Sie waren ja damals noch nicht in der SPD, Sie waren noch nicht einmal in der FDP. Aber Herr Becker oder Herr Ehmke werden das bestätigen.
({4})
- Ja, ich sage ja nur, daß einer der erfahreneren Kollegen uns vielleicht sagen kann, ob das Kurt SchumaIrmer
cher war. Der hat das nur wesentlich brillanter gemacht als Sie, Herr Verheugen.
({5})
- Es war Kurt Schumacher. Wenn ich als Nicht-Sozialdemokrat das weiß, dann ist das wesentlich wichtiger und wesentlich ehrenvoller, als wenn Sie als Sozialdemokrat es wissen. Wenn ich als Liberaler es vermute, ist das mehr wert, als wenn Sie als Sozialdemokrat es wissen.
Meine Damen und Herren, über das Ziel herrscht völlige Einigkeit. Daß wir nicht alles oder nichts haben können, hat Herr Lamers überzeugend ausgeführt. Insofern weiß ich gar nicht, was gegen die schrittweise Annäherung an dieses Ziel einzuwenden sein sollte.
Wir halten die Genfer Abrüstungskonferenz für das geeignete Gremium, auch diese Sache voranzutreiben, und zwar einfach deshalb, weil ein solch enger Zusammenhang zwischen Abrüstung und Atomteststopps besteht. Wenn Sie das aus der Genfer Abrüstungskonferenz herauslösen wollen, dann ziehen Sie genau die falsche Konsequenz aus Ihrer richtigen Erkenntnis, nämlich daß, was quantitatives und qualitatives Wettrüsten betrifft, ein enger Zusammenhang gegeben ist. Das bestreite ich gar nicht. Aber weil Sie dieses Thema aus den Genfer Abrüstungsverhandlungen abkoppeln wollen, ziehe ich für meine Fraktion den Schluß, daß wir diese Vorschläge, die Sie jetzt hier auf den Tisch legen, nicht nur für unnütz, sondern sogar für schädlich halten. Die Frage der Atomtests, ihrer Einschränkung und letzten Endes ihrer Beseitigung gehört in den engen Zusammenhang der laufenden Abrüstungsverhandlungen. Der Vorschlag, diese Frage von den Genfer Abrüstungsverhandlungen abzukoppeln, den Sie uns jetzt hier wieder einmal machen, läßt Ihre gute Absicht erkennen - die will ich Ihnen nicht bestreiten -; wenn man den Vorschlag nüchtern bewertet, dann zeugt er jedoch von Ihrem Hang zu fruchtlosem Aktionismus und zu einem gewissen Populismus. Damit kann sich meine Fraktion auf keinen Fall anfreunden. Ich bedanke mich.
({6})
Ich erteile das Wort der Frau Staatsminister Adam-Schwaetzer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Kollege Verheugen hat eine ganze Reihe von Fragen an die Bundesregierung gerichtet. Die Art der Fragen und ihre Formulierung hat mich sehr stark an etwas erinnert, was zwischen uns ja immer wieder als Zitat kursiert. Herr Verheugen, Sie haben nämlich Fragen in der Art gestellt, in der ich Ihnen jetzt auch gern eine Frage stellen möchte - antworten Sie mir bitte mit Ja oder Nein - : Ist es richtig, daß Sie gestern zum letzten Mal Ihre Frau geschlagen haben?
({0})
So haben Sie mit der Ihnen eigenen intellektuellen Schärfe die falschen Fragen gestellt.
Die Bundesregierung handelt nach Prinzipien. Das ist ganz klar. Sie ist keine Prinzipienreiterin, sondern sie will Ergebnisse haben, und zwar als Partner innerhalb der NATO - dadurch wird der Handlungsrahmen abgesteckt - , aber auch als Stationierungsland für Waffen, über die wir nicht verfügen. Aus letzterem vor allem ergibt sich, daß unser Interesse an der Reduzierung und auch an der Abschaffung ganzer Waffengattungen, also auch an der Verwirklichung eines nuklearen Teststopps, besonders groß ist.
Lassen Sie mich in aller gebotenen Kürze die Haltung der Bundesregierung zu diesen Fragen noch einmal darlegen. Die Bundesregierung tritt für einen umfassenden nuklearen Teststopp zum frühestmöglichen Zeitpunkt ein, wobei dieses Ziel auch schrittweise verwirklicht werden kann. Voraussetzung für einen umfassenden nuklearen Teststopp sind zuverlässige und erprobte Möglichkeiten für eine weltweite Verifikation. Zwischen der Reduzierung von Nuklearwaffen und den Chancen für einen Teststopp besteht ein Zusammenhang, wobei ein Abbau der Kernwaffenarsenale, wie er mit der INF-Vereinbarung begonnen wurde, ein direkterer und schnellerer Einstieg in die Rüstungskontrolle ist. Die Bundesregierung hält die Genfer Abrüstungskonferenz für das geeignete multilaterale Forum zur Erörterung aller mit einem Teststopp zusammenhängenden Fragen.
Diese Haltung der Bundesregierung wird durch die seit November 1987 aufgenommenen umfassenden schrittweisen Verhandlungen über Nukleartests zwischen den USA und der Sowjetunion und durch die darin inzwischen erreichten Fortschritte bestätigt. Insofern ist seit unserer letzten Debatte hier im Deutschen Bundestag im Jahre 1986 tatsächlich ein Fortschritt erreicht worden, nämlich in Richtung auf die Entwicklung von Methoden der Verifikation, aber auch der Anwendung solcher Vereinbarungen und weiterer Gespräche der vor allem betroffenen großen Mächte Sowjetunion und Vereinigte Staaten.
Als Nichtkernwaffenstaat bringt die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam mit anderen Nichtkernwaffenstaaten ihr Eintreten für das Ziel eines umfassenden Teststopps vor allem dadurch zum Ausdruck, daß wir Beiträge liefern, die die Überprüfung machbar gestalten. Selbst wenn, Herr Verheugen, die technischen Probleme weitgehend gelöst sind, so ergeben sich in der Anwendung trotzdem noch praktische Fragen, die weiterer Diskussion bedürfen.
Die Beiträge der deutschen Experten konzentrieren sich auf die langjährige engagierte Mitwirkung bei dem Aufbau und der Erprobung eines globalen seismologischen Netzes zur Erfassung von Kernsprengungen und zur Überwachung eines zukünftigen Atom-Teststopps. Dabei vertritt die Bundesregierung das Konzept von offenen Stationen, das im nationalen seismologischen Datenzentrum in der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe in Hannover, finanziert aus Mitteln der Bundesregierung, bereits verwirklicht ist.
Dieses Konzept beruht auf völliger Offenlegung der Daten. Das ist ein sehr wichtiger Punkt, der aber in der Vergangenheit nicht erreichbar zu sein schien. Alle
interessierten Staaten haben mittels Rechnerkopplung über schnelle Datenleitungen die Möglichkeit eines allseitigen, unbeschränkten, direkten Zugriffs auf die im Datensystem gespeicherten seismologischen Angaben.
Die Einbeziehung der Teststoppfrage in den Rüstungskontrolldialog zwischen den USA und der Sowjetunion hat im November 1987 zur Aufnahme förmlicher Verhandlungen über Beschränkungen von Nukleartests und die damit zusammenhängenden Verifikationsfragen geführt. Für diese Verhandlungen, die auch in Genf stattfinden, stellt die gemeinsame Erklärung der Außenminister Shultz und Schewardnadse vom September 1987 die Grundlage und den Fahrplan dar. Diese Verhandlungen sollen als Teil eines wirksamen Abrüstungsprozesses zur schrittweisen Beschränkung von Nukleartests bis hin zu deren endgültigen Einstellung führen. Die Bundesregierung begrüßt dieses schrittweise Vorgehen.
Diese Einigung ermöglichte zum erstenmal seit Beginn der 80er Jahre die Aufnahme von Verhandlungen über die Teststoppfrage. Das, Herr Verheugen, habe ich vorhin gemeint: Wir versuchen eine pragmatische Politik zu verfolgen, die zu Ergebnissen führt und die endlich die unfruchtbare Diskussion über Prinzipien und damit auch die Stagnation überwunden hat, die gerade bei der Teststoppfrage in der ersten Hälfte der 80er Jahre geherrscht hat.
Diese Fortschritte waren insbesondere durch die inzwischen flexiblere sowjetische Haltung gegenüber amerikanischen Forderungen nach zuverlässiger Verifikation möglich. Hinzu kam eine größere Offenheit der Sowjetunion in bezug auf die von den USA geforderten Vor-Ort-Inspektionen auf den Atomtestgeländen. Diese Offenheit hat die Sowjetunion bei dem gemeinsamen Verifikationsexperiment am 14. September 1988 auf dem Atomtestgelände in Semipalatinsk unter Beweis gestellt. Alleine das gemeinsame Experiment von Semipalatinsk schien noch vor zwei Jahren auch in diesem Bundestag völlig undenkbar.
Die Bundesregierung begrüßt, daß bei dem jüngsten Treffen der Außenminister der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten in Wyoming eine grundsätzliche Einigung über die Vor-Ort-Verifikation der beiden sogenannten Schwellenverträge zur Beschränkung von Nukleartests von 1974 und 1976 erreicht werden konnte. Sie erwartet, daß diese Einigung zügig in die schon bestehenden Entwürfe für die Verifikationsprotokolle zu den Schwellenverträgen eingefügt werden kann, damit eine baldige Ratifizierung als erster Schritt zur Beschränkung von unterirdischen Nukleartests möglich wird.
Zu einigen Elementen des SPD-Antrags möchte ich kurz folgendes bemerken: Wie Sie bereits ausgeführt haben, hält die Bundesregierung den Vorschlag zur Einberufung einer Vertragsänderungskonferenz aller Vertragsstaaten des beschränkten Teststoppvertrages
von 1963 zur Ausweitung auch auf unterirdische Kernwaffentests nicht für den geeigneten Weg. Eine solche Konferenz würde eben nicht Frankreich und China einbeziehen, ohne deren Zustimmung Fortschritte aber nicht zu erreichen sein werden. Frankreich und China sind dem beschränkten Teststoppvertrag von 1963 nicht beigetreten.
Die Bundesregierung hält es darüber hinaus nicht für angebracht, ein solches Konferenzprojekt zu unterstützen, das einerseits schon wegen der Nichtbeteiligung von Frankreich und China und andererseits wegen der nicht gesicherten Zustimmung von zwei der drei Depositarstaaten dieses Vertrages, nämlich den USA und Großbritannien, keine Aussicht auf Erfolg hat. Wir wollen einfach nicht, daß gerade im Vorfeld der so wichtigen vierten Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages das Scheitern einer solchen Konferenz zu einer Stimmung führt, die auch die vierte Überprüfungskonferenz belasten würde.
Die Bundesregierung erwartet von den USA und der Sowjetunion eine zügige Fertigstellung der Verifikationsprotokolle zu den Schwellenverträgen von 1974 und 1976, damit diese Verträge bald ratifiziert werden können.
Die Bundesregierung hat keinen Zweifel an dem Willen der beiden Seiten, nach der Ratifizierung dieser Verträge die Verhandlungen über weitergehende Beschränkungen von Nukleartests aufzunehmen, wie dies in der zuvor erwähnten Gemeinsamen Erklärung vom September 1987 festgelegt ist. Sie erwartet auch, daß in den bilateralen Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion über nukleare Abrüstung baldige weitere Fortschritte erreicht werden. Es gilt jetzt, das erreichte Momentum im Rüstungskontrolldialog zwischen Ost und West aufrechtzuerhalten, damit möglichst bald weitere konkrete Ergebnisse erreicht werden. Die Bundesregierung wird im Rahmen ihrer Möglichkeiten hierzu weiterhin aktiv beitragen.
Ich danke Ihnen.
({1})
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5032 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre und sehe keinen Widerspruch.
Meine Damen und Herren, wie sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 4. Oktober 1989, 13 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.