Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Meine Damen und Herren, die Sitzung ist geöffnet.
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Der Deutsche Bundestag trauert um sein ehemaliges Mitglied, den Bundesminister a. D. Dr. Bruno Heck, der am 16. September im Alter von 72 Jahren plötzlich verstorben ist.
Am 20. Januar 1917 im württembergischen Aalen als Sohn eines Schloßgärtners geboren, im Zweiten Weltkrieg schwer verwundet, hatte Bruno Heck zunächst Theologie und Philosophie und nach dem Kriege klassische Philologie in Tübingen studiert. 1948 bestand er das Staatsexamen, 1949 das Assessorexamen, promovierte dann zum Dr. phil. und trat in Rottweil in den höheren Schuldienst ein.
Schon früh widmete sich Bruno Heck auch politischen Aufgaben. Seit 1946 war er CDU-Mitglied, leitete ab 1948 den CDU-Ortsverband Rottweil und war drei Jahre lang Mitglied des Vorstandes der Jungen Union in Württemberg. Als Bundesgeschäftsführer der CDU von 1952 bis 1958 wirkte er maßgeblich am Aufbau der Partei mit.
19 Jahre lang, von 1957 bis 1976, war Bruno Heck Mitglied des Deutschen Bundestages, davon vier Jahre lang, von 1957 bis 1961, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Kulturpolitik und Publizistik. 1961 wurde er Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Mitglied des Bundesvorstandes der CDU.
Am 11. Dezember 1962 holte Bundeskanzler Konrad Adenauer ihn als Bundesminister für Familien-und Jugendfragen in sein neugebildetes Kabinett. Sein besonderes Augenmerk galt dem Familienlastenausgleich. Bruno Heck behielt dieses Amt auch unter den nachfolgenden Bundeskanzlern Erhard und Kiesinger, bis er 1968 aus der Regierung ausschied und den Vorsitz der Konrad-Adenauer-Stiftung übernahm. Zugleich war Bruno Heck bereits neben seiner Ministertätigkeit seit 1966 geschäftsführendes Mitglied des Präsidiums der CDU und von 1967 bis 1971 deren Generalsekretär.
Bruno Heck hat unserem Lande mit großer Hingabe gedient, geprägt von einem in tiefem Glauben verwurzelten Verantwortungsbewußtsein und einem unerschütterlichen Pflichtgefühl. In seinem Wesen verbanden sich Bescheidenheit im Persönlichen mit Grundsatz- und Überzeugungstreue. Er hatte, wie seine Freunde sagen, eine Vorliebe für die Arbeit im stillen, doch war seine bescheidene Zurückhaltung nicht als Mangel an Selbstbewußtsein zu verstehen. Er war immer zur Stelle, wenn es um die Behauptung ethischer Fundamente von Macht und Politik ging. Mit seinem mutigen und aufrichtigen Eintreten für das von ihm als richtig Erkannte hat er sich weithin große Achtung und Anerkennung erworben.
Bruno Heck erhielt zahlreiche ausländische Auszeichnungen und war Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern und Schulterband.
Der Deutsche Bundestag wird seinem ehemaligen Mitglied Bruno Heck stets ein ehrendes Gedenken bewahren.
Mit tiefer Trauer haben wir die Nachricht erhalten, daß unsere Kollegin „Lilo" Berger am Dienstag, dem 26. September 1989, in den frühen Morgenstunden im Alter von 68 Jahren verstorben ist.
Lieselotte Berger war Berlinerin - und darin war sie unverwechselbar. Sie gehörte zu dieser Stadt, in der sie am 13. November 1920 geboren wurde und der sie bis zu ihrem Tode eng verbunden blieb.
In Berlin wuchs sie auf, bereitete sich neben ihrer Berufstätigkeit als Büroangestellte auf einem Abendgymnasium auf das Abitur vor und wurde zunächst einmal Dolmetscherin. Sie gehörte zu den Mitbegründern der Freien Universität, an der sie anschließend Soziologie, Philosophie und Publizistik studierte.
In Berlin begann auch ihr politischer Werdegang: zunächst als Referentin in der Landesgeschäftsstelle der Berliner CDU, später als Vorsitzende der CDULandes-Frauenvereinigung, als Vorstandsmitglied der CDU-Bundes-Frauenvereinigung und als stellvertretende Landesvorsitzende der Partei. Sie war nacheinander in einer Reihe von Arbeitsbereichen tätig, war Dolmetscherin, Redakteurin, Referentin in der Senatskanzlei, persönliche Referentin des Bürgermeisters Amrehn und vor allem lange Zeit Beauftragte für soziale Arbeit des Landesverbandes der CDU Berlin. Den sozialen Belangen und Notlagen der Bürger gegenüber war sie ihr ganzes Leben lang besonders aufgeschlossen. Man kann sagen, daß sie schließlich ge12164
Vizepräsident Cronenberg
radezu den Ruf gewann, so etwas wie eine soziale Institution zu sein.
Dieser Ruf ging ihr voraus, als sie 1971 Mitglied des Bundestages wurde. Deshalb erhielt sie auch sehr bald, nämlich im Januar 1973, das Amt einer Vorsitzenden des Petitionsausschusses. Dieses Amt hat sie über den ungewöhnlich langen Zeitraum von 14 Jahren versehen und mit der ihr eigenen Energie und Resolutheit ausgestaltet.
Lieselotte Berger hat Wesentliches dazu beigetragen, die Bedeutung des Petitionsausschusses einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Ihr rastloser persönlicher Einsatz in zahllosen Einzelfällen hat zur Verankerung der Demokratie im Volk viel beigetragen.
Unter Lieselotte Bergers Vorsitz wurden die Verfahrensgrundsätze des Petitionsausschusses reformiert und weiterentwickelt sowie die damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Probleme gelöst. Ihr ist es zu verdanken, daß die Bestellung des Petitionsausschusses im Grundgesetz verankert worden ist und ein Bundesgesetz den Petitionsausschuß mit erweiterten Rechten ausgestattet hat.
Als engagiertes Mitglied im Leitungsgremium der Internationalen Ombudsmannkonferenz hat Lieselotte Berger auch für die internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Petitionswesens wichtige Anstöße geben können. Dies hat ihr auch über die Grenzen der Bundesrepublik Deutschland hinaus großes Ansehen verschafft.
Im März 1987 wurde Lieselotte Berger zur Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundeskanzler und zur Bevollmächtigten der Bundesregierung in Berlin berufen, eine Aufgabe, in der sie sich erneut mit der ihr eigenen Hingabe für die Belange ihrer Heimatstadt einsetzen konnte.
Lieselotte Berger war eine Kollegin, die sich mit unermüdlicher Energie, mit Herz und Verstand der Sorgen und Nöte hilfsbedürftiger Menschen annahm und dadurch Vorbildliches für unsere Demokratie geleistet hat. Ich bin sicher, daß mit uns auch zahllose Bürgerinnen und Bürger um sie trauern.
Lieselotte Berger war Trägerin zahlreicher hoher Auszeichnungen. Der Bundespräsident hat ihr im Mai 1987 das Große Verdienstkreuz mit Stern verliehen.
Der Deutsche Bundestag wird „Lilo" Berger ein dankbares und ehrendes Gedenken bewahren.
Sie haben sich zu Ehren der Verstorbenen erhoben. Ich danke Ihnen.
Meine Damen, meine Herren, auf der Tribüne haben der Präsident des Reichstags des Königreichs Schweden, Herr Thage Peterson, und eine Delegation des schwedischen Reichstags Platz genommen.
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Im Namen des Deutschen Bundestages und mit dem eben erfolgten Beifall begrüße ich Sie sehr herzlich in der Bundesrepublik Deutschland. Ihr Besuch unterstreicht die guten und freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Parlamenten unserer beiden Länder. Während des Aufenthalts wünschen wir Ihnen allen nützliche und interessante Begegnungen.
Bevor wir in die Tagesordnung eintreten, habe ich die Freude, dem Kollegen Hermann Rappe zu seinem 60. Geburtstag zu gratulieren.
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Ich spreche ihm nachträglich die herzlichsten Glückwünsche aus und freue mich besonders, ihm noch einmal von dieser Stelle aus gratulieren zu dürfen.
Meine Damen, meine Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunkteliste aufgeführt:
1. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu Feststellungen des Bundesrechnungshofes über Einflußnahmen der Industrie auf Untersuchungen und Entscheidungen des Bundesgesundheitsamtes in Sachen Asbest ({3})
2. Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes - Drucksache 11/5242 -
3. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vorgesehenen Leistungen und Erleichterungen bei der Beweisführung - Drucksache 11/5164 -
4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP: Bericht über private Initiativen im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs - Drucksache 11/5254 -
5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP: Bericht über den Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen - Drucksache 11/5255 -
6. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Datenschutzrechtliche Probleme einer Europäischen Fahndungsunion - Drucksache 11/5245 -
7. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN und der Abgeordneten Frau Unruh: Novellierung des Heimgesetzes - Drucksache 11/5244 -
Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratung abgewichen werden.
Darüber hinaus ist interfraktionell vereinbart worden, den Punkt 16 der Tagesordnung vor Punkt 15 aufzurufen.
Ich frage das Haus, ob es mit den soeben genannten Ergänzungen bzw. Änderungen der Tagesordnung einverstanden ist. - Das ist offensichtlich der Fall. Es erhebt sich nämlich kein Widerspruch.
Nun muß ich Ihnen noch bekanntgeben, daß sich der Ausschuß für das Post- und Fernmeldewesen einmütig dafür ausgesprochen hat, entsprechend der Umbenennung des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation auch den Ausschuß umzubenennen, und zwar in „Ausschuß für Post und Telekommunikation". Alle Fraktionen haben dem zugestimmt. Ich gehe davon aus, daß sich auch im Haus dagegen kein Widerspruch erhebt. - Dann ist dies auch beschlossen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 3 sowie den Zusatztagesordnungspunkt 2 auf:
Vizepräsident Cronenberg
3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 10. März 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschiffahrt und zum Protokoll vom 10. März 1988 zur Bekämpfung widerrechtlicher Handlungen gegen die Sicherheit fester Plattformen, die sich auf dem Festlandsokkel befinden
- Drucksache 11/4946 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Verkehr ({4}) Innenausschuß
Rechtsausschuß
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes
- Drucksache 11/4482 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
ZP2 Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
- Drucksache 11/5242 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({5})
Sportausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann darf ich auch dieses als beschlossen feststellen.
Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik
Interfraktionell ist eine Debattenzeit von 2,5 Stunden vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann darf ich das als beschlossen feststellen.
Wir können mit der Aussprache beginnen. Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Norbert Blüm.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dieser Regierungserklärung will ich eine kurze Bilanz über die Ergebnisse von sieben Jahren Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik geben. Denn es ist fast auf den Tag genau sieben Jahre her, daß diese Koalition im Oktober 1982 die Verantwortung übernahm. Ich will Antworten auf Fragen geben, die unsere Bürger derzeit im Zusammenhang mit den zu uns kommenden Landsleuten, den Aus- und Übersiedlern, stellen, und ich will einen Ausblick auf Möglichkeiten für mehr Arbeit und andere Arbeit in unserer Gesellschaft geben.
Als wir im Oktober 1982 die Regierung übernahmen, befand sich unser Land in einem Entwicklungstal und in einem Stimmungstief. Die regelmäßig erhobene Infas-Umfrage ergab 1982: 63 % der Befragten waren beunruhigt, pessimistisch über die politischen Zukunftsaussichten. Für September 1989, sieben Jahre später, stellt Infas fest, daß 82 % der Bundesbürger überwiegend zuversichtlich in die Zukunft der deutschen Wirtschaft schauen.
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- Sie gehören wahrscheinlich zu den 18 %.
Anfang der 80er Jahre stagnierte unsere Wirtschaft. Das Bruttosozialprodukt ging zurück. Man verschleierte den Vorgang damals hinter dem Kunstwort „Minuswachstum". 1982 ging die Wirtschaftsleistung um 1 % zurück, 1988 stieg sie real um 3,6 %, im ersten Halbjahr 1989 sogar um real 4,6 %.
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Die Realeinkommen der Arbeitnehmer sanken 1981 um 1,8 %, 1982 um 2,2 %; von 1985 bis 1989 haben sie insgesamt um 7,5 % zugenommen.
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Also, zur Frage der Wende: An Stelle von Minus ein Plus, an Stelle von Rückgang eine Zunahme, an Stelle von roten Zahlen jetzt schwarze Zahlen.
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Die Bürger werden entscheiden, welche Zahlen besser sind.
Durch die Steuerreform 1990 und durch sinkende Beiträge infolge der Gesundheitsreform werden sich 1990 nochmals rund 3 % realer Einkommenszuwachs in den Taschen der Arbeitnehmer befinden. Mit anderen Worten: Der durchschnittlich verdienende Arbeitnehmer hat im nächsten Jahr gegenüber 1985 einen realen Zuwachs an Kaufkraft von 2 100 DM
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- das ist sozusagen eine zweiwöchige Urlaubsreise - , dank einer vernünftigen, soliden Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik.
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Wenden wir auch den Blick auf den Arbeitsmarkt: Zu Beginn dieses Jahrzehntes, 1980, stieg die Arbeitslosigkeit dramatisch an, zwischen 1980 und 1983 um rund 1,37 Millionen Arbeitnehmer, die arbeitslos wurden. Das war ein Anstieg der Arbeitslosigkeit um 154 %. Die Zahl der Kurzarbeiter - Kurzarbeit ist ja eine Teilarbeitslosigkeit - stieg um 539 000, also um knapp 400 %. Die Zahl der Arbeitsplätze - das ist, glaube ich, das wichtigste Datum - sank in der gleichen Zeit um rund 1 Million.
Wie ist das Ergebnis heute? Die Zahl der Erwerbstätigen erreichte im Juli 1989 27,72 Millionen. Das ist
der höchste Stand der Erwerbstätigen seit dem Kriegsende. Das ist ein Beschäftigungsrekord in unserem Land.
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Allein gegenüber dem Juli 1988 stieg die Zahl der Erwerbstätigen um 360 000, Seit Ende 1983 bis heute ist die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um rund 1,5 Millionen gestiegen. Auch hier weise ich auf den Unterschied hin: In den letzten Jahren der Regierung Schmidt gingen knapp 1 Million Arbeitsplätze verloren; jetzt haben wir 1,5 Millionen Arbeitsplätze gewonnen.
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Auch hier der Unterschied zwischen roten Zahlen und schwarzen Zahlen!
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Mit rund 65% waren Frauen an dem Arbeitsplatzgewinn überproportional beteiligt. Noch nie in der Geschichte unserer Republik hatten so viele Menschen Arbeit, noch nie zuvor haben so viele Frauen einen Arbeitsplatz gefunden. Das ist das Ergebnis unserer Politik.
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Europaweit sind wir Spitze im Kampf gegen Jugendarbeitslosigkeit. Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren an der Zahl aller Arbeitslosen betrug im Juli 1989 in Italien 53 %. Jeder zweite Arbeitslose in Italien war ein Jugendlicher unter 25 Jahren. In Portugal betrug diese Zahl 42 %, in Spanien 41 %, in den Niederlanden 37 %, in Luxemburg 36 %, in Irland 33 %, in Frankreich 30 %. In Großbritannien betrug der Anteil 29 %. Fast jeder dritter Arbeitslose dort war unter 25 Jahren.
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Mit weitem Abstand folgt die Bundesrepublik mit 16,9 %. Betrachten Sie die Extreme: über 50 % in Italien und 16 % bei uns!
Der Lehrstellenmarkt hat sich gewandelt. Vor drei Jahren war noch das Stichwort „ Lehrstellenkatastrophe " in der Diskussion. Wir hatten mehr Lehrstellenbewerber als Lehrplätze. Heute, drei Jahre später, ist das Wort vergessen. Wir haben wieder mehr Lehrplätze als Lehrstellensuchende. Wenn jemand fragt: Wo ist die Wende, dann sage ich ihm: Da ist die Wende.
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Ende August standen 149 000 unbesetzten Lehrstellen noch 58 000 nichtvermittelte Bewerber gegenüber. Mit anderen Worten: Es gibt dreimal so viele offene, unbesetzte Lehrstellen wie Lehrstellenbewerber. Wo ist die Wende? - Hier ist die Wende.
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334 000 Menschen haben im August ihre Arbeitslosigkeit beendet. In keinem August vorher gab es eine so hohe Abmeldung aus der Arbeitslosigkeit. Seit Jahresbeginn wurden 1,5 Millionen Menschen in Arbeit vermittelt. Das ist das beste Ergebnis seit 1977. Es zeigt, wie unser Arbeitsmarkt in Bewegung geraten ist.
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- Auch das ist eine Wende.
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Die Arbeitgeber meldeten 1989 bisher knapp 1,5 Millionen offene Stellen. So viele offene Stellen gab es seit 1977 nicht mehr.
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Nach der Wende 1982 überschrieb die Wochenzeitung „Die Zeit" einen Beitrag mit der damals utopisch klingenden Überschrift: „Hoffen auf das zweite Wunder." Was damals als Utopie galt, ist heute Wirklichkeit. Es ist kein Wunder, aber es ist das Ergebnis des Fleißes der Arbeitnehmer, der Handwerker, der Unternehmer, der sich wieder lohnt.
Wir sind seit mehreren Jahren Exportweltmeister. Unsere Arbeitnehmer haben durch wirtschaftliches Wachstum, stabile Preise, sinkende Steuern ein kräftiges Plus in ihren Taschen - bei kürzerer Arbeitszeit und längerem Urlaub. Daran sind viele beteiligt: viele, viele Millionen fleißige Arbeitnehmer, Handwerksmeister, viele Unternehmer, viele kleine und mittlere Unternehmer, die von den verbesserten Bedingungen Gebrauch gemacht haben.
Ich will hier ganz besonders mittelständische Unternehmen erwähnen. 97 % der neuen Arbeitsplätze sind in den kleinen und mittleren Unternehmen entstanden. Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Besserung geleistet.
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Auch an diesem Tag soll nicht vergessen werden, daß das Lehrstellenwunder ein Mittelstandswunder, ein Handwerkerwunder war. Die haben für die junge Generation mehr getan als alle sozialistischen Bildungsideologen zusammen!
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Die deutschen Arbeitnehmer haben den Kopf nicht in den Sand gesteckt, sie haben mitgemacht, haben sich weiterqualifiziert, haben angepackt. Die Politik kann und soll die Bedingungen für den wirtschaftlichen Erfolg verbessern. Mehr kann und darf eine freiheitliche Politik nicht. Mehr kann und darf sie nicht! Bedingungsverbesserung ist das Ziel einer freiheitlichen Politik. Sozialistische Wirtschaften wollen alles bestimmen und den Produzenten und Konsumenten nichts überlassen. Sie wollen alles und erreichen nichts, was in diesen Tagen augenfällig ist.
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Wir haben die Bedingungen verbessert. Von 1983 bis 1988 haben wir 31 Milliarden DM für berufliche Bildungsmaßnahmen ausgegeben. 2,8 Millionen Personen wurden gefördert. Für berufliche Rehabilitation - das sind Rekordzahlen - : 13 Milliarden DM; für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Zeitraum von 1983 bis 1988: 15 Milliarden DM. Wir haben die ArBundesminister Dr. Blüm
beitsbeschaffungsmaßnahmen verdreifacht - von wegen „Kahlschlag" !
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1982 - Herr Heinemann, richten Sie das Ihren Anzeigengebern aus, die heute wieder von „Kahlschlag" reden - wurden 7 Milliarden DM für aktive Arbeitsmarktpolitik ausgeben; 1989 sind es 15 Milliarden DM. Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, wir würden Arbeitsmarktmaßnahmen abbauen? Können Sie die Rechnung nicht verstehen: 7 Milliarden DM sind noch nicht einmal halb soviel wie die 15 Milliarden DM, die wir in diesem Jahr leisten.
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Und auch im kommenden Jahr wird die Bundesanstalt wieder 15 Milliarden DM ausgeben.
Ab 1990 werden die Bürger durch unsere Steuersenkungsmaßnahmen um rund 49 Milliarden DM netto entlastet. Insgesamt 4,5 Millionen Erwerbstätige werden nach der Steuerreform überhaupt keine Lohn- und Einkommensteuer mehr zahlen. Den Bundesländern fließen nach dem neuen Strukturhilfegesetz seit 1989 jährlich 2,4 Milliarden DM für Infrastruktur-und Umweltmaßnahmen zu, allein dem Land Nordrhein-Westfalen 750 Millionen DM, 750 Millionen DM, mit denen Rau durch das Land geht und sich mit dem Absender verwechselt.
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Wenn sich ein Briefträger mit dem Absender verwechselte, würde er als Hochstapler attackiert werden!
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Die realen Einkommen sind gewachsen, soziale Belastungen sind zurückgenommen worden. Meine Damen und Herren, auch wenn Sie es nicht gerne hören:
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Ich behaupte nicht, daß es allen Deutschen gutgeht, aber den Deutschen in der Bundesrepublik ging es noch nie so gut wie im September 1989 - noch nie so gut!
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Die SPD attackiert uns mit dem Vorwurf des „Kahlschlags", heute morgen wieder. Ich frage mich, warum, wenn wir wirklich dieses kahlgeschlagene Land wären, ausgerechnet zu uns in dieses kahlgeschlagene Land, Menschen aus aller Welt wollen. Warum ausgerechnet zu uns?
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Vor unseren Grenzen drängeln sich Menschen, die zu uns wollen. Vor sozialistischen Grenzen drängeln sich Menschen, die raus wollen, um jeden Preis raus wollen. Das ist der Unterschied zwischen freiheitlichen Systemen und sozialistischen Systemen. Sozialistische Systeme haben Auswanderungsprobleme, wir hab en
Einwanderungsprobleme. In Moskau habe ich noch keine Asylantenschlagen gesehen, in Ost-Berlin auch nicht. Wenn unser Land so schlecht wäre, wie die Sozialdemokraten es machen, wenn das Elend und das Chaos allgemein wären, dann frage ich mich, warum alle Welt in das Wohlstandsland Bundesrepublik will.
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Wir legen dabei die Hände nicht in den Schoß. Wir sind nicht selbstzufrieden. Natürlich gibt es Aufgaben. Natürlich gibt es noch Armut bei uns. Sie muß bekämpft werden. Aber als Massenelend ist sie Gott sei Dank bei uns unbekannt. Wer das bestreitet, soll sich einmal in der Welt umsehen, um zu wissen, was Elend ist.
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Wir wollen Armut bekämpfen auch in unserem Lande. Aber Massenelend gibt es in unserem Lande Gott sei Dank nicht. Das ist auch der Erfolg des Fleißes seiner Bürger und einer guten Politik.
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Wir wollen die Hände nicht in den Schoß legen. Denn es gibt Schatten, auch auf dem Arbeitsmarkt. Ich denke an die Langzeitarbeitslosen. Manche schließen die Augen vor der Langzeitarbeitslosigkeit. Wir müssen und wollen den Langzeitarbeitslosen helfen, den Weg zurück zur Arbeit zu finden. Manche hat der Mut, manche hat sogar der Wille zur Arbeit verlassen. Sie haben sich eingerichtet in einem Status „Draußen", eingerichtet in einem Gefühl, nicht gebraucht zu werden. Selbstvertrauen baut sich ab. Gegen diese Welle der Resignation kämpft unser Programm für die Langzeitarbeitslosen und gegen die Langzeitarbeitslosigkeit.
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1,75 Milliarden DM stehen dafür seit dem 1. Juli zur Verfügung, nämlich für Lohnkostenzuschüsse, für Zuschüsse an Maßnahmenträger, die besonders schwer Vermittelbaren helfen sollen, und zwar auch in bezug auf die Motivation helfen sollen, zur Arbeit zurückzufinden.
Aber wir brauchen nicht nur Geld. Geld ist nur die eine Sache. Wir brauchen eine große Kooperation des guten Willens für die Langzeitarbeitslosen. Deshalb appelliere ich an die Länder, auch an Nordrhein-Westfalen, einen runden Tisch zu bilden und um diesen runden Tisch alle Gutwilligen zu versammeln - je mehr, um so besser - : die Tarifpartner, Gewerkschaften und Arbeitgeber, die Kammern, die Kirchen, die Wohlfahrtsverbände. Es gibt keine Patentrezepte. Wir stellen das Geld zur Verfügung. Ideen müssen vor Ort geboren werden. Eine menschennahe Politik vor Ort wird auch den Langzeitarbeitslosen helfen.
Eine große Herausforderung ist die Aufnahme unserer Landsleute, die als Aus- und Übersiedler zu uns kommen. Sie sind auch ein Stimulans für unsere Solidarität. Sie werfen uns aus dem Trott der eingespielten Routine und fordern von uns schnelle Antworten. Der Wohnungsbau muß angekurbelt werden. Wohnungen für alle, für die Einheimischen und für die, die
zu uns kommen! Das schafft auch Arbeit. Das ist auch eine Hilfe für den Arbeitsmarkt.
Die Aus- und Übersiedler kommen mit nichts außer dem ungestillten Hunger auf Freiheit. Sie haben genug Sozialismus erfahren. Sie haben den Sozialismus satt. Sie kommen mit Tatendrang und Vertrauen in uns und in unsere Gesellschaftsordnung. Deshalb stützen sie eine freiheitliche Gesellschaftsordnung.
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Sie sind geradezu eine Mentalitätshilfe. Sie bringen die Mentalität, seine Lebensgeschicke selber in die Hand zu nehmen, mit. Das könnte auch ein Schub gegen die Gesinnung einer Hängemattengesellschaft werden. Sie bringen Zuversicht und damit auch ein Stimulans gegen Pessimismus mit. Pessimismus ist ja eine gut florierende Branche. Mit Miesmachen lassen sich ja bei uns gute Geschäfte machen. Die Landsleute, die den Sozialismus erfahren haben, werden auf die Frustrationsexperten nicht hereinfallen. Da bin ich ganz sicher. Die freie Gesellschaft hat eben für alles ein Angebot, selbst für das Miesmachen. Das ist der Schnickschnack, für den Freiheit auch tolerant sein muß.
Unsere Landsleute bringen die Erfahrung mit, was Freiheit wert ist. Ich finde, in dieser Wohlstandsgesellschaft könnte die Selbstverständlichkeit der Freiheit zum Erlahmen unserer Kräfte führen. Insofern sind unsere Landsleute, die mit der Erfahrung des Sozialismus zu uns kommen, geradezu eine Stütze eines neuen Aufbruchs,
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der Freiheit und der Selbstverantwortung in unserem Leben einen größeren und stärkeren Platz einzuräumen, als es in den Betreuungsgesellschaften sozialistischer Art der Fall war.
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Für unser Sozialsystem sind die Aus- und Übersiedler nicht nur eine Solidaritätsaufgabe, sondern sie helfen uns auch. Sie helfen unserem Rentenversicherungssystem durch die Verjüngung. Gerade in einer Gesellschaft, die von Kinderarmut bedroht ist, helfen sie unserem Sozialsystem.
Das Aussiedlerproblem wird nicht durch Integration hier an der Wurzel gelöst, sondern durch Liberalisierung in den Herkunftsländern. Der Sozialismus treibt die Menschen aus ihrer Heimat. Das ist der schwerste Vorwurf, den man dem Sozialismus machen kann.
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Denn niemand verläßt seine vertraute Umgebung aus Lust und Laune. Es ist der Sozialismus, der die Menschen zur Aus- und Übersiedlung treibt.
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Sozialistische Systeme sind es, die zur Auswanderung führen.
Meine Damen und Herren, Kampf gegen Arbeitslosigkeit heißt auch Kampf gegen die, die es sich in der Arbeitslosigkeit gemütlich gemacht haben und unsere Arbeitslosenversicherung ausnutzen. Wer den wirklich Arbeitslosen helfen will - und wir wollen ihnen helfen - , muß sie vor der Verwechslung mit Faulenzern schützen. Wer sie vor der Verwechslung mit Faulenzern schützen will, muß dem Mißbrauch und den Ausnutzern den Kampf androhen und den Kampf im Interesse der wirklich Arbeitslosen führen, denn die werden sonst mit denjenigen verwechselt, die sich häuslich in der Arbeitslosigkeit eingerichtet haben.
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Man darf von den Verweigerern der Arbeit, von den Aussteigern, nicht auf jene schließen, die unter ihrer Arbeitslosigkeit leiden. Denen muß geholfen werden! Wir helfen denjenigen, die arbeiten wollen und können, aber wir helfen nicht denjenigen, die arbeiten können, aber nicht wollen. Denen helfen wir nicht!
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Ein Beispiel dafür, daß es solche gibt, bietet das Arbeitsamt Neumünster, wo 344 Arbeitnehmer zur Teilnahme an einem Kurs aufgefordert wurden. Von diesen 344 Arbeitnehmern sind 56 gar nicht zur Beratung erschienen. 39 lehnten die Teilnahme ohne wichtigen Grund ab. 38 haben sich aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet. 29 haben die Maßnahme ohne wichtigen Grund nicht angetreten. 8 waren postalisch nicht erreichbar. Das sind zusammen 170 Leistungsempfänger; also sind 50 To gar nicht gekommen oder hatten kein Interesse. Die waren offenbar nicht von der Not getrieben, sonst wären sie ja wenigstens gekommen. Die hatten offenbar keinen unstillbaren Hunger nach Arbeit; sonst wären sie ja wenigstens einmal zum Arbeitsamt gekommen. Das legt doch den Verdacht nahe, daß sich diese Zahl auch in der Hochrechnung so bestätigen wird.
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Ein weiteres Beispiel bietet das Arbeitsamt Hamburg. Rund 1 800 Leistungsempfänger wurden dort gezielt zur Meldung aufgefordert. Sie sollten sich einmal melden. Das ist ja keine unzumutbare Aufforderung vom Arbeitsamt.
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20 % haben sich - nur auf Grund dieser Einladung - sofort aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet. Auch die waren offenbar nicht von Not und Hunger nach Arbeit getrieben. Sie haben sich sofort abgemeldet!
Wir müssen nach neuen Möglichkeiten der Arbeit suchen.
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Eine Gesellschaft verliert jede Kraft, wenn man sich auf andere verläßt. Es ist ein sozialistischer Irrtum, zu glauben, der Staat könnte alles besser, wüßte alles besser und machte alles besser. Freiheit und Verantwortung haben ihr Subjekt in der Person des MenBundesminister Dr. Blüm
schen. Der Sozialismus jeder Spielart verflüchtigt die Problemlösung ins Kollektive und verdrängt deshalb Initiative und persönliche Verantwortung. Mitverantwortung ist ohne Freiheit nicht möglich. Sozialistische Gesellschaften sind ohne Schwung. Kreativität ist keine Sache von Planungsapparaten und Funktionären. Sozialistische Gesellschaften folgen der Utopie des Schlaraffenlandes und landen im gut verwalteten Elend.
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Wir wollen eine Gesellschaft mit Selbstvertrauen. Wir wollen eine Gesellschaft, die sich selber etwas zutraut. Wir brauchen Mitbürger, die nicht immer und überall Lösungen und Hilfen von anderen verlangen. Das war auch der Auslöser für unsere Gesundheitsreform. Unser Gesundheitssystem stand in Gefahr, zur großen Trainingsstätte der Fremdsteuerung des Menschen zu werden. Es erweckte den Anschein, als wäre Gesundheit nur eine Frage der Lieferung von außen und nicht auch eine Leistung der Selbstverantwortung.
Es stimmt nicht, wenn man sagt, daß, je teurer unsere Krankenversicherung ist, das um so besser für unsere Gesundheit ist. Diese Annahme ist das Alibi dafür, aus der Krankenversicherung herauszuholen, war immer herauszuholen ist. Wenn die Krankenkasse alles und jeden Preis zahlt, warum soll man dann nicht alles mitnehmen? Der Verein der Mitnehmer hatte sehr viele Mitglieder, auch viele Mitglieder unter den Leistungsanbietern. Unsere Gesundheitsreform ist ein Impuls, Selbstverantwortung zu stärken.
Meine Damen und Herren, die Gesundheitsreform ist doch erfolgreich. Arzneimittelpreise purzeln über Nacht um 30 % bis 50 %.
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Das ist doch ein Erfolg für die Versicherten. Es ist doch ein Erfolg für die Arbeitnehmer und für die Handwerker. Arzneimittelpreise - von denen behauptet wurde, sie könnten gar nicht sinken, ohne daß die Forschung zusammenbrechen würde - sind über Nacht um 30 % und mehr gesunken. Wann je sind die großen Pharmakonzerne so in Trab und ihre Preise so ins Rutschen gebracht worden wie durch den kleinen Norbert Blüm? Darauf bin ich sehr stolz.
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Brillenhersteller: Es wurde angedeutet, es gebe keine Brillengestelle für 20 DM mehr. Die schönsten Brillengestelle, noch schöner als meines, gibt es für 20 DM in allen Optikerläden.
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Hörgeräte: Über Nacht um 22 % geringere Preise! Über Nacht Garantiezeit verlängert! Heute lese ich eine Anzeige: Besser hören - jetzt auf Staatskosten. Das sagen dieselben, die noch vor einem halben Jahr gesagt haben, die Hörgeräteversorgung werde zusammenbrechen. Über Nacht 22 % Preissenkung! Ich gratuliere allen Versicherten, allen Patienten, daß unsere Krankenversicherungsreform diesen Erfolg hatte,
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Da redet die SPD von „Kahlschlag". Ja, wem haben wir denn geholfen? Wir haben den Beitragszahlern geholfen. Das sind Millionen kleiner Leute, die nicht mehr ausgenommen und nun davor bewahrt werden, daß sie für überhöhte Preise zur Kasse gebeten werden.
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Wir haben auch Vergeudung und Überversorgung abgebaut, damit wir das Geld haben, um denen zu helfen, die die Hilfe am meisten notwendig haben, nämlich den Pflegebedürftigen. 600 000 Schwerstpflegebedürftige werden zu Hause versorgt: Mütter versorgen ihre Kinder, Väter versorgen ihre Kinder, Frauen ihre Männer, Männer ihre Frauen, 600 000! Das sind die stillen Heiligen des Sozialstaats. An die hat bisher niemand gedacht. Wir helfen ihnen mit 5 Milliarden DM für die Schwerstpflegebedürftigen. Sie von der SPD diskutieren über die Pflegeversicherung. Das kennen die Schwerstbehinderten. Sie wissen seit 30 Jahren, wie man ordnungspolitisch-systematisch den Pflegebedürftigen hilft. Seit 30 Jahren! Und gemacht haben Sie nichts. Und so wird es mit Ihnen weitergehen. Von den Diskussionen ohne Entscheidungen haben die Pflegebedürftigen nichts. Wir haben nicht endlos diskutiert. Wir haben nicht große Systemdebatten geführt. Wir haben wie der Samariter für den gehandelt, der in Not ist: Jetzt helfen - und keine großen Systemdebatten!
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Sie, meine Damen und Herren von der SPD, führen doch jetzt schon die Debatte, wie Sie die Pflegeversicherung finanzieren wollen. Sie haben das Geld noch nicht und wollen es schon verteilen. Der Bär ist noch nicht erlegt, und Sie verteilen das Fell. Sie kommen mir vor wie Jäger, die noch nie auf der Jagd waren, aber ständig das Fell verteilen wollen. Sie streiten sich, Frau Fuchs, doch bereits, für was die Ökosteuer verwendet wird. Liebe Schwerstpflegebedürftigen, während ihr wartet, bis die SPD diese Diskussion ausgetragen hat, habt ihr von dieser Regierung bereits 5 Milliarden DM erhalten!
({47})
Ich sehe in der Pflege auch die große Aufgabe unseres Sozialstaats. Unser Sozialstaat ist wohl ausgebaut. Aber er hat noch weiße Flecken. Die Pflege ist eines der großen Themen. 210 Alterstagespflegeplätze hat Nordrhein-Westfalen. Dort gibt es allein über 500 000 Menschen, die über 80 Jahre alt sind. Darunter sind mindestens 100 000, die Bedarf nach einem Altentagespflegeplatz haben.
Das ist ein großes Feld auch des Arbeitsmarkts. Ich sehe in der Pflege auch die Möglichkeit, daß jene, die für die Hochtechnologie keine Begabung entwickeln und die ein Computer vielleicht gar nicht interessiert,
ein Beschäftigungsfeld finden, wo menschliche Zuwendung verlangt wird. Neue Beschäftigungsfelder - dafür brauchen wir die Phantasie: neue Beschäftigungsfelder in sozialen Diensten, in der Zuwendung: eine Infrastruktur für Pflege
({48})
mit einem Programm für professionelle, halbprofessionelle und ehrenamtliche Pflege. Dazu ermuntere ich.
({49})
Der Bedarf, dessen bin ich ganz sicher, ist sehr groß. Viele Pflegekräfte sind arbeitslos. Sie könnten in diesem neuen Beschäftigungsfeld eine sinnvolle Arbeit finden.
Ich sehe auch in unserer Familienpolitik einen arbeitsmarktpolitischen Bezug. Der Erziehungsurlaub, familienpolitisch begründet, bringt eine arbeitsmarktpolitische Entlastung. Ein ganz konkretes Beispiel: Den Erziehungsurlaub haben an nordrhein-westfälischen Schulen 1 200 Lehrer in Anspruch genommen. Das Land Nordrhein-Westfalen hat allerdings nur 500 eingestellt.
({50})
Sie verdienen an dem Erziehungsurlaub, den Sie bekämpft haben. Sie verdienen daran, daß Sie die arbeitsmarktpolitische Lücke nicht füllen. Das halte ich für eine widersprüchliche Politik.
({51})
An den Schulen in Nordrhein-Westfalen fallen Woche für Woche 300 000 Schulstunden aus; 29 000 Lehrer sind arbeitslos. Redet nicht soviel über Arbeitslosigkeit, sondern besetzt die Stellen, die gebraucht werden. Ein Ausfall von 300 000 Wochenstunden an den Schulen heißt Verlust für die Kinder und könnte für die Lehrer Arbeit schaffen. Das ist unsere Aufgabe.
({52})
25 000 Kindergärtnerinnen und Kindergärtner sind arbeitslos; in Nordrhein-Westfalen fehlen 100 000 Kindergartenplätze. Wir könnten das Soziale mit dem Arbeitsmarkt verbinden. Dafür allerdings ist weniger sozialistische Planungsborniertheit gefordert. Dafür ist eine Politik der Kreativität, der Mitverantwortung, der Freude, anderen helfen zu können, gefordert und nicht, alles vom Staat zu erwarten.
Das ist unsere Botschaft: eine Gesellschaft mit Selbstvertrauen; Bürger, Arbeitnehmer, Unternehmer, Handwerker, Ingenieure und Geschäftsleute, die sich selbst wieder etwas zutrauen. Hilfe ja, aber in erster Linie Hilfe zur Selbsthilfe. Wir brauchen eine Kultur, in der die Menschen nicht am Gängelband des Staates geführt werden, sondern eine nachbarschaftliche Kultur, einen neuen familiären Aufbruch für Selbstverantwortung und Selbstvertrauen.
({53})
Das Wort hat der Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, Heinemann.
({0})
Minister Heinemann ({1}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben heute wieder einmal einen Norbert Blüm erlebt, wie wir ihn kennen,
({2})
- das hat er gesagt - , der Propaganda mit Politik verwechselt.
({3})
Ich sage Ihnen: Die Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung ist auch nach den wohlmeinendsten Beobachtern gescheitert.
({4})
- Hören Sie doch zu, Herr Hauser.
({5})
Die Bundesregierung bekämpft statt der Arbeitslosigkeit schon lange nur die Arbeitslosenstatistik, die mit immer neuen Tricks geschönt wird.
({6})
Nach dem Grundsatz „Frechheit siegt" sollen die Leute jetzt vor der Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen ausgerechnet in der Arbeitspolitik für dumm verkauft werden.
Herr Blüm, Sie reden davon, was der Arbeitnehmer verdient - ich würde mit Ihnen gerne ein Gespräch über den Arbeitnehmer führen -, Sie sagen heute morgen aber nicht, daß der Anteil der Arbeitnehmereinkommen am Volkseinkommen von 1982 bis 1988 von etwas mehr als 66 % auf etwas weniger als 57 % zurückgegangen ist.
({7})
Das ist ein Tiefstand seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland. Das hat es seitdem noch nicht gegeben. Das sind die Fakten.
({8})
Der Bundesarbeitsminister kündigt zwar immer wieder Vollbeschäftigung an. Schon 1983 haben Sie weniger als 1 Million Arbeitslose versprochen - ich kann Ihnen Ihre Zitate einmal schicken -, aber die Zahlen sagen etwas anderes. Tatsächlich rutschte die Bundesrepublik trotz einer siebenjährigen guten Weltwirtschaftskonjunktur in die schlimmste Massenarbeitslosigkeit ihrer Geschichte.
({9})
Inzwischen sind es 3,8 Millionen Menschen - das sage ich Ihnen - , die einen Arbeitsplatz suchen. Dazu gehören die rund 1,3 Millionen Menschen, die schon längst jede Hoffnung auf Hilfe durch das Arbeitsamt aufgegeben haben und in keiner Arbeitslosenstatistik mehr auftauchen.
({10})
Minister Heinemann ({11})
Dazu gehören die rund 200 000 Menschen, die aus der Arbeitslosenstatistik herausmanipuliert worden sind. Daneben hat sich noch die Rekordzahl von über 3 Millionen Sozialhilfeempfängern, für die die Gemeinden mehr als 25 Milliarden DM aufwenden müssen, zum zunehmend dunkelsten Zukunftserbe dieser Regierung angehäuft.
({12})
Die Sozialämter und die Gemeinden müssen für Ihre Versäumnisse zahlen, Herr Blüm. Da sollten Sie einmal nachfragen.
({13})
Als die Regierung Helmut Schmidt 1982 gegen die schwerste Weltwirtschaftsrezession der Nachkriegszeit ankämpfen mußte, betrug die durchschnittliche Arbeitslosendauer noch 7,6 Monate; im Durchschnitt von 1988 lag sie bei 13,6 Monaten.
({14})
Keiner weiß heute, wann hier das Ende der Fahnenstange erreicht wird. Doppelt so viele Menschen wie im Jahre 1982 waren zum gleichen Zeitpunkt länger als ein Jahr arbeitslos, und sogar über viermal so viele Menschen als im letzten Jahr der Regierung Schmidt waren länger als zwei Jahre arbeitslos. Das ist die Bilanz, die Sie zu vertreten haben.
({15})
Das sind die Menschen, denen Sie in die Augen blikken müssen, Herr Kollege Blüm.
Wir machen Ihnen zum Vorwurf: Sie haben eine Traumausgangsbasis zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit mit einem langen weltweiten Konjunkturhoch, das unserer Wirtschaft gewaltige Impulse gegeben hat, leichtfertig verspielt.
({16})
Wir freuen uns mit Ihnen über mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigte. Gerade auch in Nordrhein-Westfalen haben wir mit unserer Politik der ökonomischen Erneuerung in ökologischer und sozialer Verantwortung hier ganz besonders große Zuwachsraten trotz enormer Verluste bei Kohle und Stahl sowie in der Bauindustrie erzielt.
({17})
- Sie kennen dieses Land anscheinend nicht. - Als die anderen auf der grünen Wiese aufbauen konnten mit Geldern, die in Nordrhein-Westfalen erwirtschaftet wurden, haben wir Überangebote bei der Kohle und auch beim Stahl abbauen müssen.
({18})
Sie sind anscheinend noch dem Gedanken des Wahlkampfs 1985 verhaftet, als Sie dieses Land mit der Möbelwagen-Theorie vergraulen wollten. Heute ärgern Sie sich darüber, daß es Wirtschaftsbosse sind, die diesem Land das beste Zeugnis ausstellen; ich erinnere an Herrn Herrhausen und auch an Edzard Reuter.
({19})
Aber wir haben diese Zuwachsraten nicht durch die Arbeitsmarktpolitik des Bundes erreicht, sondern in weiten Bereichen nur trotz dieser Politik.
({20})
Wir treiben in Nordrhein-Westfalen aktiv den wirtschaftlichen Strukturwandel voran, aber wir treiben eben auch die Arbeitsmarktpolitik aktiv voran. Bei uns gehen Wirtschafts- und Industriestandortförderung und unser Kampf um Arbeitsplätze Hand in Hand. Wir sind nie dem Wunderglauben erlegen, daß eine Wirtschaft im Aufschwung die Arbeitslosen automatisch von der Straße holt. Es genügt nicht, daß die Wirtschaft läuft. Es kommt darauf an, daß möglichst alle Menschen in unserem Land von einer guten Konjunktur profitieren. Was, Herr Bundesarbeitsminister, will diese Bundesregierung eigentlich tun, wenn die gute Weltwirtschaftskonjunktur einmal zurückgeht? Mit welchen Arbeitslosenzahlen müssen wir dann rechnen?
Wer wirklich an der Wiedereingliederung der Langzeitarbeitslosen interessiert ist, muß mithelfen, daß diese Menschen wieder fit gemacht werden; denn demjenigen, der sich erst wieder an einen konzentrierten Arbeitstag gewöhnen muß, müssen wir mehr bieten - ich bin Ihnen dankbar, daß Sie das aufgegriffen haben, Herr Blüm - als nur Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
({21})
- Ich sage Ihnen das gleich. ({22})
- Seien Sie doch nicht so unruhig. Sie hören es doch noch.
Wer diese Menschen mittelfristig persönlich stabilisieren und beruflich qualifizieren will, der braucht Schritte zur Entschuldung, der braucht persönliche Stabilisierung. Zur Qualifizierung muß viel mehr getan werden. Wir müssen diesen Menschen helfen, eine erste Beschäftigung zu finden. Denn am Ende muß - das ist unabdingbar - eine Dauerbeschäftigung stehen.
Wir beginnen in Nordrhein-Westfalen ab 1990 mit einem solchen Konzept der Verknüpfung der Maßnahmen und der Bündelung des Kampfes gegen Arbeitslosigkeit in den Regionen und stellen Mittel bereit. Herr Blüm, ich bin - wie auch auf anderen Gebieten - gern bereit, Ihnen das einmal zu zeigen. Ich bin sicher, dabei könnten Sie eine Menge lernen.
({23})
Die Bundesregierung schlägt aber den anderen Weg ein: nicht zusätzliches Engagement, nein, Abbau bestehender Einrichtungen.
({24})
Mit der achten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz haben Sie den arbeitsmarktpolitischen Handlungsspielraum der Bundesanstalt für Arbeit in Milliardenhöhe eingeschränkt.
({25})
Minister Heinemann ({26})
Die Folgen hat Ihnen der Vorstand der Bundesanstalt vor wenigen Tagen bescheinigt. Mit der neunten AFG-Novelle wird die Arbeitsmarktpolitik jetzt endgültig abgeschrieben. Allein für 1989 werden weitere fast 2 Milliarden DM für dringend erforderliche Arbeitsmarktmaßnahmen gekürzt.
Wenn Sie schon nicht auf uns hören, Herr Blüm, dann hören Sie doch wenigstens auf Kardinal Hengsbach; denn es war doch Herr Hengsbach und es waren Ihre Bürgermeister im Ruhrgebiet, die Sie am 15. August 1989 aufgefordert haben, endlich diese neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz zu ändern, weil im Bereich des Bistums eine ungeheure Zahl von Arbeitsplätzen kaputtgeht. Hören Sie doch bitte auf Kardinal Hengsbach, wenn Sie uns schon keinen Glauben schenken.
({27})
Dabei kommen vor allem die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen unter die Räder. Für uns in Nordrhein-Westfalen bedeutet das 207 Millionen DM weniger für den Arbeitsmarkt. Soziale Einrichtungen, Arbeitsloseneinrichtungen wie Kleiderkammerprojekte, Recyclingprojekte oder Projekte zur ambulanten Altenhilfe - um nur einige zu nennen - stünden sehr schnell vor dem Aus, wenn nicht wenigstens die Landesregierung mit einem Notunterstützungsprogramm für 1990 hier eingesprungen wäre.
({28})
Auch das kann man nicht wegpropagieren.
Aber schon in den ersten sieben Monaten dieses Jahres sind 40 % weniger Neuanträge gestellt worden als im letzten Jahr. Das heißt: Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gehen heute weitgehend zu Bruch.
({29})
Und von Ihrem Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit taucht doch im Nachtragshaushalt für 1989 so gut wie gar nichts auf. Das heißt: 20 Schritte zurück und einen kleinen wieder voran.
Es ist ein Skandal und ein Armutszeugnis, wenn nach der neuesten Analyse des Berufsbildungsberichtes 1989 der Bundesregierung die Zahl der ungelernten Menschen in unserem Lande steigt. Wo sollen denn diese Ungelernten in einer hochtechnisierten Industriegesellschaft später einmal untergebracht werden? Hier züchtet man doch das Subproletariat und die Problemgruppen von morgen. Hier kann man sich nicht auf den Markt allein verlassen. Statt über angeblich zu hohe Lohnnebenkosten zu jammern, sollte hier endlich ein Schwergewicht staatlicher Zukunftspolitik gesetzt werden.
({30})
Wenn man heute angesichts der DDR-Flüchtlinge immer wieder hört, hier kämen endlich wieder einmal motivierte potentielle Arbeitnehmer - auch Sie haben das heute gesagt -,
({31})
so kann ich nur sagen: Sicher sind diese Menschen hochmotiviert. Wir alle wünschen ihnen, nachdem sie dem Kommunismus den Rücken gekehrt haben, einen guten Start.
({32})
- Dem Kommunismus.
({33})
- Da hat der Herr Blüm ja von seinen eigenen Freunden für das, was er vor wenigen Tagen verkündet hat, die beste Quittung bekommen, von Herrn Späth und anderen; ihm müssen ja die Augen tränen, wenn er nur daran denkt.
({34})
Aber es ist doch eine Beleidigung aller einheimischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
({35})
so zu tun, als wären nicht auch die hochmotiviert und leistungsbereit.
({36})
Es ist doch eine Beleidigung unserer Arbeitslosen, wenn sie jetzt gegen DDR-Flüchtlinge ausgespielt werden sollen, Herr Blüm.
({37})
Es ist kein Ruhmesblatt der Arbeitsmarktpolitik, wenn DDR-Übersiedler bei uns sofort Arbeit finden können,
({38})
wir aber nicht in der Lage sind, unsere Arbeitslosen vergleichbar zu qualifizieren.
Das Versagen der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik der Bundesregierung zeigt sich eben gerade darin, daß man bei uns nicht ausreichend bereit ist, Arbeitslose für den Arbeitsmarkt fit und interessant zu machen. Vielmehr läßt man sie im Abseits der Arbeitslosigkeit allein.
({39})
Genau in diesen Zusammenhang paßt auch die jüngste Äußerung des Herrn Haussmann. Wenn er es eine hochpolitische Aufgabe nennt, eine weitere Verkürzung der Wochenarbeitszeit zu verhindern, dann findet er sich dabei sogar in der Gesellschaft des Bundeskanzlers wieder,
({40})
für den die Forderung der Gewerkschaft nach der 35Stunden-Woche - in seinen Worten - „absurd, dumm und töricht" ist.
({41})
Ich will nicht zu der öffentlichen Beleidigung des Sachverstands der Tarifvertragsparteien Stellung nehmen. Ich will auch nicht eine jüngste Befragung
Minister Heinemann ({42})
kommentieren, nach der 90 % aller Beschäftigten in der Bundesrepublik für Arbeitszeitverkürzung sind.
({43})
Ich will aber den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitverkürzung auf der einen und der auch vom Bundesarbeitsminister gepriesenen Zahl neuer Beschäftigungsverhältnisse auf der anderen Seite deutlich machen. Nach der Feststellung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit - einer Einrichtung, für die Sie die Verantwortung haben, Herr Blüm, und der Sie sicherlich nicht widersprechen wollen ({44})
hat sich das insgesamt bundesweit geleistete zeitliche Beschäftigungsvolumen trotz der Zunahme an Stellen kaum verändert. Im Gegenteil - das ist der springende Punkt - : Die Gesamtzahl der jährlich geleisteten Arbeitsstunden hat sich eher verringert, und mit mehr Arbeitsplätzen sind insgesamt sogar etwas weniger Arbeitsstunden geleistet worden. Das ist doch ein Stück Erfolg der Arbeitszeitverkürzung. Das können Sie doch nicht wegdiskutieren.
({45})
Verehrter Herr Blüm, wenn gestern Herr Franke darauf hingewiesen hat, daß die Zahl der Teilzeitarbeitsplätze in den letzten Jahren um 2,2 Millionen gestiegen ist, dann ist dazu zu sagen: Ein Großteil von Vollzeitarbeitsplätzen ist in Teilzeitarbeitsplätze umgewandelt worden. Das ist nicht mein Ziel.
({46})
- Sie sollten, bevor Sie dazwischenrufen, einmal ein Unternehmen leiten, wie ich das jahrelang getan habe. Dann wüßten Sie, daß Sie über den Weg der Umwandlung eine ganze Menge Arbeit wegrationalisieren können. Das wäre nicht mein Ziel.
({47})
Leider ist meine Redezeit abgelaufen. Herr Kollege Blüm, ich will Ihnen nur noch eines sagen: Ich will mit Ihnen gerne über die Fragen der Gesundheitsreform an jeder von Ihnen gewünschten Stelle diskutieren.
({48})
Ich hätte mich gefreut, wenn Sie gestern statt Herrn Jagoda auf dem Managementkongreß der Ortskrankenkassen aus Schleswig-Holstein, Bayern und Nordrhein-Westfalen gewesen wären. Dort haben wir mit Fachleuten darüber diskutiert. Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, welche Meinung Herr Heitzer und die Fachleute von Ihrer Gesundheitsreform haben. Diese Meinung vertrete ich im übrigen auch.
({49})
Ihre Versäumnisse bei den notwendigen Sachen sind
dort sehr kritisiert worden. Ich sage Ihnen: Da sollten
Sie sprechen; da sollten Sie die Auseinandersetzung
führen. Ich freue mich darauf, wenn ich sie mit Ihnen führen kann; denn auch hier stellen Sie etwas in den Raum, was nicht den Tatsachen entspricht.
({50})
- Der Bundeskanzler kann ja mit den Ministerpräsidenten darüber reden. Herr Blüm, Sie sind Arbeitsminister, und ich bin es ebenfalls. Ich will mit Ihnen fachlich über diese Frage diskutieren. Dann sieht es anders aus, als Sie das heute morgen dargestellt haben.
({51})
Das Wort hat der Abgeordnete Graf Lambsdorff.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es lebe der Kommunalwahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Wir erfreuen uns an demselben denn auch im Deutschen Bundestag. Was das, was wir erörtert haben, damit zu tun hat, überlassen wir mal getrost dem Urteil der Wähler. Manches scheint mir doch nicht so unmittelbar von der Stimmabgabe für Gemeinderäte und für Stadtverordnete abhängig zu sein. Das wird sich alles am nächsten Sonntag zeigen.
({0})
- Nein, nein.
({1})
Wir überlassen den Kommunalwahlkämpfern dieses Thema.
Der Bundesarbeitsminister hat mit dieser Regierungserklärung die Fakten der wirtschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik zutreffend aufgezeigt.
({2})
- Es war schon in der Haushaltsdebatte für Sie mühsam, der Tatsache etwas entgegenzusetzen, daß wir seit sieben Jahren auf stabiler Grundlage, d. h. bei relativ stabilen Preisen Wachstum haben, daß wir die höchste Beschäftigtenzahl und Exportrekorde haben. Herr Heinemann, gucken wir doch einmal ein bißchen über die Grenzen des Landes Nordrhein-Westfalen hinaus - wenn Sie durch das Land ziehen, zeichnen Sie doch ein ganz anderes Bild, weil Sie Ihre eigenen Leistungen propagieren ({3})
und nehmen zur Kenntnis, wie die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik dieser Bundesregierung international unisono positiv beurteilt wird.
Herr Heinemann, ich trete Ihnen ja nicht zu nahe, wenn ich sage, daß wir soeben den Mann reden gehört haben, den man seit neuestem den teuersten Briefträger des Landes Nordrhein-Westfalen nennt. Er reist mit Bewilligungsbescheiden von Versammlung zu Versammlung. Das sind nützliche Dinge, die man allerdings mit der Post schicken kann. Herr Schwarz12174
Schilling wäre sicher dankbar, wenn er das Porto kassieren könnte. Aber wir wissen ja, warum Sie das tun.
({4})
Sie haben die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Herr Heinemann, und deren Kürzung kritisiert. Sie wissen ebenso wie wir, daß es in diesem Bereich, insbesondere im kommunalen Bereich, bei der kommunalen Finanzierung und der kommunalen Nutzung von AB-Maßnahmen, einen erheblichen Anteil von Mißbrauch gegeben hat.
({5})
Daß die Kommunen dies in Nordrhein-Westfalen besonders stark versucht haben, ist verständlich; denn das Land hat die Kommunen derartig mit Umlagen überzogen und ihnen soviel Geld weggenommen, daß ihnen nicht viel anderes übrigblieb.
({6})
Um die exzellente wirtschaftliche Situation in der Bundesrepublik werden wir weltweit beneidet. Man braucht nur irgendwohin zu fahren, dann sagen einem die Leute, sie wünschten, sie hätten unsere Probleme, wenn man über deren Probleme redet.
({7})
Manch einer scheint aber zu denken, das alles komme von selbst, jetzt könnten wir kräftig zulangen und bei den Belastungen ordentlich draufpacken. Diese Argumentation, finde ich, ist ernst zu nehmen. Es heißt: Die Bundesrepublik hat die höchsten Lohn- und Lohnzusatzkosten sowie die höchsten Produktionskosten weltweit. Die Antwort lautet dann: Der Standort Bundesrepublik Deutschland hat andere Vorteile; wir können uns das leisten. - Die Bundesrepublik hat die höchsten Unternehmenssteuern. Die Antwort heißt
- wie zuvor - : Wir können uns das leisten.
({8})
- Frau Fuchs, Sie haben ja die Katze aus dem Sack gelassen. Wenn Sie an die Regierung kommen, dann wollen Sie die 35 Milliarden DM auch gleich ausgeben. Das SPD-Präsidium hat die Katze, nicht den Fuchs, zwar gleich wieder in den Sack zurückgetan;
({9})
aber im nächsten Jahr kommt sie wieder heraus. Sie planen ein großes Umverteilungs- und Abgabenerhöhungsprogramm. Das habe ich Ihnen hier schon vor Wochen gesagt, und Sie haben es dankenswerterweise - ich finde das hervorragend - öffentlich klargemacht.
Die Bundesrepublik, meine Damen und Herren, heißt es, hat die schärfsten und teuersten Umweltauflagen. Antwort: Das können wir uns leisten; wir haben andere Vorteile. - Die Bundesrepublik hat die am weitesten reichenden Mitbestimmungsregeln. Dieselbe Antwort. - Sie hat die kürzesten Jahresarbeitszeiten.
Ich warne vor dieser sektoralen Betrachtung. Jeder Komplex für sich genommen mag richtig und mag tragbar sein. Aber die Gesamtschau muß uns nachdenklich stimmen.
Es ist richtig, daß wir Standortstärken haben. Dazu gehören eine hohes Qualifikationsniveau der Arbeitnehmer, eine gute Ausstattung mit Kapital, eine gute Infrastruktur, eine differenzierte Produkt- und Unternehmensstruktur mit einer starken mittelständischen Komponente. Aber wir dürfen unsere Belastungen nicht immer weiter erhöhen. Einer von Ihnen, nämlich der Kollege Rappe, hat es vor Monaten schon gesagt: ein bißchen Atemholen im EG-Wettbewerb. Eine Verschnaufpause in der Bundesrepublik täte uns wahrscheinlich gut. - Die anderen schlafen ja nicht. Wir haben unseren Standort nicht verschlechtert. Aber andere bemühen sich, besser zu werden und aufzuholen. Da liegt das Problem, nicht im Herunterreden des deutschen Standortes.
({10})
- Manchmal muß man Sachen sagen, die nicht neu sind, weil man sie nur durch Wiederholung bei Ihnen an den Verstand bringen kann. Es hilft ja nichts.
({11})
Gerade im Hinblick auf die Vollendung des Binnenmarkts müssen unsere Unternehmen fit sein, um sich flexibel den Herausforderungen anzupassen. Wir werden die positiven Effekte der Integration nur dann ernten, wenn wir im Standortwettbewerb unsere Qualität bewahren. Da spielen nun einmal die Lohnkosten und die Fragen der Arbeitszeit eine zentrale Rolle. In dieser Situation, Herr Heinemann, wäre es eine fahrlässige Pflichtverletzung, wenn der Bundeswirtschaftsminister nicht mit aller Deutlichkeit auf Gefahren hinwiese, die sich aus bevorstehenden Tarifrunden ergeben können. Keiner will die Tarifautonomie einschränken. Die Tarifautonomie, meine Damen und Herren, ist integraler Bestandteil einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Tarifvertragsparteien sind autonom.
({12})
- Die Tarifvertragsparteien, lieber Herr Dreßler, sind aber nicht sakrosankt.
({13})
Die Majestätsbeleidigung, die offenbar mancher empfindet, wenn es Kritik an den Tarifvertragsparteien gibt, ist außerhalb jeder Proportion. Auch unsere Tarifvertragspartner haben sich wie jede andere öffentliche Institution der Kritik zu stellen.
({14})
- Ich rede immer - damit Sie nicht für die falsche Seite Partei ergreifen, mache ich Sie darauf aufmerksam - von den Tarifvertragsparteien. Ich meine also beide. Sehr viele Menschen im Lande sind nämlich die Macht der Großorganisationen beider Seiten sehr leid und suchen jemanden, der diesen großen VerbänDr. Graf Lambsdorff
den und großen Organisationen auch einmal gegen den Strich redet.
({15})
Mit Recht, meine Damen und Herren, schreibt die „FAZ" heute - ich zitiere wörtlich - :
Politik und Öffentlichkeit müssen das Recht haben, das Beschäftigungskriterium zum Maßstab der Bewertung der Lohnpolitik zu machen.
({16})
- Wollen Sie das bestreiten? Lesen Sie es noch einmal!
({17})
- Ich kann das nur gestatten, wenn es mir nicht angerechnet wird, Herr Präsident.
Herr Abgeordneter, ich werde es nicht anrechnen. - Herr Abgeordneter Dreßler, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Graf Lambsdorff, würden Sie mir bestätigen, daß der von Ihnen gerade zitierte Kommentar aus der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit dem Satz beginnt, daß Herr Haussmann in ein Fettnäpfchen getreten hat?
({0})
Ja, das steht dort in der Tat, Herr Dreßler. Ist denn das Hineintreten in ein Fettnäpfchen etwa immer falsch?
({0})
Es kann sehr wohl Fettnäpfchen geben, in die man einmal hineintreten muß,
({1})
in die man deutlich hineintreten muß, um Aufmerksamkeit zu erregen.
({2})
Worum geht es denn bei dieser Diskussion, meine Damen und Herren? Wir haben einen leergefegten Facharbeitermarkt, und dabei spielen natürlich die Flüchtlinge eine Rolle. Die Flüchtlinge werden von diesem Arbeitsmarkt doch so aufgesogen, wie ein trockener Schwamm Wasser aufsaugt. Warum denn? Natürlich auch wegen der Mobilität. Wir wünschen keinem Menschen, niemandem, daß er die Mobilität von Flüchtlingen hat.
({3}) Darüber soll es kein Mißverständnis geben.
Das läßt einen aber doch zu einigen Fragen bezüglich des Inhalts unserer Statistik kommen. Nicht die Zahlen sind falsch. Was sagen diese Zahlen aber eigentlich aus? Welches Bild vermitteln sie uns?
Weitere Arbeitszeitverkürzung bedeutet entweder mehr Überstunden oder weniger Produktion. Weniger Arbeitszeit für Facharbeiter, das heißt: weniger Arbeitsplätze für ungelernte Arbeitskräfte. Gerade diese
Arbeitsplätze brauchen wir. Wer Arbeitszeitverkürzung will, der muß zumindest Beweglichkeit zugestehen. Darum geht es doch. Ich habe 1983 im Bundestagswahlkampf landauf, landab gesagt: Wir können die 35-Stunden-Woche haben, wenn wir bereit sind, diese Stunden an sechs Tagen in der Woche - jeder einzelne natürlich nur an drei oder vier Tagen in der Woche - abzuleisten. - Wer aber - wie das manche tun - glaubt, daß man die 35-Stunden-Woche als Maschinenlaufzeit einführen kann, der wird unsere Wettbewerbsfähigkeit sehr schnell ruinieren.
({4}) Das können wir uns nicht leisten.
Wir fordern seit Jahr und Tag mehr Flexibilität in der Tarifgestaltung, regional, branchenbezogen, sektoral und zeitlich. Wir wollen mehr Teilzeitarbeitsplätze. Muß man das nicht als Forderung an diese Tarifrunde richten, gerade im Interesse der Frauen, die Teilzeitarbeitsplätze suchen?
({5})
Wir wissen ja, daß es vor Ort, bei Betriebsräten und anderen, viel mehr Einsicht gibt, als das bei diesen großen flächendeckenden Verhandlungen immer wieder der Fall ist. Warum gibt es hier nicht mehr Beweglichkeit, nicht mehr Differenzierung, nicht mehr Rücksicht auf regionale und branchenmäßige, auch ertragsmäßige Unterschiede? Ich wiederhole diese Frage immer wieder.
Graf Lambsdorff, nun möchte die Abgeordnete Frau Fuchs eine Frage stellen. Ich nehme an, Sie gestatten das.
Ich nehme an, verehrter Herr Präsident, daß Ihre Zusage von vorhin auch für diese Frage gilt.
Ich werde so verfahren.
Ich bedanke mich.
Graf Lambsdorff, da Sie immer wieder darauf hinweisen, daß wir mehr Teilzeitarbeitsplätze brauchen, frage ich Sie: Stimmen Sie mir darin zu, daß damit das Arbeitszeitvolumen nicht größer wird; denn Teilzeitarbeit ist doch eigentlich eine Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich?
Sie, meine Damen und Herren, haben offensichtlich die Statistik, nach der gerade von Frauen Teilzeitarbeitsplätze gesucht werden - ich wundere mich darüber, daß Sie das fragen, Frau Fuchs - , nicht zur Kenntnis genommen und nicht verstanden. Die Frauen wollen halbtags arbeiten, um ihren Beruf mit ihren Haushaltspflichten, mit ihren Familienpflichten zu vereinbaren.
({0})
Diese Arbeitsplätze brauchen wir, diese Arbeitsplätze müssen angeboten werden.
Graf Lambsdorff, offensichtlich ist die Fragestellerin nicht zufriedengestellt. Sie möchte noch einmal nachhaken.
Herr Präsident, es wird mir auch mit der zweiten Antwort vermutlich nicht gelingen, dieses Ziel zu erreichen. Dennoch will ich die Frage gern hören.
({0})
Ich möchte auf meine Frage zurückkommen, ob Sie mit mir der Auffassung sind, daß sich durch Teilzeitarbeitsplätze das Arbeitszeitvolumen nicht erhöht.
Nein. Warum soll das denn nicht geschehen? Natürlich erhöht es sich. Selbstverständlich erhöht es sich. Sie gehen immer davon aus, daß Teilzeitarbeitsplätze durch Aufteilung eines Vollzeitarbeitsplatzes in zwei Teilzeitarbeitsplätze entstehen. Das ist einfach nicht wahr. Schließen Sie sich einer vernünftigen Ladenschlußregelung an,
({0})
dann werden Sie sehen, wie viele Teilzeitarbeitsplätze es gibt, die das Arbeitszeitvolumen erhöhen.
({1})
Meine Damen und Herren, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände haben immer wieder Tarifverträge für die geschlossen, die Arbeit haben. Sie haben nichts oder wenig für die Arbeitslosen übriggelassen, die vor den Fabriktoren stehen. Dann haben sie die Probleme, die sie mit diesen Tarifverträgen bewirkt haben - ({2})
- Frau Kollegin Timm, haben Sie irgendeinen Zweifel daran, daß über 15 Jahre lang betriebene Sockellohnerhöhungen zu dem hohen Anteil von nicht qualifizierten oder nur halbwegs qualifizierten Arbeitskräften in der Arbeitslosenstatistik geführt haben? Das ist Sockellohnarbeitslosigkeit, wie es Mindestlohnarbeitslosigkeit in den Vereinigten Staaten gegeben hat. Das ist die Folge von Tarifverträgen.
({3})
Ich habe mir als Bundeswirtschaftsminister in der Koalition, in der wir noch zusammen waren, immer das Recht genommen,
({4})
dies wütend zu kritisieren. Ich bleibe dabei. Ich werde das auch zukünftig kritisieren. Ich bitte den Bundeswirtschaftsminister Haussmann, sich durch die Kritik an den von ihm gemachten Äußerungen ja nicht den Schneid abkaufen zu lassen.
({5})
Es gibt viele Leute im Lande, die das hören wollen, die
Wert darauf legen, daß auch einmal Tacheles geredet
wird in einer Sache, die von großen Organisationen
beherrscht wird, bei denen offensichtlich viele nicht mehr wagen, den Mund aufzumachen.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Aus heiterem Himmel sind wir mit dieser Debatte beglückt worden.
({0})
Es gibt keinen sachlichen, wohl aber einen politischen Grund: Der Bundesarbeitsminister macht sich Sorgen um das Abschneiden seiner Partei, der CDU, bei der Kommunalwahl am Sonntag in Nordrhein-Westfalen.
({1})
Daß er berechtigte Sorgen hat, liegt nicht zuletzt an seiner eigenen Politik. Deshalb können die Umfrageergebnisse für ihn und seine Partei auch nicht besser sein, als sie sind, und sie sind wahrlich bescheiden, wie jedermann weiß.
({2})
Deshalb heißt die Parole des Bundesarbeitsministers: noch einmal ein möglichst großes Rad drehen, noch einmal auf die Torwand schießen, selbst auf die Gefahr hin, daß er wieder einmal keinen Treffer landet.
({3})
Meine Damen und Herren, wenn Regierungserklärungen dieses Niveau erreichen, braucht sich niemand zu wundern, daß sich große Teile von dieser Art parlamentarischer Gestaltung abwenden.
({4})
Die angekündigte Regierungserklärung zur Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik degenerierte zum rhetorischen Geschwafel.
({5})
Überschrift: Blüms Kampf gegen den Sozialismus - zu Wasser, auf dem Lande und in der Luft.
({6})
Das gleiche Gebräu vor jeder Wahl!
In der Sache hat die Bundesregierung nichts Neues zu bieten. Daß die Koalition auch in dieser Debatte ein Zerrbild der Wirklichkeit entwirft, Wichtiges einfach wegläßt, ist auch nicht neu. Kein einziges Wort zum Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettovolkseinkommen. Herr Blüm, warum sagen Sie nicht, wenn Sie eine Regierungserklärung abgeben,
({7})
daß der Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettovolkseinkommen von 66,3 % um 9,1 % auf 57,2 % im vergangenen Jahr gesunken ist? Warum sagen Sie nicht, daß das der niedrigste Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettovolkseinkommen seit 1950 ist?
({8})
Meine Damen und Herren, kein Wort, kein einziges Wort zum Anstieg der Zahl der Menschen, die laufend Sozialhilfe zum Lebensunterhalt beziehen. Warum verschweigen Sie, Herr Blüm, daß die Zahl der Menschen, die laufend Sozialhilfe zum Lebensunterhalt beziehen, seit Ihrer Amtszeit um 820 000 Menschen gestiegen ist? Warum verschweigen Sie das?
({9})
Dementsprechend sind im gleichen Zeitraum auch die Sozialhilfeaufwendungen der Gemeinden gestiegen. Herr Blüm, für das Jahr 1988 werden die Aufwendungen auf mehr als 28 Milliarden DM geschätzt. Warum verschweigen Sie das?
Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben die Arbeitsförderung in diesem Jahr massiv abgebaut. Ohne Ihre Einschnitte in die Arbeitsförderung gäbe es heute weniger Arbeitslose. Das ist Ihr „Verdienst". Es gibt fast 24 000 Beschäftigte in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen weniger als vor einem Jahr. Es gab in den ersten acht Monaten dieses Jahres, Herr Blüm, 72 000 Eintritte in Qualifizierungsmaßnahmen weniger als im vergleichbaren Zeitraum des Vorjahres,
({10})
allein 52 000 weniger Eintritte von Arbeitnehmern, die vorher arbeitslos waren.
({11})
Diesen Mitbürgerinnen und Mitbürgern haben Sie die Chance auf Integration im Arbeitsleben genommen.
Sie rühmen sich Ihres Programms zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Allerdings ist das bisher kaum mehr als eine Alibiveranstaltung. Sage und schreibe 5 000 Langzeitarbeitslose haben die Arbeitsämter bisher unterbringen können.
({12})
Das heißt doch, die Bundesregierung ist zehn große Schritte zurückgegangen und ist nun dabei, wieder einen kleinen Schritt nach vorne zu gehen. 1,8 Milliarden DM haben Sie der Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr mit der neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz und der globalen Haushaltskürzung entzogen. Ganze 116 Millionen DM haben Sie zurückgegeben. Auch im nächsten Jahr ist das, was Sie über Lohnkostenzuschüsse auswerfen, nicht vielmehr als die Hälfte der durch die AFG-Kürzung entzogenen Mittel. Herr Blüm hat dem Bundesfinanzminister ein glänzendes Geschäft zu Lasten der Arbeitslosen besorgt. Das ist die Realität.
({13})
Meine Damen und Herren: Die Bundesregierung instrumentalisiert die Flüchtlinge aus der DDR. Das ist schlechter politischer Stil.
({14})
Die gedankliche Verknüpfung soll heißen: Wer hier arbeitslos ist, sei selber schuld. Das ist es, was an und für sich übergebracht werden soll.
Meine Damen und Herren, daß 20 000 gut ausgebildete junge Menschen bessere Chance haben als die mehr als 2 Millionen Arbeitslosen, ist doch kein Wunder. In der Wochenzeitung „Die Zeit" - Sie haben sie zitiert; nun zitiere auch ich sie - konnte man am 15. September folgendes lesen:
90 Prozent der Ankömmlinge sind Facharbeiter. 7 Prozent haben einen Hochschulabschluß, und nur 3 Prozent können keine Berufsausbildung vorweisen. 72 Prozent der Flüchtlinge sind zwischen 20 und 30 Jahre alt. Die Zahlen belegen: Es sind die Leistungsfähigsten, die der DDR den Rücken kehren.
Meine Damen und Herren, die Arbeitslosen können da nicht mithalten. Fast 50 % haben überhaupt keine Berufsausbildung. 42 % sind älter als 40 Jahre. 800 000 sind länger als ein Jahr arbeitslos, mit den bekannten Folgen, auch was die beruflichen Fähigkeiten angeht. Fast jeder vierte Arbeitslose hat gesundheitliche Probleme. Jeder sechzehnte ist schwerbehindert.
Da finden - technisch gesagt - Verdrängungsprozesse statt. Die Leistungsfähigsten überholen die, die schon lange warten. Wie kann man, wie Sie, Herr Blüm, das tun, das daraus resultierende Potential an gesellschaftlichen Konflikten auch noch schüren? Das ist im höchsten Maße verantwortungslos.
({15})
Herr Blüm, ich sage diesen Satz ganz ernst: Überlegen Sie bitte, ob Sie damit nicht auch Radikalen in die Hände arbeiten.
({16})
Ich füge hinzu: Nur durch Schaffung von Arbeitsplätzen und eine gewaltige Steigerung der Qualifizierungsmaßnahmen kann das Konfliktpotential entschärft werden. Darauf hat die Bundesregierung keinerlei Antwort.
Sie verdrängen, daß Ende August 1989 über 106 000 Aussiedler und rund 32 000 Übersiedler bei den Arbeitsämtern arbeitslos gemeldet waren. Bald 100 000 Aussiedler sind in Deutsch-Sprachlehrgängen der Arbeitsämter. Nach diesen Lehrgängen sind Qualifizierungsmaßnahmen notwendig. Sonst droht Arbeitslosigkeit. Aber für solche Qualifizierungsmaßnahmen werden keine Mittel bereitgestellt.
({17})
Der Vorstand der Bundesanstalt für Arbeit hat in der letzten Woche darauf hingewiesen, „daß sich die Integrationsaufwendungen der Arbeitsämter für Aus- und Übersiedler als Folge des großen Zustroms im nächsten Jahr auf annähernd 6 Milliarden DM belaufen werden. Allein die Sprachförderung, die der Vorstand nicht als eine arbeitsmarktpolitische, sondern eher als
eine politische Aufgabe ansieht, für die die gesamte Gesellschaft eintreten müsse, erfordere etwa 2,9 Milliarden DM" . Gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind aus Steuermitteln zu finanzieren, nicht aus Beitragsmitteln der Versicherten zur Bundesanstalt.
({18})
Ich erinnere erneut daran: Der Bund muß endlich seiner eigenen Verantwortung gerecht werden. Schöne Worte reichen nicht. Die Integrationslasten durch Aus- und Übersiedler dürfen nicht weiter die Beitragszahler belasten, nicht länger zu Lasten von Qualifizierungsmaßnahmen gehen.
({19})
Die gute Konjunktur, meine Damen und Herren, kommt auf dem Arbeitsmarkt nur in geringem Umfang an. Wann, wenn nicht in der Zeit der Hochkonjunktur, soll die Massenarbeitslosigkeit eigentlich wirksam abgebaut werden? Die Zahl der Arbeitsplätze ist in der Tat gestiegen, nicht zuletzt wegen der von den Gewerkschaften erkämpften Arbeitszeitverkürzung.
({20})
Das, was Sie als Ihren Erfolg ausweisen, haben andere, z. B. die Gewerkschaften, gegen Ihren erbitterten Widerstand zustande gebracht. Sie schmücken sich, so gesehen, mit fremden Federn und wollen zu allem Überfluß die nächsten Tarifverträge schon im Vorwege zensieren. Ich sage Ihnen: Weder Arbeitgeberverbände noch Gewerkschaften haben Ihren Rat erbeten. Warum eigentlich auch?
({21})
Was Sie machen, ist ein lupenreiner Angriff auf die im Grundgesetz verankterte Tarifautonomie, eine der Säulen des demokratischen Sozialstaates. Die Tarifautonomie hat sich in Jahrzehnten bewährt. Das ist Ihnen offensichtlich entgangen. Seit 1949 haben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände 230 000 Tarifverträge abgeschlossen. Über 30 000 Tarifverträge sind zur Zeit gültig. Ich sage Ihnen: Statt den Handelnden der Tarifautonomie dankbar zu sein, trampeln sie auf ihnen herum. Das wird die SPD nicht unwidersprochen hinnehmen.
({22})
Arbeitszeitverkürzung ist als Instrument der Beschäftigungspolitik unverzichtbar, sorgt für gerechtere Verteilung der Arbeit. Angesichts von zwei Millionen Arbeitslosen kann man auf dieses Instrument nicht verzichten.
Sie haben die Qualifizierungsmaßnahmen massiv abgebaut und beklagen heute den Fachkräftemangel. In der Tat - ich will wiederholen, was ich vor drei Wochen während der Haushaltsdebatte gesagt habe -:
Ein Ausbau der Qualifizierung ist zur Vorbereitung auf den nach 1992 beginnenden EG-Binnenmarkt unverzichtbar. Die Bundesrepublik ist wie kein zweites Land vom Export abhängig. Unsere Wettbewerbsvorteile liegen dabei nicht auf
dem Gebiet der billigen Massenproduktion, sondern in der Fertigung hochwertiger Spitzenprodukte durch hochqualifizierte und entsprechend bezahlte Arbeitskräfte. Sie sichern der deutschen Industrie die Chancen im Innovations- und Qualitätswettbewerb. Dies ist der eigentliche Standortvorteil,
- der Bundesrepublik Deutschland der nur durch den Ausbau der Qualifizierungsmaßnahmen gesichert werden kann.
({23})
Gewerkschaften und Arbeitgeber unterstreichen die Notwendigkeit zum Ausbau von Qualifizierungsmaßnahmen. In Betriebs- und Tarifvereinbarungen gibt es praktische Schritte zur Umsetzung; das wird sich weiter ausbreiten.
Unter dem Strich nützt das allerdings nichts, wenn gleichzeitig die Arbeitsmarktpolitik gegensteuert, die Bemühungen der Tarifvertragsparteien negativ überholt. Es gibt viel zuwenig vorausschauende Personal-und Qualifizierungspolitik, aber viel zuviel Geschrei, daß das örtliche Arbeitsamt einen bestimmten Spezialisten gerade nicht sofort im Angebot habe.
({24})
Die Bundesregierung brüstet sich mit geschätzten Erwerbstätigenzahlen, von denen sie selber nicht weiß, was davon normale Arbeitsverhältnisse mit ordentlicher Entlohnung und ohne Befristung sind. Alles wird eingerechnet: ungeschützte Teilzeitarbeit unterhalb der sogenannten Geringfügigkeitsgrenze, befristete Beschäftigung ohne sachlichen Grund bis zur Arbeit auf Abruf. Auch die Zahl selbständiger und mithelfender Familienangehöriger wird zugerechnet, unabhängig davon, ob es sich um sogenannte Kümmerexistenzen handelt.
Allein die regierungsamtliche Zahl von 2,3 Millionen Beschäftigungsverhältnissen bis zu einem Monatseinkommen von 450 DM macht deutlich, daß die Hurra-Zahlen der Bundesregierung bei Licht besehen auf ein Minimum an Beschäftigungszuwachs schrumpfen.
({25})
Das Institut der Deutschen Wirtschaft bestätigt dies in seinen Veröffentlichungen: Die Zahl der Erwerbstätigen hat im Jahr 1988 nicht einmal den Stand des Jahres 1980 erreicht.
({26})
Nun beruft sich die Bundesregierung auf den Zeitraum seit 1983.
Ich will das wiederholen: Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung - eine Unterabteilung der Bundesanstalt für Arbeit, diese eine nachgeordnete Behörde des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung, wohl unverdächtig von einem Sozialdemokraten zu zitieren - sagt:
Längere Berechnungen zeigen, das Arbeitsvolumen ist nicht gestiegen; mehr Arbeitsplätze sind auf tarifliche Arbeitszeitverkürzungen und auf mehr Teilzeitarbeit zurückzuführen.
({27})
Die Zahl offener Stellen wird freihändig hochgerechnet. Da wird viel heiße Luft produziert; das merken die Arbeitsämter immer dann, wenn konkret nachgefaßt wird.
Die Arbeitslosenstatistik wurde und wird manipuliert. Weit über 100 000 ältere Arbeitslose und Nichtleistungsempfänger sind einfach ausgebucht worden. An der Statistikmanipulation wird weiter fleißig gearbeitet. Die Bundesregierung macht sich zur Zeit in den Niederlanden schlau; sie will endlich weg von den Zahlen, die die Arbeitsämter melden. Sie will, so hört man, Haustürbefragungen, damit derjenige, der im Untersuchungszeitraum auch nur eine Stunde gearbeitet hat, nicht mehr als Arbeitsloser ausgewiesen wird. Ich komme zu dem Schluß: Ihr vorrangiges Interesse gilt dem Kampf gegen die Statistik, er gilt nicht dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.
({28})
Immer wieder neu heißt es, die Zumutbarkeitskriterien müßten verschärft werden, der zeitweilige Ausbildungsschutz müsse weg und, man höre und staune, nur 2,5stündige tägliche Wegezeit sei auch viel zuwenig.
({29})
Arbeitslose, die ohne weitere Qualifikation nicht vermittelbar sind, sollen aus der Statistik verschwinden; mit schöner Regelmäßigkeit kommen Regierungsabgeordnete mit diesem Stammtischgeschwafel.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Nach den Regeln von Graf Lambsdorff selbstverständlich.
Die Regeln bestimme zwar ich, aber selbstverständlich werde ich das gleich bestimmen.
({0})
Das habe auch ich eigentlich so gedacht. - Herr Dreßler, würden Sie mir bitte einmal sagen, wie Sie in das von Ihnen gezeichnete Bild des Arbeitsmarktes, der Arbeitsmarktstatistik usw. die Tatsache einordnen, daß Wochenende für Wochenende unsere Zeitungen voll von Stellenanzeigen sind, in denen fachlich ausgebildete Arbeitskräfte gesucht werden?
Graf Lambsdorff, ich habe bereits Ende der 70er Jahre - ich will nicht sagen: hellseherisch - , aber auch Anfang der 80er Jahre, als wir noch gemeinsam eine Regierung getragen haben, darauf hingewiesen, daß sich die mangelnde innerbetriebliche Ausbildungsquantität und das Zurückdrängen von Auszubildenden in den Jahren 1978 bis 1985/86
Ende dieses Jahrzehnts bitter rächen werden, und ich habe das oft wiederholt.
Zweiter Punkt. Die Anzeigen in den Zeitungen sind den Arbeitsämtern partiell nicht gemeldet worden. Daraus machen Vertreter der Regierungskoalition einen Aufruf, daß der Sinn des Quasi-Monopols der Bundesanstalt für Arbeit überholt sei. Ich halte das für eine, wenn Sie so wollen, konzertierte Aktion, um das Monopol zu kippen. Wenn nämlich den Arbeitsämtern alle offenen Stellen gemeldet würden und wenn die Unternehmer nicht Vermittelbare, die auch heute hier vom Arbeitsminister als Menschen charakterisiert wurden, die angeblich nicht wollten, mit einem Vermerk in den Listen der Arbeitsämter entsprechend würdigen würden, wären sie nicht mehr in Blüms Statistik. Ich fordere Sie also auf: Lassen Sie uns gemeinsam, alle im Bundestag vertretenen Parteien, die Unternehmer endlich dazu bringen, daß sie mit der Bundesanstalt für Arbeit auf der Grundlage des Gesetzes die Arbeitslosenstatistik einerseits und die Vermittlungsbemühungen andererseits verstärken.
({0})
Dies veranlaßt Graf Lambsdorff, noch einmal nachzufragen. Ich nehme an, daß Sie nichts dagegen haben.
Natürlich nicht.
Herr Kollege Dreßler, darf ich - abgesehen von der Tatsache, daß ich den letzten Punkt mit Ihnen voll teile und einer Ermahnung eigentlich nicht bedarf, weil ich das unentwegt tue - aus Ihrer Antwort den Schluß ziehen, daß die Unternehmen und die Unternehmer lieber Geld für teure Stellenanzeigen ausgeben, anstatt die kostenlose Vermittlung der Bundesanstalt in Anspruch zu nehmen?
Das ist zum Teil zweifellos richtig, weil die höchstqualifizierten Arbeitskräfte, nach denen in Anzeigen gesucht wird, auf dem Arbeitsmarkt, den wir zur Zeit in der Bundesrepublik haben, natürlich nicht zu finden sind. Das ist völlig klar. Das hat nie jemand bestritten, Graf Lambsdorff. Das ist völlig zweifelsfrei. Das war übrigens zu Zeiten der Vollbeschäftigung schon so. Sie finden sie so und so nicht.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß und sage: Es war für mich bemerkenswert, daß die Bundesregierung mit relativ schlechten Karten auf dem Gebiet der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik diese Debatte beantragt hat. Das ist für mich entweder der Mut der Verzweiflung, oder es ist ein gewisser Ausdruck einer Bunkermentalität, Ausfluß der Tatsache, daß Teile der Bundesregierung bestimmte Wirklichkeiten der Bundesrepublik Deutschland nicht mehr wahrnehmen.
Bei den vergangenen Wahlen hat die Bundesregierung die Quittung dafür bekommen. Meine Prognose ist: So wird es auch am kommenden Sonntag sein, und ich finde: zu Recht.
({0})
Schönen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Hauser ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich verstehe sehr gut, daß es der SPD peinlich ist, daß hier heute morgen die Entwicklung unserer Wirtschaft und auch unseres Arbeitsmarktes einmal in aller Deutlichkeit dargestellt werden soll. Herr Kollege Dreßler, wenn Sie in Richtung auf den Bundesarbeitsminister von „Geschwafel" gesprochen haben, dann empfehle ich Ihnen, Ihre Ausführungen einmal auf diese Vokabel hin zu betrachten, ob das, was Sie alles von sich gegeben haben, nicht sehr viel mehr das Prädikat „Geschwafel" verdient als das, was hier im übrigen gesagt worden ist.
({0})
Ich muß allerdings hinzufügen: Meine Damen und Herren, wenn ich höre, was hier an Weisheiten über die Situation am Arbeitsmarkt verbreitet wird, dann habe ich den Eindruck, daß diejenigen, die das vortragen, sich überhaupt noch nie wirklich um die Sachverhalte am Arbeitsmarkt gekümmert haben, und dann habe ich den Eindruck, Herr Minister Heinemann, daß Sie noch nie in einem Unternehmen Ihres Landes Nordrhein-Westfalen gewesen sind, um sich dort entweder mit einem Handwerksmeister oder auch dem Personalchef eines größeren Unternehmens zu unterhalten und sich von dem einmal sagen zu lassen, wie die Verhältnisse vor Ort tatsächlich aussehen. Das, was Ihnen Ihre Referenten ins Manuskript geschrieben haben, entbehrt jeder Grundlage und beruht nicht auf wahren Sachverhalten.
({1})
Meine Damen und Herren, daß das hier für Sie alles peinlich ist, verstehe ich sehr wohl, beispielsweise wenn das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin - ein Institut, das ja nicht gerade der derzeitigen Regierungskoalition nahesteht - noch am 21. September gesagt hat, daß wir einen Boom ohne Inflation hätten und daß die wirtschaftliche Lage in diesem Jahr so günstig wie noch nie in diesem Jahrzehnt sei.
Wenn ich das jetzt, meine Damen und Herren von der SPD, in Relation setze zu dem, was der Kollege Roth in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren erklärt hat, dann ist das ein Unterschied wie Feuer und Wasser. Herr Roth hat z. B. gesagt, die Wirtschaftspolitik sei von zwanghaftem, realitätsfernem Optimismus gekennzeichnet, der durch nichts begründet sei. Er hat dann empfohlen, rechtzeitig die Vorsorge für den Konjunkturabschwung zu treffen. Ich entsinne mich auch noch deutlich, daß der Kollege Roth, als wir hier über den Jahreswirtschaftsbericht sprachen, darauf hinwies, daß die Ergebnisse, die im Jahreswirtschaftsbericht prognostiziert wurden, nur zu erreichen seien, wenn wir in der Wirtschaftspolitik total umsteuern. Er hat auch schon früher gesagt: Ein Aufschwung ohne Kraft geht zu Ende.
Da ist es natürlich sehr verständlich, wenn es Ihnen außerordentlich peinlich ist, daß wir heute morgen darauf aufmerksam machen können, daß die Prognosen des Jahreswirtschaftsberichts nicht nur eingehalten, sondern wahrscheinlich deutlich übertroffen werden, daß wir mit den Zuwachsraten des ersten Halbjahres 1989 mit 4,6 % eine Entwicklung verzeichnen können, die wir 13 Jahre nicht mehr hatten, und wir daher mit Sicherheit davon ausgehen können, daß die Erwartungen des Jahreswirtschaftsberichts übertroffen werden.
Meine Damen und Herren, es ist doch nicht zu bestreiten - da führt auch kein noch so kunstvolles Rechenkunststückchen, wie Sie es heute morgen hier vorgeführt haben, daran vorbei - , daß wir mit mehr als 27,7 Millionen Beschäftigten den höchsten Stand haben, den wir je in der Bundesrepublik registrieren konnten, und daß die Zahl der Arbeitsplätze um etwa 1,3 Millionen ausgeweitet worden ist.
Meine Damen und Herren, ich bitte allerdings, sehr darauf zu achten, wo diese Arbeitsplätze entstanden sind. Sie sind nämlich nicht in den von Ihnen so oft gehätschelten Großunternehmen entstanden, sondern in den vielen kleinen und mittleren Betrieben in unserem Lande, während in den Großbetrieben die Arbeitsplätze reduziert wurden. Das heißt, diese Entwicklung am Arbeitsmarkt, diese Entwicklung unserer Volkswirtschaft ist weitgehend das Verdienst des Mittelstandes in der Bundesrepublik Deutschland.
({2})
- Nein, die Landesregierung Nordrhein-Westfalen hat aus ihrer eigenen Kraft zu dieser ganzen Entwicklung gar nichts beigetragen. Wenn Sie diesen Zwischenruf hier schon machen, will ich Ihnen sagen: Das ZIM, das ZIP, das ZIN und wie alle diese Programme heißen, die in Nordrhein-Westfalen kreiert worden sind, ist in Wirklichkeit die Weitergabe von Geldern, die hier im Deutschen Bundestag beschlossen und an das Land Nordrhein-Westfalen transferiert worden sind.
({3})
Der Ministerpräsident schickt jede Woche Briefe in die Landschaft und brüstet sich mit Leistungen, die er überhaupt nicht finanziert. Er lebt von dem Geld, daß die Bundesregierung für die Strukturhilfe des Landes Nordrhein-Westfalen zur Verfügung stellt. Das ist die Realität - und nicht das, was Sie uns hier alles vorerzählen.
({4})
Meine Damen und Herren, wenn wir von dem Arbeitsmarkt sprechen - der Kollege Dreßler hat soeben einige Beispiele gebracht - , dann bitte ich, sich auch hier einmal wirklich vor Ort umzusehen. Die Frage, ob qualifizierte Arbeitskräfte am Markt zu finden sind, ist nicht nur eine Frage besonders herausragender Positionen, sondern ist mittlerweile ein Problem, das sich quer durch die gesamten Unternehmen zieht.
({5})
Hauser ({6})
- Entschuldigen Sie, ich will Ihnen jetzt einmal etwas sagen: Eine Bäckerei und eine Konditorei sind, weiß Gott, keine Betriebe mit High-Tech-Berufen. Wenn ich aber ein halbes Jahr brauche, um einen qualifizierten Konditor zu finden, dann ist das Problem nicht nur, besonders qualifizierte Arbeitskräfte am Markt zu finden, sondern dann ist das ein Sachverhalt, der quer durch alle Branchen geht und wo alle Betriebe gleichermaßen das Problem haben, vernünftige, qualifizierte, arbeitswillige Arbeitskräfte zu finden.
({7})
Deswegen werden die Leute, die aus der DDR in die Bundesrepublik kommen, in allerkürzester Frist in Arbeitsplätze vermittelt; denn sie sind motiviert und bereit, Arbeit zu übernehmen.
({8})
- Als Sie nach Staatsprogrammen suchten und riefen, haben wir Lehrlinge ausgebildet in Größenordnungen, von denen Sie gar nicht zu träumen wagten.
({9})
Ich finde es schon schofel, daß Sie, wenn der Mittelstand und das Handwerk in den Krisenjahren in dieser Weise Lehrlinge ausgebildet haben, heute so tun, als hätten sie ihre Aufgabe verpaßt. Wir haben damals eine Aufgabe wahrgenommen, die Sie uns gar nicht zugetraut hatten. Sie wollten uns damals mit Fonds und mit allen möglichen Berufsbildungsabgaben konfrontieren.
({10})
Wir haben das freiwillig getan. Wir haben die Lehrlinge ausgebildet und dafür gesorgt, daß die Krise auf dem Ausbildungsmarkt wirklich behoben worden ist.
({11})
Heute werden Tausende von unbesetzten Lehrstellen registriert. Wir finden keine Lehrlinge mehr für diese Ausbildungsplätze. Und Sie fragen dann, warum wir nicht genügend qualifizierte Arbeitskräfte haben! Möglichkeiten, sich qualifizieren zu lassen, sind in Fülle gegeben. Man muß nur den Wunsch und den Willen haben, die Chancen, die hier geboten werden, zu nutzen.
Meine Damen und Herren, wir müssen uns auch darüber klar sein, daß die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in vielen Branchen - ich denke jetzt nicht nur an das Baugewerbe, sondern auch an das verarbeitende Gewerbe der Metallindustrie - bereits zu Betriebsbehinderungen führt, so daß Betriebe an die Grenzen der Kapazität kommen. Von daher kommen wir in eine große Schwierigkeit.
Ich greife jetzt ein Stichwort auf, das hier heute morgen mehrmals gefallen ist: die Langzeitarbeitslosen. Ich bin davon überzeugt, daß im Kreis der Langzeitarbeitslosen noch ein sehr wertvolles Arbeitskräftepotential steckt. Herr Kollege Dreßler, ich bin mit Ihnen der Meinung, daß wir alle miteinander darauf hinwirken sollten, daß die völlig unbegründete Aversion gegen ältere Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen abgebaut wird.
({12})
Ich habe überhaupt kein Verständnis dafür. In Richtung all derer, die auf dem Arbeitsmarkt für die Einstellung von Leuten verantwortlich sind, sage ich ganz generell - Herrn Blüm brauche ich das gar nicht zu sagen; der weiß das besser als Sie - : Es ist nicht zu verantworten, wenn man glaubt, daß Menschen, die das Alter Mitte 40 überschritten haben oder sogar 50 Jahre alt sind, für eine vernünftige Besetzung eines Arbeitsplatzes im Grunde genommen nicht mehr verwendet werden können.
({13})
Diese Menschen haben Lebenserfahrung und Berufserfahrung. Wenn jetzt mit Hilfe der Bundesregierung ein Teil der Kosten für die notwendige Einarbeitungszeit übernommen wird, dann sollten wir alle miteinander dazu beitragen, daß diese Mittel in Anspruch genommen werden, damit diese Leute wieder in Arbeit und Brot kommen. Dann würden wir einen ganz wichtigen Teil der derzeitigen Arbeitsmarkt- und Arbeitslosenproblematik gemeinsam lösen können. Ich halte es für eine wichtige gemeinsame Aufgabe, dies rüberzubringen. Das liegt aber auch daran, daß über lange Zeit der Eindruck erweckt wurde, als könnte man schon im Alter von Mitte 50 aus dem Arbeitsleben ausscheiden. Wenn man zudem einerseits den Vorruhestand propagiert und andererseits sagt, man müsse länger arbeiten, paßt das auch irgendwo nicht mehr zusammen. Es wird dann eine Mentalität entwickelt, die es sehr viel schwieriger macht, ältere Leute später wieder in den Arbeitsprozeß einzugliedern. Ich halte diese Aufgabe aber für unverzichtbar. Wir müssen uns ihr gemeinsam widmen.
Vielen Dank.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Der Arbeitsminister Blüm wollte heute morgen Wahlkampf für NRW betreiben. Er mißbrauchte dazu eine Regierungserklärung. In Ermangelung einer eigenen Perspektive für Nordrhein-Westfalen schimpfte er statt dessen auf den Realsozialismus, was wahrlich leichtfällt.
({0})
Herr Blüm, Sie nehmen die Ursachen der Massenflucht aus der DDR in die Bundesrepublik und die Motive der sich formierenden Oppositionsbewegung in der DDR nicht zur Kenntnis, wenn Sie hier den Eindruck zu erwecken versuchen, als wäre das Wasser auf Ihre eigenen parteipolitischen Mühlen.
({1})
Am vergangenen Wochenende haben sich über 80 Oppositionsgruppen und das „Neue Forum" in der DDR getroffen und einmütig festgestellt, Herr Blüm,
daß sie zwar von dem real existierenden Pseudosozialismus die Schnauze voll haben - was wir GRÜNEN sehr gut verstehen und auch immer unterstützt haben - , daß sie aber dennoch die Einführung kapitalistischer Verhältnisse in die DDR ablehnen.
({2})
Das haben sie deswegen so klar festgestellt, und deswegen fordern sie auch ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger in der DDR zum Bleiben auf, um die DDR von innen heraus zu verändern, Herr Blüm, weil sie die Fakten in der Bundesrepublik kennen, die Sie hier systematisch verschwiegen haben. Es sind folgende Fakten, Herr Blüm, die genannt werden müssen - und die teilweise von den Sozialdemokraten schon genannt worden sind - , weil sie bei der arbeitsmarkt-
und beschäftigungspolitischen Debatte eine entscheidende Rolle spielen: Mindestens 150 000 Erwerbslose sind von Ihnen in den letzten Jahren durch statistische Tricks aus der Statistik gestrichen worden.
({3})
Wenn Sie also unter die Zweimillionengrenze kommen, dann nur durch die Streichung von über 150 000 Erwerbslosen aus der Statistik.
({4})
Die verdeckte Arbeitslosigkeit, die sogenannte stille Reserve, hat seit dem Regierungswechsel 1982 um mindestens eine halbe Million zugenommen. Der Anteil der Langzeiterwerbslosen - Herr Blüm, da tun Sie immer so, als sei Ihnen das Schicksal der Langzeitarbeitslosen ein besonderes Anliegen - an der Erwerbslosigkeit insgesamt hat sich seit 1982 verdoppelt. Inzwischen ist schon jeder dritte und jede dritte Erwerbslose länger als ein Jahr erwerbslos. In den Ruhrgebietsstädten liegt der Anteil der langfristig Erwerbslosen bei über 40 %.
Die Regierung verweist auf den Beschäftigungszuwachs der letzten Jahre. Sie verdrängt aber - darauf hat Herr Dreßler mit Recht hingewiesen - , daß immer mehr unsichere Arbeitsverhältnisse entstanden sind, nicht nur, aber insbesondere auch infolge Ihres Beschäftigungsförderungsgesetzes. Es gibt mehr befristete Arbeit, mehr schlecht bezahlte Teilzeitarbeit und mehr ungeschützte sozialversicherungsfreie Beschäftigung. Nach einer Untersuchung des Wissenschaftszentrums Berlin erfolgt inzwischen jede dritte Neueinstellung mit einem befristeten Arbeitsvertrag.
Insbesondere für das untere Drittel in unserer Gesellschaft hat die materielle Existenzunsicherheit in diesem Jahrzehnt erheblich zugenommen. Dies kommt auch in dem dramatischen Anstieg der Zahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen zum Ausdruck, die gerade offiziell auf 3,3 Millionen geschätzt worden ist. Seit dem Regierungswechsel im Jahre 1982 ist die Zahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen um eine Million angestiegen. Warum sprechen Sie darüber nicht. Sie fühlen sich einer sozialchristlichen Politik verbunden und verschweigen diese Zahlen. Ich sage nur, daß das „Neue Forum" und die 80 Oppositionsgruppen in der DDR diese Zahlen kennen
({5})
und sich deshalb gegen die Einführung des Kapitalismus à la Blüm'scher Art, Lambsdorff scher Art und Haussmann'scher Art in die DDR wehren.
({6})
Es ist bezeichnend für das gesellschaftliche Klima in der Bundesrepublik, daß diese neue Armut und die anhaltende Massenerwerbslosigkeit nicht angeprangert werden. Herr Blüm, diese Zahlen der ansteigenden Massenarmut und Massenerwerbslosigkeit sind nicht der ausschließliche, aber ein ganz wesentlicher Nährboden für das Ansteigen des Rechtsradikalismus. Ihre Politik im Bundesarbeitsministerium und auch die Politik im Bundeswirtschaftsministerium sind politisch mitverantwortlich für das Anwachsen des politischen Nährbodens des Rechtsradikalismus.
({7})
Es gibt Arbeitslosigkeit, Armut und materielle Existenzunsicherheit - insbesondere beim unteren Drittel der Gesellschaft - , während das obere Drittel im Geld schwimmt und die Gewinne der Unternehmer explosionsartig steigen.
Herr Blüm, wenn Sie sich mit dem jetzigen polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki in Warschau hinstellen und sich christlich auf die Schulter klopfend hinausposaunen: Karl Marx ist tot und Jesus lebt, dann kann ich sagen - egal ob man sich Christ nennt oder nicht, das weiß jeder - : Jesus war deswegen so umstritten und angefeindet, weil er sich ganz bewußt auf die Seite der Ärmsten und der Verachteten seiner Gesellschaft geschlagen hat.
({8})
Ihre Politik, Herr Blüm, und die der Bundesregierung bewirkt im Endeffekt genau das Gegenteil. Sie ist unsozial und unchristlich. Wenn Sie sich dafür in Warschau auch noch auf Jesus berufen - egal ob man Christ ist oder nicht - , dann halte ich das für einen zynischen Umgang mit der christlichen Tradition.
({9})
Ich erinnere an die unsozialen Auswirkungen Ihrer Steuerpolitik, die Streichung von Leistungen für Arbeitslose und - auch das werden wir betonen - die Änderung des § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes und damit die Untergrabung und Unterhöhlung der gewerkschaftlichen Streikfähigkeit.
Um das zusammenzufassen, kann ich nur sagen: Herr Blüm, Sie sind nicht der soziale Wohltäter, als der Sie hier erscheinen wollen,
({10})
sondern ein sozialer Brandstifter, der für das Erstarken des Rechtsradikalismus in diesem Land mitverantwortlich ist.
Dieses Jahrzehnt wird in die Geschichte der Bundesrepublik als das des sozialen Rückschritts eingehen, obwohl der Gesamtreichtum der Gesellschaft sehr stark wächst. Nur auf dieses Faktum weisen Sie hin, ohne die Kehrseite der Medaille zu erwähnen.
Das Beispiel Schweden zeigt, wie auf der Grundlage eines sozialstaatlichen Grundkonsenses in der gesamten Gesellschaft Massenarbeitslosigkeit gar nicht entstehen kann.
Aus diesem Grund fordere ich zu einer Art neuem sozialstaatlichem Grundkonsens auf, zu einem sozialstaatlichen Gesellschaftsvertrag, dessen wichtige Punkte ich sogleich darstellen werde.
Zuvor sage ich etwas an die Adresse der Landesregierung NRW. Ich verstehe, daß Herr Heinemann nicht mehr zugegen sein kann. Allerdings wäre es völlig falsch, zu meinen, die berechtigte Kritik von Herrn Heinemann und Herrn Dreßler an die Adresse der Bundesregierung sei zugleich im Umkehrschluß ein Beleg für den Erfolg sozialdemokratischer Politik.
({11})
Konkret: Vor einem Monat, mit Beginn des Schuljahrs in NRW, gab es einen Aufruf Duisburger Lehrerinnen und Lehrer an alle Duisburger Bürgerinnen und Bürger unter Bezugnahme auf die Schulpolitik in NRW. Unter der Überschrift „Wir fühlen uns von den Politikern in NRW verschaukelt" weisen die GEWLehrerinnen und -Lehrer darauf hin, daß sie bei der letzten Tarifrunde bewußt auf Einkommenserhöhungen im Umfang von 5 % auf drei Jahre verzichtet haben, um finanziellen Spielraum für 5 000 Neueinstellungen zu ermöglichen. Statt 5 000 Neueinstellungen, die durch diesen freiwilligen Verzicht möglich gewesen wären, wurden 500 Neueinstellungen vorgenommen. Der Aufruf schließt mit dem lapidaren Satz an die Adresse der NRW-Landesregierung: „Das nennen wir Tarifbetrug. "
Das findet seine Fortsetzung in den nackten Zahlen. Die Ausgaben der NRW-Landesregierung ohne die NRW-Kommunen betrugen 1980 37,5 Milliarden DM und 1988 47,4 Milliarden DM; sie stiegen somit um mehr als 26 %. Die Finanzzuweisungen der NRW-Landesregierung an die NRW-Kommunen sind von 1980 - 14,3 Milliarden DM - bis 1988 - 13,5 Milliarden DM - um 5,6 % geschrumpft, während die eigenen Ausgaben der Landesregierung um mehr als 26 % zugenommen haben. Damit ist die Landesregierung mit der Bundesregierung für den geschmolzenen Finanzspielraum der Kommunen verantwortlich, der ja die entscheidende Grundlage auch für eine kommunale Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik darstellt. Diese Fakten müssen genannt werden, damit hier kein falscher Eindruck entsteht.
({12})
Ich plädiere für einen gesellschaftlichen Grundkonsens, für einen Gesellschaftsvertrag der nächsten Jahre, in dem die Überwindung der Massenerwerbslosigkeit und der Armut als das zentrale gesellschaftspolitische Ziel der gesamten Gesellschaft neben den ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gestellt wird.
({13})
Der zentrale Hebel eines solchen Gesellschaftsvertrags muß es sein, auf die Notwendigkeit drastischer Arbeitszeitverkürzungen hinzuweisen, weil eine drastische Arbeitszeitverkürzung der einzige in der Masse der notwendigen Arbeitsplätze wirksame Hebel ist
({14})
- in der Masse! -, um sinnvolle Arbeit für alle zu schaffen.
({15})
Das sagen wir auch an die Adresse einiger Gewerkschaften, da wir auch im gewerkschaftlichen Bereich weithin eine Gewöhnung an Massenerwerbslosigkeit feststellen. Nehmen wir die Tarifvorschläge, die gerade von Herrn Steinkühler für die anstehende Tarifrunde genannt worden sind. Dort wird die 35-Stunden-Woche als tarifpolitisches Ziel erwähnt - klar -; aber erst an dritter Stelle. An erster Stelle wird die IG Metall mit der Forderung nach Einkommenserhöhungen in die Runde ziehen, an zweiter Stelle mit der Forderung nach einem Umverteilungsausgleich und erst an dritter Stelle mit der Forderung nach Arbeitszeitverkürzung.
Was mir dort fehlt, ist dies: Wenn man einen gesellschaftlichen Grundkonsens und Gesellschaftsvertrag zur Überwindung der Erwerbslosigkeit anstrebt, dann rücken Interessen von de facto mehr als 3 Millionen Erwerbslosen in das Zentrum auch gewerkschaftlicher Arbeitszeitverkürzungspolitik.
({16})
Um das auch auf der Ebene der Instrumente zu erreichen, schlage ich folgendes vor - das ist noch nicht ein Vorschlag der Gesamt-GRÜNEN - , daß in die gewerkschaftlichen Tarifkommissionen
({17})
nennenswert Vertreter und Vertreterinnen von Erwerbsloseninitiativen mit Stimmrecht aufgenommen werden,
({18})
damit auch die Formulierung von gewerkschaftspolitischen Zielen und Tarifzielen unmittelbar die Interessen von Erwerbslosen aufnimmt. Das hätte für die Gewerkschaften in der anstehenden Tarifrunde und bei den anstehenden Arbeitskämpfen einen großen Sinn. Drastische Arbeitszeitverkürzungen werden nur in einem breiten gesellschaftlichen Bündnis von Gewerkschaften, Erwerbsloseninitiativen, Kirchen und politischen Parteien durchgesetzt werden können, die diese Position unterstützen. Sie werden die aktive Unterstützung von über 3 Millionen Erwerbslosen in Arbeitskämpfen auch auf der Straße leichter haben, wenn sie diese Erwerbsloseninitiativen mit Sitz und
Stimme an der Formulierung ihrer tarifpolitischen Ziele beteiligen;
({19})
das nicht in Alibiform. Wenn es so ist, daß 10 % aller Erwerbstätigen erwerbslos sind, dann schlage ich vor, daß Erwerbslose in einer Größenordnung von 20 % an den gewerkschaftlichen Tarifkommissionen beteiligt werden, damit der gesellschaftliche Konsens und das gesellschaftliche Bündnis gegen solche politischen Brunnenvergifter wie Haussmann stärker werden.
({20})
Herr Haussmann, Ich sage es hier noch einmal: Mit Ihrer radikalen Absage an Arbeitszeitverkürzungen geben Sie das wirksamste Instrument zur Überwindung der Erwerbslosigkeit aus der Hand und - auch das sage ich zu Ihnen persönlich - werden Sie genauso wie Herr Blüm für das Erstarken des Rechtsradikalismus in diesem Land verantwortlich.
Danke schön.
({21})
Das Wort hat der Wirtschaftsminister, Helmut Haussmann.
Verehrter Herr Präsident! Verehrte Kollegen und Kolleginnen! Ich begrüße diese Debatte außerordentlich; denn sie bietet die Chance, einiges erneut zu konkretisieren. Es muß ja etwas Unglaubliches passiert sein: Es wird von Anarchie gesprochen, der Bundeskanzler wird gebeten einzugreifen. Im Grunde ist folgendes passiert: Der Bundeswirtschaftsminister hat vor einer pauschalen Arbeitszeitverkürzung gewarnt, weil sie Gift für die Chancen unserer Arbeitnehmer wäre.
({0})
Deshalb, Herr Stratmann, regen Sie sich ab, rüsten Sie bitte verbal ab, und machen Sie Vertreter dieser Koalition nicht für politische Entwicklungen verantwortlich, für die Sie genauso viel Verantwortung haben wie wir!
({1})
Meine Damen und Herren, Liberale brauchen keine Nachhilfe in Tarifautonomie. Friedrich Naumann war einer der ersten, der für Koalitionsfreiheit eingetreten ist. Ich persönlich achte die Tarifautonomie. Aber autonome Tarifentscheidungen vollziehen sich ja nicht im luftleeren Raum. Es gibt auch in der Tarif autonomie keine Rechte ohne Verpflichtungen. Es gibt keine Autonomie ohne Verantwortung. Die Entscheidungen der Tarifpartner haben sich immer noch am Gemeinwohl zu orientieren.
Bei der Entscheidung über eine weitere Wochenarbeitszeitverkürzung in der Bundesrepublik geht es nicht nur um plus oder minus 1 % Lohnerhöhung. Nein, Gewerkschaften und Arbeitgeber treffen hier eine grundlegende Entscheidung, die weit in die Lebenssituation aller Bürger eingreift und die die Wettbewerbssituation unseres Landes entscheidend bestimmt. Deshalb ist jeder Wirtschaftsminister - eigentlich auch jeder Sozialminister - gefordert, auf die Folgen einer so grundlegenden Entscheidung vorher hinzuweisen.
Ich bin es leid, daß die beschäftigungspolitische Debatte in der Bundesrepublik immer nach dem gleichen Ritual abläuft. Der Regierung wird in Sachen Tarifpolitik zunächst der Mund verboten, die Tarifpartner treffen dann Entscheidungen für die Arbeitsplatzbesitzer, und die Regierung wird anschließend für ihre beschäftigungspolitische Untätigkeit angeklagt.
({2})
Dieses Ritual werde ich in Zukunft nicht mitmachen.
({3})
Deshalb warne ich - nicht zum erstenmal, und ich werde das wiederholen - vor den Folgen einer undifferenzierten Arbeitszeitverkürzung.
Meine Damen und Herren, wenn wir hier über Tarifautonomie diskutieren, so darf ich doch einmal die Gegenfrage stellen. Der Deutsche Bundestag hat vor einiger Zeit mit Mehrheit ein Gesetz zur Einführung des Dienstleistungsabends verabschiedet. Die Tarifpartner wollten diese Entscheidung des Parlaments durch Tarifverträge aushebeln.
({4})
Wie stellt sich denn hier die Frage der Tarifautonomie und der politischen Entscheidung? Deshalb warne ich vor einer Vertiefung dieser Debatte.
Ich habe deshalb in Karlsruhe gesagt - und ich wiederhole es - : Die Frage einer pauschalen Arbeitszeitverkürzung kann nicht ohne öffentliche Diskussion in der Bundesrepublik behandelt werden.
({5})
Auch die Tarifpartner haben eine Basis, sie haben Mitglieder. Wer jetzt schon mit Streik droht, wer in der Presse jetzt schon mit prall gefüllten Kriegskassen droht - ({6})
- Beide Seiten. Beide sprechen von prall gefüllten Kriegskassen, Herr Murmann und Herr Steinkühler.
- Deshalb sehe ich der Diskussion an der Basis der Gewerkschaften und der Arbeitgeber mit Gelassenheit entgegen. Ich bin nicht davon überzeugt, daß jeder Facharbeiter, daß jeder Angestellte, daß jeder Monteur, der im Ausland arbeitet, daß jeder Ingenieur eine Arbeitszeitverkürzung will. Diese Entscheidung ist noch nicht gelaufen.
({7})
Ihre Umfrage liegt mir nicht vor, ich kenne aber andere Umfragen, und ich kenne viele Gespräche. Es gibt in der Bundesrepublik viele qualifizierte Arbeitnehmer, die eher an einer Lohnerhöhung, eher an Vereinbarungen über Qualifikationsmaßnahmen interessiert sind als an mehr Freizeit.
({8})
Diese Diskussion muß öffentlich geführt werden, damit am Ende - nicht vorher - Gewerkschaften und Arbeitgeber wissen, was ihre Mitglieder denken.
Das gleiche gilt für die Arbeitgeber. Ich habe den Eindruck, daß eine Reihe von Großkonzernen - vielleicht sogar einige, bei denen Herr Steinkühler im Aufsichtsrat sitzt - die 35-Stunden-Woche längst abgehakt haben nach dem Motto: Wir verringern die Beschäftigung, wir führen mehr Roboter ein, wir investieren mehr in moderne Maschinen und nicht in Menschen. ({9})
So, meine Damen und Herren, darf die Diskussion nicht laufen. Ich glaube, viele kleine und mittlere Betriebe sehen die Sache völlig anders als ihre Kollegen in der Großindustrie. Deshalb muß nicht nur in den Gewerkschaften, sondern auch im Arbeitgeberlager eine kritische Diskussion zur 35-Stunden-Woche stattfinden,
({10})
bevor mit Streik gedroht wird.
Deshalb werde ich weiter offen über folgendes reden: Wer die Arbeitszeit der Menschen immer mehr verkürzt, trägt zu einer immer stärkeren Verdichtung der Arbeit bei. Wenn Herr Dreßler zu Recht sagt, daß viele Menschen heute schon Mitte 50 aus dem Arbeitsleben ausscheiden müssen, dann muß doch die Frage erlaubt sein, ob das nicht mit dem Leistungsdruck zu tun hat,
({11})
indem aus den Menschen die gleiche Leistung in einer immer kürzeren Arbeitszeit herausgequetscht wird.
({12})
Das ist eine Frage, die längst in der Arbeitsmedizin eine ganz große Rolle spielt.
Die zweite Frage ist: Wer die Arbeitszeit der qualifizierten Menschen in der Bundesrepublik verkürzt, schafft keine Arbeit für weniger Qualifizierte. Ganz im Gegenteil, wer die qualifizierten Menschen länger arbeiten läßt, schafft auch Arbeit für weniger qualifizierte Menschen.
Drittens. Es ist schon komisch, einerseits die Überstunden anzuklagen und andererseits die Arbeitszeit zu verkürzen. Meine Damen und Herren, das führt doch zu mehr Überstunden und führt doch nicht zu Einstellungen.
({13})
Der Arbeitsmarkt ist leergefegt.
Herr Minister, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Jens?
Ich gestatte sie, ausnahmsweise.
Herr Minister, werden Sie denn auch weiter öffentlich darüber reden, daß die Frage der Arbeitszeitverkürzung nicht eine Sache der Tarifvertragsparteien ist, sondern daß sich, wie Sie sich sinngemäß ausgedrückt haben, die Politiker darum kümmern müssen? Dies hat nach „Handelsblatt"-Aussagen Ihr Parteivorsitzender als „Ungeschicklichkeit" bezeichnet. Ich frage Sie: Werden Sie auch darüber weiter reden? Glauben Sie nicht, daß die Bundesrepublik Deutschland irgendwann einmal Schaden nimmt, wenn der Bundeswirtschaftsminister dauernd Ungeschicklichkeiten begeht?
Erstens habe ich mich über die Unterstützung meines Parteivorsitzenden in dieser Debatte nun wirklich nicht zu beklagen.
Zweitens zeigt mir die Debatte mit vielen Ingenieuren, mit Facharbeitern, mit Vertretern vieler kleiner und mittlerer Betriebe, daß diese Auseinandersetzung bitter notwendig ist. Deshalb werde ich sie fortführen.
({0})
Eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Graf Lambsdorff?
Bitte schön, Herr Kollege.
({0})
Herr Bundeswirtschaftsminister, können Sie mich vielleicht informieren, ob ich unter Sehstörungen leide oder ob ich richtig sehe, daß der Minister Heinemann Sie angegriffen hat und nunmehr verschwunden ist, ohne das Ende dieser Debatte abzuwarten?
Ich glaube, Sie haben keine Sehstörungen. Herr Heinemann ist leider nicht mehr da, was ich persönlich bedaure.
({0})
Dies, Herr Minister, veranlaßt nun den Abgeordneten Dreßler durch eine Zwischenfrage eine Klarstellung, nehme ich an, vornehmen zu wollen. - Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Herr Bundesminister, würden Sie mir bestätigen, daß ich vor Beginn der Debatte bei Ihnen war und Sie inklusive des Bundesarbeitsministers gefragt habe, ob Sie akzeptieren, daß Herr Heinemann zu dem Zeitpunkt, zu dem er den Raum verlassen hat, gehe, ansonsten nicht in die Debatte eingreifen werde, und Sie dem zugestimmt haben?
({0})
Ich stimme Ihnen zu, daß ich mit Ihnen besprochen habe, daß Herr Heinemann gleich nach Herrn Blüm reden
würde. Aber Sie haben mir nicht gesagt, daß Herr Heinemann dann vor meiner Rede abtritt. Und ich hatte ihn persönlich darum gebeten, daß er mich in seiner Rede nicht angreife, wenn er vorher den Bundestag verlasse.
({0})
Ich mache die ehrenwerten Abgeordneten Lambsdorff und Dreßler darauf aufmerksam, daß Dreiecksfragen in unserer Geschäftsordnung nicht zugelassen sind.
Nachdem ich dies gesagt habe, frage ich den Minister Haussmann, ob er eine weitere Zwischenfrage des Abgeordneten Lambsdorff zuläßt. - Bitte sehr.
({0})
Herr Minister, darf ich Sie darum bitten, daß Sie in Zukunft auch einer so regierungsgläubigen Opposition, wie wir sie haben, empfehlen, auch die anderen Fraktionen von solchen Verabredungen zu unterrichten?
({0})
Das wäre sicher dem Stil des Hauses angemessen gewesen. Aber Herr Dreßler hat mit mir darüber gesprochen, und ich habe Herrn Heinemann gebeten, er solle Angriffe gegen mich unterlassen, wenn er vorher weggehe.
({0})
Meine Damen und Herren, Arbeitszeitverkürzung in der Bundesrepublik findet isoliert statt. Kein anderes Land in der Europäischen Gemeinschaft verkürzt seine Arbeitszeit. Kein anderes Land der Welt verkürzt derzeit seine Arbeitszeit wie die Bundesrepublik Deutschland. In der Bundesrepublik gibt es langen Urlaub, was ich für richtig halte. In der Bundesrepublik gibt es flexible Übergänge im Alter. In der Bundesrepublik gibt es mit die kürzeste Lebensarbeitszeit.
({1})
Ich halte es für fatal, auch noch die Wochenarbeitszeit in einer Situation weiter zu verkürzen, wo immer mehr ältere Menschen in der Bundesrepublik darauf angewiesen sind, daß jüngere Menschen Beitragsleistungen für die Rentenkassen, für die Arbeitslosenversicherungskassen erbringen. Die gleiche Soziallast muß ja mit einer immer kürzeren Wochenarbeitszeit getragen werden.
Meine Damen und Herren, ich sage es hier ganz offen: Ich bin entschieden gegen eine Zweiklassengesellschaft, was die Zeit angeht. Wer verkürzt denn die Arbeitszeit für die Selbständigen? Wer verkürzt denn die Arbeitszeit für die Menschen bei der Bundeswehr? Wer verkürzt denn die Arbeitszeiten für Menschen, die im Außendienst tätig sind? Wer verkürzt denn die Arbeitszeit für Hausfrauen? Irgendwann wird diese Zweiteilung unserer Gesellschaft, ein Teil auf dem Weg zur 35-Stunden-Woche ({2})
nach Herrn Lafontaine sind wir auf dem Weg zur 30Stunden-Woche, die GRÜNEN haben neulich die 25Stunden-Woche in die Debatte eingeführt ({3})
- na gut, dann müssen Sie sich aber beeilen, Herr Lafontaine ist auch schon bei 30 ({4})
- Sie sind schon lange bei 30, früher als Herr Lafontaine - ,
({5})
ein anderer nicht, nicht mehr halten. Es wird keinen Konsens geben, wenn ein Teil der Bevölkerung immer kürzer arbeitet, ein anderer Teil immer länger. Deshalb führe ich diese Debatte sehr grundsätzlich.
Ich finde, es ist noch eine andere Frage angemessen: Wofür wollen wir den Produktivitätsfortschritt unserer Wirtschaft nutzen? Für den forcierten Marsch in die Freizeitgesellschaft, für mehr Qualifizierung, für mehr Umweltschutz oder für die Modernisierung unserer Wirtschaft? Man kann nicht alles gleichzeitig haben: Man kann nicht Spitzenreiter in der Sozialpolitik bleiben; man kann nicht Vorreiter in der Umweltpolitik werden und gleichzeitig immer kürzer arbeiten.
({6})
Deshalb ist diese Diskussion eine politische Diskussion. Am Ende müssen die Tarifpartner entscheiden. Aber sie müssen vorher wissen, was die Menschen in unserer Gesellschaft von einer forcierten Arbeitszeitverkürzung denken.
Sie haben das Thema Schweden angesprochen, das ein sehr gutes Beispiel ist, was die Arbeitszeit angeht. In Schweden herrscht die 40-Stunden-Regelarbeitszeit; in Schweden gibt es sehr viel mehr Teilzeitarbeit; in Schweden gibt es sehr viele betriebsbezogene, individuelle Arbeitszeitmodelle. Die Firma Lux bietet ihren Mitarbeitern 107 verschiedene Arbeitszeitvariationen an. In dieser Richtung herrscht Handlungsbedarf bei uns, und zwar nicht nur bei den Gewerkschaften, sondern auch bei den Betrieben und den Konzernen.
Deshalb will ich am Schluß noch einmal sagen: Ich persönlich achte die Tarifautonomie. Am Schluß müssen die Tarifpartner selber entscheiden.
({7})
Aber sie sollen vorher wissen, was die Politik von ihren Forderungen hält
({8})
und wie die Menschen in den kleinen und mittleren Betrieben darüber denken, die Arbeitszeit immer weiter zu verkürzen.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Rappe.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe ein bißchen die Sorge, daß der Kern der Angelegenheit nach dieser von den Koalitionsparteien inszenierten Wahlveranstaltung verlorengeht, denn bis auf die Sehstörungen von Graf Lambsdorff war das natürlich alles Wahlkampf geklingel. Man wird sehen, was Sie davon am Sonntag in die Scheune fahren.
Aber wir wollen zum Kern kommen. Für uns, Herr Bundeswirtschaftsminister, möchte ich noch einmal auf die Frage kommen, die Sie soeben selber skizziert haben. Ich habe den Auszug aus Ihrer Rede in Karlsruhe beim 77. Landesparteitag vorliegen. Der ganze Inhalt spricht dafür, daß das, was Sie in dem entscheidenden Satz gesagt haben, nicht so nebenbei herausgerutscht ist, sondern das Sie das überlegt und mit voller Absicht festgehalten haben.
Ich will vorweg sagen, Herr Haussmann: Es geht nicht um die Frage, ob sich Politiker überhaupt zu Tariffragen äußern sollen; das haben vor Ihnen auch andere Bundeswirtschaftsminister gemacht. Oftmals empfand ich - oder mehrere von uns in den Tarifvertragsparteien - das wenig hilfreich, egal von wem es kam. Ich halte Ihre Äußerung, nachdem wir Tarif ver-träge mit dreijähriger Laufzeit haben und wissen, was im nächsten Jahr von uns gemeistert werden muß, für - ich will mich gelinde ausdrücken - Öl-ins-FeuerSchütten.
({0})
Das sage ich, weil ich ahne, welche klugen Bemerkungen kommen, wenn es 1990 so weit ist.
Aber nun zu dem entscheidenden Satz, der lautet: „Und deshalb können nicht Funktionäre der Arbeitgeber und der Gewerkschaften diese Frage im nächsten Jahr allein entscheiden."
({1})
Wir möchten wissen, was das „nicht allein entscheiden" bedeutet. Es geht nicht um Propagandageklingel, nicht um Leitartikel, um Reden, um Wahlkampfgetöse, nein, es geht um diesen Kernsatz, den der Bundeswirtschaftsminister in diese Worte kleidet.
({2})
Ich möchte dazu eine zweite Bemerkung machen. Der Bundesarbeitsminister hat hier eine längere Rede gehalten. Herr Bundesarbeitsminister, Sie haben diesen Punkt, um den es seit Tagen geht, mit keinem Wort erwähnt, und Sie haben sich auch nicht distanziert.
({3})
Nach mir wird der Kollege Scharrenbroich sprechen. Es wäre schön, wenn er sich nicht nur in CDA-Veranstaltungen, sondern auch hier distanzierte,
({4})
damit wir klar haben, ob die Regierung insgesamt der Auffassung ist, die der Bundeswirtschaftsminister in die Worte gekleidet hat, „nicht allein" dürften oder sollten die Tarifparteien das machen.
Ich will in aller Klarheit und Ruhe, aber unmißverständlich sagen: Ich bin davon überzeugt, daß Sie die Arbeitszeitverkürzungsdebatte als Vehikel benutzen. Ich bin davon überzeugt: Wenn die Gewerkschaften reine Geldforderungen stellten, dann hätten Sie, da Sie im System anderer Meinung sind, die gleiche Entwicklung aufgezeigt, den gleichen Hinweis auf die Tarifautonomie gegeben; denn andere vor Ihnen haben das ja auch schon in bezug auf Geld gemacht. Das ist nichts Neues.
({5})
Ich will also ganz deutlich festhalten, daß es aus unserer Sicht hier natürlich um eine prinzipiell sehr politische Frage geht. Es geht um eine Verletzung der Verfassung und eine mutwillige Zerstörung der grundsätzlich konsensorientierten Tarifpolitik der Tarifvertragsparteien, der Sozialpartner in diesem Lande. Dies muß beide Seiten treffen. Sie haben ja auch beide Seiten bezüglich der Berechtigung zum freien Spiel bei den Tarifverträgen und der Arbeit der Tarifvertragsparteien angesprochen. Es gehört aber zu den Grundbedingungen der sozialen Marktwirtschaft, dies nicht anzuknabbern. Wenn Sie das nicht zurücknehmen, dann, so denke ich, werden Sie die Frage beantworten, was das „nicht allein machen dürfen" heißt.
Lassen Sie mich jetzt noch ein paar Minuten der Frage des Vehikels für Ihre politische Position, Arbeitszeitverkürzung, zuwenden.
({6})
- Ich möchte nicht; denn die zehn Minuten sind gleich rum.
({7})
- Das ist auch für mich bedauerlich. Man könnte fragen, ob die Zeit angehängt wird.
Mit Sicherheit. Vielleicht ist das ja die Antwort, die Sie erwarten.
Sie hängen also an?
Ja, sicher.
Bitte schön!
Herr Kollege Rappe, da ich Sie außerordentlich schätze und mit Ihnen wiederholt
Gespräche über Tarif- und Arbeitszeitpolitik geführt habe,
({0})
möchte ich Sie noch einmal herzlich fragen, ob Sie in meiner bisherigen Rede nicht zur Kenntnis genommen haben, daß am Schluß eines öffentlichen Meinungsbildungsprozesses die Tarifpartner selbst entscheiden müssen, daß sie aber vorher wissen müssen, wie ihre Mitglieder über eine so prinzipielle Frage denken?
Herr Minister, ich bin Ihnen dankbar, daß Sie diese Frage stellen. Die Kernfrage ist immer noch, ob Sie nicht nur hier, sondern auch vor dem Landesparteitag sagen können: Deshalb können nicht Funktionäre der Arbeitgeber und der Gewerkschaften diese Frage im nächsten Jahr allein entscheiden. - Ich will wissen: Wer denn sonst?
({0})
Der Vorschlag von Herrn Stratmann liegt ja wohl außerhalb jeder denkbaren Möglichkeit. Was heißt also „nicht allein"?
({1})
- Nein. Herr Minister, in aller Ruhe, schön ruhig hintereinander!
({2})
Am Ende, so sagen Sie, sollen die Tarifvertragsparteien den Vertrag unterschreiben. Das ist klar; ich nehme mal an, daß Sie das denken.
({3})
Aber Sie sagen: „Nicht allein entscheiden". Wer soll also außer den beiden Tarifvertragsparteien mitentscheiden? Wer denn sonst?
({4})
Herr Rappe, ich frage Sie nochmals: Haben Sie in meiner Rede, in meiner Antwort soeben nicht zur Kenntnis genommen, daß es nicht - - Rappe ({0}) ({1}): Nein, nein. Genau diesen Satz und dieses Wort haben Sie nämlich nicht benutzt, um das geradezurücken.
({2})
Darum geht es ja gerade, und man muß wissen, was „nicht allein" heißt. Das will ich wissen. Ich will wissen: Wen wollen Sie entsenden?
Herr Rappe, ich habe die Frage, ob Sie nicht zur Kenntnis nehmen wollen, daß ich es für falsch halte, wenn sich zu Beginn eines so wichtigen Meinungsbildungsprozesses die beiden Hauptfunktionäre gegenüberstellen, mit gefüllten
Kriegskassen drohen, statt eine öffentliche Debatte mit ihren Mitgliedern über die Folgen pauschaler Arbeitszeitverkürzung zu führen.
({0})
Am Schluß eines solchen öffentlichen Prozesses müssen natürlich die Tarifvertragsparteien autonom entscheiden.
({1})
Aber sie müssen vorher wissen, welche Folgen dies hat und wie ihre Mitglieder darüber denken.
({2})
Erstens, Herr Bundesminister: Über die gefüllten Kriegskassen müssen wir nicht reden. Das steht heute von Herrn Murmann in der „Bild"-Zeitung. Damit können wir die Frage beiseite legen, wer es geschrieben hat.
Zweitens. Wir kommen hier nicht überein. Wenn Sie unterstellen, daß die Gewerkschaften eine Tarifforderung im geschäftsführenden Hauptvorstand einer Gewerkschaft beschließen, ohne ein Vierteljahr oder ein halbes Jahr vorher die Diskussion in den Vertrauenskörpern und Tarifkommissionen zu führen, dann irren Sie. Das kann es also nicht sein, was Sie meinen. Das gleiche ist bei den Arbeitgeberverbänden der Fall. Es bleibt bei der Kernfrage: Wen wollen Sie entsenden? Herr Stratmann - das ist ja überhaupt eine merkwürdige Mischung - will Arbeitsloseninitiativen entsenden,
({0})
die damit nichts zu tun haben, und Sie wollen irgend jemanden entsenden, den Sie nicht skizzieren. Die Frage bleibt, was das „nicht allein" heißt. Ich bitte Sie, das geradezurücken und klarzumachen. Dann wären wir eine Ecke weiter.
({1})
Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann, Herr Rappe?
Nein, danke.
Nun will ich doch noch ein paar Bemerkungen zu der Frage Arbeitszeitverkürzung machen. Ich bin mit dem Bundeswirtschaftsminister einig darin, daß das eine hochpolitische Frage ist, aber ich will Ihnen sagen, warum sie das auch aus unserer Sicht ist. - Solange diese Bundesregierung eine ernstzunehmende Aktion mit finanz- und wirtschaftspolitischen Mitteln strukturverändernder Art zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und zur Qualifizierung nicht unternimmt, so lange - das sage ich Ihnen politisch und eben nicht nur tarifvertraglich - werden meiner Auffassung nach die Gewerkschaften in dieser sozialen Marktwirtschaft und Gesellschaftsordnung die Frage der Arbeitszeitverkürzung als Hebelarm benutzen, damit in den Betrieben eine funktionelle Wirkung zur Qualifizierung, Weiterbildung und EinstelRappe ({0})
lung entsteht. Die Gewerkschaften - das will ich hinzufügen - haben keine andere Möglichkeit. Wir sind weder Parteiersatz noch Parlamentsersatz. Unser Hebelarm ist die Tarifpolitik.
({1})
Wir werden bei dieser Frage unbeirrbar bleiben.
Wenn Sie nun fast moralische Kategorien in die Debatte werfen, dann möchte ich Ihnen auch dazu in der knappen Zeit kurz etwas sagen. Meine Damen und Herren, wenn Sie diejenigen, die Arbeit haben, danach fragen, was sie gerne möchten, dann sagen die - leider Gottes - immer nur: Geld. Wenn wir nur danach gingen, dann drückte sich der ganze tarifvertragliche Spielraum nur in Geld aus. Ich frage Sie: Wer außer den Gewerkschaften besitzt denn die moralische Qualität, überhaupt durchzusetzen,
({2})
daß der Spielraum zwischen Zeit und Geld aufgeteilt wird? Die Tatsache, daß wir in der Bundesrepublik nicht größere Eruptionen haben, geht doch auf diesen Umstand zurück!
({3})
Es ist schlimm, daß Sie dies als Angriffspunkt für Ihre Auseinandersetzung in dieser Frage nehmen.
({4})
Zum Schluß noch eine Bemerkung: Wenn Sie mehrere Reden, die heute morgen von Ihrer Seite über die Qualifizierung von Arbeitslosen gehalten worden sind, in aller Ruhe nachlesen, dann werden Sie feststellen, daß es intellektuell überheblich und snobistisch ist, wie Sie mit den Menschen, die arbeitslos sind, umgehen und sie im Gegensatz zu allen anderen beurteilen.
({5})
Ich glaube, Sie werden von den Arbeitnehmern in
Nordrhein-Westfalen und von deren Familien am
1. Oktober eine anständige Antwort darauf erhalten.
({6})
Das Wort hat nun Herr Abgeordneter Scharrenbroich.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
Ich erkläre hier für meine Fraktion noch einmal, daß wir Deutsch verstehen, und wir haben auch das verstanden, was der Bundeswirtschaftsminister gesagt hat. Wenn er sagt „Darüber entscheiden allein die Tarifvertragspartner", dann heißt das, daß sie eben allein entscheiden und nicht noch andere mitentscheiden. Also - das hat früher schon der Bundesarbeitsminister klargestellt, das hat der wirtschaftspolitische
Sprecher meiner Fraktion, Wissmann, klargestellt -, es entscheiden die Tarifvertragsparteien.
({1})
Und, Kollege Rappe: Sie würden der Tarifautonomie einen Gefallen tun, wenn Sie endlich einmal das akzeptieren würden, was der Wirtschaftsminister dazu ganz klar gesagt hat.
({2})
Wenn ich sage, über Tarifverträge entscheiden nach dem Grundgesetz nur die Tarifvertragspartner - das ist unsere Auffassung - , dann gilt hier das gleiche, was bei der Gesetzgebung für den Gesetzgeber gilt: Über Gesetze entscheidet nur der Gesetzgeber, was ja auch von keiner Gewerkschaft - auch nicht in den heißen Auseinandersetzungen, die wir hatten - angezweifelt wird. Aber genauso wie die Gewerkschaften nicht selten - sogar öffentlich - Stimmung gegen Regierungspolitik und Gesetzgebung machen - dieses Recht nehmen wir ihnen ja gar nicht - ,
({3})
hat die Politik das Recht - und ich sage: ja, sogar die Pflicht - , vor einer falschen und gefährlichen Tarifpolitik zu warnen.
({4})
Ja, dieses Recht nehmen wir uns heraus! Man kann nicht nur vom Recht auf Arbeit sprechen und uns dann auch noch auf die Anklagebank setzen. Nein, dann reden und diskutieren wir über die Bedingungen für unsere Wirtschaftspolitik auch mit.
({5})
Ja, ich sage: Dafür muß man gegebenenfalls öffentliche Meinung mobilisieren. Und das ist die Frage der Beeinflussung von Tarifpolitik, so wie wir sie hier heute dargelegt haben.
({6})
Meine Damen und Herren, selbst aufgeklärte Sozialdemokraten sehen das ja so ähnlich. Oskar Lafontaine hat in der heißen Phase der Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst
({7})
- und wir sind noch gar nicht in der heißen Phase - gesagt, wie er sich Arbeitszeitverkürzung vorstelle. Dazu kann man ja stehen, wie man will, aber er hat sich in der heißen Phase eingemischt. Das ist etwas ganz anderes als das, was der Wirtschaftsminister gemacht hat. Und auf die Frage des „Spiegel" in dem Streitgespräch mit Hermann Rappe: „Stört Lafontaines Vorstoß die laufenden Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst?" - sagt Lafontaine: Aber wann soll man dann eine solche Diskussion führen? Doch nicht, wenn die Verträge abgeschlossen sind. - Also, das, was der Wirtschaftsminister inhaltlich - auch in seinem Diskussionsbeitrag hier - gemacht hat, ist genau richtig.
Auch ich wiederhole an dieser Stelle die von mir schon früher an die IG Metall gerichtete Aufforderung, ihre Überlegungen hinsichtlich einer pauschalen Wochenarbeitszeitverkürzung jetzt nicht weiter zu verfolgen.
({8})
Die derzeitigen tarifpolitischen Überlegungen der IG Metall gefährden nach meiner Auffassung die erfolgreiche Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung. Eine 35-Stunden-Woche ist jetzt weder im Interesse der Arbeitslosen noch der Beschäftigten. Denn Wochenarbeitszeitverkürzungen führen beim derzeitigen Facharbeitermangel in vielen Regionen und Branchen nur zu mehr Überstunden, zur Arbeitsverdichtung oder zum Wegrationalisieren von Arbeitsplätzen. Das wäre die Folge einer pauschalen Arbeitszeitverkürzung.
({9})
Wir als Politiker sind hier aufgefordert und verpflichtet, dies ganz deutlich zu sagen.
Neben Lohnerhöhungen und vermögenswirksamen Leistungen ist jetzt mehr Flexibilität in der Arbeitszeit bis hin zur Altersteilzeit gefordert. Bei dieser Gelegenheit danke ich der DAG, daß sie bei den Tarifverhandlungen bei den Banken gerade die Altersteilzeit in ihr Forderungspaket aufgenommen hat. Das ist eine menschengerechte Arbeitszeitpolitik, so wie wir sie uns wünschen.
Aber auch eine tarifvertragliche Absicherung der Fort- und Weiterbildung der Arbeitnehmer sollte nach unserer Auffassung Gegenstand der Tarifverhandlungen werden. Die Arbeitnehmer müssen, meine ich, einen tarifvertraglich abgesicherten Anspruch auf die Veredelung ihrer Arbeitskraft - so nenne ich das einmal - haben, damit sie auch im fortgeschrittenen Alter als Fachkräfte begehrt bleiben. Übrigens ist Forbildung auch eine Form von Arbeitszeitverkürzung. Vielleicht sollte man das der IG Metall noch sagen. Wenn man Arbeitszeitverkürzung haben will, dann sollte man sich auf solche Formen konzentrieren, wo der einzelne entscheiden kann, ob er sie in Anspruch nehmen will oder nicht, was bei der Wochenarbeitszeitverkürzung eben nicht der Fall ist.
Sollten die Delegierten des IG-Metall-Kongresses die Zeichen der Zeit nicht erkennen, dann, so meine ich, verlieren die Arbeitnehmer. Dann verliert auch die IG Metall, und zwar Mitglieder. Denn die hoch-qualifizierten Angestellten der neuen technischen Berufe werden eine Tarifpolitik der Unbeweglichkeit mit ihren Beiträgen meiner Ansicht nach nicht unterstützen wollen.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, daß wir damit einiges klargestellt haben. Wir, die Politik, bringen uns durchaus in die Überlegungen zur Tarifpolitik ein.
Aber der eigentliche Anlaß der heutigen Debatte ist, daß heute vor sieben Jahren die Regierung des Weltökonomen Helmut Schmidt in der Agonie lag. Am 30. September hat das konstruktive Mißtrauensvotum hier endlich eine Veränderung, eine Wende herbeigeführt.
({10})
Die Zahlen der Regierungserklärung beweisen, wie erfolgreich die Bundesregierung des Bundeskanzlers Helmut Kohl mit diesem Arbeitsminister ist. Allein der Vergleich der deutschen Arbeitslosenzahlen mit den Zahlen anderer Länder beweist die nationale Leistung der christlich-liberalen Koalition. Wir wissen: Das haben wir nicht allein gemacht. Wir haben die Rahmendaten gesetzt. Deswegen gilt Anerkennung und Dank auch den Unternehmen, den Handwerkern, den Arbeitern, den Gewerkschaften und den Arbeitgeberverbänden. Alles das war nur möglich, weil die christlich-liberale Regierung Vertrauen und Optimismus geweckt hat, während die Sozialdemokraten - auch heute wiederum - an Modellen basteln, wie sie durch Ökosteuern die Energiepreise künstlich in die Höhe jagen können. Die SPD-Bundesgeschäftsführerin, Frau Fuchs, hat dankenswerterweise aufgeklärt, daß es der SPD nicht nur um die Ökologie geht, sondern auch, vielleicht auch in erster Linie, um die Auffüllung der Staatskassen.
({11})
Ich hatte nie Zweifel an dieser Absicht der SPD.
Am eindrucksvollsten sind die vorgetragenen Zahlen in der Regierungserklärung über die Stimmungslage der Bevölkerung. Ich wiederhole: Laut Infas äußern sich jetzt unter Bundeskanzler Helmut Kohl 82 der Bundesbürger „überwiegend zuversichtlich" über die Zukunft der deutschen Wirtschaft. Dagegen äußerten sich 1982 unter Bundeskanzler Helmut Schmidt 63 % der Befragten „beunruhigt" über die politischen Verhältnisse.
({12})
Das ist praktisch die Quintessenz. Deswegen gehen wir den Wahlentscheidungen sehr beruhigt entgegen. Die Resignation ist überwunden. Die reale Kaufkraft des Durchschnittverdieners liegt jetzt um 2 100 DM höher als zu Helmut Schmidts Zeiten. Wir haben den Nachkriegsrekord bei der Zahl der Erwerbstätigen.
Ich möchte zum Schluß, Kollege Dreßler, doch noch auf einige Ihrer Anmerkungen eingehen. Sie haben gesagt, Kollege Dreßler - vielleicht darf ich Ihre Aufmerksamkeit erregen - , mit unsere Politik würden wir den Radikalen in die Hände spielen. Das halte ich für eine provozierende, schlimme Ausführung.
({13})
Wir wissen doch, daß die Radikalen viele wählen, die protestieren wollen. Warum protestieren die denn eigentlich? Sie protestieren, obwohl wir eine phantastische Wirtschafts- und Beschäftigungslage haben. Trotz der guten Lage protestieren sie, weil Sie, die Sozialdemokraten, die Opposition, nicht in der Lage sind, die Leistungen dieser Bundesregierung wenigstens einigermaßen anzuerkennen; Sie wollen alles in Grund und Boden reden.
({14})
Das ist der Grund dafür, daß es so viele Protestwähler gibt, daß wir so viele Radikale haben.
Ich schließe mit der Bemerkung: Wir haben immer noch zu viele Arbeitslose - das braucht uns niemand zu sagen, das wissen wir alle -, aber dadurch, daß die Arbeitsmarktpolitik gegriffen hat, vor allen Dingen durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik, haben wir jetzt die Chancen, durch besondere Programme den Langzeitarbeitslosen zu helfen. Maßnahmen, die sonst versickert wären, werden jetzt zielgerecht die Personengruppe erreichen, die wir damit erreichen wollen.
Herzlichen Dank.
({15})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Frieß.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung hat schon Tradition. Schon immer haben Liberale und Konservative versucht, gemeinsam mit den Unternehmern zugunsten des Profits der Unternehmer Arbeitszeitverkürzung zu verhindern. Am liebsten wäre es ihnen derzeit, wenn sich Löhne und Arbeitszeiten wieder an die Zeit vor 100 Jahren anpassen würden.
({0})
Was Herr Haussmann eben sagte, ist nichts Neues; es ist einfach Altes in neuem Gewand, nur haben sich die Argumente ein bißchen verändert. Früher wurde einmal die Arbeitszeit gegen das Einkommen ausgespielt, dann war Arbeitszeitverkürzung für Erwerbslosigkeit verantwortlich, und jetzt sind mittlerweile die Beschäftigten, die Arbeitszeitverkürzung fordern, schuld an der ganzen Misere der Welt.
Ich will hier ein Zitat von Herrn Haussmann bringen:
Wer die Arbeitszeit verkürzt, sorgt gleichzeitig für die Zwangsstillegung von Wissen und Erfahrung, die nicht nur bei uns, sondern auch in vielen Entwicklungsländern dringend gebraucht würden.
({1})
Diese Aussage bedeutet ja, daß Arbeitszeitverkürzung Wissen verringern würde. Folglich würde das auch heißen, daß die Menschen, die zur Zeit in der Dritten Welt 20 Stunden pro Tag arbeiten, überqualifiziert werden.
({2})
Ich denke, es ist nicht eine Frage der Arbeitszeit, sondern es ist eine Frage von Qualifikation.
Damit sind wir beim Thema Facharbeiter-, vielleicht auch Facharbeiterinnenmangel. Seit Jahren sind die Unternehmer an einer Beschäftigtensituation interessiert, die sich an folgendem Motto orientiert: sowenig Arbeitsplätze, rechtlos, billig und so flexibel wie möglich. Das heißt, neu eingestellt wurde in der letzten Zeit nur durch Zwang, durch Tarifkämpfe und Streiks. Arbeitsverhältnisse nach dem Prinzip des Heuerns und Feuerns wurden nur mit dem größtmöglichen Widerstand teilweise verhindert.
Qualifizierung war ewig lang kein Thema, im Gegenteil: Es wurde immer mehr dequalifiziert. Im letzten Jahrzehnt z. B. wurde Ausbildung insgesamt um fast ein Drittel reduziert. Jetzt heißt es auf einmal: Es sind keine Facharbeiter und Facharbeiterinnen mehr da.
Wer ist denn nach der Logik von Herrn Minister Haussmann, Blüm und Konsorten schuld? Die Erwerbslosen und die Gewerkschaften sind dafür verantwortlich. Und Sie sind wieder aus dem Schneider, denn Sie würden gerne, aber es gibt ja keine Arbeitskräfte.
Doch ich bin Herrn Minister Haussmann an sich ganz dankbar; denn er ist ehrlich. Sie, Herr Haussmann, sagen frank und frei, was Sie wollen, wo viele in der CDU/CSU, aber auch Teile in der SPD sich hinter angeblichen Verbesserungen verstecken. Sie fordern Verzicht von Arbeitszeitverkürzung und weniger Lohn bei Neueinstellungen, was natürlich eindeutig ein Eingreifen in die Tarifautonomie ist. Die CDU/ CSU dagegen hat derzeit gesetzliche Maßnahmen ergriffen - ich erinnere an den § 116 AFG - , die die Rechte der Beschäftigten massiv einschränken und die ebenfalls ein Eingreifen in die Tarifautonomie darstellen.
Genauso, denke ich, ist es bei der SPD. Sie fordern heute eine Debatte über die Äußerungen von Herrn Minister Haussmann, sind empört und regen sich jetzt vor der NRW-Kommunalwahl natürlich besonders auf, und gleichzeitig vertreten viele Teile der SPD - wie auch Lafontaine - Lohnverzicht, Teilzeitarbeit, Flexibilisierung. Sie greifen damit - das wurde auch aus Gewerkschaftskreisen und auch von Ihren eigenen Kollegen angegriffen - natürlich auch in die Tarifautonomie, in die Tarifauseinandersetzung ein.
Ich denke, Herr Minister Haussmann, Sie sagen, was Sie denken. Die anderen heucheln Verbesserungen, meinen aber dasselbe: Zugunsten des bundesdeutschen Kapitals und seiner Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt sollen die Beschäftigten noch mehr ausgebeutet, noch wehrloser, noch angepaßter werden.
Alle, wie Sie hier sitzen, greifen durch ihre Politik in bestimmter Form in die Tarifautonomie ein. Sie nehmen Partei für die Unternehmer und deren Profite und schwächen damit die Gewerkschaften in ihrer Mobilisierungsfähigkeit und Durchsetzungsfähigkeit. Ich finde das ja ganz in Ordnung - das meine ich ehrlich - , denn das ist eben Ihre Position. Auch wir GRÜNEN greifen in diese Diskussion ein, und wir nehmen eindeutig Partei für die Gewerkschaften. Wir unterstützen sie im Kampf um die 35-Stunden-Woche bei Lohnausgleich und sind sogar der Meinung - das hat Herr Haussmann schon gesagt - , daß derzeit schon die 30-Stunden-Woche anstehen müßte.
({3})
Eine tägliche Arbeitszeitverkürzung ist für uns einer der wichtigsten Ansätze zur Umverteilung der bezahlten Arbeit, aber auch der Hausarbeit. Neben den bereits registrierten Erwerbslosen gibt es noch über 2 Millionen erwerbslose Frauen, denen das Recht auf einen gesicherten Arbeitsplatz ständig abgesprochen wird. Wir GRÜNEN fordern folglich besonders für Frauen das Recht auf einen Arbeitsplatz. Wir sind deswegen für Arbeitszeitverkürzung. Wir fordern Arbeitszeitverkürzung ferner als Voraussetzung zur Pflicht zur Hausarbeit für Männer.
({4})
- Ja, Sie könnten auch einmal ein bißchen mehr machen.
In diesem Zusammenhang kritisieren wir natürlich auch die Gewerkschaften. Wir sind der Meinung, daß die Gewerkschaften derzeit viel zu wenig für die Interessen von Frauen, für Quotierung, für die unteren Lohngruppen - das betrifft auch wieder Frauenarbeitsplätze - tun. Dafür werden wir uns einsetzen, und wir werden in die Tarifdebatte eingreifen, und zwar zugunsten der Beschäftigten und vor allem im Interesse der Frauen.
({5})
- Ja, wie Sie auch.
Das Wort hat der Abgeordnete Heinrich.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist zwar müßig, Selbstverständlichkeiten dauernd zu wiederholen, aber da es offensichtlich doch sehr viele Menschen gibt, die Selbstverständlichkeiten einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen, müssen Sie sich einige Wiederholungen gefallen lassen.
Zu diesen Selbstverständlichkeiten gehört für mich z. B. das Bekenntnis zur Tarifautonomie. Das stellt auch von uns niemand in Frage. Wir haben das vorhin sehr deutlich diskutiert. Dieses Bekenntnis zur Tarifautonomie bedeutet jedoch nicht, gleichzeitig auf Kritik und Bewertung des Verhaltens der Tarifparteien zu verzichten. Wir lassen uns jedenfalls weder von Gewerkschaften noch von den Arbeitgeberverbänden einen Maulkorb umbinden.
({0})
Wenn das, was als Ergebnis von Tarifverhandlungen herauskommt, zu Lasten von Wirtschaft und Gesellschaft, vor allem aber zu Lasten der Arbeitslosen geht, dann ist ein Punkt erreicht, an dem ein verantwortlicher Politiker mit seiner Meinung nicht mehr hinter dem Berg halten darf.
({1})
Ich kann es Ihnen daher nicht ersparen, zu wiederholen, daß ich eine Politik der generellen Arbeitszeitverkürzung in der derzeitigen Situation für volkswirtschaftlich unverantwortlich halte. Wer sich in Zeiten, in denen es immer schwieriger wird, zusätzliche qualifizierte Arbeitskräfte zu finden, bereitfindet, auch noch die Arbeitszeit an vorhandenen Arbeitsplätzen zu verkürzen, der schafft keine Beschäftigung, sondern der schafft im Gegenteil Arbeitslosigkeit.
({2})
Wir brauchen keine Arbeitszeitverkürzung, sondern wir brauchen eine Flexibilisierung der Arbeitszeit, um die Arbeitskosten durch eine bessere Auslastung der Kapazitäten niedrig und damit unsere Konkurrenzfähigkeit hochzuhalten. Wir brauchen mehr Arbeitsflexibilisierung, um den Bedürfnissen der Menschen in ihren Familien gerecht zu werden.
({3})
Wir brauchen aber auch größere Anstrengungen der Betriebe zugunsten einer Weiterqualifizierung ihrer Belegschaft, um dem bedrohlich werdenden Mangel an Fachkräften abzuhelfen. Wenn die Arbeitszeitverkürzung zur Schulung und Weiterqualifizierung genutzt wird, so ist dagegen nichts einzuwenden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, die Grundvoraussetzungen für eine weitere nachhaltige Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt sind im wesentlichen gegeben, nämlich Wirtschaftswachstum, Geldwertstabilität und sozialer Frieden. Dies sind Voraussetzungen, um eine möglichst sozial gerechte Gesellschaft zu erreichen. Denn nur was vorher erarbeitet worden ist, kann nachher verteilt werden.
Nach wie vor problematisch ist allerdings die Wirtschaftsstruktur in einigen Regionen der Bundesrepublik Deutschland. Aber das ist jetzt nicht mein Thema, sondern ich möchte noch eine Anmerkung als Sozialpolitiker machen: Wir müssen das Instrumentarium der Arbeitsmarktpolitik ausbauen. Wir brauchen eine bessere Feinsteuerung. Dort, wo positive Ansätze erkennbar sind, müssen die Systeme weiter ausgebaut werden.
Ein positiver Ansatz z. B. ist, daß wir 4 % weniger behinderte Arbeitslose im Vergleich zum vergangenen Jahr haben. Das reicht aber noch nicht, denn 125 000 gemeldete behinderte Arbeitslose sind nach wie vor zuviel.
({4})
Seit Jahren fordern wir, daß die Behindertenquote von 6 % der Beschäftigten von den staatlichen und privaten Arbeitgebern eingehalten werden soll. Leider Gottes bewegt sich in diesem Sektor so gut wie gar nichts. Das reiche Land Baden-Württemberg z. B. ist nach wie vor ein Schlußlicht in dieser Reihe. An Stelle von Einstellungen von Behinderten bezahlt man viel lieber die Ausgleichsabgabe.
Da alle Appelle bisher wenig gebracht haben, müssen wir uns überlegen, ob wir nicht die Ausgleichsabgabe von derzeit 150 DM anheben.
({5})
Damit erreichen wir erstens einen stärkeren Druck auf die öffentlichen und privaten Arbeitgeber, ihren gesetzlichen Verpflichtungen auch nachzukommen, und zweitens, mit den höheren Einnahmen die Entlohnungen der Behinderten in den beschützenden
Werkstätten auf ein angemessenes Niveau zu bringen.
({6})
Wir dürfen die Behinderten von dem gesellschaftlichen Leben außerhalb der Werkstätten nicht völlig ausgrenzen.
({7})
Ihnen muß die Möglichkeit gegeben werden, ihre individuellen und persönlichen Bedürfnisse stärker als bisher aus der eigenen Tasche finanzieren zu können. Auch diese Menschen haben Anspruch darauf, daß ihre Leistung, die durch ihre gesundheitliche und soziale Situation bestimmt ist, angemessen anerkannt wird.
Herzlichen Dank.
({8})
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Herr Abgeordnete Weiermann.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich hätte erwartet, Herr Bundesminister Haussmann, daß Sie heute die Gelegenheit nutzen würden, an dieser Stelle deutlich zu sagen - ({0})
- Wir haben zugehört, und wir haben festgestellt, daß Sie nicht von der Aussage Abstand genommen haben, daß die Tarifvertragsparteien dies nicht allein lösen können. Sie haben hier keine klare Aussage gemacht, wie es Ihnen angestanden hätte und wie es dem Hohen Hause auch gedient hätte. Das will ich an dieser Stelle einmal deutlich sagen.
({1})
Wir kennen das von Ihrer Seite. Wir wissen, daß aus dem Hause Lambsdorff in den letzten Jahren sehr häufig Angriffe auf Arbeitnehmer erfolgt sind. Aber wir können das auch an dieser Stelle ganz deutlich machen. Ich glaube, daß die „Stuttgarter Zeitung" sicherlich ganz richtig liegt, wenn sie von einem Profilierungszwang eines blassen Ministers schreibt. Das stimmt doch wohl auch, meine Damen, meine Herren.
({2})
Arbeitszeitverkürzungen, wie sie von den Gewerkschaften gefordert werden, haben nachweislich positive Beschäftigungswirkung gezeigt. Dies nicht wahrnehmen zu wollen und die Tarifvertragsparteien, die sich auf solche Arbeitszeitverkürzung einigen, gar als „Kartell zur Erzeugung von Arbeitslosigkeit" zu diffamieren,
({3}) ist schlicht gesagt eine Schweinerei.
({4})
Das ist von Ihrem Herrn Lambsdorff vor wenigen Tagen gesagt und in der „Frankfurter Rundschau" so zitiert worden. Das zeugt von einem - lassen Sie mich das an dieser Stelle sagen - ganz erheblich gestörten Verhältnis zur Realität. Dies ist ein Schlag ins Gesicht der Tarifvertragsparteien und unserer ganzen Demokratie, meine Damen und Herren.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter?
Bitte.
Herr Abgeordneter Weiermann, Ihnen ist ja auch bekannt, daß es lohnintensive und weniger lohnintensive Betriebe gibt. Ihnen ist ferner ebenso wie mir bekannt, daß es zumindest in unserer Region weder Hilfs- noch Facharbeiter gibt. Ich frage Sie: Ist es wirklich sinnvoll, in kleineren und mittleren lohnintensiven Betrieben die Arbeitszeit zu verkürzen, Überstunden nicht zu leisten und damit Aufträge nicht zu erfüllen? Schafft das mehr Arbeitsplätze? Wie würden Sie sich als Unternehmer verhalten, wenn Sie vor dieser Problematik stünden?
Natürlich gibt es Unterschiede zwischen den Bereichen, die kapitalintensiv arbeiten, und den Bereichen, die lohnintensiv arbeiten.
({0})
Natürlich gibt es solche Fälle. Nach dem Stand des Jahres 1989 haben aber die Industrie und das Gewerbe insgesamt eine so deutliche Entwicklung genommen, daß eine Zurückführung der Wochenarbeitszeit zu finanzieren ist. Ich beweise das an einer anderen Stelle meiner Rede.
({1})
- Da kann ich an dieser Stelle nur sagen: Es ist eigentlich eine Schweinerei, wenn sich diejenigen, die sich vorher der Ausbildung verweigert haben - nämlich die kleinen und großen Unternehmer -, heute darüber beklagen, daß sie nicht genügend Fachkräfte bekommen.
({2})
- Das ist nicht unmöglich. Das sind Tatsachen.
({3})
Herr Kollege, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?
Nein danke. - Die von Herrn Haussmann attackierte Tarifautonomie ist ein zu hohes Gut, als daß man solche Ausfälle tätigen kann.
({0})
Ich sage an dieser Stelle: Die Tarifautonomie ist ein
unverzichtbares Kernstück unserer sozialen Demokratie und als solches vom Grundgesetz geschützt.
Wer sich daran vergreift, der handelt in diesem Zusammenhang verfassungswidrig.
({1})
Plump und naiv ist der Vorstoß des Ministers nur auf den ersten Blick. Das hat zwar keinen Stil, meine Damen und Herren, aber das hat sicherlich System. Bei genauerer Betrachtung zeigen sich nämlich Parallelen und Verweise, die auf eine langfristige Strategie schließen lassen. Schon vor drei Jahren hat Herr Haussmann - damals noch wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion - den Versuch gemacht, die Tarifautonomie zur Diskussion zu stellen. Allerdings hatte er damit ebensowenig Erfolg wie Bundeskanzler Kohl, der 1984 die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung als „dumm und töricht" abkanzelte. Wir können an dieser Stelle festhalten: Die Aussage des Herrn Bundeskanzlers war dumm und töricht, nicht die Arbeitszeitverkürzung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Cronenberg?
Bitte!
Herr Abgeordneter Weiermann, ich frage Sie: Ist die Kritik an Tarifverträgen im Vorfeld und in der Bewertung demnach ein Angriff auf die Tarifautonomie?
Die Kritik ist zunächst kein Angriff auf die Tarifautonomie. Aber Herr Haussmann hat gesagt, er will diese Tarifautonomie den Tarifvertragsparteien nicht allein überlassen. Das ist der Punkt.
({0})
Die Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland floriert. Das Leistungsbilanzsaldo spricht eine deutliche Sprache. Die Handelsbilanzüberschüsse betrugen im Jahre 1988 128 Milliarden DM, die Leistungsbilanzüberschüsse 85,1 Milliarden DM. Das Bruttosozialprodukt ist von 1982 bis 1988 um 524 Milliarden DM - d. h. um ein Drittel - auf über 2,1 Billionen DM gestiegen.
({1})
Arbeitgeberverbände und die Bundesregierung behaupten, die hohen Lohnkosten bzw. die Lohnnebenkosten seien schuld an der angeblich sinkenden Leistungsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Ein Vergleich der Entwicklung der Bruttostundenverdienste in der Bundesrepublik mit denen in den wichtigsten westlichen Industrieländern sagt hingegen etwas ganz anderes aus. Die Bundesrepublik bildet hier sogar noch nach Japan das Schlußlicht. Die ReallohnStückkosten sind nach einer Berechnung der EG-Kommission seit 1983 rückläufig, mit Ausnahme des Jahres 1987, in dem ein geringfügiger realer Anstieg um 0,6 % verzeichnet werden mußte.
Die Bundesregierung behauptet, mehr Gewinne bedeuteten mehr Investitionen und damit die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze. Ich kann an dieser Stelle sagen: Es fehlt nicht an den materiellen Mitteln zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, sondern der Koalition fehlt der politische Wille, sie zum zentralen Thema ihrer Innenpolitik zu machen. Das ist der Punkt.
({2})
Dahinter steht die Ideologie der Wende. Scheibchenweise hat die Regierungskoalition seit 1983 versucht, die sozialen Errungenschaften zu beschneiden und die Gesellschaft auf ihre Art umzubauen. Das begann gleich nach der Regierungsübernahme mit den ersten Schritten zum Abbau des Sozialsystems und wurde und wird ergänzt durch die Einschnitte bei den Arbeitnehmerrechten.
Ich darf Sie, Herr Blüm, nur an die Folgen der Gesundheitsreform,
({3})
an die Folgen der Leiharbeit und an die Folgen, die auch die Steuerreform erbracht hat, erinnern. Da werden Menschen, die 1 Million DM verdienen, mit 30 000 bis 40 000 DM jährlich steuerlich entlastet, und Rotationsdrucker werden mit 1 000 bis 2 000 DM belastet. Das sind die unsozialen Folgen der Steuerreform.
Ich erinnere an das Betriebsverfassungsgesetz, mit dem die Regierungskoalition versucht, einen Keil in die Arbeitnehmerschaft zu treiben und sie zu spalten.
Ich erinnere an das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz, mit dessen Hilfe die Bundesregierung ein Heer von Arbeitnehmern minderen Rechts geschaffen hat.
({4})
Das geht doch nach dem Motto „heuern und feuern", und es sind nicht mehr Arbeitsplätze geschaffen worden. Es sind mehr befristete Arbeitsplätze geschaffen worden. Der Anteil der unbefristeten Arbeitsplätze ist in diesem Zusammenhang ständig zurückgegangen. Diese Punkte sind traurige Höhepunkte einer Politik der Umverteilung von unten nach oben.
Nun nimmt sich die Bundesregierung wieder einmal - nach einigen gescheiterten Anläufen - des Tarifrechts an. Von Zeit zu Zeit muß wohl ein Probelauf unternommen werden, um die Grenzen auszuloten. Einen solchen hat Minister Haussmann mit seiner Stellungnahme zur Tarifautonomie eben gestartet. Nichts anderes steckt hinter seinen Äußerungen vom vergangenen Wochenende. Meine Damen und Herren, das ist der eigentliche Skandal.
Mittlerweile wird Herr Haussmann - und mit ihm die Regierung - begriffen haben, daß man sich übernommen hat. Aus diesem Widerspruch von tatsächlicher und vermeintlicher Kraft resultiert die Lächerlichkeit, die den Vorstoß des Ministers kennzeichnet und zugleich den Zusammenhang mit der langfristigen Strategie verdeckt. Meine Damen und Herren, Tarifvereinbarungen von Gnaden eines Ministers sind ein Wunschtraum, den diese Regierung noch sehr, sehr lange träumen wird; so lange jedenfalls, wie es Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag gibt.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Linsmeier.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Gestatten Sie mir vorweg auch für die CSU ein ganz klares Wort: An der grundgesetzlich geschützten Tarifautonomie wird nicht gerüttelt. Die Väter der CSU gehören zusammen mit der CDU und mit führenden Persönlichkeiten der FDP zu den Begründern der Marktwirtschaft in diesem Lande. Wir haben keinerlei Nachholbedarf,
({0})
festzustellen und festzuhalten, daß zur Sozialen Marktwirtschaft konstitutiv und integral die Tarifautonomie gehört. Jeder, der hier versucht, Zweifel zu streuen, geht an der Lebenswirklichkeit und an der Grundeinstellung dieser Parteien vorbei.
Natürlich haben auch Bundesminister Haussmann und die Bundesregierung insgesamt nicht die Absicht, die Tarifautonomie aufzulösen.
({1})
Ich würde zumindest darum bitten, daß Sie die Diskussion nicht auf einer formalen Ebene führen, also auf einer Ebene, auf der Sie sich sozusagen philologisch an das Wörtchen „allein" hängen, sondern so führen, wie der Minister vorhin hier aufgetreten ist. Er hat gesagt: Ihr seid zwar allein zuständig, wenn ihr entscheidet;
({2})
ihr dürft natürlich auch allein entscheiden,
({3})
aber wenn ihr entscheidet,
({4})
dann sind die dabei, die noch nicht im Arbeitsprozeß stehen, nämlich die junge Generation, die Arbeitsplätze erwartet; dann sind diejenigen dabei, die fragen, wie viele Investitionen denn den Unternehmen z. B. für den Umweltschutz bleiben, wie viele Mittel dann den Unternehmen für die Qualifizierungsmaßnahmen betriebsinterner Art für die älteren Arbeitslosen verbleiben.
Dann stellt sich doch wirklich eine Frage auch für die Gewerkschaften und die Arbeitgeberseite. Wir haben die höchsten Löhne. Wir haben die höchsten Sozialleistungen. Wir haben die höchsten Spareinlagen. Wir haben die kürzeste Arbeitszeit. Wir haben den längsten Urlaub, wir haben die längsten Staus auf den Autobahnen und den Flughäfen.
({5})
Da stellt sich doch wirklich die Frage: Wie soll denn nun das verteilt werden, was miteinander, von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, unter Führung einer politisch klugen und wirtschaftspolitisch starken Bundesregierung verdient wurde? Diese Frage muß doch gestellt werden dürfen. Die Antwort müssen Gewerkschaften und Arbeitgeber dann für sich selber dabeihaben, und zwar im Herzen und im Verstand, wenn sie in diesem Sinn allein die Entscheidungen treffen.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Grünbeck?
Sehr gern.
Herr Kollege, könnten Sie sich meiner Auffassung anschließen,
({0})
daß es im Augenblick 800 000 offene Stellen gibt, die nicht zu besetzen sind, daß im Grunde genommen der Wirtschaftsminister damit recht hatte, auf die Gesamtverantwortung der Tarifpartner - ohne Einschränkung ihrer Entscheidung - hinzuweisen, und daß im Grunde genommen die Sozialdemokraten mit ihrem Angriff auf diesen Wirtschaftsminister von der eigenen Unfähigkeit ablenken und damit verschleiern, daß sich die Situation durch weitere Arbeitszeitverkürzungen verschärfen würde?
({1})
Herr Kollege Dreßler, ich bedarf Ihrer Aufforderung dazu nicht.
({0})
Können wir fortfahren? Wir haben die Zeit schon weit überschritten.
Ich teile die Auffassung, die Sie soeben in Frageform gekleidet haben. Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß ja nicht nur der Bundeswirtschaftsminister in diesem Zusammenhang Fragen stellt. Auch der Sachverständigenrat sagt zum Thema „Tarifpolitik für den strukturellen Wandel" :
Die Wachstumskräfte zu stärken erfordert eine Tarifpolitik, die den Strukturwandel unterstützt, die Investitionsbereitschaft und die Investitionsneigung fördert und bei der Gestaltung der Arbeitsbedingungen den individuellen Bedürfnis12196
sen der Arbeitnehmer sowie den Erfordernissen der Betriebe gerecht wird.
({0})
Indem sie das Wirtschaftswachstum stärkt und festigt, trägt die Tarifpolitik auch zu einem weiteren vordringlichen Ziel bei: die Beschäftigung zu erhöhen
({1})
und Arbeitslose in den Produktionsprozeß einzugliedern. Die tarifpolitischen Schwerpunkte liegen in einer flexiblen und differenzierenden Arbeitsplatzgestaltung und der Förderung von Qualifizierung und Weiterbildung der Beschäftigten.
Wenn man Tarifautonomie so verstehen wollte, als könnten die Tarifvertragsparteien außerhalb der politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Realitäten stehen und Entscheidungen treffen, würde man sie allerdings fehlinterpretieren. Auch die Tarifvertragsparteien müssen sich der Kritik, dem Rat und dem guten Zureden anderer in dieser Gesellschaft stellen.
({2})
Tarifautonomie ist kein Maulkorberlaß für all diejenigen, die nicht am Tisch sitzen.
({3})
Deshalb lassen wir uns durch eine herausgegriffene Formulierung nicht von der eigentlichen Problematik ablenken. Ich bitte auch Sie, sich so zu verhalten.
({4})
- Ach, ich gebe da die Hoffnung nie auf. Ich halte Menschen grundsätzlich für lernfähig.
Ich will mich hier noch zu einem Thema einklinken, über das vorher gesprochen wurde: die Massenarbeitslosigkeit. Ich muß gestehen, ich komme aus einer Region der Bundesrepublik, nämlich aus dem Großraum München, wo wir bei der Arbeitslosigkeit statistisch zwischen 4 und 6 % liegen, aber immerhin. Ich will Sie einmal darauf aufmerksam machen, wie es mir geht, wenn ich in einer Veranstaltung über „2 Millionen Arbeitslose" rede. Und ich rede darüber, indem ich sage: Es gibt Regionen in der Bundesrepublik, wo das teils traditionell - wie in manchen Bereichen der Oberpfalz - , teils strukturell - wie hier im Lande Nordrhein-Westfalen - sehr problematisch ist. Ich sage dazu, daß ich es für unerträglich halte, jemanden, der 45 oder ein paar Jahre älter ist, der vielleicht ein oder zwei Jahre nicht mehr im Beruf war, abzuqualifizieren und für nicht mehr leistungsfähig zu halten.
({5})
Ich halte diesen Jugendfetischismus der 68er und der folgenden Jahre, als man meinte, Leistungsfähigkeit beginne mit 24 und höre mit 32 Jahren auf, für unerträglich.
({6})
All das halte ich für unerträglich, und das füge ich hinzu. Dann, meine Damen und Herren, stehen in der Versammlung Bürgermeister auf, die sagen: Bei mir am Bauhof brauche ich jemanden, in der Schlosserei, in der Schreinerei, in der Spenglerei oder als Maurer.
({7})
Es kommen aber nicht nur Bürgermeister. Dann kommen die Mittelständler, Bäcker, Unternehmer, Freiberufler, die eine Palette von Mitarbeitern aufzeigen, die sie suchen, die sie vergeblich suchen.
Ich bitte Sie sehr herzlich, auch das mit zu sehen; auch das ist Teil der Realität. Ich habe vorhin die andere Seite der Realität aufgezeigt; aber es hat keinen Sinn, diesen Teil der Realität wegzulassen.
({8})
Denn bei mir im Wahlkreis werden diese Leute langsam sauer, wenn sie Ihre Reden hören. Auch das führt zu einer Spaltung und zu einer Konfrontation, die im Grunde unnötig wäre.
({9}) Wir müssen beides sehen.
Hinzu kommt natürlich auch - das Stichwort ist heute noch nicht gefallen - das Thema Schwarzarbeit. Es gibt sicher an manchen Stellen ganz unheilige Allianzen, übrigens unheilige Allianzen bei der Ausnutzung des sozialen Netzes nicht nur auf der Arbeitnehmerseite, bei Gott nicht. Auch auf der Arbeitgeberseite
({10})
wird manches ausgehandelt, z. B. Verträge zu Lasten eines Dritten, nämlich zu Lasten des Staates.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich am Ende dieser Debatte kurz zusammenfassen: Die Wirtschaftsdaten der Bundesrepublik sind so gut wie teilweise seit Jahrzehnten nicht mehr. Die politische Führung hat die richtigen Rahmenbedingungen gesetzt. Die Wirtschaft, das Handwerk, die Freiberufler und die Unternehmen haben richtig gehandelt. Die Arbeitnehmer waren wie immer in der Tradition der Bundesrepublik im Grunde gut ausgebildet, hochmotiviert, fleißig und bestrebt, das Beste zu geben.
({11})
Deshalb haben sich die Daten hervorragend verändert. Wir sind seit sieben Jahren in einem anhaltenden Aufschwung; er wird auch die nächsten Jahre anhalten.
({12})
- Ich habe nichts dagegen, daß der liebe Gott es hört. Ich bin aber auch sehr dafür, daß es dann in der Realität eintritt.
Die Räder der Konjunktur laufen auf Hochtouren. Auch Mittelstand und Handwerk haben dazu beigetragen. Sie profitieren davon; letztendlich profitieren
wir alle davon. Ich meine, wir sind auf dem richtigen Kurs. Die Wende ist eingetreten.
Danke.
({13})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 5:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Dr. Martiny, Roth, Schäfer ({0}), Adler, Bernrath, Blunck, Dr. Böhme ({1}), Dr. Hartenstein, Heistermann, Ibrügger, Dr. Jens, Kiehm, Kißlinger, Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Lennartz, Müller ({2}), Müller ({3}), Odendahl, Oostergetelo, Dr. Osswald, Dr. Pick, Pfuhl, Reuter, Dr. Schöfberger, Schütz, Sielaff, Stahl ({4}), Weiermann, Dr. Wernitz, Weyel, Wimmer ({5}), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Schutz des Lebensmittels Trinkwasser - Drucksachen 11/4293, 11/5179 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5261 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen, d. h. wir würden bis 13.30 Uhr tagen, wenn Sie die 90 Minuten beschließen. Beschließt das Haus die 90 Minuten Redezeit? - Kein Widerspruch; dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Lennartz.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer ist eigentlich in der Bundesrepublik für sauberes und gesundheitsverträgliches Trinkwasser zuständig?
({0})
Wer trägt eigentlich Verantwortung, wer hat Vorsorge zu treffen, damit wir nicht in Zukunft allesamt von einer chemischen Keule erschlagen werden? Sind es die Endverbraucher, die dann zusehen müssen, wo es etwas Trinkbares gibt, das einen nicht umhaut? Sind es die sogenannten Produzenten des Trinkwassers, die Wasserwerke, die alleine dafür sorgen sollen, daß sie all das Zeugs, das sie mit dem Grundwasser zutage fördern, herausfiltern können? Oder haben diejenigen die Verantwortung, die Pflanzenschutzmittel produzieren, die chemische Industrie, oder diejenigen, die die Pflanzenschutzmittel auf die Felder spritzen, die Landwirte? Ist es gar die Politik, sind es die politisch Verantwortlichen, ist es die Bundesregierung, die mit ihrem Handeln sicherstellen soll, daß die alltägliche schleichende Brunnenvergiftung aufhört?
({1})
Oder ist es die EG, die mit einer neuen, lästigen, überzogenen Trinkwasserverordnung nur die Pferde scheu macht? Meine Damen und Herren, das sind leider auch noch heute, drei Tage vor Inkrafttreten der EG-Trinkwasserverordnung, die zentralen Fragen rund um unser Lebensmittel Trinkwasser.
In mehr als 1 200 der 6 300 Wasserwerke in der Bundesrepublik Deutschland müssen ab dem 1. Oktober 1989 die Pumpen abgeschaltet werden, sollen die neuen, sinnvollen europäischen Grenzwerte eingehalten werden.
({2})
Die Trinkwassergewinnung ist schon heute vielerorts nur mit aufwendigen Filter- und Desinfektionsverfahren möglich. Unsere Wasserwerke werden chemischen Fabriken immer ähnlicher
({3})
und sind dennoch nicht in der Lage, einen Großteil der Pestizide im Grundwasser zu analysieren, geschweige denn herauszufiltern. Die großen Wasserversorger sind in Eile dabei, überregionale Ringleitungen zu bauen, um in Zukunft belastetes Grundwasser mit weniger belastetem bis unter die Grenzwerte herabmischen zu können. Das sind die Fakten.
({4})
Das deutsche Reinheitsgebot, meine Damen und Herren, gilt längst nicht mehr für das Wasser, mit dem deutsches Bier gebraut wird.
({5})
Die chemische Verseuchung unseres Grundwassers schreitet weiter fort und nimmt lebensbedrohliche Formen an. Während sich der Landwirtschaftsminister bei Bauerntreffen nur noch damit über Wasser halten kann, daß er sich über die neuen Grenzwerte lustig macht und stereotyp den wenig sachdienlichen Vergleich mit Zuckerklümpchen im Bodensee herbetet,
({6})
möchte die Bundesregierung unser Gesundheitsproblem Wasser am liebsten als organisatorische Aufgabe der Wasserwerke abtun. Denen bietet sie allerdings dienstbeflissen an, mit mannigfaltigen Ausnahmegenehmigungen auf zehn Jahre bis zum Zwanzigfachen des Grenzwertes behilflich zu sein. Dies, meine Damen und Herren, ist unmöglich. So geht es nicht!
({7})
Für die SPD sind befristete Überschreitungen der Grenzwerte nur dann akzeptabel, wenn sie im Einzelfall streng toxikologisch begründet und mit einem erfolgversprechenden Sanierungsplan eng verzahnt und verknüpft sind.
({8})
An die 30 000 Tonnen Pestizide, die jährlich und mit steigender Tendenz auf deutsche Felder gespritzt werden, an die 1 800 Pflanzenbehandlungsmittel mit 300 verschiedenen Wirkstoffen,
({9})
Frau Kollegin,
({10})
die todsicher irgendwann in irgendeiner Zusammensetzung ins Grundwasser gelangen, an den hochdosierten Pestizideinsatz der Bundesbahn auf deren
Gleisanlagen in Wasserschutzgebieten, in Wassereinzugsgebieten, in Wasserschutzzonen, an ein Verbot von Pflanzenbehandlungsmitteln, für die kein Analyseverfahren mitgeliefert wird, an einen ökologischen Umbau der Landwirtschaft mit weniger Dünger, mit weniger Giften wagen sich weder Minister Kiechle noch Restminister Töpfer heran, ganz zu schweigen von Frau Lehr.
({11})
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, verhält sich vielmehr wie jene namenlose naive Hofdame Ludwigs XVI. zu Beginn der französischen Revolution, die sich beim Anblick der hungernden Aufständischen wunderte, warum das Volk denn keinen Kuchen ißt, wenn es kein Brot hat. Wird der Bundeskanzler, meine Damen und Herren, etwa bei der Neujahrsansprache raten, naturreinen Saft zu trinken, wenn das Wasser ungenießbar ist?
({12})
In drei Tagen schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann tritt die EG-Trinkwasserverordnung in Kraft. Obwohl bereits 1980 beschlossen, trifft das neue EG-Recht die Bundesregierung weitgehend unvorbereitet, ja, man kann sagen, daß Problembewußtsein beim Thema „Wasser" bei der Bundesregierung nicht erkennbar ist.
({13})
Eine flächendeckende Überwachung der Grundwasser- und Oberflächenwasserqualität gibt es nicht.
({14})
- Ich komme dazu, Herr Kollege.
Die Belastung der Oberflächengewässer durch Schwermetalle, Salzfrachten und Kohlenwasserstoffe wird nicht in die Qualitätsbewertung einbezogen. Das könnte ja eventuell die Erfolgsstatistik verschlechtern. Grund- und Quellwasser, aus dem 85 % - 85 %, meine Damen und Herren! - unseres Trinkwassers entnommen werden, ist bisher nur ansatzweise auf Belastungen untersucht worden. Ob jemand Angst vor dem Ergebnis einer ehrlichen und ungeschminkten Bestandsaufnahme hat?
({15})
Dabei wäre wirksame Trinkwassersicherung gar nicht schwer, wenn denn der Blick geradeaus nicht ständig durch Schielen auf diese oder jene Lobby getrübt würde, meine Damen und Herren.
({16})
Wir Sozialdemokraten nennen eine einfache Grundlage für alle Gesetze, Verordnungen, Verbote und Anreize: Es dürfen keine Stoffe ins Wasser gelangen, die in bestimmten Konzentrationen toxisch, gefährlich oder schädlich für Mensch, Tier und Pflanze sind,
({17})
die die ökologische Funktion der Gewässer stören, die durch normale Wasseraufbereitungsverfahren nicht beherrschbar sind,
({18})
die den Klärwerksbetrieb stören, die sich im Klärschlamm und Gewässerschlamm anreichern und eine landwirtschaftliche Verwertung der Schlämme ausschließen. Dies kann man erreichen, wenn man will.
({19})
Meine Damen und Herren, diese Erkenntnisse haben wir nicht erst durch unsere Große Anfrage, die wir gestellt haben, erlangt. Man hätte uns als SPD-Bundestagsfraktion folgen sollen, die wir bereits im Jahre 1984 eine eigenständige Fraktionsanhörung durchgeführt haben, weil wir das Problem erkannt hatten. Wir haben dann unsere Anträge vorgelegt. Unser Antrag „Sofortprogramm zum Schutz des Wasser" vom 2. August 1984 ist durch die Regierungskoalition abgelehnt worden.
({20})
Dann ist unser Antrag „Trinkwasserversorgung und Landwirtschaft" vom 22. August 1985 abgelehnt worden. Ich gehe jetzt gar nicht auf alle Kleinen und Großen Anfragen ein, die seit Jahren von uns gestellt worden sind.
({21})
Wir haben frühzeitig die Alarmsignale der Wasserwirtschaft in der Bundesrepublik aufgenommen.
({22})
Sie sind - das muß man Ihnen heute wiederum ins Stammbuch schreiben - nicht in der Lage, mit der Chemie und mit der Landwirtschaft Regelungen zu treffen, die gesundheitsverträglich sind. Meine Damen und Herren, geben Sie Ihre Betonhaltung auf und handeln Sie im Interesse der Gesundheit der Menschen in der Bundesrepublik Deutschland!
Schönen Dank.
({23})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Wasser ist Leben. Giftiges Wasser zerstört Leben. Wie ihr mit dem Wasser umgeht, so geht ihr letztlich mit euch selber um. Die Worte von Häuptling Seattle haben Aktualität.
({0})
Die Wasserpolitik in unseren Breiten ist seit Jahrzehnten eine zerstörerische. Ich muß es so formulieren, denn der Umgang mit dem Element Wasser zerstört nicht nur das Leben anderer Arten, sondern wir werden uns selbst zerstören, wenn das so weitergeht.
Verehrte Kollegen und Kolleginnen, wir haben uns im vergangenen Jahr eindringlich mit der Nordseeproblematik auseinandergesetzt: Algenteppiche und Robbensterben - das Jammern in der Republik war unüberhörbar. Wir haben uns hier gegenseitig die besseren Programme vorgehalten. Die Nordsee wird aber weiterhin als Abfalleimer benutzt.
({1})
Heute beschäftigt uns die nächste Schadstoffsenke: das Grundwasser. Obwohl das Wasserhaushaltsgesetz Grundwasser um seiner selbst willen als Teil des Naturhaushalts unter einen absoluten Schutz stellt, wird die schleichende Vergiftung des Grundwassers von den Verantwortlichen in Bund und Ländern geduldet. Was im Grundwasser gelandet ist, verbleibt dort über Jahrzehnte oder Jahrhunderte.
({2})
Diese Hypothek für die folgenden Generationen ist bitter. Aus immer weiterer Entfernung mußte bereits in den letzten Jahrzehnten sauberes Wasser herbeigeführt werden. Nunmehr sind wir so weit, daß wir feststellen müssen: Die Vergiftung ist flächendeckend; es gibt kein sauberes Wasser mehr. Nur noch ausgeklügelte Überwachung der Trinkwasserversorgung, nur noch hochtechnisierte und teure Reinigungssysteme sind in der Lage, uns Trinkwasser aufzubereiten, das wir dann trinken dürfen,
({3})
wobei die Risiken einer Vergiftung tolerabel sind. Ob dieses Wasser schmeckt, ist eine andere Frage. Ob dieses Wasser Leben oder aber die schleichende Vergiftung vermittelt, hat die bisherige Landwirtschafts-
und Chemiepolitik zugunsten der Gifte entschieden.
({4})
Meine Herren und Damen von der Bundesregierung - sehr wenige sind da -, darüber hinaus wollen Sie uns auch noch für dumm verkaufen. In der Antwort auf die Große Anfrage schreiben Sie: „Die Bundesregierung hält weiterhin an ihrer Auffassung fest, dem Vorsorgeprinzip
({5})
Vorrang einzuräumen vor Reparaturmaßnahmen im Wasserwerk. "
({6})
Aha, weiterhin Vorsorge. Nun wissen wir es.
({7})
Aber das Ende der Fahnenstange ist doch längst erreicht, Herr Kollege Göhner. Am 1. Oktober 1989 tritt die mangelnde Vorsorge offen zutage: Mit siebenjähriger Verspätung treten die Grenzwerte für Pestizide im Trinkwasser in Kraft.
({8})
Etwa 20 % der Wasserwerke in der Bundesrepublik können die Grenzwerte nicht einhalten und sind von der Stillegung bedroht. Bei Hausbrunnen sieht die Situation noch katastrophaler aus. Das ist die absehbare Folge jahrelanger Versäumnisse im Gewässerschutz, bei der Zulassung von Pestiziden und in der Agrarpolitik. Von Vorsorge keine Spur!
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Bundesregierung hat es zu verantworten, daß die EG-Trinkwasserrichtlinie mit ihren Grenzwerten erst mit sieben Jahren Verspätung gültig wird. Die Bundesregierung hat es zu verantworten, daß die Zeit seit der Unterzeichnung der EG-Richtlinie bis heute nicht genutzt wurde, um die Voraussetzungen für die Einhaltung der Grenzwerte zu schaffen.
({9})
Bei der Novellierung des Wasserhaushaltsgesetzes 1986 wurde kein Verbot der Überdüngung eingefügt, natürlich um der Lobby der industriellen Landwirtschaft und der chemischen Industrie nicht wehtun zu müssen. Die Bundesregierung hat es versäumt, die Zulassungskriterien für Pestizide im Pflanzenschutzgesetz rechtzeitig den Erfordernissen der EG-Richtlinie im Hinblick auf Versickerungsneigung, Abbaubarkeit und geeignete Nachweisverfahren anzupassen. Weiterhin wurde versäumt, eine Verpflichtung zum Rückruf von Wirkstoffen gesetzlich zu verankern, sofern sich nachträglich Anhaltspunkte für umwelt- und gesundheitsschädliche Eigenschaften bei Bach- und bestimmungsgemäßer Anwendung ergeben. Auch auf die nach der EG-Richtlinie vorgeschriebene Nachweispflicht für Pestizidanwendungen wurde verzichtet. Auf das Versäumniskonto dieser Regierung geht auch der Umstand, daß in der Pflanzenschutz-Anwendungsverordnung von 1988 nicht einmal in den Wasserschutzgebieten alle grundwassergefährdenden Pestizide verboten wurden. Auch die Praxis der Deutschen Bundesbahn, deren Spritzzüge nicht einmal auf Wassereinzugsgebiete Rücksicht nehmen, ist hier anzusprechen.
Noch heute stehen für die Überwachung der Pestizidbelastung des Trinkwassers keine praktikablen Multimethoden zur Verfügung. Nur für 181 der 280 Wirkstoffe sind die Verfahren ausreichend empfindlich; keines ist standardisiert. Die Metabolisierung in den Nutzpflanzen ist fast völlig unaufgeklärt. Über Synergismen wissen wir gar nichts. Die Bundesregierung stellt lapidar fest: Seit 1986 hat sich die Überwachungssituation in der Praxis nicht entscheidend geändert. Ich frage Sie, meine verehrten Kollegen und Kolleginnen: Verdient das den Begriff der Vorsorge?
Die Bundesregierung hat ein Pflanzenschutzgesetz zu verantworten, mit dem der chemische Pflanzenschutz zur Standardform der Landbewirtschaftung gemacht wurde, und zwar auf Kosten der Pflege des Bodens und der Pflege des Grundwassers. Vor dem Hintergrund dieser Versäumnisse ist die Zulassung von Grenzwertüberschreitungen für Pestizide durch Ausnahmegenehmigungen ein umweit- und gesundheitspolitischer Skandal.
({10})
Vage Sanierungsversprechen ersetzen das Recht von uns allen, sauberes, pestizidfreies Wasser trinken zu können, ein Recht, das uns seit alters her zusteht und das nunmehr durch EG-Richtlinie abgesichert werden
sollte. Nicht minder skandalös ist, daß am Stichtag nicht einmal sichergestellt ist, daß bei allen Wasserwerken Untersuchungen auf Pestzide durchgeführt werden.
Wenn jetzt für bis zu zehn Jahre Ausnahmegenehmigungen ausgesprochen werden sollen und diese an Sanierungspläne gebunden werden, dann ist das ein durchsichtiger Akt der Akzeptanzförderung. In keinem Bundesland wurde doch bislang konkretisiert, wie Sanierungspläne auszusehen haben. Ja, wir müssen befürchten, daß der dicke Hammer im Grundwasser erst noch kommt. Was wir heute erleben, ist die Gewißheit, daß die steigende Flut kommen wird.
Pestizide im Grund- und Trinkwasser sind die eine Seite der Medaille, Pestizide in den Nahrungsmitteln die andere, Nitrate im Trinkwasser und in der überdüngten Nahrung die dritte Belastung, die chlorierten Kohlenwasserstoffe im Trinkwasser und in der Nahrung eine weitere Belastung. Die Verantwortlichen in unserem Land lassen zu, daß wir Menschen zu Schadstoffsenken werden wie die Seehunde in der Nordsee.
Die Schlußfolgerung kann also nur sein: Soll in der Wasserpolitik dieses Landes eine Besserung herbeigeführt werden, dann brauchen wir eine grundsätzliche Wende in der Landwirtschaftspolitik und in der Chemiepolitik.
({11})
Ein Aussitzen der Giftfrachten ist nicht möglich. Es muß unverzüglich gehandelt werden.
Ich danke für die Aufmerksamkeit und möchte noch einen Satz hinzufügen: Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich das Plenum gleich verlassen muß. Ich habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen, die auch mit dem Parlament zusammenhängt.
({12})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bedeutung unseres Trinkwassers als wichtigstes Lebensmittel überhaupt ist ja noch keineswegs jedermann bewußt. Trinkwasser kommt eben aus der Leitung, und oft wird uns erst bei einer Reise in ein wasserarmes Land oder in Gebiete mit hoher Wasserbelastung und damit Gesundheitsgefährdung deutlich, wie wertvoll gutes, gesundes Wasser ist, das auch noch jederzeit verfügbar ist.
Um so wichtiger ist es, daß sich der Bundestag mit dem Gewässerschutz beschäftigt und daß er handelt, wie es beispielsweise meine Fraktion gemeinsam mit dem Koalitionspartner - um nur ein Beispiel zu nennen - mit dem Antrag auf Gewässerschutz und Pflanzenschutz vom November 1987 oder wie es die Regierung mit der Novelle zur Änderung des Wasserabgabengesetzes getan hat, die am 15. September, also erst vor wenigen Tagen, im Bundestag eingebracht wurde, und wie es auch heute auf Grund der Großen Anfrage der SPD geschieht. Allerdings meine ich - das muß man insbesondere den GRÜNEN sagen; ein wenig klang das aber auch bei der SPD an - : Mit
Horror- und Katastrophengemälden ist eigentlich niemandem gedient.
({0})
- Mit Verharmlosung auch nicht. - Der Realität ins Auge zu sehen und sinnvolle Schritte in sinnvollen Abständen durchzuführen ist die Aufgabe der Politik, und der stellen wir uns.
({1})
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große Anfrage zu Recht darauf hingewiesen, daß neben der Sicherung einer quantitativ ausreichenden Trinkwasserversorgung, die in der Bundesrepublik ja grosso modo gegeben ist, vor allem die Qualität des Trinkwassers im Vordergrund stehen muß.
({2})
Ich spreche jetzt einmal als Verbraucherin von Wasser: Die Verbraucher erwarten als Grundvoraussetzung, daß das Trinkwasser von Krankheitserregern frei ist.
({3})
So sieht das ja auch die Trinkwasserverordnung vor.
Schon bei dieser Grundforderung wird deutlich, daß eine Vielzahl von Umweltfaktoren - einige sind schon genannt worden - anzusprechen ist, wenn es um die Qualität des Trinkwassers geht. Dabei darf man nicht nur bestimmte Punkte nennen, sondern da müssen auch einmal andere Punkte angesprochen werden. Zum Beispiel müssen Abwasserkanäle so dicht sein, daß kein verunreinigtes Wasser versickern kann. Hier gibt es Sanierungsbedarf.
({4})
Kläranlagen müssen so beschaffen sein, daß eine wirksame Reinigung des Wassers auch stattfindet.
({5})
Hierbei muß man auch die vorhandenen Finanzierungsprobleme lösen. Das ist wahr.
({6})
Da Sie sich jetzt alle so aufregen, will ich einmal folgendes sagen. In Nordrhein-Westfalen - Herr Lennartz, Sie sind ja daher - gibt es ein sehr schlechtes Beispiel.
({7})
Die SPD-Landesregierung führt das Wort Gewässerschutz zwar ständig im Munde, aber wenn es dann an die Flocken geht - ich bitte um Verzeihung für diesen unparlamentarischen Ausdruck -, wenn es also ans Bezahlen geht, dann werden die entsprechenden ZuFrau Limbach
schüsse an die Gemeinden um fast ein Drittel reduziert.
({8})
Das ist nicht meine Aussage, sondern die Aussage des Städte- und Gemeindebundes.
({9})
Wenn von gesundem Trinkwasser die Rede ist, dann gilt die Aufmerksamkeit natürlich auch den chemischen Stoffen - das wurde ebenfalls schon angesprochen -, weil diese chemischen Stoffe das Wasser tatsächlich belasten und auch gefährden können.
({10})
Hier gibt es eben Unterschiede, je nachdem, ob es eben eine akute Gefährdung gibt, ob man Vorsorgemaßnahmen treffen muß oder ob es möglicherweise aus Gesundheitsgründen erforderlich ist, zu handeln. Da ist die Regierung ja sehr weit gegangen, die Koalitionsfraktionen auch; denn die Grenzwerte, die in der Trinkwasserverordnung festgelegt worden sind, sind so festgelegt worden,
({11})
daß auch bei lebenslangem Gebrauch dieses Wassers Gesundheitsschäden nicht zu befürchten sind.
({12})
- Natürlich. Wasser, das vor zehn Jahren noch als absolut rein galt, gilt heute nicht mehr als rein, weil sich die Meßtechnik verfeinert hat.
({13})
Aber nicht jede Verfeinerung der Meßtechnik bedeutet auch eine Verschlechterung des Wassers. Da, wo es sich verschlechtert, muß auch gehandelt werden. Das wird auch getan.
({14})
Gestatten Sie, daß die Rednerin redet, meine Damen und Herren!
Vielen Dank, Frau Präsidentin.
In diesem Zusammenhang wird auch der richtige Ansatz deutlich, daß nämlich Vorsorge besser ist als nachträgliche Aufbereitung von Trinkwasser.
({0}) In diese Richtung geht ja auch das Handeln.
Bei der Vielzahl von Maßnahmen, die auf diesem Gebiet durchzuführen sind, darf aber nicht übersehen werden - das übersehen Sie ja absichtlich -,
({1})
daß nicht die gesamte Kompetenz beim Bund liegt. Im Gegenteil: Der Bund hat nach dem Grundgesetz nur eine Rahmenkompetenz.
({2})
Die Länder könnten die Bundesgesetze mit eigenen Landeswassergesetzen ausfüllen und präzisieren, und sie tun es zum Teil auch. Auch der Vollzug und die Kontrolle liegen bei den Ländern. Auch hier gibt es Defizite. Das wird auch deutlich, wenn man die Antwort der Bundesregierung liest.
({3})
Daß aus einer solchen Kompetenzverteilung auch Nachteile erwachsen, kann man z. B. bei der Einrichtung von Wasserschutzgebieten sehen.
({4})
Das ist sehr unterschiedlich. Es gibt da ja - von uns eingeführt - die Ausgleichszahlungen für Bewirtschaftungsnachteile.
({5})
Obwohl sehr leicht einzusehen ist, daß Landwirte, die Beschränkungen in Wassereinzugsgebieten unterliegen, gegenüber solchen, bei denen das nicht der Fall ist, Nachteile haben - weil sie z. B. Einschränkungen bei der Düngung und beim Gebrauch von Pflanzenschutzmitteln hinnehmen müssen, die die Erträge möglicherweise geringer ausfallen lassen als beim Nachbarn, für den diese Einschränkungen nicht gelten - , hat das Land Nordrhein-Westfalen - um das wieder einmal zu nennen - im Gegensatz zu Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Hessen und Bayern
({6})
bis heute noch überhaupt keine Ausgleichszahlungen vorgesehen
({7})
und auch für die Zukunft nur für einen Teil der Beschränkungen Ausgleichszahlungen vorgesehen.
({8})
Kein Wunder, daß dann die Akzeptanz geringer ist, wenn es darum geht, so etwas durchzusetzen.
({9})
Noch ein letzter Punkt: Nicht nur der Gesetzgeber kann einen Beitrag leisten, sondern auch der Verbraucher.
({10})
Wenn z. B. das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz beim Hersteller dazu geführt hat, daß weniger umweltbelastende Produkte hergestellt werden, liegt es im wesentlichen beim Verbraucher, die Mengen zu reduzieren. Mich ermutigt es überhaupt nicht, wenn ich lese, daß die für die notwendige Reinigung erforderlichen Mengen bei weitem überschritten werden. Einer Statistik habe ich entnommen, daß der Waschmittelverbrauch in den letzten Jahren um fast 30
gestiegen ist. Da frage ich mich, ob wir so viel sauberer geworden sind oder ob nicht einfach zuviel von dem Zeug gebraucht wird.
({11})
Wir wünschen uns da noch bessere und eindringlichere Aufklärung, rechnen auch auf die Hilfe der Verbraucherverbände, denken da auch an leichter abbaubare Reinigungsmittel, die es ja auch gibt - ich verwende beispielsweise Essigreiniger, mein Haus ist deshalb nicht weniger sauber als vorher - , und z. B. an die Einschränkung von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln auch im Haus- und Kleingarten; denn da läuft ja auch eine Menge.
({12})
Alles in allem: Die Qualität des Trinkwassers wird von vielen Faktoren beeinflußt. Im Rahmen eines so kurzen Redebeitrags
({13})
kann ich natürlich nicht zu allem Stellung nehmen. Aber eines kann festgehalten werden: Trinkwasser als Teil des Ökosystems Erde ist auch unserer Verantwortung übergeben. Wir stellen uns dieser Verantwortung.
({14})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Grünbeck.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Anfrage selbst, die öffentliche Diskussion und auch diese Debatte erfüllen einen schon etwas mit Sorge. Denn man hat eigentlich den Eindruck, daß es eher darum geht, die ganzen Dinge in einer ungerechtfertigten Art von Verunsicherung und Panikmache zu betreiben, und weniger darum eine sachliche Auseinandersetzung zu führen.
({0})
Ich halte das nicht für besonders glücklich; denn die Probleme sind da und müssen gelöst werden. Aber es ist wesentlich schwieriger, Problemlösungen zu erarbeiten, als eine Anfrage zu formulieren; das ist das Problem.
({1})
Die Aufgabe ist, die Ursachen zu erkennen, die Wirkungen zu erforschen und die Lösungen zu suchen.
({2})
Das dauert seine Weile. Wer glaubt, man könne in der Technologie Lösungen aus dem Ärmel schütteln, der täuscht sich eben. Aber die deutsche Wasserwirtschaft hat diese Herausforderung immer angenommen und auch ausgefüllt.
Als einige Gründe, Ursachen für die zunehmende Verschmutzung des Trinkwassers nenne ich: eine sehr starke Zunahme von Zivilisationserscheinungen wie Bad und Küche, eine dichte Besiedlung, eine leistungsorientierte und ertragsorientierte Landwirtschaft, eine hohe Industrie-, Handels-, Handwerks- und Gewerbedichte. Damit hat sich für die Trinkwasserversorgung natürlich ein Problem gestellt.
Eines dürfen wir voller Stolz sagen: Wer in der Welt etwas herumfährt, der muß feststellen, daß wir in der Bundesrepublik - nicht nur von der Gesetzgebung, sondern auch von der Technologie her - im Grunde genommen weltweit Spitze sind. Ich sage das nicht - oder nicht nur deshalb -, weil liberale Innenminister das einmal eingeleitet haben.
({3})
- Also, Herr Stahl, hoffentlich stellen Sie nicht auch das noch in Frage;
({4}) Sie waren doch daran beteiligt.
Ich glaube, wir haben große Fortschritte gemacht in der gesamten Gesundheits- und Hygienepolitik, bei der Verwendung und Erforschung von Werkstoffen, bei der Regeltechnik, bei der Aufbereitungs- und Analysentechnologie, die heute in einem noch nie gekannten Grat verfeinert wurde, und bei der Qualitätssicherung und Qualitätskontrolle. Aber ich gebe gerne zu: Neue Belastungen der Umwelt über Luftverschmutzungen - über eine Belastung haben wir heute noch gar nicht geredet: über die Belastung aus Deponien und Altlasten durch das Versickern von Sickerwässern und Sickergasen - , über Einsatz von Düngemitteln und Schädlingsbekämpfungsmitteln, über Abwasserprobleme, undichte Rohrleitungen und durch andere Probleme sammeln sich an und erfordern Handeln.
({5})
Die öffentlichen Wasserversorgungsunternehmen investieren im Augenblick im Durchschnitt 2 Milliarden DM für die ständige Verbesserung der Trinkwasserversorgung in der Bundesrepublik.
({6})
Die Industrie gibt etwa die gleiche Summe dazu.
({7})
In der Industrie haben wir durch unser Abwasserabgabengesetz sichergestellt, daß wir eine Kreislaufführung von Wasser erreichen, die heute nicht nur zu einer sparsamen Wasserverwendung, sondern in zunehmendem Maße auch zur Rückgewinnung von Rohstoffen führt.
Die dezentralen und zentralen Lösungen in der Wasserversorgung und in der Abwasserentsorgung hat die Bundesregierung für meine Begriffe richtig beurteilt. Es ist richtig und ökologisch vernünftig, nicht punktuell sehr viel Wasser an einer Stelle zu entnehmen, sondern, um den Grundwasserspiegel überall gleichmäßig zu erhalten, möglichst alle Wasservorräte zu verwenden und sie, wenn sie der Sanierung bedürfen, der Sanierung auch zuzuführen.
Die Probleme mit den Fernwassernetzen sind uns bekanntgeworden.
({8})
Die Korrosion und die Verkeimung nehmen zu. Daß das nur zu lösen ist, wenn man Chlor zugibt, wissen wir. Es gibt jedoch noch keine Ersatzmittel.
Deshalb wäre es richtig, wenn wir zu integrierten Lösungen in Ballungsräumen und in ländlichen Räumen kämen, und zwar beim Wasser und beim Abwasser. Die Lösungen sind da. Neue Technologien bieten großartige Ausgangspunkte.
Schwerpunkt der Anfrage der SPD sind die Schädlingsbekämpfungsmittel. Vielleicht darf ich eines einfließen lassen. Lassen Sie sich einmal das Wort Schädlingsbekämpfungsmittel auf der Zunge zergehen. Was bedeutet das eigentlich, Schädlinge zu bekämpfen?
({9})
Wenn ich das völlig ausschließe und wenn ich das verbiete,
({10})
muß ich einen Ersatz dafür haben.
({11})
- Ich habe nur darum gebeten, sich das einmal auf der Zunge zergehen zu lassen. Offensichtlich haben Sie es getan.
Ich darf einmal feststellen, was die Tatsachen sind. Ich bagatellisiere das nicht.
({12})
Ich bringe das schon vor.
({13})
- Lassen Sie mich nur ausreden. Ich habe Ihnen auch zugehört, sehr aufmerksam sogar, obwohl mir das nicht immer leichtgefallen ist.
({14})
Wir bringen heute etwa 100 Tonnen pro Tag an Schädlingsbekämpfungsmitteln aus. 1 700 verschiedene Mittel sind im Handel. Etwa 200 Wirkstoffe werden in völlig unterschiedlicher Form bei der Konfektionierung dieser 1 700 Mittel verwendet.
({15})
Wichtig ist für die Landwirtschaft und natürlich auch im Hinblick auf den Schutz von Menschen und Tieren, diesen Einsatz richtig zu dosieren.
({16})
Aber was ist denn Tatsache? Tatsache ist, daß wir heute einen Grenzwert haben. Darum geht es ab 1. Oktober. Dieser Grenzwert wird vielfach als ethischer oder ästhetischer Wert bezeichnet. Diesen Wert von 0,1 Mikrogramm hat man im Grunde genommen als untersten Grenzwert bisher noch gar nicht gekannt. Über dessen toxikologische Auswirkungen liegt bis heute keine einzige wissenschaftlich exakte Untersuchung vor.
({17})
- Liebe Frau Saibold, ich wundere mich manchmal wirklich über eines in diesem Land: Jeder Pseudowissenschaftler kann Dinge verkünden, die ungeprüft in der öffentlichen Diskussion übernommen werden, und damit Verunsicherungen schaffen. Aber das führt doch zu keinen Lösungen. Das sind zweierlei Dinge.
Ich möchte diese Sache um Gottes willen nicht bagatellisieren.
({18})
Aber eines müssen wir natürlich berücksichtigen. Beim Eindringen der Schadstoffe kommt es zuerst einmal darauf an, welche Bodenschichten da sind. Es gibt völlig unterschiedliche Bodenschichten. Es gibt natürlich auch völlig unterschiedliche Beständigkeiten.
({19})
Es gibt heute Beständigkeiten von wenigen Tagen bis hin zu - leider - 500 Tagen, etwa bei Atrazin oder Simazin. Diese Stoffe muß man ganz anders bewerten als solche, die schneller zerfallen.
({20})
Ich glaube, daß wir auch noch einmal die Analysen ansprechen müssen. Es wurde der Vorwurf erhoben, daß wir keine Analysen zur Verfügung stellen.
({21})
Wer hat sie denn? Um das alles durchzuarbeiten - das ist ein ganzes Forschungsprogramm. Es geht hierbei nicht um das Geld. Das Geld ist bereitgestellt. Es geht um die Dynamik, darum, wie man Analysewerte ermittelt.
({22})
- Sie dürfen mir glauben, daß ich davon etwas verstehe. Deshalb sage ich Ihnen: Die Analysen zu ermitteln, welche Wirkstoffe wie und in welcher Zeit erkennbar gemacht werden können, das ist eine Aufgabe von Forschung und Entwicklung.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Saibold?
Aber gern.
Herr Grünbeck, würden Sie mir zustimmen, daß man zumindest so lange keine neuen Stoffe für den Gebrauch freigeben sollte, bis nicht genaue Kenntnisse über das Verhalten dieser Stoffe da sind, bis Analyseverfahren vorliegen usw.?
Dabei bin ich jetzt. Deshalb haben wir für zwei Jahre eine Übergangsregelung bei Überschreiten des Grenzwertes eingeführt.
({0})
- Ich antworte jetzt in meiner Rede direkt auf Ihre Frage, Frau Kollegin.
({1})
Es ist zu fragen: Was macht eine Gemeinde oder eine kommunale Wasserversorgung, die den Grenzwert von 0,1 Mikrogramm überschreitet? Sie kann mit der sogenannten Vermischung mit anderen Wässern natürlich Maßnahmen ergreifen, die diesen Grenzwert deutlich unterschreitet. Nur ist das in der Regel mit einem erheblichen Kostenaufwand verbunden. Ich möchte ganz offiziell sagen: Wir sind in der Technologie noch nicht so weit, etwa durch nachträgliche Schaltungen von Reinigungsstufen und Aktivkohlefiltern diese Probleme zu lösen. Dieses Verfahren ist noch nicht reif. Wir sind allesamt intensiv dabei, zu forschen und zu entwickeln. Aber das braucht Zeit.
({2})
Es bleibt Ihnen nur eine Alternative, Frau Saibold: Sie müssen dann die Schädlingsbekämpfungsmittel verbieten.
({3})
- Nein, die bayerische Landesregierung wird im Bundesrat keinerlei Antrag einbringen. Herr Stoiber hat diese Untersagung - ich muß ihm diesen Vorwurf leider machen ({4})
lediglich im Landtag publikumswirksam vorgetragen. Ich bedaure das sehr; denn das Verbot von Schädlingsbekämpfungsmitteln heißt, daß ich die Wirkung der Schädlinge tolerieren muß. Dazwischen abzuwägen ist eine Frage der Gesundheitspolitik, und das ist nicht leicht zu entscheiden.
Das gleiche gilt beim Nitrat: Wir haben hohe Investitionskosten bei der Denitrifikation; sie liegen bei etwa 1 bis 2 DM pro Kubikmeter. Es ist doch so - ich glaube, da sind wir uns einig - : Einen Nulltarif bei der Lösung dieser Probleme gibt es nicht; die Lösung dieser Probleme wird Geld kosten.
({5})
Die Landwirtschaft ist bereit gewesen, durch die Flächenstillegung ihren Beitrag einzubringen. Das hat die Bundesregierung richtig vorgetragen. Dort, wo
Flächen stillgelegt werden, darf nicht mehr gedüngt werden
({6})
und dürfen auch keine Pflanzenschutzmittel mehr eingesetzt werden. Die Düngung wird reduziert. Die Gülle kann man aufbereiten und muß man nicht mehr ausbringen; die Technologie ist fertig.
({7})
Die Wasserschutzgebiete werden ausgewiesen. Aber für die Landwirte muß Entschädigung gezahlt werden.
Ein großes Problem ist zweifellos die Korrosion in den Rohrleitungen selbst. Wir haben dabei in der Werkstoffkunde noch einige Forschungen nachzuholen. Aber wir wissen, daß Blei, Kupfer und Zink bestimmte Oxidationsprodukte abgeben, die sich natürlich auch im Abwasser bemerkbar machen können.
Ich darf dazu folgendes sagen, Frau Bundesministerin: Die Haftung der Wasserversorgungsunternehmen endet in der Regel an der Übergabestation, nämlich an der Wasseruhr. Aber zwischen der Wasseruhr und dem Zapfhahn spielen sich auch noch eine Menge Ereignisse ab, die wir in die Gesamtbetrachtung dieser Ergebnisse einbeziehen müssen.
Ich darf zum Schluß eines sagen: Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort völlig zu Recht darauf hingewiesen, welche Bedeutung die Vorbeugemaßnahmen, die Vorsorgemaßnahmen und die Vermeidungsmaßnahmen haben. Die Forschung und die Entwicklung darf man in dieser schwierigen Technologie nicht zeitlich unter Druck setzen. Man kann nur versuchen, alles zu machen, was menschenmöglich ist. Man kann an einer Entwicklung der Technologie nicht basteln, in dem man sie unter Druck setzt und falsche oder ungeeignete Verfahren verlangt.
({8})
- Das habe ich schon vorgetragen.
Die liberalen Innenminister setzten auf das Verursacherprinzip. Wir bleiben dabei; darüber gibt es überhaupt keinen Zweifel.
({9})
Wissen Sie denn, daß z. B. unser Abwasserabgabengesetz weltweit abgeschrieben wird?
({10})
Überall wird unser Abwasserabgabengesetz als wirklich lupenreines Verursacherprinzip angesehen. Aber ich muß Ihnen folgendes sagen: Im Westdeutschen Rundfunk, der nicht gerade FDP-freundlich ist, wurde darüber berichtet, daß gerade in Nordrhein-Westfalen große Städte die kassierten Abwasserabgaben zum Stopfen der Löcher ihrer Haushalte verwendet haben. Das ist keine gute Abwasserpolitik; das ist die Verletzung der Prinzipien.
({11})
Meine Damen und Herren, ich muß eines sagen: Es ist nicht Sinn der Sache, daß der Redner gegen so viele Zwischenrufe ankämpfen muß. Das ist nicht sehr kollegial; ich muß das einmal ausdrücklich sagen.
Frau Präsidentin, ich darf meinen letzten Satz zu Ende bringen, was angesichts der Fülle der Zwischenrufe fast nicht möglich war. Aber das zeigt ja, daß ich die Opposition im Grunde genommen mit der Wahrheit erwischt habe.
({0})
Die Gesundheit und die Hygiene sind ohne eine integrierte Wasser- und Abwasserwirtschaft nicht möglich. Sie sind auch nicht zum Nulltarif zu haben. Dennoch muß man Aufwand und Nutzen prüfen. Die Gesundheit unserer Bürger ist ein hohes Gut. Die deutsche Wasserwirtschaft hat dazu immer einen entscheidenden Beitrag geleistet.
({1})
Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Dr. Lehr.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In wenigen Tagen wird die bundesdeutsche Trinkwasser-Verordnung mit den Grenzwertfestsetzungen für chemische Stoffe zur Pflanzenbehandlung und Schädlingsbekämpfung in Kraft treten. Zukünftig darf die Konzentration eines solchen Stoffes 0,1 Mikrogramm, d. h. 0,1 Millionstel g oder ein Zehntel Millionstel g, pro Liter Trinkwasser nicht übersteigen. Die Summe aller derartigen Stoffe darf den Gesamtwert von 0,5 Mikrogramm nicht überschreiten.
Damit wird die EG-Richtlinie über die Qualität von Wasser für den menschlichen Gebrauch auch in diesem Punkt endgültig in innerstaatliches Recht umgesetzt sein.
({0})
Wasser ist ein ganz besonderes Lebensmittel,
({1})
an das hohe Ansprüche zu stellen sind. Daher begrüße ich es, daß nunmehr in der Trinkwasser-Verordnung alle Maßnahmen enthalten sind, die qualitativ einwandfreies Trinkwasser sichern.
Die Gesamtsituation der Trinkwasserversorgung der Bundesrepublik Deutschland ist günstig: Zu jeder Zeit und an jedem Ort steht Trinkwasser in ausreichender Menge und in gesundheitlich unbedenklicher Qualität zur Verfügung.
({2})
Das trifft keinesfalls auf alle EG-Länder zu.
({3})
Der Bundesregierung bekanntgewordene Befunde an Kontamination aus diffusen Quellen, insbesondere über Konzentrationen an Wirkstoffen von Pflanzenschutzmitteln oder deren Abbauprodukte, wie sie bisher im Rohwasser oder im abgegebenen Trinkwasser erhoben wurden, sind nach dem derzeitigen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis weder für Mensch noch für Tier als gesundheitsgefährdend anzusehen.
Damit auch zukünftig gesundheitlich einwandfreies Wasser zur Verfügung steht, hat die Bundesregierung bereits eine Reihe von Maßnahmen in den Bereichen Pflanzenschutzmittel- und Düngemittelrecht sowie Wasser- und Naturschutzrecht mit der Zielsetzung eines vorbeugenden Gesundheits- und Trinkwasserschutzes ergriffen.
({4})
Hierzu gehören u. a. - das wissen Sie sehr genau - die Trinkwasser-Verordnung aus dem Jahre 1986, das Pflanzenschutzgesetz aus dem Jahre 1986 in Verbindung mit der Pflanzenschutzmittelverordnung und der Pflanzenschutz- Sachkundeverordnung, die beide aus dem Jahre 1987 stammen, und die Pflanzenschutz -Anwendungsverordnung aus dem Jahre 1988. Ferner gehören hierzu die fünfte Novelle des Wasserhaushaltsgesetzes aus dem Jahre 1986, das novellierte Naturschutzgesetz aus dem Jahre 1987 und das Wasch- und Reinigungsmittelgesetz, ebenfalls aus dem Jahre 1987.
Das Ziel der EG-Richtlinie, Pflanzenschutzmittel generell vom Trinkwasser fernzuhalten, ist auch Ziel der Bundesregierung. Diese Stoffe gehören nicht in unser Trinkwasser.
({5})
Für dieses Anliegen ist der 1. Oktober 1989 ein wichtiger Termin.
({6})
Wir können und wollen die Augen jedoch nicht vor der Tatsache verschließen, daß eine Reihe von Wasserversorgungsunternehmen bei einzelnen Stoffen die neuen Grenzwerte noch nicht einhalten können. Es war also zu überlegen, wie in solchen Fällen zu verfahren ist, ob und wann Ausnahmen gesundheitlich vertretbar sind und welche Bedingungen dafür maßgeblich sein sollen. Denn die Antwort kann doch nicht sein, blindlings Wasserwerke zu schließen. Eine Sanierung der Wasservorkommen ist - auch in Übereinstimmung mit den Ländern - erforderlich. Da man Pestizide aus dem Wasser kaum wieder herausbekommt, muß bei der Verhinderung der Kontamination angesetzt werden.
({7})
Die Länder, zuständig für die Durchführung der Trinkwasser-Verordnung, richteten deshalb den Wunsch an das Bundesgesundheitsamt, für den Fall von Überschreitungen der Grenzwerte eine Empfehlung zum Vollzug der Trinkwasser-Verordnung auszuarbeiten. Diesem Petitum kam das Bundesgesundheitsamt nach und veröffentlichte im Bundesgesundheitsblatt vom Juli 1989 die Empfehlung über Maßnahmen bei Verunreinigungen von Roh- und Trinkwasser mit chemischen Stoffen zur Pflanzenbehand12206
lung. Diese Empfehlung legt nun im einzelnen fest, welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um eine unerwünschte Kontamination des Wassers mit Pflanzenschutzmitteln nach Möglichkeit zu verhindern, denn Vorsorge hat nach meiner Auffassung stets Vorrang vor später aufwendigerer und nur begrenzt wirksamer Aufbereitung des Trinkwassers.
Diese Empfehlung schafft die Voraussetzung, auf wissenschaftlicher Grundlage zu sachgerechten und möglichst bundeseinheitlichen Entscheidungen bei der Zulassung von Abweichungen von Grenzwerten durch die zuständige Landesbehörde zu kommen. Danach dürfen Überschreitungen der strengen Grenzwerte von den örtlichen Behörden nur dann zugelassen werden, wenn ein konkreter, erfolgversprechender Sanierungsplan vorgelegt wird
({8})
sowie scharfe Auflagen strikt kontrolliert und eingehalten werden. Konkret: Eine Abweichung darf nur zugelassen werden, wenn eine gesundheitliche Gefährdung durch die Verunreinigungen des Trinkwassers ausgeschlossen ist, wenn sie auf grundsätzlich zwei Jahre befristet wird, eine sofortige Sanierung des betroffenen Wasservorkommens einsetzt und wenn die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung ohne eine solche Maßnahme der zuständigen Landesbehörden nicht sichergestellt werden kann.
Für eine Reihe von Stoffen, die in der Empfehlung im einzelnen aufgeführt sind, darf nach Ansicht des Bundesgesundheitsamtes eine Grenzwertüberschreitung nicht zugelassen werden. Dies trifft insbesondere bei jenen Stoffen zu, die möglicherweise krebserzeugend sind. Für die anderen Stoffe gibt das Bundesgesundheitsamt den zuständigen Landesbehörden in der Empfehlung an, welche Höchstkonzentrationen bei vorübergehenden Abweichungen vom Grenzwert gesundheitlich unbedenklich sind. Eine Gesundheitsgefährdung ist bei diesen Werten - übrigens auch nach Ansicht der WHO und amerikanischer Gesundheitsbehörden - ausgeschlossen.
Entsprechend der Empfehlung sind bei einer Verunreinigung von Roh- und Trinkwasser mit Pflanzenschutzmitteln Maßnahmen zur Feststellung der Ursache und Maßnahmen zur Sanierung des verunreinigten Wasservorkommens einzuleiten.
({9})
Die Sanierung eines Wasservorkommens ist eine Gemeinschaftsaufgabe, welche die Zusammenarbeit aller Betroffenen, d. h. von Gesundheitsbehörden, Wasserbehörden, Wasserversorgungsunternehmen, Pflanzenschutzdienst und Landwirten, erfordert.
Ein Sanierungskonzept umfaßt u. a. folgende Punkte: erstens die beschleunigte Festsetzung von Wasserschutzgebieten gemäß § 19 des Wasserhaushaltsgesetzes , zweitens die behördliche Eingrenzung von Einzugsgebieten von Trinkwassergewinnungsanlagen zum Schutz des Grundwassers gemäß § 3 Abs. 3 der Pflanzenschutzmittel-Anwendungsverordnung, drittens die Bekanntgabe der Grenzen von Wasserschutz- und Einzugsgebieten und der entsprechenden einschränkenden Nutzungs-, Duldungs- und Anwendungsbestimmungen, viertens eine Übersicht der im Einzugsgebiet verwendeten Pflanzenschutzmittel und schließlich eine umweltgerechte Beratung und Minimierung der Anwendung.
Das Ziel von Sanierungsmaßnahmen ist, die Schließung von Wasserwerken zu vermeiden. Die Schließung von Wasserwerken geht mit dem hygienischen Risiko der dann erforderlichen Notversorgung einher. Das Ziel der Sanierungsmaßnahmen ist, den Verlust der zugehörigen Wasserschutzgebiete zu verhindern. Nur so können die örtliche Wasserversorgung erhalten und die Wasservorkommen auf Dauer saniert werden.
({10})
Für die Bürger ist es schwer verständlich, daß eine Überschreitung des Grenzwertes der Trinkwasserverordnung keine Gesundheitsgefährdung darstellt. Die Grenze für eine gesundheitliche Gefährdung befindet sich aber für die meisten dieser Stoffe weit oberhalb der Grenzwerte der Trinkwasserverordnung. Deshalb hält es das Bundesgesundheitsamt für vertretbar, eine Überschreitung der Grenzwerte unter den genannten Bedingungen befristet zuzulassen.
({11})
Bereits jetzt sind zur Unterstützung der Bemühungen um ein einwandfreies Trinkwasser von den für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln zuständigen Behörden Überprüfungen bei den Pflanzenschutzmittelwirkstoff en durchgeführt worden. Dies führte dazu, daß zum Teil bereits strengere Anwendungsbeschränkungen oder sogar Verbote ausgesprochen worden sind oder daß die Verlängerung der Zulassung der Mittel versagt worden ist. Ich erwarte von den Anwendern solcher Präparate, sich in jedem Fall streng an die jeweils geltenden Anwendungsbeschränkungen und Verbote zu halten.
Die Bundesregierung weist noch einmal darauf hin, daß nach § 6 des Pflanzenschutzgesetzes von 1986 Pflanzenschutzmittel nur nach guter fachlicher Praxis angewandt werden dürfen.
({12})
Dazu gehört, daß die Grundsätze des integrierten Pflanzenschutzes berücksichtigt werden. Pflanzenschutzmittel dürfen nicht angewandt werden, wenn der Anwender damit rechnen muß, daß ihre Anwendung schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch oder Tier oder auf Grundwasser hat, oder wenn sonstige erhebliche schädliche Auswirkungen insbesondere auf den Naturhaushalt zu erwarten sind. Eine Anwendung von Pflanzenschutzmitteln ist darüber hinaus in und unmittelbar an oberirdischen Gewässern und Küstengewässern verboten.
Die Verbraucher müssen von den zuständigen Behörden und Unternehmen umfassend über die Befunde der Wasseruntersuchungen und ihre gesundheitliche Relevanz aufgeklärt werden. Die Verbraucher sind über die Notwendigkeit und das Ausmaß der jeweils zugelassenen Abweichungen von Grenzwerten der Trinkwasserverordnung zu unterrichten. ZuBundesminister Frau Dr. Lehr
gelassene Abweichungen von den Grenzwerten werden vom Verbraucher dann akzeptiert, wenn er erkennt, daß nur dadurch Sanierungskonzepte durchgesetzt werden können,
({13})
welche eine vorschriftsmäßige Trinkwasserqualität langfristig sichern, und wenn er erkennt, daß eine Gefährdung der Gesundheit sicher ausgeschlossen ist.
In ihrer Antwort auf die Große Anfrage belegt die Bundesregierung, daß sie die notwendigen Schritte eingeleitet hat.
({14})
Sie wird auch zukünftig ihren Beitrag leisten, um die Versorgung der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland mit einwandfreiem Trinkwasser zu sichern.
({15})
In der Antwort wird deutlich - das betone ich hier nachdrücklich - , daß ich die Sorgen der Bevölkerung um gesundheitlich unbedenkliches Trinkwasser sehr ernst nehme, daß jedoch unbegründeten Ängsten und verfehlter Panikmache entgegenzutreten ist. Unser Wasser kann sich sehen und trinken lassen.
({16})
Dafür werde ich weiter eintreten.
({17})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Blunck.
Liebe Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich stehe in der Mitte meines Lebens und habe bisher rund 10 000 kg an Nahrung und rund 22 0001 an Flüssigkeit zu mir genommen.
({0})
Allein diese Relation macht deutlich, daß Wasser das für den Menschen bei weitem wichtigste Lebensmittel ist.
({1})
Diese Erkenntnis teilt auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage. Das ist aber fast das einzige, was wir bei der Beurteilung der Trinkwasserproblematik gemeinsam haben. Denn spätestens bei der Frage, in welcher gesundheitlich unbedenklichen Qualität Wasser zur Verfügung steht, Frau Lehr, scheiden sich die Geister.
({2})
Hier verfährt die Bundesregierung wieder einmal nach der sattsam bekannten Methode des Herunterspielens und der Verharmlosung der Gefahren der seit Jahren geduldeten Vergiftung des Grundwassers mit chemischen Pflanzenbehandlungs- und Schädlingsbekämpfungsmitteln.
Es ist im übrigen nicht das erste Mal, daß wir uns an dieser Stelle über die Verseuchung unseres Trinkwassers und die damit verbundenen Gefahren und die Gefährdung der Gesundheit auseinandersetzen. Bereits vor zweieinhalb Jahren haben wir angesichts der erschreckenden Untersuchungsergebnisse der deutschen Gas- und Wasserwirtschaft über die hochgradige Vergiftung des Trinkwassers mit Pflanzenschutzmitteln Alarm geschlagen. Damals hat diese Bundesregierung das noch als Panikmache abgetan. Inzwischen betrachtet sie diese Belastung des Grundwassers immerhin mit großer Sorge. Aber diese späte Erkenntnis hilft wenig weiter, wenn ihr nicht endlich ganz entscheidende Maßnahmen zur Abhilfe folgen.
({3})
Dabei kommen die eigentlichen Probleme mit der Trinkwasserversorgung erst noch auf uns zu. Denn die jetzt im Grundwasser festgestellten Schadstoffe stammen zum größten Teil noch aus den 50er und 60er Jahren. Wenn man die damalige landwirtschaftliche Bodennutzung und den damaligen Einsatz von Dünge- und Pflanzenschutzmitteln mit den heutigen radikalen, umweltschädlichen Produktionsmethoden vergleicht, dann wird einem erst so recht klar, daß uns das dicke Ende erst noch bevorsteht. Hier ist es schon längst nicht mehr allein mit dem Jonglieren von Grenzwerten getan. Die Schadstoffbelastungen des Grundwassers können nur noch durch Nichtzulassung, durch Zulassungsrücknahme und durch eindeutige Anwendungsverbote von grundwassergefährdenden Pflanzenschutzmitteln aufgehalten werden.
({4})
Ausnahmsweise teile ich hier einmal die Auffassung der Bayerischen Staatsregierung, wenn sie einen Verzicht auf bestimmte Pflanzenschutzmittel zum Wohle der Allgemeinheit für dringend notwendig hält. Das, Frau Lehr und Herr Töpfer, hätte eben längst geschehen müssen.
({5})
Im übrigen muß ich auch davor warnen, zu glauben, man könne Milliardenbeträge in die Hand nehmen und damit das Grundwasser sanieren. Dies geht nicht.
Die Bundesregierung bemüht zur Begründung für ihr Nichtstun immer wieder gesamtwirtschaftliche Zwänge und Wettbewerbsgesichtspunkte; eine schöne Umschreibung für den Kotau vor der chemischen Industrie und der Landwirtschaft. Hat die Bundesregierung schon einmal den Schaden berechnet, der durch die fortschreitende und ungehemmte Brunnenvergiftung der Volkswirtschaft und der Gesamtgesellschaft erwächst? Die Wasserwerke können doch bereits heute schon nicht mehr die immer komplizierter werdenden Aufbereitungsmethoden bezahlen. Die Kosten hierfür werden auf die Verbraucher abgewälzt, die in doppelter Hinsicht die Betrogenen sind.
Sie müssen nämlich angesichts der schlechten Wasserqualität noch um ihre Gesundheit fürchten. Haben Sie eigentlich schon einmal die finanziellen Belastungen der Kranken- und Rentenversicherung durch die mit der Verunreinigung des Trinkwassers verbundenen Gesundheitsgefährdung berechnet?
Natürlich: Sie glauben, das brauchen Sie nicht. Für Sie steht ja fest, daß eine Gesundheitsgefährdung durch Pflanzenschutzmittelkontamination im Trinkwasser nicht gegeben ist. Das ist für Sie gewissermaßen ein Dogma. Dogmen haben halt den Vorteil, daß für sie kein Beweis angetreten zu werden braucht.
({6})
Ihre These steht aber auf tönernen Füßen. Denn Sie können hierfür allein den derzeit wissenschaftlichen Erkenntnisstand anführen, und der ist nun leider einmal sehr unzureichend. Sie müssen ja selbst einräumen, daß eine Abschätzung der Entwicklung der Pflanzenschutzmittelkonzentration im Grundwasser derzeit ohne das Vorliegen von flächendeckenden Grundwasseruntersuchungen und Zeitreihenanalysen über einen längeren Zeitraum nicht sicher möglich ist.
({7})
Das steht auch in der Antwort auf die Große Anfrage.
Da stellt sich doch automatisch die Frage, wie Sie angesichts dieser Unsicherheiten zu der Erkenntnis kommen, daß damit keine Gesundheitsbelastungen verbunden sind. Sie wissen nichts, aber Sie geben dennoch scheinbar gesicherte Beurteilungen ab. Das nennt man üblicherweise Hochstapelei.
({8})
Es stellt sich natürlich auch die Frage, welche Vorsorgemaßnahmen denn die Bundesregierung angesichts dieser in ihren Auswirkungen ungeklärten Belastungen ergriffen hat oder zu ergreifen gedenkt.
({9})
Ich glaube, ich kann die Antwort vorwegnehmen: keine. Sicherlich, es gibt Untersuchungen über die Wirkung einzelner Schadstoffe. Über die gleichzeitige Einwirkung einer Vielzahl von Schadstoffen auf die menschliche Gesundheit liegen aber praktisch überhaupt keine Untersuchungen und damit auch keine gesicherten Erkenntnisse vor.
({10})
Demzufolge ist Ihre These von der gesundheitlichen Unbedenklichkeit auch aus diesem Grund - ich meine, das ist ein sehr gravierender Grund - schlicht falsch und eine Täuschung der Verbraucher und Verbraucherinnen.
Die Bundesregierung sieht zur Zeit keine Notwendigkeit, aus gesundheitlichen Gründen den Grenzwert für Nitrat im Trinkwasser auf einen Wert unter 50 Milligramm pro Liter festzusetzen. Die Begründung hierfür, Herr Grünbeck, ist nun wirklich abenteuerlich, aber sie ist kennzeichnend. Nach Ansicht der Bundesregierung wäre dies nämlich nur dann sinnvoll, wenn es gleichzeitig gelänge, die für Lebensmittel relevante Nitratbelastung wesentlich weiter einzuschränken. Was hindert uns eigentlich daran, wenn nicht allein ganz handfeste wirtschaftliche Interessen, angesichts der bekannten Auswirkungen überhöhter Nitratbelastung auf unsere Gesundheit diese auch bei Lebensmitteln tatsächlich zu senken? Aber dagegen sperren Sie sich natürlich, und Sie schaffen sich zugleich eine fadenscheinige Rechtfertigung, bei den viel zu hohen Nitratgrenzwerten für Trinkwasser verbleiben zu können, offensichtlich nach dem Motto: Wenn schon Belastung, dann umfassend und total.
({11})
Vor dem Hintergrund der von der Bundesregierung selbst eingeräumten Belastung des Grundwassers durch Nitrat und Pflanzenschutzmittel würde ich mir weniger eine Verharmlosung des Problems und statt dessen mehr Vorsorge wünschen. Zur Vorsorge gehört auch eine offensive Information und Aufklärung der Verbraucher und Verbraucherinnen über die Wasserqualität. Hier scheint die Bundesregierung das Risiko allein auf die nachgeordneten Behörden abwälzen zu wollen, die dann vor dem Problem beispielsweise immer komplizierter werdender Analyseverfahren kapitulieren müssen.
Warum eigentlich soll der Hersteller von Pflanzenschutzmitteln nicht verpflichtet werden können, standardisierte Nachweismethoden anzugeben,
({12})
damit etwa die Wasserwerke ohne größeren finanziellen Aufwand zu entsprechenden Analysen in der Lage sind? Ich empfehle Ihnen sehr dringend, die Antwort der Bundesregierung zu lesen, in der dies für unmöglich gehalten wird.
({13})
Es kann doch wohl nicht angehen, daß ein Hersteller munter an der Umweltzerstörung verdienen kann, aber für die Reparatur dieser Umweltzerstörung allein der Verbraucher in die Pflicht genommen wird. Das Verursacherprinzip muß auch hier zum Zug kommen.
({14})
Es hat sich nun leider bewahrheitet, daß vom 1. Oktober an mit dem Inkrafttreten der Trinkwasserverordnung viele Wasserwerke die Trinkwasserversorgung nur noch mit Ausnahmegenehmigungen der Gesundheitsämter aufrechterhalten können - ich verweise auf die Ausführungen meines Kollegen Lennartz, der gesagt hat, unter welchen Bedingungen wir dem zustimmen wollen - , weil die Grenzwerte für Pestizide überschritten werden. Ich meine, der Vorschlag, die Wasserwerke zu schließen, ist keine Lösung. Das wäre schlicht und ergreifend nur eine Kapitulation vor der Verschmutzung und eine Verlagerung der Probleme auf die Schultern der Verbraucher
und Verbraucherinnen - Menschen, die auf das Lebensmittel Trinkwasser unbedingt angewiesen sind.
({15})
Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der erste Satz der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage lautet: „Wasser ist das Lebensmittel, das durch kein anderes zu ersetzen ist. " Das ist eine kompromißlose Aussage, die uns zu konsequentem Handeln aufruft.
({0})
Für dieses Handeln gibt es zahlreiche Tatsachen, Erkenntnisse und Forderungen.
({1})
Erstens. Es gibt in der Bundesrepublik Deutschland eine qualitativ ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit gesundheitlich unbedenklichem Trinkwasser.
({2})
Zweitens. Die öffentliche Wasserversorgung in der Bundesrepublik Deutschland wird zu 85 % aus unterirdischen Wasservorkommen und zu 15 % aus oberirdischen Gewässern sichergestellt.
({3})
Drittens. Anders als noch vor einigen Jahren sind wir heute in der Lage, Konzentrationen von Stoffen in einer unvorstellbar kleinen Größenordnung nachzuweisen. Diese größere Einsicht in diese kleineren Größenordnungen bedeutet aber noch nicht eine größere Belastung. Doch es ist gut, daß wir diese Einblicke haben. Wir können grundsätzlicher und wirksamer handeln.
({4})
Schließlich: Wir sind uns einig: Trinkwasser muß frei sein von Krankheitserregern. Trinkwasser sollte nicht durch chemische Inhaltsstoffe belastet werden und dadurch zur Belastung der menschlichen Gesundheit werden. Pflanzenschutzmittel sollten generell vom Trinkwasser ferngehalten werden. Die Beseitigung der Ursachen von Belastungen des Wassers hat Vorrang vor der Beseitigung bereits eingetretener Wasserverunreinigungen.
Wenn das so weit klar, eine Grundlage für unser Handeln ist, dann können wir auch davon ausgehen, daß die Trinkwasserverordnung eine Grundforderung enthält, nämlich: Trinkwasser muß frei von Krankheitserregern sein. Durch diese Festlegung der Qualitätsanforderung, die ja auf jeden Fall vorbildlich ist, auch im europäischen Umfeld, entfaltet die Trinkwasserverordnung Wirkungen, die weit über die Wassergewinnung hinausgehen. Es werden Grenzwerte festgelegt, die als Vorsorgewerte zu betrachten sind. Selbst wenn diese Werte überschritten würden, läge noch immer keine gesundheitsbedenkliche Belastung vor.
({5})
- Wenn Sie mir nicht glauben, dann zitiere ich einmal die Weltgesundheitsorganisation. Die Weltgesundheitsorganisation legt Werte fest, die zum Teil tausendfach höher sind als unsere,
({6})
und stellt in Verbindung damit fest, daß sie nicht gesundheitsgefährdend sind.
({7})
Diese Werte können von der Landwirtschaft, der Wasserwirtschaft und anderen wirklich nur sehr schwer eingehalten werden. Diese Werte von heute auf morgen einzuhalten wird so schwer sein, daß es nach Lage der Dinge ohne Ausnahmegenehmigung nicht gehen wird. Aber wir wollen ja anfangen; auch darin sind wir uns einig.
({8})
Aber noch einmal: Wir sollten keine Unruhe in die Bevölkerung insofern hineintragen, als dann, wenn dieser Wert überschritten wird, angenommen wird, daß schon eine Gefahr gegeben sei. Letzteres ist nicht der Fall.
({9})
- Sie sagen „So etwas Dummes" ; wenn man sich nicht darüber einig ist, worüber wir uns auch mit der Wissenschaft einig sind, daß es sich um einen Vorsorgewert handelt - ({10})
- Ich lade Sie in meine Gemeinde ein. ({11})
Ich lade Sie als Bürgermeister in meine Gemeinde ein. Sie können sich unsere Trinkwasserversorgung anschauen. Verehrte Frau Kollegin, Ihre Zwischenrufe sagen mir, daß Sie sich mit der Materie wenig bis gar nicht beschäftigt haben.
({12})
Es gibt, wenn ich fortfahren darf, nicht nur das Bemühen, gutes Trinkwasser zu gewinnen, sondern auch das Bemühen, jederzeit einwandfreies Trinkwasser in unbeschränkter Menge zu möglichst niedrigen Preisen zur Verfügung zu haben. Auch das sagt Ihnen ein Kommunalpolitiker. Jetzt möchte ich aber auch dies hinzufügen, damit wir nicht immer nur uns
als Adressaten nehmen: Ich muß auch einmal an die Bürgerinnen und Bürger appellieren, daß sie uns helfen, wenn wir notwendige Maßnahmen ergreifen wollen. Legen Sie einmal eine neue Talsperre an,
({13})
legen Sie einmal ein Rückhaltebecken an, ergreifen Sie einmal bestimmte andere Maßnahmen, und sehen Sie, wie groß teilweise der Widerstand ist, obgleich jedermann einsieht: Hier handelt es sich um notwendige Maßnahmen.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Gerne.
Bitte.
Herr Kollege Kroll-Schlüter, würden Sie mir zustimmen, daß es notwendig ist, den Eintrag von Schadstoffen in das Trinkwasser insgesamt wesentlich zu vermindern, und daß diese Maßnahmen teilweise durch einfache Regelungen gegenüber dem heutigen Stand zumindest wesentlich verbessert werden könnten? Dies ist doch auch Bestandteil der Aussage in der Antwort der Bundesregierung. Würden Sie wenigstens dem zustimmen und auch akzeptieren, daß die Probleme - ich weiß nicht in welcher Gemeinde Sie tätig sind -,
({0})
bezogen auf Wassereinzugsgebiete, für fast alle Wasserwerke der Bundesrepublik wirklich sehr, sehr ernst sind.
({1})
Frau Präsidentin, ich bitte zunächst um Entschuldigung. Es war nicht meine Absicht, vom Rednerpult aus für ein gutes Produkt, das in der Bundesrepublik Deutschland hergestellt wird, Reklame zu machen.
({0})
Herr Kollege Stahl, ich möchte mich sozusagen mit den Konflikt- und Grenzpunkten auseinandersetzen, auch begrifflich. Dem, was Sie gesagt haben, stimme ich selbstverständlich zu. Es gibt eine ganze Reihe einfacher Maßnahmen, die zur Verbesserung der Situation ergriffen werden können.
({1})
- Wir sind ja dabei. ({2})
- Auch das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Anfrage hervor.
({3})
Die Frau Ministerin hat eben gesagt, welche Daten z. B. ab dem 1. Oktober dieses Jahres wirksam werden,
({4})
und sie hat Ihnen eine ganze Reihe weiterer Initiativen vorgetragen, die bereits ergriffen worden sind.
({5})
Ich denke jetzt immer noch nach, warum Sie schon den ganzen Morgen bei unseren Reden, nicht nur jetzt bei meiner, so unruhig sind.
({6})
Ich glaube, daß Sie dieses Thema unbilligerweise benutzen, um Panikstimmungen herbeizuführen. Dafür ist das Thema aber wirklich zu wertvoll.
Gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage der Frau Abgeordneten Saibold?
Ja. Wir beide sitzen zusammen im Verbraucherausschuß. Dann können wir das Gespräch auch hier fortführen.
Herr Kroll-Schlüter, können Sie sich vorstellen, daß das Thema Reinheit des Trinkwassers uns so stark bewegt, daß man es nicht mehr aushält, hier immer irgendwelche Verharmlosungen zu hören, und das schon jahrelang, und haben Sie deswegen vielleicht Verständnis für unsere Erregung und kommen deshalb auch zum Handeln?
({0})
Wenn Sie heute morgen noch nicht mitbekommen haben, worin das Handeln besteht, dann allerdings muß ich sagen: Sie sollten zuhören, was gesagt wird. Dann bin ich auch bereit, Ihre Erregung zu verstehen.
({0})
- Darauf komme ich jetzt noch.
Als besondere Belastungspunkte - auch das sind Konflikt- und Grenzpunkte, mit denen ich mich auseinandersetzen möchte - werden in der Antwort der Bundesregierung intensive Landwirtschaft, Industriestandorte und dichtbesiedelte Räume genannt. Mit
- was hier nicht der Fall ist - Pauschalurteilen z. B. über die Belastung des Wassers durch intensive Landwirtschaft ist es nicht getan. Landwirtschaft und Pflanzenschutzmittelhersteller haben sich darauf verständigt, daß die sachgerechte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln nicht zu einer Überschreitung der Trinkwasserwerte führen darf. Empfehlungen zur generellen Ausnahme davon darf und wird es nicht geben. Aber auch dies ist klar: Eine ökonomisch sinnvolle Landschaft in Wasserschutzgebieten ist heute nicht mehr möglich. Jedoch ist klar, daß zur sicheren Vermeidung weiterer Einträge von Pflanzenschutzmitteln in das Trinkwasser die Ausweisung von Wasserschutzgebieten notwendig ist.
({1})
Daher ist es keine unbillige, sondern eine sachgerechte Forderung, wenn in den Wassergesetzen der Länder das Anwendungsverbot wassergefährdender Pflanzenschutzmittel in Wassereinzugsgebieten ausgleichspflichtig gemacht wird; auch darüber sollten wir uns verständigen. Ohne derartige gesetzliche Regelungen, die manche Bundesländer noch nachzuholen haben - wie bereits gesagt, z. B. Nordrhein-Westfalen - , müßten die Einschränkungen der Landwirtschaft gemäß der Anwendungsverordnung in Wasserschutzgebieten entschädigungslos hingenommen werden. Das ist aber unzumutbar. Wenn dies unzumutbar ist und wir soviel Sorge um die Ausweisung von Wasserschutzgebieten, Wassereinzugsbieten tragen, dann ist es sehr zu kritisieren, daß es noch Bundesländer gibt, die dieser Forderung nicht nachkommen.
({2})
- Aber es ist ein Schritt. D i e Lösung wird es auch nicht geben, aber es gibt eine ganze Reihe von Schritten auf dem Wege zu einer guten Lösung. Einen Schritt habe ich jetzt genannt. Wenn Sie auch das in der Weise erregt, daß Sie es nicht verstehen, dann weiß ich gar nicht, welche Maßnahmen ergriffen werden sollten, um hier echte Fortschritte zu erzielen.
Was die gewünschten trinkwasserfreien Anwendungen von Pflanzenschutzmitteln betrifft, so ist das totale Verbot kein Weg. Daß welche herausgenommen werden müssen, ist richtig. Aber es gibt z. B. in Frankreich auch Pflanzenschutzmittel, die den Anforderungen, die hier zugrunde liegen, gerecht werden. Es gibt solche Mittel, und sie werden dort angewandt. Das heißt mit anderen Worten: Totales Verbot ist nicht der Weg, aber eine bessere Anwendung und bessere Pflanzenschutzmittel sind der Weg.
({3})
Ich bitte die Genehmigungsbehörden, die Mittel, die es bereits in Frankreich und anderswo gibt, auch hier auf den Prüfstand zu bringen und dann zu genehmigen.
({4})
Ich möchte Ihnen auch sagen, verehrte Frau Kollegin: Nein zu sagen zu allem, alles abzulehnen wäre nicht der richtige Weg.
({5})
Fortschritt besteht auch darin, die Mittel zu gestalten, in die Hand zu nehmen. Fortschritt bedeutet Vorsorge.
({6})
Fortschritt bedeutet bessere Pflanzenschutzmittel. Vorsorge bedeutet integrierten Pflanzenschutz.
({7})
Fortschritt bedeutet schöpferischen Umgang mit den
Möglichkeiten, die wir infolge des technologischen
Fortschritts haben, damit wir weiterhin gesundes Wasser schöpfen können.
({8})
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({9})
Das Wort hat der Abgeordnete Kiehm.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will mich zunächst mit einigen Argumenten, die hier von Kollegin Limbach und Herrn Grünbeck vorgetragen wurden, auseinandersetzen: Wir müssen doch einfach feststellen, daß es ein Unbehagen in dieser Gesellschaft gibt, ob denn der Gebrauch von Trinkwasser keine Risiken birgt. Davon muß man ausgehen. Das wegzudiskutieren wäre ein falscher Weg.
({0})
Zu diesem Zeitpunkt kommt dann immer das Argument, es seien Horrorvisionen, die da verbreitet würden. Der Kollege Grünbeck hat davon gesprochen, daß die öffentliche Debatte ihn mit Sorge erfülle.
({1})
Ich bin der Meinung, wir können diesem Unbehagen und vielleicht auch extremen Positionen vielleicht am besten begegnen, wenn wir nicht dauernd diese Horrorvisionen bemühen und glauben, wir müßten darauf verweisen, daß öffentliche Debatten mit Sorge erfüllen müßten. Ich bin vielmehr der Meinung, wir kommen dem bei, wenn nichts vertuscht wird,
({2})
wenn alles offengelegt wird, wenn alles öffentlich diskutiert wird und wenn wir uns dahin entscheiden, keine Politik der Gefahrenabwehr zu machen, sondern eine Politik der Vorsorge. Und da bin ich heute skeptischer geworden, als ich es noch zu Anfang war.
Der Kollege Grünbeck hat dann auch noch gemeint: Es dauert seine Weile. - Lieber Kollege Grünbeck, vor zehn oder 20 Jahren ist ein Wasserhaushaltsgesetz verabschiedet worden. Nun will ich Ihnen einmal ein paar der Grundsätze daraus zitieren, und Sie müßten dann selbst überprüfen, ob wir - ich schließe da eine sozialliberale Regierung mit ein - all das getan haben, was notwendig ist, um uns vor den Risiken zu bewahren.
Die Gewässer sind ... so zu bewirtschaften, daß sie dem Wohl der Allgemeinheit ... dienen .. .
Gemeint war damit insbesondere die Sicherung der Versorgung mit gutem Trinkwasser. Nur im Einklang mit diesem Gemeinwohl kann das Gewässer auch dem Nutzen einzelner dienen. Glauben Sie, daß wir diesem Anspruch heute gerecht werden?
({3})
- Dann sind Sie ein Optimist, der seinen Optimismus aus Glauben und nicht aus Tatsachenkenntnissen bezieht.
({4})
Jedermann ist verpflichtet, sorgfältig darauf zu achten, daß eine Verunreinigung des Wassers oder eine Veränderung seiner Eigenschaften nicht stattfindet. Wer auf Gewässer so einwirkt, daß sich die Beschaffenheit des Wassers verändert, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet.
Glauben Sie, daß mit aller Konsequenz nach diesen Prinzipien gehandelt worden ist?
Wir haben - und jetzt muß ich ein besonderes Probleme ansprechen - für Industrie, Gewerbe und Kommunen einschränkende Regelungen. Wir haben gesagt: Alles, was ihr in Richtung Wasser macht, muß den Stand der Technik oder den allgemein anerkannten Regeln der Technik entsprechen.
Glauben Sie wirklich, daß die Realität die Bedeutung der Landwirtschaft hier ausschließen darf?
({5})
Wir haben zwar die Behauptung, Herr Kollege Göhner, daß die Landwirtschaft mit ihren Maßnahmen auch der Genehmigung bedarf. Die Praxis ist aber ganz anders. Als wir 1986 verlangt haben, ausdrücklich ins Gesetz hineinzuschreiben, daß Maßnahmen aus dem Bereich der Landwirtschaft einer Benutzungserlaubnis zu unterwerfen sind, haben Sie das abgelehnt.
Ich sollte mich jetzt zwei Einzelgesichtspunkten zuwenden, um die Möglichkeiten einer Weichenstellung offenzulegen. In der „Zeit" stand neulich ein Artikel über Landwirtschaft, Pestizide und Trinkwasserversorgung. Der sicherlich gut recherchierte Beitrag kommt zu der Auffassung: Bei der vorherrschenden Spritz- und Gerätetechnik erreichen tatsächlich nur ganze 0,1 % der Pestizide die Pflanzen. Selbst wenn es das Zehnfache oder Hundertfache ist, ist das immer noch ein krasses Mißverhältnis.
In einer Landvolkzeitung finde ich folgende Antwort der Industrie darauf: Die Wirkstoffe können in Kunststoffteilchen verpackt werden, um die Freisetzung kontrollierbar zu machen, verbesserte Netz- und Haftmittel werden angewendet, um die Mittel gezielter auf die Pflanzen aufbringen zu können, so daß entsprechend weniger auf den Boden fällt. - Ich habe den Eindruck: Unter dieser Prämisse diskutieren Sie heute. Sie setzen an die Stelle von politischen Lösungen und politischen Antworten technische Antworten.
({6})
Die Antwort müßte nämlich lauten: Gute umweltverträgliche landwirtschaftliche Praxis, die die Chemie auf dem Acker verzichtbar oder reduzierbar macht, ist die Position.
({7})
Vermeidung schädlicher Stoffe schon in Produktion und Angebot kann auch bedeuten: Verbot der Anwendung, des Inverkehrbringens und Verzicht auf Zulassung oder Widerruf der Zulassung bei Wirkstoffen, die längere Abbauzeiten haben.
Solange der Versuch gemacht wird, mit technischen Mitteln unter Ausklammerung denkbarer politischer Lösungen den Problemen beizukommen, werden wir eine Regelung nicht in dem Umfange finden, wie wir das wollen.
({8})
Ich will ein anderes Beispiel nennen: Dieselbe „Zeit" zitiert einen Laborleiter aus den Wasserwerken Hamburg: „Wissen Sie," so wird dieser Laborleiter zitiert, „was die Aktivkohle kostet, die man benötigt, um 1 kg Atrazin, das im Großhandel vielleicht 60 DM kostet, herauszufiltern?" - Die Antwort liefert er mit: Mindestens 10 000 DM. Sie brauchen rund 10 t Pulverkohle, die anschließend als Sondermüll entsorgt werden müssen, wobei bei deren Verbrennung Dioxin entsteht. Eine Verlagerung des Problems in die Wasserwerke schafft neue umweltpolitische Schwierigkeiten.
({9})
Es mag zwar gut gemeint sein und als technische Hilfe verstanden werden, aber die Mittel, die hier eingesetzt werden, fehlen an anderen, viel wichtigeren Stellen, die wir gemeinsam wollen.
({10})
Meine Damen und Herren, es wird auch umverteilt: Die Einkommen von Landwirtschaft und Industrie bleiben bestehen; das Ganze geht zu Lasten der privaten Haushalte, die die Mehrkosten aus der Wasserversorgung zu zahlen haben.
Ich will etwas zum Problem der Landwirtschaft sagen. Ich denke mir, wir lassen uns nicht in eine Ecke drängen, die darauf hinausläuft, das man sagt: Wer Umweltschutz betreiben will, ist gegen die Landwirtschaft. Wir wissen, wir hart in der Landwirtschaft gearbeitet wird. Wir wissen, daß eine Politik, die auf immer mehr Einkommenserzielung aus der Produktion abgestellt ist, dazu führt, daß der Landwirt, wie jeder andere in dieser Gesellschaft, verführbar wird, technische Hilfsmittel einzusetzen.
({11})
Wenn wir also etwas tun wollen, können wir nicht
allein bei den Landwirten anfangen, sondern dann
müssen wir bei der Landwirtschaftspolitik anfangen.
({12})
Eine weniger abhängige Einkommenslage der Landwirte würde dazu führen, daß auch auf diesem Sektor etwas zugunsten der Gewässersanierung passieren könnte.
({13})
- Ich habe nur noch eine Minute Zeit und werde mich durch Ihre Zwischenrufe nicht beeinträchtigen lassen. Wir können aber später gerne darüber diskutieren.
Ich will noch zu Frau Minister Lehr etwas sagen. Frau Minister, Sie haben mit Recht darauf verwiesen, daß Ihr Haus etwas über die Sanierung veröffentlicht hat. Damit soll ganz offensichtlich der Eindruck erweckt werden, als könnte man den verseuchten Boden mit technischen Hilfsmitteln wieder in Ordnung bringen. Ich darf zitieren, was Sie selbst in Ihrem Papier schreiben:
Die Sanierung im üblichen Sinne bei einer Verunreinigung des Rohwassers mit Pflanzenschutzmitteln ist nicht möglich. Alle Maßnahmen müssen darauf abzielen, daß eine weitere Kontamination durch die Verwendung der betreffenden Mittel verhindert wird.
Das kann auch ein Auftrag an Ihre eigenen Kollegen in anderen Ressorts sein, tätig zu werden.
({14})
Die Beseitigung der Ursachen von Kontamination muß vor technischen Maßnahmen zur Beseitigung bereits eingetretener Wasserverunreinigungen Vorrang haben.
({15})
Das heißt - jetzt will ich das mal nicht mit einem polemischen Unterton an die Regierung sagen -, daß die Zeit auf einmal zu einem politischen Faktor in diesem Zusammenhang geworden ist, dessen wir uns wahrscheinlich nicht alle bewußt sind. Wenn wir im Umweltschutz mehr als Gefahrenabwehr betreiben wollen, dann müssen wir auch diesem politischen Faktor mehr Aufmerksamkeit zuwenden.
Wenn es in der Antwort beispielsweise heißt, daß Entscheidungen nicht getroffen werden können, weil zeit- und kostenintensive Versuche abgeschlossen werden müssen, um vermeintlichen Ansprüchen zu begegnen, daß Wasserschutzgebiete nur schleppend ausgewiesen werden können, daß behördliche Festlegungen von Einzugsgebieten ausstehen, daß Abstimmungsprozesse Jahre dauern, daß räumliche Festlegungen bis zu 20 Jahre dauern, dann kann eine Politik, egal, von wem sie betrieben wird, nicht mit Anstand auf Beruhigung nach draußen kämpfen, wenn sie das so hinnimmt, wie es ist.
({16})
Vorsorgepolitik muß also diese Zeitfrage einschließen und muß neue Prioritäten setzen im Hinblick auf Forschung, im Hinblick auf Administration, im Hinblick darauf, daß wir alle uns dieses Problem bewußt machen.
({17})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Göhner.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Ich habe mich nur deshalb gemeldet, weil ich in einem Punkt widersprechen möchte. Herr Kiehm, Sie haben eben so getan, als wollte die Bundesregierung, als wollte die Koalition nur Technik einsetzen, statt an die Ursachen der Belastungen heranzugehen. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß wir seit September letzten Jahres - das ist also jetzt exakt seit einem Jahr in Kraft - eine neue Pflanzenschutzanwendungsverordnung haben, mit der wir 73 verschiedene Pflanzenschutzmittelwirkstoffe in Trinkwassergewinnungsgebieten, in Wasserschutzgebieten, in Heilquellenschutzgebieten verbieten.
Sie können natürlich sofort sagen, daß sei zuwenig. Aber ich möchte hier einmal festhalten, daß z. B. Herr Matthiesen durchs Land fährt und auf landwirtschaftlichen Veranstaltungen verkündet - übrigens wahrheitsgemäß -, er sei es ja nicht gewesen, der diese vielen Mittel, 73 Mittel, in die Pflanzenschutzanwendungsverordnung habe aufnehmen wollen, das seien vor allem Baden-Württemberg, Bayern und Niedersachsen gewesen. Die hätten alle Mittel, für die in der Vergangenheit eine Auflage lediglich für W-3-Gebiete gegolten habe, in die Pflanzenschutzanwendungsverordnung hätten aufnehmen wollen. - Deshalb unterhalten Sie sich bitte auch mit Ihren eigenen Parteifreunden, wenn Sie so etwas sagen!
({0})
Frau Ministerin Lehr hat ja die ganze Palette der Gesetze, u. a. das Pflanzenschutzgesetz - ich habe die Pflanzenschutzanwendungsverordnung angeführt -, genannt, die wir novelliert haben. Das ist insofern ein wichtiger Punkt, als ich Sie doch bitten möchte einzugestehen, daß hier sehr wohl konsequent mit der Beseitigung der Ursache begonnen worden ist.
Herr Kiehm, Sie haben das Vollzugsdefizit beklagt, und zwar völlig zu Recht, indem Sie das Wasserhaushaltsgesetz angeführt haben. Ich muß Ihnen aber sagen, daß wir als Deutscher Bundestag kein Wasserschutzgebiet ausweisen können. Die Frau Ministerin und die Bundesregierung können es auch nicht. Wir brauchen in der Bundesrepublik mehr und größere Wasserschutzgebiete.
({1})
Sie können in der Antwort der Bundesregierung sehr genau erkennen, in welchen Bundesländern insofern besondere Defizite bestehen. Wenn Sie das auf dem Wasserverbrauch oder auf die Bevölkerung umlegen, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, daß gerade in Ländern wie Nordrhein-Westfalen ein besonderer Nachholbedarf besteht.
({2})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5261. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist abgelehnt.
Meine Damen und Herren, wir fahren mit den Beratungen entsprechend der Tagesordnung um 14.00 Uhr fort. Die Fragestunde entfällt, weil die Frage 7 des Abgeordneten Jäger, die noch übrig war, schriftlich beantwortet wird. *)
Ich unterbreche die Sitzung.
({0})
Meine Damen und Herren, die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.
*) Anlage 2
Vizepräsident Cronenberg
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Zweiten Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({0})
zu dem Antrag der Fraktion der SPD Bauschäden
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr.-Ing. Kansy, Ruf, Dr. Vondran, Schwarz, Pfeffermann, Sauer ({1}), Dr. Schroeder ({2}), Dörflinger, Ganz ({3}), Dr. Stark ({4}), Magin, Fuchtel, Seehofer, Dr. Hüsch, Dr. Möller, Dr. Götz, Oswald, Deres, Bayha, Börnsen ({5}), Krey, Höffkes, Dr. Grünewald, Schemken, Schreiber, Müller ({6}), Hinsken, Herkenrath, Wilz, Frau Geiger, Weiß ({7}), Biehle, Nelle, Schulze ({8}), Glos, Frau Dr. Wisniewski, Dr. Kunz ({9}), Graf von Waldburg-Zeil, Müller ({10}), Kalisch, Doss, Hauser ({11}), Zierer, Carstensen ({12}), Pesch, Link ({13}), Dr. Schwörer, Niegel, Spilker, Reddemann, Dr. Czaja, Maaß, Werner ({14}) und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Grünbeck, Nolting, Zywietz, Frau Dr. Segall, Dr. Feldmann und der Fraktion der FDP
Bauwerksschäden
- Drucksachen 11/343, 11/798, 11/4368 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Zweiter Bericht über Schäden an Gebäuden
Zwischenzeitliche Veränderungen und Erfolge bei der Schadensvorbeugung und Schadensbeseitigung
- Zusätzliche Maßnahmen -- Drucksachen 11/1830, 11/4368 - Berichterstatter:
Abgeordnete Conradi Ruf
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor, und zwar auf Drucksache 11/5263.
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Debattenzeit von 45 Minuten vor. Hat das Haus etwas dagegen einzuwenden? - Das ist nicht der Fall. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Zunächst hat der Abgeordnete Ruf das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit dem Thema Bauschäden oder Bauwerksschäden beschäftigte sich der 16. Bundestagsausschuß, der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, bereits in der 10. Legislaturperiode im Zusammenhang mit dem 1. Bauschadensbericht der Bundesregierung.
In der 11. Wahlperiode wurde das Thema wieder aufgegriffen - in den Anträgen 11/343 der SPD-Fraktion und 11/798 der Koalitionsfraktionen - , u. a. mit der Aufforderung an die Bundesregierung, dem Bundestag nach Ablauf von drei Jahren einen umf assen-den Bericht über Bauschäden und Möglichkeiten zu deren Verhinderung und Beseitigung vorzulegen und dabei über die getroffenen Maßnahmen zu berichten.
In der 46. Sitzung des Deutschen Bundestages am 3. Dezember 1987 wurden die beiden genannten Anträge an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau - federführend - überwiesen. Bereits am 17. Februar 1988, also nicht drei Jahre, sondern drei Monate später - so schnell arbeitet die Bundesregierung, das Bundesbauministerium - , ist der Zweite Bericht über Schäden an Gebäuden mit Drucksache 11/1830 vorgelegt worden.
Bevor ich in der mir zur Verfügung stehenden Zeit einige grundsätzliche und einige Detailfragen anspreche, möchte ich namens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem BM Bau und allen Beteiligten im und außerhalb des BM Bau für diesen 2. Bauschadensbericht Dank und Anerkennung aussprechen.
({0})
- Die lesen es im Protokoll nach.
Dieser Zweite Bericht über Schäden an Gebäuden zeigt die übergeordneten Zusammenhänge der - die Fachleute und die Öffentlichkeit beunruhigenden - Schäden an Gebäuden und Bauwerken auf. Er ist kein Leitfaden zur praktischen Behebung von Bauschäden. Für die Bewältigung dieser baupraktischen Probleme bietet die Fachliteratur Information und könnte die in ihrer Bedeutung leider unterschätzte und damit mit Haushaltsmitteln unzureichend ausgestattete Bauforschung Hilfen anbieten.
In diesem Zusammenhang begrüße ich - auch als Vorsitzender des Unterausschusses „Schwerpunkte der Ressortforschung im Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau" und als Mitglied des Forschungsrates der Arbeitsgemeinschaft für Bauforschung - die Ziffer II/4 der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/4368.
Doch zunächst einige Anmerkungen zum 2. Bauschadensbericht der Bundesregierung.
Dieser Bericht beschreibt in umfassender Weise die Schadensursachen, angefangen bei der fehlerhaften Planung und Ausführung von Neubauten über die Schadensursachen durch Umwelteinflüsse bis zu den Schäden durch Alterung und durch fehlerhafte Nutzung bzw. unterlassene oder fehlerhafte Instandhaltung von Gebäuden.
Der 2. Bauschadensbericht nennt darüber hinaus als Fehlerquellen einige wesentliche Probleme, zu deren Bewältigung auch die Bildungspolitik beitragen könnte: unzureichende Qualifikation und Erfahrung, mangelnde Sorgfalt in Planung, Kostenermittlung und Bauausführung; Verstöße gegen die anerkannten Regeln der Technik, einschließlich der Bauphysik und der Bauchemie; ungenügende wissenschaftliche Untersuchung und Erprobung der Eignung von neuen
Baustoffen, Bauteilen und technischen Verfahren sowie fehlende Kenntnisse über deren Langzeitverhalten, das nach Aussagen der Wissenschaft im Laborversuch nicht oder nur sehr schwierig zu ermitteln ist; oft unzureichende Ausbildung der Architekten in der Bauausführung und Mangel an Fachpersonal beim Bauhandwerk und beim Ausbaugewerbe.
In den Beratungen des Bundestagsausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, in einer öffentlichen Anhörung von Sachverständigen am 7. November 1988 und einem Symposium zum Zweiten Bauschadensbericht der Bundesregierung war man sich darüber einig, daß die jährlich auftretenden Bauschäden von 10 bis 14 Milliarden DM ein nicht mehr vertretbares Ausmaß erreicht haben und alles getan werden muß, um den Schadensumfang zu vermindern.
({1})
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, die Sachverständigen der öffentlichen An-honing und die Teilnehmer des erwähnten Symposiums waren - auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt Ende 1992 - einmütig der Auffassung, daß die Ausbildung aller am Bau Beteiligten verbessert werden muß. Die konstruktiven und bauphysikalischen Kenntnisse über Baustoffe, deren Eigenschaften und Zusammenwirken zu Bauteilen müssen so in die Ausbildung integriert sein, daß sie bereits bei Planung und Entwurf berücksichtigt werden. Hier wäre eine praktische Betätigung für angehende Architekten erforderlich und förderlich. Aber auch das Bau- und Ausbauhandwerk ist gefordert, seinen Beitrag zur Bauschadensverminderung zu leisten.
In der Aus- und Fortbildung sollte auch die Pflege und Erneuerung alter Bausubstanz größere Bedeutung finden. Das Handwerk hat mit der Ausbildung von Restauratoren in verschiedenen Baubereichen die Zeichen der Zeit erkannt und in die Tat umgesetzt.
Meine Damen und Herren, die in der Tagesordnung angegebenen Anträge 11/343 der SPD und 11/798 der Koalitionsfraktionen stimmen in Inhalt und Zielsetzung weitgehend überein. Das ist wahrscheinlich darauf zurückzurufen, daß beide Berichterstatter aus der Praxis der Bauwirtschaft kommen und ihre beruflichen Erfahrungen in ihre parlamentarische Arbeit einbringen konnten.
({2})
Die zunächst strittig diskutierte Frage, ob ein zu schaffendes Bauinformationssystem, das alle Baubeteiligten über die Möglichkeiten der Anwendung von Baustoffen und Bauverfahren informiert, herstellerunabhängig sein muß, konnte in den Ausschußberatungen einvernehmlich gelöst werden.
Unterschiedliche Beurteilung fand die Frage der Gewährleistungsfristen bei Bauleistungen von zwei Jahren nach der VOB und von fünf Jahren nach BGB. Ich schließe mich in der Frage der Gewährleistungsfristen bei Bauleistungen - ohne den angekündigten Forschungsbericht damit in Frage stellen zu wollen - gern der Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg in Mannheim an, wo ausdrücklich festgestellt wurde:
Die VOB
- das gilt in ihrer Gesamtheit ist als ein den Regeln von Treu und Glauben entsprechendes Vertragswerk anzusehen, bei der die Rechte und Pflichten von Auftraggebern und Auftragnehmern als ausgewogen angesehen werden können.
So der BGH. - Der VGH in Mannheim führt zur Frage der Gewährleistungsfristen von zwei oder fünf Jahren weiter aus:
... weil unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten eine Verlängerung der Verjährungsfristen zu Baupreissteigerungen führen würde, so erscheint diese Erwägung nicht offensichtlich fehlerhaft.
Na ja, Juristendeutsch.
Tatsache ist: Bei einer fünfjährigen Gewährleistungsfrist sind Baupreiserhöhungen bei normaler Kalkulation unvermeidlich, weil dann statt zwei Jahre lang fünf Jahre Avalkreditzinsen für den entsprechenden Auftrag anfallen, nachdem für die Gewährleistungszeiten Bankbürgschaften verlangt werden. Und die kosten Zinsen. Den Nutzen einer grundsätzlich auf fünf Jahre VOB-widrig verlängerten Gewährleistungsfrist hätten deshalb ausschließlich die Kreditinstitute - man schätzt auf 30 bis 40 Millionen DM im Jahr - und nicht die Auftraggeber. Mit einer Bankbürgschaft auf dem Papier ist nämlich noch kein einziger Bauschaden verhindert oder beseitigt worden. Die Bankbürgschaft kann ja erst in Anspruch genommen werden, wenn das betreffende Unternehmen nicht mehr existiert, um einen festgestellten Bauschaden selbst in Ordnung zu bringen.
Daß die fünfjährige Gewährleistungsfrist und damit verbunden die fünfjährige Bankbürgschaft für einen Auftrag den Kreditrahmen des ohnehin mit geringem Eigenkapital ausgestatteten Baugewerbes erheblich einschränkt, sei nur am Rande vermerkt. Abgesehen davon ist es unbillig und ungerecht, wenn der Lieferant eines Bauteils oder Baustoffes nach den gültigen gesetzlichen Bestimmungen eine Materialgarantie von nur sechs Monaten zu leisten hat und die bauausführende Firma für ein verwendetes, ohne ihr Verschulden möglicherweise fehlerhaftes Bauprodukt auf eigenes Risiko weitere viereinhalb Jahre haftet.
({3})
Hier ist der Gesetzgeber gefordert, für eine Gleichbehandlung von Händler oder Lieferant und Verarbeiter zu sorgen.
Als praktizierender Handwerksmeister würde ich gern noch etwas zu einem Thema sagen, das im Bauschadensbericht in der Abteilung V, Vorschläge, unter Ziffer 5.1 angesprochen ist: die Vergabe von Planungs- und Bauleistungen zu angemessenen Preisen. Leider reicht meine Zeit dazu nicht mehr.
Wie sieht es in der Praxis aus? - In der Regel wird der Auftrag an den billigsten Bieter vergeben, obwohl es in der VOB und in der Rechtsprechung ausdrücklich heißt, daß nicht der niedrigste Angebotspreis allein entscheidend ist, sondern unter Berücksichtigung aller technischen, wirtschaftlichen und sonstigen Gesichtspunkte das annehmbarste Angebot den Zuschlag erhalten soll.
Bauschäden werden dann drastisch zurückgehen, wenn Billigheimer, die oft auch illegal Leiharbeiter beschäftigen, von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen werden und gegen die Schattenwirtschaft - sprich: Schwarzarbeit - und die damit hinterzogenen Steuern und Sozialabgaben endlich wirksame Maßnahmen ergriffen werden. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich verteidige weder den unbestritten vorkommenden Pfusch am Bau, noch will ich Nachbarschaftshilfe als Schwarzarbeit kriminalisieren.
Ich komme zum Schluß, nicht, weil ich nichts mehr zu sagen hätte, sondern weil meine Redezeit fast abgelaufen ist. Die CDU/CSU-Fraktion begrüßt die Feststellungen in der Ziffer I der Beschlußempfehlung der Bundestagsdrucksache 11/4368 und bittet die Bundesregierung, die in Ziffer II genannten Maßnahmen in die Tat umzusetzen.
Die von der Fraktion DIE GRÜNEN geforderte Einrichtung eines Sanierungsfonds durch die Bauwirtschaft und die Bauindustrie lehnen wir aus grundsätzlichen und ordnungspolitischen Erwägungen ab.
({4})
Ein solcher Sanierungsfonds würde dem Verursacherprinzip und dem Grundsatz der individuellen Verantwortung im Zivilrecht widersprechen. Er paßte lediglich in eine grüne Ideologie von der ökologischen Umgestaltung unserer Wirtschaft, und die wollen wir in dieser Form nicht.
Der Einbeziehung von historischen Bau- und Kunstdenkmälern und von Verkehrsbauten einschließlich der durch den Verkehr bedingten Bauschäden in den nächsten Bauschadensbericht der Bundesregierung stimmen wir ausdrücklich zu.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zum zweitenmal legt die Bundesregierung einen Bauschadensbericht vor, und zum zweitenmal diskutiert der Bundestag das Thema Bauschäden. Bei den Bauleuten liegt die Frage nahe, warum nur über die Bauleute und über unsere Arbeit gesprochen wird. Warum wird im Bundestag eigentlich nicht über die Schäden geredet, die andere Leute, andere Berufsstände anrichten?
({0})
- Darüber reden wir häufig, Herr Kollege. - Warum
gibt es z. B. keinen Autoschadensbericht des Bundesverkehrsministers über die Schäden an deutschen Kraftfahrzeugen oder keinen Autoschadensbericht des Bundesumweltministers über die Schäden, die Autos anrichten? Warum gibt es keinen Bericht über die Gesundheitsschäden aus deutschen Arzneimitteln? Oder warum gibt Ignaz Kiechle keinen Bericht ab über die Gesundheitsschäden aus dem Verzehr deutscher Lebensmittel? Warum gibt es nur einen Baumschadensbericht, aber keinen Wasserschadensbericht?
Ich stelle diese Frage nicht im Scherz. Die stürmische Entwicklung von Wissenschaft und Technik sowie die ständigen Innovationen verursachen tiefgreifende Schäden: wirtschaftliche Schäden, ökologische Schäden, kulturelle Schäden, auch seelische Schäden. Ich fand den Ausspruch des Bundespräsidenten bei der Automobilmesse „Rasen schadet der Seele" sehr gut, weil er deutlich macht, daß nicht jeder technische Fortschritt auch ein menschlicher Fortschritt ist. Der Glaube, der wissenschaftliche Fortschritt werde automatisch zum menschlichen Fortschritt führen, ist gründlich gestört worden. Die Zweifel nehmen bei uns allen zu, und die bohrenden Fragen nach den Kosten dieses Fortschritts wachsen.
Das gilt auch für den Bauschadensbericht. Ich fände es gut, wenn wir häufiger - so wie hier beim Bauschadensbericht - darüber reden würden: Welche Schäden bringt die technisch-wissenschaftliche Entwicklung mit sich, und wie lassen sich die Schäden vermeiden? Denn wie beim Bauen ist es auch bei anderen Gebieten: Schäden zu vermeiden ist allemal billiger, als Schäden entstehen zu lassen und sie hinterher zu reparieren, wenn das überhaupt noch geht.
({1})
Erlauben Sie mir eine unfreundliche Anmerkung in einer sonst freundlich gemeinten Rede: Einen Schadensbericht werden wir von der Bundesregierung gewiß nicht anfordern, nämlich den Bericht über die sozialen, die wirtschaftlichen, die ökologischen und die menschlichen Schäden, die diese Bundesregierung mit ihrer verfehlten Wohnungspolitik des „stop and go" und des Zuspät und des Zuwenig angerichtet hat. Diesen Bericht werden wir den Bürgern selber vorlegen. Dann werden die Wähler nach dem Verursacherprinzip entscheiden, ob sie dieser Bundesregierung noch einmal das Vertrauen geben.
({2})
Der Bauschadensbericht ist eine informative und gründliche Arbeit. Einige Defizite des ersten Berichts sind aufgearbeitet worden. Im ersten Bericht aus dem Jahre 1984 haben Sie die Bauschäden auf ungefähr 5 Milliarden DM im Jahr geschätzt. Jetzt liegen die Schätzungen bei 10 bis 14 Milliarden DM im Jahr, also wesentlich höher, und zwar für alle Bauschäden, sowohl für die umweltbedingten als auch für die planungs-, ausführungs- und baustoffbedingten Schäden. Das sind erhebliche volkswirtschaftliche Schäden. Aber auch im Einzelfall sind es natürlich schwere Schäden, die einen kleinen Unternehmer oder einen Bauherren, der ein Einfamilienhaus baut, wirtschaftlich ruinieren können. Dazu kommen die nicht bezifConradi
ferbaren kulturellen Schäden an Baudenkmalen, und zwar nicht nur an Baudenkmalen der Vergangenheit, sondern auch an Baudenkmalen unseres Jahrhunderts.
Sie haben in Ihrem ersten Bericht aus dem Jahre 1984 die Umweltschäden bagatellisiert. Das haben Sie jetzt korrigiert. Wir begrüßen das. Nach unserer Auffassung ist die Verringerung der Umweltbelastungen die wichtigste Maßnahme, um Bauschäden zu verringern.
({3})
- Verehrte Frau Kollegin, Herr Ruf hatte ja nur zehn Minuten Redezeit zur Verfügung. Es redet ja noch ein Vertreter der Regierung; er wird das alles sicher nachholen.
Im zweiten Bauschadensbericht sind viele richtige Maßnahmen genannt, z. B. die Notwendigkeit einer systematischen Instandhaltung von Bauwerken, die bessere Aus- und Fortbildung aller am Bau Beteiligten, bessere Informationen durch die Bauindustrie und die Baustoffindustrie und verstärkte Bauforschung. Aber an die gesetzlichen Maßnahmen haben Sie sich nicht so richtig herangetraut. Das ist jedenfalls unser Eindruck. Da fehlte Ihnen der Mut, etwa bei der Gewährleistungsfrist oder den Instandsetzungspauschalen.
Der Ausschuß ist in weiten Teilen einer Meinung. Die Anträge der Koalition und der SPD liegen nicht weit auseinander. Deswegen haben wir hier einen gemeinsamen Antrag eingebracht. Es ist ja kein Fehler, wenn wir bei allem notwendigen politischen Streit auf anderen Feldern in einer Sache einmal einer Meinung sind. Die Wähler werden es allerdings nicht wahrnehmen, weil der Bundestag für die Medien nur dann interessant ist, wenn wir ordentlich streiten. So kommt bei den Wählern der Eindruck auf, wir seien immer im Streit.
Der Kollege Ruf hat vorgetragen, welchen Inhalt der einvernehmlich vorgelegte Entschließungsantrag hat. Ich will das nicht wiederholen, aber ich möchte auf zwei Punkte eingehen, in denen wir unterschiedlicher Meinung sind und die wir in der Zukunft sicher noch weiter diskutieren werden.
Der erste Punkt betrifft die Gewährleistungsfristen. Die Bundesregierung sagt in ihrem Bericht: 80 % der Baumängel, treten in den ersten fünf Jahren nach Fertigstellung auf. Dann kann die Gewährleistungsfrist von in der Regel zwei Jahren nicht ausreichen. Das ist einfach zu kurz, zumal ja, wie Sie richtig gesagt haben, die Gewährleistung für Baustoffe nur sechs Monate, die der Architekten hingegen fünf Jahre beträgt. Das muß der Gesetzgeber in Ordnung bringen.
Ich verstehe Ihren Hinweis, daß eine längere Gewährleistungsfrist die Baukosten möglicherweise etwas erhöhen könnte. Aber eine längere Gewährleistungsfrist würde auch die Hersteller veranlassen, sorgfältiger zu arbeiten und manche nicht erprobte Methode oder manches nicht erprobte Material vorsichtiger zu verwenden. Eine längere Gewährleistungsfrist würde die Bauschäden in der Tendenz reduzieren. Ich finde es traurig, daß Sie dazu nicht bereit sind. Aber das kann sich ja noch ändern.
({4})
- Natürlich sind wir kompromißbereit, weil ich das Problem in seiner Tragweite auch für die Bauindustrie erkenne, aber es muß auf diesem Gebiet etwas getan werden. Sie waren leider nicht bereit, das in die gemeinsame Entschließung aufzunehmen.
Das zweite strittige Thema ist die herstellerunabhängige, praxisnahe Information über Bauprodukte. Sie wollten unserer Forderung nicht zustimmen. Aber eine „objektive und umfassende Bauproduktinformation" - so steht es jetzt im gemeinsamen Antrag - ist natürlich nur möglich, wenn sie herstellerunabhängig ist. Die Faktensammlung über Bauschäden, die das Fraunhofer-Institut für Raum und Bau vorgelegt hat, kann das nicht ersetzen. Außerdem darf das IRB ja keine Wertungen abgeben.
Wer von Ihnen glaubt denn im Ernst, die Baustoffindustrie oder der Baustoffhandel seien wirklich daran interessiert, daß die Verbraucher qualifiziert und unabhängig über ihre Produkte beraten werden? Das ist da doch nicht anders als bei der Automobilindustrie. Ich habe jedenfalls nicht vergessen, daß die Firma Daimler Benz einen Automobiltester und den Chefredakteur der „Bild"-Zeitung, Ihren späteren Regierungssprecher, jahrelang mit Millionen auf Schweizer Konten bestochen hat, damit sie automobilfreundlich agierten. Es besteht kein Zweifel, daß die Bauindustrie - Herr Kollege Ruf, Sie werden das nicht gerne hören - , die bei ihren Frühstückskartellen ja auch erhebliche Wendigkeit und Einsatzfreude bewiesen hat, versuchen wird, eine solche unabhängige Bauproduktinformation zu beeinflussen.
({5})
- Dann frage ich mich, warum Daimler so viele Millionen DM an Herrn Boenisch und den anderen Herrn bezahlen mußte.
Wer glaubt denn hier, daß, wer zahlt, nicht auch anschaffen will? Das Bundesbauministerium, Herr Staatssekretär, hat in dieser Frage keine ruhmreiche Rolle gespielt
({6})
und hat die Minister schlecht beraten. Statt die Leute heranzuziehen, die sich ernsthaft um eine herstellerunabhängige Bauproduktinformation bemühen, statt die Handwerker und die Architekten zu fragen, die darauf angewiesen sind, haben sie einseitig mit einem Fachverlag kooptiert, der eng mit der Baustoffindustrie und dem Baustoffhandel zusammenarbeitet. Dieser Fachverlag gehört auch noch dem Medienriesen Bertelsmann. Wieder einmal, wie bei Daimler Benz, hat die Bundesregierung mit einem Großunternehmen gekungelt.
Was für Bügeleisen und Skibindungen, was für Kaffeekannen und für Kofferradios möglich ist - herstel12218
lerunabhängige, objektive, wertende Tests, an denen sich der Verbraucher orientieren kann - , das wird durch Ihre Politik für den „Verbraucher Bauherrn" nicht möglich sein. Das bedauern wir.
Noch ein Wort zum Antrag der GRÜNEN. Sie haben mit Ihrer Forderung recht, daß die Mieter für Baumängel nicht zur Kasse gebeten werden sollen. Baumängel zu beheben ist Sache der Eigentümer und soll es auch in Zukunft bleiben. Es stimmt auch, wie Sie sagen, daß es alle Bundesregierungen - nicht nur diese, sondern auch frühere - versäumt haben, die Instandhaltungspauschale in den Mieten im sozialen Wohnungsbau gesetzlich festzubinden. Das ist eine schwierige Aufgabe. Man sollte trotzdem darangehen.
Die Herabsetzung der Instandhaltungspauschale, die Sie fordern, wäre jedoch kontraproduktiv. Das würde den Mietern schaden. Das kann niemand ernsthaft wollen.
Der Sanierungsfonds für die Bauwirtschaft, den Sie vorschlagen, ist nach unserer Auffassung praxisfremd. Außerdem widerspräche er dem Verursacherprinzip, das Sie doch sonst so tapfer vertreten.
Wir werden also - welche Überraschung - dem gemeinsamen Entschließungsantrag zustimmen, weil die Gemeinsamkeiten den Dissens überwiegen. In vier Jahren werden wir hier den nächsten Bauschadensbericht der Bundesregierung - ich hoffe, dann einer anderen Bundesregierung - diskutieren.
({7})
- Die Hoffnung ist das Stärkste.
Wir alle hoffen, daß die Bauschäden bis dahin nicht so zunehmen wie zwischen dem ersten und dem zweiten Bauschadensbericht. Wenn unsere Arbeit im Ausschuß, wenn die Debatte hier, wenn der Entschließungsantrag etwas dazu beigetragen haben, dann hat es sich ja gelohnt.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hitschler.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst an die unfreundliche Bemerkung des Kollegen Conradi anknüpfen und sagen: Den denkbaren Schadensberichten, die Sie hier entworfen haben, Herr Conradi, könnte man natürlich auch noch einen weiteren hinzufügen, nämlich den Schadensbericht über die Schäden, die co op und Neue Heimat für Verbraucher und Mieter in dieser Bundesrepublik angerichtet haben.
({0})
- Den können wir anfügen. Das wäre interessant.
({1})
Das erschreckende Ausmaß an Bauschäden in der Größenordnung von jährlich bis zu 14 Milliarden DM hat vielerlei Ursachen. Der von der Bundesregierung vorgelegte zweite Bauschadensbericht nennt in seiner Schadensanalyse drei große Gruppen von Schadensursachen: einmal Schäden, die durch mangelhafte Planung, Bauausführung und Baustoffe verursacht wurden, zum zweiten Schäden, die durch schädliche Umwelteinflüsse bewirkt werden, und drittens Schäden, die durch Nutzungs- und Alterungsprozesse herbeigeführt werden. Dem entsprechend unterschiedlich müssen die Maßnahmen sein, die geeignet sind, Bauschäden in Zukunft zu vermeiden bzw. zu beseitigen, wenn sie aufgetreten sind.
Ganz global läßt sich folgende Schlußfolgerung aus dem zweiten Bauschadensbericht treffen: Es geht künftig darum, erstens schädliche chemische und biologische Umwelteinflüsse zu verringern; zweitens die Forschungsvorhaben der Bauschadensforschung, die sowohl vom Bau- wie vom Forschungsministerium gefördert werden, zu verstärken, ihre Ergebnisse für die Praxis entsprechend umzusetzen und sie vor allen Dingen miteinander besser zu koordinieren; drittens die Informationsmöglichkeiten über Bauschäden und Vermeidungsmöglichkeiten durch verbesserte Bauproduktinformation und die Schaffung einer Datenbank für alle Baubeteiligten zu verbessern; viertens die Ausbildung und das Studium von Baufachleuten durch bessere Vermittlung bauphysikalischer Grundkenntnisse praxisgerechter zu gestalten und Planungsfehler künftig zu vermeiden und fünftens die Bestandspflege durch vertragliche Wartung und fortschrittliche Instandsetzungsmethoden effizienter zu machen und bei den Beteiligten die dafür notwendige Einsicht zu fördern.
In Kapitel 5 des vorgelegten Berichts legt die Bundesregierung einen umfassenden handlungsorientierten Katalog von Möglichkeiten zur Bauschadensbegrenzung und -verhinderung vor, der unsere volle Unterstützung findet. Um diese Vorschläge aber auch durchzusetzen, bedarf es der intensiven Kooperation mit den Kultusministern der Länder und dem Bundesbildungsminister, soweit Ausbildungsfragen und Studieninhalte angesprochen sind, und der Zusammenarbeit mit verschiedenen wissenschaftlichen Institutionen, soweit es den Forschungsbereich angeht, aber auch mit verschiedenen Verbänden der Bauwirtschaft, den Bauproduktenherstellern wie der Bauindustrie.
({2})
- Auch das. - Die erforderliche Kooperation zwischen der Wissenschaft im Baubereich könnte und sollte ein besonderer Schwerpunkt der Tätigkeit der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung werden, die ja bereits ansehnliche praktische Forschungsergebnisse vorzuweisen hat.
Auch die Bauwirtschaftsverbände, Architekten und Hersteller haben ihrerseits erste Schritte eingeleitet, um in der Bauwerkserhaltung voranzukommen, indem sie sich beispielsweise zu einem „Forum Bauwerkserhaltung" zusammengeschlossen haben, weil sie erkannt haben, daß der Bauwerkserhaltung eine enorme volkswirtschaftliche Bedeutung zukommt.
Ganz aktuell konnten wir gestern die Meldung vernehmen, daß der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft Wohnbaumodernisierung einen Modernisierungskompaß für Hausbesitzer vorgelegt hat und daß das Forschungsministerium beispielsweise ein Informationssystem über gefährliche Stoffe beim Bau finanziell mit 4,7 Millionen DM fördert. Es geschieht hier also etwas.
Die Abstimmung der bei einem individuell geplanten Bauvorhaben eingesetzten Bauprodukte in ihrer Wirkung aufeinander ist beispielsweise ein großes Problem, das des fachlichen Zusammenwirkens verschiedener Experten bedarf, deren Erkenntnisse wiederum dem Bauherren zugänglich und transparent gemacht werden müssen. Hier kann und muß die Bundesregierung Hilfestellung geben. Es ist daher zu hoffen, daß der von ihr edierte Leitfaden zur Bauinstandhaltung, der zur Zeit vergriffen ist, bald wieder in aktualisierter Fassung verfügbar ist. Auch die Bauschadensfibel mit ihren Hinweisen für Bauherren bedarf der Fortschreibung und Aktualisierung.
Der Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau hat Ihnen Beschlußempfehlungen zu den Anträgen der Fraktionen und dem zweiten Bauschadensbericht vorgelegt, die ich Ihnen ebenfalls zur Annahme empfehlen möchte. Der nächste, in vier Jahren zu erstattende und erweiterte Schadensbericht sollte eigentlich ein Bauwerkserhaltungsbericht sein; denn die Zeit bis dahin muß nunmehr in der Tat zum Handeln genutzt werden.
({3})
Was die durch Umwelteinflüsse verursachten Schäden angeht, so gehen wir davon aus und erwarten, daß die Fortschritte in der Umweltpolitik dann so weit gediehen sind, daß die insbesondere von den Luftschadstoffen ausgelösten Schäden erheblich eingedämmt werden können und daß sich dies auch für unsere europäischen Nachbarländer feststellen läßt. Die aufgetretenen Schäden an unseren Baudenkmälern lassen uns nicht mehr viel Zeit zum Prüfen, Dokumentieren, Diskutieren und Beraten. Die Zeit ist gekommen, etwas zu tun.
({4})
Die Bundesregierung wird damit aufgefordert, organisatorische Vorbereitungen dergestalt zu treffen, daß die Zuständigkeit gebündelt und die Verantwortung für die Koordinierungsaufgabe Bauwerkserhaltung auf seiten der Verwaltung in einer Hand zentriert wird. Uns ist dabei klar, daß nachhaltige Erfolge nur zusammen mit den am Baugeschehen Beteiligten erzielt werden können. Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, in engem Kontakt mit der Wirtschaft gemeinsame Begriffe, Grenzwerte, Normen und Qualitätstandards für die Bauwerkserhaltung zu entwikkeln und praxisgerecht zu gestalten. Nur zusammen mit den am Baugeschehen Beteiligten werden diese Bemühungen von Erfolg gekrönt sein.
Den von den GRÜNEN vorgelegten Änderungsantrag möchten wir, sowohl was die Nr. 5 als auch was die Nr. 5 a angeht, zur Ablehnung empfehlen. Eine Anpassung, sozusagen eine Rücknahme der Instandhaltungspauschale, die DIE GRÜNEN empfehlen, kann nicht vorgenommen werden. Frau Teubner, neben dem, was Herr Kollege Conradi Ihnen dazu schon gesagt hat: Wenn man die entstehenden Kosten nicht über diese Pauschale zurückerstattet bekäme, würde das auch dazu führen, daß, wie das in den zurückliegenden Jahren beim privaten Mietwohnungsbau der Fall war, überhaupt niemand mehr bereit wäre, auch im sozialen Mietwohnungsbau zu investieren.
Was Ihren Sanierungsfonds angeht, müssen wir Ihnen sagen, daß gesetzliche Gewährleistungsfristen ihren Sinn haben und daß wir es gegenwärtig nicht für gerechtfertigt halten, eine darüber hinausgehende Haftung gesetzlich zu normieren. - Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Teubner.
Herr Präsident! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Hier muß zunächst ein Textschaden korrigiert werden. Der Text der Berichterstatter zur Beratung des Bauschadensberichts weist einen gravierenden sinnentstellenden Fehler - wenn Sie mitblättern wollen - auf der letzten Seite auf. Ich unterstelle natürlich keinen Vorsatz. Es ist aber zumindest grobfahrlässig zu nennen, wenn eine Passage falsch wiedergegeben wird, in der es um die wesentlichen Konsequenzen geht, die die GRÜNEN aus der ganzen Diskussion um die Bauschäden ziehen. Die Vorredner sind ja auch schon darauf eingegangen.
Ich muß das hier natürlich auch für das Protokoll richtigstellen.
Frau Abgeordnete, wenn wir Ihnen diese Zeit zur Berichtigung - wenn es denn zutreffend ist - nicht anrechnen, so kommen Sie auf Ihre sechs Minuten.
Das ist nett. Danke schön.
Ziel unseres Ausschußantrages, den wir hier etwas modifiziert auch wieder einbringen, war nicht - wie hier unter III steht - , die Zweckbindung der Instandhaltungspauschalen zurückzunehmen, sondern gerade im Gegenteil eine solche Zweckbindung zu gewährleisten.
({0})
Diese Forderung erneuern wir heute in Gestalt dieses ergänzenden Änderungsantrages, der Ihnen vorliegt.
Der Bauschadensbericht sagt selbst:
Schäden an bestehenden Gebäuden können durch systematische Instandhaltung und rechtzeitige Instandsetzung gering gehalten werden.
Dies ist eine Binsenweisheit. Doch zeigt der Umfang der Schäden - gerade im Gebäudebestand der jüngeren Baugeneration - , daß die Eigentümer nicht im Traum daran gedacht haben, die Instandhaltungspauschalen für eben diesen Zweck auch einzusetzen. Schließlich war es ja viel lukrativer - dies wäre es heute übrigens auch wieder - dieses Geld in neue Bauvorhaben zu stecken und die Mieterinnen und Mieter über Mieterhöhungen für Reparaturkosten zur Kasse zu bitten, die sie eigentlich längst im voraus
beglichen haben. Deshalb folgt hier dieser Antrag, die Zweckbindung der Instandsetzungspauschale vorzusehen.
Jedoch wäre selbst mit einer Zweckbindung der Instandhaltungsrücklagen nur ein Teil der in gigantischen Dimensionen gewachsenen Sanierungskosten aufzufangen, und es wäre auch nur ein Teil der Verantwortlichen in die Pflicht genommen. Um die Frage der Verantwortlichkeit drückt sich allerdings die Bundesregierung in ihrem Bericht. Sie will explizit, wie es heißt, keine Schuldzuweisungen ansprechen, d. h. sie will keine Verantwortlichkeiten benennen. In dem Hearing, das wir zu diesem Thema durchgeführt haben, sagte dazu einer der Experten ganz passend, das sei ein „diplomatisch feiger Opportunismus". Es werden keine Schuldzuweisungen gemacht. Es werden keine Verantwortlichkeiten benannt. Wieso und wozu auch, solange die Handlungsmaxime nicht der verantwortungsbewußte Umgang mit den Ressourcen und die Rücksicht auf das Wohl der Menschen ist, die sich ein Leben lang in den Gebäuden aufhalten müssen, sondern das Interesse des freien Unternehmertums am schnellen großen Profit? Dies gilt auch im Bauwesen; seien es die Baugesellschaften selbst, seien es die Hersteller der Bauteile und Baustoffe. Sie werfen immer neue Produkte auf den Baumarkt und in die Baumärkte, völlig unbekümmert um die Rohstoff- und Energiebilanz dieser Produkte, völlig unbekümmert um deren ökologische und gesundheitliche Folgewirkung. So haben sie z. B. jahrelang systematisch den über Jahrtausende bewährten Baustoff Holz mit Ultragiften verseucht, so daß Tausende von Menschen die Wohnungen verlassen mußten, in denen sie unwissend dieses Holz verwendet hatten. Auch das gehört zum Thema Bauschäden. Die Baustoffproduzenten wissen sehr gut, warum sie sich weigern, die Inhaltsstoffe ihrer Produkte zu deklarieren. Dies geschieht, weil ihnen deren Gefahrenpotential wohl zu bekannt oder aber völlig egal ist.
Wenn aber eine solche Deklaration der Inhaltsstoffe nicht möglich ist, dann müssen die Produzenten wenigstens genötigt werden, sich über die gesetzlichen Gewährleistungsfristen hinaus an der Beseitigung der von ihnen zu verantwortenden Schäden zu beteiligen. Das widerspricht nicht dem Verursacherprinzip, sondern es geht darum, daß man über diesen Fonds eine Vorrichtung schafft, um die Schäden zu beheben, für die im nachhinein, nach Jahren, wenn sie auftreten, kein direkter Verursacher mehr festzustellen ist.
Für diesen Zweck schlagen wir die Einrichtung eines Haftungsfonds für die Bauwirtschaft und die Baustoffindustrie vor. Denn man kann natürlich nicht alles auf den Sauren Regen schieben. Das wäre allzu bequem.
({1})
Ein Wort muß dazu natürlich trotzdem gesagt werden. Daß Schadstoffimmissionen als wesentliche äußere Ursachen von Bauschäden viel erheblicher reduziert werden müssen, als es bisher geschehen ist, versteht sich von selbst. Ihr zerstörerischer Einfluß auf die Substanz alter wie junger Bauwerke ist qualitativ und quantitativ gewaltig. Der Bericht trägt dem bei weitem nicht in der Weise Rechnung, wie es angemessen und notwendig wäre.
Um weitere Schäden abzuwenden, braucht es neben den Vorschlägen, die hier gemacht werden, ein verschärftes Immissionsschutzgesetz - die GRÜNEN haben dieser Tage einen solchen Entwurf vorgelegt - und vor allem eine andere Verkehrspolitik. Sonst ist zu befürchten, daß es auch künftig leider noch viel Arbeit für die Zunft der Baupathologen geben wird.
Danke schön.
({2})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Echternach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freue mich über die breite Zustimmung, die der zweite Bauschadensbericht im Hause gefunden hat. Der Bauausschuß hat ihn ja durch ein sehr fundiertes und umfangreiches Anhörverfahren wirksam ergänzt. Auch die Öffentlichkeit und die Fachwelt haben diesen zweiten Bauschadensbericht sehr positiv aufgenommen.
Die Sorge wegen des Umfangs der Bauschäden wächst, und zwar mit Recht. Bauschäden machen nicht nur dem Bauherrn Ärger, der im Durchschnitt in den ersten fünf Jahren 22 000 DM für die Beseitigung von Bauschäden aufbringen muß. Sie bereiten auch ganz erhebliche volkswirtschaftliche Verluste. Sie betragen jährlich 10 bis 14 Milliarden DM allein im Hochbau. Diese Summe ist viel zu hoch.
({0})
Das ist etwa so viel, wie wir im Bundeshaushalt für die Bereiche Wirtschaft, Finanzen und Auswärtiges bereitstellen. Ein so hoch industrialisiertes Land wie das unsere, das auf allen Gebieten hervorragende technische Leistungen vollbringt, kann sich eine so hohe Bauschadensquote auf die Dauer nicht leisten.
({1})
Nicht weniger wichtig als die wirtschaftlichen Gesichtspunkte sind die Gefahren, die von Bauschäden für die bebaute Umwelt und für die Menschen selber ausgehen.
Der Bauschadensbericht untersucht im einzelnen die Gründe für diese Schäden. Aber er will mehr. Er will so weit wie irgend möglich Bauschäden vorbeugen und alle am Bau Beteiligten aufrufen, dazu ihren Beitrag zu leisten. Viele Bauschäden könnten durch eine sorgfältige Planung, durch die richtige Auswahl der Baustoffe und durch eine ordnungsgemäße Bauausführung vermieden werden.
Das gilt auch für Maßnahmen an bestehenden Gebäuden, die ja eine immer größere Bedeutung bekommen und bei denen die Schadenshöhe relativ hoch ist. Auch hier könnten durch Wartung und Pflege, durch systematische Instandhaltung und rechtzeitige Instandsetzung die Bauschäden deutlich reduziert werParl. Staatssekretär Echternach
den. Insofern, Frau Teubner, ist dieser Antrag der GRÜNEN natürlich alles andere als hilfreich, die ohnehin gerade auskömmlichen Instandhaltungskosten-Entschädigungen weiter zu reduzieren.
({2})
- So ist es. Aber Sie wollen sie ja generell zurücknehmen. Sie wollen ja nicht nur eine Zweckbindung
- die ist ohnehin vorgesehen - , sondern Sie wollen ja auch die ohnehin kaum auskömmlichen Instandhaltungspauschalen - sprechen Sie mal mit den Leuten aus der Praxis! - weiter reduzieren.
Wichtig ist erstens die Verbesserung der Ausbildung. Wir brauchen einen stärkeren Baupraxisbezug sowohl im Studium als auch in der Ausbildung. Bei Planern und Bauausführenden fehlen vielfach Grundkenntnisse über Baukonstruktionen, Bauchemie, Bauphysik, Baustoffe und Baubetrieb. Im Anhörverfahren ist das ja noch einmal sehr deutlich geworden.
An den Fachhochschulen und Universitäten wird oft praxisfernes Wissen weitergereicht. Die derzeit üblichen Praktika von nur wenigen Wochen sind dafür kein Ersatz. Wesentlich besser wäre ein umfassendes Praktikum oder gar eine handwerkliche Ausbildung vor dem Studium.
({3})
Ich appelliere deshalb an die Kultusminister der Länder, das Studium und die Ausbildung besser auf die Praxis auszurichten und sich nicht länger der überfälligen Reform der Ingenieur- und Architektenausbildung zu verschließen.
({4})
Lehre und Praxis müssen sich auch im Baubereich wieder aufeinander zu bewegen.
Wir brauchen zweitens eine Verstärkung der beruflichen Fort- und Weiterbildung. Naturwissenschaft und Technik entwickeln sich so rasant, daß Handwerker, Ingenieure, Architekten nicht auf dem Wissensstand ihrer Ausbildung stehenbleiben können. Hier sind die Fachverbände der Architekten und Ingenieure, die Kammern, aber auch die Bauwirtschaft selbst gefordert. Gerade wegen der Beschränkung der Studienzeit, aber auch wegen der mangelhaften Orientierung der Lehrinhalte an der Baupraxis ist die berufliche Fortbildung von großer Bedeutung. Ausreichende Qualifikation verringert nicht nur das Schadensrisiko, sondern stärkt auch die Bereitschaft, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen.
Wichtig sind drittens verläßliche und ausreichende Informationen über die Baustoffe, über ihre Eigenschaften und ihre Verträglichkeit mit anderen Materialien. Über 40 000 Produkte sind allein in unserem Land zu überprüfen und vergleichbar darzustellen. Die Aufbereitung dieser Informationen wird uns nur mittels der Datenverarbeitung so gelingen, daß sie auch in der Praxis genutzt werden können.
Seit vier Monaten befindet sich die Baudatenbank GmbH im Aufbau, die ich im Gegensatz zu Ihnen, Herr Conradi, nicht kritisiere, sondern sogar als einen Fortschritt begrüße. Ich habe Ihre Kritik nicht ganz verstanden, wenn man bedenkt, daß es sich hier ja nicht nur um einen Verlag, nicht nur um die Baustoffindustrie handelt, sondern auch um die Bundesarchitektenkammer, die von Anfang an diese Baudatenbank unterstützt hat und in ihr aktiv mitarbeitet. Wir brauchen diese private Initiative, und wir ergänzen sie auch. Wir ergänzen sie durch das Informationszentrum Raum und Bau der Fraunhofer-Gesellschaft. Mit Unterstützung aus Bundesmitteln wird von ihr zur Zeit der Arconis-Service aufgebaut. Dadurch soll der Zugang zu Datenbanken erleichtert und dem Praktiker der Zugriff auf Daten, Gutachten, Forschungsberichte und andere Informationsquellen erleichtert werden.
Auch der Bundesbauminister selbst informiert. Wir informieren durch die Bauschadensfibel, durch den Leitfaden für die Instandhaltung.
Schließlich sollten auch unsere Bauvorschriften und technischen Normen weiter verringert und vereinfacht werden; denn unsere rechtlichen und technischen Vorschriften müssen für den Baupraktiker überschaubar und hilfreich bleiben.
Der zweite Bauschadensbericht untersucht und mahnt nicht nur, er listet auch auf, daß eine ganze Reihe von Empfehlungen, die der erste Bauschadensbericht gegeben hatte, bereits erfolgreich umgesetzt worden sind. Deshalb bin ich optimistisch, daß es uns gelingen wird, auch die Empfehlungen des zweiten Bauschadensberichtes gemeinsam mit allen Beteiligten zu realisieren und die hohe Schadensquote deutlich abzusenken.
Unser Ziel ist es, mängelfreies Bauen zum unbestrittenen Markenzeichen der deutschen Bauwirtschaft zu machen. Dann wird es ihr auch um so leichter fallen, in der künftig noch härteren Konkurrenz auf dem europäischen Baumarkt ihren Platz zu behaupten und auszubauen.
({5})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung, und zwar zunächst einmal über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/5263 vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag?
- Wer stimmt dagegen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt worden.
Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau auf Drucksache 11/4368. Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu?
- Damit darf ich feststellen, daß die Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden ist.
Im übrigen möchte ich nicht versäumen, mich bei allen Rednern zu bedanken. Fast alle haben die Redezeit nicht ausgenutzt.
Meine Damen und Herren, nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 7. Es handelt sich hier um die Beratung einer Reihe von Vorlagen ohne Aussprache, über die also nur abgestimmt werden muß.
Vizepräsident Cronenberg
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 a auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Europäischen Übereinkommen vom 16. Mai 1972 über Staatenimmunität
- Drucksache 11/4307 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 11/5132 Berichterstatter: Abgeordnete Geis Wiefelspütz
({1})
Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift mit den vom Ausschuß empfohlenen Änderungen auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer enthält sich der Stimme? - Gegenstimmen? - Dann ist das Gesetz bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ohne Gegenstimmen angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 b auf:
Beratung der Beschlußempfehlung des Rechtsausschusses ({2})
Übersicht 13
über die dem Deutschen Bundestag zugeleiteten Streitsachen vor dem Bundesverfassungsgericht
- Drucksache 11/4789 -
Berichterstatter: Abgeordneter Helmrich
Wer stimmt dieser Beschlußempfehlung zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 c und 7 d auf:
c) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung ({4}) des Rates über viehseuchenrechtliche Fragen beim innergemeinschaftlichen Handel mit Embryonen von Hausrindern und ihre Einfuhr aus dritten Ländern
- Drucksachen 11/4238 Nr. 2.9, 11/5040 -
Berichterstatter: Abgeordneter Paintner
d) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates über
die viehseuchenrechtlichen Bedingungen für
den innergemeinschaftlichen Handel mit Geflügel und Bruteiern sowie für ihre Einfuhr aus Drittländern
- Drucksachen 11/4337 Nr. 10, 11/5041 -Berichterstatterin: Abgeordnete Frau Flinner
Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlungen? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann sind die Beschlußempfehlungen gegen die Stimme des Abgeordneten Conradi bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 7 e bis 7 h auf:
e) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({6})
Sammelübersicht 126 zu Petitionen
- Drucksache 11/5185 -
f) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({7})
Sammelübersicht 127 zu Petitionen
- Drucksache 11/5186 -
g) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({8})
Sammelübersicht 128 zu Petitionen
- Drucksache 11/5187 -
h) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({9})
Sammelübersicht 129 zu Petitionen
- Drucksache 11/5188 -
Es erhebt sich kein Widerspruch, wenn ich über die Drucksachen insgesamt abstimmen lasse. - Das ist der Fall.
Wer den Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 11/5185 bis 11/5188 zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann sind diese Beschlußempfehlungen bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7i auf:
i) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung ({10})
Antrag auf Genehmigung zur Durchführung eines Strafverfahrens
- Drucksache 11/5200 -
Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Nichtbeteiligung einiger Abgeordneter einstimmig angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 sowie die Zusatztagesordnungspunkte 3 bis 5 auf:
a) Erste Beratung des von der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur ErVizepräsident Cronenberg
richtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Zwangsarbeit"
- Drucksache 11/4704 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({11})
Auswärtiger Ausschuß
Finanzausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau
Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Politische und rechtliche Initiativen der Bundesregierung gegenüber den Nutznießern der NS-Zwangsarbeit
- Drucksache 11/4705 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({12})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer, Dr. Lippelt ({13}) und der Fraktion DIE GRÜNEN
Individualentschädigung für ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter unter der NS-Herrschaft durch ein Global-abkommen
- Drucksache 11/4706 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({14})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Haushaltsausschuß
d) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für NS-Unrecht"
- Drucksache 11/4838 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({15})
Rechtsausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Aufstockung des Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
- Drucksache 11/4841 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Innenausschuß ({16})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
f) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Errichtung einer Stiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit"
- Drucksache 11/5176 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({17}) Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß
ZP3 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Verbesserung der in den Richtlinien der Bundesregierung über Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen im Rahmen des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes vorgesehenen Leistungen und Erleichterungen bei der Beweisführung
- Drucksache 11/5164 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({18})
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP
Bericht über private Initiativen im Zusammenhang mit Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs
- Drucksache 11/5254 ZP5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Dr. Wisniewski und der Fraktion der CDU/CSU und des Abgeordneten Lüder und der Fraktion der FDP
Bericht über den Härtefonds für Nationalgeschädigte beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen
- Drucksache 11/5255 Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. Erhebt sich dagegen Widerspruch? - Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mehr als 10 Millionen Menschen wurden unter der NS-Herrschaft zur Zwangsarbeit verpflichtet, die auch das Europäische Parlament heute richtig als „Sklavenarbeit" kennzeichnet. Niemand, der heute über 55 Jahre alt ist und hier lebt, kann sagen, er habe davon nichts gewußt. Unter unsäglichen und erniedrigenden und demütigenden Bedingungen haben Frauen und Männer in der Landwirtschaft, in den Kommunen, in den Firmen mit den illustren Namen von deutschem Weltruf, in den Arbeitslagern und KZs ihre Arbeitskraft einsetzen müssen. Psychische Schäden haben alle aus dieser Zeit davongetragen, gesundheitliche viele, nicht wenige sind jenem Programm der „Vernichtung durch Arbeit" zum Opfer gefallen. Zwangsarbeit war die alltäglichste, die hautnaheste, die jedermann in jedem Dorf, in jeder Stadt einsehbare Form des NS-Unrechts.
Nach der Kapitulation legte das Nürnberger Tribunal der Siegermächte fest, daß eine Verpflichtung zum Schadenersatz für Zwangsarbeit und Deporta12224
tion für das deutsche Reich bestünde. Man hätte also annehmen können, daß es gar keine Rückkehr der beiden deutschen Staaten in die Völkergemeinschaft hätte geben dürfen, ohne daß die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter zumindest eine Entschädigung für die ihnen von deutschen Firmen und Kommunen zugefügten Quälereien durch Arbeit erhalten hätten. Aber das Gegenteil geschah, und wir haben uns heute zu fragen: Wie kam es eigentlich dazu, daß diese Frage nicht ein einziges Mal auf den Tisch dieses Hohen Hauses gekommen ist? Wie kam es, daß niemals darüber diskutiert wurde, daß das sogenannte Wirtschaftswunder und der traumhafte Aufschwung deutscher Firmen zur Weltspitze eine sehr, sehr blutige Vorgeschichte haben? Es ging um das Eingeständnis einer Schuld, einer millionenfachen Ausbeutung, und es ging immer um sehr viel Geld.
Die Bundesrepublik, oder besser: die Bundesregierung und die betreffenden Firmen waren in den Jahren der Gründung dieser Republik nicht bereit, diese dunkle, diese brutale Seite der Rechtsnachfolgerschaft des Deutschen Reiches anzutreten, die sie doch auf der Sonnenseite so gern für sich in Anspruch nahmen. Nichts drückt dies so deutlich aus wie die Verankerung des Territorialitätsprinzips in den Entschädigungsgesetzen. So brutal das ist: Wer nicht Deutscher war oder es nicht mehr sein wollte, wozu es gute Gründe gab, der war und blieb von allen Entschädigungsleistungen ausgeschlossen.
Weiterhin hat man Wert darauf gelegt, Entschädigungszahlungen überhaupt nur gegenüber den Weststaaten zu erwägen, obwohl bekanntlich die meisten Opfer des Nationalsozialismus in Osteuropa leben.
Den Zwangsarbeitern schließlich hat man das ihnen zugefügte Unrecht überhaupt ganz und gar bestritten. Es sei gar kein NS-Unrecht gewesen, so hieß es noch in späten Berichten der Bundesregierung, sondern es habe nur der Kriegswirtschaft gedient, sie zu erhöhtem Arbeitseinsatz zu zwingen, und das sei schließlich bei allen Kriegen normal. Diese abenteuerliche Rechtsauffassung wurde schließlich sogar noch vom Bundesgerichtshof aufrechterhalten und bestätigt, ein weiteres Beispiel dieser gigantischen Selbstentlastungskampagne der deutschen Justiz.
Eines fällt auf: Die Bundesrepublik stand allein da mit ihrer Rechtsauffassung, Zwangsarbeit sei kein NS-Unrecht, ja sie war sogar von seiten der westlichen Siegermächte als Bedingung der Souveränität ausdrücklich aufgefordert worden, den Opfern der NS-Herrschaft eine Entschädigung für die an ihnen begangenen Verbrechen zu erbringen.
Im Februar 1953 wurde das legendäre Londoner Schuldenabkommen mit den Weststaaten geschlossen. Auf dieses beruft sich die Bundesregierung seitdem notorisch und unbeirrt. Und das hat ungeheures Unrecht verursacht.
Die Aussage, die Bundesrepublik sei durch das Londoner Schuldenabkommen gehindert, Zahlungen an Zwangsarbeiter vorzunehmen, ja sie würde sozusagen vertragsbrüchig gegenüber den anderen Staaten, ist eine gigantische Lüge und Betrügerei, eine der größten unserer Nachkriegsgeschichte. Sie ist nicht einmal durch den Wortlaut des Abkommens gerechtfertigt. Sie stellt es geradezu auf den Kopf.
Das Abkommen nämlich stellt zunächst nichts mehr dar und wollte nichts mehr sein als eine Übergangsregelung. Es war von allen Beteiligten beabsichtigt, die Bundesrepublik nicht in einem Schlag mit einer solchen Fülle von finanziellen Forderungen zu überschütten, daß ihre Volkswirtschaft darunter zerbrechen würde. Dahinter steckt immerhin eine realistische Einschätzung des wirklichen, gigantischen Umfangs der von Deutschen verursachten Schäden und Verbrechen. Das Londoner Schuldenabkommen sollte deswegen der Bundesrepublik zunächst ermöglichen, eine „blühende Volksgemeinschaft" innerhalb der westlichen kapitalistischen Wirtschaftssysteme zu werden. Gleichwohl bezog es sich allein auf reparationsrechtliche Forderungen, wozu nach Auffassung der Weststaaten die Zwangsarbeit nicht gehörte.
Daß wir mit dieser Auffassung richtig liegen, läßt sich allein daraus ersehen, daß wenige Jahre später, im Jahre 1956/57, die Weststaaten nun erneut an die Bundesregierung herantraten, um ihren Anteil der Entschädigung für die bei ihnen lebenden ehemaligen Zwangsarbeiter zu beantragen. Am 21. Juni 1956 sah sich die Bundesregierung Bleichlautenden Noten von immerhin acht Weststaaten gegenüber, die eine Entschädigung verlangten. In den folgenden Jahren schloß dann auch die Bundesregierung mit diesen Weststaaten mehrere Globalverträge und fand dabei einen historischen Kompromiß.
Im Rahmen des Bundesentschädigungsgesetzes wurde zwar die Zwangsarbeit nicht entschädigt, aber die Weststaaten konnten aus den mit ihnen geschlossenen Globalabkommen an ihre Bürger Zahlungen leisten. Dieses Faktum war der Bundesregierung auch bekannt, ja es wurde von den Hofberichterstattern des Bundesfinanzministeriums ausdrücklich bestätigt.
Die im Londoner Schuldenabkommen aufgetragenen Belastungen waren schon nach wenigen Jahren abgegolten, ja man war sogar froh, durch vorzeitige Tilgungen den hohen Devisenüberschuß abtragen zu können. Mit uns ging es also aufwärts, immerzu brutal aufwärts. Und je reicher wir wurden, um so weniger waren wir bereit zu zahlen. Die historische Absicht des Londoner Schuldenabkommens, die „blühende Volksgemeinschaft" bei uns, war längst erfüllt. Jetzt aber wurde es für deutsche Politiker erst gerade lukrativ, immer wieder auf dieses Abkommen verweisen zu können. Hätten wir es nicht damals schon gehabt, wir hätten es regelrecht erfinden müssen.
Seit wir, die GRÜNEN, die ersten Initiativen in bezug auf Zwangsarbeit gemacht haben - und dies ist inzwischen schon unsere dritte - , wurde uns von wohlmeinenden Politikern aller Fraktionen immer zugeflüstert: Laßt das Ding lieber ruhen, es kommt uns doch zu teuer. Ich finde, es ist heute endlich an der Zeit, mit dieser historischen Lüge, mit diesem wohlmeinenden Einverständnis in den Betrug von Menschen und ihrer Rechte zu brechen. Der Deutsche Bundestag muß erklären: Zwangsarbeit war NS-Unrecht und begründet damit einen Anspruch auf Entschädigung.
Dabei sind zwei Dimensionen des Unrechts deutlich zu unterscheiden: das Unrecht, das durch die Verschleppung und Inhaftierung Haftschäden hervorgerufen hat, und die Forderung, einbehaltenen Lohn zu entschädigen. Diese letzte Forderung trifft den Staat und die Privatwirtschaft in gleicher Weise, denn beide haben sich durch die Zwangsarbeit erheblich bereichert.
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An beide muß man deswegen auch herantreten, wenn man wirklich mindestens eine symbolische Entschädigung will. Um nichts anderes handelt es sich nämlich bei unserem Antrag: Es geht im Grunde genommen nur noch um eine symbolische Entschädigung, allerdings mit einem ökonomischen Kern. Deswegen finden wir so viel Widerstand. Wir sind längst darüber verzweifelt, bei den Kräfteverhältnissen in diesem Bundestag eine nur annähernd angemessene Entschädigung zu erreichen.
Es ist deswegen besonders schäbig und ausweichend, es ist die alte Verzögerungstaktik, wenn die Regierungskoalition jetzt einen Bericht der Bundesrepublik zu den privaten Initiativen fordert, durch die Zwangsarbeiter eine ärmliche Lohnnachzahlung erhalten haben. Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie sollten einmal das Buch „Lohn des Grauens" von B. Ferencz lesen, um zu sehen, wie entsetzlich es war, wenn einzelne versucht haben, ihr Recht durchzusetzen, und dabei immer wieder im Nichts gelandet sind.
Unser Ansatz ist folgender: Der Bund selbst muß in Vorkasse treten und mit rechtlichen und politischen Mitteln versuchen, von den Firmen das Geld einzufordern, um das Stiftungsvermögen vorzufinanzieren. Wir wollen aber auch nicht, daß Zahlungen wiederum nur an ehemalige deutsche Zwangsarbeiter gehen. Die Mehrzahl der Anspruchsberechtigten lebt heute noch in den Ländern Osteuropas. Für diese Menschen, die bisher von jeglicher Entschädigung ausgeschlossen waren, haben wir beispielhaft die Bürger Polens genannt. Für alle diese besteht nicht nur eine besondere historische Verpflichtung gerade heute; viele leben auch in bitterster Armut. Deswegen wollen wir auch keine Schlechterstellung der ausländischen NS-Opfer, wie es der SPD-Antrag in der jetzigen Form vorsieht.
Der von uns genannte finanzielle Beitrag schließt zivilrechtliche Prozesse ausdrücklich keineswegs aus. Er will aber bewußt den Ausbau eines neuen bürokratischen Apparates vermeiden, der den Betroffenen mit komplizierten Berechnungen und Beweisverfahren ihre Ansprüche wiederum bestreitet und kleinlich zumißt.
In unserem Entwurf sind die notwendigen rentenrechtlichen Verbesserungen für die Zwangsarbeiter noch nicht enthalten. Wir werden aber in allernächster Zeit eine Initiative im Rahmen des Rentenreformgesetzes starten, um auch hier das Notwendige nachzuholen.
Ich sehe, daß überall an einer großen Koalition gebastelt wird. Wenn Sie in den Beratungen über die Rentenreform schon so viele sind und sich in so großer Gemeinsamkeit befinden, könnten Sie vielleicht die kleine Freundlichkeit haben, die Zwangsarbeiter wenigstens in der Rentenversicherung soweit zu berücksichtigen, daß diese schrecklichen Jahre bei ihrer armseligen Altersrente nicht als Null-Bilanz zu Buche schlagen, wie es zur Zeit der Fall ist. Im Augenblick ist es nämlich so, daß ihnen für diese Jahre nicht einmal diese Zeit bei ihrer Rente angerechnet wird.
Danke schön.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Wisniewski.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die unbegreiflichen Unrechtstaten nationalsozialistischer Machthaber an Deutschen und Ausländern sind auch heute noch, 50 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, bittere Realität. Viele der Opfer von Inhaftierung in Konzentrationslagern, Verschleppung, Zwangsarbeit unter menschenunwürdigen Bedingungen, Vertreibung, Ermordung naher Angehöriger, Zwangssterilisation und Verfolgungen aller Art sind noch unter uns.
Wir können das Geschehene nicht ungeschehen machen. Aber wir können Zeichen unserer tiefen Betroffenheit setzen und das erlittene Leid mildern. Dem dient die Wiedergutmachungsgesetzgebung, die gleich nach Kriegsende im Jahre 1946 einsetzte.
Neben den immer wieder erschreckenden Zahlen, die das Vernichtungswerk der Nationalsozialisten kennzeichnen, sind es gerade die Einzelschicksale, die betroffen machen. Das geschieht etwa, wenn man in dem Band „Verjagt, ermordet. Zeichnungen jüdischer Schüler von 1936 bis 1941" blättert und so erschütternde Bilder wie etwa jenes anschaut, das „Hiob" genannt ist und das zeigt, wie ein Mensch seine Qual hinausschreit. Es scheint ein Kind zu sein. Ilse Marx war Schülerin der 9. Klasse, als sie dieses Bild im Jahre 1936 malte.
Es gibt andere Bilder, die ebenso erschütternd sind, etwa das von Spinn-Conradts „Stadtbild: Von hier aus deportiert". Von einer Litfaßsäule lächelt scheu eine alte Frau, wie um Nachsicht und Erbarmen bittend. Im Hintergrund ist der Bahnhof Düsseldorf-Bilk zu sehen, von dem die Deportationszüge abgingen.
Das bekannt Gemälde von Nußbaum - das übrigens im historischen Museum in Berlin zu sehen sein wird - zeigt eine jüdische Familie, der Vater im jüdischen Trauergewand, und auch alle anderen blicken der Ausweglosigkeit entgegen.
Allen diesen genannten Bildern gemeinsam sind die unendlich traurigen Augen der Menschen, die lebten und fühlten wie wir alle und die nur wegen ihrer Abstammung einer gnadenlosen Ideologie und den von ihr verblendeten Menschen zum Opfer fielen. Ich erinnere an diese Bilder deshalb, weil ich glaube, daß wir in Zukunft noch stärker als bisher auch eine Art der geistigen Wiedergutmachung versuchen müssen.
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Solche Bilder wie diese und ihre Botschaften müssen stärker bekanntgemacht werden, und die kulturellen Einrichtungen, die uns bewußt machen, daß diese geistigen Werke vorhanden sind, müssen besser gefördert werden. Es ist ein ungeheurer geistiger Verlust, der unserem Volk durch die Vertreibung so vieler hochbegabter Menschen entstanden ist. Natürlich sind diese Bilder auch eine Mahnung an das, was wir im Moment tun müssen, nämlich an das Bemühen, die Wiedergutmachung, die finanzielle Wiedergutmachung, fortzuführen und zu verbessern.
Auch die heute hier zur Beratung anstehenden Vorlagen sind Ausdruck dieses Bemühens, aus der historischen Verantwortung für das geschehene Unrecht heraus für die Betroffenen Hilfe zu leisten, um die Leiden wenigstens etwas zu mildern; ungeschehen kann niemand von uns das Geschehene machen, und finanzielle Entschädigung kann weitgehend nur Zeichen sein für den guten Willen, der hinter diesem Bemühen um Wiedergutmachung steht. Mitleid und Betroffenheit, die wohl jeden immer erneut befallen, der sich mit diesem Geschehen konfrontiert sieht, dürfen nicht daran hindern, die politisch notwendigen Maßnahmen der Wiedergutmachung nüchtern und sachlich zu erörtern. Dafür bitte ich um Verständnis.
In der heutigen Debatte werden ein Gesetzentwurf und Anträge beraten, die drei Komplexe des breitgefächerten Bereichs der Wiedergutmachung ansprechen. Den ersten Komplex bildet die grundsätzliche Gestaltung der Wiedergutmachungsleistungen nach dem BEG-Schlußgesetz von 1965. Es geht um die Frage, ob es weiterhin Fonds geben soll, aus denen Leistungen für Härtefälle erbracht werden können, oder ob zu diesem Zweck eine Stiftung eingerichtet werden soll. Den zweiten Komplex bildet die Frage der Entschädigung für Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs. Hinzukommen als dritter Komplex Härteleistungen für Personen, die unter der NS-Gewaltherrschaft aus Gründen ihrer Nationalität unter menschenrechtswidrigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mußten. Die Entschädigung dieser Gruppe der national Geschädigten, wird durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen abgewickelt.
Zum zuerst genannten Komplex der grundsätzlichen Gestaltung der gegenwärtigen Wiedergutmachungsregelungen ist festzuhalten, daß der Deutsche Bundestag schon mehrfach mit Anträgen der derzeitigen Oppositionsfraktionen auf Einrichtung einer Stiftung befaßt war. Einen ersten Vorstoß unternahm die SPD-Fraktion im Jahre 1978 mit einem Gesetzentwurf, der jedoch nicht bis zur Verhandlung ins Plenum gelangte. Nach diesem Vorschlag sollte eine Stiftung eingerichtet werden, die mit 150 Millionen DM - verteilt auf drei Jahre - ausgestattet sein sollte. Dieser Vorschlag fand bei dem damaligen SPD-Bundeskanzler, Helmut Schmidt, keine Unterstützung, und es waren vermutlich dieselben Gründe, die auch heute noch Gültigkeit besitzen, die dieser Ablehnung zugrunde lagen.
({1})
Statt einer Stiftung wurden 1980 und 1981 - also in den Zeiten der sozialliberalen Koalition - Ergänzungsregelungen durch Wiedergutmachungsfonds begonnen, die heute noch bestehen und weiter ausgebaut werden.
In der 10. und 11. Legislaturperiode wurden die Pläne zur Errichtung einer Stiftung von den jetzigen Oppositionsfraktionen erneut aufgegriffen. Diesmal lehnten die Koalitionsfraktionen diese Vorschläge ab und entschlossen sich, die Fondslösung weiterzuführen. Der Deutsche Bundestag hat sich also bereits mehrmals gegen Stiftungslösungen entschieden und ist auf dem Weg geblieben, der mit den Fondsgründungen von 1980 und 1981 eingeschlagen wurde.
Erlauben Sie eine Zwischenbemerkung: Diese wenigen Daten aus der langen Geschichte der Wiedergutmachungsbemühungen des Deutschen Bundestages
({2})
zeigen etwas, das angesichts der belastenden Vorgänge, mit denen wir uns hier auseinandersetzen müssen, besonders wichtig ist: Es gibt eine über die Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg bestehende Kontinuität der Wiedergutmachungsarbeit des Deutschen Bundestages, und dies sollte auch in Zukunft so bleiben. Bei dem verhängnisvollen Teil unserer Geschichte, der Wiedergutmachung erfordert, muß der Parteienstreit vermieden werden.
({3})
Aber jetzt zur Gegenwart: Durch Beschluß des Deutschen Bundestages vom 3. Dezember 1987 wurden weitere 300 Millionen DM für Wiedergutmachungsleistungen zur Verfügung gestellt. Dadurch wurde es der Bundesregierung möglich, die 1980 und 1981 erlassenen Härteregelungen für jüdische und für nichtjüdische Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes weiterzuführen und teilweise zu verbessern.
({4})
- Das bedauern auch wir, Frau Vollmer. Das war aber gerade der Anlaß dafür, daß wir gemeinsam Vorschläge zur Verbesserung erarbeitet haben.
Der Deutsche Bundestag hat mit Beschluß vom 21. Juni 1989 die Bundesregierung um Prüfung der Frage gebeten, ob die Richtlinien für diesen Härtefonds in einigen Punkten verbessert werden können.
Dem nun vorliegenden Bericht der Bundesregierung auf Drucksache 11/5164 können wir entnehmen, daß die Bundesregierung den Empfehlungen, die vom Unterausschuß Wiedergutmachung erarbeitet und vom Innenausschuß übernommen wurden, gefolgt ist. Dabei ist vor allem erfreulich, daß bereits jetzt - ab 1. Juli 1989 - bei der Festsetzung der laufenden Leistung ein Freibetrag in Höhe von 300 DM angesetzt wird und daß der Grad der Behinderung als Voraussetzung für den Nachweis eines nachhaltigen Gesundheitsschadens, auf Grund dessen ZwangssteriliFrau Dr. Wisniewski
sierten laufende Leistungen gewährt werden können, von mindestens 40 % auf mindestens 25 % abgesenkt wird. Das sind wesentliche Verbesserungen. Sie haben sich in der kurzen Zeit, in der sie jetzt praktiziert werden, bereits positiv ausgewirkt. Wie ich höre, liegen inzwischen 80 Bewilligungsschreiben für Renten für Zwangssterilisierte vor. Das ist eine positive Entwicklung. Dennoch kann sie natürlich nicht als ausreichend bezeichnet werden. Weiterer Einsatz für die vielen alten und kranken Menschen ist dringend erforderlich.
Doch sei an dieser Stelle allen Beteiligten, den Kolleginnen und Kollegen in den zuständigen Bundestagsgremien, dem Bundesfinanzminister und seinen Beamten, den unermüdlich um Hilfe bemühten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Auskunftsstelle und der Oberfinanzdirektion Köln, vor allem aber auch Frau Nowack und ihren Mitstreiterinnen und Mitstreitern vom Verband der Zwangssterilisierten ausdrücklich Dank gesagt für den erreichten kleinen Fortschritt.
({5})
Wie gesagt: Das Erreichte ist noch nicht zufriedenstellend. Wir sollten vor allem weiterhin nach Wegen suchen, die es ermöglichen, auf die Vorlage eines fachärztlichen Gutachtens zur Feststellung des Grades der Behinderung bei Zwangssterilisation zu verzichten.
({6})
Dieser Punkt sollte im Zentrum der kommenden Beratungen stehen. Andere Petita, die ich hier nicht aufzählen will, kommen hinzu, auch in anderen Bereichen der Wiedergutmachung.
Jedenfalls aber ermutigen diese durch die Nachbesserung der Richtlinien erreichten Fortschritte dazu, die bisherigen Härtefondslösungen beizubehalten und sie weiter zu verbessern, dies vor allem im Hinblick darauf, daß den zumeist alten Menschen, die auf eine Entschädigung warten, schneller geholfen werden muß.
Die von der SPD-Fraktion geforderte generelle Umstellung auf eine Stiftungs-Lösung erscheint gerade auch angesichts dieser positiven Ansätze nicht ratsam, zumal, wie ein Blick in den Antrag der SPD zeigt, auch eine Stiftung nicht ohne Richtlinien auskommt und den bisherigen Gesetzgebungsrahmen nicht negieren kann.
Der zweite hier zu erörternde Komplex, die Wiedergutmachung für Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs, ist während der letzten Monate durch zahlreiche Gedenkveranstaltungen und Veröffentlichungen in das Bewußtsein vieler Menschen getreten. Zwischen 1941 und 1945 setzte das NS-Regime insgesamt knapp 8 Millionen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge für die Aufrechterhaltung der deutschen
Kriegswirtschaft - zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen - ein.
({7})
Der Bericht der Bundesregierung vom 31. Oktober 1986 gibt bereits darüber Auskunft, in welchen Fällen Zwangsarbeiter Entschädigungen erhalten konnten. Darüber hinausgehende Schadensersatzansprüche ehemaliger ausländischer Zwangsarbeiter können gemäß dem Londoner Schuldenabkommen von 1953 nicht erfüllt werden.
({8})
An dieser klaren Rechtsposition werden die vorgelegten Anträge der Oppositionsfraktionen wohl nichts ändern können.
Es muß aber darauf hingewiesen werden, daß private Initiativen ergriffen worden sind, um zur Wiedergutmachung des Unrechts auch an diesen Menschen beizutragen. Und es muß überlegt werden, ob diese privaten Initiativen nicht erweitert werden können.
({9})
Es gibt mehrere große deutsche Unternehmen, die Entschädigungszahlungen in Millionenhöhe geleistet haben, etwa an jüdische Organisationen, wie dem schon genannten Bericht der Bundesregierung zu entnehmen ist. Um aber einen besseren Überblick über die besondere Rechtslage, die vielfältigen Probleme, aber auch die privaten Initiativen in diesem Bereich zu erhalten, fordern die Koalitionsfraktionen von der Bundesregierung einen ausführlichen Bericht als Grundlage für die weiteren Beratungen.
({10})
- Aber, liebe Frau Vollmer, manchmal haben die Berichte uns doch schon gewaltig weitergeholfen. Warten wir es doch einmal ab!
({11})
- Gut, vielleicht nur ein wenig weitergeholfen.
Auch die Probleme, die im Zusammenhang mit den Nationalgeschädigten stehen, bedürfen einer eingehenden Darstellung in einem Bericht der Bundesregierung. Diese Forderung der Koalitionsfraktionen bleibt auch dann bestehen, wenn die Erfüllung des Petitums des Antrags, den diesbezüglichen Härtefonds beim Hohen Flüchtlingskommissar um 2 Millionen DM aufzustocken, inzwischen durch den Bundesfinanzminister erfreulicherweise in Aussicht gestellt worden ist.
Lassen Sie mich schließen mit den Worten Edzard Reuters, des Vorstandsvorsitzenden der Daimler-Benz AG, und es ist erschreckend, zu wissen, daß Ende 1944 bei der Daimler-Benz AG 29 500 Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen beschäftigt waren. Angesichts dieser Zahl sagt Edzard Reuter:
Es gibt keine materielle Entschädigung für das, was in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist.
({12})
Er nannte die 20 Millionen DM, die der Konzern den ehemaligen Zwangsarbeitern indirekt zukommen ließ,
({13})
„keine Entschädigung, sondern eine Geste in Würdigung des Schicksals der Betroffenen".
Sicher kann man mehr tun. Es wird zu fragen und zu überlegen sein, in welcher Weise hier am besten geholfen werden kann. Jedenfalls werden die Beratungen über die hier eingebrachten Vorlagen in dem Bewußtsein der historischen Verantwortung, in der wir alle stehen, zu führen sein.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion empfiehlt die Überweisung der Vorlagen an die Ausschüsse und die Annahme der Anträge der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
({14})
Das Wort hat der Abgeordnete Waltemathe.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir sind mit Recht stolz auf das 40jährige Bestehen der Bundesrepublik Deutschland und des demokratisch gewählten und demokratisch zusammengesetzten Deutschen Bundestages. Sicherlich ist ein solches 40jähriges Jubiläum Anlaß genug, die insgesamt positive Entwicklung zu einer stabilen parlamentarischen Demokratie zu würdigen.
Aber eine solche Würdigung darf uns nicht davon abhalten, auch die Unterlassungen und die Schattenseiten auszuleuchten und ihre Beseitigung anzupakken. Eine der für mich schmerzlichsten Schattenseiten ist die Situation der sogenannten vergessenen Opfer des NS-Unrechtssystems, über die wir heute - wiederum - debattieren müssen.
Am 3. Dezember 1987, also vor knapp zwei Jahren, lagen schon einmal Gesetzesanträge der SPD-Bundestagsfraktion vor, eine öffentliche Stiftung einzurichten, aus der heraus für Zwangssterilisierte, Euthanasiegeschädigte, Opfer von medizinischen Versuchen, Homosexuelle, Wehrkraftzersetzer, Kommunisten, Sinti und Roma und und und - damals stellten wir uns vor, möglicherweise aus der gleichen Stiftung Zwangsarbeiter zu entschädigen; da haben wir heute eine andere Auffassung; dazu wird der Kollege Lambinus Stellung nehmen - Einmalentschädigungen bekommen, in bestimmten Fällen auch laufende Rentenzahlungen und für manche, insbesondere diejenigen, die Spätschäden haben, Heilfürsorge bzw. Behandlungen und Kuren finanziert werden.
Unsere Anträge, die damals vorlagen, und auch die Anträge der GRÜNEN von damals wurden abgelehnt.
Dabei hatte im Juni 1987 eine öffentliche Anhörung des Innenausschusses ergeben, daß wohl nur ein Stiftungsmodell eine praktikable und eine unbürokratische Regelung zulasse.
({0})
Für die Stiftung sprach schon damals - und spricht heute erst recht - , daß ihre gewählten Vertreter in einem Beirat als Anwälte der Geschädigten auftreten sollten und nicht als der verlängerte Arm des Staates. Die Stiftung sollte und soll die Forderung nach weniger Bürokratie sicherstellen. Die Stiftung soll eine finanzielle Beteiligung der Länder möglich machen. Die Stiftung soll nicht an frühere Entscheidungen in anderen Entschädigungsverfahren gebunden sein, gleichgültig, nach welchen Rechtsgrundlagen diese durchgeführt wurden.
({1})
Die Koalition hat sich dem grundsätzlichen Anliegen einer Entschädigung für die vergessenen Opfer nicht verschlossen. Aber nicht mit inhaltlichen, sondern mit organisatorischen Argumenten stimmte sie damals gegen das Stiftungsmodell. Sie setzte auf die Einrichtung eines weiteren Härtefonds und stellte für die Jahre 1988 bis 1991 in vier unterschiedlichen Jahresraten eine Summe von insgesamt 300 Millionen DM zur Verfügung. Sie setzte auf die bestehende Widergutmachungsbürokratie, die sie für bewährt und kompetent hielt.
In der Debatte am 3. Dezember 1987 habe ich erklärt - ich will mich nicht lange selbst zitieren; es ist nur ein Satz Es steht zu befürchten, daß bei einem neuen Härtefonds dieselben Beamten, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Anträge ablehnten, auch neue Anträge zurückweisen werden.
Leider hat sich diese Befürchtung bewahrheitet. Allein die Zahlen bestätigen es. Ich brauche gar nicht auf die menschlichen Schicksale an diesem Punkt einzugehen. 1988 gingen 1 369 Anträge auf einmalige Beihilfe und 353 Anträge auf laufende Beihilfe ein. Von den 1 369 Anträgen auf Einmalleistungen wurden in 916 Fällen je 5 000 DM genehmigt. Das sind 67 % der Anträge. Von diesen Anträgen wären die meisten ohnehin nach Richtlinien bewilligt worden, die auch schon vorher galten, nämlich seit 1980. Von den 353 Anträgen auf laufende Beihilfe wurden lediglich 10 bewilligt. Das sind ganze 2,8 %. Mit anderen Worten: Mit den Bewilligungen nach den neuen Härterichtlinien wurden gerade einmal 1,6 Millionen DM zusätzlich ausgegeben. Das sind 3,2 % der 50 Millionen DM, die im Haushalt des Jahres 1988 standen.
Diese Bewilligungspraxis kann nicht im Sinne des Gesetzgebers sein. So schaffen die neuen Härteregelungen wieder neue Härten, so werden Verfolgte erneut zu Opfern gemacht, nur dieses Mal zu Opfern der neuen restriktiven Regelungen.
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So werden sie wohl immer noch warten, die Opfer, von denen ich schon 1987 sprach: der Mann, der seit einigen Jahren unter Spätfolgen zu leiden hat, unter Alpträumen, Schweißausbrüchen, schweren DepresWaltemathe
sionen, dem grauenhafte Vergangenheitsbilder ständig vor Augen sind, ihn nicht mehr zur Ruhe kommen lassen. Er bräuchte dringend psychosoziale Betreuung; die stark sehbehinderte Frau, die sich 1945, im siebten Monat schwanger, auf ihr Kind freute, die zwangsweise in ein Krankenhaus eingewiesen wurde, wo dieses Kind, das sie haben wollte, gegen ihren Willen abgetrieben und sie selbst zwangssterilisiert wurde. Diese Frau ist heute 64 Jahre alt und lebt in einem Blindenheim. Wäre es wirklich nicht möglich, ihr einmal eine Kur zu bezahlen, ihr mögliche kleine Annehmlichkeiten im Alter zukommen zu lassen?
Ich sprach von den anderen: den Zwangsarbeitern, den Kommunisten, den Homosexuellen, den damals als asozial Eingestuften, den sogenannten Wehrkraftzersetzern, den noch lebenden Mitgliedern der Edelweißpiraten, der Swingjugend usw.
Die Bundesregierung und die Koalition haben - nicht ohne unsere Zustimmung, was das Geld anbelangt - mit einer durchaus generösen Geste viel Geld zur Verfügung gestellt, um das für viele sehr lästige Kapitel der Entschädigung von NS-Unrecht nun endgültig in eine Art Schlußgeste abschließen zu können. Ihren guten Willen mag ich überhaupt nicht abstreiten. Aber immer noch sind die Richtlinien des neuen Härtefonds restriktiv, ist die Vergabepraxis sehr kleinlich.
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Die stolze Zahl von 300 Millionen DM ist weiterhin für Tausende von Verfolgten und Opfern ohne jeglichen Belang. Sie bleiben ausgegrenzt, weil sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, weil sie, obwohl sie Deutsche sind, ihren Wohnsitz nicht in der Bundesrepublik Deutschland haben, weil sie sich nicht in eindeutiger Notlage befinden, weil sie nach 1945 eine Straftat begangen haben, für die sie zu mehr als drei Jahren Freiheitsentzug verurteilt wurden, oder weil sie „nur" Zwangsarbeiter waren.
Erneut wurden auch jetzt Anträge abgelehnt: Herr K., der nach 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit erworben hat, konnte keine Beihilfe bekommen. Der Ablehnungsgrund: Er hätte zur Zeit der NS-Verfolgung, also vor 1945, die deutsche Volkszugehörigkeit besitzen müssen.
Zweiter Fall: Da wurde ein Zweitantrag von Herrn R. abgelehnt, obwohl bei ihm jetzt ein Spätschaden erkennbar ist und er sich eindeutig in einer Notlage befindet. Die Ablehnung erfolgte mit dem Argument: „Ein ,Zweitverfahren' würde der Grundkonzeption der von der Bundesregierung getroffenen außergesetzlichen Härteregelung widersprechen. " Hier wiehert der Amtsschimmel auf geradezu höhnische Art und Weise. Hier zeigt sich erneut die Paragraphenreiterei, die wir mit einer Stiftung gerade vermeiden wollten.
Dritter Fall: Frau G. ist Witwe. Ihr Mann saß fünf Jahre im KZ Dachau, hatte sich dort ein Magenleiden zugezogen und erhielt dafür eine Gesundheitsschadensrente nach dem Bundesentschädigungsgesetz. Frau G., die ihren Mann pflegen mußte, klagte nach dessen Tod auf Witwenrente. Diese wird ihr aber seit fünf Jahren verwehrt, da Uneinigkeit unter den medizinischen Sachverständigen über die Todesursache ihres Mannes herrscht. Frau G. hat eine eigene Rente von 640 DM. Warum ist man eigentlich bei den Witwen von Verfolgten so abweisend, während der Witwe des Volksgerichtshofspräsidenten eine satte Pension zugesprochen wurde?
Herr B. wurde 1936 wegen „Vorbereitung zum Hochverrat" verurteilt und saß elf Jahre im Zuchthaus, davon ein Jahr in Ketten. Herr B. ist Kommunist, stand auch nach dem Parteiverbot immer noch zu seiner kommunistischen Gesinnung. 1966 wurde er wegen „Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht" zu 22 Monaten Gefängnis verurteilt. Aus diesem Grunde wurde ihm eine Gesundheitsschadensrente nach dem BEG aberkannt. Herr B. ist heute über 80 Jahre alt. Würde es zu unseren Feiern zum 40jährigen Bestehen der Bundesrepublik nicht ganz gut passen, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, wie es in dem ganz anders gelagerten Fall des Rudolf Heß immer wieder großzügig gefordert wurde?
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Frau B. ist eine Euthanasie-Geschädigte. Ihre Mutter wurde 1941 vergast. Damals war Frau B. ein Kind von zehn Jahren. Ihr Vater kümmerte sich nicht um sie. Elternlos mußte sie schon als Kind viele Demütigungen und Entbehrungen erleiden. Sie hat heute eine Rente von 270 DM und ein weiteres kleines Einkommen.
Seit acht Jahren versucht sie, eine Entschädigung für den Tod ihrer Mutter zu erhalten, aber vergebens. Auch nach den neuen Richtlinien gibt es bisher keine Entscheidung, weil „die Richtlinien für Opfer der Euthanasie so unklar" seien, „daß eine Entscheidung schwerfalle" , wie die Sachbearbeiter zugeben.
Diese Beispiele, meine Damen und Herren, sind entmutigend, entmutigend für die Betroffenen, die sich immer noch oder wieder einmal als „Opfer 2.Klasse" fühlen müssen. Aber sie sind auch für uns entmutigend, die wir seit Jahren für die Verbesserung der Entschädigungspraxis eintreten.
Da stimmt es mich auch nicht optimistisch, wenn jetzt im Unterausschuß „Wiedergutmachung von NS-Unrecht" nach eineinhalb Jahren Erfahrung mit der Härteregelung einvernehmlich, also mit unser aller Stimmen in diesem Unterausschuß, durchgesetzt worden ist, den Grad der Beschädigung für eine Rentenzahlung von 40 % auf 25 % zu reduzieren, und es ist für mich auch nur ein kleiner Trost, wenn beschlossen wurde, daß mindestens 300 DM einer ausgezahlten Rente nicht auf die Sozialhilfe angerechnet werden dürfen.
Wir stehen nämlich erneut an dem Punkt, die Einrichtung einer Stiftung fordern zu müssen, nicht aus Rechthaberei, sondern damit das Geld, das wir bewilligt haben - wir wollen ja gar nicht mehr haben -, auch sinnvoll ausgegeben werden kann. Für uns gilt, um es in den Worten von Carl Zuckmayer zu sagen: „Zuerst kommt der Mensch, dann kommt die Menschenordnung. "
Wir wollen, daß 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland als demokratischer und sozialer Rechtsstaat endlich eine sehr späte Genugtu12230
ung für Menschen erreicht wird, die durch NS-Unrecht Schaden in ihrem persönlichen und gesundheitlichen Bereich genommen haben und die sich jahrzehntelang einer sogenannten zweiten Verfolgung ausgesetzt fühlten. Um dieses Ziel zu erreichen, plädieren wir erneut für das Stiftungsmodell, mit dem wir heute gemeinsam als Demokraten im Sinne der „vergessenen Opfer" unsere Pflicht tun können.
Danke schön.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.
Herr Prädident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte zu verschiedenen Aspekten der Wiedergutmachung von NS-Unrecht findet am Ende eines Jahres statt, das für unsere jüdischen Mitbürger und für uns alle mit der schmerzhaften Erinnerung an die November-Pogrome des Jahres 1938 begann und das im Zeichen des Gedenkens an manchen Jahrestag schrecklicher Nazi-Untaten stand. Nach alter Zeitrechnung beginnt morgen abend das jüdische Jahr 5750. Wenn wir heute oder morgen unseren Mitbürgern im In- und Ausland unsere besten Neujahrswünsche übermitteln, können und sollten wir einhalten und über die Verpflichtung nachdenken, die uns allen aus unserer jüngsten Geschichte auch heute noch auferlegt ist.
Noch immer leben Opfer des NS-Terrors unter uns, die für das Unrecht, das ihnen angetan wurde, für das Leid, das ihnen geschah, für den Schaden, den sie erlitten haben, in diesen 40 Jahren unserer Demokratie nicht einen Pfennig Entschädigung erhalten haben.
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- Trotzdem, Frau Vollmer, werde ich draußen immer wieder gefragt, ob nicht endlich einmal Schluß mit immer neuen Entschädigungsregelungen sein sollte und sein könnte. Diesen Zweiflern unter unseren Mitbürgern müssen wir laut und vernehmlich sagen: Es geht nicht um eine zweite Wiedergutmachung. Wir dürfen unsere Augen und Ohren nicht davor verschließen, daß manche Mitbürger 50 Jahre lang auch darunter zu leiden hatten, daß ihr Schmerz, ihr Opfer nicht einmal symbolisch anerkannt wurde. Mit den Jahren darf unsere Verantwortung nicht abnehmen. Das Verantwortungsbewußtsein hat bei vielen von uns zugenommen, weil wir wissen: Verlängertes Leid ist verstärktes Leid.
Ich will nicht alles wiederholen, was ich hier in früheren Debatten für meine Fraktion gesagt habe. Wir hatten uns in einem harten Ringen um eine akzeptable Härteregelung zur Entschädigung von NS-Opfern mit der Regierung auf eine Regelung verständigt, deren Zwischenbilanz - ich wiederhole bewußt - ich nur als beschämend bezeichnen kann.
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Inzwischen hat die Bundesregierung auf den Wunsch des Bundestages hin - Herr Kollege Waltemathe hat das eben auch angesprochen - ihre Richtlinien in einigen Punkten verbessert. Als ich mein Manuskript schrieb, zögerte ich mit der üblichen Feststellung: Wir sind der Regierung dankbar, daß sie dem Wunsch des Parlaments entsprochen hat. Wem ist eine Regierung eigentlich sonst verpflichtet, wenn nicht dem Wunsch des Parlaments?
Ich füge hinzu, daß der Regierungsbericht für meine Fraktion und für mich persönlich nicht das letzte Wort sein kann.
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Wir erwarten, insbesondere für die Zwangssterilisierten, mehr Rücksichtnahme auf deren Schicksal. Wir wollen deswegen nach wie vor das Facharztprivileg eingeschränkt wissen.
Meine Damen und Herren, heute geht es im wesentlichen um fünf Punkte. Erstens. Noch einmal - das ist eben deutlich geworden - ist durch einen der Anträge der SPD-Fraktion die Gründung einer Stiftung ins Gespräch gebracht worden, durch die den Härtefällen unter den Opfern des NS-Terrors die Hilfe, die nach Auffassung der Koalition durch die Härtefonds gegeben werden soll, schneller zuteil werden soll.
Wir haben das Modell einer solchen Stiftung vor Jahr und Tag verworfen. Wir waren, Herr Waltemathe, anderer Auffassung in der Einschätzung dessen, was die Anhörung erbracht hat. Wir haben uns damals für die Härterichtlinien eingesetzt, die jetzt verbessert und praktiziert werden. Heute geht es nicht um die Wiederholung einer früheren Entscheidung. Dabei wäre ich vielleicht, das sage ich ganz offen, nachdenklicher und aufgeschlossener als zu früheren Zeiten. Heute aber die Härteregelung zu ändern und jetzt eine solche Stiftung ins Leben zu rufen, neben den Härterichtlinien, heißt,
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Erwartungen zu wecken, die wir nicht befriedigen können,
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heißt, Versprechungen zu geben, die wir nicht einlösen können, heißt letztlich, den Betroffenen Illusionen zu machen, wo nur reale Betrachtung helfen kann.
Zweitens. Mit einem kleinen Absatz geht die SPD in jenem Antrag darauf ein, daß auch für die jüdischen Verfolgten Möglichkeiten eröffnet werden sollen, in besonderen Härtefällen laufende und nicht nur einmalige Leistungen zu erhalten, wie es für nichtjüdische Verfolgte möglich ist.
Hier sage ich uneingeschränkt ja zum Gleichbehandlungsgrundsatz, ja dazu, daß auch jüdische Verfolgte in Notlagen nicht nur eine Einmalzahlung bis zu 5 000 DM erhalten sollen, sondern in Einzelfällen auch wiederkehrende Leistungen. Ich hoffe, daß die Verhandlungen mit der Bundesregierung dazu zügig und erfolgreich abgeschlossen werden können. Wir sind ja eigentlich schon längst im Zeitverzug mit dem, was die Gespräche erbracht haben.
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Drittens. Ein Schwerpunkt der Anträge der SPD und der GRÜNEN betrifft die ungelösten Probleme der Zwangsarbeiter. Ich weiß um die rechtliche, insbesondere völkerrechtliche, und politische Problematik dabei. Ich weiß, daß es eine akzeptable öffentliche Stiftungslösung nicht geben kann. Ich habe auch Gespräche geführt, die eine parlamentarisch zulässige Bewertung nicht ermöglichen. Es waren Gespräche mit denen, die man als Koalitionsabgeordneter fragen muß, wenn man etwas durchsetzen will. Ich sage: Der parlamentarisch stilistische Rahmen reicht nicht aus, um hier auszudrücken, was man empfindet, weil wir keine parlamentarisch zulässigen Ausdrücke haben, um Ekel deutlich zu reflektieren. Meine Damen und Herren, ich will es mit allem Nachdruck sagen: Das, was hier von der Regierung bisher an Nein gekommen ist, das, was wir in diesen Jahren seit der Anhörung 1987 erlebt haben, führt dazu, daß wir deutlicher reden müssen und daß wir mehr machen müssen. Wenn wir jetzt einen Berichtsauftrag formuliert haben, so sollte sich niemand der Illusion hingeben, daß wir es bei dem Bericht bewenden lassen wollen.
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Wir wollen den Bericht als Entscheidungsgrundlage haben, um Neues und mehr zu machen. Wir wollen Ihnen auch in der Überlegung entgegenkommen, daß wir in Härtefällen auch etwas für die Zwangsarbeiter tun müssen. Wir können nicht mit zusehen, daß 50 Jahre nach der Zwangsarbeit hier immer noch Härtefälle, Individuen, Menschen auf uns zukommen, uns angucken, uns fragen und uns bitten. Sie sollen nicht bitten müssen, vielmehr müssen wir geben wollen. Dazu muß etwas Privates ermöglicht werden; dazu werden wir auch Anregungen geben.
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Als Grundlage dazu erwarten wir den Bericht.
Viertens. Beim Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen gibt es einen kleinen Fonds, mit dem relativ wenig Betroffenen mit relativ kleinen Beträgen doch so viel geholfen werden kann. Seit Monaten sehen wir die Unfähigkeit der Beteiligten, gemeinsam eine Lösung zu finden. Der Koalitionsantrag zum Berichtsauftrag soll Druck dafür geben, daß die Bundesregierung auf den Hohen Flüchtlingskommissar zugeht. Dann wollen wir wissen, mit welchen Größenordnungen und Forderungen wir es zu tun haben. Hier ist nicht der Hohe Flüchtlingskommissar der Petent an die Bundesregierung, sondern die Bundesregierung steht seit dem Überleitungsvertrag in der Pflicht, auf den Hohen Flüchtlingskommissar in gleichem Maße zuzugehen und nicht in Sprachlosigkeit zu enden, wenn Opfer auf der Straße stehen und Geld erwarten.
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Fünftens. Ich weiß, daß das, was ich hier gefordert habe, und die Initiativen, die ich hier für meine Fraktion angekündigt habe, auch Geld kosten. Ich weiß, wie schwer es war und welchen persönlichen Einfluß der Bundeskanzler selbst nahm - ich sage sogar: auch nehmen mußte - , bis für die in dieser Legislaturperiode durchgesetzten Härteregelungen ein Geldbetrag von 300 Millionen DM zur Verfügung gestellt wurde. Ich habe aber auch gelernt, daß der Bundesfinanzminister offenbar fiskalisch zu vorsichtig rechnet, wenn es um Angelegenheiten der Wiedergutmachung geht. Anders konnte die erschreckende Fehlkalkulation nicht passieren, daß im letzten Jahr von bereitgestellten 50 Millionen DM nur 1,5 Millionen DM ausgegeben wurden.
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Nicht nur bei den angeforderten Mitteln für Härtefälle kalkuliert das Finanzministerium lebensfremd. Ich empfehle allen Kollegen einen Blick auf die jährlichen Veröffentlichungen über die „Leistungen der öffentlichen Hand auf dem Gebiet der Wiedergutmachung". Da variiert die Schätzung der zukünftigen Ausgaben von einem Jahr zum anderen nicht etwa um Millionenbeträge.
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Die Schätzung der zukünftigen Ausgaben für die Wiedergutmachung variiert in zwölf Monaten um 17 Milliarden DM. Rechnete die Regierung für voraussichtliche künftige Leistungen am 1. Januar 1988 noch mit 22 Milliarden DM, von denen gut 2 Milliarden im Jahr 1988 abgeflossen sind, sprang die Prognose zum 1. Januar 1989 auf sage und schreibe 37 Milliarden DM, ohne daß dies erläutert wurde. Das hieß, man signalisiert, daß wir noch 37 Milliarden DM ausgeben würden. Diese Zahl ist unrealistisch und zu hoch. Die Bundesregierung rechnet mit Leistungen der Wiedergutmachung bis zum Jahr 2030. Den größten Teil machen davon die Renten nach dem Bundesentschädigungsgesetz aus.
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Das durchschnittliche Lebensalter der Holocaust-Überlebenden beläuft sich nach einer Berechnung der Knesset zur Zeit auf 67 Jahre. Im Jahre 2030, bis zu dem die Bundesregierung rechnet, wäre danach das durchschnittliche Lebensalter der Opfer 108 Jahre. Die Realitätsferne der Regierungsschätzung liegt damit auf der Hand. Das muß man mal in aller Deutlichkeit sagen. Wir dürfen doch niemandem, weder uns noch den Opfern, vorspiegeln, daß wir noch Milliardenbeträge bereithalten, während wir wissen, daß wir diese nicht ausgeben werden.
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Ich bitte den Finanzminister: Rücken Sie von diesen fiktiven 17 Milliarden DM, die Sie im letzten Jahr errechnet haben, jetzt 3 Milliarden DM für die Opfer heraus! Denn jetzt brauchen sie sie. Wenn wir 10 % davon jährlich ausgeben, dann haben wir alle Probleme gelöst. Aber spiegeln wir uns nicht etwas vor! Hier muß - Entschuldigung - mit allem Nachdruck deutlich geredet werden. Drei Jahre Arbeit hier bringen uns zur Verzweiflung, aber sie bringen die Opfer nicht weiter. Deswegen sage ich hier: 3 Milliarden DM sind minimal gegenüber dem, was Sie an 17 Mil-harden geschätzten Fiktionen auf den Tisch werfen. Geben Sie diese Summe für die Opfer! Dann helfen
wir. Dann werden wir unserer geschichtlichen Verantwortung gerecht.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Vollmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Herr Lüder! Die Debatte wird ja für uns alle immer schwieriger in dieser Frage.
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Sie ist einfach auch so voll von einer feinsinnigen und subtilen Brutalität, vor allem in den Fakten, daß das sehr schwer auszuhalten ist. Mir fallen dabei auch viele Szenen aus dem Unterausschuß ein. Ich weiß deshalb auch gar nicht, wie schwarz ich eigentlich über Ihren Antrag lachen soll, weil Sie, die Koalitionsfraktionen, nun wiederum eine Unterrichtung der Bundesregierung über die Härteleistung fordern und daß die an die zuständigen Ausschüsse überwiesen werden sollen. Das war ja der Antrag von uns, den GRÜNEN, den Sie im Juni dieses Jahrs im Plenum ausdrücklich abgelehnt haben. Ich denke, wir haben inzwischen alle so viele gemeinsame Erfahrungen, daß wir wissen, daß dieses Scheinhandeln an Stelle des Handelns einfach nicht mehr geht. Noch ein Bericht und noch eine dieser unsäglichen Antworten dieses unsäglichen Finanzministeriums? Ich muß sagen: Ich kann das kaum noch ertragen.
Es ist Ihnen allen bekannt - ich selbst habe zu verschiedenen Terminen darauf hingewiesen, und ich weiß auch, daß Renate Schmidt ganz häufig auf das Schicksal der Nationalgeschädigten hingewiesen hat -, und Sie wissen schon längst, daß der Hohe Flüchtlingskommissar die sehr geringen Mittel aufgebraucht hat. Er hat uns wiederholt geschrieben. Und jetzt soll es noch einmal einen Bericht geben, ob dies denn so sei? Ich finde, das geht nicht mehr. Da muß jetzt sofort etwas passieren.
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Dasselbe Spiel mit der Unterrichtung über die Härterichtlinien. Ich finde, es muß irgendwann einmal eine Bereitschaft bestehen, sich aus der sklavischen Abhängigkeit von diesem Finanzministerium zu befreien
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und nicht noch einmal Herrn Hubrich so auf den Leim zu gehen. Soll man denn daran erinnern, wie das in dem Unterausschuß war, wo nach Berichten des Vertreters des Zentralrats der Roma und Sinti gesagt worden ist, daß das Ministerium natürlich den Betroffenen keinerlei Auskunft schuldig sei, und daß dann, wenn dieser den Raum verlassen hat, die hämischen Bemerkungen darüber kommen, daß die ja alle keine Ahnung hätten. Ich finde, daß dies auch der Würde dieses Parlaments - aber auf die kommt es ja in diesem Fall überhaupt nicht an - , aber vor allem dem Schicksal der Betroffenen nicht mehr gerecht wird. Deswegen denke ich, es gibt überhaupt nur noch einen Maßstab, etwas zu machen:
Erstens weg vom Finanzministerium und hin zu einer Möglichkeit einer Stiftung, die uns endgültig unabhängig macht.
Zweitens Umkehr der Beweislast.
Drittens so unbürokratisch wie nur irgend möglich und schnell.
Allen Berechnungen, die Sie, Herr Lüder, angestellt haben, kann man nur zustimmen. Diese Zahlen, mit denen da gerechnet wird, sind absurd. Dies gilt z. B. für die 130 Millionen DM. Die sind für zehn Jahre gedacht. Das ist so, als wenn Sie den Rüstungshaushalt mit 550 Milliarden DM angäben. Das wäre dann auch für zehn Jahre gerechnet. Mit einer solchen Art von Berechnung werden hier Schrecken erzeugt, und das Geld kommt nicht dahin, wo es hingehört, nämlich in die Hände der Leute, die wirklich arm sind und die ein Minimum an Anerkennung brauchen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Lambinus.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und 44 Jahre nach dem Ende des Terrorregimes der Nazis beschäftigen wir uns heute wieder mit Problemen der Wiedergutmachung.
Vieles wurde von unseren Vorgängerinnen und Vorgängern in diesem Hause auf diesem Gebiet bereits getan, aber nicht alles, was nötig war. Ganze Gruppen von Gequälten und Erniedrigten wurden - aus welchen Gründen auch immer - vergessen oder an den Rand geschoben. Wir müssen im Interesse dieser Menschen - aber auch im Interesse unserer eigenen Glaubwürdigkeit - aufhören, Frau Kollegin Dr. Vollmer, für diese Versäumnisse nach Schuldigen zu suchen.
Machen wir uns ans Werk, jetzt endlich gemeinsam das zu tun, was überfällig ist!
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- Vergessen wir das, was war, Frau Kollegin Dr. Vollmer, und handeln wir endlich gemeinsam!
Millionen Menschen wurden in den Jahren 1938 bis 1945 zu schrecklichen und menschenverachtenden Bedingungen zur Fronarbeit, vor allem für die deutsche Kriegswirtschaft, gezwungen. Tausende kamen dabei ums Leben. Sie starben an Unterernährung, Kälte und durch Schikane. Abertausende haben dieses Martyrium überlebt, viele von ihnen nicht ohne bleibende Schäden an Leib und Seele. Sie leiden noch heute. Und wir, die wir in einem der reichsten Länder der Welt leben, hatten bisher für diese Frauen und Männer oft nur dürre Worte, manchmal salbungsvoll dargebracht, bei hehren Gedenkveranstaltungen übrig - wenn überhaupt.
Wir können diesen Menschen heute nicht ihre gestohlene Jugend und ihre geraubte Gesundheit zurückgeben. Aber wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen, die schlimmsten Folgen zu lindern, und dies
darf nicht länger an formaljuristischen Spitzfindigkeiten - hinter denen sich oft nur Gedankenlosigkeit und mangelnde Sensibilität verstecken - scheitern.
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Aus diesem Grund haben wir einen Antrag vorgelegt, der die Bundesregierung beauftragt, eine Stiftung „Entschädigung für Zwangsarbeit" zu errichten, durch die ehemalige Zwangsarbeiter, die in der Vergangenheit keinerlei Entschädigungsleistungen oder nur eine geringe Anerkennung der Zwangsarbeitszeiten in der Rentenversicherung erhalten haben, auf Antrag einmalige Leistungen erhalten können.
Wir schlagen eine Stiftung vor, weil wir wollen, daß diese Leistungen schnell und unbürokratisch gewährt werden können, und weil wir wollen, daß diese Regelung aus den Händen des Finanzministeriums genommen wird.
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Wir sagen: Der Weg über eine Stiftung würde manchen Firmen und Kommunen, die Zwangsarbeiter beschäftigten, einen Eigenbeitrag zu dieser Stiftung erleichtern.
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Ernst Waltemathe hat weitere Gründe für eine Stiftung genannt.
Ich rufe Sie alle auf, schnell zu entscheiden. Das sind wir jenen schuldig, die während des Nazi-Regimes durch Deutschland litten und noch heute leiden. Hören wir auf, das, was wir tun müssen, länger zu vertagen und vor uns herzuschieben, nur weil es später billiger wird. Es geht um Menschen, die unsere bisherige Verweigerung nur als zynisch verstehen können.
Stehen wir im Jahr der Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen unserer Republik auch zu jenen Pflichten aus der Zeit davor, die wir bisher nicht erfüllt haben! Dies sind wir nicht nur den noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern schuldig, sondern auch unserer eigenen Glaubwürdigkeit.
Lassen Sie mich zitieren, was am 11. September 1952, in der 1. Legislaturperiode, in der 229. Sitzung des Bundestages gesagt wurde:
Unser Ziel muß sein, das Menschenmögliche an Wiedergutmachung zu leisten. Denn Empfänger dieser Leistungen sind nicht allein die durch Unrecht Verfolgten, sondern ist die gesamte Rechtsgemeinschaft, weil es darum geht, Deutschland wieder ehrlich zu machen. Auch bleibt uns die schmerzliche Einsicht nicht versagt, wie klein selbst die größte Leistung leider sein wird angesichts des Übermaßes an Unmenschlichkeit, das geschehen ist. Nichts wird das Blut und die Tränen auslöschen können, die für immer diese Blätter der deutschen Geschichte trüben und verdunkeln. Aber wir wollen ein neues Blatt der Geschichte beginnen, das die Überschrift tragen soll: Helfen, um wiedergutzumachen! ... Reichen wir uns zu diesem Werk der Versöhnung die
Hand! Wir sind aufgefordert, hier allen Streit schweigen zu lassen und uns zu finden im Geist der Menschlichkeit.
Dieses Zitat stammt von dem Sozialdemokraten Adolf Arndt. Das Protokoll verzeichnet „Beifall bei der SPD und Abgeordneten der CDU".
Was Adolf Arndt vor 37 Jahren sagte, ist auf weiten Teilgebieten erfüllt und auf anderen, insbesondere bei den heute anstehenden Fragen, noch immer hochaktuell. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam tun, was zu tun ist, um dieser von Adolf Arndt beschriebenen Ehrlichkeit noch ein Stück näherzukommen.
Recht herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mich zu Wort gemeldet, weil ich, obgleich ich in dem Unterausschuß Wiedergutmachung nicht tätig bin, einmal diese Gelegenheit nutzen wollte, um den Kolleginnen und Kollegen von ganzem Herzen zu danken, die sich seit Jahr und Tag - leider, wie wir hören, weitgehend vergebens - bemühen, die bewilligten Mittel auch schnell und unbürokratisch an die Opfer und an die Betroffenen weiterzugeben. Herzlichen Dank Ihnen allen! Sie tun stellvertretend für uns eine Arbeit, die Ihre Seele, Ihr Herz sicher sehr häufig bis an die Grenze der Erträglichkeit belastet hat. Vielen schönen Dank dafür.
Als zweites möchte ich sagen: Es ist ein Trauerspiel. Auch ich habe mich vor zwei Jahren zunächst mit dem Argument beschwichtigen lassen, ein Fonds arbeite rascher als eine Stiftung. Aber ich muß schon heute ankündigen: Wenn es nicht gelingt, bis Ende des Jahres, des 40. Jahres der Existenz der Bundesrepublik Deutschland, eine glaubwürdige Lösung herbeizuführen, dann werde ich als Abgeordnete der Koalition für eine Stiftung stimmen, weil mir das dann der einzige Weg zu sein scheint, um die Mittel freizubekommen und endlich an die Opfer weiterzugeben, die sie so lange vergeblich erwartet haben und die sie dringend brauchen; denn sie stehen am Lebensende und können nicht noch bis zum Jahre 2030 warten.
Das dritte ist: Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, hier geht es jetzt nun wirklich einmal um eine Kraftprobe zwischen Legislative und Exekutive.
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Wie lange lassen wir uns das noch bieten? Ich appelliere an Sie, Herr Staatssekretär Carstens - auch Sie sind einer der unseren - : Legen Sie jetzt das Manuskript weg, das man Ihnen geschrieben hat, und sagen Sie uns zu, daß die Mittel, die genehmigt sind, schnell und unbürokratisch den Menschen zugute kommen, die sie verdienen und die bisher vergeblich darauf gewartet haben. Ich glaube, damit täten Sie nicht nur dem Ansehen des Parlaments einen hohen Dienst, sondern vor allem den armen Opfern der Verfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus.
Frau Dr. Hamm-Brücher Vielen Dank.
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Das Wort hat die Abgeordnete Renate Schmidt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Auch das folgende steht nicht im Manuskript: Wenn ich mir das anhöre, was Frau Professor Wisniewski und Herr Lüder gesagt haben, was Sie, Frau Hamm-Brücher, gesagt haben, was Antje Vollmer, Uwe Lambinus und Ernst Waltemathe gesagt haben und was ich jetzt sagen werde, dann frage ich mich, warum wir das jetzt nicht wirklich tun.
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Der Bestand der Regierung wird wohl nicht an 300 Millionen DM zu messen sein,
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und das Selbstbewußtsein könnten wir uns ja wohl wirklich leisten, daß wir sagen: Dann tun wir es doch endlich! Außerdem haben wir ja die Mittel. Wie lange sollen denn die Menschen eigentlich noch warten?
Frau Hamm-Brücher, ich glaube, ein Bericht wird uns jetzt nicht weiterbringen.
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Ich habe immer großes Verständnis dafür, wenn Kollegen Informationen brauchen. Ich halte es für unparlamentarisch, ihnen solche Informationen zu verweigern, aber ein Bericht bringt uns nicht weiter.
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Wir kennen doch inzwischen den Mechanismus - Herr Lüder hat es in großer Offenheit gesagt -, wie das läuft. Ich mache das noch nicht so lange wie viele, die hier sitzen. Aber seitdem ich es mache, ist es doch, Herr Carstens, immer dasselbe. Wenn wir Anträge stellen, spricht die Bundesregierung von der Schwemme, von der Flut der Menschen. Es ist übrigens im Zusammenhang mit Menschen in letzter Zeit dauernd von Schwemme, Flut und ähnlichen Dingen die Rede; aber dies nur nebenbei. Sie spricht also von einer Flut von Menschen, von irrsinnigen Zahlen. Dann bescheiden wir uns, und die Mehrheit sagt: Wir sind in der Verantwortung, und wir können das so nicht tun; dann bescheiden wir uns mit einer kleinen Lösung. Dann kommt diese kleine Lösung, und man stellt fest, daß die Schwemme, die Flut und die riesigen Zahlen nicht da sind. Dann stellen wir neue Anträge, und uns wird gesagt: Wenn wir das machen, dann kommt die Schwemme, die Flut. - Ich könnte so in meiner gesamten Redezeit weitermachen.
Ich bin der Meinung, daß wir das Ganze bleiben lassen sollten, daß wir uns zwar gerne berichten lassen, uns aber von den Berichten nicht stören lassen sollten, sondern endlich das tun sollten, was notwendig ist.
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Notwendig ist, daß wir jetzt endlich in einem ersten Schritt diese 300 Millionen DM ausgeben.
Ich war im Verlauf der zweijährigen Diskussion nicht an jedem Tag, an dem wir darüber diskutiert haben, der Meinung, daß unsere Stiftungslösung wirklich das Gelbe vom Ei ist. Es gab Momente, in denen ich gedacht habe: Na ja, vielleicht haben die da doch recht. Ich bin heute wesentlich stärker als im Laufe der Diskussion, z. B. im Februar 1988, der Meinung, daß das die einzig mögliche Lösung ist. Dies ist auch eine Frage dessen, wie unser Rechtsstaat konstruiert ist. Wir werden nämlich bei Härterichtlinien, die im Rahmen von Gesetzen festgelegt sind, die wir an bestimmten Stellen für ungerecht halten, immer wieder an Grenzen stoßen. Wir werden die Fälle, die Herr Waltemathe hier eindringlich geschildert hat, die Fälle, die ich Ihnen vor der Sommerpause versucht habe nahezubringen, damit garantiert nicht lösen können. Deshalb glaube ich, daß eine Stiftung, wie wir sie vorschlagen, die geeignetste Lösung ist.
Ich versichere Ihnen nochmals: Wir hängen an keinem einzigen Satz in diesem Entwurf. Wir versuchen mit den bescheidenen Mitteln der Opposition und zusammen mit Menschen, die von der Wiedergutmachungsgesetzgebung nicht erfaßt sind und über viele Jahrzehnte nicht erfaßt waren, etwas vorzulegen. Wenn es dort Änderungsnotwendigkeiten gibt, dann sind wir mit Ihnen bereit, Änderungen vorzunehmen. Wir hängen an nichts. Aber das Prinzip dieser Lösung erscheint uns als das einzig richtige.
Ich frage mich immer wieder, warum wir - Kollege Waltemathe hat es eben gesagt - gerade von den Opfern dauernd Nachweise über Nachweise über Nachweise verlangen. Wir sind doch sonst nicht so pingelig. Bei anderen Personengruppen lassen wir doch auch einmal fünfe gerade sein. Hier sind wir in einer Art akribisch, daß ich das Gefühl habe, es ist das schlechte Gewissen. Wir wollen nicht, daß es diese Opfer noch gibt, wir wollen ihre Opfereigenschaft und ihre Verfolgteneigenschaft schlicht und einfach wegreden. Wieso können wir eigentlich nicht über unseren Schatten springen und zugestehen, daß Fälle wie die des Gustav L. - wir haben es jetzt alle erfahren -, der sich trotz des Verbots der KPD weiterhin für die Ziele und Belange dieser Partei eingesetzt hat und deshalb die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpft habe, und diese Art der Rechtsprechung aus der damaligen Situation des Kalten Krieges hervorgegangen sind?
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Der Gang dieser Menschen ins KZ hat nichts damit zu tun, daß sie nach 1945 nach wie vor zu ihren Überzeugungen gestanden und vielleicht ein paar Flugblätter verteilt haben. Wenn wir bisher ihren Gang ins KZ im nachhinein damit rechtfertigten, daß wir sie nicht als Opfer ansahen und von Entschädigungen ausschlossen, so ändern wir das doch endlich! Wir sind doch
Frau Schmidt ({6})
Manns und Fraus genug, dies endlich in Angriff zu nehmen.
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Ich glaube, es gibt noch eine weitere Schwierigkeit. Wir sehen das vielleicht auch ein bißchen daran, wie stark wir jetzt im Parlament vertreten sind; ich weiß ja - natürlich nicht von jedem einzelnen -, wo die Kollegen im Moment stecken.
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Es ist die Schwierigkeit, sich vorzustellen, daß jetzt, 44 Jahre nach Ende des Krieges, so viele Menschen erstmalig Anträge stellen. Es ist eine Diskussion nicht nur in unserem Land, es ist eine Diskussion auch in vielen anderen Ländern. Es ist eine Diskussion in Israel, es ist eine Diskussion in Polen und in Ungarn. Wir bekommen Briefe aus der ganzen Welt, wenn nur irgendwo in einer Zeitung im Ausland steht, daß wir uns mit dieser Frage beschäftigen, und wenn dabei unser Name genannt wird.
Es liegt daran, daß diese Menschen heute als alte Menschen auf Grund ihrer kleinen Renten, auf Grund der Tatsache, daß sie die Möglichkeit nicht hatten, in ihrem Beruf tatsächlich etwas zu werden, da ihnen dies durch die Verfolgung unmöglich gemacht worden ist, und weil sie nicht mehr in einen Betrieb eingebunden sind, jetzt plötzlich Depressionen haben, schwere psychische Schäden erfahren und ihre Vergangenheit und teilweise auch die Schuldgefühle der überlebenden Opfer nicht mehr verdrängen können.
Ich habe mit meinen Kollegen und Kolleginnen im Unterausschuß und auch mit der Kollegin Frau Professor Wisniewski und mit dem Kollegen Lüder über zwei Jahre vergeblich versucht, eine Regelung für diese Spätfolgenopfer in die Härterichtlinien auf zunehmen.
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Wenn wir jetzt alle zum Ausdruck bringen, daß wir das wollen, dann sage ich nur noch einmal: Tun wir es, bitte, endlich, und warten wir nicht länger, bis uns auch die letzten von denen weggestorben sind.
Ich sehe einen dritten Grund für unsere Schwierigkeiten. Wir messen mit unterschiedlichen Maßstäben. Ich kritisiere überhaupt nicht, und ich möchte da jetzt nicht einen falschen Zungenschlag hineinbringen, es aber dennoch sagen: Es gibt viele Menschen, die heute noch unter den Folgen des Krieges leiden. Wir legen sehr strenge Maßstäbe an, wenn es sich um die deutsche Staatsangehörigkeit eines Verfolgten handelt. Die jüngsten Stellungnahmen gerade des Bundesministeriums der Finanzen zeigen uns das. Dagegen langt uns zur Anerkennung der deutschen Volkszugehörigkeit bei Aussiedlern z. B. der Nachweis, daß sie bei der SS waren - wenn ich der Berichterstattung und der Organisation Weiße Rose glauben darf.
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Während das Londoner Schuldenabkommen sonst je nach Belieben für die Begründung der Unzulässigkeit oder Zulässigkeit irgendwelcher Ansprüche herangezogen wird, sagen wir: Es ist nicht möglich, für Zwangsarbeiter irgend etwas zu tun. Wir haben, wie es die Kollegin Vollmer gerade gesagt hat, mit acht westeuropäischen Ländern Globalabkommen abgeschlossen, nachzulesen in den Berichten der Bundesregierung. In diesen acht Ländern sind für nichtdeutsche Zwangsarbeiter Entschädigungen gezahlt worden. Warum soll das nicht auch für andere Länder gelten? Warum tun wir nicht das, was wir mit unseren Stiftungen hier vorschlagen? Ich bin der Meinung: Packen wir das jetzt bitte, bitte endlich an. Ich möchte das zum Erfolg führen, solange ich dem Deutschen Bundestag noch angehöre, vielleicht sogar ein bißchen früher.
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Ich danke Ihnen.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister der Finanzen, Herr Carstens.
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Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Es hat zwar eine Portion Kritik gegenüber der Bundesregierung gegeben, aber ich möchte mich als erstes für die Würdigung bedanken, die der Bericht der Bundesregierung vom 11. September 1989 erfahren hat.
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Die in diesem Bericht enthaltenen Verbesserungen hat man hier - ich freue mich darüber - wohlwollend zur Kenntnis genommen.
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Dieser Bericht beweist, daß die Bundesregierung bereit ist, realisierbare Anregungen aufzugreifen und den gegebenen Handlungsrahmen auszuschöpfen.
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Mit Sicherheit werden wir das auch im Verlaufe der jetzt anstehenden Beratungen in den Ausschüssen so praktizieren.
In diesem Zusammenhang möchte ich den Ministerialdirektor Hubrich, dessen Name hier einige Male genannt wurde,
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sehr in Schutz nehmen. Er ist ein untadeliger Beamter des Bundesfinanzministeriums.
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Ich kann und möchte nicht zulassen, daß die hier durch die Tonlage zum Ausdruck gebrachten Vorwürfe stehenbleiben, und weise sie hiermit zurück.
({5})
Wir haben heute in der ersten Beratung eine Menge von Vorlagen zu behandeln, die, wenn man so will, drei Problembereiche umfassen. Ich will das nicht noch einmal ausführen - das ist einige Male geschehen - und werde dazu gleich einiges Grundsätzliche sagen. Ich meine, daß das auch in die Beratungen der zuständigen Ausschüsse einbezogen werden muß. Der Bundestag ist ja der Souverän, und was der Bundestag beschließen wird, wird diese Bundesregierung auch ausführen. Das ist völlig klar.
({6})
Es ist unsere Aufgabe, nun aber auch unsere Argumentation mit einzubringen und dafür zu sorgen, daß sie entsprechend berücksichtigt werden kann.
({7})
Gestatten Sie mir aber, daß ich auch meinerseits noch einige Ausführungen zu dem Gesamtbereich mache, bevor ich dann auf die einzelnen Problemkreise eingehe.
Meine Damen und Herren, uns allen sind die unübersehbaren Leiden bewußt, die den Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zugefügt worden sind. In dem Bemühen, sich der historischen Verantwortung für die Untaten des NS-Regimes zu stellen, haben Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung in der Bundesrepublik Deutschland die moralische und finanzielle Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts stets als vorrangige Aufgabe behandelt. Ich darf das für alle Bundesregierungen, auch für die Vorgängerregierung, in Anspruch nehmen.
Sie sind sich dabei aber auch bewußt, daß materielle Entschädigungsleistungen die zutiefst menschenverachtenden Gewaltakte der Nationalsozialisten nicht wiedergutmachen können. Finanzielle Entschädigung kann feigen Mord, Folterung, Unfreiheit, Gewalt und den Verlust von Angehörigen nicht ungeschehen machen, sondern nur Ausdruck des ernsthaften Willens sein, die erlittenen Schäden zu mildern.
({8})
Die Wiedergutmachungsgesetzgebung ist - das muß man wissen - abgeschlossen. Das war auch die Meinung der Rednerinnen und Redner. Das hat der Deutsche Bundestag schon bei der Verabschiedung des Bundesentschädigungs-Schlußgesetzes im Jahre 1965 festgestellt. Die Mehrheit der Sachverständigen hat dies bei der Anhörung im Deutschen Bundestag am 24. Juni 1987 bekräftigt.
Auch wenn aus heutiger Sicht die Regelungen zur Entschädigung nationalsozialistischen Unrechts in einigen Punkten unvollkommen erscheinen, darf man die Gesamtregelung nicht allein aus einer Ex-post-Betrachtung heraus würdigen. Ich möchte deshalb für viele Stimmen einen jüdischen Fachmann, den Mentor des Wiedergutmachungsrechts, den leider im letzten Jahr verstorbenen Züricher Rechtsanwalt Walter Schwarz, zitieren, der gesagt hat, die Bundesrepublik Deutschland könne stolz sein auf das Werk der Wiedergutmachung. Ich kann den eben zum Ausdruck gebrachten Vorwurf von gigantischer Lüge, Frau Kollegin Vollmer, ebenfalls nicht stehenlassen, sondern weise ihn mit Nachdruck zurück.
({9})
Bis zum Jahresende 1988 wurden über 82 Milliarden DM an Leistungen erbracht. Bis zur Gesamtabwicklung werden es deutlich über 100 Milliarden DM sein. Die Wiedergutmachungsgesetzgebung hat Maßstäbe und Rahmen gesetzt, die auch für jede Nachfolgeregelung maßgebend sind, denn die Gesetze gelten weiter.
({10})
Ich darf beispielhaft vier Grundsätze nennen, die bei jeder Folgeregelung beachtet werden müssen: zum einen die Beachtung des Londoner Schuldenabkommens. Das ist nicht allein zu beachten, aber das ist einer der vier Grundsätze.
({11})
Weiter: Territorialitätsprinzip, Gewährung von Entschädigungen an geschädigte Einzelpersonen, nicht an Gruppen, sowie Differenzierung der Entschädigung nach Art und Ausmaß des eingetretenen Schadens.
Alle Folgeregelungen, die nach dem BEG-Schlußgesetz erlassen wurden, haben diese Grundsätze beachtet. Es wäre deshalb weder verfassungsrechtlich noch entschädigungspolitisch vertretbar, wenn jetzt, mehr als 20 Jahre seit Abschluß der Wiedergutmachungsgesetzgebung und bald zehn Jahre seit Erlaß der ersten Härterichtlinien, Regelungen geschaffen würden, welche die vom Gesetzgeber getroffenen Grundsatzentscheidungen aufgäben.
({12})
- Frau Kollegin, ich habe nicht den Eindruck gehabt, als wenn man das in Frage stellen wollte. Aber ich muß doch die Möglichkeit haben, diese Position für die Beratungen im Unterausschuß und in den zuständigen Ausschüssen einzubringen.
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Die Konsequenz solcher Regelungen, wie die Opposition sie fordert, wäre eine weitgehend bessere Behandlung der Geschädigten, die erst jetzt Ansprüche geltend machen, gegenüber den weit über einer MilParl. Staatssekretär Carstens
lion Geschädigten, die nach den gesetzlichen Vorschriften rechtzeitig Entschädigung beantragt hatten, und gegenüber den inzwischen mehr als 100 000 Geschädigten, die Leistungen nach den 1980, 1981 und 1988 erlassenen Richtlinien erhalten haben. Das wäre grob ungerecht.
({14})
Es ist nicht möglich und wohl auch von niemandem beabsichtigt, alle bereits abgeschlossenen Verfahren neu aufzurollen - vielleicht erübrigt sich Ihre Zwischenfrage, Frau Kollegin Hamm-Brücher, wenn ich dies hier zum Ausdruck bringe - , um an diese Fälle neue Beurteilungs- und Entschädigungsmaßstäbe anzulegen. Deshalb ist es nur folgerichtig, alle noch offenen Fälle nach den gleichen Grundsätzen zu behandeln, die nach den bestehenden gesetzlichen und außergesetzlichen Regelungen gelten.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher?
Ja, gern.
Herr Staatssekretär, ich darf Sie in diesem Zusammenhang vielleicht auch als Kollegen ansprechen. Sie haben die 300 Millionen DM für diese Wiedergutmachungsleistungen mitbeschlossen. Würden Sie uns jetzt freundlicherweise einmal sagen, wie, nachdem nach einem Jahr kaum 1,7 Millionen DM ausgegeben worden sind, die Verfahren so gestaltet werden, daß die bewilligten Mittel auch bald an die Betroffenen gelangen? Auf diese Frage erwarten wir doch heute eine Antwort von Ihnen.
Frau Kollegin Hamm-Brücher, ich freue mich über Ihre Feststellung, daß die 300 Millionen DM in den Bundeshaushalt eingestellt worden sind.
({0})
Ich kann mich noch gut daran erinnern, daß ich damals dem Haushaltsausschuß angehört habe. Ich habe also mitgestimmt, und zwar gern. Ich habe aber festgestellt - es ist also richtig, was Sie gesagt haben -, daß die Mittel nur sehr bedingt abgeflossen sind. Das Geld hat zwar zur Verfügung gestanden, aber die Richtlinien waren so gestrickt,
({1})
daß wohl viele Personen, von denen man angenommen hat, sie seien antragsberechtigt, aus diesem Fonds, aus diesem Topf keine Mittel bekommen konnten.
({2})
Wir haben nun nach einer Reihe von Gesprächen mit Abgeordneten, aber auch mit Verbandsvertretern diese Richtlinien geändert. Das ist auch in unserem Bericht enthalten, den ich eben hier angesprochen habe und der entsprechend gewürdigt worden ist. Wir im Finanzministerium sind der Meinung, daß auf Grund dieser neuen Richtlinie erheblich mehr Mittel abfließen werden als bisher.
({3})
Wie viele Mittel tatsächlich abfließen werden, weiß man aber immer erst am Ende eines Jahres.
({4})
Ich bitte Sie, das abzuwarten, damit Sie gegebenenfalls neue Konsequenzen ziehen können, wenn diese Ergebnisse vorliegen.
Ich möchte jetzt auf die drei Punkte eingehen, die heute bei der ersten Lesung des Gesetzentwurfs und der Anträge speziell angesprochen werden. Wir werden dann ja noch Gelegenheit haben, die Themen im zuständigen Unterausschuß zu behandeln. Ich will Ihnen gern zusagen - vielleicht möchten auch Sie, Frau Kollegin Hamm-Brücher, an den Sitzungen teilnehmen -, daß ich zwar möglicherweise nicht an allen Sitzungen, aber doch an den Sitzungen, in denen die Dinge am Schluß zusammengebracht werden, teilnehmen möchte, um ein Bild von Ihren Vorstellungen zu haben und um zu sehen, zu welchem guten Ergebnis wir dort kommen können.
({5})
Ich möchte mit dem Punkt „Aufstockung des Härtefonds des Hohen Flüchtlingskommissars" beginnen. Dies war auch einer der Punkte, der hier bemängelt und kritisch angesprochen worden ist. Hierzu kann ich Ihnen sagen, daß die Bundesregierung zur Zeit Verhandlungen führt und daß ich davon ausgehe, daß diese Verhandlungen in Kürze abgeschlossen werden. Der Hohe Flüchtlingskommissar wird dann in der Lage sein, Antragstellern aus dem Kreis der Nationalgeschädigten, die wegen der Ausschöpfung der Mittel zur Zeit nicht mehr zum Zuge kommen, wieder eine Härtebeihilfe zu gewähren. Die Bundesregierung ist gern bereit, dem Bundestag über das Verhandlungsergebnis zu berichten.
Damit sind wir also bei einem der Punkte zumindest in einem erheblichen Teilbereich auf einem guten Wege. Vielleicht können wir schon bei den ersten Unterausschußsitzungen berichten. Ich will das gerne übernehmen. Sie sehen also, daß wir bei einem dieser drei Punkte in einem wichtigen Teilbereich auf dem Wege eines erfolgreichen Abschlusses sind.
Dann möchte ich den Vorschlag mit der Stiftung aufgreifen. Sie müssen bedenken, daß auch dabei die Voraussetzungen und die Grenzen, die der Gesetzgeber in den Entschädigungsgesetzen bestimmt hat, selbstverständlich beachtet werden müssen. Das ist völlig klar.
({6})
Jede Loslösung von Vorverfahren und früheren Entscheidungen würde das Gleichheitsgebot tangieren. Deshalb könnte eine Stiftung, gleich, ob privaten oder öffentlichen Rechts, die sich an die Vorgaben des Gesetzgebers hielte, in den noch verbliebenen Härtefällen nicht wirksamer helfen, als dies durch die bestehenden Härteregelungen geschieht.
({7})
Es sollte auch Einvernehmen darüber bestehen, daß eine Stiftung nach bürgerlichem Recht kein akzeptabler Lösungsweg ist. Der Gesetzgeber darf sich nicht aus seiner Verantwortung herausstehlen und den Abschluß des gesamten Entschädigungswerks einer Person des privaten Rechts überlassen.
({8})
Hinzu kommen Schwierigkeiten bei der praktischen Durchführung, da keine Organisationseinheit und kein ausgebildetes Personal vorhanden sind.
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Es waren nicht zuletzt diese Gründe, die - ich möchte das auch mit einer Jahreszahl versehen - in den Jahren 1979/80 die damalige Regierung und alle damals im Bundestag vertretenen Fraktionen veranlaßt haben, von einer Stiftungslösung abzusehen und sich für den Erlaß von Härtefallrichtlinien zu entscheiden. Auch das sollte man nicht vergessen. Weil andere vor mir das nicht angesprochen haben, hielt ich es für meine Pflicht, das zu tun.
Diese Härtefallregelungen haben sich bewährt. Das gilt auch für die Härtefallregelung im Bereich des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes. Sie soll auf Grund der Entschließung des Bundestags vom 21. Juni dieses Jahres in einigen Punkten, insbesondere zugunsten der Zwangssterilisierten, noch verbessert werden. Das ist beschlossen und wird sicherlich Berücksichtigung finden.
Ich darf abschließend auf die angestrebte Entschädigung für Zwangsarbeit zu sprechen kommen. - Diese Anträge rufen den Eindruck hervor, als seien ehemalige Zwangsarbeiter von jeder Entschädigungsregelung ausgenommen.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Vollmer?
Bitte sehr!
Herr Staatssekretär, weil Sie die Hoffnung haben, daß es jetzt besser wird, und wir im letzten Jahr den Bericht nicht nach einem halben Jahr bekommen konnten - Sie waren, wie gesagt worden ist, so schrecklich damit beschäftigt, all das Geld auszugeben, daß Sie den Bericht erst nach einem Jahr vorlegen konnten - , frage ich Sie: Können Sie zusagen, daß wir diesmal den Bericht schon nach einem halben Jahr bekommen, damit wir die Wahrheit Ihrer jetzigen Einschätzung eher überprüfen können und gegebenenfalls noch etwas korrigieren können? Denn sonst wird der Bundestag ja schon aufgelöst sein.
Frau Kollegin Vollmer, die Regierung ist ja sehr beständig und wird sicherlich auch noch nach 1990 weiter regieren.
({0})
Wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir den Bericht am 21. September 1989 dem Bundestag auf Grund einer Beschlußfassung vom Juni 1989, basierend auf einer Beschlußfassung des Innenausschusses vorgelegt, d. h. wir haben den Bericht innerhalb von drei Monaten abgegeben.
({1})
Ich sage Ihnen zu, daß ich mich persönlich darum kümmern werde, daß der Bericht so schnell wie möglich bei Ihnen, beim Deutschen Bundestag eingeht, damit Sie das dann auch in Ihre Beratungen einbeziehen können.
({2})
- Ich kann Ihnen jetzt nicht sagen - das werden Sie verstehen - , wann Ihnen der Bericht zugehen wird. Ich sage Ihnen aber zu: so schnell wie möglich. Das können Sie im nachhinein dann auch unschwer überprüfen.
Ich sage noch einmal, daß die Anträge und auch die Ausführungen zum Teil den Eindruck erwecken mußten, als wäre die Zwangsarbeit völlig aus jeder Entschädigungsregelung ausgenommen. Das entspricht nicht den Tatsachen. Zwar ist eine Entschädigung für entgangenen Lohn grundsätzlich ausgeschlossen;
({3})
ich darf aber in Erinnerung rufen, daß Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes, die Zwangsarbeit in einem Konzentrationslager oder sonst unter haftähnlichen Bedingungen leisten mußten, für die erlittene Haft, für Gesundheitsschäden
({4})
und für Schäden in der beruflichen Existenz nach dem BEG entschädigt worden sind,
({5})
wenn sie fristgemäß einen Antrag gestellt hatten und die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen gegeben waren.
Andere Opfer nationalsozialistischen Unrechts konnten nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz für die erlittene Haft und für Gesundheitsschäden entschädigt werden. Ebenso haben Personen, die aus Gründen ihrer Nationalität unter menschenrechtswidParl. Staatssekretär Carstens
rigen Bedingungen Zwangsarbeit leisten mußten, für dabei erlittene Gesundheitsschäden Entschädigungen nach dem BEG-Schlußgesetz oder durch den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen auf Grund mehrerer zwischen diesem und der Bundesrepublik geschlossenen Abkommen erhalten.
({6})
- Das kann ich Ihnen nicht auf Anhieb sagen. Es ist aber in der Tat so, wie ich das festgestellt habe. Das ist auch völlig unbestritten. Ich habe das nur gesagt, weil jeder Zuhörer, der sich bei dieser Thematik nicht so präzise auskennt, den Eindruck bekommen mußte, als würde die Zwangsarbeit überhaupt nicht, in keinem Fall entschädigt.
({7})
Eine über diesen Rahmen hinausgehende Entschädigung für Zwangsarbeiter, wie sie die Opposition in ihren Anträgen fordert, ist aus rechtlichen Gründen nicht möglich.
({8})
Dann müßte das Gesetz geändert werden, dann müßte man die Voraussetzungen dafür schaffen.
({9})
Ich habe soeben darauf aufmerksam gemacht, daß noch 1979/80,
({10})
bei einer völlig anderen Bundesregierung, entsprechende Überlegungen nicht umgesetzt worden sind.
({11})
Auch das möchte ich Ihnen in aller Ruhe und Geduld sagen. Das darf nicht vergessen werden.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine weitere Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schmidt?
Ja, gern.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß trotz des Londoner Schuldenabkommens Globalabkommen - ich habe jetzt nicht genau im Kopf, ob es insgesamt acht, neun oder zehn solcher Abkommen sind; Frau Kollegin Vollmer und ich haben sie erwähnt - mit westeuropäischen Staaten abgeschlossen worden sind und daß diese Staaten ehemalige Zwangsarbeiter auf ihrem Territorium eben mit diesem Geld entschädigt haben, und wo liegt jetzt der Unterschied, wenn wir in unserem Stiftungsgesetz die Öffnungsklausel haben, ein solches Globalabkommen mit Staaten abzuschließen, mit denen das bisher nicht geschehen ist?
Frau Kollegin, ich komme gleich noch auf den Punkt zurück. Ich habe nur noch wenige Minuten Zeit und will dann im Verlauf der Rede noch auf das eingehen, wonach Sie gefragt haben.
({0})
- Bitte.
Herr Staatssekretär, können Sie mich einfach einmal aufklären, wieso Sie für Härteleistungen eine besondere gesetzliche Regelung brauchen, wenn ein entsprechender Betrag mit einem entsprechenden Titel im Haushaltsgesetz eingerückt ist? Können Sie mir das einmal erklären?
Man muß hier zwischen den einzelnen Tatbeständen, die erfüllt sein müssen, um Geldleistungen vornehmen zu können, sehr wohl unterscheiden. Ich habe zwischen den Bereichen, in denen es um Zwangsarbeit in vormaliger Zeit geht, der Stiftung und Härtefällen unterschieden; Vorredner haben noch andere Bereiche angesprochen.
Was die Ausfüllung der 300 Millionen DM angeht, so handelt es sich da in erster Linie um Härtefälle, für die wir die Richtlinien ja jetzt schon geändert haben. Wir werden nun abwarten müssen - das ist zumindest meine Meinung -, in welchem Umfang der Topf von 300 Millionen DM auf Grund der neuen Richtlinien ausgeschöpft wird. Bei den bisherigen Richtlinien, Herr Kollege Hirsch, war das ja ein sehr geringfügiger Abfluß. Auch wir im Haushaltsausschuß haben uns damals gewundert, daß nur so wenig Mittel abgeflossen sind.
({0})
- Die Richtlinien, die wir erlassen, müssen die Gesetzgebung selbstverständlich berücksichtigen. Wir können die vorhandene Gesetzgebung in den Richtlinien nicht überwinden. Dazu müßte man die Gesetzgebung ändern; das ist völlig klar.
({1})
- Es gibt gar keinen Grund zur Aufregung. Wir haben hier eine erste Lesung. Ich vertrete die Position der Bundesregierung und habe, wie ich meine, einige bedenkenswerte Ausführungen gemacht, die sicherlich auch in die Ausschußberatung einfließen werden. Ich habe zugesagt, zumindest bei den wichtigen Sitzungen dabeisein zu wollen. Ich glaube schon, daß wir ein Stück weiterkommen. Warten wir es einmal ab. Ich bin da ganz zuversichtlich.
Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Dr. Penner?
({0})
Herr Staatssekretär, sind Sie nicht mit mir der Auffassung, daß es gerade das Wesen von Härteregelungen ist, Fälle menschlicher Schicksale befriedigend zu regeln, die vom geltenden Recht nicht zureichend, nicht befriedigend erfaßt werden können?
({0})
Ich kann mir durchaus vorstellen, daß Sie in nicht wenigen Fällen recht haben. Aber das ist eben bei der Regelung von Härtefällen sozusagen vom Grundsatz her immer der Fall.
({0})
Auch das, was Sie jetzt zum Ausdruck gebracht haben, werden wir in die Überlegung einbeziehen müssen. Aber ich mache in aller Ruhe darauf aufmerksam: Der Deutsche Bundestag beschließt. Wir werden die Beratungen mit guten Anregungen und Hinweisen flankieren. Was der Bundestag beschließt, werden wir in der Regierung umsetzen; das ist doch völlig klar.
Ich darf abschließend - die Zeit, die für mich eingeplant war, ist schon überschritten ({1})
noch etwas zur Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter sagen. Ich will das Thema als solches nicht noch einmal behandeln. Das ist durch die Beantwortung der Zwischenfragen schon deutlich geworden. Aber eines möchte ich abschließend doch sagen. Die von der Fraktion DIE GRÜNEN vorgetragene Argumentation, durch den Abschluß der Globalabkommen mit den Weststaaten - Frau Kollegin Vollmer, ich glaube, das hatten Sie angesprochen - habe die Bundesrepublik anerkannt, daß die Entschädigung für Zwangsarbeit ein Teil der Wiedergutmachung sei, geht fehl.
({2})
Es war bei diesen Abkommen von allen Vertragspartnern akzeptierte Vertragsgrundlage, daß die Abkommen nur Verfolgte aus rassischen, politischen, weltanschaulichen und religiösen Gründen betrafen und daß wirtschaftliche Schäden wie entgangener Lohn für geleistete Zwangsarbeit nicht einbezogen werden sollen. Zwar hat die Bundesrepublik auf die konkrete Verteilung der Mittel durch die Empfängerländer keinen Einfluß, soweit bekannt ist, wurde Entschädigung für geleistete Zwangsarbeit aber in keinem Fall gewährt.
({3})
- Bitte sehr, ich wäre sehr interessiert, das nachgewiesen zu bekommen. Uns ist es nicht bekannt.
({4})
Im übrigen hat die Volksrepublik Polen, mit der nach dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN ein Globalabkommen geschlossen werden soll, durch eine Regierungserklärung von 1953 ausdrücklich auf Reparationen verzichtet. Dieser Verzicht wurde 1970 im Warschauer Vertrag bestätigt.
Meine Damen und Herren, ich möchte Ihnen noch einmal sagen, daß wir seitens der Bundesrepublik Deutschland - ich beziehe alle Regierungen ein - in der Tat auf diesem Gebiet eine Menge getan haben. Die Schäden kann man im Sinne des Wortes selbstverständlich nicht wiedergutmachen. Aber es ist eine Menge geleistet worden. Ich glaube, wir sollten gerade bei diesen Themen dafür sorgen, daß es ohne Polemik, ohne Zank und Streit bei den Beratungen zugeht, um bis Weihnachten zu einem Ergebnis zu kommen, das möglicherweise alle mittragen können.
Danke sehr.
({5})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen zum Tagesordnungspunkt 8 a bis f sowie zum Zusatztagesordnungspunkt 3 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Zusatzpunkt 4 der Tagesordnung: Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/5254. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der SPD angenommen.
Zusatzpunkt 5 der Tagesordnung: Wir stimmen nunmehr über den Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU auf Drucksache 11/5255 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Antrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und FDP bei Enthaltung der SPD und Ablehnung der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Punkt 9 der Tagesordnung auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kittelmann, Wissmann, Frau Geiger, Dr. Biedenkopf, Höffkes, Kraus, Lattmann, Dr. Lippold ({0}), Lummer, Dr. Schwörer, Dr. Sprung, Dr. Unland, Frau Will-Feld und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Fraktion der FDP
Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen
- Drucksachen 11/1553, 11/2260 Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD sowie der Fraktion der GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5250 und 11/5262 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Kittelmann.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen ist eine willkommene GeleKittelmann
genheit, sich grundsätzlich mit den Reformentwicklungen in den Comecon-Staaten im Deutschen Bundestag auseinanderzusetzen. Als wir die Anfrage vor knapp zwei Jahren einbrachten, war an die Entwicklung, die jetzt stattfindet, noch nicht zu denken.
Die CDU/CSU-Fraktion unterstützt ohne Einschränkung die Position der Bundesregierung und besonders von Bundeskanzler Kohl, der sich seit langem nachhaltig als Anwalt konsequenter Reformen in Polen, Ungarn und der Sowjetunion einsetzt.
({0})
Wir hoffen, daß diese Bereitschaft zu Reformen endlich auch die übrigen Staaten des Comecon-Bereiches ergreift. Aus naheliegenden Gründen gilt das natürlich besonders für die DDR.
Die heutige Debatte ist die Fortsetzung einer Diskussion über die Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen Staaten im Deutschen Bundestag. Darüber hinaus wird die Entwicklung in der DDR gerade angesichts der Verwirklichung des EG-Binnenmarktes auf Initiative der CDU/CSU-Fraktion bald auf der Tagesordnung des Bundestages stehen.
Es ist erfreulich, mit welcher Eindeutigkeit sich die Gremien der Staaten der westlichen Welt um die Unterstützung der Reformbewegungen bemühen. Die Kreditentscheidungen der EG, des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gehen eindeutig auch auf das Engagement der Bundesregierung zurück. Bundesfinanzminister Waigel hat beim Vorbereitungstreffen der Gruppe der Sieben die Unterstützung für Polen und Ungarn auf die Tagesordnung gesetzt. Vor allem auf Initiative der Bundesregierung ist eine multilaterale und großzügige Hilfe für den Reformprozeß in Polen und Ungarn vereinbart worden.
({1})
- Ich nehme an, die Amerikaner werden über ihre verbalen Versprechen hinaus bald auch wirtschaftlich stärker tätig werden. - Wir werden die Bundesregierung unterstützen, Herr Bundesminister Haussmann, wenn sie konkrete Umschuldungsverhandlungen im Pariser Club durchsetzen möchte.
Wir unterstützen politisch, wirtschaftlich und menschlich die Völker, die jetzt die Gedanken von Freiheit, Menschenrechten und Marktwirtschaft für sich verwirklichen wollen. Unsere Hilfe für den Reformprozeß bedeutet auch Solidarität mit den Menschen in den Ländern, wo Regierungen noch Öffnung und Demokratisierung verhindern wollen. Wir wissen nach den Ereignissen der letzten Monate und Jahre, daß das nicht gelingen wird.
Der Erfolg politischer und wirtschaftlicher Reformen in Polen und Ungarn ist mittelfristig auch die beste Chance für die Menschen, für unsere Landsleute in der DDR; denn durch diese Reformen wird ein Druck auf die DDR ausgeübt, dem sich die Betonklötze - wie man sie im Moment nennt - , die dort versuchen, Reformen zu verhindern, nicht widersetzen können.
Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren bereits eine Vielzahl von Maßnahmen ergriffen und über die EG unterstützt. Die CDU/CSU-Fraktion wird deshalb bei den vorgesehenen Hilfen nicht stehenbleiben. Entscheidend für den Erfolg ist dabei die konsequente Verwirklichung der Reformen hin zu mehr Marktwirtschaft in Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Dabei begrüßt die CDU/CSU ausdrücklich die klaren Erklärungen der polnischen Regierung, das sozialistische Wirtschaftssystem zu überwinden und eine Währungsreform einzuleiten. Wir wissen, daß ähnliche Bestrebungen auch durch die ungarische Regierung vorgesehen sind.
Wir können unseren Beitrag zur Stabilisierung der Reformen leisten. Wir wollen den Staaten, die sich für Reformen einsetzen, helfen durch zusätzliche Maßnahmen der Aus- und Weiterbildung von Führungskräften, durch eine Intensivierung des wissenschaftlichen Austauschs, durch eine gezielte Kapitalhilfe auf der Basis konkreter Projekthilfe, durch eine Intensivierung der Handelsbeziehungen, durch mehr Direktinvestitionen westlicher Unternehmen und durch die Integration der Staaten des Comecon in internationale Organisationen. Weil die Situation in den verschiedenen Ländern des Comecon zu unterschiedlich ist, helfen globale Lösungsansätze wie Marshall-Plan und Euro-Plan kaum weiter. Jetzt ist nicht wirtschaftliche Massenware, sondern Maßarbeit erforderlich.
Wir wissen, in der Marktwirtschaft kommt es auf das Können der Menschen an; das erleben wir täglich im Wettbewerb. In der Sowjetunion, in Polen und Ungarn fehlen Manager mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen von Kostenrechnung und Marketing.
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Die Aus- und Weiterbildung z. B. von Managern, von Bankangestellten und Wirtschaftswissenschaftlern ist für Polen und Ungarn jetzt wichtiger als Kapitaltransfer. Dabei müssen wir über die bisher eingeschlagenen Wege hinausgehen. Es reicht eben nicht aus, jedes Jahr einige Hundert Manager aus Polen, Ungarn und der Sowjetunion in den Westen zu holen. Die westliche Welt muß mit Angeboten nach Budapest, nach Warschau, nach Moskau gehen. Wir müssen dort, wo die Menschen leben, Managementschulen einrichten und aktive Beiträge zur Ausbildung in den Universitäten leisten. Auch Verbände und Betriebe sind gefordert, einen aktiven Beitrag zu leisten, damit eine Ausbildung erfolgt, die mehr als bloße Wissensvermittlung ist.
Der wissenschaftliche Austausch - das ist eine von uns seit langem erhobene Forderung - muß intensiviert werden. Der Stand der Rüstungsforschung in der Sowjetunion beweist, daß Forschungskapazitäten durchaus vorhanden sind. Hermann von Berg hat die Sowjetunion einmal treffend als „Entwicklungsland mit Raketen" bezeichnet. Nur, die Forschungsmittel wurden in der Vergangenheit falsch eingesetzt. Das Geld, für das die Menschen hart gearbeitet haben, wurde verschwendet, um den Status der militärischen Weltmacht Sowjetunion zu erhalten.
Die Bitte der CDU/CSU ist: Wir sollten nicht mit Gerede von Euro-Plan oder Marshall-Plan Hoffnungen bei den Menschen in Osteuropa wecken, die wir nicht erfüllen können. Wer jetzt leichtfertig das Wort Marshall-Plan mißbraucht, weckt bei den Menschen
in Ungarn und Polen Hoffnungen, die von den Regierungen trotz allen guten Willens nicht erfüllt werden können. Wer überzogene Hoffnungen weckt, der gefährdet im Grunde die Reformen.
Dabei sollte sich besonders die SPD an die Fehler erinnern, die in den 70er Jahren gemacht wurden. Es war doch vor allen Dingen die großzügige Kreditvergabe zu Zeiten sozialdemokratischer Regierungen, die den hohen Schuldenstand verursacht hat, unter dem die nicht-kommunistische Regierung in Polen heute leidet. Deswegen tut die Bundesregierung gut daran, sich nicht durch überzogene Euphorien vieler politischer Gruppierungen, auch der Sozialdemokraten, irritieren zu lassen.
Die SPD hat z. B. schon von großzügiger Hilfe und Umschuldung gesprochen, als von einer demokratischen Regierung in Polen ebensowenig wie von den Vereinbarungen am Runden Tisch die Rede war. Hätte die Bundesregierung den Drängeleien damals nachgegeben, hätte sie im Grunde eine Reformverhinderungspolitik betrieben.
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Denkt man das weiter, so wäre nicht auszuschließen gewesen, daß der Kommunist Rakowski heute noch Ministerpräsident von Polen wäre.
Wir wollen finanzielle Hilfe für Polen. Wir wollen finanzielle Hilfe für Ungarn. Wir wollen auch der Sowjetunion finanzielle Hilfe gewähren, aber entsprechend den Kriterien, die ich vorhin genannt habe.
Bundeskanzler Helmut Kohl hat beim Besuch Michail Gorbatschows in Bonn die Unterstützung der Bundesregierung zugesagt. Lech Walesa hat bei seinen Gesprächen mit der Bundesregierung in Bonn ebenfalls großes Verständnis gefunden. Bei allen Gesprächen - auch bei denen mit der ungarischen Regierung - bestand Einigkeit, daß es nicht mehr um ungebundene Kredite gehen kann. Dieses Konzept ist bereits in der Vergangenheit gescheitert und wird keine Neuauflage erleben.
Wir begrüßen die Nahrungsmittelhilfe der EG für Polen und werden dazu beitragen, daß sie ohne den bisherigen bürokratischen Aufwand fortgesetzt werden kann. Aber über diese unbürokratische Hilfe hinaus darf es nicht zu Krediten und zum Import von Konsumgütern kommen; denn eine solche Politik - auch das hat sich herausgestellt - würde eine wirkliche politische und wirtschaftliche Entwicklung nicht fördern, sondern verhindern.
Die CDU/CSU begrüßt die Initiative der EG, ein von 24 westlichen Industriestaaten getragenes weit gefächertes Hilfsprogramm für Polen und Ungarn zu entwickeln. Die hier diskutierten Ansätze weisen den richtigen Kurs. Die Intensivierung der Handelsbeziehungen wird über die reformbereiten Staaten hinaus einen Beitrag zur Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung leisten und damit den Reformprozeß zusätzlich stabilisieren.
Handel auf der Grundlage gegenseitigen Vorteils kann aber nur funktionieren, wenn beide Seiten marktgerechte Preise berechnen. Darum ist es richtig, daß die Vereinbarungen zwischen der EG auf der einen und Polen und Ungarn auf der anderen Seite
Übergangsfristen für den freien Warenaustausch vorsehen. Damit haben diese Länder Gelegenheit, ihre Reformen durchzusetzen, um sich dann auf die westeuropäischen Märkte vorbereiten zu können. Sie können mit der Diversifizierung ihrer Exporte beginnen, die sich seit Jahrzehnten auf wenige Rohstoffe und technologisch wenig anspruchsvolle Produkte konzentrieren.
Unser besonderer Appell gilt der deutschen Wirtschaft, jede realistische Chance zu Investitionen zu ergreifen. Die Bundesregierung hat erste Investitionsförderungs- und Schutzabkommen mit Staaten des Comecon geschlossen und verhandelt über weitere. Wir sind auch für die klaren Vorgaben sehr dankbar. Auf dieser Grundlage sollten die Unternehmen jetzt ihre aktive Rolle für die Reformen übernehmen.
Der Vorschlag des Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Herrhausen, eine polnische „Anstalt für wirtschaftliche Erneuerung" nach Art der Deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau zu errichten, ist eine konstruktive Anregung. Wir bitten die Bundesregierung, darüber nachzudenken, ob sie zu realisieren ist.
Wer Gewinne erzielen will, muß auch auf Risiken gefaßt sein. Jede Form der Absicherung von Investitionen kann es für unsere Unternehmen nicht geben, auch wenn wir nach einer Umschuldung für Polen und Ungarn die Wiederaufnahme der Vergabe von Hermes-Bürgschaften durchaus befürworten.
Das Zauberwort heißt häufig Joint-Ventures. Wir werden die weitere Zunahme von Joint-Ventures bestimmt unterstützen, weil das gleichzeitig technologisches und personelles Know-how vermittelt.
Allerdings bitten wir die Bundesregierung, mittelfristig auch zu überlegen, ob es nicht sinnvoll ist, Außenhandelskammern in den Comecon-Ländern einzurichten, die investitionswilligen deutschen Betrieben und kooperationsbereiten polnischen, ungarischen und sowjetischen Betrieben Hilfe bei der Partnersuche und bei Investitionen vor Ort leisten.
Mit der Bereitschaft zur Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen sollte weiterhin die Einbeziehung in internationale Organisationen Hand in Hand gehen. Das gilt für GATT bei der Sowjetunion. Ob das im übrigen möglich ist, bleibt dahingestellt.
Es ist für uns keine Utopie mehr, daß Ost- und Westeuropa zu einem großen gemeinsamen Markt zusammenwachsen können. Wovon man vor einem Jahrzehnt noch nicht zu träumen gewagt hat, kann man heute realistisch durchdenken. Hier ist jetzt besonders auch die EG gefordert, die schon in den letzten Jahren eine Vielzahl von Chancen genutzt hat, die beginnenden Reformen zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, all die beschriebenen Maßnahmen werden erfolglos bleiben, wenn die begonnenen Reformen nicht konsequent mit marktwirtschaftlichen Prinzipien durchgesetzt werden. Die teilweise aufgeschobenen Preisreformen in den sozialistischen Ländern müssen verwirklicht werden. Wir wissen, daß das mit Belastungen für die Bevölkerung verbunden sein wird. Die Belastungen werden aber um
so schwerer sein, je länger die Reformen auf sich warten lassen.
Die Planungsbürokratien und Ministerien blockieren die Entwicklung. Markt kann man, wie wir wissen, nicht verwalten. Die Bürokratien müssen ihren Einfluß verlieren, wenn die Reformen erfolgreich sein sollen. Schlecht wirtschaftende Betriebe dürfen keine Möglichkeit haben, durch die Zusammenarbeit mit überzüchteten Bürokratien ihr Überleben zu sichern. Wenn die Aussicht auf wirtschaftliche Erfolge Motivation für die Menschen sein soll, muß auch der Mißerfolg möglich sein. Daß das bisher nicht so ist, ist eine der Ursachen der katastrophalen Wirtschaftszustände in diesen Ländern.
Die Reformen sind für das Gelingen der gesamten Entwicklung wesentlich; denn die Mißwirtschaft in der Sowjetunion ist bereits 1952 so klar wie heute erkannt worden. 13 Jahre dauerte es, bis 1965 ein erster Versuch gemacht wurde, der Reform des Wirtschaftssystems Herr zu werden. Was daraus geworden ist, sieht man am heutigen Scherbenhaufen, vor dem Gorbatschow steht. Dabei sollten wir auch nicht vergessen, daß die Zwangsorientierung der übrigen Staaten des RGW auf die Führungsmacht Sowjetunion mit die Ursache für die desolate Wirtschaftslage in diesen Ländern ist.
Angesichts der Probleme, die sich gerade im Zusammenhang mit den Auflösungserscheinungen in der sozialistischen Planwirtschaft ergeben, ist es für uns nicht wesentlich, ob die Kommunisten das auch klar erkennen, ob sie weiter für oder gegen Marx sind. Für uns zählen Taten und nicht Worte. Die Taten deuten mehr auf Ludwig Erhard als auf den alten bärtigen Mann aus Trier.
Für die Menschen, die in den Staaten sozialistischer Planwirtschaft leben müssen, ist Marxismus schon lange zum Schimpfwort geworden. Es wird Zeit, daß von bestimmten politischen Gruppen bei uns - auch in diesem Hause - diese Entwicklung zur Kenntnis genommen wird.
({4})
- Ich finde es gut, daß Sie sich gleich angesprochen fühlen.
Für die CDU/CSU bedeutet die wirtschaftliche Kooperation, die jetzt immer intensiver mit sozialistischen Staaten vereinbart wird, eine Bestätigung der Aussagen des Harmel-Berichts. Diese wurden durch die wirtschaftspolitischen Aussagen des Pariser NATO-Gipfels noch einmal bekräftigt.
Ich komme zum Schluß. Meine Damen und Herren, die gemeinsame Überzeugung des Westens, daß wir zu mehr Zusammenarbeit kommen wollen, fand ihren Ausdruck auch in der Tagung des Internationalen Währungsfonds und der G 7 in Washington. Für uns bleibt Grundlage, daß eine wirtschaftliche Hilfe im festen Einklang mit unseren Sicherheitsinteressen möglich ist. Auf dieser Grundlage wird die CDU/CSU alles unternehmen, um den historischen Prozeß der politischen und wirtschaftlichen Änderungen in den sich sozialistisch nennenden Staaten zu fördern.
Schönen Dank.
({5})
Das Wort hat jetzt der Herr Abgeordnete Dr. Gautier.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es für meine Fraktion ausdrücklich, daß wir das Thema Ost-West-Handel heute anläßlich einer Großen Anfrage diskutieren können, die die CDU/CSU 1987 gestellt hat und die die Bundesregierung im Mai 1988 beantwortet hat.
Wenn man Herrn Kittelmann hört, ist man wirklich überrascht, wie er es fertigbringt, bei dieser an sich sehr ernsthaften Diskussion auch eine Polemik über die Frage von Systemwettbewerben und darüber zu veranstalten, wie schlimm die Sozialdemokratie oder andere sich in welchen Jahren verhalten haben. Herr Kittelmann, ich will nicht aus Ihrer eigenen Anfrage zitieren, die Sie 1987 gestellt haben, obwohl Sie damals sicherlich noch nicht wissen konnten, was in Polen oder Ungarn passiert, sondern ich möchte, wenn Sie schon die Sozialdemokratie an Kredite für Polen erinnern, nur folgendes sagen: Ich kann mich sehr gut daran erinnern, wie kontrovers in Ihrer eigenen Partei über den Globalkredit diskutiert worden ist, den Franz Josef Strauß für die DDR vermittelt hat.
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- Herr Stratmann sagt gerade: „Das war der Beginn der Republikaner! " Das glaube ich persönlich zwar nicht, aber ich war auch nicht dagegen.
Ich wollte nur sagen, daß die ernsthafte Situation, mit der wir uns auseinandersetzen müssen, nicht Anlaß für den Austausch von Polemik zwischen CDU/ CSU und Sozialdemokratie sein sollte. Vielmehr sollten wir uns wirklich darüber Gedanken machen, ob wir nicht die einmalige historische Chance, die sich im Augenblick bietet, parteiübergreifend in einen Kompromiß in der Frage der Hilfe insbesondere für Polen und Ungarn ummünzen können. Wir sollten uns nicht in unnötige Polemik begeben.
({1})
Ich weiß nicht, wer Herrn Kittelmann die Rede geschrieben hat. Herr Kittelmann hat ja gerade schöne Sachen vorgelesen.
({2})
- Herr Kittelmann, im Europäischen Parlament war es ganz anders. Da war es nicht möglich - wie in Ihrem Fall -, eine Rede zu schreiben oder schreiben zu lassen und sie dann so herunterzurattern. Bei uns gab es dort eine etwas andere Disziplin, weil man unabhängig davon, zu welcher Partei man gehörte, auch auf bestimmte Sachfragen eingehen konnte. Das scheint aber bei uns im Bundestag etwas verlorengegangen zu sein.
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- Wenn Sie noch ein paarmal dazwischenrufen, ist meine Redezeit bald zu Ende. Hören Sie bloß auf!
({4})
Ich möchte im Zusammenhang mit unserem Thema auf ein paar Punkte eingehen. Wenn ich im Augenblick in meinem Wahlkreis mit Gruppen aus verschiedensten Spektren darüber diskutiere, was im Augenblick in Westeuropa vonstatten geht, begegne ich einem Phänomen, das mich immer wieder überrascht, nämlich daß es eine gehörige Skepsis der Bürger gegenüber den Vorgängen in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion sowie gegenüber der Frage gibt, ob die Bundesrepublik Deutschland einen finanziellen Beitrag leisten soll. Das ist sehr, sehr weit verbreitet. Weil wir dort auch mit einem Widerstand der Bürgerinnen und Bürger zu rechnen haben, will ich noch einmal verdeutlichen, warum ich es für notwendig halte, daß wir uns dort aktiv einschalten.
Es gibt dort zweierlei Interessenlagen. Die eine Interessenlage ist die, daß wir den Menschen, die in diesen Bereichen wohnen, aktiv helfen wollen, d. h. im Interesse der Menschen, die dort wohnen, aktiv werden wollen.
Wir haben zweitens aber auch ein eigenes Interesse. Dieses eigene Interesse ist meines Erachtens nicht unerheblich. Wir haben das erste Mal wirklich die historische Chance für eine ausgesprochene Entspannungs- und Abrüstungspolitik, die uns, aber auch den Bürgerinnen und Bürgern in Osteuropa auch ökonomisch hilft. Wenn wir auf dem Weg der Abrüstung wirklich Fortschritte machen können, wäre das auch für uns ökonomisch sinnvoll.
Drittens haben wir auch die Chance, durch die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen in Polen, in Ungarn und in anderen Staaten von Osteuropa den Zustrom von Aussiedlern in die Bundesrepublik Deutschland gegebenenfalls etwas zu reduzieren, weil der ökonomische Druck vielleicht nicht mehr so stark ist, daß Menschen den Wunsch haben, aus Polen, aus Ungarn oder von wo auch immer in die Bundesrepublik Deutschland überzusiedeln. Wenn wir dazu beitragen, die Lebenssituation der Menschen dort zu verbessern, dann erreichen wir auch den inch-rekten Effekt, daß vielleicht weniger Menschen den Drang haben, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, in der wir ja durch die Übersiedlung auch große praktische Probleme haben.
Die These, die wir als Sozialdemokraten jahrelang vertreten haben - wir wollen wirtschaftliche und politische Kooperation mit den Staaten in Osteuropa - , ist eigentlich im Kern nach wie vor richtig. Ich muß wirklich sagen, daß ich mich darüber gefreut habe, als ich in den Nachrichten - ich glaube am letzten Wochenende - und im Fernsehen bei dem Bericht über die Gespräche des amerikanischen Außenministers Baker und des sowjetischen Außenministers Schewardnadse in den USA vernommen habe, daß auch die amerikanische Regierung deutlich gemacht hat, daß der Schritt von der Konfrontation zur Kooperation mittlerweile vollzogen worden ist. Ich glaube, daß dies die Leitlinie unserer Politik sein muß.
Wenn wir einmal die vielfältigen Aktivitäten in der letzten Zeit betrachten, dann kann man ja auch einen gewissen Grad von Optimismus haben. Ich fange z. B. damit an, daß ich es als Sozialdemokrat persönlich außerordentlich begrüße, daß der amerikanische Präsident Bush vor dem Pariser Gipfel in Polen und in Ungarn gewesen ist und dort auch politische Signale gesetzt hat.
Ich hätte mir gewünscht, daß unser Bundeskanzler
- oder der Bundeskanzler der Koalition - dies auch gemacht hätte.
({5})
- Ich meine den Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, nicht meinen; das ist eine institutionelle Frage. Deswegen sage ich unser - also institutionell - Bundeskanzler und nicht mein Bundeskanzler.
Ich hätte mir gewünscht, der Bundeskanzler hätte dies auch getan und damit auch ein Signal gesetzt und nicht dieses Desaster veranstaltet, das wir in den letzten Monaten erlebt haben. Wir haben anschließend den Pariser Weltwirtschaftsgipfel mit positiven Signalen gehabt, wo sich die führenden westlichen Industrienationen ihrer Verantwortung bewußt geworden sind und sich auch verantwortlich gezeigt haben. Wir haben in den letzten Tagen die Tagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gehabt, und wir haben die Aktivitäten der Europäischen Gemeinschaft gehabt.
In vielen Bereichen gab es eigentlich gute Zeichen, nämlich insoweit, daß sich die führenden westlichen Industrienationen ihrer Verantwortlichkeit im Blick auf den Prozeß in Osteuropa bewußt geworden sind. Wenn wir uns die Sachlage dort ansehen, glaube ich, daß letzten Endes die Initiative aber von Europa ausgehen muß. Sie muß insofern von Europa ausgehen, als die Initiative seitens der Vereinigten Staaten von Amerika sicher ihre Begrenztheit hat. Wir haben als Europäer von unserer eigenen Geschichte her, aber auch von der geographischen Lage her das größte Interesse. Wir haben auch sicher die größeren Kapitalmöglichkeiten. Die Amerikaner haben genügend mit ihren eigenen Problemen, die sie zu Hause haben, zu kämpfen. Deshalb sollte die Initiative von Europa ausgehen.
Der erste Punkt der Initiative, der erfreulich gelaufen ist, ist das Soforthilfeprogramm der Europäischen Gemeinschaft, das wir außerordentlich begrüßen. Es zeigt übrigens, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß die Europäische Gemeinschaft und ihre Institutionen
- wie die Kommission der Europäischen Gemeinschaft - nicht so unflexibel sind, wie es in der Öffentlichkeit immer dargestellt wird, wenn von den Bürokraten, die in Brüssel sitzen, die Rede ist. Ich muß außerordentlich loben, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaft sehr schnell und sehr zügig gehandelt hat und sehr rasch die Nahrungsmittelhilfe und die Verwendung der Finanzmittel in die Wege geleitet hat. Ich würde es allerdings begrüßen, wenn die Europäische Gemeinschaft diese Soforthilfeprogramme nicht nur aus Beständen der europäischen Landwirtschaft tätigen würde, sondern wenn sie gegebenenfalls auch Paketprogramme durchführen und
unter Umständen auch Nahrungsmittel, die in Ungarn vorhanden sind, finanziell dort für einen Transfer bereitstellen würde, so daß auch ein Aufkauf in Ungarn möglich würde.
Wir haben weitere Hilfsprogramme in Aussicht genommen. Weitere Hilfsprogramme - in diesem Punkt würde ich auch Herrn Kittelmann zustimmen - können nicht so gestaltet sein, daß wir Geld in ein Faß ohne Boden hineingeben, sondern weitere Hilfsprogramme müssen an konkrete Reformen in Polen und in Ungarn geknüpft sein. Diese Erkenntnis ist ja auch nicht neu. Diese Erkenntnis haben ja auch die Politiker sowohl in Ungarn als auch in Polen. Wenn man sich z. B. ansieht, was heute in der Presse stand und was offensichtlich die polnische Regierung jetzt an die EG-Kommission in Form einer Denkschrift vermittelt hat, in der sie ihre Reformziele beschrieben hat, stellt man fest, daß dann dies Reformziele sind, die wir aus der Sicht der Bundesrepublik Deutschland oder aus der Sicht der Sozialdemokratischen Partei im Prinzip unterstützen können. Die polnische Regierung hat die Absicht, bestimmte marktwirtschaftliche Elemente in das polnische Wirtschaftssystem einzuführen und bestimmte Bereiche der Eigenstruktur zu ändern. Sie hat auch die Absicht, die Inflation zu bekämpfen und die politische Preiskontrolle dort zu ändern. Auch die Reform des Bankensystems - ein sehr wichtiger Bereich
- inklusive der Frage der Kapitalbildung in Polen selber mit Anreizen für positive Realzinssätze sind Ansätze, die die polnische Regierung selber sieht. Ebenso ist die Frage der Struktur des Haushalts in Polen zu nennen, wobei ja das strukturelle Haushaltsdefizit abgebaut werden soll. Das alles sind positive Ansätze, die wir als Sozialdemokratische Partei außerordentlich begrüßen. Dies wird aber sicher zu einer sehr schwierigen innenpolitischen Lage in Polen führen, im wesentlichen in Polen, weniger in Ungarn.
Nun wäre es natürlich absurd, wenn wir als westliche Industrienation uns hinstellen und sagen würden: Warten wir einmal ab, was da passiert. - Vielmehr muß unsere Aufgabe jetzt sein, diesen Prozeß, der zu schwierigen innenpolitischen Problemen in Polen und gegebenenfalls in Ungarn führen wird, hier und heute zu unterstützen. Dazu gibt es eine Reihe von Schritten, die wir dort direkt unternehmen können.
Ich sehe, meine Zeit läuft schneller ab, als ich vermutet habe.
({6})
- Ich habe noch vier Minuten, Herr Minister. Ich habe nämlich eine Uhr, ein modernes Produkt, nicht aus Baden-Württemberg,
({7})
sondern aus Niedersachsen.
({8})
- Es gibt also eine ganze Reihe von Schritten, mit denen der Westen nach meiner Ansicht unmittelbar sofort etwas unternehmen kann.
Der erste Punkt. Wir müssen einen weiteren Abbau der Handelsbeschränkungen gegenüber Polen und
Ungarn, aber auch anderen Ostblockländern, vor allem der Sowjetunion, schnell und zügig erreichen. Das Handelsabkommen der Europäischen Gemeinschaft mit Ungarn war der erste Schritt. Das begrüßen wir außerordentlich. Die Unterzeichnung des Handelsabkommens mit Polen ist sicher ein weiterer Schritt. Aber ich glaube, wir brauche weitere Ergänzungen. Diese Handelsabkommen, die ja den Abbau mengenmäßiger Beschränkungen vorsehen, sollten auch die Frage des Handels mit Agrarprodukten zum Inhalt haben. Ich kann mich immer wieder darüber aufregen: Immer wenn in Deutschland Kirschernte ist, kommt regelmäßig aus dem Landwirtschaftsministerium die Anregung, die Kirschimporte aus dem Ostblock zu stoppen, weil unsere deutschen Kirschbauern sonst Schädigungen und dieses und jenes erfahren. Das heißt, die politische Praxis muß sich auch in der Bundesrepublik Deutschland in den Ministerien an den dortigen politischen Wunsch angleichen.
Ich glaube, wir sollten Ländern wie Polen und Ungarn auch Tarifkonzessionen gewähren. Es geht also nicht nur um Zugeständnisse beim Abbau mengenmäßiger Beschränkungen, sondern auch darum, ob wir Polen und Ungarn in den Rahmen des allgemeinen Zollpräferenzsystems eingliedern können.
Der zweite Punkt, den ich zur Sprache bringen möchte, betrifft Eurokapitalfonds, Marshallplan und Herrhausen-Entwicklungsbank, die Herr Kittelmann gerade so heftig bekämpft hat. Ich glaube, das ist ein sinnvolles Instrument.
({9})
Kapital ist vorhanden. Herr Stratmann, Sie bezweifeln das. In Ihrem eigenen Antrag steht das. Ich wollte das nur einmal sagen. Soll ist das zitieren?
({10})
- „Herrhausen" steht darin nicht wörtlich, aber sinngemäß.
({11})
Es geht um die Frage, einen Kapitalfonds für private Existenzgründung, insbesondere für Klein- und Mittelbetriebe, zu bilden. Die Erfahrung, die wir in der Bundesrepublik Deutschland mit der Kreditanstalt für Wiederaufbau und der Deutschen Ausgleichsbank gemacht haben, ist auch für Polen und Ungarn konstruktiv zu verwenden, und zwar sowohl für Existenzgründungen wie in bestimmten Bereichen für Modernisierung, aber auch für Umweltinvestitionen in den Betrieben. Gerade der letzte Punkt erscheint uns Sozialdemokraten besonders wichtig.
Drittens weise ich darauf hin, daß die Nutzung von Darlehen der Weltbank und der Europäischen Investitionsbank ein sehr positives Element zur Förderung und Finanzierung wirtschaftsnaher Infrastruktur sein kann. Ich bin sehr darüber erfreut, daß EG-Kommissar Andriessen und die dort unter der EG-Koordinierung vertretenen Staaten erklärt haben, daß gerade die Europäische Investitionsbank ihre Tätigkeit dort ausweiten sollte und dies ein Instrumentarium ist, um wirtschaftsnahe Infrastruktur zu finanzieren.
Viertens spielt der Beistandskredit des Internationalen Währungsfonds eine Rolle. Dies sind wichtige Fragen. In diesem Zusammenhang appelliere ich an die Bundesregierung, Herr Haussmann, die Umschuldungsverhandlungen im Pariser Club entsprechend konstruktiv zu begleiten und Kreditstreckungen vorzunehmen. Es gibt eine Palette von Vorstellungen, wie man dort Krediterleichterungen für Polen erwirken kann. Dazu ist an die Geschäftsbanken die Frage zu stellen, wieweit sie die gegebenen deutschen Abschreibungsmöglichkeiten im steuerlichen Bereich an die Volksrepublik Polen und andere Bereiche weiterleiten.
Meine Damen und Herren, meine letzte Anmerkung - meine Redezeit ist zu Ende - betrifft unseren eigenen Antrag. Wir haben im Deutschen Bundestag einen Antrag eingebracht, von dem wir meinten, daß ihn die anderen Fraktionen mittragen könnten, weil das zum erstenmal ein Antrag ist, in dem wir in Teilbereichen die Bundesregierung sogar loben. Das heißt, wir waren der Überzeugung, daß wir in diesen Fragen zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung hier im Deutschen Bundestag und zu einer gemeinsamen Position kommen könnten.
Wir haben nun in den letzten Tagen nach den Beratungen mit den Koalitionsfraktionen festgestellt, daß wir nicht zu einer einheitlichen Position kommen. Wir als sozialdemokratische Bundestagsfraktion möchten deswegen auf eine Kampfabstimmung verzichten. Wir glauben, daß es im Interesse der Sache sinnvoll ist, daß wir zu einer gemeinsamen Position der hier im Haus vertretenen Parteien kommen. Wir werden deshalb der Überweisung an den federführenden Wirtschaftsausschuß und an den mitberatenden außenpolitischen Ausschuß in der Hoffnung zustimmen, daß wir in den nächsten Wochen durch die Ausschußberatungen zu einer gemeinsamen Position kommen, die konstruktiv zu einer Weiterentwicklung der Wirtschafts-, der Finanz- und der politischen Beziehungen insbesondere zu Polen und Ungarn beitragen wird.
Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
({12})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Ost-West-Wirtschaftsbeziehungen haben sich im Jahre 1988 und auch im ersten Halbjahr 1989 erstmals nach langen Jahren der Stagnation positiv entwickelt. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit großem Abstand Osthandelspartner Nummer eins der RGW-Länder, wenn auch der Anteil des Osthandels am Außenhandel der Bundesrepublik Deutschland bei nur 3,5 % liegt.
Die in den letzten 18 Monaten erfreuliche Entwicklung in den Handelsbeziehungen mit den RGW-Staaten ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, daß die politischen Reformbestrebungen in Ungarn, Polen und in der Sowjetunion eingesetzt haben. Die wirtschaftlichen und politischen Reformbestrebungen in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion müssen von der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Gemeinschaft tatkräftig unterstützt werden.
Der Erfolg der wirtschaftlichen Reformen sichert auch auf Dauer demokratische Entwicklungen, die nicht nur auf Polen und Ungarn beschränkt bleiben werden, sondern auch Einfluß auf die Entwicklungen der anderen osteuropäischen Staaten nehmen. Politik und Wirtschaft, d. h. Demokratisierung und wirtschaftliche Liberalisierung, bedingen sich gegenseitig. Wir werden daher die wirtschaftlichen Reformbestrebungen in Osteuropa unterstützen, und zwar auf bilateraler und multilateraler Ebene.
Das Sprichwort „Wer schnell gibt, gibt doppelt" sollte auch für unsere Unterstützungsmaßnahmen gegenüber Polen und Ungarn gelten. Dabei kommt es nicht so sehr auf kurzfristige Hilfsmaßnahmen an, sondern die Hilfe muß auf die strukturellen Veränderungen der Wirtschaft in den betreffenden Ländern ausgerichtet sein. Ihr Ausmaß sowohl im privaten als auch im öffentlichen Bereich kann um so größer sein, je rascher die Reformen selber vorankommen. Wenig sinnvoll ist es, Hilfen zu geben, ohne daß sich die Strukturen in den jeweiligen Volkswirtschaften verändern. Das haben bereits manche Milliardenkredite in der Vergangenheit gezeigt, ohne daß ich diese hier genau spezifizieren möchte.
Die Versorgungsmängel, geringes Wachstum, Budgetdefizite und Devisenmangel sind durch Planwirtschaft und mangelnde marktwirtschaftliche Elemente entstanden. Demgemäß wären marktwirtschaftliche Maßnahmen, Eigentumsgarantie und unternehmerische Freiheiten zu fördern.
({0})
Wir werden deutsche Unternehmen daher ermuntern, Investitionen auch im Wege von Joint-ventures in den osteuropäischen Ländern vorzunehmen. Dazu ist naturgemäß erforderlich, daß entsprechende Investitionsschutzabkommen mit den betreffenden Ländern getroffen werden, wie dies ja bereits mit Ungarn seit 1987 der Fall ist. Darüber hinaus müssen die Arbeitsbedingungen für deutsche Firmenvertretungen verbessert werden. Als weitere Maßnahmen müssen Hilfen bei der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften aus den RGW-Ländern erfolgen; auch hier haben wir schon erfolgversprechende Ansätze gefunden.
Soweit wir hierzu noch national in der Lage sind, sollten wir Märkte für osteuropäische Produkte, insbesondere auch aus Polen und Ungarn, öffnen. Soweit dies nur auf europäischer Ebene möglich ist, müssen wir unseren Einfluß geltend machen, um hier zu gemeinsamen europäischen Lösungen zu gelangen. Dabei könnte auch eine internationale Beratergruppe denjenigen Ländern, die dies wünschen, bei der Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien behilflich sein. Diese Beratergruppe könnte aber auch für die Frage der Finanzierung und Erschließung von Absatzmärkten, aber auch bei der Beratung zur besseren Nutzung der eigenen Ressourcen zur Verfügung stehen. Beispiel könnten Polen und auch die Sowjetunion sein.
Im Interesse einer europäischen Friedensordnung müssen wir unsere eigenen Märkte öffnen. Umgekehrt müssen die osteuropäischen Länder wissen, daß sie im freien Wettbewerb auf dem westeuropäischen Markt konkurrieren müssen und nur dann bestehen,
wenn ihre Waren den hier üblichen Qualitätsstandards genügen. Hierzu bedarf es wesentlicher Investitionen und des Transfers von technischem Know-how. Investitionen bedürfen der Finanzierung, die die Bundesrepublik Deutschland insbesondere Ungarn alsbald gewähren sollte. Auch Polen sollte durch die Wiedereröffnung der Hermes-Kreditversicherung nach einer alsbaldigen Regelung eines Umschuldungsabkommens mit entsprechenden Krediten geholfen werden. Das Pariser Schuldenabkommen ist bereits angesprochen worden.
Der Transfer von technischem Know-how ist durch Kooperationsabkommen auf staatlicher und vor allem auf privatwirtschaftlicher Ebene und durch Joint-ventures sicherzustellen. Wir setzen uns dafür ein, daß die Beschränkungen auf Grund der Cocom-Liste auf das absolute Minimum zurückgeführt werden.
Multilateral sollte weiterhin das Engagement des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gefördert werden. Schließlich sind wir an diesen internationalen Institutionen maßgeblich beteiligt, unser Einfluß ist erheblich, und wir spielen in der Welt währungspolitisch eine große Rolle. Weltbank und Internationaler Währungsfonds verfügen darüber hinaus über große internationale Erfahrungen bei der Formulierung von Anpassungsprogrammen. Die gelegentlich kritisierten Auflagen des Internationalen Währungsfonds haben sich im Ergebnis als positiv herausgestellt.
({1})
- Ich komme dazu. - Diejenigen Länder, die den Empfehlungen des Internationalen Währungsfonds gefolgt sind, sind besser gefahren als die anderen, die diesen Rat in den Wind geschlagen haben. Wir sind davon überzeugt, daß eine Vereinbarung zwischen dem IWF und Polen über ein wirtschaftliches Anpassungsprogramm und über ein Bereitschaftskreditabkommen eine wichtige Voraussetzung für die Sanierung der polnischen Wirtschaft darstellen kann.
Alle Hilfe des Westens und insbesondere der Bundesrepublik Deutschland muß Hilfe zur Selbsthilfe sein, damit diese Länder in die Lage versetzt werden, am wirtschaftlichen Aufschwung Europas durch Strukturwandel und Offenheit ihres Systems teilzunehmen. Damit wirken wir auch auf wirtschaftlicher Ebene am Aufbau einer europäischen Friedensordnung mit.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.
Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wir GRÜNEN haben in diese Debatte einen eigenen Entschließungsantrag zur nichtdiskriminierenden Förderung der Reformen in Ungarn und in Polen eingebracht und wollen es genauso halten, wie Sie es, Herr Gautier, für Ihren Antrag vorgeschlagen haben und ihn zwecks weiterer Beratung und vielleicht auch - möglichst breiter - Konsensbildung an die Ausschüsse überweisen. Unser Entschließungsantrag ist wesentlich auf der Basis von politischen Erfahrungen formuliert, die eine GRÜNEN-Delegation noch vor wenigen Wochen in Polen hat sammeln können. Wir haben u. a. auch mit dem jetzigen Finanzminister, Herrn Balzerowicz, über die Probleme in Polen geredet. Unser Eindruck war - und darin besteht ein breiter Konsens - : Es gibt einen unabweislichen sofortigen Bedarf an ganz erheblichen Finanzhilfen für Polen und vergleichbar verschuldete und in der Misere befindliche Staaten in Osteuropa.
Was uns allerdings von den Vorschlägen der Bundesregierung und auch - in Akzenten, Herr Gautier - von Ihren Vorschlägen trennt, ist, daß wir Tendenzen in Richtung eines neuen Marshallplanes gegenüber den in der Krise befindlichen Ländern Osteuropas nicht nur mit Bauchschmerzen sehen, sondern ablehnen. Der Marshallplan, wie er in der Nachkriegsphase in der Bundesrepublik Realität geworden ist, hatte neben einer unbezweifelbar positiven Seite auch erhebliche Nachteile. Über die Vorteile möchte ich gar nicht reden, weil es darüber unter uns Konsens gibt. Er war eine ganz wesentliche Voraussetzung für den Wiederaufbau in der Bundesrepublik. Er war aber gleichzeitig ein Herrschaftsinstrument der reichen Geberländer, um das völlig zerstörte Nachkriegsdeutschland - Westdeutschland - in ihren ökonomischen und politischen Herrschaftsbereich zu integrieren. Das haben wir nicht vor. Wir wollen nicht auf dem Wege ökonomischer Hilfestellung und ökonomischer Macht Länder wie Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, demnächst DDR oder Sowjetunion, sozusagen in den kapitalistischen Machtbereich integrieren. Im Gegenteil, solche Positionen lehnen wir ab.
Aus diesem Grunde lehnen wir auch den gerade in Washington geäußerten Herrhausen-Plan ab. Wenn Herr Herrhausen, Vorstandssprecher der Deutschen Bank, den Vorschlag macht, in Warschau und Budapest eine Anstalt für wirtschaftliche Erneuerung, aber unter wesentlicher ökonomischer Steuerung von außen - das ist der entscheidende Knackpunkt - , zu installieren, wäre dies ein kapitalistischer Bankenbrückenkopf in Warschau, Budapest und anderen Ländern.
({0})
Das sagt Herr Herrhausen ausdrücklich, und er schlägt sogar schon vor, wer der Vorsitzende einer solchen Anstalt sein soll, nämlich nicht ein Osteuropäer, sondern ein Niederländer.
({1})
- Sie sagen „Zum Beispiel" , Herr Kittelmann. Das wundert mich bei Ihnen nicht.
Aber an die Adresse von Herrn Gautier: Diese Art von Wirtschaftshilfe, die mit Herrschaftsansprüchen verknüpft ist, mit ökonomischen Hegemonialansprüchen, was bei der Deutschen Bank nicht verwundert, lehnen wir ab.
({2})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gautier?
Ja.
Herr Stratmann, nachdem Sie Ihre wuchtigen Ausführungen gemacht haben, in denen Sie diese Hilfen abgelehnt haben, darf ich Sie fragen: a) ob Sie weiterhin für Globalkredite sind, die die Polen alleine verwalten sollten - das wäre die Logik - , b) wie die Ziffern 2 a und c in Ihrem Antrag zu verstehen sind, wo Sie einen gesamteuropäischen Entwicklungsfonds der ECE fordern und Investitionskapital für Infrastrukturmaßnahmen, wobei Sie paritätisch besetzte Gremien, also offensichtlich auch eine starke Mitbestimmung der Geldgeber, wollen, und c), wie zu verstehen ist, daß Sie einen Fonds zur Förderung genossenschaftlicher und privater Investitionsvorhaben fordern, durch den Sie offensichtlich private Investitionen in Polen und Ungarn fördern wollen, die Sie auch über einen paritätisch verwalteten Fonds dort entwickeln wollen.
({0})
- Nein, habe ich nicht. Vielleicht bin ich dazu zu dumm.
Was ist, wenn Sie dort solch einen Fonds gestalten und offensichtlich wesentliche westliche Mitsprache wollen, der Unterschied zu einem anderen Kapitalfonds, durch den bestimmte Kredite vergeben werden?
({1})
Herr Gautier, ich danke Ihnen dafür, daß Sie weite Passagen unseres Antrags vorgelesen haben. Des weiteren will ich Ihre Frage in der Weise beantworten, daß ich die wichtigsten Punkte unseres Antrags im einzelnen erläutere; Sie brauchen dann nicht so lange zu stehen.
({0})
Ich möchte zunächst auf den ersten, von Ihnen nicht zitierten Punkt eingehen, der nicht zufälligerweise an erster Stelle steht: Wir fordern in unserem Antrag als Soforthilfe eine Streichung der Auslandsschulden. Nehmen wir das Beispiel Polen, das krisenhafteste Land zur Zeit: 40 Milliarden Dollar Außenschulden gegenüber verschiedenen westlichen Staaten, insbesondere Staaten, aber auch privaten Banken. Obwohl ein Teil der Auslandsschulden von Polen gar nicht mehr bedient wird, weil es das ökonomisch einfach nicht mehr kann, wurden im letzten Jahr 2 Milliarden Dollar an Schuldentilgung von Polen aufgebracht, 2 Milliarden Dollar, die als Finanzmittel für die Reform im Lande verlorengegangen sind. Wir sagen: Das wichtigste und kurzfristig notwendigste Instrument zur finanziellen Hilfe gegenüber Polen und vergleichbaren Ländern sind Entschuldungsprogramme.
Hier haben wir schon die erste Differenz in der Akzentuierung, Herr Gautier. Das kommt bei Ihnen zwar auch vor, aber in einem ganz nebulös gehaltenen Satz, der politisch überhaupt nichts ausdrückt und der am Ende Ihres Antrages steht. Wir sagen: Wichtiger als frisches Geld - neue Global- oder Spezialkredite - sind Programme zur Entschuldung. Wir haben allerdings ganz konkrete Vorstellungen, wie z. B. im Falle Polens eine solche Entschuldung funktionieren könnte.
Erstens. Weitgehende Streichung der Schuldenlast überhaupt. Das ist nicht etwas aus der Luft Gegriffenes, sondern wir erinnern an die Erfahrung, die gerade die Bundesrepublik im Aufbau 1952 mit dem Londoner Schuldenabkommen gemacht hat. Mit dem Londoner Schuldenabkommen ist neben dem Marshall-Plan eine wesentliche Voraussetzung für den Wiederaufbau geleistet worden. Damit ist ein Großteil der bundesdeutschen Schulden gegenüber dem Ausland, die zum Teil aus der Zwischenkriegszeit stammten, ersatzlos gestrichen worden. Das fordern wir gegenüber Polen ebenso. Das ist eine ganz wesentliche Voraussetzung für deren Wirtschaftsreform.
Zweitens. Wir sind nicht dafür, eine Totalentschuldung vorzunehmen. Wir wollen die Restschulden an ökologische Bedingungen knüpfen, und zwar in der Weise, daß sogenannte ökologische Gegenwertfonds gebildet werden. Das muß nach einem Instrumentarium geschehen, wie es jetzt bei der Entschuldung oder teilweisen Umschuldung des Jumbo-Kredits von der Bundesregierung angewandt worden ist. Wir finden dieses Instrumentarium ausgesprochen hilfreich und auch phantasievoll. Wir schlagen vor, dieses Instrumentarium auf die ökologische Problematik auszubreiten, und zwar in der Weise, daß z. B. pro Jahr 1 Milliarde Dollar von der Schuldentilgungsleistung Polens in einen solchen ökologischen Gegenwertfonds unter der Voraussetzung eingespeist wird, daß Polen diesen Fonds zur Sanierung von ökologischen Altlasten im beiderseitigen Interesse nutzt.
Gerade vor wenigen Wochen hat in Danzig unter Beteiligung der baltischen Länder, Polens und auch der Bundesrepublik und deren Umweltorganisationen und staatlichen Organisationen eine internationale Konferenz zur Sanierung der Ostsee stattgefunden, wo genau diese Idee des ökologischen Gegenwertfonds entwickelt worden ist. Ich selber habe mit mittlerweile führenden Wirtschaftspolitikern in Polen darüber gesprochen, die eine solche Idee ausdrücklich begrüßt haben. Also: Weitgehende Entschuldung, aber keine totale - ({1})
- Sie bezahlen es doch. Da sagen wir, Herr Solms, es ist auch unter Berücksichtigung bundesrepublikanischen Interesses wesentlich besser, daß wir, statt die Polen durch die Schuldentilgung bluten zu lassen, wobei wir dann deren ökologische Folgeprobleme in Form von Luftschadstoffen und Verdreckung der Ostsee mittragen, die Gelder, die sie heute an uns zahlen, ihnen unter der Bedingung geben, daß sie zur Sanierung der Weichsel, des Bugs, der Ostsee, der Kraftwerksparksanierung und damit auch der Reduzierung der Umweltemissionen genutzt werden.
({2})
- Natürlich, ökologische alternative Auflagen, die allerdings von beiderseitigem ökologischem Interesse sind, die also sowohl im Interesse von Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei als auch - ich denke an
den Bayerischen Wald - im Interesse der Bundesrepublik Deutschland sind. Sie werden sowohl von Umweltorganisationen in Polen als auch von Regierungsvertretern - zumindest von denen, mit denen ich gesprochen habe - getragen.
Drittens. Jetzt komme ich, Herr Gautier, zu Ihrer Frage. Wir schlagen vor, daß die Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen über die aktuellen Hilfsmaßnahmen von 24 westlichen Staaten hinaus einen gesamteuropäischen Entwicklungsfonds einrichtet, in den die verschiedenen Staaten - westeuropäische und osteuropäische - je nach ihrem ökonomischen Potential einspeisen. Dieser Entwicklungsfonds muß für Infrastrukturmaßnahmen, für humanitäre Hilfe im Bereich der Nahrungsmittelversorgung, der Gesundheitsfürsorge, zur Förderung von genossenschaftlichen und privaten Investitionsvorhaben, also
- hier haben wir, Herr Funke, einen völligen Konsens - zur Förderung von kleinen und mittleren in der Existenzgründung begriffenen Unternehmen in Polen, Ungarn und anderswo, Gelder bereitstellen.
({3})
Im Unterschied zu IWF-Auflagen soll ein solcher gesamteuropäischer Entwicklungsfonds allerdings nicht nach der finanziellen Einlage gesteuert werden
- was ja in Wahrheit eine ökonomische Steuerungsdominanz der westlichen Staaten bedeutete -, sondern nach dem Prinzip „one state, one vote". Ich weiß, daß auch das bestimmte Probleme macht. Aber ein solches Steuerungsverfahren ist wesentlich demokratischer - auch im Interesse der in der Krise befindlichen osteuropäischen Staaten - als das jetzige Verfahren von IWF und Weltbank.
Herr Stratmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Gautier?
Ja.
Schönen Dank, Frau Präsidentin!
- Ich will die Debatte wirklich nicht verlängern. Aber ich muß Sie fragen, Herr Stratmann, glauben Sie wirklich, daß die westlichen Länder das Geld geben sollen und daß Rumänien, die CSSR oder die DDR, die auch alle Mitglied der ECE sind, darüber entscheiden sollen, welche Reformen in Polen passieren sollen? Halten Sie das für eine vernünftige Strategie?
Ich halte es für eine vernünftige Strategie, daß - ({0})
- Wenn ich erst vier Worte geredet habe, woher wollen Sie dann schon wissen, daß die Antwort unvernünftig wird?
({1})
- Herr Gautier, auf dieser Ebene beantworte ich Ihre Frage nicht. Dazu habe ich keine Lust. Das ist kein Niveau. Ich finde ein Gespräch, auch in dieser nachmittäglichen Runde, gut. Bei dieser Voreinstellung habe ich jedoch überhaupt keine Lust, mit Ihnen in einen Dialog einzutreten.
({2})
- Dann unterlassen Sie aber den Unterton!
({3})
- Ich habe die Frage verstanden und möchte sie beantworten.
({4})
Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Steuerung von außen anzulegen, entweder eine kapitalistisch dominierte Auflagensteuerung von IWF und Weltbank, womit wir ja gemeinsame Erfahrungen haben, auch dahin gehend, wie dort von außen nicht nur marktwirtschaftliche Reformen betrieben werden. Zwischen uns besteht Konsens darüber, daß marktwirtschaftliche Reformen in Polen, in Ungarn und anderswo, auch in der DDR, erforderlich sind. Darüber streiten wir nicht.
({5})
Aber: Es gibt entweder eine kapitalistische Form der Marktwirtschaft unter der Vorherrschaft der Deutschen Bank und Herrn Herrhausen, der via Anstalt für wirtschaftliche Erneuerung dann auch noch einen Außensitz in Warschau hat - das ist eine kapitalistische Form der Marktwirtschaft, die wir ablehnen - , oder es gibt eine Außensteuerung, die wesentlich demokratischer ist. Ich weiß, es gibt nicht den reinen Weg. Das ist aber eine Außensteuerung unter demokratischer Beteiligung der osteuropäischen Staaten, denen geholfen werden soll.
({6})
Diesen Weg bevorzugen wir, und wir sagen: Wir wollen nicht irgendwelchen DDR-Vertretern Einfluß auf rein spezifische polnische Vorhaben geben. Wenn es um rein spezifische polnische Vorhaben geht, dann wird im Rahmen einer ECE-Kommission überlegt werden, wie man eine Unterkommission spezifisch auf Polen zuschneidet. Wenn es aber um gesamteuropäische Entwicklungsvorhaben, z. B. um die Sanierung der Ostsee geht, dann ist das kein polnisches Vorhaben, kein bundesdeutsches Vorhaben, sondern es ist ein gesamteuropäisches Vorhaben.
({7})
- Die Staaten, die in dem gesamteuropäischen Entwicklungsfonds Kapital einspeisen, sind nach unseren Vorstellungen - je nach ihrem finanziellen Vermögen - nicht nur westeuropäische, sondern auch osteuropäische Staaten.
({8})
- Sie wollen doch nach allen Erfahrungen nicht bestreiten, daß auch Polen, daß auch die Sowjetunion in
einem solchen gesamteuropäischen Entwicklungsfonds einspeisen kann? - Damit halte ich die Frage für beantwortet.
Darf ich dann gleich fragen, ob Sie auch noch eine Frage des Abgeordneten Solms beantworten wollen?
Ja.
Herr Kollege, befinden wir uns am Beginn einer neuen wirtschaftlichen Ordnung? Sie sagen nämlich, Sie seien zwar für eine marktwirtschaftliche Ordnung, aber gegen den Kapitalismus.
({0})
Diesen Widerspruch müssen Sie erst einmal aufklären.
In Polen, in der Tschechoslowakei, z. B. im Prager Frühling, hatte diese Position, die ich gleich skizziere, der Wirtschaftsminister inne. Er wurde dann ins Exil vertrieben. In Ungarn gibt es sozialistische Reformer - ich habe mit einigen von ihnen selbst gesprochen - , die schon seit Jahr und Tag, seit Beginn der 80er Jahre, unter Šik, PragerFrühlings-Wirtschaftsminister seit Beginn der 60er Jahre, entschieden für marktwirtschaftliche Reformen eintreten, diese aber gleichzeitig mit einer sozialistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, d. h. mit einer demokratischen Unternehmensverfassung und einer demokratischen Rahmenplanung, verbinden, die nicht im Gegensatz zu einer marktwirtschaftlichen Steuerung steht, sondern die die Probleme, die Marktwirtschaften immer mit sich bringen, Machtkonzentration, Krisenzyklus, durch eine demokratische Rahmenplanung in den Griff zu bekommen versuchen.
({0})
Insofern haben Sie völlig recht. Wir schlagen vor, eine Form von Hilfe gegenüber den osteuropäischen Staaten zu entwickeln, die eine Wirtschaftsordnung, eine Wirtschaftsweise ermöglicht, die weder kapitalistisch noch realsozialistisch ist, sondern die einen neuen Weg bedeutet. Insofern, so hoffen wir, stehen wir auch vor einem Ausweg aus der Krise, der gleichzeitig ganz neue Perspektiven eröffnet.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister Herr Haussmann.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Seit der Fertigstellung der Antwort auf die Große Anfrage gab es wichtige Fortschritte in der Beziehung zwischen der Bundesrepublik und den RGW-Staaten. 1988 konnte nach zwei Jahren drastischer Rückgänge erstmals ein Zuwachs im Handelsaustausch erreicht werden. Auch im ersten Halbjahr 1989 hat sich dies fortgesetzt. Wir sind weiterhin mit Abstand der größte Westhandelspartner der europäischen RGW-Länder, auch wenn der Anteil an unserem Gesamtaußenhandel nur 3,5 % beträgt. Wir sind einfuhroffen, und viele andere Länder, auch in der EG, die uns häufig auffordern, unseren internationalen Verpflichtungen nachzukommen, sollten ebenfalls bereit sein, ihre Grenzen gegenüber den RGW-Staaten handelspolitisch stärker zu öffnen.
Die Zahl der Kooperationen und Joint-ventures ist gewachsen, bezeichnenderweise besonders stark die Zahl derjenigen mit den Reformspitzenreitern Ungarn, Polen und der UdSSR. Darin zeigt sich die Bereitschaft der deutschen Wirtschaft zu längerfristigem Engagement, nicht nur im finanziellen, sondern - das halte ich für ganz entscheidend - auch im personellen Bereich.
In jeder Krise, so auch in der in den osteuropäischen Ländern, liegt sicherlich auch eine große Chance. Nach Jahrzehnten der militärischen Konfrontation, der ideologischen Gegensätze, des Mißtrauens, der wirtschaftlichen Autarkie besteht eine historische Chance zu mehr Dialog und Zusammenarbeit. Dies ist auch notwendig. Wir alle spüren, daß wir längst viel abhängiger voneinander sind, als wir das in Zeiten der Konfrontation eigentlich wahrnehmen wollten. Ich nenne als gemeinsame Aufgabe nur: Umweltschutz, Ozonloch, Drogenmißbrauch, AIDS-Bekämpfung.
Wie im Vorspann unserer Antwort ausgeführt, stehen wir in sehr intensiven, auf beiderseitigen Vorteil angelegten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen West und Ost. Wir sehen darin einen hervorragenden Beitrag zur Entspannung, zur Vertrauensbildung und damit zur Fortsetzung des KSZE-Prozesses. Wir wollen dadurch aktiv mithelfen, die Teilung Europas gerade auch auf ökonomischem Gebiet zu überwinden.
Es gilt, beide Prozesse von historischer Dimension, die sich gegenwärtig abspielen, die zunehmende wirtschaftliche Dynamik der EG einerseits und die insbesondere in der Sowjetunion, Polen und Ungarn eingeleitete wirtschaftliche, aber auch gesellschaftliche Neuorientierung andererseits, zu einer Vertiefung unserer gesamteuropäischen Zusammenarbeit zu nutzen. Wir wollen, daß ganz Europa zu einem dynamischen und prosperierenden Wirtschaftsraum wird.
Wenn wir geostrategisch sehen, daß sowohl im pazifischen Raum unter Führung von Japan als auch in Nordamerika mit einer beginnenden Wirtschaftszone USA/Kanada - bald auch mit Mexiko - kontinentale Wirtschaftsräume entstehen, dann müssen wir auch sehen, daß die EG sicherlich nur ein Anfang sein kann.
({0}) Wir sollten deshalb offen sein.
Meine Damen und Herren, als Ökonomen sind wir aber auch verpflichtet zu betonen: In erster Linie ist es Aufgabe dieser Länder, durch eigene Anstregungen grundlegende Reformen des gesamten Wirtschaftsbereichs, vor allem aber marktwirtschaftliche Voraussetzungen, Strukturwandel und Offenheit des Systems durchzusetzen.
Meine Skepsis gegenüber globalen Plänen wie dem Marshallplan - das hat hier bereits eine Rolle gespielt - rührt daher, daß der Marshallplan damals in der Bundesrepublik auf ganz andere ökonomische Voraussetzungen getroffen war, als er derzeit in Osteuropa treffen könnte. Deshalb ist es wichtig, daß diese Länder wissen, daß sie zunächst selbst, mit unserer Hilfe, Strukturen schaffen müssen, damit globale Kapitalhilfen tatsächlich wirken können. Das Gespräch mit Herrn Walesa hat ja auch gezeigt, daß es ihm sehr darum geht, daß Kapitalien dort nicht in falsche Hände kommen, daß auch politische Voraussetzungen stimmen müssen. Deshalb ist es richtig, daß der Bundeskanzler mit seiner Reise so lange wartet, bis die Sicherheit, daß diese Hilfen wirklich die richtigen Empfänger erreichen, aus deutscher Sicht da ist.
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Wichtig ist ebenfalls, daß wir uns bemühen, günstige Rahmenbedingungen für deutsche Investoren in diesen Ländern zu schaffen.
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Deshalb setze ich mich sehr dafür ein, daß auch mit Polen bald ein Investitionsförder- und -schutzabkommen geschlossen wird, das nach wie vor nicht vorliegt und das die Voraussetzung für Joint-ventures von kleinen und mittleren Unternehmen ist.
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Wichtig ist die Hilfe bei der Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften. Hier sehen wir mittelfristig große Möglichkeiten zur Effizienzsteigerung.
Ungarn und Polen verdienen wegen ihres besonderen Mutes zu tiefgreifenden Reformen, aber auch wegen ihrer spezifischen Probleme weitgehende Unterstützung. Multilateral wird - von uns aktiv mitbetrieben - ein Konzept im Koordinierungsausschuß der 24 Länder in Brüssel ausgearbeitet. Wir unterstützen ein Engagement des IWF, der Weltbank in diesen Ländern. Wir hoffen - wir arbeiten aktiv daraufhin - , daß Polen und der IWF bald ein substantielles Anpassungsprogramm vereinbaren. Aber auch der IWF muß dies aus Gründen der Gleichbehandlung von strukturellen Veränderungen, von Reformen abhängig machen.
Wir setzen uns für ein großzügiges Umschuldungsprogramm der polnischen Zahlungsverpflichtungen innerhalb des Pariser Clubs ein. Auch bilateral sind wir vorbereitet, neue, substantielle Hilfsmaßnahmen zu beschließen. Bei Polen geht es im Rahmen der politischen Gespräche über ein Gesamtpaket darum, die Voraussetzungen für eine Wiedereröffnung der Hermes-Kreditversicherung zu schaffen, insbesondere für konkrete, sorgfältig geprüfte, wirtschaftlich vernünftige Programme. Dies wird von den Reformern in Polen genauso gesehen.
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Ferner ist der Abschluß eines Investitionsschutzabkommens - ich habe es bereits betont - überfällig.
Bei Ungarn sind die Voraussetzungen wieder anders. Ich warne deshalb immer vor der Gleichsetzung unserer Hilfen in beiden Ländern. Ungarn ist kein
Umschuldungsland. Ein deutsch-ungarisches Investitionsschutzabkommen ist bereits seit 1987 in Kraft.
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- Ja, es funktioniert. - Hier kommt es darauf an, die deutschen Unternehmen zu ermutigen, ihre Chancen zur Investition in Ungarn zu nutzen.
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Wichtig ist in beiden Ländern, marktwirtschaftliche Elemente, insbesondere im Privatsektor, zu verstärken. Wir prüfen geeignete Förderinstrumente. Wir setzen uns ferner innerhalb der EG für weitestmögliche Handelsliberalisierung ein, um unsere Märkte diesen Ländern zu öffnen.
Meine Damen und Herren, wie sind offen für eine verstärkte Integration der Volkswirtschaften in Mittel- und Osteuropa in die Weltmärkte. Das wirtschaftliche Potential der gesamteuropäischen Zusammenarbeit ist weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht ausgeschöpft. Von der Konferenz über wirtschaftliche Zusammenarbeit in Europa, die Anfang 1990 in Bonn stattfindet, erwarten wir Impulse zur weiteren Verbesserung der praktischen Rahmenbedingungen und Kooperationsmöglichkeiten, insbesondere auch und gerade für kleine und mittlere Betriebe. Die Bundesregierung wird, wie in ihrer Antwort ausgeführt, ihre Bemühungen um Ausweitung der Zusammenarbeit mit dem Osten fortsetzen, wo und wann immer dies von gegenseitigem Nutzen ist. Wir fühlen uns gefordert, diesen Ländern ökonomisch zu helfen und damit auch den Menschen zu helfen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit und stelle drei weitere Minuten den Fraktionen zur Verfügung.
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- Zunächst der eigenen.
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Das Wort hat der Abgeordnete Vahlberg.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! An allgemeinen Grußadressen an die Reformpolitiker hat es in der letzten Zeit nicht gefehlt. Konkrete Hilfsmaßnahmen sind erst in den letzten Wochen eingeleitet worden. Das ist sehr erfreulich. Der EG-Vorschlag für eine Koordinierung von Hilfsaktionen zugunsten Polens und Ungarns - über 600 Millionen ECU - , die Nahrungsmittelhilfe über 31 Millionen ECU, der US-Fonds für Ungarn über 25 Millionen Dollar zur Entwicklung privatwirtschaftlicher Strukturen, die Akzeptierung der Meistbegünstigungsklausel durch die Regierung der Vereinigten Staaten und auch - das sage ich an die Adresse der Bundesregierung - die Neuregelung des sogenannten Jumbo-Kredits sind ermutigende Zeichen dafür, daß es nun endlich zu einer konkreten Hilfe für Polen, für Ungarn, vielleicht auch für die Sowjetunion kommt.
Den historischen Prozeß der Wandlung in den Staatshandelsländern des Ostens müssen wir aus einer Reihe von Gründen unterstützen. Einmal geht es darum, daß für die Menschen bessere Lebenschancen entwickelt werden müssen. Es gibt aber auch die Chance, eine Weltfriedensordnung auf der Basis einer veränderten wirtschaftlichen Zusammenarbeit zu entwickeln, in der der Ost-West-Gegensatz keine Rolle mehr spielt. Natürlich geht es auch darum, Herr Stratmann, was Sie betont haben, gemeinsame Anstrengungen zur Erhaltung einer für uns Menschen lebensfreundlichen Umwelt zu unternehmen.
Die SPD-Fraktion hat sich vor und nach der Sommerpause mit der Osthandelspolitik intensiv beschäftigt. Sie hat dazu einen Antrag eingebracht. Bevor ich einige Anmerkungen dazu mache, möchte ich ein paar Grundvoraussetzungen ansprechen.
Erstens. Unserer Auffassung nach ist die bisherige Form der Wirtschaftshilfe nicht sehr erfolgreich gewesen, Stichwort: Globalkredite. Kredite, die gegeben werden, damit hochwertige Investitionsgüter von den Staatshandelsländern importiert werden können, überwiegend im Bereich der Schwerindustrie, haben zur Verschuldung der RGW-Staaten gegenüber den westlichen Industrienationen geführt, ohne daß das verfolgte Ziel, Weltniveau und über den Export in die Hartwährungsländer eine Rückführung der Kredite zu ermöglichen, realisiert worden wäre. Das kann wohl auch nicht geschehen, weil die Wirtschaftsstruktur dort das nicht zuläßt.
Die Wirtschaft der RGW-Staaten sollte sich nicht in erster Linie auf die Marktbedürfnisse des Westens konzentrieren, also hochwertige Industrieprodukte für die westlichen Märkte erstellen wollen, sondern die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung stärker in den Blick rücken. Das setzt voraus, daß sich die Aktivitäten auf den Verbrauchsgüterbereich konzentrieren, auf den Dienstleistungsbereich, auf die Entwicklung der Infrastruktur und auf die Entwicklung von Organisations- und Management-Know-how. Moderne Maschinen, die bisher im Rahmen dieser Globalkredite angeschafft wurden, sind nicht alles. Vielmehr müssen Organisationsstruktur, Marketing und Management hinzukommen, damit Unternehmen vernünftig funktionieren können. Ein funktionierendes Bankensystem ist eine Voraussetzung wie eine funktionierende Infrastruktur. Die Infrastruktur ist heute in den RGW-Staaten über weite Strecken verrottet; man darf das durchaus so hart formulieren.
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Zweitens. Leistungen sollten nicht ohne genaue Widmung erfolgen. Herr Stratmann, Sie haben am Beispiel IWF und Weltbank versucht zu verdeutlichen, welche Probleme es macht, wenn die Geberländer Auflagen erteilen. Ich weiß, wie problematisch die Kreditvergabe der IWF und Weltbank in Richtung auf die Dritte Welt gelaufen ist. Dennoch: Ein Ertrinkender greift nach jedem Strohhalm. Aber Strohhalme tragen nicht. Das heißt, es wird natürlich jeder Kredit angenommen und so verwendet, daß die brennenden Probleme gelöst werden. Langfristig wird das aber nicht zu anderen Wirtschaftsstrukturen führen. Langfristig ist das keine Wirtschaftshilfe.
Wirtschaftshilfe sollte sich auf die Länder konzentrieren - das ist ein wichtiger Punkt - , in denen wirklich neue Strukturen implementiert werden, zentrale Planung in dezentrale Organisation, in autonome Einheiten überführt, marktförmige Prozesse entwikkelt werden und einer Privatinitiative Raum gegeben wird. Geld in alte Strukturen zu stecken würde letztlich keine wirtschaftliche Wirkung haben. Dieses Geld würde sinnlos verpuffen.
Herr Vahlberg, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stratmann?
Das tue ich, ja.
Danke schön. - Herr Vahlberg, mich wundert es, daß Sie einen Dissens festzustellen meinen. Wo sehen Sie die Differenz zwischen dem, was ich gesagt habe, und dem, was in unserem Antrag steht? Wir haben dort doch eindeutig ausgeführt, daß wir z. B. den Gegenwertfonds als wesentlichen Bestandteil eines Entschuldungsprogramms an ökologische Bedingungen für den ökologischen Umbau der Ostsee, des Kraftwerksparks etc. binden wollen. Es besteht nur der Unterschied zu den IWF-Auflagen, daß die Auflagensteuerung nicht kapitalistisch dominiert, sondern paritätisch besetzt ist. - Das war die Differenz zu Herrn Gautier. - Wo sehen Sie die Differenz?
Ich teile Ihre Auffassung „one state, one vote", die Sie hier vorgetragen haben, nicht. Vielmehr bin ich der Auffassung, daß die Geberländer ein ganz entscheidendes Wort mitzureden haben. Bei Projekten im Investitionsbereich, z. B. wenn moderne Kommunikationsstrukturen aufgebaut werden sollen
- da ich gerade Herrn Kittelmann mit dem Hörer am Ohr sehe, muß ich an Polen denken, wo das Telefonieren nicht funktioniert.
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Das kann man natürlich nur gemeinsam mit den Polen machen. Aber Ihre Vorstellung „one state, one vote" kann ich nicht akzeptieren, weil die Geberländer ein entscheidendes Gewicht bei der Zweckbestimmung der Kredite haben müssen, und das ist bei Ihren Ausführungen nicht deutlich geworden.
Wenn Sie von einer Bindung an ökologische Forderungen sprechen, dann stimme ich Ihnen zu und sage ausdrücklich: Ja, das ist eine wichtige Voraussetzung, ein Ziel, aber es sollte auch eine Bindung an neue Wirtschaftsstrukturen gegeben sein.
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- Gut, aber das haben Sie in Ihrer Rede nicht so deutlich gemacht.
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- Gut, wir gehen also davon aus - da ihr Antrag an den Ausschuß überwiesen wird - : Die GRÜNEN arbeiten noch nach und fügen einen Spiegelstrich hinzu.
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- War das so arrogant? Das war ein freundschaftlicher Hinweis.
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Was die konkreten Maßnahmen angeht, so kommt es zunächst natürlich darauf an - Herr Stratmann, da sind wir wieder einer Meinung -, daß eine Entschuldung möglich gemacht wird. Bevor neue Kredite gewährt werden, muß entschuldet werden. Hier gibt es bereits Ansätze. Ich glaube, daß dann durchaus langfristige Kredite von der Weltbank, von der Europäischen Investitionsbank und auch von der Kreditanstalt für Wiederaufbau gegeben werden sollten, die strikt an konkrete Projekte gekoppelt werden müssen. Ungewidmete Kredite würde ich nicht befürworten. Ich meine, daß mit diesen Krediten gezielt wirtschaftsnahe Infrastruktur aufgebaut werden sollte -, es sollte aber keinesfalls eine pauschale Geldvergabe an die RGW-Länder erfolgen.
Die Idee des Marshallplans finde ich gar nicht so schlecht; man muß sich nicht an jedem Detail aufhängen. Im Grundsatz finde ich es durchaus vernünftig, so etwas in Erwägung zu ziehen.
Herr Stratmann, der Herrhausen-Plan muß nicht deshalb falsch sein, weil Herrhausen ein Banker ist. Ich kann der Vorstellung einiges abgewinnen, in Warschau und in Budapest Außenstellen
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der Kreditanstalt für Wiederaufbau zu schaffen. Im übrigen: warum sollte die Deutsche Bank dort keine Zweigstellen haben? Dagegen ist überhaupt nichts zu sagen, wie es überhaupt wichtig ist, daß in den Ostblockländern ein vernünftiges Bankensystem entwikkelt wird. Ohne ein funktionierendes Bankensystem ist autonome Unternehmerentscheidung und Unternehmensführung undenkbar.
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Ohne daß man die Problematik der Bankenvermachtung hier einbezieht, darf man diesen Punkt durchaus offensiv ansprechen.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen will, ist die Schaffung eines Eurokapitalfonds zum Zwecke der Finanzierung von privaten Existenzgründungen. Damit könnten in diesen Ländern vor allen Dingen mittelständische Strukturen aufgebaut werden. Die Leistungsfähigkeit unserer Wirtschaft beruht ja auf der Mischung von kleinen, mittleren und großen Unternehmen. Dabei ist der Mittelstand das Rückgrat der Wirtschaft. Das beschwören wir in jeder Sonntagsrede, aber es ist ja nun auch tatsächlich so.
Mit solchen, etwa unseren Eigenkapitalhilfeprogrammen angelehnten Formen der Wirtschaftshilfe könnte man eine mittelständische Struktur in diesen Ländern - ich denke dabei an Handwerksbetriebe und Dienstleistungsunternehmen - aufbauen. Hierbei möchte ich der Kreditanstalt für Wiederaufbau eine wichtige Rolle zuweisen. Ich denke dabei auch an die Errichtung von Außenstellen. Sie sollten sich dem Herrhausen-Plan nicht von vornherein nur deswegen verschließen, weil dieser Plan von Herrn Herr-hausen stammt.
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- Er versteht sicherlich etwas davon.
Ich könnte mir auch vorstellen, daß unsere Industrie- und Handelskammern, vor allen Dingen aber unsere Handwerkskammern mit in diesen Prozeß eingebunden werden können. Sie verfügen über Erfahrung in der Beratung beim Aufbau von Unternehmen und bei der Vermittlung von Fach- und Managementwissen, was ja sehr wichtig für die RGW-Länder ist. Ich würde sie in solche Überlegungen mit einbeziehen.
Westeuropa, die EG, die Bundesrepublik sollten auch Instrumente schaffen, um Kooperationen, Joint-ventures stärker zu stimulieren, denn ich glaube, mit solchen Kooperationen und mit Joint-ventures ist am ehesten die Möglichkeit gegeben, Management-Know-how, Technologie-Wissen zu transferieren.
Wir stellen uns vor, daß es das Instrument der Stillen Beteiligung an Unternehmen geben sollte. Mit dem DED, dem Deutschen Entwicklungsdienst, gibt es dieses Instrument bereits. Wir sollten prüfen, ob es eine Möglichkeit gibt, dieses Instrument auch hier einzusetzen. Durch eine Stille Beteiligung staatlicher Institutionen, könnte man wirtschaftliche Risiken minimieren.
Die Risiken, die sich aus der Wirtschaftsordnung ergeben, müssen natürlich durch die Investitionsschutzabkommen aufgefangen werden. Ich bin sehr dankbar, Herr Minister, daß Sie darauf hingewiesen haben, daß das Investitionsschutzabkommen mit Polen forciert wird. Ein Investitionsschutzabkommen mit der UdSSR ist ja, glaube ich, im September abgeschlossen worden. Das ist ein wichtiger Punkt. Aber solche Investitionsschutzabkommen decken wirtschaftliche Risiken nicht ab, denn man muß die wirtschaftliche Mikrostruktur, die völlig anders geartet ist, betrachten, und darf nicht nur an die Enteignung von Unternehmen, die im RGW-Raum Kapital eingesetzt haben, denken.
Das sind eine Reihe von Instrumenten, die aus unserer Sicht geprüft werden sollten. Alles in allem muß klar sein, daß auf der Seite der RGW-Staaten, der Staatshandelsländer, an einer Umstrukturierung der Wirtschaft mitgewirkt werden muß, wie ich das vorhin schon angedeutet habe. Man muß dort weg von den zentralen Planungsstrukturen und hin zu autonomen Strukturen, zu mehr marktwirtschaftlichen Formen kommen, und Freiraum für private Initiativen schaffen. Ich glaube, ohne dies geht es nicht. Ich will mich hier gar nicht auf den Ideologenstreit Kapitalismus versus Staatsverwaltungswirtschaft einlassen, denn das wird in der öffentlichen Diskussion überbetont - Sie nicken - und von der konservativen Seite immer so gesehen, als wenn die Staatsverwaltungswirtschaft - ich füge in Klammern hinzu: der Sozialismus - versagt habe, während sich der Kapitalismus voll durchgesetzt habe. Hinter dieser Feststellung ma12254
che ich ein großes Fragezeichen. Wenn Sie den reinen Kapitalismus - ({8})
- Ja, den gibt es in Lateinamerika. Dort können Sie ihn mitsamt seinen Auswirkungen besichtigen. - Wir haben hier ein Mischsystem, eine Mischstruktur aus privater Initiative, privatem Eigentum auf der einen Seite - das ist wichtig, um die Rationalität und Effektivität des Kapitaleinsatzes sicherzustellen; dadurch wird die Dynamik in der Wirtschaft sichergestellt - und aus vielen staatlichen Geboten, Verboten, Incentives, Rahmensetzungen, wenn Sie so wollen: sozialistischen Elementen auf der anderen Seite, mit denen diese Dynamik auf soziale und ökologische Ziele hin orientiert wird. Wir haben aus beidem ein Mischsystem, das sich, wie immer wir die Komponenten zueinander ordnen, bewährt hat.
Es kommt also darauf an, daß die RGW-Staaten mitwirken. Das bedeutet, daß die Währungsparität auf ein realistisches Niveau gestellt wird. So wie es jetzt ist, daß eine Mark, die hinüberfließt, zu 15 Pfennig wird - bedingt durch den nichtkorrekten Wechselkurs -, geht es nicht.
Es kommt auch darauf an, daß die Preisgestaltung sich stärker an den Kosten orientiert. Die Situation im RGW-Raum ist die, daß wir in einer Mangelwirtschaft auf Grund des fehlenden Preisbezuges eine Verschwendung haben. Verschwendung in der Mangelwirtschaft ist ein Kriterium dieser Wirtschaft -
Herr Vahlberg, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Nur noch einen kleinen Moment, einen Abschlußsatz.
Alles in allem lassen Sie mich sagen: Wir tragen Mitverantwortung für das Wirtschaftssystem Polens, das die Folge der politischen Verhältnisse ist, die durch aggressives Verhalten unsererseits gegenüber Polen entstanden sind.
Ich denke, daß der Umstellungsprozeß in den RGW-Staaten, der noch viele Jahre anhalten wird, durch territoriale Ansprüche gestört wird, wie sie von Ihrer Seite vorgetragen werden.
Herr Vahlberg, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Dies stabilisiert die konservativen Kräfte und schwächt dort drüben die Reformer.
Schönen Dank.
({0})
- Ich habe keine Redezeit mehr, Herr Kittelmann.
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lattmann.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege
Vahlberg, das war eigentlich eine sehr sachliche Rede. Der letzte Satz, mit dem Sie uns territoriale Ansprüche unterstellten, war daher eine Entgleisung. Ich weise das zurück.
({0})
Das hat weder etwas mit der Sache zu tun noch mit dem Grundtenor dieser Diskussion, die erfreulicherweise sachlich war.
Herr Gautier, Sie haben, glaube ich, einen sehr wichtigen Hinweis gegeben bezogen darauf, daß manche unserer Mitbürger doch mit einiger Skepsis verfolgen, was wir tun und was wir zu tun beabsichtigen. Es gibt auch einen kleineren Kreis von Leuten, die bestimmte Blütenträume welken sehen. Ich glaube, es ist deshalb sehr wichtig, daß wir zum Schluß dieser Debatte noch einmal sehr deutlich auf einige Hintergründe eingehen und auch deutlich machen, vor welcher geschichtlichen Herausforderung wir stehen. Ich will neben den vielen sehr vernünftigen und sachlichen Vorschlägen, die von allen Seiten des Hauses hier eingebracht sind und über die zu diskutieren es sich mit Sicherheit lohnt, diesen Aspekt noch einmal würdigen.
Herr Kollege Vahlberg, das hat überhaupt nichts mit dem Streit von Ideologen zu tun, wenn ich hier feststelle, daß eines unübersehbar ist: daß wir im Moment den Untergang des zentralwirtschaftlichen Systems erleben und damit den Untergang des Herzstücks des real existierenden Sozialismus.
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Die Konsequenzen, die derzeit daraus gezogen werden, sind noch sehr unterschiedlich. Die einen, Ungarn und Polen, haben ziemlich eindeutig die Weichen in Richtung marktwirtschaftlicher Öffnung gestellt. Die anderen warten erst einmal ab, wie sich die Dinge entwickeln. Sie wollen allenfalls ein bißchen Marktwirtschaft und haben ansonsten die Hoffnung, daß sie doch mit einem rot-blauen sozialistischen Auge davonkommen.
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Herr Stratmann, wir können das hier nicht austragen. Vielleicht können wir es im Ausschuß vertiefen. Ich halte die Vorstellung, die Sie andeuten, daß marktwirtschaftlicher Sozialismus oder sozialistische Marktwirtschaft möglich ist, für einen fundamentalen Irrtum. Ich bin der Meinung - da stimmen wir wahrscheinlich überein - , daß eine marktwirtschaftliche Ordnung einer deutlichen sozialen Flankierung, eines sozialen Rahmens bedarf. Da haben wir gar keinen Streit. Aber das, was Sie hier vorgetragen haben, halte ich für einen fundamentalen Irrtum. Ich sage das, weil das im Moment sehr stark durch die Diskussion geistert. Diese damit verbundene Hoffnung wird trügen. Je schneller die Verantwortlichen dies begreifen, desto besser ist es für die Entwicklung in Osteuropa und gleichzeitig für die Weiterentwicklung der internationalen Zusammenarbeit. Denn der bisher vorhandene ideologische Ballast ist eine der Spannungsursachen zwischen den Völkern.
Eine marktwirtschaftliche Öffnung, ein Abstreifen der zentralistischen und administrativen Fesseln, die
Gewährung persönlicher Freiheiten und damit verbunden das Fördern kreativen und selbständigen Handelns sind noch zu allen Zeiten der beste Garant für eine kontinuierliche Aufwärtsentwicklung gewesen. Das wird sich auch im Osten beweisen, wenn dort die Weichen richtig gestellt werden. Denn es liegt auf der Hand: Die Menschen in Ungarn, in Polen, in der DDR und in der CSSR sind natürlich genauso tüchtig wie wir; sie sind aber bisher um den Erfolg ihrer Arbeit gebracht worden. Hier müssen die Überlegungen ansetzen.
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Das ist wichtig - ich habe das schon gesagt - für die dort lebenden Menschen, aber natürlich auch für die großen internationalen Herausforderungen, die wir alle gemeinsam, Ost wie West, bestehen müssen, von der Hungerkrise in der Welt bis hin zu den globalen ökologischen Problemen, die hier ja schon angesprochen worden sind.
Im übrigen schafft eine stärkere Integration der östlichen Volkswirtschaften eine wünschenswerte Kette von gegenseitigen Abhängigkeiten. Je enger die wirtschaftlichen Verflechtungen sind, um so geringer werden die Neigung und die Möglichkeit, Konflikte anders als friedlich miteinander auszutragen. Insofern dient die Unterstützung dieses Prozesses nicht nur den Interessen der dort lebenden Menschen und nicht nur unseren wirtschaftlichen Interessen, sondern auch den sicherheitspolitischen Interessen, die wir für uns zu vertreten haben.
In den wirtschaftlichen Ost-West-Beziehungen, bei denen wir ja nicht beim Punkt Null stehen, können wir auf verschiedene Elemente zurückgreifen, die bereits in der Vergangenheit funktioniert haben. In anderen Bereichen müssen wir allerdings auch konsequent umdenken. Undifferenzierte, nicht in eine vernünftige Gesamtstrategie eingebundene Hilfen dienen nicht dem Reformprozeß, sondern können ihn im Zweifelsfall sogar behindern. Im Klartext: Wenn wir die Kräfte, die sich zu notwendigen Reformprozessen bekannt haben und auf diesem Weg konsequent vorangehen, unterstützen, dann leisten wir einen Beitrag zur Förderung dieser Entwicklung. Die Gewährung von Mitteln an verkrustete reformunwillige Systeme ist demgegenüber geeignet, die dort noch herrschenden Betonköpfe zu stärken und Reformprozesse mindestens zu verzögern.
Wir müssen - das ist schon gesagt worden; ich will es noch einmal unterstreichen - natürlich auch die richtigen Maßnahmen fördern, nämlich nicht solche, die die noch existierende sozialistische Planbürokratie stärken, sondern solche Maßnahmen, die wirklich erkennbare Verbesserungen bewirken. Das sind wir den Reformern schuldig. Das sind wir auch unseren Steuerzahlern schuldig.
Deshalb finde ich es richtig, Herr Gautier, daß der Bundeskanzler den Aufforderungen, die an ihn ergangen sind, nicht gefolgt ist, um des Augenblickserfolgs willen eine Reise zu machen, sondern daß er diese Reise sorgfältig vorbereitet und erst dann antritt, wenn die Vorbereitungen und die zu treffenden Vereinbarungen stehen, weil man sonst sehr schnell Hoffnungen wecken würde, die nicht zu erfüllen sind. Auch das können wir in diesem Bereich nicht gebrauchen.
Eine herausragende Rolle müssen in unseren Überlegungen und Aktivitäten die Entwicklungen in Ungarn und Polen spielen. Dort hat man mit großen Mühen die Fehler und Schwächen des bisherigen Systems erkannt. Man ist nun dabei, sie auszumerzen. Hohe ungarische Politiker und Diplomaten, die mit bemerkenswerter Offenheit über die zentralen Fehler im östlichen Wirtschaftssystem und in ihrem eigenen Land sprechen, haben uns wiederholt sehr deutlich gesagt, daß nach ihrer Überzeugung kosmetische Operationen und Teilkorrekturen nichts nützen werden, sondern einzig und allein eine grundlegende Änderung des Systems. Sie gehen diesen Weg deshalb konsequent. Das ist allerdings ein mühseliger und riskanter Weg. Man darf nicht übersehen, daß die Menschen, die seit Jahrzehnten unter den „Segnungen" des sozialistischen Systems zu leiden hatten, nicht mehr sehr viel Geduld aufbringen. Wenn deshalb nicht bald Erfolge eintreten, scheitert mehr als nur eine Wirtschaftsreform. Deshalb stehen wir gemeinsam vor einer Herausforderung mit historischer Tragweite.
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Um nicht mißverstanden zu werden: Es kann überhaupt nicht darum gehen, jetzt anderen Ländern etwa unseren Stempel und unser System aufzudrücken. Aber wenn dort erkannt wird, daß Elemente, die wir seit längerem vertreten, auch dort vernünftig sind, wenn erkannt wird, daß es vielleicht sogar die einzigen Elemente sind, die diese Länder aus der Krise herausführen, dann müßten wir schon ziemlich gestrig sein, wenn wir diesen Versuch stoppen oder ihn in irgendeiner Weise negativ beeinflussen wollten.
Wir müssen einen Beitrag dazu leisten, daß andere, die nicht wie wir bisher auf der Sonnenseite der Welt gelebt haben, endlich auch einen besseren Status als bisher erreichen können. Wir müssen uns also ganz besonders auf diese Länder konzentrieren, in denen die Systementscheidungen bereits gefallen sind, in der Hoffnung, daß das Beispiel, das durch die Entwicklung dort gegeben wird, auf andere Länder ausstrahlt. Deshalb sind Polen und Ungarn für uns so wichtig.
Wir begrüßen deshalb noch einmal sehr nachhaltig auch die Vorschläge der EG-Kommission, die beispielsweise ein Finanzierungsmodell vorgelegt hat, das 24 Industriestaaten einbezieht. Dazu müssen weitere Maßnahmen kommen. Dazu ist hier schon einiges gesagt worden.
Zu diesen staatlichen finanziellen Hilfen, die nicht ausreichen, sind dann natürlich auch zahlreiche andere Dinge - z. B. praktische Hilfen - gefordert. Auch dazu ist einiges gesagt worden. Ich muß dies nicht wiederholen.
Ebenfalls sind die Bestrebungen zu erwähnen, durch tarifäre Konzessionen den genannten Ländern die westlichen Märkte stärker zu öffnen. Dazu gehört, daß die bestehenden mengenmäßigen Einfuhrbeschränkungen nach und nach abgebaut werden.
Natürlich darf neben den erwähnten Ländern Polen und Ungarn die Entwicklung in der Sowjetunion nicht vergessen werden, obwohl dort die Reformbemühungen noch nicht so eindeutig sind wie in diesen Ländern. Deshalb ist eine Hilfe dort schwieriger. Aber ich möchte doch in diesem Zusammenhang den gestern in der „Süddeutschen Zeitung" erläuterten Plan des früheren Chefs der Deutschen Bank, Herrn Christians, in die Diskussion einbringen, der gefordert hat, in Königsberg einen Industriepark zu errichten, der den sowjetischen Stellen modellhaft demonstrieren könnte, welche Ergebnisse möglich sind, wenn man die Weichen richtig stellt.
Abschließend darf ich erklären, daß die CDU/CSU auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit den osteuropäischen Völkern größten Wert legt. Die Voraussetzungen dafür, daß dies mit besserem Erfolg als in der Vergangenheit geschehen kann, müssen allerdings in vielen Bereichen erst noch geschaffen werden. Wir betrachten es als unsere moralische Verpflichtung und historische Aufgabe, den arg gebeutelten Völkern des Ostblocks auf ihrem Weg in die Freiheit tatkräftig unter die Arme zu greifen.
Dem Vorschlag - für den wir uns bedanken - , die beiden Anträge, die sicherlich substantiell sehr wichtige Punkte enthalten, in die Ausschußberatung zu überweisen, stimmen wir gern zu. Wir möchten uns für diesen Vorschlag herzlich bedanken. Ich glaube, daß es in diesem Rahmen schwer möglich wäre, einige sicherlich noch wünschenswerte Korrekturen anzubringen. Deshalb ist die Ausschußberatung der richtige Weg.
Herzlichen Dank.
({5})
Meine Damen und Herren! Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5250 und 11/5262. Es ist beantragt worden, diese Entschließungsanträge zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Auswärtigen Ausschuß und an den Finanzausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe Zustimmung. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 10 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Europäischen Übereinkommen vom 26. November 1987 zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe
- Drucksache 11/4028 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({0})
- Drucksache 11/4819 Berichterstatter:
Abgeordnete Seesing Singer
({1})
Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus auch damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Seesing.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Grund ist es traurig, daß zivilisierte Menschen es noch nötig haben, Kontrollabkommen abzuschließen, um Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von Gefangenen und Kranken in geschlossenen Einrichtungen zu verhindern. Unser Bild vom Menschen, geprägt vom Christentum und vom Humanismus, sollte so etwas eigentlich ausschließen. Aber die Geschichte lehrt uns, daß viel Erfindungskraft in Verfahren investiert wurde, um immer neue und immer schrecklichere Formen von Folter zu entwickeln. Leider ist auch das alles nicht Vergangenheit, sondern uns täglich vor Augen geführte Gegenwart. Man muß sich fragen: Warum tun Menschen anderen Menschen so etwas an?
Ich will einmal außen vor lassen, daß Folter oft angewendet wurde und wird, um Menschen Eingeständnisse einer Tat abzuringen oder falsche Aussagen zu erzwingen. Diese werden nur in der Hoffnung gemacht, der Qual und dem Tod entrinnen zu können. Aber oft ist es zur Regel geworden, gerade Gefangene einem ständigen Angriff auf ihre Menschenwürde auszusetzen. Ich weiß allerdings nicht, ob nicht doch im Alltag schon Voraussetzungen für ein solches Handeln gegeben werden. Ich habe den Eindruck, daß wir es gern zulassen, wenn z. B. der religiös oder politisch Andersdenkende in härtester Form mit Wort oder Tat angegangen wird. Der Wehrlose muß sich auch in unserer Gesellschaft schon viel an entwürdigendem Handeln gefallen lassen. Wieviel schlimmer kann es den treffen, der als Insasse einer Haftanstalt oder der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses keine Möglichkeit hat, sich an andere zu wenden, die ihm helfen können und auch helfen wollen!
Nun kommt das, was allgemein unter dem Begriff „Folter" verstanden wird, in unseren Justizvollzugsanstalten nicht vor. Wir haben - auch in der Kenntnis der Taten des sogenannten Dritten Reiches - unsere Gesetzgebung entsprechend eingerichtet. Dennoch ist es richtig, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht nur das Europäische Übereinkommen vom 26. November 1987 ratifiziert, sondern auch seine volle Anwendung sicherstellt. Dieses Übereinkommen soll ja vor allem vorsorgend wirken. Es sieht Kontrollen in den Anstalten vor. Ein international zusammengesetzter Ausschuß soll sich durch Besuche in den Vertragsstaaten an Ort und Stelle vergewissern, daß die Frauen und Männer menschenwürdig behandelt werden, denen durch ein Gericht oder durch eine entsprechend bevollmächtigte Behörde die Freiheit entzogen wurde.
Wichtig scheint mir aber auch die Signalwirkung zu sein. Ziel muß es sein, weltweit zu solchen Vereinbarungen zu kommen.
Für uns ist es auch wieder eine Gelegenheit, unsere Einstellung zu Gefangenen zu überprüfen. Wir wollen, daß Schuld auch Sühne erfährt. Wir wollen aber auch, daß diesen Menschen Wege gewiesen werden, wie sie ein Leben führen können, ohne neue Schuld auf sich zu laden. Und wir wollen erst recht, daß ihre Menschenwürde in diesem Prozeß nicht zertreten wird. Keine Strafe darf solche Formen annehmen, daß ihr Menschsein entwürdigt und geschändet wird. Ich hoffe, daß dieses Europäische Übereinkommen weiterhilft.
Ich bitte Sie, dem Gesetzentwurf zuzustimmen.
({0})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Singer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als Folter wird in fast allen internationalen Übereinkommen die Zufügung großer körperlicher oder seelischer Schmerzen verstanden, die von einem Amtsträger selber, auf dessen Veranlassung oder mit dessen ausdrücklichem oder stillschweigendem Einverständnis verursacht werden. Die Folter gehört zu den abstoßendsten Verhaltensweisen, zu denen Menschen ihresgleichen gegenüber fähig sind, und dient so gut wie immer der Aufrechterhaltung von Willkürherrschaft oder der Begründung oder Verfestigung illegitimer Machtverhältnisse.
({0})
Wer die universelle Durchsetzung der Menschenrechte will, wird dem Kampf gegen die Folter, die noch in vielen Teilen der Welt praktiziert wird, ganz besondere Beachtung schenken müssen. Ich begrüße daher für meine Fraktion ausdrücklich, daß wir mit dem im Rechtsausschuß einstimmig beschlossenen Gesetzentwurf zu der europäischen Anti-Folter-Konvention, der heute hier zur Beratung steht, einen nicht unbedeutenden Schritt weiterkommen.
Zwar gibt es bereits eine Reihe internationaler Abkommen und Verträge, die sich gegen die Anwendung der Folter erklären und mit denen die Folter als mit der den Menschenrechten zugrunde liegenden Vorstellung von der Unantastbarkeit der Menschenwürde unvereinbar erklärt wird. Aber diese Konventionen sind von unterschiedlicher Wirksamkeit. In einem Punkte stimmen sie überein: Kontrollen finden im Grunde genommen erst statt, wenn eine Verletzung des Folterverbots geschehen ist.
Heute dagegen beraten wir eine Konvention, die verhüten soll, die Kontrollen und Inspektionen in Haftanstalten oder in psychiatrischen Krankenhäusern, also in Einrichtungen, in denen Menschen gegen ihren Willen verwahrt werden, ermöglichen soll. Das dafür vorgesehene Mittel, nämlich ein Inspektionsoder Kontrollausschuß, lehnt sich an das Vorbild der Untersuchungskommissionen des Internationalen Roten Kreuzes an und wird das internationale Instrumentarium zum Kampf gegen die Folter mit Sicherheit bereichern. Wenn man diese Konvention betrachtet, ist völlig unverständlich, warum in den vergangenen Jahren die Bundesregierung immer wieder gedrängt und geschoben werden mußte, damit sie ihre Bremserrolle aufgibt und Übereinkommen der vorliegenden Art zügig vorlegt und zeitig zeichnet.
({1})
Die Europäische Anti-Folter-Konvention ist bereits 1983 von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates einstimmig beschlossen worden. Den Konventionsentwurf hat das Ministerkomitee des Europarates ebenso einhellig angenommen, und zwar im Juni 1987. Die Zeichnung durch die Bundesregierung erfolgte am 26. November 1987. Wie man dies als frühestmöglichen Zeitpunkt bezeichnen kann - zu vergleichen die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der Abgeordneten Bindig, Dr. Schmude und anderer, Drucksache 11/2163 - ist mir schleiferhaft.
Es mag durchaus sein, daß Folter in der von mir oben definierten Art in der Bundesrepublik so gut wie nicht vorkommt. Aber wir waren uns bisher eigentlich alle einig, daß unser Beitritt zu der Konvention beispielgebende Wirkung haben soll, daß er andere Staaten ermutigen soll, ebenfalls beizutreten, und daß wir eine weitere Handhabe bekommen, europäische Nachbarstaaten, in denen Folter praktiziert wird, anzuklagen und anzuprangern.
Mir ist vollkommen klar, daß mit der Konvention allein Folter noch nicht verhindert wird; das Beispiel der Türkei ist geradezu klassisch und schreckenerregend. Die Türkei ist sowohl der UN-Anti-Folter-Konvention wie der Europäischen Anti-Folter-Konvention beigetreten. Wir alle wissen - das wird ja wohl von niemandem bestritten - , daß dort Folter weiter praktiziert wird. Nur werden wir in Zukunft die Türkei nicht nur wegen der moralischen Verwerflichkeit der Folter anklagen können, sondern auch wegen des permanenten Bruchs völkerrechtlicher Verträge. Das halte ich für sehr wichtig.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Hirsch?
Herr Hirsch.
Herr Kollege, wenn Sie bei dieser Gelegenheit über die Türkei sprechen, wären Sie so liebenswürdig, bei dieser Gelegenheit auch zu würdigen, daß die Türkei in diesen Tagen erklärt hat, daß sie die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes achten werde?
Natürlich muß man eine solche Erklärung würdigen. Die Botschaft hör' ich wohl, aber ob wir das so glauben können, wie es aus der Erklärung selber hervorgeht, halte ich angesichts der langen Praxis für noch zweifelhaft.
({0})
- Gewürdigt habe ich die Erklärung.
({1})
Natürlich muß sich jeder darüber freuen, wenn eine solche Erklärung abgegeben wird, und muß zunächst einmal ein bißchen guten Willen mitbringen, daß man
sagt: Vielleicht setzen sie das auch so um. Aber ob das der Fall ist? Gewisse Zweifel sind sicherlich angebracht.
An dieser Stelle muß ich mit allem Nachdruck die Behandlung der UN-Anti-Folter-Konvention kritisieren; auch das haben wir im Rechtsausschuß angesprochen. Ich weiß zwar, daß der Gesetzentwurf nun endlich dem Bundesrat vorliegt und dort beraten wird; aber es läßt sich ja wohl nicht abstreiten, daß die Bundesregierung die Frist, die sie sich selber gesetzt hat, hat verstreichen lassen. Die sehr zögerliche Behandlung auch dieser Angelegenheit schadet dem internationalen Ansehen und beeinträchtigt die Glaubwürdigkeit der Bundesrepublik bei ihrem Eintreten für die Durchsetzung von Menschenrechten in aller Welt.
({2})
Im Unterausschuß für die Menschenrechte ist im März dieses Jahres eigentlich hinreichend deutlich gemacht worden, daß Bedenken gegen die Anti-Folter-Konvention, auch gegen die UN-Anti-Folter-Konvention, eigentlich nicht mehr erhoben werden können. Wir haben die berühmte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, wo es heißt: Auch wenn sich jemand darauf beruft, daß er in seinem Heimatstaat gefoltert werden könnte, darf er nicht abgeschoben werden, selbst wenn ihm das Asyl verwehrt wird. Im Auslieferungsverfahren liefern wir niemanden aus, wenn der die Auslieferung begehrende fremde Staat uns nicht zusichert, daß eine möglicherweise drohende Todesstrafe nicht vollstreckt wird; für genauso selbstverständlich halte ich es, daß wir aus Deutschland niemanden in irgendeinen Teil der Welt abschieben, wenn ihm dort die Folter droht. Das sollte für uns alle eigentlich selbstverständlich und kein Grund sein, in den Beratungen der Gesetzgebungsgremien Verzögerungen hinzunehmen.
({3})
Deswegen habe ich auch nicht verstanden, daß man hier gesagt hat, mit der UN-Folterkonvention würde ein weiterer Nichtabschiebetatbestand geschaffen. Diesem Argument ist seit der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts der Boden entzogen; man sollte es deshalb schnell fallenlassen.
Das Ansehen der Bundesrepublik darf in der Behandlung von Menschenrechtsfragen keinen Schaden nehmen, indem Anspruch und Wirklichkeit auseinanderfallen. Ich freue mich darüber, daß die Europäische Anti-Folter-Konvention in der Bundesrepublik unmittelbar geltendes Recht wird, daß sie keiner besonderen Umsetzung durch nationale Gesetze bedarf. Ich begrüße auch, daß die Mitglieder der Untersuchungskommission, oder der Inspektions-, Kontrollkommission, wie Sie es auch nennen wollen, nicht unbedingt Juristen sein müssen, sondern auch Praktiker aus dem Strafvollzug oder der Psychiatrie sein können, daß man Ad-hoc-Besuche machen kann, daß man beim Auftreten von Verdacht einem Verdacht auch nachträglich noch einmal nachgehen kann, daß man in die Haftanstalt noch einmal hinein darf und überraschend überprüfen kann und das, wenn die erste Untersuchung, je nach Betrachtungweise, keine positiven oder negativen Befunde ergeben hat, noch einmal feststellen kann und daß in der Konvention auch einige Druckmittel vorgesehen sind, wie die Abgabe von öffentlichen Erklärungen, die Konsultation mit einzelnen Vertragsstaaten, die Möglichkeit, Empfehlungen auszusprechen, und die Pflicht zur regelmäßigen Berichterstattung.
Ich würde mich darüber freuen, wenn die Beschlußfassung im Plenum des Deutschen Bundestages ebenso einstimmig erfolgen würde wie im Rechtsausschuß. Ich glaube, davon kann ich ausgehen. Wenn wir in solchen wichtigen Fragen immer solche Einigkeit hätten, wären wir, glaube ich, ein gutes Stück weiter.
Vielen Dank.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Irmer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir freuen uns ausgesprochen darüber, daß der Deutsche Bundestag heute Gelegenheit hat, diesem Gesetzentwurf und damit der Anti-Folter-Konvention des Europarates zuzustimmen. Meine Vorredner haben mit Recht auf die Bedeutung dieses Abkommens verwiesen, die in meinen Augen in erster Linie darin zu sehen ist, daß hier die Möglichkeit geschaffen wird, durch vorbeugende Kontrollen mit dazu beizutragen, daß es zu Folter und unmenschlichen Behandlungen von Gefangenen erst gar nicht kommt.
Leider stellen wir in der Praxis immer wieder fest, daß es zwischen der Theorie oder der Rechtslage und der Handhabung zu schweren Diskrepanzen kommt. Es ist richtig, daß hier das Beispiel der Türkei angesprochen wurde, denn wir dürfen nicht verkennen, daß uns diese Diskrepanz um so schmerzlicher dann berührt, wenn es sich um ein Land handelt, das sich verbal unseren Wertordnungen und unseren Standards verpflichtet, und das ist bei der Türkei, einem Mitglied des Europarates, der Fall. Wir haben durch den von Herrn Hirsch erwähnten Vorgang gesehen, daß in der Türkei möglicherweise ein Umdenken Platz greift. Ich möchte von dieser Stelle aus ganz eindringlich an unseren Partner Türkei appellieren, daß wir in Zukunft keine Klagen mehr über die Zustände in türkischen Gefängnissen hören müssen. Sollte sich die Menschenrechtssituation in der Türkei nicht nachhaltig ändern, dann brauchen wir über einen etwaigen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft erst gar kein Wort zu verlieren.
({0})
Meine Damen und Herren, durch die Anti-Folter-Konvention hat sich der Europarat erneut als das Gremium bewährt, das am nachhaltigsten um Wahrung und Schutz der Menschenrechte streitet. Es ist genau dieses Engagement in Menschenrechtsfragen, das den Europarat, das Europa der 23 so fazinierend macht, auch für unsere östlichen Nachbarn. Die Entwicklung in einigen der Länder des ehemaligen Ostblocks hat dazu geführt, daß mehr Pluralismus, mehr Demokratie, damit auch mehr Menschenrechte angestrebt werden und zum Teil verwirklicht worden sind. Dies hat uns im Europarat dazu ermutigt, den Ländern Polen,
Ungarn und der Sowjetunion den Status besonderer Gäste als Vorstufe einer etwaigen Vollmitgliedschaft einzuräumen, die dann erreicht werden kann, wenn auf diesem Weg konsequent weitergeschritten wird.
Natürlich darf man nicht übersehen, daß es ganz schlimme Entwicklungen in anderen Ländern dieses ehemaligen Ostblocks gibt. Wenn ich heute in den Nachrichten höre, wie sich die Zustände in unserer Botschaft in Prag entwickeln und daß die tschechoslowakischen Behörden nicht bereit sind, Ersatzunterkünfte zur Verfügung zu stellen, dann ist dies eine der grauenhaftesten Menschenrechtsverletzungen, von denen in jüngster Zeit zu hören war. Hoffen wir, daß die Appelle nicht weiter an der Schwerhörigkeit starrsinniger und altersschwacher Betonköpfe verhallen.
Meine Damen und Herren, es zeigt sich gerade an den Entwicklungen im Ostblock, daß die Idee von Freiheit und menschlicher Würde auf Dauer durch keine Gewalt unterdrückt werden kann.
Lassen Sie mich zum Schluß auch noch ein Wort zur Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen sagen. Ich möchte hier für meine Fraktion feststellen, daß wir ausdrücklich begrüßen, wie beharrlich sich der Bundesjustizminister und der Bundesaußenminister über die Jahre hin dafür eingesetzt haben, daß auch diese Konvention ratifiziert werden kann.
({1})
Um so tiefer ist allerdings unser Unverständnis dafür, daß sich nicht alle Kollegen im Kabinett - und man weiß ja, getrieben von einigen Bundesländern - diesen Beschleunigungsbemühungen angeschlossen haben.
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Dadurch ist der fatale Eindruck vor der Weltöffentlichkeit entstanden, daß die Bundesrepublik Deutschland nicht zu den Ländern gehören würde - zu denen sie aber gehört - für die es gerade in Fragen der Menschenrechte kein Wenn und kein Aber geben darf.
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Wir erwarten jetzt alsbald das Ratifizierungsverfahren. Diese unsägliche Diskussion darüber, daß selbstverständlich Menschen nicht in Länder abgeschoben werden, wo ihnen die Folter droht, dürfte durch das von Ihnen, Herr Singer, zitierte Urteil des Bundesverwaltungsgerichts endgültig ausgeräumt sein.
Meine Damen und Herren, es ist eine Selbstverständlichkeit, daß bei uns im Lande nicht gefoltert wird. Dennoch ist die Ratifizierung dieser Anti-FolterKonventionen wichtig, und zwar vom moralischen Gewicht her, das die Unterstützung durch immer mehr Länder diesen Konventionen gibt, aber auch von dem Geist dieser Abkommen. Die Abkommen mahnen und verpflichten uns zu menschlichem und fairem Umgang gerade mit denen, die um die Wahrung ihrer elementaren Rechte kämpfen müssen und bei uns Zuflucht vor Verfolgung suchen. Hoffen wir, daß unsere heutige Zustimmung zu dieser Konvention auch in diesem Sinne verstanden werden wird.
Ich danke Ihnen.
({4})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Meneses Vogl.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte heute morgen nicht die Gelegenheit dabei zu sein, als Frau Lieselotte Berger geehrt wurde. Ich möchte aber die Gelegenheit nutzen und mich vor der Person und in der Erinnerung an diesen geliebten Menschen verbeugen. Meine Damen und Herren, wir reden heute wieder einmal über Menschenrechte. Ich sage das keineswegs mit einem ausschließlich negativen Unterton, aber es fällt mir schwer, einen an sich positiven Fortschritt in diesem Bereich lediglich sachlich zu würdigen.
Wir werden heute einstimmig einen Gesetzentwurf beschließen, der von uns allen nur begrüßt werden kann. Denn dieser Gesetzentwurf dient der längst fälligen, aber von Baden-Württemberg und Bayern unnötig lange hinausgezögerten Ratifikation des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe. Der Gesetzentwurf hat einen einmaligen Charakter - das ist hier auch schon mehrmals betont worden -; denn er sieht vor, den Betroffenen einen stärkeren präventiven Schutz vor Mißhandlungen und menschenunwürdiger Behandlung zu bieten. Er soll eine Signalwirkung für die ganze Welt haben. Europa übernimmt insofern eine Vorbildfunktion für die Weiterentwicklung des Menschenrechtsschutzes. Ein Grund zu stolzer Selbstgefälligkeit ist das dennoch mit Sicherheit nicht, denn allein während dieser halbstündigen Beratung werden in der ganzen Welt unzählige Menschen gefoltert, erniedrigt, geschändet.
Während wir im Saal dabei sind, die Menschenrechte mit Gesetzestexten weiterzuentwickeln, werden in weiten Teilen der Welt die Foltermethoden systematisch verfeinert. Menschen werden unter Einsatz modernster Technologie und unter ärztlicher Beobachtung gefoltert, so daß Folter gar nicht mehr nachzuweisen ist.
Das ist die Geschichte der Menschenrechte: Schutzgesetze und internationale Abkommen werden um des guten Ansehens willen verabschiedet und unterzeichnet, und sie werden dann doch umgangen. Gesetze werden in diesem Bereich eigentlich nur gemacht, um umgangen zu werden.
Während nun einerseits in Europa ein vorbildliches Gesetz in Kraft tritt, erleben wir gleichzeitig, wie das Menschenleben überall in der Welt an Wert verliert. Ich muß gestehen: Ich bin verbittert. Was nutzen die besten Gesetze zum Schutz der Menschenrechte, wenn ihre Implementierung immer schwieriger wird? Was nutzen sie einem demokratieliebenden Studenten aus China oder einem regimekritischen Bauern aus Kolumbien, wenn sich ihre Regierungen, auch wenn sie diese Menschen foltern und umbringen, weiterhin auf die wohlwollende Wirtschaft Europas verlassen können?
({0})
Die Geschichte der Menschenrechte ist die Geschichte der Hilflosigkeit der Unterdrückten. Diese Feststellung macht auch mich hilflos, gleichzeitig aber
auch zornig. Als Demokrat muß ich meinen Zorn zügeln, aber ich muß nochmals sagen: Es ist schwierig, den Zorn zu zügeln.
Aber zurück zum Gesetzentwurf. Bei aller Befürwortung gibt es noch viele Probleme, die ungeklärt bleiben. Wir können nicht vollständig absehen, wie sich die Konvention in der Praxis bewähren wird. Einige schwerwiegende Defizite sind aber schon in den letzten Tagen sichtbar geworden.
Bei der Wahl der Mitglieder des Ausschusses, die die Kontrollbesuche in den Haftanstalten - übrigens auch in Geheimgefängnissen, Umerziehungslagern und psychiatrischen Anstalten - durchführen soll, ist für Großbritannien Stefan Terlezki bestimmt worden. Terlezki ist ein konservativer Politiker aus Cardiff, der sich für die Todesstrafe bei Entführung und bewaffnetem Raubüberfall eingesetzt hat. Er hat einen parlamentarischen Antrag zur Einführung körperlicher Bestrafung für gewaltsame Verbrechen unterstützt und sich für die Förderung sportlicher Beziehungen zu Südafrika eingesetzt - allen Bestimmungen der internationalen Sportbehörden zum Trotz. Er wurde gewählt, obwohl vorgesehen ist, daß die Mitglieder unter Persönlichkeiten mit hohem sittlichen Ansehen ausgesucht werden sollen, deren Sachkenntnis auf dem Gebiet der Menschenrechte anerkannt ist. Unparteiisch und unabhängig sollen sie sein.
Meine Zeit ist zu Ende; ich muß meine Rede abkürzen.
Ich habe eine ganze Menge Kritik an diesem Gesetzentwurf. Trotz allem begrüße ich ihn. Ich hoffe, daß sich die Bundesrepublik unverzüglich an die Auswahl eines unparteiischen Vertreters oder einer Vertreterin macht und daß sich diese Konvention in der Praxis bewährt. Dazu gehört an vorderster Stelle, daß die Türkei ihr grausames Foltern beendet, denn die Türkei gehört mit zu den ersten Unterzeichnern.
Sie werden verstehen und verzeihen, Kolleginnen und Kollegen, wenn ich meine anfänglichen Worte wiederhole: Glücklich bin ich darüber aber trotzdem nicht.
Danke schön.
({1})
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Jahn.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die bereits bei der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfs festgestellte Einigkeit aller Seiten dieses Hauses hat auch die Ausschußberatungen getragen, so daß dieses für die Menschenrechtspolitik wichtige Übereinkommen nun bald ratifiziert werden kann. Dies ist zu begrüßen.
Die in dem Übereinkommen vorgesehene Möglichkeit der Inspektion von Haftanstalten durch ein internationales Gremium ist ein Fortschritt im praktischen Bereich. Hier sind Taten zu erwarten, nicht nur Worte.
Wesentlich für die Arbeit des Europäischen Ausschusses zur Verhütung der Folter ist allerdings zweierlei. Erstens müssen ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, und zweitens muß der Ausschuß mit qualifizierten und aktiven Mitgliedern besetzt werden. Wir werden uns bemühen, daß diese Voraussetzungen erfüllt werden.
Angesichts der Einigkeit in der Sache gab es Kritik, Herr Kollege Singer, nur wegen des Zeitpunkts der Einbringung des Regierungsentwurfs für ein Vertragsgesetz zu diesem Übereinkommen und zu der UNO-Konvention gegen Folter.
Was dieses Vertragsgesetz angeht, so schlage ich Ihnen vor, daß wir uns die Verantwortung für die verstrichene Zeit teilen. Hier die Fakten: Das Übereinkommen ist im November 1987 zur Zeichnung aufgelegt worden. Die Bundesregierung hat den Entwurf eines Vertragsgesetzes ein Jahr später vorgelegt. Angesichts der notwendigen Abstimmung mit den Ländern - hierauf weise ich eigens hin - ist ein schnelleres Vorgehen kaum möglich. Die Behandlung in den gesetzgebenden Körperschaften hat dann noch einmal fast ein Jahr gedauert. Es ist nun einmal so, daß die Abstimmung mit den Ländern in schwierigen Fragen Zeit braucht und daß unser Gesetzgebungssystem mehr Zeit benötigt als vielleicht das entsprechende System in anderen Staaten.
Heute stellen wir fest, daß 15 der 23 Mitgliedsstaaten des Europarats das Übereinkommen inzwischen ratifiziert haben und daß wir jetzt, heute, gemeinsam die Voraussetzungen dafür schaffen.
Was die UNO-Konvention gegen Folter angeht, so liegt der Regierungsentwurf eines Vertragsgesetzes inzwischen vor. Die notwendige Abstimmung mit den Ländern war ebenfalls nicht einfach und hat länger gedauert, als wir alle zunächst erwartet haben. Sie ist Gott sei Dank jetzt abgeschlossen, so daß wir auch das UNO-Übereinkommen ratifizieren können. Angesichts des schwierigen Vorlaufs begrüßt dies die Bundesregierung ganz besonders.
Herr Kollege Singer, Sie haben Kritik geübt, und die Kritik auch auf den Entwurf eines Vertragsgesetzes bezogen. Ich möchte dazu folgendes festhalten. Sie haben damals in Ihrer Fraktion den Standardgesetzestext abgeschrieben und vorgelegt. Eine Denkschrift, die für die Durchführung einer internationalen Konvention außerordentlich wichtig ist, haben Sie nicht beigefügt. Wegen des nach der Lindauer Absprache erforderlichen Einverständnisses der Länder haben Sie sich auch keine Sorgen gemacht. Die Ratifizierung ist aber erst möglich - das wissen Sie - , wenn auch dieses Einverständnis vorliegt.
({0})
Doch am Schluß kann ich sagen: Ende gut, alles gut. Wir sind uns heute einig. Wir werden in naher Zukunft Vertragsstaat sowohl der Europäischen Konvention als auch der UNO-Konvention gegen Folter sein. Das, meine Damen und Herren, ist ein erfreulicher Schritt, ein erfreulicher Schritt unserer gemeinsamen Menschenrechtspolitik. Menschenrechtspolitik entspricht der Würde des Menschen und sichert Freiheit.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung aus den Drucksachen 11/4028 und 11/4819. Ich rufe das Gesetz mit den Artikeln 1 bis 3, der Einleitung und der Überschrift auf. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Das Gesetz ist einstimmig angenommen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({0})
Sammelübersicht 124 zu Petitionen
- Drucksache 11/5151 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({1})
Sammelübersicht 125 zu Petitionen
- Drucksache 11/5152 Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5227 und 11/5251 vor.
Im Ältestensrat sind für die gemeinsame Beratung 45 Minuten vorgesehen worden. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.
: Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Haus Escherde, da leben Menschen. 500 Meter davon entfernt soll jetzt ein riesiges Munitionsdepot gebaut werden. Niemand weiß genau, was da hineinkommt. Möchten Sie da wohnen, meine sehr verehrten Kollegen und Kolleginnen, zumal es das dritte Munitionsdepot im Landkreis Hildesheim sein wird?
Haus Escherde, da schließen sich Menschen zusammen. Eine Bürgerinitiative wird gegründet. Alle sind gegen das Depot. Die Gemeinde schließt sich den Forderungen an.
Haus Escherde, da kommen die Politiker, gucken, dann gehen sie wieder, versprechen natürlich: Wir tun, was sich machen läßt. - Sogar der Kollege Rappe meint: Das Munitionsdepot ist nicht mehr nötig.
Haus Escherde, da spricht der Verteidigungsminister das letzte Wort. Er ist ja gar nicht so. Die Bürger und Bürgerinnen wollen Frieden, wollen weitere Abrüstung, wollen Sicherheit vor hochgehenden Munitionslagern. So etwas ist nämlich schon passiert. Sie fühlen sich in Friedenszeiten bedroht.
Haus Escherde, meine Herren und Damen, da sagt der Bundeskanzler: Frieden schaffen - mit immer weniger Waffen.
Entspannung also? - O nein, Abschreckung und Verteidigung sind angesagt. Das Depot wird gebaut; denn unverändert bestehe immer noch eine Bedrohung der Bundesrepublik durch die Sowjets und ihre Verbündeten.
Haus Escherde, da macht der Verteidigungsminister einen Kompromiß: statt 500 Metern nun 700 Meter bis zu den Häusern. Und noch ein Bonbon, wegen der Akzeptanz: ein landespflegerischer Begleitplan, damit eben noch ein paar Bäumchen den Stacheldraht kaschieren.
Meine Herren und Damen, Haus Escherde könnte auch bei Ihnen um die Ecke liegen, und Sie kämen in die Situation, einmal hautnah am Puls der Zeit zu sein und sich zu fragen: Wollen wir denn nun eigentlich Abrüstung, oder wollen wir die Aufrüstung? Wollen wir die veraltete Planung von vor fast 20 Jahren fortführen und das ewige Wettrüsten zur Vollendung treiben? Vielleicht, meine Herren und Damen denken Sie jetzt auch: Eigentlich haben wir mit dem Depot schon fast 20 Jahre gewartet. Vielleicht wäre es doch besser, wir zeigen Flexibilität und treten für ein Moratorium ein. Wir warten noch einmal ein paar Jahre länger, und vielleicht haben wir dann in Wien den Durchbruch.
({0})
Ob konventionelle Waffen oder atomare, wir rüsten wirklich ab. Wir müssen abrüsten. - So stellen sich das zumindest friedliebende Menschen vor. Sie gehören doch sicherlich alle dazu.
Darum, meine Herren und Damen: Lassen wir nicht den Verteidigungsminister das letzte Wort haben! Denken Sie daran: Haus Escherde könnte plötzlich auch bei Ihnen nebenan sein.
Wir haben den Petitionsausschuß ja dafür, daß dann, wenn Abrüstung angesagt ist, bei Munitionsdepots und Treibstofflagern nicht weiter aufgerüstet wird. Deshalb bitte ich Sie um Unterstützung für die Petenten in und um Haus Escherde.
Ich danke Ihnen.
({1})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Dempwolf.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Was Frau Garbe gerade zu Haus Escherde vorgetragen hat, hört sich so an, als gebe es eine Kriegserklärung an die Bevölkerung, die in der Umgebung von Haus Escherde wohnt. Als ich das alles eben gehört habe, kam ich mir vor wie in einer Märchenstunde.
({0})
Die Petentin, eine Bürgerinitiative, wendet sich gegen die geplante Errichtung eines vorgeschobenen Versorgungslagers der NATO für die britischen Streitkräfte bei Haus Escherde im Landkreis Hildesheim. Sie trägt im wesentlichen vor, die Planung für das Depot liege bereits 17 Jahre zurück und passe insbesondere im Hinblick auf die Abrüstungsverhandlungen nicht mehr in die heutige politische Landschaft.
({1})
Sicherheitsinteressen der Bevölkerung würden in eklatanter Weise verletzt, weil vorgeschriebene Sicherheitsabstände nicht eingehalten würden. Die Explosionsunglücke in jüngster Zeit zeigten, daß die vor12262
geschriebenen Sicherheitsabstände unzureichend seien.
({2})
Zudem werde durch die Depotplanung ein zusammenhängedes Naherholungsgebiet gefährdet.
({3})
Wir müssen davon ausgehen, daß die NATO-Streitkräfte zur Erfüllung ihres Verteidigungsauftrags für die Versorgung ihrer Truppen ein flächendeckendes Versorgungsnetz benötigen.
({4})
- Jetzt müßten Sie eigentlich auch klatschen. Sie haben recht: Die Zeit des Kalten Krieges ist vorbei. Wir sind im Gespräch miteinander und streben eine Reduzierung der konventionellen Streitkräfte in Ost und West auf gleiche Obergrenzen an. Ein Verhandlungsergebnis haben wir jedoch bis heute nicht. Bis es dazu kommt, stellt jede einseitige Reduzierung unserer konventionellen Streitkräfte eine nicht zu vertretende Gefährdung unserer Sicherheit
({5})
und auch der Sicherheit der Bevölkerung um Haus Escherde dar.
({6})
Sie, die GRÜNEN, wollen, daß der gesamte Verteidigungshaushalt gestrichen wird.
({7})
Am Mittwoch haben Sie diesen Antrag im Verteidigungsausschuß eingebracht. Begründet wird der Antrag damit, daß es im Verteidigungshaushalt keinen Posten gebe, der dem Frieden dient. Statt dessen wollen Sie den Einzelplan 14 zum Aufbau einer Friedenserziehung.
({8})
Ein Umdenkungsprozeß darf aber nicht dazu führen, unsere Sicherheit aufzugeben.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen im Westen um die Möglichkeit von Rückschlägen. Wir nehmen zur Kenntnis, daß es zu Gesprächen kommt, und hoffen auf den Erfolg der Reformen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft.
({9})
Auch hoffen wir auf Fortschritte bei den Menschenrechten. Aber bis heute hat sich in Europa so Wesentliches nicht geändert, als daß man von der Vorneverteidigung Abstriche machen könnte. Es kann hier keine einseitigen Schritte geben. Es könnte im nächsten Jahr sicherlich schon anders aussehen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren von den GRÜNEN, vielleicht wollen Sie ja den Einzelplan 14 streichen. Vielleicht wären das dann Mittel, die Sie für die Friedensinitiativen unter Umständen nach Libyen tragen; das mag schon sein.
({10})
Das geplante Depot wird von der NATO finanziert und von britischen Streitkräften betrieben. Neben Betriebsstoffen soll in dem Depot auch Munition eingelagert werden; das ist richtig.
({11})
Und richtig ist auch, daß die niedersächsische Landesregierung dem Bau des Depots zugestimmt hat unter der Bedingung, daß Eingriffe in die Landschaft auf ein Mindestmaß beschränkt bleiben und eine landschaftsgerechte Einbindung der Anlage auf Grund eines mit den Landesbehörden abgestimmten landschaftspflegerischen Begleitplanes sichergestellt wird.
Die Behauptung, Sicherheitsinteressen der Bevölkerung würden in grober Weise verletzt, weil vorgeschriebene Sicherheitsabstände nicht eingehalten würden, haben wir nicht bestätigt gefunden. Da der Standort um 200 Meter verschoben worden ist, vergrößert sich der Abstand vom geplanten Munitionsdepot zur Wohnbebauung der Ortschaft Haus Escherde von bisher 960 auf 1 200 Meter. Darüber hinaus sind die Abstände der Lagerorte untereinander so bemessen, daß eine Detonationsübertragung von einem Lagerort zum anderen ausgeschlossen ist. Leben und Gesundheit der Anwohner sind nicht gefährdet.
Ich habe zwar Verständnis dafür, daß die Petentin die Eingriffe in die Natur mit Sorge sieht, bin aber der Meinung, daß gewisse Eingriffe in die Landschaft und Belästigungen der Anwohner während des Baus oder späteren Betriebs hingenommen werden müssen, weil sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht widersprechen. Der Bundesminister der Verteidigung sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen, die Eingriffe in die Landschaft und Belästigungen für die Anwohner so gering wie möglich zu halten. Den berechtigten Interessen der Anwohner und dem hohen Rang des Umweltschutzes sollte besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
({12})
Deshalb halten wir die Eingabe für geeignet, in die weiteren Überlegungen und Entscheidungen einbezogen zu werden. Wir empfehlen, die Eingabe der Bundesregierung in diesem Sinne als Material zu überweisen.
Ich danke Ihnen.
({13})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Es geht hier nicht um die Fortführung einer Diskussion im Verteidigungs- oder HaushaltsFrau Ganseforth
ausschuß, sondern es geht um eine Petition, die hier vorliegt.
({0})
Im Landkreis Hildesheim bei Haus Escherde soll ein vorgeschobenes Versorgungslager der NATO für die britischen Streitkräfte errichtet werden. Dieses Depot soll zur Einlagerung von Betriebsstoffen und Munition dienen, über die nach der Geheimhaltungsbestimmung der NATO keine Angaben gemacht werden können.
Zur Sorge der Bürgerinnen und Bürger vor einer möglichen Explosion bereits in Friedenszeiten meint der Verteidigungsminister, daß nach menschlichem Ermessen eine Gefährdung ausgeschlossen werden kann - nun kommt Originalton Verteidigungsministerium - , weil „beim Bau von Depots insbesondere der Berücksichtigung aller Sicherheitsbelange der umliegenden Bevölkerung hohe Priorität eingeräumt" wird. Ich meine, das wäre eine Selbstverständlichkeit. So pauschal gesagt reicht das den Bürgerinnen und Bürgern nicht aus. Ich kann das verstehen.
Ich möchte aber noch auf einen anderen Punkt zu sprechen kommen. In der Bundesrepublik gibt es bereits 1 316 Depots der Bundeswehr und 366 Depots der alliierten Streitkräfte, wie wir aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große Anfrage vom Sommer „Landschaftsverbrauch und Naturzerstörung durch militärische Einrichtungen in der Bundesrepublik Deutschland" wissen.
Am Rande möchte ich nur erwähnen, daß es wieder nicht gelingt, Vorhaben der Landesverteidigung einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen oder das in das Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz hineinzunehmen. Das läßt für die Zukunft Böses fürchten.
Wie gesagt: Es gibt inzwischen fast 2 000 Depots in der Bundesrepublik. Die Bürgerinnen und Bürger, die sich in der Bürgerinitiative zusammengetan haben, sind zu Recht besorgt und fragen, ob es tatsächlich nötig ist, immer mehr und immer größere Munitionsdepots anzulegen. Es geht nicht, Frau Dempwolf, um einseitige Abrüstungsschritte, sondern es geht um die Frage: Ist es nötig, die Aufrüstung weiterzutreiben? Es geht um die Ausweitung.
({1})
Der Beginn der Planung liegt fast zwanzig Jahre zurück.
({2})
Ich denke, jede Planung - besonders im militärischen, aber auch in anderen Bereichen - muß sich nach so einer langen Zeit dem gewachsenen Erkenntnisstand in bezug auf den Naturschutz stellen, muß aber auch neue Entwicklungen einbeziehen. Mir ist das ganz besonders wichtig. Denn wir haben auch in anderen Bereichen mit Uraltplanungen zu tun, die nur noch durchgezogen werden. Ich finde, es ist in jedem Bereich, aber ganz besonders im militärischen wichtig, nach so einer langen Zeit zu fragen: Paßt das
noch in die Landschaft, in die Natur und in die Verteidigungspolitik?
({3})
Gerade an eine Einrichtung, die eine so große Gefährdung und Belastung für Mensch und Natur darstellt, wie es ein Munitionsdepot tut, müßten strengste Maßstäbe angelegt werden, was die Notwendigkeit betrifft.
Guckt man sich aber an, was das Verteidigungsministerium zur Notwendigkeit sagt, so ist man nicht überzeugt, daß der Bau dieses Depots jetzt nötig ist. Die Sicherheit der Bundesrepublik konnte in der Vergangenheit auch ohne dieses Depot aufrechterhalten werden. Die Gründe, die das Ministerium anführt, sind so allgemein und sehr verstaubt. Frau Dempwolf hat sie im wesentlichen zusammengefaßt.
({4})
Sie gipfeln in der Aussage von der Unverzichtbarkeit der Abschreckungsfähigkeit. Von der Strategie der Vorneverteidigung ist dabei die Rede, die es notwendig mache, dieses Depot einzurichten. So pauschal, meine ich, kann man so eine Einrichtung und so ein neues Projekt nicht begründen.
({5})
Der Bundestag sollte daher das Anliegen der Petenten aufgreifen und der Bundesregierung zur Berücksichtigung überweisen.
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vorliegende Petition hat uns in der FDP-Fraktion große Kopfschmerzen bereitet.
({0})
Diese Bürgerinitiative und auch die Gemeinde Betheln-Escherde haben sich gegen diese Versorgungslager gewandt, das nach den Planungen von der Wohnbebauung, von der Ortschaft Escherde rund 1200 Meter entfernt ist. Der äußerste Punkt ist 960 Meter entfernt.
Der Petitionsausschuß hat dem Bundesminister der Verteidigung diese Petition als Material überwiesen. Wir haben diesem Beschluß mit großen Bedenken zugestimmt, weil wir nicht verkennen, daß grundsätzlich Versorgungslager der NATO auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland errichtet werden müssen.
Die Planung für die Anlage dieses Versorgungslagers liegt - darauf hat Frau Ganseforth zu Recht hingewiesen - 17 Jahre zurück, und die niedersächsische Landesregierung hat diesem Standort zugestimmt.
Wir haben hier ein Problem, das wir auch in anderen Bereichen, z. B. im Baurecht, immer wieder erleben, nämlich daß Uraltbebauungspläne verwandt werden,
obwohl sie heute unter Umweltschutzgesichtspunkten eigentlich nicht mehr verwendet werden sollten. Ich sehe auch in meiner Heimatstadt Hamburg, daß wir dort Bebauungspläne umsetzen, die aus der Zeit um 1950, 1960 stammen, als wir alle das Wort Umweltschutz noch nicht buchstabieren konnten.
Wir teilen die Bedenken der GRÜNEN hinsichtlich der Sicherheitsbedenken nicht. Wir meinen, daß das Bundesverteidigungsministerium überzeugend ausgeführt hat, daß das Munitionsdepot, das Versorgungslager, notwendig ist.
Unsere Bedenken beziehen sich auf die landschaftszerstörende Wirkung. Der Hildesheimer Wald ist ein wichtiges Naherholungsgebiet und wird von einer Reihe von sehr schönen und auch für die Wasserversorgung wichtigen Bächen - ich erinnere beispielsweise an die Beuster - durchkreuzt. Das Naherholungsgebiet Hildesheimer Wald hat schon stark durch den Bau der Schnellbahntrasse Hannover-Kassel gelitten.
({1})
- Sie haben in diesem Fall völlig recht, Frau Garbe. - Mit der Anlage des Versorgungslagers würde eine zusätzliche Belastung erfolgen.
Wir bitten daher den Bundesminister der Verteidigung, intensiv darauf hinzuwirken, daß beim Bau des Versorgungslagers auf die Umwelt und die Befürchtungen und Bedenken der Bevölkerung Rücksicht genommen wird sowie auf die englischen Verbündeten eingewirkt wird, auf Umwelt und Landschaft verstärkt Rücksicht zu nehmen. Wir wissen, daß die Engländer nicht übermäßig sensibel mit Umwelt und Landschaft umgehen; das kennen wir von der Lüneburger Heide. Insoweit bin ich dem Bundesverteidigungsminister sehr dankbar, daß er gerade in der letzten Zeit, was die Lüneburger Heide angeht, mit den Engländern eine vernünftige Regelung gefunden hat. Ich hoffe, daß wir sie auch in diesem Bereich, Haus Escherde, bekommen werden.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Ganseforth.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben noch eine zweite Petition aus einem ganz anderen Gebiet vorliegen, und zwar fordert dieser Petent die Einführung der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung für sogenannte geringfügig Beschäftigte. Er beruft sich dabei auf Äußerungen der Präsidentin Professor Dr. Süssmuth und von Dr. Fink von der CDU. Sie haben kritisiert, daß es etwa zwei Millionen Arbeitnehmer ohne jede soziale Absicherung gibt, weil sie Arbeitsverhältnisse unterhalb der Geringfügigkeitsgrenze haben.
Der Petent schreibt an Frau Süssmuth:
Wenn Sie so wollen, dann züchtet sich der Staat
die Sozialhilfeempfänger zum Teil selbst. Hinzu
kommt der Mißbrauch durch die Unternehmer, die diese Grenze zu kriminellen Praktiken nutzen können und dies im großen Stil auch tun.
({0}) Der Petent fragt:
Darf der Gesetzgeber das dulden? Hier besteht
wohl Handlungsbedarf seitens des Staates.
Dann schreibt er:
Ich schlage vor, diese Praktiken abzuschaffen und bei geringem Verdienst bis 450 DM dem Unternehmer die sozialen Lasten allein aufzuerlegen.
Ich finde, der Petent hat recht, und dem ist zuzustimmen.
({1})
Was sagt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung in seiner Stellungnahme zu dem Anliegen des Petenten? - Er sagt:
Die Sozialversicherungsfreiheit der geringfügig Beschäftigten ist in letzter Zeit erneut vermehrt kritisiert worden. Hintergrund dieser Kritik ist zum einen, daß sich offenbar in einigen Wirtschaftsbranchen die Tendenz verstärkt, sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze auf geringfügige Beschäftigungen umzustellen.
Das sagt der Sozialminister.
Zum anderen mehren sich Hinweise auf illegale Praktiken. So werden z. B. durch falsche Angaben des Arbeitgebers gegenüber den Sozialversicherungsträgern geringfügige Beschäftigungsverhältnisse vorgetäuscht, um die Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Diese Entwicklung,
- sagt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die hier in letzter Zeit zu erkennen war, bereitet im Hinblick auf die Arbeitsmarktlage, aber auch wegen der Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme, Sorge.
Der Fall ist also ganz einfach. Allerdings verweist der Minister dann auf Versuche, die Mißbräuche, die er angesprochen hat, durch Kontrollen und Bürokratie zu bekämpfen. Aber die Lösung ist ganz einfach, nämlich Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze.
({2})
Wir fordern das schon lange, zuletzt in dem Gesetzentwurf zur Gleichstellung von Frau und Mann im Berufsleben, den wir hier im Bundestag im Dezember 1988 eingebracht haben.
Auch bei den Gesprächen zur Rentenreform war das eine unserer Forderungen. Sie wurde zwar nicht in den Kompromiß aufgenommen, aber die Regierungsparteien signalisierten, daß hier dringender Handlungsbedarf bestehe.
({3})
Wenn das so ist, dann begreife ich nicht, warum Sie
nun vorschlagen, das Petitionsverfahren abzuschließen. Dann lassen Sie uns vom Reden dann auch endFrau Ganseforth
lieh zum Handeln kommen! Das würde nicht nur die Einnahmen der Sozialversicherungssysteme verbessern, sondern es würde auch die Anreize, Teilzeitoder Vollzeitarbeitsplätze in diese unsäglichen Miniarbeitsplätze zu splitten, verringern. Das würde die Wettbewerbsverzerrungen gegenüber Betrieben mit Normalarbeitsplätzen beseitigen.
Nun heißt es, die inzwischen über 2 Millionen Menschen - mehr als 80 % davon sind Frauen - , die auf diesen miesen Miniarbeitsplätzen beschäftigt sind, wollten das so. Hierzu möchte ich am Rande bemerken: Es wäre ein Novum, wenn die Gestaltung von Versicherungen davon abhängig gemacht würde, ob und was die Versicherten wollen. Aber das ist ja nicht der Grund. Stimmt es, daß die Frauen, die auf diesen Miniarbeitsplätzen beschäftigt werden, das wollen?
Mir liegt eine Befragung der Katholischen Arbeitnehmerbewegung KAB vor, deren Ergebnis am 13. April 1989 in Bonn vorgestellt wurde. Das Thema dieser Befragung lautet: „Frauen in geringfügiger Beschäftigung". Diese Befragung wurde unter der wissenschaftlichen Leitung von Dr. Marianne Vollmer aus Mannheim durchgeführt. Ich denke, die kritischen Äußerungen des Ministeriums beruhen auf diesen Erfahrungen, aber man handelt halt nicht. Dieser Befragung zufolge sagen nur 34,2 % der etwa 1 000 Befragten in geringfügigen Arbeitsverhältnissen: „So wie es ist, paßt es mir sehr gut." Wenn man diejenigen abzieht, denen es nur deshalb paßt, weil sie keine Betreuungsmöglichkeiten für ihre Kinder haben, dann wird die Zahl derer, die diese Arbeitsverhältnisse wollen, auf Null schrumpfen.
Aber 53,9 % der Befragten sagen ausdrücklich: „Ich möchte sozialversichert sein ...". Sie meinen damit Krankenversicherung, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung. 21,5 % sagen: „Ich möchte mehr Stunden arbeiten und damit einen höheren Lohn bekommen. " So also sieht die Realität aus. Wenn man denkt, es handele sich nur um kurzfristige Arbeitsverhältnisse, so muß ich sagen: 57,2 % der Frauen - also weit über die Hälfte - arbeiten bereits vier Jahre und länger an diesem Arbeitsplatz. Das heißt: Es handelt sich nicht um vorübergehende geringfügige Beschäftigungen, sondern um eine langfristige Erwerbsarbeit dieser Personen.
Nur 25,7 % sagen, daß sie nur ein kleines Taschengeld verdienen. Die übrigen 74,3 % sagen, daß ihr Einkommen zu einem Teil zum Unterhalt der Familie beitrage oder sogar den Hauptverdienst darstelle, der den Lebensunterhalt sichere. Das ist die Realität! Dann erstaunt es auch nicht, daß 12,9 % der Befragten in mehreren Beschäftigungsverhältnissen stehen. Das Splitten in Beschäftigungsverhältnisse, bei denen der Verdienst unter der Grenze von 450 DM liegt, ist eine ganz schlimme Sache.
So groß ist das Interesse der Arbeitnehmerinnen an der Aufrechterhaltung dieses Zustandes also nicht. Wenn man sich diese Befragung vor Augen führt, dann fragt man sich: Was eigentlich sind die tatsächlichen Interessen, und wo sind die Hindernisse, die verhindern, daß es gelingt, diese Arbeitsverhältnisse wegzubekommen? Wer profitiert davon? Es sind die
Arbeitgeber, die die Sozialversicherungsbeiträge sparen, die sie sonst bezahlen müßten.
({4})
Das sind hauptsächlich das Gebäudereiniger-Handwerk, der Gartenbau, Bereiche des Einzelhandels und des Gaststätten- und Hotelgewerbes sowie private Haushalte. Dazu kommen religiöse karitative und gemeinnützige Einrichtungen. Aber auch die Bundesunternehmen wie Post und Bahn profitieren davon.
({5})
Mir liegen die Zahlen vor, daß 1984 bei der Post 4 120 und bei der Bahn 1 344 Menschen - überwiegend Frauen - geringfügig beschäftigt waren. Dabei geht es nicht um Mißbrauch oder illegale Praktiken, es geht um einen legalen Skandal.
Wie man mit den wenigen Fällen verfahren müßte, beispielsweise mit Schülerinnen oder Rentnerinnen, die wirklich nur vorübergehend dazuverdienen, dafür haben wir in unserem Gesetzentwurf praktikable Vorschläge gemacht. Es gibt aber auch vom DGB entsprechende Vorschläge. Das läßt sich also lösen.
Die Zeit ist reif, diese Arbeitsverhältnisse endlich zu beseitigen, die Minister Blüm als „nichts anderes als eine neue Ausbeutung" bezeichnet hat. Ich füge hinzu: Wer das weiß und nicht handelt, ist ein Heuchler. Lassen Sie uns daher das Vernünftige tun und die Petitionen zur Berücksichtigung an den Bundestag überweisen!
Schönen Dank.
({6})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht alle Petitionen, die den Bundestag erreichen, betreffen persönliche Probleme des Petenten, vielmehr gibt es, wie in diesem Fall eben auch Petitionen, in denen sich ein Petent oder eine Petentin Gedanken über übergreifende Probleme macht. So einen Fall haben wir hier, weil der Petent die Einführung einer Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung auch für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse fordert.
Dann muß man einen Augenblick darüber nachdenken, was geringfügige Beschäftigungsverhältnisse sind, die ja sozialversicherungsfrei sind. Ich lasse bewußt die geringfügigen Nebentätigkeiten weg, weil die, die sie ausüben, in der Regel in einem sozialversicherungspflichtigen Hauptarbeitsverhältnis oder als Beamte in einem entsprechenden Arbeitsverhältnis stehen. Es handelt sich um die berühmten 15 Stunden wöchentlich und - jedenfalls zur Zeit - 450 DM monatlich.
Gegen den von dem Petenten beklagten Mißbrauch, den auch wir beklagen, sind schon einige Schritte unternommen worden. Erstens. Die Arbeitgeber müssen z. B. bereits seit Januar 1989 Lohnunterlagen für alle Beschäftigten, also auch für die geringfügig Beschäftigten, führen. Das verbessert die Kontrolle.
Zweitens. Die Einzugsstellen können über die Lohnbuchhaltung hinaus künftig auch die Finanzbuchhaltung prüfen. Das hilft, festzustellen, ob Arbeitsverhältnisse verschleiert werden sollen. Wenn ein solcher Verdacht besteht, kann dies also leichter aufgedeckt werden.
Drittens - das ist auch sehr wichtig - muß bekanntgemacht werden, ob vielleicht mehr als ein solches geringfügiges Beschäftigungsverhältnis besteht, was dann zusammengenommen zum höheren Entgelt führt. Dies führt ja dann zur Sozialversicherungspflicht. Es ist ja auch durchaus mit Bußgeldern bewehrt, wenn man auf diese Weise das eigentlich gedachte Instrument unterläuft.
Auch der Sozialversicherungsausweis, für den meine Fraktion die Initiative ergriffen hatte, und die Meldepflicht auch für geringfügig Beschäftigte werden nach unserer Auffassung dazu beitragen, illegale und mißbräuchliche Praktiken stärker zu entdecken und vor allen Dingen stärker abzustellen. Das wünschen wir auch.
({0})
- Sowohl dem Arbeitgeber wie den Arbeitnehmern, Frau Seuster.
Das ist ja das Problem. Sie haben alle die Untersuchung dieses Forschungsprojektes sozialversicherungsfreie Beschäftigung bekommen. Wenn man sich einmal die Motive ansieht, dann stellt man nämlich fest, daß man nicht pauschal bei allen geringfügig Beschäftigten - jetzt von den Arbeitnehmern her gesehen - die gleichen Motive oder die gleichen Interessen unterstellen kann. Man kann auch nicht pauschal unterstellen, daß jeder Arbeitgeber, der das Instrument der geringfügig Beschäftigten nutzt, daß mißbräuchlich tut. Ich weiß genau wie Sie, welche Mißbräuche es gibt. Dieses Instrument war ja dafür gedacht, bei kurzzeitig verstärkt anfallenden Arbeiten solche Arbeitsverhältnisse eingehen zu können. Jedermann kann sich das vorstellen. Ein Beispiel ist die Gastronomie. Ein Wirt, der einen kleinen Saal hat und fünfmal im Jahr eine Hochzeit ausrichtet, braucht zu diesen Zeiten mehr Personal. An solche Dinge war ja gedacht. Man könnte das noch weiter ausführen.
Dem Begehren des Petenten, jetzt für alle geringfügig Beschäftigten die Rentenversicherungspflicht einzuführen, um, wie er es begründet, nicht mehr selbst Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen zu züchten, kann man nicht folgen; denn man muß auch sehen, daß bei einem 450-DM-Arbeitsverhältnis im Falle der Sozialversicherungspflicht bestimmt keine Rente herauskommen würde, die den Betreffenden, wenn er keinen anderen Lebensunterhalt hat, aus der Sozialhilfe herausfallen ließe.
({1})
- Ob die mehr arbeiten wollen oder nicht, kann man nicht so pauschal sagen. Ich bin davon überzeugt, manche wollen gerne mehr arbeiten. Ich bin aber auch davon überzeugt, daß manche nicht mehr arbeiten wollen. Man kann ja einmal in der eben angeführten Untersuchung nachlesen, welche Gründe für sozialversicherungsfreie Beschäftigungen angegeben werden. „Ich finde sonst zur Zeit keine andere Arbeit" sagen 18 %. „Ich bin noch in Ausbildung" sagen 23 %. „Ich kann mir mit dem Geld Extraausgaben leisten" sagen 36 %. Da weiß man aber nicht genau, ob das die Extraausgaben sind, die sich der Schüler oder der Student bzw. die Schülerin oder die Studentin leistet, oder ob es sich um Hausfrauen handelt - in diesen Arbeitsverhältnissen sind ja fast 60 % Hausfrauen beschäftigt; sie sind also die größte Gruppe -, bei denen ja das Motiv „Extraausgaben" auch bedeuten könnte, daß sie auch einmal zum Friseur gehen können, was sie sich sonst, vom Haushaltsgeld nicht leisten könnten. Das ist also diffus. Es gibt aber auch die Fälle, daß man solche Tätigkeiten eher aus Gefälligkeit übernimmt, wenn Not am Mann ist, und daß sozialversicherungsfreie Tätigkeit eine Möglichkeit ist, den Kontakt mit dem Beruf nicht zu verlieren usw.
Das sind also sehr unterschiedliche Motive. Deshalb glaube ich nicht, daß das nur der Dispositionsfreiheit des Arbeitgebers im Personalbereich dient, sondern daß es durchaus jedenfalls einem Teil derer dient, die solche Beschäftigungsverhältnisse eingehen.
({2})
Ich meine, wir sollten die Maßnahmen, die wir jetzt gegen den Mißbrauch eingeleitet haben, und deren Wirkungen abwarten, um zu sehen, inwieweit das greift, und nicht sozusagen sofort das Kind mit dem Bade ausschütten. Denn es zeigt sich - das ist einfach erkennbar -, daß jetzt mit den Maßnahmen, die wir eingeleitet haben, grobem Mißbrauch jedenfalls besser nachgegangen werden kann als bisher.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Peter?
Ich gestatte, Herr Präsident!
Frau Kollegin Limbach, gewinnen Sie bei Ihrer Argumentation nicht selbst den Eindruck, daß das Votum, die Petition abzuschließen, im Widerspruch zu Ihrer Argumentation steht und daß auf Grund Ihrer Argumentation möglicherweise der Beschluß „Material" sehr viel angemessener wäre?
Nein. Ich halte mich da an die Begründung, die auch der Petitionsausschuß gefunden hat, der nämlich sagt, daß zur Zeit weitere gesetzliche Veränderungen nicht in Aussicht gestellt werden können und daß deshalb die Petition abzuschließen ist. Das sagt nichts darüber aus, daß man nicht in einigen Jahren, wenn man die Ergebnisse der jetzt eingeleiteten Maßnahmen überprüfen kann, die Frage insgesamt noch einmal überprüfen kann. Ich sage „kann". In der Politik ist es ja immer möglich und sogar nötig, neue Erkenntnisse und neue Erfahrungen für die Entscheidungen zu nutzen.
({0})
Nach dem heutigen Erkenntnisstand können wir aber so entscheiden.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie noch eine Zusatzfrage?
Bitte!
Wie verträgt sich die Argumentation des Petitionsausschußbüros mit der Vereinbarung im Rentenkompromiß, daß Handlungsbedarf besteht?
Ich gehöre nicht zu denjenigen, die diesen Rentenkompromiß ausgehandelt haben. Deshalb bitte ich um Nachsicht dafür, wenn ich vielleicht eine Nuance nicht ganz mitbekommen habe. Für mich verträgt es sich deshalb, weil der Handlungsbedarf beispielsweise dadurch erfüllt worden ist, daß diese Maßnahmen zur Abstellung des Mißbrauchs getroffen worden sind. Ob es weiteren Handlungsbedarf gibt, wird man dann sehen, wenn man die Wirkungen dieser Maßnahmen, die wir jetzt beschlossen haben und durchführen werden, erkennen kann. Weil die Gesamtbewertung der Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist, ist es vernünftig, die Wirkung der Maßnahmen abzuwarten. Deshalb ist es auch vernünftig, daß ich für meine Fraktion empfehle, der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zu folgen und das Petitionsverfahren abzuschließen.
({0})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Nickels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als kleinste Fraktion haben wir auch nur die wenigste Redezeit. Ich habe exakt zwei Minuten Redezeit für dieses sehr wichtige Thema. Es ist mir ein ganz wichtiges Thema. Ich bin Ihnen, Frau Ganseforth, sehr dankbar, daß Sie diese Zahlen der KAB vorgelegt haben. Ich denke, es ist erstens ein Problem von Frauen. Zweitens ist die Frage nach den Instrumenten gestellt worden.
Tatsache ist, daß im Rahmen des Beschäftigungsförderungsgesetzes und in dem von seiten der Koalition geplanten Arbeitszeitbereich die Entwicklung noch verschlechtert und verschlimmert wird. Das straft eigentlich alles Lügen, was hier an positiven Ansätzen in die Debatte eingebracht worden ist. Darum muß die Forderung ganz klar sein: Abschaffung der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse. Die Petition bietet einen Denkanstoß. Sie muß zur Berücksichtigung überwiesen werden. Die SPD hat hier einiges eingebracht. Wir bringen demnächst auch einen Gesetzentwurf ein.
Ich hoffe sehr, daß hier vernünftige Beratungen durchgeführt werden und daß das, was draußen in der Gesellschaft breit diskutiert wird, z. B. in der katholischen Arbeitnehmerbewegung, auch in die Beratung einfließt - das sind Menschen, die vor Ort auch Erfahrungen gemacht haben - und wir hier parlamentarische und außerparlamentarische Mehrheiten bekommen, um diese Ausbeutung - vor allem von Frauen - abzuschaffen.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Gestatten Sie vorab ein Wort zu Frau Nickels. Es ist keine Form der Ausbeutung, sondern auch diese Arbeitsverhältnisse werden nach Tarifverträgen oder vergleichbaren Regelungen
({0})
vergütet. Die Regelung besagt lediglich, daß diese Arbeitsverhältnisse der geringfügig Beschäftigten - bis 450 DM - eben nicht der normalen Einkommensteuer bzw. Lohnsteuer unterliegen, sondern daß hier die Lohnsteuer pauschaliert werden kann und daß Sozialversicherungsbeiträge nicht zu zahlen sind. Diese sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen kommen in großem Umfang Frauen, Jugendlichen, Rentnern und einkommensschwachen Teilen der Bevölkerung zugute.
({1})
Das „zugute" formuliere ich bewußt, weil diese Arbeitnehmer diese Regelung auch haben wollen.
({2})
- Natürlich wollen sie diese Regelung haben, denn sonst wären sie ja durchaus in der Lage, Arbeitsverhältnisse auf dem sonstigen Arbeitsmarkt einzugehen.
Sicherlich ist diese Regelung auch ein Ausfluß unserer hohen Steuerbelastung und der hohen Lohnnebenkosten. Große Bereiche unserer Wirtschaft sind auf geringfügig Beschäftigte angewiesen; beispielsweise Zeitungsvertrieb, das Reinigungsgewerbe bei Aushilfssituationen und auch der Gastronomiebereich.
Ich will auch nicht verkennen, daß es in der Vergangenheit - häufig durch die Eingehung mehrerer Arbeitsverhältnisse - auf seiten des Arbeitnehmers Mißbräuche gegeben hat. Die Bundesregierung hat deswegen eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, um diese Mißbrauchstatbestände abzubauen. Die wirksamsten Maßnahmen dürften die Schaffung eines Sozialversicherungsausweises und die Einführung einer Meldepflicht auch für geringfügig Beschäftigte sein. Dort, wo Mitarbeiter nur ein Arbeitsverhältnis als geringfügige Beschäftigung wahrnehmen, soll dies auch nach wie vor möglich sein. Dies kommt den betroffenen Bevölkerungskreisen auch entgegen.
Sollten dennoch einige Mißbrauchstatbestände auftauchen, müssen wir hierüber erneut nachdenken und gegebenenfalls gesetzliche Tatbestände vorsehen. Zur Zeit sehe ich keinen Handlungsbedarf. Ich warne auch davor, immer nur nach Gesetzen zu rufen, nur
weil es einige wenige schwarze Schafe gibt, die Mißbrauch treiben.
({3})
- Das ist kein legaler Skandal. Das habe ich ausgeführt. Sie sind anderer Auffassung als ich. Ich teile Ihre Auffassung nicht. Deswegen sehe ich auch keinen gesetzlichen Handlungsbedarf. Falls Mißbrauchstatbestände auftauchen, werden wir darüber erneut beraten.
Vielen Dank.
({4})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 a, und ich nehme Tagesordnungspunkt 11 b dazu.
Zu Tagesordnungspunkt 11 a stimmen wir zunächst über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/5227 ab. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Antrag ist mit Mehrheit abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/5151 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung des Ausschusses angenommen.
Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 11 b. Wir stimmen zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5251 ab. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist dieser Antrag abgelehnt.
Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/5152 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit Mehrheit ist diese Beschlußempfehlung angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Weiss ({0}), Frau Rock, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Alpentransitverkehr und seine Auswirkungen auf die Umwelt
- Drucksachen 11/4099, 11/4949 Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion DIE GRÜNEN und der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5243 und 11/5256 vor. Da die Absicht besteht, diese Anträge dem Ausschuß zu überweisen, vermute ich, daß wir die vorgesehene Redezeit gar nicht voll in Anspruch nehmen.
({1})
Für jede Fraktion sind zehn Minuten vorgesehen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Weiss.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Alpentransitverkehr, insbesondere der Schwerlastverkehr, hat in den letzten Wochen eine ganz besondere Aktualität durch den Belagerungszustand von Österreich gewonnen, den ein italienischer Großfuhrunternehmer mit temporärer Unterstützung durch bundesdeutsche Fuhrunternehmer vorübergehend herbeigeführt hat.
Der Anlaß war die Tatsache, daß sich in Österreich endlich etwas tut und daß nach Jahrzehnten von Nichtstun nunmehr nach dem erdrutschartigen Verlust der ÖVP von mehr als 18 % der Stimmen bei der Tiroler Landtagswahl im März dieses Jahres alle Parteien in Tirol aufgerüttelt sind und sich gezwungen sehen, zu handeln. Dementsprechend haben die Tiroler Landesregierung und die österreichische Bundesregierung einschneidende Maßnahmen, behutsam einschneidende Maßnahmen, für den Straßengüterverkehr durch ihr Land verhängt.
({0})
Diese Einschränkungen - aus der Sicht der Tiroler Bevölkerung sind sie, meine ich, längst überfällig und längst noch nicht ausreichend - haben heftige Reaktionen auf der bundesdeutschen Seite ausgelöst. Der bayerische Ministerpräsident und der Bundesverkehrsminister haben öffentlich sogar mit Wirtschaftssanktionen gegenüber Österreich gedroht, letztendlich mit Wirtschaftssanktionen lediglich zur Durchsetzung der Interessen des bundesdeutschen Speditionsgewerbes.
({1})
Das ist verbale Verletzung der Souveränität unseres Nachbarlandes Österreich.
({2})
Der Vorgang ist gravierend, wenn man bedenkt, daß die Bundesregierung über die vom Transitverkehr ausgehenden Umweltbelastungen in den Alpenländern Österreich und Schweiz denkbar schlecht informiert ist; denn bei fast allen Fragen in der Großen Anfrage, die sich auf die Umweltbelastungen in der Schweiz und in Österreich beziehen, räumt die Bundesregierung ein, daß ihr dazu keine Informationen vorliegen. Der Bundesregierung ist über die Schadstoffkonzentrationen in den Alpentälern oder über die Bodenbelastungen mit Schwermetallen entlang der Transitachsen also angeblich nichts bekannt. Nicht einmal die Ergebnisse der vorhandenen Lärmmessungen entlang der Transitachsen sind der Bundesregierung angeblich bekannt, wie sie explizit in der Antwort auf die Frage 2.2.3 der Großen Anfrage einräumt. Der Bundesverkehrsminister hat es offensichtlich nicht einmal für nötig befunden, sich über die Umweltauswirkungen des Alpentransitverkehrs angemessen zu informieren, bevor er mit seinen Pöbeleien gegenüber Österreich begonnen hat.
Weiss ({3})
Da die Informationen über die Umweltbelastungen in Österreich und in der Schweiz öffentlich zugänglich sind und die Bundesregierung trotzdem sie nicht zu kennen vorgibt, müssen wir aus den Antworten der Bundesregierung eigentlich schließen, daß es nicht bloß um ein „Nichtwissen", sondern um ein vorsätzliches „Nicht-wissen-Wollen" , um Ignoranz gegenüber den Umweltproblemen in den Alpenländern handelt.
({4})
Der Bundesregierung, dem Bundesverkehrsminister ist es offensichtlich egal, daß im Wipptal entlang der Transitroute die Menschen mit Lärmbelastungen von mehr als 70 dB nachts schlafen müssen, daß in landwirtschaftlichen Böden neben der Luegbrücke an der Brennerautobahn Bleiwerte von 1 200 ppm sowie deutlich erhöhte Cadmiumwerte nachgewiesen worden sind.
Wenn sich der Bundesverkehrsminister gegenüber den Nachbarländern schon unverschämt äußert, sollte er sich vorher wenigstens informieren und Alternativen anbieten; denn der Großteil der Güter, die durch Österreich und die Schweiz transportiert werden, stammt aus der Bundesrepublik oder ist für die Bundesrepublik bestimmt. Der Bundesrepublik als einem wesentlichen Verursacherland des Transitverkehrs kommt somit eine Schlüsselrolle bei der Lösung der vom Alpentransitverkehr herrührenden Probleme zu. Die bisherigen Ausführungen der Bundesregierung zu diesem Problem waren jedoch kontraproduktiv.
Dagegen hat in unseren Nachbarländern Schweiz und Österreich ein Umdenkungsprozeß bereits begonnen. Es wurden verkehrspolitische Konsequenzen aus der Lkw-Lawine gezogen und Einschränkungen beschlossen. Die Reaktionen auf diese Maßnahmen aus der Bundesrepublik und aus der Europäischen Gemeinschaft sind völlig unangemessen. Drohungen mit Gegenmaßnahmen, die nur einseitig österreichische oder Schweizer Lkw auf bundesdeutschen Straßen treffen sollen, sind der falsche Weg. Die Bundesregierung müßte vielmehr über Einschränkungen für alle Lkw auch in der Bundesrepublik nachdenken. Denn es ist doch so, daß die Bürgerinnen und Bürger in der Bundesrepublik kein Verständnis mehr dafür haben, daß die Bundesregierung den Schutz der Bundesbürgerinnen und Bundesbürger vor Lärm und Abgasen offensichtlich für weniger wichtig hält als die Regierungen von Österreich und der Schweiz den Schutz der dort lebenden Menschen.
({5})
Die Transitländer können die entstandenen Probleme nicht alleine lösen. Erst recht hilft es nicht, wenn man Druck auf sie ausübt; denn es nützt doch nur etwas, wenn eine Lösung im Konsens erreicht wird. Aber davon bewegt sich die Bundesregierung immer weiter weg.
({6})
Es besteht eben nur verbale Einigkeit darüber, daß
Verkehr auf der Schiene Vorrang haben soll. Viele
reden zwar von Schiene, meinen aber in Wirklichkeit die Straße. Dazu gehört meiner Auffassung nach auch der Bundesverkehrsminister.
({7})
Denn der Generaltenor aller vorgeschlagenen Lösungen lautet ja immer: irgendwie Verlagerung des Verkehrs; aber es werden keine Konzepte angeboten.
Es läuft lediglich eine Diskussion über kommende Eisenbahnalpentunnel. Dafür mag Verschiedenes maßgebend sein. Einmal mag es die Faszination eines solchen technischen Großprojekts sein. Doch der wahre Grund dürfte darin liegen, daß man eben über Tunnel ganz bequem reden kann, daß sie frühestens in 20 Jahren kommen, daß man Verkehrsprobleme in die Zukunft verschieben kann, denn man braucht einfach heute nichts zu tun. Die angebliche Tunnelentscheidung, ein Tunnel, der in 20 Jahren kommt, soll die Lösung sein.
({8})
Dabei wissen Sie doch so gut wie ich, daß, wenn Sie allein das Wachstum nehmen, das für die nächsten 20 Jahre prognostiziert ist, der Tunnel in 20 Jahren nicht einmal in der Lage sein wird, die Belastung auf das heutige unerträgliche Niveau zurückzuführen, so daß er dann lediglich Kosmetik ist. Die Tunneldiskussion ist eine Ausrede dafür, daß heute nichts getan wird.
({9})
- Was heißt „Wir wollen ihn"? Wir wollen, daß heute etwas gemacht wird.
({10})
Alles Geschwätz und Gerede von dem Tunnel kann die Probleme einfach nicht lösen. Das ist eine Scheinlösung. Sie wird von allen möglichen Leuten verwendet, um sich damit zu profilieren,
({11})
aber sie trägt nichts dazu bei, das Problem zu lösen.
Es gibt bereits heute Möglichkeiten, die negativen Auswirkungen des ausufernden Straßengüter-Transitverkehrs zu verringern und Verkehr auf die Schiene zu verlagern. Die Probleme haben sich einfach so zugespitzt, daß die Zeit bis zu einer möglichen Festlegung eines neuen Tunnels zu lang erscheint, als daß man sie jetzt einfach ungenutzt verstreichen lassen könnte. Ohne neue Tunnel würde die vorhandene Schieneninfrastruktur in Österreich und in der Schweiz auch jetzt schon ausreichen, um den gesamten alpenquerenden Güterverkehr auf der Schiene abwickeln zu können. Sie brauchen bloß die Zahlen zu vergleichen: Die Kapazität der alpenquerenden Eisenbahnstrecken ist mit 28 Millionen Tonnen Gütern angegeben. Addieren Sie die Zahlen, die die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage angibt; dann kommen Sie heute auf 27,8 Millionen Tonnen Güter pro Jahr. Dennoch wird weit weniger mit der Eisenbahn transportiert. Das heißt, daß die Kapazitäten heute schon nicht ausgeschöpft sind.
Weiss ({12})
Wenn es Kapazitätsengpässe gibt, dann liegen sie nicht in den Alpentransitstrecken, sondern in den angrenzenden Eisenbahnnetzen, auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auch die Bundesregierung hat ein maßgebliches Stück Schuld daran, daß die notwendige Schaffung von Infrastruktur in der Bundesrepublik weiter verzögert wird und die Bundesbahnsanierung mittels einer Kommission weiter verschleppt wird, obwohl heute längst Handlungsbedarf besteht.
Außerdem müssen Sie sich überlegen: Selbst wenn Sie Tunnel fordern, kommt der Verkehr doch nicht von alleine in die Tunnel. Warum werden die Kapazitäten denn heute nicht genutzt? Da müssen wir wirklich andere Maßnahmen ergreifen. Dazu gehören auch Maßnahmen wie Verteuerung, wie Schwerverkehrsabgabe oder Verkehrsverbote und Gewichtsbeschränkungen. Das ist in der Bundesrepublik eigentlich längst überfällig.
Man sollte noch eines dazu sagen. Bei der Diskussion über die Verlagerung von Alpentransitverkehr von der Straße auf die Schiene ist das verkehrspolitische Blickfeld meistens auf das kurze Stück durch die Alpen eingeengt, während die Wirkungen auf die längeren Strecken vor und hinter den Alpen kaum ins öffentliche Bewußtsein rücken. Das darf nicht hingenommen werden. Wir müssen die einschränkenden Maßnahmen, die in unseren Nachbarländern herrschen, als Chance begreifen, als Chance der Eisenbahnen, als Chance, die verkehrspolitische Forderung „Verlagerung des Verkehrs von der Straße auf die Schiene" nicht nur als Schlagwort zu verwenden, sondern im alpenquerenden Verkehr vom Versandort bis zum Zielort Wirklichkeit werden zu lassen.
Im übrigen muß man sagen, daß es natürlich auch andere Möglichkeiten gibt. Wenn ich mir allein die Zahlen ansehe, die die Bundesregierung über den Seeverkehr genannt hat, so komme ich auf etwas merkwürdige Verhältnisse und frage mich, warum der Anteil des Seeverkehrs zwischen Benelux und Italien und zwischen Frankreich und Italien wesentlich höher ist als der zwischen der Bundesrepublik und Italien. Ich denke, hier gibt es auch Möglichkeiten der Verlagerung und Möglichkeiten der Abhilfe innerhalb weniger Monate oder Jahre. Diese sollten wir nutzen. Die Bundesregierung ist aufgefordert, dafür möglichst bald ein Konzept vorzulegen. Solange sie dieses Konzept nicht vorlegen kann, sollten verbale Unverschämtheiten gegenüber Österreich und der Schweiz gefälligst unterbleiben.
Danke.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oswald.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege Weiss, Ihre Vorwürfe an die Bundesregierung sind völlig unbegründet und müssen klar zurückgewiesen werden. Sie haben hier ein Horrorgemälde gemalt, das an der Wirklichkeit der Arbeits- und Wirtschaftswelt in unserem Land völlig vorbeigeht.
({0})
Sie und Ihre Freunde und Gesinnungsgenossen können sich doch nicht hierherstellen und entsprechende Baumaßnahmen fordern, aber selbst draußen im Lande umherziehen und überall gegen Baumaßnahmen ankämpfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Alpenraum stellt neben dem Wattenmeer das größte zusammenhängende noch weitgehend natürliche Ökosystem in Europa dar. Und für den Naturhaushalt
- lassen Sie mich auch dies grundsätzlich sagen - kommt ihm europaweit eine überragende Bedeutung zu. Er stellt ein System dar, das auf Veränderungen durch den Menschen hochsensibel reagiert. Schutz und Erhaltung des Alpenraumes mit seinen natürlichen ökologischen Strukturen und Besonderheiten sind über nationale Grenzen hinaus gemeinsame Aufgabe aller Alpenstaaten.
Unsere Fraktion begrüßt es, daß der Bundesumweltminister Dr. Töpfer seine Kollegen aus den sechs Alpenstaaten zu einer internationalen Alpenkonferenz vom 9. bis zum 11. Oktober nach Berchtesgaden eingeladen hat. Ziel dieser Konferenz ist es, die Zusammenarbeit der Alpenstaaten auf allen für die Umwelt bedeutenden Feldern zu verbessern.
({1})
Schon in den Vorgesprächen bestand Einigkeit darin, daß vor allem in den Bereichen Raumplanung, Bodenschutz, Wasserhaushalt, Naturschutz und Landschaftspflege, Tourismus, Verkehr und Energieversorgung die Zusammenarbeit im gesamten Alpenraum auf allen Ebenen intensiviert werden muß. Wir haben gestern im Verkehrsausschuß von den vorbereitenden Bemühungen der Bundesregierung Kenntnis genommen.
Meine Damen und Herren, in der Vergangenheit sind bedeutende Anstrengungen unternommen worden, um Schäden für die Alpen zu vermeiden oder in Grenzen zu halten. Mit Blick auf die zunehmende Bedrohung reichen die bisherigen Anstrengungen
- da sind wir uns einig - nicht aus.
Ökologische Belastungen der Alpen durch den Verkehr sind unbestreitbar. Unser Ziel muß es sein
- das steht im Mittelpunkt - , umweltfreundliche und zugleich wirtschaftlich vertretbare Lösungen zu finden. Wir müssen im Interesse der Volkswirtschaft, des ungehinderten Warenaustausches in der Europäischen Gemeinschaft und des Schutzes der Alpenregion bereit sein, hier wesentliche substantielle Beiträge zu leisten. Aber, Herr Kollege Weiss, wir können doch den Verkehr nicht verhindern. Wir müssen doch gerade im Interesse einer lebendigen Volkswirtschaft, die um Arbeitsplätze bemüht ist, dem Verkehr die
notwendigen Weichen stellen und die notwendigen Wege weisen.
({2})
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der alpenquerende Verkehr hat für unser Land und seine kochentwickelte und damit auch sensible Wirtschaft größte Bedeutung. Wir müssen auf seine reibungslose Abwicklung Wert legen. Die europäische Integration, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung führen zu einer noch stärkeren Verflechtung der Volkswirtschaften. Dies bedeutet einen weiteren Anstieg des internationalen Warenaustauschs mit entsprechenden Konsequenzen für die Güterverkehrsentwicklung.
An der Brenner-Strecke sind derzeit alle aktuellen Probleme zu beobachten, die auch für die übrigen alpenquerenden Verkehrswege in Österreich exemplarisch sind. Eng damit hängen auch die Behinderungen des Straßengüterverkehrs in der Schweiz zusammen. Sie verursachen den Umwegverkehr, der auf der Brenner-Strecke rund ein Drittel ausmacht. Die Schwierigkeiten, die daraus erwachsen, hängen deshalb unmittelbar davon ab, wie die Schweiz mit dem eigentlich auf sie entfallenden Verkehr umgeht.
({3})
Nach meiner Auffassung sollte auch im alpenquerenden Verkehr das Prinzip der kürzesten Wege verwirklicht werden.
({4})
- Aber eine realistische!
Im alpenquerenden Güterverkehr überwiegt in Österreich der Straßengüterverkehr mit 80 %, während in der Schweiz nur 15 % auf der Straße transportiert werden, was natürlich mit den Straßenverkehrsbeschränkungen der Schweiz zusammenhängt.
({5})
Drei Viertel des Straßengütertransitverkehrs in Österreich entfallen dabei auf den Brenner. Da das Verkehrswachstum in den letzten Jahrzehnten vor allem auf der Straße erfolgte, wird heute auf der Straße viermal soviel transportiert wie auf der Bahn. Dies muß sich ändern, meine sehr verehrten Damen und Herren!
({6})
Lassen Sie mich einige Grundpositionen formulieren:
Erstens. Leitziel muß sein, die vom Verkehr ausgehende Umweltbelastung so gering wie möglich zu halten. Dies hat im Alpentransit ein ganz besonderes Gewicht.
Zweitens. Auf der Inntal-und-Brenner-Route hat die Belastung durch den Straßengüterverkehr ein Ausmaß angenommen, das die Einleitung von Maßnahmen verlangt. Diese Maßnahmen müssen jedoch partnerschaftlich erfolgen, d. h. im abgestimmten vereinbarten Zusammenwirken der am alpenquerenden Verkehr beteiligten und von ihm betroffenen Staaten.
({7})
Auch die Bundesrepublik ist ein Transitland. Das dürfen wir bei all diesen Diskussionen nicht vergessen. Unsere Bürger sind ebenfalls durch die verkehrsbedingten Lärm- und Schadstoffemissionen betroffen. So passieren z. B. auf der Inntal-Autobahn durchschnittlich 24 000 Fahrzeuge täglich den Grenzübergang Kiefersfelden. Durch meinen Wahlkreis geht die Autobahn Augsburg-München, die täglich von rund 50 000 Fahrzeugen befahren wird. Auch dies dürfen wir nicht vergessen.
Drittens. Die Maßnahmen sollen die technisch-wirtschaftlichen Möglichkeiten zur umweltfreundlichen Gestaltung des Verkehrs voll ausschöpfen. Sie dürfen jedoch nicht zur Behinderung oder erheblichen Beeinträchtigung des alpenquerenden Güterverkehrs führen. Darin unterscheiden wir uns natürlich von den vorliegenden Anträgen ganz entscheidend.
({8})
Die Bundesverbände des deutschen Güterkraftverkehrs, auf die Sie ebenfalls hören sollten, bewerten das von Österreich beschlossene Nachtfahrverbot für Lastkraftfahrzeuge so, daß sie damit rechnen, daß sich unter Berücksichtigung des derzeitigen Verkehrsflusses auf den Zufahrten zu österreichischen Straßen, auf dem Autobahnnetz in unserem Lande in Richtung Süden und in Italien in Richtung Norden, dauerhafte Fahrzeugschlangen zwischen 2 und 22 km Länge bilden werden. Das hat doch mit Umweltschutz wahrlich nichts zu tun!
({9})
Angesichts der Dringlichkeit müssen nun alle lang-, mittel- und kurzfristigen Maßnahmen möglichst rasch und parallel zueinander angepaßt werden. Ich glaube, wir sind uns alle einig, daß alle politischen Weichen zum Bau des Brenner-Basistunnels schnellstmöglich gestellt werden müssen. Pressemeldungen zufolge hat ja der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Bundesbahn optimistisch davon gesprochen: „Spätestens in acht Jahren ist der Basistunnel fertig". Voraussetzung sind natürlich unverzügliche politische Entscheidungen. Daß wir auch die Zufahrtsstrecken im Auge haben müssen, versteht sich von selbst.
Auf der Brenner-Konferenz Anfang dieser Woche wurde eine Reihe von Vorschlägen zur Steigerung des Angebots der Bahnen und zur Verbesserung der Attraktivität des Schienenverkehrs unterbreitet. Ich kann nur einige nennen: Mittelfristig - wobei spätestens das Jahr 1993 gemeint ist - wird die Ausweitung der Tunnelprofile angestrebt, um zwischen München und Verona mindestens 40 Züge mehr als gegenwärtig einsetzen und im Huckepackverkehr mit einer Eckhöhe von 4 m befördern zu können. Daneben soll es natürlich den Ausbau der zum schnelleren Ver- und Entladen im kombinierten Verkehr erforderlichen Umschlageinrichtungen geben.
An kurzfristigen Maßnahmen werden 14 zusätzliche Züge im umgeleiteten kombinierten Verkehr und zwölf weitere Züge der rollenden Landstraße vorgeschlagen, was 520 Lkw-Lade-Einheiten zu je 26 t entspricht. Nächste Woche werden wir im Verkehrsausschuß im Rahmen der Haushaltsberatungen auch über diese Fragen sprechen, da ja im Haushalt 18 Millionen DM für den alpenquerenden kombinierten Verkehr vorgesehen sind.
Wir müssen uns natürlich auch darüber im klaren sein, daß das gesamte Transportvolumen, das heute auf die Nachtzeit entfällt, durch diese beachtlichen Anstrengungen, von denen ich nur einige erwähnt habe, kurzfristig nicht aufgefangen werden kann. Solange aber ein hinreichendes Alternativangebot mit angemessenen Umstellungszeiten nicht existiert, ist etwas anderes letzten Endes für uns nicht akzeptabel. Ich sage deutlich: Das würde zu einer drastischen Behinderung des Wirtschaftsverkehrs, vor allem auch bei der täglichen Versorgung der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln, führen.
({10})
- Da hilft auch Schreien nichts. Man muß die Sache objektiv und ganz nüchtern sehen.
({11})
Das Nachtfahrverbot muß so gestaltet sein, daß es für die Unternehmen, soweit eine Verkehrsverlagerung nicht zu erreichen ist, die Möglichkeit eröffnet, nach einem bis 1993 reichenden Stufenplan auf lärmarme Lkw umzustellen. Ich setze darauf: Noch ist Zeit dazu, daß Lösungen gefunden werden.
Vielleicht ist noch eines in Richtung der Österreicher zu sagen, nämlich daß sie viermal so viele Transportleistungen auf unseren Straßen erbringen wie die deutschen Unternehmen in Österreich. Auch dies ist eine ganz interessante Tatsache, die es immer wieder zu bedenken gibt, Herr Weiss.
({12})
Lassen Sie mich schließen. Die Bundesregierung hat in der Antwort auf die Große Anfrage der Abgeordneten der Fraktion DIE GRÜNEN eine realistische Einschätzung der Verkehrssituation gegeben und verdeutlicht, daß sie in der Lage ist, im Zielkonflikt zwischen Ansprüchen an Mobilität einerseits und umweltgerechte Gestaltung des Verkehrs andererseits ausgewogene Lösungen zu verwirklichen.
({13})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Bamberg.
Herr Präsident! Verehrte Anwesende! Die ökonomische und ökologische Situation in den Alpen beschäftigt den Bundestag - Gott sei Dank - nicht zum erstenmal. Gestern habe ich im Verkehrsausschuß zu begründen versucht, warum wegen eines ausufernden und nicht mehr tragbaren Straßentransits durch und über die Alpen eine Konvention zum Schutz der Alpen, unseres Lebensraums, unbedingt erforderlich ist. Gründe sind der unsachgemäße Gebrauch der Natur durch die Übererschließung, der Fremdenverkehr um jeden Preis und die Gier nach Teilhabe am großen Urlaubskuchen, sprich: Geld. Das geht nach dem Motto - ich habe versprochen, ich sage es noch einmal - : weil's halt da sind, die Berg'. Das hat ein ganz berühmter Bergsteiger gesagt.
Ich habe - das muß ich sagen - Verständnis dafür, daß die Orte in den Bergen teilhaben wollen. Ich bin in einem kleinen Bergort aufgewachsen. Ich weiß, wie es früher ausgeschaut hat. Ich werde oft gefragt: Sag mal, wie schön war es denn damals? Ich gebe darauf immer die gleiche Antwort: So schön es damals war, so arm waren wir auch. - Man muß auch diese Situation verstehen.
({0})
Das Thema ist viel zu komplex, als daß man es bei diesem Hinweis oder bei der Aufzählung der bekannten Zahlen bewenden lassen könnte. Nehmen wir also ein paar Beispiele aus einem ganz kleinen Teil der Alpen und stellen ihnen einen Satz aus der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage gegenüber. Der Alpenraum sei ein Ökosystem, schreibt die Bundesregierung, das auf Veränderungen durch den Menschen hochsensibel reagiere, und bedürfe deshalb des Schutzes der Menschen.
({1})
Stellen wir dem jetzt ein normales Wochenende gegenüber, z. B. den letzten Samstag: 281 Autos rasen auf bayerischen Autobahnen ineinander, 26 Schwer-, 78 Leichtverletzte kommen in die Krankenhäuser.
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- Ja, gut, darüber können wir uns unterhalten. - Stellen wir dieser Aussage des weiteren einen normalen Werktag gegenüber. Nehmen wir den heutigen Tag: 6 000 Lkw donnern über die Inntal-Autobahn. Das sind 1,2 Millionen Lkw im Jahr, eine Kolonne von Lissabon quer durch Europa bis Wladiwostok. - Aber die Alpen sind doch, sogar nach Erkenntnis der Bundesregierung, ein hochsensibles Ökosystem!
Gehen wir noch einen Schritt weiter auf der InntalAutobahn und betrachten die Schadstoffmengen nur in Tirol und im Rosenheimer Bereich auf einer Strecke von 50 km: 800 Tonnen Kohlenmonoxid, 190 Tonnen Stickoxid, 130 Tonnen Schwefeldioxid, Blei und Quecksilber bleiben zurück. Eine unbezweifelbare Prognose besagt: Wenn die Verkehrspolitik nicht geändert, umgestaltet wird, dann verdoppeln sich all diese Horrorzahlen bis zum Jahr 2000.
Was geschieht mit dem auf Veränderung durch den Menschen so hochsensibel reagierenden Alpenraum überhaupt? Was tun wir der Natur an? Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wenn die Anwohner - 100 000 wurden in der Gegend beobachtet - zu 67 % lärmgeschädigt sind, zu 38 % Schlafstörungen haben, dann registrieren wir das schon kaum noch.
({3})
Was ist nun eigentlich bei der Bundesregierung geschehen, damit sie ihren eigenen Feststellungen Nachdruck verleiht? Ich muß leider sagen, es ist nichts geschehen - außer den üblichen Politikerversprechen, die niemand mehr hören kann, die in einer Politikersprache gegeben werden, in der uns niemand mehr versteht und die uns insgesamt nicht glaubwürdiger macht. Es geht nicht darum, jeden Tag neue Ideen zu gebären, sondern darum, daß das für richtig Erkannte ein für allemal durchgezogen wird.
Wenn ich Vorwürfe erhebe, dann will ich diese auch begründen. Die Bundesregierung hat zugelassen, daß durch die sogenannten Leitlinien für die Bahn z. B. 30 % des Personals abgebaut werden. Sie hat damit meines Erachtens alle zukunftsweisenden Ideen, die man bei einem so hochkarätigen und hochbezahlten Management vermuten dürfte, gar nicht zustande kommen lassen, oder im Keime erstickt.
({4})
Ergebnis ist die Resignation der Eisenbahner. Ich weiß, wovon ich spreche. Selbst diejenigen aus dem Mittelmanagement, die Referenten und Dezernenten bei den Direktionen, die ich als Menschen kenne, welche „ihre Bahn" mit Klauen und Zähnen verteidigt haben, haben völlig resigniert, weil sie aus allgemeiner Personalnot, aber auch aus Mangel an Lok- und Wagenwärtern die - wenn auch nur geringfügig, aber immerhin - steigende Nachfrage nicht bewältigen können.
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Wirklichkeit zwischen Werbung und dem, was geschieht; ich stelle es nur in den Raum.
Machen wir die Verantwortlichen auch verantwortlich dafür - ich will es jetzt von dieser Stelle aus tun -, daß die Bahn - ich habe Beweise dafür - Frachtgut für ganze Güterzüge ablehnen, bestellte Sonderzüge im Personenverkehr ausfallen lassen muß, weil sie nicht in der Lage ist, das zu bewältigen, obwohl nach öffentlicher Aussage die Gleiskapazität über den Brenner z. B. noch 42 % mehr hergäbe.
Ich habe mir lange überlegt, ob ich das in der Öffentlichkeit sagen soll, aber ich glaube, daß man es sagen muß: Weil Schrankenwärter fehlen, müssen Züge offene Schranken mit Befehl - wie es in der Fachsprache heißt - befahren. Fast ein Skandal. Wie reagiert darauf das hochsensible Ökosystem Alpen, wenn es denn könnte? Die Verantwortlichen haben nach meiner Meinung auch versagt, weil sie z. B. in der Arge Alp, diesem hochgepriesenen Instrument, seit 17 Jahren reden und reden und reden, aber nicht handeln können oder wollen,
({6})
bei der Konferenz letzte Woche zum Transitverkehr nicht einmal ein gemeinsames Abschlußkommuniqué fertiggebracht haben. Dafür haben andere - das wurde bereits gesagt - mit einem Nachtfahrverbot reagiert. Machen wir uns nichts vor: Das Nachtfahrverbot bleibt. Mache sich keiner nur die Spur einer Illusion oder glaube keiner, mit der Drohung mit Gegenmaßnahmen nach dem Motto „Das lassen wir uns
nicht gefallen" könnte man etwas erreichen. Das ist nicht der Fall. Wir sind nur vom „Die werden sich schon nicht trauen" - bayerische Staatsregierung - bis „nicht gefallen lassen" gekommen und weiter nicht.
Das Nachtfahrverbot haben wir verschuldet, die Bundesregierung. Ich sage bewußt: wir alle möglicherweise. Das Nachtfahrverbot hat der Wähler in Tirol, nicht die Politik erreicht. Wenn der Landeshauptmann von Tirol Alois Partl sagt, wir können unsere Bevölkerung nicht verraten, dann drückt er damit nur aus, daß in Tirol keine Partei mehr gewählt wird, die am Nachtfahrverbot rüttelt. Die ÖVP hat deswegen ja drastische Einbrüche gehabt. Darum könnten die auch gar nicht, selbst wenn sie es wollten. Der Wähler ist doch der Souverän gewesen.
Ich weiß, daß gerade in meinem Landkreis unübersehbare Folgen auftreten können, vor allem auch im Grenzort Kiefersfelden; ich kenne die Situation dort aus eigener Anschauung. Ich habe für das Güterverkehrsgewerbe Verständnis. Aber ich habe auch - das möchte ich nicht verschweigen - große Sympathie und Verständnis für Österreich, für Tirol, das nicht mehr zuläßt, daß die geplagte Bevölkerung noch mehr von diesem Verkehrsinfarkt gepeinigt wird. Warum sollte ohne diese doch mutige und schwierige Entscheidung, die uns auch sehr betroffen gemacht hat, etwas geschehen, wenn 20 Jahre lang nichts geschehen ist? Es war doch die einzige Möglichkeit, uns zu etwas zu zwingen. Ich habe übrigens noch vor zwei Jahren von dieser Stelle aus gewarnt und diesen Schritt vorhergesagt, der sich von allen Seiten angebahnt hat.
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Wenn die Bundesregierung, also die Mehrheit der Opposition in unseren eingefahrenen Gleisen schon nicht Recht geben kann, so meine ich doch fragen zu dürfen, ob wir nicht endlich diese eingefahrenen Gleise verlassen müßten. Der Bürger versteht das nicht mehr.
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- Ich bin noch nicht so weit. Ich habe noch zwei Minuten. Vielleicht können wir uns nachher noch darüber unterhalten.
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Wenn das schon so viel Spaß auslöst, frage ich: Macht es Sie eigentlich nicht nachdenklich, daß konservative Politiker, der Alois Partl in Tirol, der Adolf Ogi in der Schweiz - den einen kenne ich ein bißchen, den anderen kenne ich sehr gut -, durch mutige Entscheidungen unter der Präambel „Dem Menschen Vorrang vor dem Verkehr" eine Politik eingeleitet haben, die die einzig richtige ist? Ich könnte Ihnen Zigtausende von Unterschriften von Menschen aus dem bayerischen Inntal vorlegen, die ein radikales Umschalten begrüßen würden. Das sind Menschen, die mir nicht nahestehen, die sicherlich andere
wählen als uns, die sicherlich der CSU näher stehen. Zigtausende!
({10})
- Das ist meines Erachtens schon die Frage.
Die Auswirkungen des Alpentransits auf die Umwelt, auf unseren Lebensraum dulden keinen Zeitaufschub beim Handeln mehr. Jetzt soll das Machbare gemacht werden. Soll der Bahn kurzfristig finanziell in den Hintern getreten werden, wenn es möglich ist, um die freien Gleiskapazitäten aufzufüllen. Das muß möglich sein. Wenn Lok und Wagen fehlen, sollen sie die von irgendwo leihen. Herr Staatssekretär, das muß die Politik möglicherweise mit einleiten. Sie muß längerfristig im Sinne unseres Entschließungsantrags handeln und in der eigenen Logik bleiben: Schutz und Erhaltung des Alpenraumes mit seinem hochsensiblen Ökosystem, damit Reden und Handeln eins wird.
Im übrigen glaube ich persönlich, daß nach allen Prognosen wir alle miteinander an Verkehrsgeboten für die Schiene, möglicherweise an Verkehrsverboten, an Lenkungsmaßnahmen - an sie ist in der Großen Koalition unter Georg Leber schon einmal gedacht worden, aber letztlich sind sie nicht zustande gekommen - auf keinen Fall mehr vorbeikommen werden.
Herzlichen Dank.
({11})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gries.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Lyrik meiner schriftlichen Aufzeichnungen könnte mich jetzt veranlassen, über die Schönheit, über die Einzigartigkeit, aber auch
- im Ernst - über die ökologische Bedeutung des Alpengebiets zu reden; wir wissen das alle. Bisher hat das auch keiner in Zweifel gezogen. Deshalb will ich darauf verzichten.
Wir sind uns im Hause Gott sei Dank einig, daß es darum geht, eines der größten natürlichen Gebiete in Europa zu erhalten. Wir sind uns auch darüber einig
- kein Mensch bestreitet das; Michael Weiss, auch die Regierung in ihrer Antwort auf die Große Anfrage nicht - , in welchem Maß dieses Gebiet belastet ist, und zwar ganz eindeutig durch uns, durch die Menschen, die dieses Gebiet nutzen und dort leben.
Daß wir - und das ist Gegenstand unserer Diskussion - gerade auf Grund des Personenverkehrs wie des Güterverkehrs die großen Belastungen haben, ist auch unbestreitbar. Ich will die Zahlen gar nicht wiederholen, die geradezu unglaublichen Zuwachsraten, die wir in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten, ob das Tonnagen oder Personen und Pkws sind. Das, was sich nach allen Prognosen - über die man immer streiten kann - unbestreitbar vollziehen wird, ist die erhebliche Zunahme des Personen- und des Güterverkehrs. Es ist auch unbestreitbar, Michael Weiss
- selbst wenn man das nicht quantifizieren kann und die Regierung mitunter sagt, darüber liegen uns keine Daten vor - , daß das Ökosystem der Alpen in erheblichem Maße - so wie andere Stellen der Bundesrepublik oder dieser Welt überhaupt - belastet ist.
Es gibt, glaube ich, insofern Übereinstimmung, als dieses Gebiet belastet ist, als dieses Gebiet einen besonderen Schutz verdient und wir alle gemeinsam - alle gemeinsam, sage ich; nicht nur in diesem Haus, sondern alle, die Alpenländer, ganz Europa - nach Lösungen suchen müssen, um diesen zunehmenden Gefährdungen entgegenzutreten. Das ist klar.
Unterschiedlich sind die Wege, unterschiedlich sind die Methoden und Maßnahmen, die im einzelnen vorgeschlagen werden. Hier gibt es ganz klare Gegensätze. Man sollte nicht darum herumreden. Die Liberalen sind überzeugte Europäer, DIE GRÜNEN sind das nicht.
({0})
Ihr wollt eben Europa nicht. Das haben wir ja aus dem Europawahlkampf noch im Ohr. Wir wollen den gemeinsamen europäischen Markt. Gemeinsamer europäischer Binnenmarkt bedeutet aber auch den ungehinderten, freien Transport, die Beweglichkeit von Gütern, Menschen und Dienstleistungen. Dann kann ich z. B. den Italienern, die am meisten betroffen sind, nicht etwa sagen: Bleibt ihr - aus unserer Sicht - mal hinter den Alpen. Verdient, trinkt, eßt, produziert, was ihr wollt, aber ihr habt bei uns nichts verloren. Das heißt: Der freie Warenverkehr, der freie Menschenverkehr muß natürlich möglich gemacht werden. Man muß dann sehen, wie man das mit einem ökologisch vertretbaren System vereinbaren kann.
Es ist auch völlig unrealistisch, wenn DIE GRÜNEN in ihren Fragen implizit, davon ausgehen, man könne den zunehmenden Verkehr in irgendeiner Weise eingrenzen oder auch nur stabilisieren. Auch das ist nun wahrlich so wirklichkeitsfremd, daß man sich nicht zu lange damit aufzuhalten braucht.
Ich halte es auch für völlig falsch - ich sage das einmal in Richtung Sozialdemokraten, weil das manchmal anklingt -, auf der einen Seite für Arbeitszeitverkürzung, d. h. für die Verlängerung der Freizeit zu plädieren und auf der anderen Seite zu verhindern, daß sich die Menschen - wegen der Zunahme der Freizeit - z. B. im Alpengebiet in ihrer Freizeit bewegen.
Ich rede jetzt gar nicht davon, daß Sie den vielen Menschen im Alpengebiet damit die Existenzgrundlage nähmen. Schorsch Bamberg hat das doch dargestellt. Wie war es denn früher, und wie ist es - ich meine das jetzt nur wirtschaftlich, nur ökonomisch - heute? Für viele Bergbauern, für viele Alpenländler ist es doch viel besser geworden. Wollen Sie denen die Existenz nehmen, bloß weil Schadstoffbelastungen jetzt etwas stärker geworden sind? Wollen Sie denen die Touristen nehmen?
({1})
Das kann doch im Ernst gar keiner wollen. Hier gibt es ideologische Positionen, mit denen man das Kind mit dem Bade ausschüttet.
Ich sage noch eines - das ist auch an die Sozialdemokraten gerichtet - : Wir sind uns in der Zielsetzung einig, aber in den Methoden mit Sicherheit nicht. Wenn ich nur das Wort Tempolimit schon wieder höre. Jetzt spreche ich einmal zu den Sozialdemokraten, nicht zu den GRÜNEN, weil es da schon langsam langweilig wird. Das Tempolimit macht auf den Alpentransitstraßen überhaupt nichts aus. Entweder ist die Geschwindigkeit schon geregelt oder die Fahrzeuge bewegen sich permanent im Stau. Was sollen da noch solche Sprüche über Tempolimit, die z. B. in der Entschließung stehen? Das sind Ladenhüter, die wirklich in die Kiste der Planwirtschaft gehören.
({2})
- Ich habe seit langem keine so eindeutig sozialistische - so müßte man fast sagen - Wirtschaftstheorie gehört und gelesen wie in diesem Entschließungsantrag.
Wenn ich allein schon das Wort Beförderungsgebote höre.
({3})
Da wird mir schon ganz komisch. Das ist der Zwang, den Sie anordnen wollen.
({4})
Dann ordnen Sie doch an, daß mindestens drei Leute im Pkw sitzen müssen, mindestens fünfzehn auf dem Lkw oder daß bestimmte Kistengrößen nur noch per Lkw transportiert werden dürfen, nicht mehr im Kofferraum eines Pkw. Beförderungsgebote sind wirklich das allerletzte, was eine Marktwirtschaft vertragen kann.
({5})
Das läuft auch nicht in den Alpen. Deshalb sage ich: Wir sind auch hier für einen offenen Markt, für europäische Lösungen.
({6})
Aber das Wichtige ist doch: Um die Ursachen zu bekämpfen, muß das abgasarme, das leise Auto her, und zwar flächendeckend. Das ist das einzige, was hilft. Wenn wir hier wirklich etwas tun wollen, müssen wir die Schadstoffe, die Geräuschbelästigung in diesem ganzen Bereich reduzieren. Damit helfen wir nämlich den Leuten im einzelnen, aber nicht - ich denke, ich lese nicht recht, lieber Klaus Daubertshäuser - mit dem Verbot von Helikopterflügen, gepaart mit dem Tempolimit.
({7})
Ich hätte mir überlegt, ob man das wirklich unterschreiben muß.
Auch das Stichwort Schwerlastabgabe kommt munter daher. Ich frage mich, was die Leute davon haben.
Das macht ein Auto nicht leiser, macht die Luft nicht sauberer.
({8})
Die Schwerlastabgabe kassiert der Staat. Das ist ein völliger Blödsinn. Tut mir leid. Das bringt überhaupt nichts.
({9})
Was wir brauchen, sind schnelle Maßnahmen, ist die Verbesserung der gegenwärtigen Situation. Hier sind wir uns wieder einig. Es darf im Grunde genommen kein zusätzlicher Verkehr auf die Straße kommen. Vielmehr müßte bestehender Verkehr von der Straße auf die Schiene. Das ist die wichtigste Maßnahme, die gemacht werden muß.
({10})
Das bedeutet nicht nur Tunnelbauten. Tunnelbauten sind eine ganz vernünftige Sache. Hier stimme ich den GRÜNEN zu. Die haben das in ihrem Entschließungsantrag sehr sauber herausgearbeitet. Trotzdem habe ich das Gefühl: Ihr zieht euch da schon wieder aus der Schlinge. Ich bin der Meinung, wir brauchen die Tunnelbauten, die Großbauprojekte. Aber wir können vorher anderes tun, nämlich die bestehenden Strecken verbessern. Hierdurch könnten wir einen großen Teil der Probleme lösen. Wir sollten in diese Technik investieren und politische Entscheidungen treffen, damit Tunnelbauten gesichert sind. Aber damit die Leute in der jetzigen Situation nicht vertröstet werden müssen,
({11})
müssen wir schon vorher alles tun, damit die Bundesbahn und andere Eisenbahnen tätig werden können.
({12})
Das gilt für viele Maßnahmen: Ausbau von Strekken, Ausbau von Terminals - auch da stimme ich den GRÜNEN zu. Es hat gar keinen Zweck, an der Grenze Riesenterminals zu bauen. Die Terminals sollen in Hamburg stehen.
({13})
Wenn etwas von Hamburg nach Rom muß, soll das schon in Hamburg auf die Schiene gehen und nicht auf die Straße.
({14})
- DIE GRÜNEN sind immer nur theoretisch für etwas. Wenn es darum geht, die Dinge handfest zu machen, sind sie immer dagegen. Deshalb kommt ja nie etwas dabei heraus.
Von der Konzeption her stimmen wir zu. Es muß umgeladen werden, und zwar frühzeitig und nicht erst an der Grenze, damit die Belastung auf der Straße schon bei uns im Inland beseitigt werden kann.
({15})
Ich muß jetzt mit meiner Redezeit etwas haushalten. Ich nenne das Stichwort Bahnkommission. Der Bahnsanierungsplan hat auch unter dem Gesichtspunkt des Transitverkehrs Vorrang.
({16})
Das ist ein europäisches Problem, das ist nicht nur ein EG-Problem. Ich habe den Eindruck, daß wir hier in der Vergangenheit nicht am besten abgeschnitten haben, daß z. B. die EG nicht in der richtigen Weise - ({17})
- Ich sage das kritisch zu uns.
({18})
Das betrifft die Bundesregierung in der gleichen Weise wie die EG. Warum denn eigentlich nicht?
Es ist nicht mit dem nötigen Ernst und Nachdruck verhandelt worden, vielleicht auch nicht mit der notwendigen Bereitschaft, sich finanziell und technisch zu beteiligen,
({19})
so daß wir hier noch nicht weiter sind. Vielleicht hat man gedacht: Wir sind die großen Motze, wir werden die kleinen Österreicher und die paar Schweizer schon noch in den Senkel stellen.
({20})
Das ist natürlich keine Politik. Aber sicherlich ist das über weite Strecken ein bißchen dilatorisch behandelt worden. Damit muß Schluß sein. Die EG muß jetzt ernsthaft verhandeln.
({21})
- Sie waren viele Jahre an der Regierung und haben es nicht gemacht. Sie hätten den Tunnel schon längst aufgraben können. Das haben Sie natürlich alles nicht gemacht. Also Schuldzuweisungen nutzen uns überhaupt nichts. Das möchte ich in dieser aktuellen Diskussion noch einmal sagen.
({22})
- Ich finde, Schuldzuweisungen sind durchaus unangebracht, wenn wir über das Verhalten von Österreich und der Schweiz reden. Ich halte das für einen mehr als unfreundlichen Akt.
Bei dem, was die Schweizer mit uns mit der 28Tonnen-Regelung gemacht haben, sind wir viel zu lange ruhig geblieben.
({23})
Nein, wir hätten damals reagieren müssen. Wir sind auch jetzt fast wieder ruhig bei dem, was die Österreicher mit dem Nachtfahrverbot mit uns machen.
({24})
- Nein, es ist falsch. - Schorsch Bamberg, ich verstehe das nur unter einem Gesichtspunkt, nämlich daß sie sagen: Mit diesen Kolossen von der EG bis zu den anderen, ist sonst nicht zu reden. Soweit verstehe ich es. Nur, es ist trotzdem falsch, und es ist unfreundlich, um es harmlos auszudrücken.
Ich bin nicht derjenige, der sagt: Wir drohen genauso als Reaktion. Es reizt einen natürlich zu sagen: Dann fährt der Schweizer Lkw ebenso nur noch mit höchstens 28 t, und dann fährt auch der Österreicher nachts nicht mehr bei uns. Dann haben wir auf beiden Seiten nachts 25 km Stau; das nützt den Bürgern überhaupt nichts.
({25})
Für uns kommt deshalb nur in Frage, realistisch zu bleiben, die Dinge zu sehen und nach schnellen wirtschaftlichen und technischen Lösungen zu suchen, d. h. den Verhandlungsweg einzuschlagen und nicht den von leeren Drohgebärden. Das nutzt überhaupt niemandem.
Ich sage - wenn ich darf, Herr Präsident - noch einen letzten Satz - auch an unsere Industrie - : Ich habe mir auf der IAA die Autos angeguckt, nicht die glänzenden - da kommt man nicht heran -, aber die Nutzfahrzeuge. Dabei habe ich festgestellt, daß es schon heute Autos gibt, die diese angebliche 80-dBNorm erfüllen können. Da habe ich plötzlich festgestellt, daß es schon Filter und partikelreinigende Einrichtungen gibt. Ich nenne jetzt keine Firma; das gibt es aber.
Das erinnert mich ein bißchen an die Diskussion über bleifreies Benzin und den Einbau des Katalysators. Die Wirtschaft sollte von ihren technischen Fähigkeiten Gebrauch machen, um dem Umweltschutz und den Menschen zu dienen.
Vielen Dank.
({26})
Herr Abgeordneter Gries, Sie haben sehr eigenwillige Vorstellungen vom letzten Satz.
({0})
Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär Schulte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind mitten in Gesprächen mit Österreich. Jeder, der sich äußert, muß sich überlegen, ob er diesen Gesprächen nutzt oder schadet.
({0})
Wir sehen die Probleme unseres Nachbarlandes, wir sehen die Umweltprobleme von Österreich. Wenn Ihre Fraktion, Herr Kollege Weiss, konsequent wäre, würde sie sich nicht gegen alle Zukunftsprojekte auParl. Staatssekretär Dr. Schulte
Bern, die dafür dienen werden, daß wir diesen Alpentransit in der Zukunft auf der Schiene abwickeln können und nicht mehr auf der Straße abwickeln müssen. Sie sind halt immer dagegen.
({1})
- Das fängt beim Rangierbahnhof München an, gegen den Sie sind.
({2})
Wir haben im April mit Österreich und Italien in Udine verabredet, wie die Probleme des Alpentransits gemeinsam gelöst werden können. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich an diese Vereinbarungen gehalten. Das kann durch viele Beispiele erhärtet werden; das kam heute in der Diskussion bereits zum Ausdruck.
Ein einseitiges Vorgehen eines Landes entspricht dem Geist der Vereinbarung von Udine nicht. Wir gehen deswegen bei den bevorstehenden Verhandlungen davon aus, daß Österreich alle seine Interessen einbringt, so wie wir das auch tun müssen.
({3})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu den Entschließungsanträgen der Fraktion DIE GRÜNEN sowie der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/5243 und 11/5256. Es ist beantragt worden, die Entschließungsanträge an den Ausschuß für Verkehr zu überweisen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen.
Ich rufe Punkt 13 der Tagesordnung sowie Zusatzpunkt 6 der Tagesordnung auf:
13. Beratung des Antrags der Abgeordneten Wartenberg ({0}), Dr. Penner, Dr. Nöbel, Bernrath, Dr. Emmerlich, Graf, Hämmerle, Lambinus, Lutz, Paterna, Schröer ({1}), Dr. Sonntag-Wolgast, Tietjen, Peter ({2}), Schütz, Dr. Skarpelis-Sperk, Vahlberg, Weiler, Wiefelspütz, Adler, Dr. Klejdzinski, Kretkowski, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Datenschutzrechtliche Anforderungen an das Schengener Informationssystem ({3})
- Drucksache 11/5023 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({4})
Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
ZP6 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN
Datenschutzrechtliche Probleme einer Europäischen Fahndungsunion
- Drucksache 11/5245 Überweisungsvorschlag:
Innenausschuß ({5}) Auswärtiger Ausschuß
Rechtsausschuß
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist eine Aussprache von 30 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann werden wir so verfahren.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf.
Herr Präsident! Liebe Kollegin und Kollegen! Das Inkrafttreten der Einheitlichen Europäischen Akte hat das Ziel der politischen und wirtschaftlichen Einheit Europas ein großes Stück nähergebracht. Ein wichtiger Schritt in diesem Zusammenhang ist die Verwirklichung des Schengener Abkommens vom 14. Juni 1983. Diesem Abkommen zufolge sollen die Grenzkontrollen zum 1. Januar 1990 zwischen den Schengener Vertragsstaaten aufgehoben werden. Das Abkommen, welches in kurz- und langfristig durchzuführende Maßnahmen gegliedert ist, wird von uns Sozialdemokraten begrüßt.
Die Verwirklichung des ersten Schrittes ist zwischenzeitlich erfolgt. Einerseits wurde die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden der Vertragsparteien verstärkt, andererseits wurden die Grenzkontrollen erleichtert.
Im weiteren Verlauf der Verwirklichung des Schengener Abkommens ist vorgesehen, die Kontrollen an den Binnengrenzen möglichst bis zum 1. Januar 1990 gänzlich abzubauen und diese an die Außengrenzen zu verlegen. Daß das zu Problemen führen kann und wird - wenn ich dabei nur an die Grenzen zu Osterreich und Dänemark denke -, sei nur am Rande erwähnt.
Seit längerer Zeit wird sehr deutlich, daß die Erfüllung des Vertrages - Wegfall der Grenzkontrollen zum 1. Januar 1990 - nicht eingehalten werden kann. Das räumt die Bundesregierung jetzt auch ein.
Neben der Harmonisierung der Einreise- und Aufenthaltsbestimmungen, der Zollrechtsbestimmungen und des Ausländerrechts spielen Probleme der inneren Sicherheit eine erhebliche Rolle. Selbst wenn heute die Grenzkontrollen zwischen den Vertragsparteien liberal gehandhabt und auf ein Minimum reduziert werden - bei ca. 400 Millionen Grenzübertritten im Jahr wird nur noch 1 %o der Reisenden zurückgewiesen und ca. 0,5 %o wegen des Verdachts von Straftaten aufgegriffen - , müssen durch die Aufhebung der Grenzkontrollen möglicherweise entstehende Sicherheitsdefizite kompensiert werden.
Logischerweise sieht deshalb auch Art. 18 des Abkommens die Ausarbeitung von Vereinbarungen zur Kooperation bei der präventiven Verbrechensbekämpfung und der Fahndung vor. Eine verstärkte Zusammenarbeit der Zoll- und Polizeibehörden auch und gerade mit Hilfe einer Übermittlung der Informationen, die im Kampf gegen die Kriminalität von Interesse sein könnten, wird angestrebt. Dieser Informationsverbund soll durch das Schengener Informationssystem realisiert werden.
Was den Datenumfang des Schengener Informationssystem angeht, ist heute davon auszugehen, daß ca. 800 000 Personendaten und ca. 7 Millionen Sachdatensätze eingespeist werden. Zum einen wird eine völlig neue Dimension der grenzüberschreitenden Verarbeitung personenbezogener Informationen be12278
wirkt, und zum anderen werden die Rechte der Bürger empfindlich getroffen. Das Schengener Informationssystem dient ja nicht nur der Ausschreibung von Verdächtigen zur Festnahme, sondern beispielsweise auch der Suche nach Vermißten, nach gestohlenen Ausweispapieren, der Ermittlung des Aufenthalts von Personen, der teilweise verdeckten Sammlung von Informationen in allen Bereichen, der Zurückweisung oder Abschiebung unerwünschter Ausländer und der gezielten zollmäßigen Untersuchung beim Grenzübertritt.
Besonders problematisch ist die Tatsache, daß das materielle Datenschutzrecht in den Vertragsstaaten völlig unterschiedlich geregelt ist. So kennt beispielsweise Belgien überhaupt keine Datenschutzgesetzgebung, und in den Niederlanden und in Luxemburg gibt es datenschutzrechtliche Regelungen für den Polizeibereich bis zum heutigen Tage nicht.
Vor diesem Hintergrund hat die sozialdemokratische Bundestagsfraktion den heute zur Debatte stehenden Antrag „Datenschutzrechtliche Anforderungen an das Schengener Informationssystem" eingebracht. Mit diesem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, dafür Sorge zu tragen, daß die geplanten Regelungen über das Schengener Informationssystem in vollem Umfang den Forderungen Rechnung tragen, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil für eine verfassungsgemäße Verarbeitung personenbezogener Informationen aufgestellt hat.
({0})
Vor diesem Hintergrund hält es die SPD-Bundestagsfraktion für unverzichtbar, daß nachstehend genannte Mindestbedingungen erfüllt sein müssen, bevor das Schengener Informationssystem in Betrieb genommen werden kann.
Erstens. Der Inhalt der gemeinsamen Daten, ihr Zweck und ihre Verwendung müssen präzise und abschließend rechtsverbindlich festgelegt werden.
Zweitens. Jeder einzelnen Bürgerin und jedem einzelnen Bürger muß das Recht zugestanden sein, in jedem Vertragsstaat Zugang zu den ihn betreffenden gespeicherten Daten zu haben. Dabei ist es für uns selbstverständlich, daß Einschränkungen dieser Forderungen aus Gründen besonderer polizeilicher Aufgabenerfüllung in Betracht gezogen werden müssen.
({1})
Es soll auch das Recht auf Berichtigung unzutreffender sowie auf Löschung unrichtiger Daten verankert werden. Nicht zuletzt ist jedermann das Recht einzuräumen, Rechtsmittel in Anspruch zu nehmen, wenn der Forderung nach Bestätigung, Mitteilung, Berichtigung oder Löschung von Daten nicht nachgekommen wird, wie sie dem Inhalt der Art. 5 und 6 des Übereinkommens des Europarates vom 28. Januar 1981 entsprechen.
Drittens. Die Verarbeitung und Nutzung der gespeicherten personenbezogenen Daten muß in allen Vertragsstaaten einer Kontrolle durch unabhängige Organe unterliegen.
Viertens. Innerhalb der Schengener Vertragsstaaten ist ein gemeinsames Kontrollorgan zu schaffen, das sich aus Vertretern der nationalen Kontrollorgane zusammensetzt.
Fünftens. Die Datenschutzbeauftragten der Schengener Vertragsstaaten sind, soweit sie vorhanden sind, bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt an der Ausarbeitung des Schengener Informationssystems zu beteiligen.
Sechstens. Die Bestimmungen des Übereinkommens zum Schutz der Menschen bei der automatischen Bearbeitung personenbezogener Daten des Europarates vom 28. Januar 1981 und die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates vom 17. September 1987 sind als verbindliche Mindestanforderungen zu betrachten.
Siebtens. Vor Realisierung dürfen personenbezogene Daten nicht an das Schengener Informationssystem übermittelt werden, auch nicht zur Durchführung eines sogenannten Probebetriebes.
Im Rahmen des Schengener Vertragsstatus, aber auch bei der Schaffung des gemeinsamen Binnenmarktes wird der Austausch personenbezogener Daten anwachsen. Solange es jedoch an gemeinsamen, den Datenschutz wirklich gewährleistenden Vorkehrungen fehlt, ist der Konflikt unausweislich.
Für uns Sozialdemokraten steht fest: Der Datenschutz ist untrennbar mit den in der Verfassung festgeschriebenen Grundsätzen rechtlicher Ordnung verbunden. Der Datenschutz muß deswegen insbesondere beim internationalen Austausch personenbezogener Daten gewährleistet sein.
Vor diesem Hintergrund fordert die SPD-Bundestagsfraktion die Bundesregierung auf, bei allen Überlegungen und Vereinbarungen zum Schengener Informationssystem den Schutz der Rechte und Grundfreiheiten eines jeden Menschen, vor allem das Recht auf Achtung der Persönlichkeit, zur Maxime ihres Handelns zu machen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Abschluß meiner Ausführungen noch einige Anmerkungen zu dem hier ebenfalls zur Debatte stehenden Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN machen. In ihrem Antrag auf Drucksache 11/5245 lehnen DIE GRÜNEN das Schengener Informationssystem generell ab. Sie begründen ihre Ablehnung sinngemäß damit, die Bürgerinnen und Bürger müßten befürchten, daß ihre Personendaten in einer solchen Datei ohne ihr Wissen gespeichert würden.
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Sie beklagen ferner, daß die Korrektur falscher Daten nicht gewährleistet werde und der Rechtsweg gegen die Speicherung nicht gesichert sei.
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Hierzu ist seitens der SPD-Fraktion anzumerken, daß wir gerade diese Bedenken - ich habe, glaube ich, deutlich darauf hingewiesen - in unserem Antrag aufgenommen und deshalb ganz nachdrücklich darauf hingewiesen haben, daß bei den getroffenen Vereinbarungen gerade das Selbstbestimmungsrecht, das Persönlichkeitsrecht im Vordergrund stehen muß. Wir haben ja auch sehr deutlich gemacht,
daß gerade die Bestimmungen des Übereinkommens des Europarates vom 28. Januar 1981 sowie die Empfehlung des Ministerkomitees als verbindliche Mindestanforderungen zu berücksichtigen sind. Insofern möchte ich hier an dieser Stelle noch einmal ganz nachdrücklich darauf hinweisen, daß diese Bestimmungen bzw. Empfehlungen des Europarates und die Empfehlungen der Datenschutzbeauftragten der Länder des Schengener Abkommens, soweit sie in den einzelnen Ländern vorhanden sind, zur Maxime des handelns gemacht werden müssen.
Die Kritik der GRÜNEN in dem Punkt, daß die Bundesregierung das Parlament in der Vergangenheit gar nicht oder nur unzureichend informiert hat, wird von der SPD-Fraktion insoweit geteilt, als es in der Vergangenheit vielfältiger Anfragen und Nachfragen bedurfte, um an Informationen zu gelangen.
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So ist die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion vom 15. März 1989 zu innenpolitischen Aspekten der Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft bis zum heutigen Tage immer noch nicht beantwortet.
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Trotz dieser kritischen Anmerkung möchte ich feststellen: Die Situation hat sich verbessert. Es kommt jetzt zu regelmäßigen Informationen, wie zuletzt am heutigen Morgen in der Arbeitsgruppe Schengen. Auch ein Vertreter der GRÜNEN war heute morgen dabei. Insofern sind wir ganz froh, daß diese Kritik heute nicht mehr anzubringen ist. Das galt für die Vergangenheit.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Blens.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich war 17 Jahre lang Mitglied der Opposition im Rat der Stadt Köln.
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Herr Penner, deshalb weiß ich, wie schwierig es ist, vernünftig Opposition zu machen. Deshalb weiß ich, wie dankbar man als Mitglied der Opposition ist, wenn man irgendwo bei anderen Leuten eine gute Idee findet, die man abschreiben kann. Deshalb habe ich Verständnis dafür, daß Sie die Beschlüsse der Datenschutzbeauftragten der Schengener Vertragsstaaten vom 16. März 1989 - also aus diesem Jahr - wörtlich abgeschrieben und in Ihren Entschließungsentwurf aufgenommen haben. Ich habe Verständnis dafür. Ich will es hier nur mit Ihrer Zustimmung zu Protokoll geben, damit Ihnen niemand den Vorwurf des geistigen Diebstahls machen kann.
Das, was Sie hier sagen, ist nicht nur abgeschrieben worden, sondern auch überflüssig; denn alles das, was sie fordern, ist von der Bundesregierung längst zugesagt worden, wie Sie an sich wissen könnten und müßten, wenn Sie im Innenausschuß immer zugehört hätten. Der zuständige Staatssekretär Neusel hat in der Sitzung des Innenausschusses am 19. April 1989 wörtlich folgendes erklärt - ich lese Ihnen das vor - :
Darüber hinaus ist beabsichtigt, einheitliche, für alle Vertragsstaaten verbindliche datenschutzrechtliche Bestimmungen zu schaffen. Die datenschutzrechtlichen Vorschriften werden insbesondere vorsehen eine Zweckbindung der Daten, ein Auskunfts-, Berichtigungs- und Klagerecht des Betroffenen, Prüf- und Löschungsfristen, Protokollierungs- und Archivierungsbestimmungen, Kontrollrechte der für den Datenschutz zuständigen Stellen für den jeweiligen nationalen Datenbestand, Einrichtung einer gemeinsamen Kontrollinstanz für den zentralen Bestand des Schengener Informationssystems, eine Schadensersatzregelung.
Weiter heißt es dann:
Die deutsche Seite ist bemüht, in den Verhandlungen den datenschutzrechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen.
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Dann verwies Herr Neusel am 19. April auf den Beschluß der Datenschützer der Schengener Vertragsstaaten, den Sie abgeschrieben haben, und erklärte dann:
Alles das ist zwischen den Schengener Vertragspartnern unstreitig.
Das, was Sie hier beantragen und beschließen lassen wollen, ist also unstreitig zwischen den Vertragspartnern. Ihr Beschlußentwurf ist also überflüssig.
Im übrigen haben wir inzwischen einen Vertragsentwurf zu diesen Punkten, Stand September 1989. Ich denke, Sie wissen das inzwischen. Darin gibt es ein eigenes Kapitel über automatisierten Informationsaustausch. Das sind die Art. 53 bis 80, also 28 Artikel, die sich mit Datenschutz beschäftigen, die alles das erfüllen, was Sie hier von der Bundesregierung verlangen. Das Ganze umfaßt 21 Schreibmaschinenseiten. Das, was Sie verlangen, ist längst erledigt. Deshalb ist Ihr Beschlußentwurf überflüssig.
Ich sage als letztes: Er ist nicht nur abgeschrieben, er ist nicht nur überflüssig, er ist auch unschädlich. Deshalb stimmen wir der Überweisung in den Innenausschuß zu. Wir schlagen aber vor - damit wir die Zeit dort nicht mit sinnlosen Dingen totschlagen -, daß wir Ihren Beschlußentwurf, den Sie hier vorgelegt haben, zusammen mit den entsprechenden Vorschriften des Schengener Abkommens erörtern. Dann können wir konkret diskutieren. Dann werden Sie sich sicherlich auch davon überzeugen, daß alles das, was Sie wollen, längst erfüllt ist. Unter dieser Voraussetzung stimmen wir der Überweisung in den Innenausschuß zu
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Such.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Blens, wenn das alles einträte und ein12280
träfe, was Herr Neusel und die Bundesregierung schon vorab immer erklärt haben, dann wären wir glücklich dran und könnten das sicherlich mittragen. Aber leider ist das nicht der Fall. Wie wir auch in unseren Anfragen zu Gewalt bei Demonstrationen erfahren haben, sind auch Dinge gesagt worden, die mit den Begründungen für das Gesetzeswerk überhaupt nicht übereinstimmten. Insofern muß man nicht so großen Wert auf solche Erklärungen legen, die die Bundesregierung durch Herrn Neusel abgibt.
Meine Damen und Herren, auf Grund der vorliegenden Anträge befaßt sich der Deutsche Bundestag heute endlich mit einem Thema, das die Bundesregierung bisher ohne Votum des Parlaments vorangetrieben hat. Dabei handelt es sich bei dem Schengener Informationssystem keinesfalls um eine politische Lappalie. Dieses Projekt würde vielmehr - wenn es nach den derzeitigen Vorstellungen der Bundesregierung verwirklicht würde - eine immense informationstechnische Aufrüstung - u. a. der europäischen Sicherheitsbehörden - nach sich ziehen. Tiefe Eingriffe in das informationelle Selbstbestimmungsgrundrecht der betroffenen Bürger und Bürgerinnen sind vorprogrammiert. Da das Vorhaben der Schengener Vertragssstaaten ausdrücklich als Modell für die gesamte EG dienen soll, stehen tiefgreifende Strukturveränderungen des internationalen Datenaustausches in Richtung auf eine Art europäische Polizeipolitik bevor. Wegen mangelnder öffentlicher Information durch die Bundesregierung über die Reichweite dieser Pläne sind deren Auswirkungen bisher weder von den Fachleuten noch in der Bevölkerung und im Parlament ausreichend diskutiert worden.
Gerichtet an den Vertreter des Innenministers: Herr Innenminister, heute Fakten bzw. sogenannte Sachzwänge für eine Politik des „Großen Bruders" in Europa zu schaffen, dazu haben Sie kein Votum der Wählerinnen und Wähler. Auch der Begründungszusammenhang für dieses Vorhaben S.I.S. erscheint uns äußerst zweifelhaft, ebenso wie andere europäische Harmonisierungspläne.
Schon seit Jahren wird eine Ausweitung polizeilicher Befugnissse und eine Aufweichung des Datenschutzes mit wechselnder Begründung betrieben. Seit einiger Zeit wird das Gespenst einer angeblichen Sicherheitslücke durch die offenen Grenzen beschworen. Der Bundeskanzler, der Innenminister und Polizeifunktionäre malen das Gespenst einer Überflutung unseres Landes mit Kriminalität in einer Art an die Wand, als müßten wir - das saubere Deutschland - ab dem 1. Januar 1990 oder spätetens ab 1992 mit Wogen der italienischen Mafia, der Drogenhändler aus Holland, der französischen Taschendiebe und englischer Posträuber rechnen. Diese Beschwörung einer Gefahr trägt zum Teil schon chauvinistische Züge und kommt einer „Schönhuberei" nahe. Allerdings glaubt der Innenminister offenbar selbst nicht so recht an die angebliche Sicherheitslücke. In seinem Pressedienst räumt er ein, daß Grenzkontrollen, Kollege Graf, ohnehin kein wirksames Mittel gegen organisierte Straftäter seien.
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Folglich würde deren teilweiser Wegfall hieran auch
kaum etwas ändern. Polizeipraktiker wissen eigentlich, daß Grenzkontrollen für die Verbrechensbekämpfung kaum etwas bringen.
Das Schengener Abkommen verpflichtet keineswegs zur Einrichtung einer zentralen Personendatei. Vereinbart wurden lediglich Bemühungen, Gespräche und die Suche der Vertragsstaaten nach einem verbesserten Informationsfluß. Das kann jedoch bei Anlaß und Bedarf geschehen; vielleicht auch noch durch die Intensivierung von Interpol-Fahndungen. Die Einrichtung der S.I.S.-Datenbank wird zahlreiche Probleme mit sich bringen, von denen ich nur drei beispielhaft anreißen möchte.
Erstens. Es sind Kollisionen zwischen dem unterschiedlichen nationalen Strafrecht vorprogrammiert, insbesondere bei den Gesinnungsstraftatbeständen.
Zweitens. Die vorgesehene Datei für die Erteilung von Sichtvermerken nach bestimmten Kriterien beinhaltet, daß die restriktiven Vorstellungen der Bundesregierung zum Ausländer- und Asylrecht noch weiter nach Europa exportiert würden. Somit würde S.I.S. einen Zaun der Entmenschlichung um Europa für Flüchtlinge und Einwanderer und Einwanderinnen abdichten helfen. Die vorgesehenen Ausnahmeregelungen für den Datentransfer, bei Gefährdung der staatlichen Ordnung etc. durchlöchern die letzte Abschottung der Dateien gegeneinander, also letztlich das verfassungskräftigte Zweckbindungsgebot. Ebenso ist überhaupt nicht geklärt, wie im Austausch der Daten mit dem Ausland z. B. das verfassungsmäßige Trennungsgebot von Polizei- und Geheimdienst in der Bundesrepublik eingehalten wird.
Meine letzten Gedanken: Am deutschen Sicherheitswesen soll offensichtlich Europa genesen. Das würde für die Bürger und Bürgerinnen bedeuten, daß sie keine Auskünfte, auch nicht über den Bundesbeauftragten für Datenschutz, bekommen, ob etwas und was über sie gespeichert ist, daß keine parlamentarische Kontrolle, kein Kontrollausschuß im Europäischen Parlament, keine Korrektur- oder Löschungsansprüche gegenüber falschen Informationen bestehen und kein ordentlicher Rechtsweg zu beschreiten ist.
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Ich habe leider nur fünf Minuten. - Weil die Bundesregierung dies alles am Parlament vorbei betreibt
Herr Abgeordneter, Sie haben die Zeit schon längst überschritten. Sie hatten angekündigt: letzter Satz.
- Sie erlauben mir den letzten Satz - und versucht, für die Zeit nach ihrer Ablösung 1990 Fakten zu setzen, sagen wir mit unserem Antrag „Halt! " und verlangen die Einstellung aller konkretisierenden Schritte für die Einrichtung eines Schengener Informationssystems
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sowie klare Informationen über den Entscheidungsvorbehalt für das Parlament.
Aber da war jetzt ein Punkt!
Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. Schönen Dank für Ihr Entgegenkommen.
Bitte sehr.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lüder.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die FDP hat das Abkommen der Schengener Vertragsstaaten über den Abbau der Grenzkontrollen und damit die Freizügigkeit im Verkehr zwischen Frankreich, den Beneluxstaaten und der Bundesrepublik stets begrüßt und uneingeschränkt unterstützt. Für uns standen und stehen die Verbesserungen der grenzübergreifenden Freizügigkeit zwischen diesen europäischen Kernstaaten im Vordergrund unserer Betrachtungen. Wir haben jeden Abbau von Kontrollen an den Binnengrenzen Europas begrüßt. Wir haben dem Bundeskanzler zugestimmt, als er hierfür und für den Verkehr mit Österreich beim Vorzeigen der E-Plakette den Europäern freie Fahrt am Schlagbaum überholter Grenzen ermöglichte. Dies lag für uns auch in der guten Tradition, nachdem unsere liberalen Vorfahren im letzten Jahrhundert die damals bestehenden Grenzen europäischer Kleinstaaterei zu überwinden geholfen hatten.
Wir akzeptieren, daß heute ein Abbau von Grenzkontrollen von einer Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden begleitet wird. Der Grenzabbau darf nicht zu einem relevanten Sicherheitsdefizit führen. Aber so, wie wir uns daran gewöhnt haben, daß an unserer Landesgrenze vor Rolandseck kein Schlagbaum mehr die Reise nach Rheinland-Pfalz blockiert, so werden wir uns in Europa daran gewöhnen und zu gewöhnen haben, daß auch Europas Binnengrenzen frei von Schlagbäumen sind.
Wir haben auch die Grundüberlegung des Schengener Informationssystems akzeptiert. Darin unterscheiden wir uns von den GRÜNEN. Das Schengener Informationssystem ist notwendig. Dabei ist es für uns selbstverständlich, daß die Bundesregierung, wie sie auch stets bekundet hat und wie Herr Staatsminister Stavenhagen gestern im Ausschuß wiederholt hat, nach Standort, Nutzung und Kontrolle dieses System darauf achtet, daß unser Datenschutzstandard gewahrt ist. Dies ist unverzichtbare Grundlage unserer Zustimmung zu dem später notwendigen Ratifizierungsgesetz.
Der Antrag der Sozialdemokraten reiht in nahezu perfektionistischer Art das auf, was deutsches Datenschutzverständnis an Anforderungen für das Schengener Informationssystem wünschenswert erscheinen läßt. Hier werden Meßlatten an den Datenschutz angelegt, die im wesentlichen den gesicherten Erkenntnissen auch der Datenschutzbeauftragten der Länder und des Bundes entsprechen.
Wir stimmen der Überweisung in den Ausschuß zu. Die Einzelberatung im Ausschuß wird der Bundesregierung Gelegenheit geben, darzulegen, daß und wie sie diesen Meßlatten gerecht wird.
Dabei will ich schon jetzt sagen, daß unser liberaler datenschutzrechtlicher Maßstab die gleiche Dimension hat wie der, der hier von den Sozialdemokraten angelegt ist.
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Das muß nicht jeden einzelnen Meßpunkt betreffen. Wir erwarten aber, daß sich die Bundesregierung bei den Vereinbarungen, die sie mit den Vertragsstaaten für das Informationssystem trifft, in dem Rahmen hält und an den Anforderungen orientiert, die hier sichtbar werden. So kann und sollte es erreichbar sein, daß wir bei den weiteren Beratungen zum Schengener Informationssystem gemeinsam die Einhaltung eines guten Datenschutzstandards feststellen, wobei dann vielleicht auch noch die Fraktion der GRÜNEN sehen wird, daß sie sich unnötig Sorgen gemacht hat.
In diesem Sinne folge ich der Anregung des Kollegen Blens, daß wir im Ausschuß darauf hinwirken sollten, daß das, was vereinbart werden wird, unserem Standard nachkommt und unseren Standard anerkennt und akzeptiert. Wenn das so ist, dann können wir alle miteinander dem Schengener Informationssystem und dem entsprechenden Vertragssystem unsere Zustimmung geben.
Auf eines jedoch möchte ich mit aller Deutlichkeit hinweisen: Die Diskussion um das Schengener Informationssystem darf niemandem als Vorwand dienen, den Abbau von Grenzkontrollen zurückzustellen. Der Abbau der Grenzkontrollen hat Vorrang. Wir Freien Demokraten könnten kein Verständnis dafür haben, daß erst der internationale Kontrollperfektionismus etabliert werden muß, bevor die freie Fahrt für freie Bürger Europas über die veralteten Grenzen hinweg möglich wird.
Wenn die Bundesregierung den Abbau der Grenzkontrollen bis zur Schaffung des Informationssystems nur schrittweise vornehmen will, wie es gestern Herr Stavenhagen im Ausschuß erklärt hat, so kann sie dann und nur dann mit unserer Zustimmung dazu rechnen, wenn die Schritte zur europäischen Freizügigkeit groß sind.
Meine Damen und Herren, in der Nähe von Schengen liegt der luxemburgische Grenzort Echternach. Europäische Freizügigkeit darf nicht in eine Echternacher Springprozession ausarten. Drei Schritte vor, zwei zurück - dieses Tempo ist zu langsam für Europa. Wir hoffen, daß die Bundesregierung Schengen Vorrang vor Echternach gibt.
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Ich erteile das Wort dem Herrn Parlamentarischen Staatssekretär.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich auf die vorliegenden Anträge kurz eingehe, möchte ich das Schengener Informationssystem hier skizzieren. Es ist geplant als ein gemeinsames datenverarbeitendes Fahndungssystem der Schengener Vertragsstaaten, also der Beneluxstaaten, Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland. In das
System sollen alle Ausschreibungen, die der Suche nach Personen und Sachen dienen, für polizeiliche Kontrollen an den Außengrenzen und im Landesinnern zum Abruf im automatisierten Verfahren eingegeben werden.
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Dieses Informationssystem wird von den Regierungen aller Vertragsstaaten als das Herzstück der vorgesehenen Ausgleichsmaßnahmen für den Abbau der Binnengrenzen angesehen. Bei der Verwirklichung des Informationssystems, mit dessen Hilfe erstmals personenbezogene Daten in größerem Umfang im automatisierten Verfahren an das Ausland übermittelt werden, ist es selbstverständlich, daß datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten erhebliche Bedeutung zukommt. Die Bundesregierung ist daher bei den Verhandlungen ausdrücklich bemüht, den datenschutzrechtlichen Standard der Bundesrepublik Deutschland durchzusetzen. Das ist auch in den Ausschüssen im einzelnen wiederholt klargestellt worden.
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Sie hat bereits vor Vorliegen des Antrags der Fraktion der SPD im Innenausschuß des Deutschen Bundestages erklärt, daß zwischen den Vertragsstaaten Einvernehmen besteht, eine staatsvertragliche Regelung mit verbindlichen datenschutzrechtlichen Bestimmungen zu schaffen, die insbesondere folgendes vorsehen: eine Zweckbindung der Daten, ein Auskunfts-, Berichtigungs- und Klagerecht der Betroffenen, Prüf- und Löschungsfristen, Protokollierungs-
und Archivierungsbestimmungen, Kontrollrechte der für den Datenschutz zuständigen Stellen für den jeweiligen nationalen Bestand, Einrichtung einer gemeinsamen Kontrollinstanz der Vertragsstaaten für den zentralen Bestand des Schengener Informationssystems und schließlich eine Schadensersatzregelung.
Die Vertragsstaaten sind sich auch darin einig, daß die Grundsätze der Europäischen Datenschutzkonvention vom 28. Januar 1981 einzuhalten sind. Bei der Ausarbeitung der Regelungen hat die Bundesregierung ständig Kontakt mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz.
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Nun zu den vorliegenden Anträgen. Der Kollege Blens hat zu dem Antrag der SPD, Herr Kollege Graf, im Grunde ja schon Stellung genommen. Auch ich muß sagen, in dem Antrag gibt es eine weitgehend wörtliche Übereinstimmung mit der Entschließung vom 16. März 1989 der Datenschutzbeauftragten der Vertragsstaaten. Das, was darin enthalten ist, ist zwischen den Vertragsstaaten unstreitig. Das bedeutet, daß der Antrag überflüssig ist.
Was den Antrag der Fraktion der GRÜNEN anbelangt, so kann man nur sagen: Hier zeigt sich, daß die Fraktion der GRÜNEN offensichtlich überhaupt nicht in der Lage ist, den Stellenwert des notwendigen Schutzes unserer Bürger vor der anwachsenden Flut von Verbrechen auch nur annähernd richtig einzuschätzen.
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Ihr Redner hat heute erneut das übliche Katastrophen- und Schauergemälde der GRÜNEN gezeichnet. Ihre Phantasien haben mit der Wirklichkeit nicht das entfernteste gemeinsam,
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Deswegen ist der Antrag rundum unbegründet. Vielen Dank.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.
Große Freude im Saal. - Guten Abend, meine Damen und Herren! Herr Präsident! Zwei Vorbemerkungen. Die AG Schengen hat heute morgen getagt, sagte der Redner der SPD. Es gilt einfach darauf hinzuweisen, daß Teile der Opposition in diesen Informationsfluß nicht einmal einbezogen werden, geschweige denn Initiativrechte haben. Das betrifft in jedem Fall mich, aber inzwischen auch eine zweite Kollegin in diesem Haus. Trotz gestellten Antrages darf ich an solchen Gesprächen nicht einmal zum Zuhören teilnehmen. Dahinter steht ein Parlamentsverständnis, das wirklich zum Himmel schreit.
Zweite Vorbemerkung. Der Kollege, der für die GRÜNEN gesprochen hat, formulierte eingangs noch frei, daß, wenn man glauben könnte, was die Bundesregierung als zukünftig umzusetzen ankündigt, man dem ja zustimmen und es mittragen könnte. Ich bezweifle, daß das eine Position der GRÜNEN ist.
Ich bin auch ein bißchen über die Art und Weise überrascht, wie hier Nationen behandelt werden. Englische Posträuber oder französische Taschendiebe - was ist das für ein Bild gegenüber Ausländern oder Nachbarstaaten?
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Jetzt aber zur Sache. Herr Lüder, Sie formulierten für die FDP: Der Standard der Bundesrepublik muß Grundlage bei der Abwicklung des Schengener Abkommens sein. Herr Lüder, welchen Standard haben wir denn hier? Welchen der vielen verschiedenen Standards meinen Sie? Meinen Sie den der polizeilichen Praxis, so wie es zur Zeit beim BKA oder beim Verfassungsschutz läuft, der auch von Ihnen kritisiert wird, oder meinen Sie vielleicht den Standard, den das Bundesverfassungsgericht mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung 1983 kreiert hat?
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Wir haben bestimmt noch sechs, acht andere Standards. Es ist völlig unklar, wenn solche Formulierungen kommen, auch von Herrn Stavenhagen im Innenausschuß, welchen Standard wir konkret, inhaltlich,
substantiell nun tatsächlich zugrunde legen dürfen. Ich denke, Sie fallen auf diese Formulierung im Moment ein bißchen herein. Die Regierung macht im internationalen Verhandlungsbereich - es sind fünf Länder beteiligt - genau das, was sie gegen unsere Kritik und auch die Kritik der Datenschutzbeauftragten in der Bundesrepublik zur Zeit ständig verteidigt. Das kann nicht mein Ziel sein. Ich bin mir sicher, in Teilen ist es auch nicht Ihr Ziel. Denken Sie daran, daß die bestehenden Datensammlungen in der Bundesrepublik zu einem nicht unerheblichen Teil ohne Rechtsgrundlage vorhanden sind, und das, obwohl das Urteil aus Karlsruhe schon über sechs Jahre alt ist.
Herr Spranger, sagen Sie doch der Öffentlichkeit, seit wann der ständige Kontakt zum Datenschutzbeauftragten besteht. Er ist erst ein paar Monate alt. Er ist im Grunde genauso jung wie die Tatsache, daß wir als Parlament in die Informationspolitik ein bißchen intensiver einbezogen werden. Das korreliert zeitlich mit den Problemen bei der - termingerechten - Umsetzung für den 1. Januar 1992.
Ein letzter Gedanke, meine beiden Herren von der SPD-Fraktion, die zu dieser relativ frühen Abendstunde noch anwesend sind. Die SPD geht in der Regel immer nur so weit, wie es reputierlich ist. Die Kritik des CDU-Sprechers ist natürlich berechtigt: Die SPD hat von den Datenschutzbeauftragten abgeschrieben. Das heißt nicht, daß es schlecht ist, aber es ist noch nicht das, was sachlich-fachlich für den Datenschutz erforderlich ist und was z. B. auch die GRÜNEN in ihren Punkten aufgelistet haben. Ich würde mir wünschen, Sie hätten ein bißchen mehr Mut und Courage.
Ich bedanke mich bei dem präsidierenden Kollegen, daß er mich hat zu Ende sprechen lassen.
Einen guten Abend!
Meine Damen und Herren, wir sind am Ende der Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Anträge der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/5023 und 11/5245 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Meine Damen und Herren, wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 29. September 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.