Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/21/1989

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf: Befragung der Bundesregierung Meine Damen und Herren, die Themen der Kabinettssitzung, die der Chef des Bundeskanzleramts mitgeteilt hat, sind den Fraktionen bekannt. Wie die Bundesregierung weiter mitgeteilt hat, wird der Bundesminister für Forschung und Technologie zuerst berichten. Bitte schön, Herr Minister.

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir haben heute im Bundeskabinett das Umweltforschungsprogramm für die Zeit 1989 bis 1994 verabschiedet. In diesem Programm geben wir erstens Rechenschaft über das, was wir in den vergangenen Jahren getan haben, im vergangenen Programm, in der Sache und mit welchen Beträgen. Wir stellen zweitens auf dieser Grundlage dar, wo wir in der nächsten Runde die Schwerpunkte und die wesentlichen Aufgaben sehen. Von den Zahlen her sieht es so aus: Wir liegen heute bei 736 Millionen DM für den Bereich der Bundesregierung insgesamt, davon im Haushalt des Bundesministers für Forschung und Technologie 542 Millionen DM. Das bedeutet für meinen Haushalt eine Verdoppelung der Beträge von 1982, für den Haushalt der Bundesregierung insgesamt eine Erhöhung der Beträge von 1982 um 63 %. Sie müssen dies beispielsweise mit dem Wachstum des Forschungshaushalts von etwa 20 % vergleichen. Es ist also gemäß dem Gewicht des Bereichs ein weit überproportionales Wachstum. Es geht dabei um zwei wesentliche Bereiche. Der eine Bereich ist die ökologische Wirkungsforschung, der andere sind die Umwelttechnologien. Beide stützen sich gegenseitig, beide gemeinsam sind die Grundlagen für Gesetze und Verordnungen. Es hat sich in den letzten Jahren eine Fülle von neuen Fragen ergeben. In der ökologischen Wirkungsforschung sind wir ausgegangen von dem großen Projekt der Waldschadensforschung, das sich innerhalb von Monaten in den Jahren 1982 und 1983 zu einem Projekt mit zweistelligen Millionenzahlen entwickelt hat. Wir sind in unterschiedliche Bereiche weitergegangen, wo wir mit dem, was wir an Ökosystemforschung am Beispiel des Waldes gelernt haben, neu ansetzen: bei der Gründung von Ökosystemforschungszentren, bezogen auf die Bereiche See, Ufer, Wald, Wattenmeer, aber auch Stadt, in einer interdisziplinären breiten Zusammenarbeit. Dies geschah aber auch in einer europäischen Zusammenarbeit, wie sie in den Eureka-Projekten Eurotrac und Euromar angelegt ist, Projekten, mit denen wir die Ökologie der europäischen Randmeere nicht nur erforschen, sondern auch schützen wollen. Andererseits wollen wir grenzüberschreitend ein großes Luftexperiment durchführen. Ich habe jetzt hier weder die Klimaforschung noch die Frage der Tropenökologie noch viele Einzelbereiche bis hin zur Analytik erwähnt, die erwähnt werden müßten. Im Bereich der Umwelttechnikentwicklung haben wir hier die bekannten großen Probleme der Emission anorganischer Massenschadstoffe im Grundsatz im Griff. Die Umsetzung dieser Technik zur Reinhaltung der Luft von Staub, NOx und SO2 schafft schon eine erhebliche Erleichterung. Wir arbeiten noch mit großem Nachdruck an Lösungen für organische Stoffe, gegebenenfalls auch bezogen auf sehr kleine Mengen, etwa polychlorierte Aromaten oder Dioxine. Wir arbeiten an Techniken in neuen Bereichen, etwa in der Altlastensanierung. Wir gehen aktuelle Probleme an, etwa die Abwässer im Bereich der Holzherstellung, der Zellstoffherstellung, die Abwässer bei der Stärkeherstellung aus Kartoffeln, die Notwendigkeit, Flüsse insgesamt in übergreifenden Projekten zu sanieren. Insgesamt stellt sich dieses Programm als ein international einzigartiges Programm dar. Nur die Vereinigten Staaten liegen in absoluten Beträgen noch etwa um die Hälfte über unseren Zahlen. Die Zahlen von 1986 zeigen 1,1 Milliarden DM bei den Amerikanern, 700 Millionen DM bei uns, 140 Millionen DM bei den Briten und 98 Millionen DM bei den Franzosen. Wir sind also in Europa mit großem Abstand an der Spitze. Wir geben mehr für diesen Bereich aus als die europäischen Partnerländer gemeinsam. Herr Präsident, soweit meine Darstellung in der gebotenen Kürze der Zeit.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Vielen Dank, Herr Minister. Mir liegt eine Anmeldung für eine Frage vom Abgeordneten Vosen vor. Wer sich zu diesem Thema melden möchte, der sollte an das Mikrophon treten.

Josef Vosen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002395, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Forschungsminister, die Erfahrung mit den bisherigen Programmen zeigt, daß die Forschungsergebnisse in den Schubladen liegen und leider nicht umgesetzt werden. Nun fürchten wir, daß wegen der scheinbar geringen Absprache zwischen dem Umweltminister und Ihnen auch das neue Programm wieder mit diesen Mängeln behaftet sein wird. Gelingt es denn jetzt endlich - so lautet die Frage -, diese neuen Ergebnisse in die Praxis umzusetzen, nachdem die alten bisher nicht umgesetzt worden sind?

Prof. Dr. Dr. Heinz Riesenhuber (Minister:in)

Politiker ID: 11001849

Herr Kollege Vosen, ein großer Teil der alten Ergebnisse ist mit außerordentlichem Erfolg umgesetzt worden. Die Luftreinhaltetechnologien - ich beziehe mich auf Staub, auf Schwefeldioxid und neuerdings auch auf Stickoxide - werden mit großem Nachdruck umgesetzt. Dies sind Techniken, die 1982 fertig waren und jetzt umgesetzt worden sind. ({0}) - Dies waren Forschungsentwicklungen. Wir haben zur Zeit einer früheren Regierung umfassende Forschungsprogramme des BMFT angelegt, die die Voraussetzung dafür waren, daß eine Umsetzung erfolgen konnte. Was die neuen Techniken betrifft, so gibt es hier zwei grundsätzliche Instrumente der Umsetzung. Das eine besteht aus dem Gesetz und der Verordnung. In den Verordnungen zur TA Luft und auch in der neuen Abfallverordnung, die derzeit wohl erarbeitet wird, werden Sie unsere Forschungsergebnisse in entsprechende Vorschriften und Grenzwerte umgesetzt sehen. Zum anderen gibt es die Möglichkeit, daß wir Techniken anbieten, die sich, weil sie erfolgreich sind, verbreiten können. Dazu möchte ich als Beispiel nur verschiedene Techniken zur Altlastensanierung nennen, die zur Zeit in mehreren Fällen umgesetzt werden. Wir schieben auch weitere Projekte von uns aus an. Insofern ist die Zusammenarbeit mit dem Umweltminister eng. Wenn Sie dazunehmen, was zur Zeit in den Verhandlungen mit der DDR erwogen wird, dann werden Sie sehen, daß die Umsetzung hier in einer guten Weise läuft.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich habe zu diesem Fragenbereich keine weiteren Zusatzfragen. Als ein weiteres Thema der Kabinettssitzung ist mir die Änderung des Wohnungsbindungsgesetzes genannt worden. Dazu liegt mir eine Frage vor. Herr Abgeordneter Reschke, bitte schön.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ich würde gerne wissen, welche spürbare Entlastung sich die Bundesregierung von der Entspannung auf dem Wohnungsmarkt, insbesondere bei Altwohnungssuchenden und bei Neuwohnungssuchenden, erhofft, vor allem vor dem Hintergrund der kommunalen Erfahrungen mit jahrelangen Programmen, sogar mit Hilfe von Prämien Umzüge zu fördern, wobei nur einige hundert Wohnungen herausgekommen sind. Oder produzieren Sie eventuell neue Fehlbeleger?

Jürgen Echternach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000429

Herr Kollege Reschke, es geht ja darum, daß das bisherige Instrumentarium des Wohnungsbindungsgesetzes nicht ausgereicht hat, um die Flexibilität zu ermöglichen, die wir wollen, d. h. zu erreichen, daß Familien, die sich verkleinert haben, dann auch bereit sind, aus ihrer größeren Sozialwohnung in eine Wohnung umzuziehen, die ihrem Bedarf eher entspricht. ({0}) - Ich gehe davon aus, daß dies durchaus zu einer Entlastung führt, weil in Zukunft für kinderreiche Familien die Chance besteht, in eine ihnen angemessene größere und preiswerte Sozialwohnung umzuziehen. Ich würde schätzen, daß etwa 10 % des Wohnungsbestandes im sozialen Wohnungsbau von dieser Regelung betroffen sein könnten. Freiwilligkeit ist Voraussetzung. Deswegen wird sicher dieser Prozentsatz insgesamt nicht erreicht werden. Aber er kommt theoretisch für einen solchen Umtausch und Umzug in Frage.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich habe als nächsten Fragenbereich von der Bundesregierung die Änderung des Arzneimittelgesetzes genannt bekommen. Gibt es dazu Fragen? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Wir können zu den Fragen kommen, die frei angemeldet worden sind. - Ich sehe keinen Widerspruch dagegen. Frau Hamm-Brücher ist die erste, die eine Frage stellen möchte.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Erstens würde ich gern sagen, daß leider nur zwei Minister anwesend sind, was ich sehr bedaure, weil das nicht der Idee der Regierungsbefragung entspricht. Zweitens möchte ich fragen - wahrscheinlich wissen das die Staatssekretäre gar nicht - , ob sich die Bundesregierung mit dem Bericht in der „Süddeutschen Zeitung" beschäftigt hat, nach welchen Gesichtspunkten Bonner Ministerialbeamte ein Ersuchen der Justiz im Fall der U-Boot-Affäre behandeln. Es handelt sich um ein Schreiben des schleswig-holsteinischen Justizministers, in dem die Bundesregierung gebeten wird, eine Verfolgungsermächtigung wegen des Verdachts zu erteilen, zwei deutsche Firmen hätten ein zwischen Indien und der Bundesrepublik existierendes Geheimschutzabkommen verletzt. Seit April scheint es ein Hin und Her in der Bürokratie zu geben, ob man diese Genehmigung erteilen soll. Ich frage also: Erstens. Hat sich das Kabinett damit beschäftigt? Zweitens. Wann ist eigentlich mit einer offiziellen Antwort zu rechnen? Drittens. Wird sich das Kabinett mit solchen Verzögerungen beschäftigen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatsminister Stavenhagen, Sie wollen für die Regierung antworten. Bitte.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Frau Kollegin, das Bundeskabinett hat sich mit dieser Frage heute nicht befaßt. Deswegen kann ich auch Ihre zweite Frage, wann sich das Kabinett damit befassen wird und zu welchem Ergebnis es kommen wird, jetzt nicht beantworten. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Jahn wollte eine Frage zum gleichen Themenbereich stellen. Bitte schön.

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hält die Bundesregierung eigentlich diese Art der Behandlung eines förmlichen Ersuchens einer Landesregierung für angemessen, daß Sie heute nicht einmal in der Lage sind, zu sagen, wann eine Entscheidung der Bundesregierung erfolgen wird?

Not found (Gast)

Herr Kollege, Sie wissen aus Ihrer Regierungsarbeit, daß es schwer vorhersehbar ist, wann interne Prüfungen der Bundesregierung abgeschlossen sind. ({0}) Die Bundesregierung braucht solchen internen Prüfungen auch nicht durch Terminangaben vorzugreifen. ({1}) - In der Zeitung steht viel.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich gebe erst Herrn Bohl das Wort zu einer Frage. Dann können wir, glaube ich, zu Ihnen zurückkommen. Herr Bohl, bitte schön.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ist die Bundesregierung bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich der Auffassung bin, daß der Antrag schon längst abschlägig hätte beschieden werden können?

Not found (Gast)

Herr Kollege, die Antwort lautet ja.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Hamm-Brücher, Sie können jetzt eine weitere Frage stellen. Bitte schön.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich wollte gern die Bundesregierung fragen, wie es zustande kommt, daß man außerstande ist, in der Sache hier eine Auskunft zu erteilen, obwohl etwas schon in der Zeitung steht. ({0})

Not found (Gast)

Frau Kollegin, der Sinn einer Kabinettssitzung ist es nicht, sich mit der Presselage des Morgens zu befassen, ({0}) sondern die Themen, die auf der Tagesordnung sind, zu behandeln. Dies haben wir getan. Die Bundesregierung wird den Fragen nachgehen und, wenn sie ihre Prüfung abgeschlossen hat, zu einem entsprechenden Ergebnis kommen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Penner möchte dazu eine weitere Frage stellen. Bitte schön.

Dr. Willfried Penner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Hat die auch vorher schon vom Kollegen Bohl öffentlich geäußerte Einschätzung des Problems Einfluß auf das Verfahren bei der Bundesregierung gehabt? ({0})

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich habe Auskunft darüber gegeben, was heute von der Bundesregierung behandelt bzw. nicht behandelt wurde. Über die interne Prüfung und die Tendenz der internen Prüfung habe ich hier keine Auskunft zu geben. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Gansel hat eine Frage zu diesem Thema. Herr Gansel, bitte schön.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, beabsichtigt die Bundesregierung, bei der Behandlung dieses Antrags an der Auffassung des Verteidigungsministeriums und des Wirtschaftsministeriums festzuhalten, die sich aus einem Vermerk über eine interne Besprechung des Bundeswirtschaftsministeriums vom 24. Mai 1989 folgendermaßen ergibt: Die Vertreter von Verteidigungsministerium und Wirtschaftsministerium wiesen darauf hin, daß die mit einer Verweigerung der Ermächtigung zwangsläufig verbundene Durchbrechung des Legalitätsprinzips hingenommen werden könne, weil der Unrechtsgehalt, der mit einer Weitergabe von VS-Sachen an Südafrika verbunden wäre, verhältnismäßig gering zu bewerten ist. ({0}) - der Kollege Bohl ruft dazwischen: Sehr richtig! -, und wird es Teil der Südafrikapolitik der Bundesregierung sein, ausgerechnet das südafrikanische Rassistenregime in Kenntnis der völkerrechtlichen Bindungswirkung des UN-Rüstungsembargos beim Erhalt vertraulicher Unterlagen über militärische Produktion strafrechtlich zu privilegieren?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich habe darauf hingewiesen, was heute Gegenstand der Verhandlungen im Kabinett war. Ich habe weiter darauf hingewiesen, daß bestimmte Dinge intern geprüft werden. Ich habe nicht die Absicht, den internen Prüfungen und deren Ergebnissen vorzugreifen. Deswegen habe ich auch nicht die Absicht, zum zweiten Teil Ihrer Frage hier Stellung zu nehmen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Wir gehen der Reihenfolge nach vor. Ich möchte dazu gleich noch eine generelle Bemerkung machen. Das tue ich aber erst am Schluß. Herr Bohl, bitte schön.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, angesichts der Tatsache, daß es um die Verfolgungsermächtigung geht, die sich aus einer angeblichen Verletzung eines Geheimschutzabkommens mit Indien - wohlgemerkt: mit Indien, und nicht mit Südafrika - ergibt, möchte ich Sie fragen, ob nicht der Gesichtspunkt - den ich gleich nennen werde - noch eine viel wichtigere Rolle bei der Abwägung spielen müßte, die Sie zu treffen haben: nämlich der Gesichtspunkt der geschäftlichen Beziehungen, die HDW und IKL derzeit mit anderen Firmen innerhalb des NATO-Gebietes haben, um die Arbeitsplätze in Kiel in einem Höchstmaß zu sichern? ({0})

Not found (Gast)

Herr Kollege, wie ich bereits sagte, werden wir in die Prüfung solcher Dinge alle Gesichtspunkte und natürlich auch die von Ihnen angesprochenen einzubeziehen haben. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Jetzt kommt Herr Verheugen zum gleichen Thema, bitte schön. ({0}) - Dann sind Sie noch nicht dran, Herr Verheugen. Herr Dr. Hirsch, betrifft Ihre Frage dieses Thema? ({1}) - Dann sind Sie dran.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatsminister, nachdem ich aus den Fragen entnehmen muß, daß die Kollegen Gansel und Bohl und offenbar auch Sie ein Dokument kennen, das Herr Gansel hier zitiert hat und aus dem sich etwas über die Bewertung von militärischen Geheimnissen im Zusammenhang mit Südafrika ergibt, frage ich Sie: Wären Sie bereit, dieses Papier auch dem Auswärtigen Ausschuß und vielleicht dem mit der Gesetzgebung betrauten Rechtsausschuß zur Verfügung zu stellen, damit wir eine sachgerechte Bewertung dieser Vorgänge vornehmen können?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich kenne dieses Papier nicht. ({0}) Deswegen habe ich zu diesem Papier auch nicht Stellung genommen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe diesen Teil ab. Herr Staatsminister, ich möchte eine Anmerkung machen. Die Fragen, die nicht auf die Themen der Kabinettssitzung bezogen sind, die wir bis jetzt mit dem vielleicht nicht ganz passenden, aber benutzten Begriff „freie Fragen" bezeichnen, hatte ich bereits aufgerufen. Sie können sich auf andere aktuelle Themen von heute oder gestern beziehen. Auch dann ist die Bundesregierung hier antwortpflichtig. Sie haben es in Ihrer Weise getan. Das ist Ihr Recht. Ich möchte nur darauf aufmerksam machen, es geht nicht nur um die Beantwortung von Fragen zur Kabinettssitzung. Ich hoffe, wir verstehen uns da richtig. ({0}) Wenn Sie dazu noch etwas sagen wollen, bitte schön.

Not found (Gast)

Herr Präsident, selbstverständlich kann als freie Frage jede Frage an die Bundesregierung gerichtet werden. Aber die Bundesregierung entscheidet in ihrer Kompetenz, wer antwortet und wie die Frage beantwortet wird.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Darüber haben wir Einverständnis. Ich wollte das gern für uns alle nochmals klarstellen. Wir sind ja in der Erprobungsphase. Ich habe von weiteren Kollegen zu anderen freien Fragen Wortmeldungen. - Zuerst Herr Verheugen, bitte schön.

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Frage bezieht sich schon auf das Wochenende. Ich möchte gerne wissen, mit welchem Auftrag des Kabinetts der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Blüm, am Wochenende nach Südafrika reist.

Not found (Gast)

Herr Präsident! Herr Kollege, der Bundesarbeitsminister Blüm fährt nicht mit einem Auftrag des Kabinetts nach Südafrika, sondern er fährt in Abstimmung mit dem Bundeskanzler und mit dem Einverständnis des Bundeskanzlers nach Südafrika. In die Vorbereitung dieser Reise ist das Auswärtige Amt eingeschaltet. Das Programm wird kurz vor Reisebeginn, wie das so üblich ist, weil es in letzter Minute noch Verschiebungen geben kann, veröffentlicht werden. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gibt es zu diesem Fragenbereich eine weitere Frage?

Günter Verheugen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002368, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Darf ich eine Zusatzfrage stellen? - In welcher Eigenschaften fährt denn Herr Blüm nun nach Südafrika?

Not found (Gast)

Herr Blüm ist Bundesarbeitsminister. Diese EigenStaatsminister Dr. Stavenhagen schaft kann er nicht ablegen. Im übrigen fährt er als Norbert Blüm nach Südafrika.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben sich zu einer Zusatzfrage gemeldet. Bitte schön.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Minister, können Sie sich vorstellen, daß es auf Grund der Funktion, die der Arbeitsminister in der Wahrnehmung deutscher Interessen gegenüber dem Internationalen Arbeitsamt hat, bei dem Südafrika ja auch eine wichtige Rolle spielt, von besonderem Interesse ist, daß auch ein Kabinettsmitglied vor Ort Gespräche führt? ({0})

Not found (Gast)

Nach dem Programm, wie es sich entwickelt, wird der Bundesarbeitsminister mit Gewerkschaften, mit Kirchen, mit allen gesellschaftlich relevanten Gruppen in Südafrika Gespräche führen. Dies tut er wie viele andere Regierungsmitglieder in anderen Ländern der Welt auch, und er wird sich sicherlich auch in seinem speziellen Arbeitsgebiet in Südafrika besonders umsehen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es gibt eine Zusatzfrage zum gleichen Thema. - Herr Jahn, bitte schön.

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, wollen Sie Ihre Antwort von soeben nicht noch einmal bedenken? Im Augenblick pendeln Sie zwischen Auftrag und Nichtauftrag herum. Was ist denn nun eigentlich Sache? Gibt es einen Auftrag an den Bundesarbeitsminister, in Südafrika in bestimmter Weise die Interessen der Bundesregierung deutlich zu machen, oder gibt es ihn nicht?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich habe klar gesagt, daß der Bundesarbeitsminister in Abstimmung und im Einvernehmen mit dem Bundeskanzler fährt und daß die Reise unter Einschaltung des Auswärtigen Amtes vorbereitet wird. Einen Kabinettsauftrag gibt es nicht. Das habe ich deutlich gesagt, Herr Kollege.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Stahl möchte dazu noch eine Frage stellen.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatsminister, vielleicht legen Sie dem Haus einmal dar, ob er denn nun als Privatperson nach dort in Urlaub fährt oder ob der Bundeskanzler ihm nur nebenher erklärt hat, daß er dort offizielle Gespräche führt. Ich meine, das Haus hat, wenn ein Bundesminister nach Südafrika fährt, doch wohl ein Recht darauf, zu erfahren, welche Themen dort besprochen werden. Hat der Bundeskanzler ihm einen Auftrag gegeben, oder will er sich lediglich am Atlantischen Ozean sonnen?

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich bin gern bereit, meine Antwort zu wiederholen und sie an dieser Stelle zu verdeutlichen: Es handelt sich weder um eine Urlaubsreise noch um eine touristische Reise. Ich habe außerdem darauf hingewiesen, daß der Bundesarbeitsminister Gespräche mit Gewerkschaften, mit Kirchen und mit anderen relevanten Gruppen führen wird. ({0}) - Natürlich auch, Herr Kollege.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Dr. Hirsch hat sich als nächster zu diesem Thema gemeldet. Bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatsminister, teilen Sie mein Erstaunen über die Aufregung der Opposition, da wir es doch alle begrüßen, daß Herr Bundesminister Blüm, in welcher Eigenschaft auch immer, jedenfalls auch in seiner Eigenschaft als Mensch, nach Südafrika fährt, um sich dort über die wirklich unhaltbaren politischen Zustände aus erster Hand zu informieren? ({0})

Not found (Gast)

Herr Kollege, ich teile Ihr Erstaunen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Bohl möchte zu diesem Thema noch fragen. Bitte schön.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatsminister, ich möchte Sie fragen, in wie vielen Fällen bei Auslandsreisen von Ministern das Bundeskabinett einen Auftrag erteilt.

Not found (Gast)

Herr Kollege, mir sind solche Fälle aus der Zeit meiner Zugehörigkeit nicht bekannt. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich beende diesen Fragenbereich und rufe nun die Frage von Frau Flinner auf. - Bitte schön.

Dora Flinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000562, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe folgende Frage: Wie kommt die Bundesregierung dazu, im Falle der Stationierung der Kampfhubschrauber in Erbenheim innerhalb kürzester Frist zweierlei Gutachten zu erstellen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Wer wird für die Bundesregierung antworten? ({0}) - An sich wäre die Frage wohl an den Verteidigungsminister gerichtet. ({1}) Verkehrsminister? - Wer kann denn antworten? - Herr Stavenhagen, Sie müssen dazu etwas sagen. ({2}) - Gut, aus Ihrer Sicht ist diese Frage beim Verkehrsminister eingeordnet. Ich weiß, daß es dort zur Zeit Vizepräsident Westphal einen Empfang gibt. Aber an sich klärt das nicht das Problem, daß hier jemand als Zuständiger anwesend sein soll. ({3}) Ich kann es zur Zeit nicht regeln. Ein für die Beantwortung der Frage kompetentes Mitglied der Bundesregierung ist zur Zeit nicht anwesend. Insofern schlage ich vor, wir machen es in diesem Fall so ({4})

Not found (Gast)

Herr Präsident, wir sagen schriftliche Beantwortung zu, weil die Verkehrspolitiker bei dem Empfang des Kollegen Straßmeir sind.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Wollen Sie zu diesem Thema etwas sagen, Herr Jahn?

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich wollte dazu eine Bemerkung machen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es fällt mir schwer, in meiner Geschäftsordnung einen Platz zu finden, um Ihnen die Möglichkeit dazu zu geben.

Gerhard Jahn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001012, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben sehr viel Zeit darauf verwandt - auch im Ältestenrat - , uns über das Instrument der Regierungsbefragung schlüssig zu werden. Wenn heute erstens außer zwei Bundesministern kein ordentliches Mitglied des Kabinetts anwesend ist und sich zweitens auch noch herausstellt, daß die Regierung in einer wesentlichen Frage nicht einmal sprachfähig ist, dann muß ich fragen, ob eigentlich beabsichtigt ist, das Instrument der Regierungsbefragung auf diese Weise wieder zu zerstören.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Auf diese Frage wird Herr Staatsminister Stavenhagen sicher eine Antwort geben. Dr. Stavenhagen, Staatsmininster beim Bundeskanzler: Herr Kollege Jahn, erstens sind vier ordentliche Kabinettsmitglieder anwesend und nicht zwei. Zweitens habe ich gerade den Herrn Präsidenten darauf hinweisen dürfen, daß der verkehrspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion heute seinen 60. Geburtstag feiert und die Verkehrspolitiker deswegen bei ihm sind. ({0}) - Übrigens auch von Ihrer Fraktion. Ich habe darüber hinaus der Frau Kollegin die schriftliche Beantwortung ihrer Frage zugesagt. Wir sind bei der Erprobung der Regierungsbefragung davon ausgegangen, daß es nicht möglich sein wird, daß immer alle Ressorts hier vertreten sind. ({1}) Wenn das bei so einer besonderen Gelegenheit nicht der Fall ist, kann man sicher mit einer schriftlichen Beantwortung einverstanden sein. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich wäre dankbar, wenn wir die Diskussion über das Verfahren jetzt ausklammern könnten. Der Altestenrat hat die Diskussion darüber geführt - auch in Anwesenheit des Staatsministers - , so daß wir eigentlich eine Marschroute haben. Die Kritik ist von allen Seiten gehört worden. Ich bitte darum, daß wir zu Fragen an die Bundesregierung zurückkehren. Wir befinden uns bei den freien Fragen im Sinne unserer bisherigen Regelung. Zu einer solchen Frage hat als nächster Herr Dreßler das Wort.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, ich weiß nicht, ob ich mir jetzt Ihren Zorn zuziehe.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das kann passieren, Herr Kollege.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Gut. Obwohl mir das sehr leid täte, müßte ich es in diesem Falle ertragen. Nachdem ich gehört habe, daß der Staatsminister auf alles eine Antwort hat, möchte ich gerne von ihm wissen, ob die Antwort, die er gerade gegeben hat, für uns in Zukunft eine Richtlinie sein wird, die Besetzung der Regierungsbank bei der Befragung der Bundesregierung mit vier Kabinettsmitgliedern, wovon zwei im Range eines Bundesministers stehen, durch das Parlament als ausreichend zu akzeptieren. Vielleicht hätte er die Güte, uns darüber hinaus noch zu sagen, wie viele Bundesminister das Kabinett insgesamt umfaßt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich muß zunächst einmal feststellen, daß Sie sich meinen Zorn zugezogen haben, Herr Kollege. Ich bin nicht nur wirsch, sondern fast unwirsch. Natürlich hat Herr Stavenhagen die Möglichkeit, noch einmal zu antworten; er sollte es auch tun. Aber ich möchte die Diskussion über das Verfahren hier gerne ausklammern und sozusagen wieder an den Ältestenrat zurückverweisen.

Not found (Gast)

Die Grundlagen der Regierungsbefragung sind in einem Papier festgehalten, das im Altestenrat beschlossen worden ist und an das wir uns halten. Darin ist deutlich gemacht worden, daß die Bundesregierung nicht in allen Ressorts durch die Bundesminister vertreten sein kann. Wenn Sie die Entwicklung seit Beginn der Erprobungsphase beachten, werden Sie einräumen müssen, daß wir in der Regel sehr stark mit Bundesministern vertreten waren. Ich darf bei dieser Gelegenheit doch darauf hinweisen, daß wir gelegentlich stärker vertreten waren als die Fraktionen im Plenum. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie wollen zu einem neuen, anderen Thema eine Frage stellen, Herr Stahl? ({0}) Vizepräsident Westphal - Nein, dann gebe ich Ihnen nicht das Wort. Wir müssen auch ein bißchen das beachten, was der Präsident zu dem Thema sagt. Frau Hamm-Brücher, zu einer neuen Frage? ({1}) - Nein, es tut mir leid. Irgendwo muß ich konsequent bleiben. Ich habe vorgeschlagen, die Diskussion über das Verfahren in den Altestenrat zu verlagern. Wir haben das Pro und Kontra jetzt ausführlich gehört. Jetzt hat das Wort zu einem neuen Thema Frau Abgeordnete Schmidt. Bitte schön.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich weiß nicht, ob die Bundesregierung in dieser Zusammensetzung in der Lage ist, mir auf folgende Frage eine Antwort zu geben: Teilt die Bundesregierung die Auffassung des Bundesfinanzministers und der Bayerischen Staatsregierung, daß ein steuerliches 25-Milliarden-DM-Entlastungsprogramm über Kredite finanziert werden soll?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Parlamentarischer Staatssekretär Voss, bitte schön.

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Frau Kollegin Schmidt, Sie wissen sehr genau, daß die Bundesregierung es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Unternehmenssteuerreform in der nächsten Legislaturperiode vorzusehen. Dafür sind die ersten Vorarbeiten im Gange. Aber wir sind bei weitem nicht in einem Zustand, in dem wir darüber ein abschließendes Urteil abgeben können. Von daher ist Ihre Frage zum jetzigen Zeitpunkt wohl von keinem Mitglied der Bundesregierung zu beantworten.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich gebe Ihnen zu einer Zusatzfrage noch einmal das Wort. Bitte schön.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

In welcher Funktion, darf ich fragen, hat Herr Bundesfinanzminister Waigel dieses Programm dann befürwortet und gesagt, daß es über Kredite zu finanzieren ist?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Sie wissen, Frau Kollegin, daß Herr Bundesfinanzminister Waigel nicht nur Mitglied dieses Kabinetts und dieser Regierung ist, sondern daß er daneben auch noch Vorsitzender der CSU ist. So kann er die eine oder andere politische Bewertung aus der einen oder anderen Funktion heraus vornehmen. Ich gehe in der Regel davon aus, daß beide Einlassungen deckungsgleich sein werden. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Penner, Sie wollen eine Frage zu einem neuen Bereich stellen? - Dazu ist noch Gelegenheit.

Dr. Willfried Penner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Will die Bundesregierung nun endlich den Aufforderungen ihrer eigenen Ausländerbeauftragten Rechnung tragen und ein neues Ausländerrecht vorlegen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Parlamentarischer Staatssekretär Spranger, bitte.

Carl Dieter Spranger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002205

Herr Kollege Dr. Penner, Sie wissen, daß hier intensive Diskussionen auch mit den Ländern geführt werden und daß die Länderinnenminister erst Anfang Juni umfassende Meinungsbildungen durchgeführt haben. Sobald das auch in Abstimmung mit den Ländern abgeschlossen sein wird, wird die Regierung die entsprechenden Konsequenzen ziehen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Dazu eine Zusatzfrage? - Herr Dr. Hirsch, bitte schön.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, können Sie mir auch hier bestätigen, was eigentlich allen Beteiligten bekannt ist - eigentlich weiß es auch Kollege Penner - , daß nämlich der Bundesinnenminister beabsichtigt, einen entsprechenden Gesetzentwurf nach der Sommerpause vorzulegen und zu veröffentlichen? ({0})

Carl Dieter Spranger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002205

Ich kann, Herr Dr. Hirsch, Ihre Aussage insoweit bestätigen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Kollege Stahl, haben Sie eine Frage hierzu oder eine neue Frage? Sofern es das Verfahren betrifft, habe ich abgeschlossen. Es tut mir furchtbar leid. ({0}) Zum Fragenkomplex von Frau Schmidt ist es möglich. Ich habe nicht gesehen, daß Sie dazu sprechen wollten.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär Voss, zu dem, was Sie eben auf die Frage der Kollegin Schmidt geantwortet haben: Ist es innerhalb des Bundeskabinetts denn jetzt so, daß der Finanzminister als Person, als CSU-Vorsitzender in Bayern einsame Beschlüsse faßt, sie dort für die deutsche Öffentlichkeit verkündet - 25 Milliarden DM an Entlastung, die werden über Kredite finanziert - und daß er erst dann ins Kabinett geht, um derartige wichtige Sachen zu besprechen? Was sagt der Bundeskanzler eigentlich als Kabinettschef dazu, was seine Bundesminister in ihren Bundesländern unter diesem Aspekt so verkünden?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Herr Kollege, Ihre Befürchtungen, daß der jetzige Bundesfinanzminister wichtige Dinge nicht im Kabinett, sondern anderswo besprechen und erörtern wird, ist nicht gegeben. ({0}) Zum anderen darf ich Ihnen aber einmal sagen, daß ich einen großen Unterschied darin sehe, ob man - was ich Ihnen jetzt sage, ist sehr theoretisch - beispielsweise ein Steuerentlastungsprogramm über Kredite finanziert oder ob man Konjunktur- und Arbeitsbeschaffungsprogramme, wie das zu Ihrer Regierungszeit sehr häufig passiert ist, über Kredite finanziert. ({1}) Hier liegt ein ganz, ganz wesentlicher Unterschied nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für unsere Bürger. Von daher würde ich das sehr, sehr differenziert bewerten, ohne jetzt eine abschließende Würdigung vornehmen zu wollen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Penner, Sie wollen eine Frage zu diesem Thema stellen? - Das kann ich noch zulassen.

Dr. Willfried Penner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, Sie haben gesagt, daß wesentliche Fragen des Zuständigkeitsbereichs eines Kabinettsmitglieds und damit auch des Bundesfinanzministers im Kabinett besprochen würden. Dürfen wir Ihrer Aussage entnehmen, daß eben diese Steuerentlastung, die ja ein wesentliches Thema ist, schon im Kabinett besprochen worden ist?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Nein, Herr Kollege Penner. Ich habe eben sehr deutlich gesagt, daß die Bundesregierung diesen Steuerschritt erst in der nächsten Legislaturperiode vornehmen will, daß jetzt Vorüberlegungen angestellt werden, daß in absehbarer Zeit auch ein Gremium eingesetzt wird, das sich sowohl von wissenschaftlicher als auch von politischer Seite mit diesem Thema befassen wird, und daß es von daher noch gar nicht der Zeitpunkt ist, sich mit dieser Materie nun im Kabinett zu befassen. Das bleibt einem späteren Zeitpunkt vorbehalten. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Letzte Frage im Rahmen dieser Regierungsbefragung, Frau Dr. Hamm-Brücher.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Kann die Bundesregierung die Zahlen bestätigen, die die Ausländerbeauftragte in ihrer Pressekonferenz genannt hat, nämlich daß 7 % der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland Ausländer sind, daß dieser Anteil sehr viel niedriger liegt als in europäischen Nachbarländern und daß so gesehen überhaupt kein Anlaß besteht, in politischen Auseinandersetzungen immer wieder von einer Überflutung und Unterwanderung der deutschen Bevölkerung zu sprechen?

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Spranger, bitte schön.

Carl Dieter Spranger (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002205

Frau Kollegin Dr. Hamm-Brücher, ich kann diese Zahlen und diese Wertungen jetzt nicht bestätigen. Wir werden das überprüfen und insbesondere auch zu analysieren haben, nach welcher Methode hier gerechnet worden ist. Die Bundesregierung wird dazu eine entsprechende Wertung abgeben. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, die Befragung der Bundesregierung ist nun beendet. Die dafür vorgesehene Zeit ist abgelaufen. ({0}) Ich danke den Beteiligten für die Mitwirkung. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, wir fahren mit der Fragestunde fort. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen - ({0}) - Formal, Herr Abgeordneter Jahn, haben Sie natürlich recht, aber die Fragerei geht weiter. ({1}) Also, dann eröffne ich ganz formal die Fragestunde ({2}) und rufe Punkt 2 der Tagesordnung auf: Fragestunde - Drucksache 11/4811 Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau braucht nicht aufgerufen zu werden, da der Abgeordnete Menzel schriftliche Beantwortung seiner Frage 1 erbeten hat. Ebenso hat der Abgeordnete Kirschner um schriftliche Beantwortung seiner Frage 2 - Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern - gebeten. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich kann somit auf den Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten überleiten. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Gallus zur Verfügung. Ich rufe die Frage 3 des Abgeordneten Klejdzinski auf : Teilt die Bundesregierung die vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V. vertretene Auffassung, daß der Einsatz von Pestiziden und Bioziden gefährliche Auswirkungen für die menschliche Gesundheit haben kann? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, die Bundesregierung teilt die vom Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland vertretene Auffassung nicht. Es wird zwar häufig behauptet, daß die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu einer Gesundheitsgefährdung führe. Dies hält aber einer Überprüfung nicht stand. Mir sind keine Fälle bekannt, in denen die bestimmungsgemäße und sachgerechte Anwendung von Pflanzenschutzmitteln zu Gesundheitsschäden geführt hätte. Wie bereits dem Ernährungsbericht 1984 entnommen werden kann, erwachsen aus der Anwendung von Pflanzenschutzmitteln in der Bundesrepublik Deutschland keine nennenswerten Rückstandsprobleme. Auch nach dem neuen Ernährungsbericht 1988 ist eine Gefährdung der Gesundheit des Verbrauchers durch Verzehr rückstandshaltiger Lebensmittel nicht zu erkennen. Der Verbraucher wird durch die bestehenden Regelungen auf der Ebene der Zulassung und der Rückstandskontrolle wirksam geschützt. Für die Zulassung, für die die zuständige Biologische Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft des Einvernehmens mit dem Bundesgesundheitsamt und dem Umweltbundesamt bedarf, wird sichergestellt, daß Pflanzenschutzmittel bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung keine schädlichen Auswirkungen insbesondere auf die Gesundheit von Mensch und Tier haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Klejdzinski.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, kann ich, wenn Ihnen nicht bekannt ist, daß Gesundheitsschädigungen eingetreten sind, davon ausgehen, daß Sie Beschwerden dieser Art bisher noch nicht nachgegangen sind?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Nein, das können Sie nicht. Ich habe Ihnen hier gesagt, daß der Ernährungsbericht eindeutig festgestellt hat - und ich nehme doch an, daß der von seriösen Professoren erstellt worden ist - , daß wir hier nichts zu befürchten haben, so wie die Lage in der Bundesrepublik Deutschland ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage? - Bitte schön.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich zumindest unterstellen, daß es auch nicht seriöse Professoren gibt und daß diese nicht seriösen Professoren im Grunde genommen genau das Gegenteil behaupten, worauf sich dann auch der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland bezieht?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Ich kann nicht feststellen, wer bei welchen Professoren Gutachten bestellt. Auf jeden Fall gilt für die Bundesregierung hier der Ernährungsbericht. Er hat schon zweimal, nämlich 1984 und 1988, das ausgewiesen, was ich Ihnen gesagt habe. ({0}) - Ich habe Sie nicht verstanden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das war eine scherzhafte Bemerkung des Abgeordneten Klejdzinski, keine zusätzliche Frage. Im übrigen hat der Herr Abgeordnete Jahn mit Recht darauf hingewiesen, daß wir eine Fragestunde und keine Unterstellungsstunde haben. ({0}) Das Wort zu einer weiteren Frage hat der Abgeordnete Reimann.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, da Sie hier sagten, daß der Bundesregierung nichts bekannt ist: Könnten Sie trotzdem einmal den wissenschaftlichen Hintergrund erhellen, wieso die Bundesregierung dazu kommt? Wenn Sie diese Frage jetzt nicht beantworten können, können Sie Ihre Antwort dann wenigstens hinterher schriftlich erteilen? Es geht um die Frage, woher Sie die wissenschaftlichen Erkenntnisse für Ihre Aussagen haben.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Der Ernährungsbericht steht jedem Abgeordneten zur Verfügung. Soweit ich weiß, hat ihn auch jeder Abgeordnete bekommen.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Daraus haben sich ja die Fragen ergeben, die Sie verneinen.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Nein. Die Fragen haben sich, soviel ich weiß, aus der Haltung des Bundes für Umwelt und Naturschutz ergeben.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Habe ich noch eine Frage?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nein, Herr Kollege Reimann. Es ist natürlich außerordentlich schwer festzustellen, was das Motiv für die Frage war. Weitere Zusatzfragen liegen nicht vor. Ich rufe die Frage 4 des Abgeordneten Klejdzinski auf: Teilt die Bundesregierung die Auffassung, daß der Einsatz von Pestiziden und Bioziden immer dann gesetzlich verboten werden sollte, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß nachteilige Auswirkungen für die menschliche Gesundheit vorliegen?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, die Bundesregierung nimmt an, die Frage geht dahin, ob der Einsatz von Pestiziden und Bioziden, also Pflanzenschutzmitteln, immer dann gesetzlich verboten werden sollte, wenn nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststeht, daß keine nachteiligen Auswirkungen für die menschliche Gesundheit vorliegen. Die richtige Fragestellung ist jedoch deshalb nicht relevant, da bereits im Vorlauf des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln, d. h. mit der Zulassung, bestimmte Anforderungen erfüllt werden müssen. Pflanzenschutzmittel müssen nach den Vorschriften des Pflanzenschutzgesetzes von der Biologischen Bundesanstalt für Land- und Forstwirtschaft amtlich geprüft und im Einvernehmen mit dem Bundesgesundheitsamt und dem Umweltbundesamt zugelassen sein, bevor sie in den Verkehr gebracht werden dürfen. Die Zulassung wird danach nur erteilt, wenn u. a. die Erfordernisse des Schutzes der Gesundheit von Mensch und Tier beim Verkehr mit gefährlichen Stoffen nicht entgegenstehen, daß Pflanzenschutzmittel bei bestimmungsgemäßer und sachgerechter Anwendung oder als Folge einer solchen Anwendung keine schädlichen Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier und auf das Grundwasser hat sowie keine sonstigen Auswirkungen insbesondere auf den Naturhaushalt, die nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht vertretbar sind. Was die Anwendung betrifft, sieht § 6 Abs. 1 des Pflanzenschutzgesetzes vor, daß Pflanzenschutzmittel nur nach guter fachlicher Praxis angewandt werden dürfen. Sie dürfen nicht angewandt werden, soweit der Anwender damit rechnen muß, daß ihre Anwendung schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier hat. Darüber hinaus wird durch die auf § 7 Abs. 1 des Pflanzenschutzgesetzes gestützte Pflanzenschutzanwendungsverordnung die Anwendung zahlreicher Pflanzenschutzmittel verboten oder beschränkt, soweit es zum Schutz der Gesundheit von Mensch und Tier erforderlich ist.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön, Herr Dr. Klejdzinski.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, haben Sie einmal im Laufe Ihrer langen parlamentarischen Erfahrung und auch in der Regierung festgestellt, daß irgendwann ein Arzneimittel oder ein Pflanzenschutzmittel zurückgezogen worden ist?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Ja, natürlich, Herr Kollege, und zwar dann, wenn Tatbestände aufgetreten sind, die man zum Zeitpunkt der Zulassung noch nicht erkennen konnte. Das wird solange geschehen, solange die Menschen nicht allwissend sind.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Dr. Karl Heinz Klejdzinski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001124, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, darf ich Ihnen die Allwissenheit unterstellen, weil Sie ja indirekt behaupten, daß bereits bei der Zulassung vom Grundsatz her so streng geprüft wird, daß das nicht eintreten kann, was ich meine, nämlich daß mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelegentlich feststellbar ist, daß in der einen oder anderen Produktlinie etwas auftritt, was inhaltlich noch nicht so eingegrenzt ist, bei dem es aber durchaus wahrscheinlich ist, daß es beispielsweise krebserregend ist.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Herr Kollege, zum Zeitpunkt der Zulassung unterliegt jedes Pflanzenschutzmittel diesen strengen Kriterien, die im Pflanzenschutzgesetz vorgegeben sind. Bei der Zulassung beteiligt sind neben der Biologischen Bundesanstalt das Bundesgesundheitsamt und das Umweltbundesamt. Wir können dabei nach menschlichem Ermessen nicht mehr tun, als im Augenblick der Zulassung auf Grund der jahrelangen Prüfungen festzustellen, ob ein Mittel nach diesen Erkenntnissen zugelassen werden kann oder nicht. Gleichzeitig darf ich Ihnen sagen, daß in keinem anderen Land Europas, wenn irgendwann nach der Zulassung, etwa einige Jahre später, ein neuer Tatbestand auftaucht, Pflanzenschutzmittel so schnell aus dem Verkehr gezogen werden wie bei uns.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Reimann, Sie wünschen eine Zusatzfrage? - Bitte.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist der Bundesregierung bekannt, daß Pflanzenschutzmittel - Herbizide, Pestizide - oder Arzneimittel allein schon deshalb nicht in Verkehr gebracht worden sind, weil das Bundesgesundheitsamt damit gedroht hat, die Zulassung zu verweigern? Hat die Bundesregierung Erkenntnisse darüber, daß solche Produkte dann von der Industrie zurückgezogen wurden?

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

In bezug auf ein spezielles Mittel kann ich Ihnen hier jetzt nicht dienen. Da müßte ich einmal bei der Biologischen Bundesanstalt bzw. dem Bundesgesundheitsamt nachfragen, ob das der Fall gewesen ist. ({0}) Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß das der Fall war, aber ich kann diese Frage im Augenblick nicht beantworten.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, eine Ausnahme: Könnte uns die Bundesregierung denn ihre Erkenntnisse mitteilen, wenn sie recherchiert hat?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wir betrachten das nicht als Frage, sondern als Anregung. Ich nehme an, das wird geschehen.

Georg Gallus (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000628

Ja, das werden wir tun.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gut, das haben wir vom Tisch. Damit, Herr Staatssekretär, sind Sie entlassen - in dieser Funktion. ({0}) Wir bedanken uns. Der Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung wird nicht aufgerufen, weil die Abgeordnete Frau Schmidt ({1}) die Fragen 5 und 6 schriftlich beantwortet haben will. Die Antworten werden als Anlage abgedruckt. Den Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit brauche ich ebenfalls nicht aufzurufen, weil der Abgeordnete Menzel für die Frage 7 und der Abgeordnete Dr. Daniels ({2}) für die Fragen 8 und 9 um schriftliche Beantwortung gebeten haben. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Damit komme ich zum Geschäftsbereich des Bundesministers für Forschung und Technologie. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Probst zur Verfügung. Ich rufe Frage 10 des Abgeordneten Schütz auf: Wie beurteilt die Bundesregierung die Pläne der niedersächsischen Landesregierung zur Umleitung des Bornbachs im Verhältnis zu dem für 1990 anstehenden Forschungsprogramm zur Erarbeitung ökologisch begründeter Sanierungspläne für bundesdeutsche Flüsse, insbesondere im Hinblick auf eine mögliche 30prozentige Beteiligung des Bundes an einer Sanierung der Hunte? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Herr Präsident! Herr Kollege Schütz, ich darf vielleicht beide Fragen im Zusammenhang beantworten, weil sie ja sachlich zusammengehören.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

In Ordnung, wenn der Fragesteller damit einverstanden ist. Dann rufe ich zusätzlich Frage 11 des Abgeordneten Schütz auf: Wie bewertet die Bundesregierung die Pläne der niedersächsischen Landesregierung im Hinblick auf eine Verringerung des Nährstoffeintrages in die Nordsee?

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Ich beantworte beide Fragen wie folgt: Die Hunte wurde im November 1988 von einem Sachverständigengremium zusammen mit vier weiteren Flüssen als möglicher Standort für die Durchführung eines Forschungsvorhabens ausgewählt, dessen Ziel darin besteht, modellhaft Sanierungskonzepte für Fließgewässer und ihre Einzugsgebiete unter Berücksichtigung ökosystemarer Zusammenhänge zu erarbeiten. Die Umsetzung der Forschungsergebnisse in Sanierungsmaßnahmen ist Aufgabe der Länder. Eine Beteiligung des Bundes an den Sanierungsmaßnahmen selbst wurde deshalb zu keiner Zeit in Aussicht gestellt. Bei der Ausschreibung des Forschungsvorhabens wurde auf die Mitwirkung von Gebietskörperschaften und Verbänden Wert gelegt, da nur diese über die zur Durchführung des Vorhabens notwendigen Umweltdaten und -informationen verfügen und hierdurch auch gewährleistet werden soll, daß die Ergebnisse später tatsächlich umgesetzt werden. Pläne zur Umleitung des Bornbaches und Daten, die eine Beurteilung der Auswirkungen einer solchen Maßnahme im Einzugsgebiet der Hunte selbst und hinsichtlich einer Verringerung des Nährstoffeintrags in die Nordsee zulassen, liegen der Bundesregierung deshalb auch nicht vor.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, hier geht es ja um die Frage, ob Forschungsmittel aus Ihrem Hause sinnvoll angewendet werden, wenn gleichzeitig auf Landesebene Maßnahmen durchgeführt oder zugelassen werden, die dazu eigentlich vollkommen kontradiktorisch laufen, weil dann nämlich wesentlich höhere Nährstofffrachten hineingehen, so daß das, was Sie bezuschussen, vollkommen zunichte gemacht wird. Ist das für Sie nicht ein Problem?

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Herr Kollege, wenn es wirklich so wäre, wie Sie es schildern, wäre es ein Problem, aber ich bezweifle, ob es so ist. Ich kann zu diesen Fragen hier keine Auskunft geben, weil die Einzelschritte auch für die Planung natürlich in der Zuständigkeit der Länder liegen, vor allem soweit es das sachliche Umfeld angeht. Sie müßten sich da an das Land Niedersachsen wenden.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verstehe ich Sie recht: Sie haben in dieser konkreten Frage beim Land überhaupt nicht nachgefragt?

Dr. Albert Probst (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001752

Diese Fragen prüft ein Sachverständigenkreis, der die Prüfung bis jetzt nicht abgeschlossen hat. Die Sanierung hat noch nicht begonnen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Sie haben also keine weiteren Zusatzfragen? - Danke schön. Die Frage 12 der Abgeordneten Frau Blunck, die Fragen 13 und 14 der Abgeordneten Frau Bulmahn sowie die Fragen 15 und 16 des Abgeordneten Dr. Rüttgers sollen auf Wunsch der Fragesteller schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Herr Parlamentarischer Staatssekretär, dann sind wir auch mit Ihrem Bereich fertig. Ich komme zum Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz. Hier steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn zur Verfügung. Ich rufe die Frage 22 des Abgeordneten Pfuhl auf: Ist es richtig, daß entgegen den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen von den rund 370 000 GmbH nur 7 % ihrer Publizitätspflicht bis 31. Dezember 1988 nachgekommen sind? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pfuhl, der Bundesregierung liegen derzeit keine zuverlässigen Zahlen darüber vor, wie viele Gesellschaften ihrer Offenlegungspflicht bis zum 31. Dezember 1988 nicht fristgemäß nachgekommen sind. Die in der Presse veröffentlichten Berichte, nach denen 93 % aller Gesellschaften mit beschränkter Haftung ihrer Publizitätspflicht bisher nicht fristgemäß nachgekommen sind, beruhen auf einer im Januar 1989 durchgeführten privaten Umfrage. Die Bundesregierung hat die Landesjustizverwaltungen angeschrieben und um Übermittlung genauer Angaben zu der Frage gebeten, wie viele Gesellschaften ihrer Offenlegungspflicht für Jahresabschlüsse mit Abschlußstichtagen vom 31. Dezember 1987 bis 30. Juni 1988 nicht nachgekommen sind. Es kann davon ausgegangen werden, daß im ersten Halbjahr 1989 noch viele Unternehmen ihre Offenlegungspflicht nachgeholt haben. Es dauert erfahrungsgemäß mehrere Jahre, bis neu eingeführte Pflichten von allen Betroffenen fristgemäß erfüllt werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter Pfuhl.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, steht die bisherige mangelnde Bereitschaft, den Pflichten nachzukommen, nicht in einem Zusammenhang damit, daß keine gesetzlichen Möglichkeiten bestehen, den einzelnen Betroffenen zu zwingen, dieser Verpflichtung nachzukommen?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Der Gesetzgeber hat damals die Antragsrechte genau festgelegt und ist von der Überlegung ausgegangen, daß es das Ziel der Publizitätspflicht sei, die Schutzbestimmungen zu koordinieren. Es gibt natürlich auch andere Mittel. Zum Beispiel gibt es die Möglichkeit, daß das Registergericht von Amts wegen tätig wird. Auch das war damals eine Überlegung. Man hat das aber nicht für erforderlich gehalten, weil die allgemeinen Regeln über kaufmännisches Verhalten und die sonstigen Sanktionen in ausreichendem Maße die Einhaltung der gesetzlichen Verpflichtungen gewährleisten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, an sich haben wir in diesem Zusammenhang die Frage 23 schon mit angesprochen. Herr Präsident, vielleicht wäre es richtig, wir würden dazu gleich die Antwort bekommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich bin mit dem Verfahren einverstanden. Allerdings hat der Abgeordnete Reimann noch eine Zusatzfrage.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich würde mich dem anschließen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann beantworten Sie, Herr Staatssekretär, zunächst die Frage 23. Herr Pfuhl, Sie behalten Ihre zusätzliche Zusatzfrage, und der Abgeordnete Reimann hat sich gemeldet. So haben wir eine klare Geschäftslage. Dann rufe ich die Frage 23 auf: Was gedenkt die Bundesregierung zu tun, um der Publizitätspflicht Nachdruck zu verleihen? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pfuhl, für den Fall der Nichtbefolgung der Offenlegungspflichten sieht das geltende Recht bereits hinreichende Sanktionen vor. Insbesondere kann nach § 335 HGB auf Antrag eines Gesellschafters, eines Gläubigers oder des Gesamtbetriebsrats oder, wenn ein solcher nicht besteht, des Betriebsrats gegen ein Mitglied des vertretungsberechtigten Organs der Kapitalgesellschaft vom Registergericht ein Zwangsgeld festgesetzt werden. Der Bundesregierung liegen noch keine Zahlen darüber vor, in wie vielen Fällen Anträge auf Einleitung eines Zwangsgeldverfahrens wegen Nichtbefolgung der Offenlegungspflichten gestellt worden sind. Die Landesjustizverwaltungen sind ebenfalls gebeten worden, auch hierzu Zahlenmaterial vorzulegen. Bei der Beurteilung der gegenwärtigen Situation muß auch berücksichtigt werden, daß die Kommission der Europäischen Gemeinschaften dem Rat den Vorschlag einer sogenannten Mittelstandsrichtlinie vorgelegt hat. Nach diesem Vorschlag, den die Bundesregierung unterstützt und der vom Europäischen Parlament in erster Lesung mit wenigen Änderungen gebilligt worden ist, kann eine große Anzahl der Gesellschaften mit beschränkter Haftung erwarten, daß sie von der Offenlegungspflicht ganz befreit wird oder daß ihr zumindest zusätzliche Erleichterungen eingeräumt werden. Es ist nicht auszuschließen, daß viele kleine und mittelgroße Gesellschaften mit beschränkter Haftung glauben, aus diesem Grunde stehe eine Änderung der §§. 325 ff. des Handelsgesetzbuchs über die Offenlegung unmittelbar bevor. Die Bundesregierung hat allerdings - das möchte ich ausdrücklich betonen - nachdrücklich darauf hingewiesen, daß bis zur Verabschiedung des Richtlinienvorschlags und der dann möglichen Änderungen des deutschen Rechts die Vorschriften des Bilanzrichtliniengesetzes auch beachtet werden müssen. Angesichts der dargestellten Situation sieht die Bundesregierung keine Veranlassung, die geltenden Vorschriften über Sanktionen wegen Nichtbefolgung der Offenlegungspflichten zu verschärfen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Herr Abgeordneter Pfuhl, bitte schön.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, der Gesetzgeber hat ja nicht allein den drei von Ihnen soeben aufgeführten Personenkreisen die Möglichkeit gegeben, zu intervenieren, wenn der Publizitätspflicht nicht Genüge getan wird, sondern der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, daß die Öffentlichkeit, insbesondere breite Kreise innerhalb der Wirtschaft ein berechtigtes Interesse daran haben, durch Veröffentlichungen - gerade größerer GmbHs - Kenntnisse zu erlangen. Ich frage Sie: Sind Sie meiner Meinung, daß die Bundesregierung hier etwas stärker eingreifen sollte und daß sie gerade die Landesjustizverwaltungen auf die Einhaltung der Publizitätspflicht ansprechen sollte?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pfuhl, ich habe Ihnen ja angekündigt, daß wir die Justizverwaltungen angeschrieben haben, um zunächst einmal den Tatbestand zu klären. Ferner habe ich soeben auf die Möglichkeiten hingewiesen, die in bezug auf die Sanktionen bereits bestehen. Ich kann noch weitere drei Fälle nennen: Die Löschung von Amts wegen kann unter bestimmten Fällen in Betracht kommen. Darüber hinaus kann mit dem Unterlassen der Hinterlegung § 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs verletzt sein, so daß auch hier Schadenersatzpflichten entstehen können. Schließlich müssen die Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes damit rechnen, daß sie nach § 826 BGB wegen sittenwidriger Schädigung in Anspruch genommen werden, wenn sie ihre Gläubiger nicht über die Finanz- und Ertragslage der Gesellschaft durch Offenlegung der Jahresabschlußunterlagen informiert haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Albert Pfuhl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001711, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie dann in der Lage und bereit, uns am Ende des Jahres auf Befragen hier erneut die notwendigen Auskünfte zu geben, die Sie zwischenzeitlich erhalten haben?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Herr Kollege Pfuhl, wir werden die Daten, die wir abgefragt haben, selbstverständlich auch bewerten. Wenn Sie es wünschen, werden wir Ihnen auch gerne das Ergebnis dazu mitteilen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Reimann, bitte sehr.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, nun wissen wir ja, daß die Publizitätspflicht dazu dient, bestimmte Personen vor Schaden zu bewahren; das ist schon angesprochen worden. In Anbetracht dessen, daß nur 7 % der rund 370 000 GmbHs ihrer Publizitätspflicht nachgekommen sind, frage ich Sie: Haben Sie Erkenntnisse darüber, wie viele dieser Unternehmen mittlerweile in Konkurs gegangen sind?

Gerhard Jahn (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001012

Solche Erkenntnisse liegen uns nicht vor. Ich möchte aber noch darauf hinweisen dürfen, daß das gesamte Problem, das heute hier erörtert wird, natürlich auch unter dem Blickwinkel der neuen EG-Richtlinien gesehen werden muß und daß wir auch dies mit in die Überlegungen einbeziehen wollen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär Dr. Jahn, wir bedanken uns, denn die Fragen 24 und 25 des Abgeordneten Dr. Hirsch möchten bitte schriftlich beantwortet werden. Die Fragen 26 des Herrn Abgeordneten Kirschner, 27 und 28 des Herrn Abgeordneten Uldall und 29 des Herrn Abgeordneten Stiegler brauchen nicht aufgerufen zu werden, da die Fragesteller um schriftliche Beantwortung gebeten haben. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe nunmehr den Geschäftsbereich des Bundesministers für Wirtschaft auf. Zur Beantwortung der Fragen steht uns Herr Staatssekretär Dr. Riedl zur Verfügung. Ich rufe Frage 30 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf: Gegen wie viele Firmen und gegen welche besteht derzeit Verdacht auf illegale Waffenexporte beziehungsweise unerlaubte Exporte chemischer oder atomarer Technologien?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident! Frau Abgeordnete, der Bundesregierung sind in neuerer Zeit 30 Fälle bekanntgeworden, in denen Außenwirtschaftsprüfungen oder Ermittlungsverfahren durchgeführt werden, um festzustellen, ob die betreffenden Firmen Vorschriften des Außenwirtschaftsgesetzes über Ausfuhrbeschränkungen einhalten bzw. gegen solche Vorschriften verstoßen haben. Davon sind elf Verfahren bei Staatsanwaltschaften anhängig. Außenwirtschaftsprüfungen setzen nicht den Verdacht einer strafbaren Handlung voraus, sondern können von der Verwaltung als Routinemaßnahmen oder aus besonderem Anlaß angeordnet werden. Bei den eingeleiteten Ermittlungsverfahren ist der Verdacht, daß Firmen außenwirtschaftsrechtliche Vorschriften tatsächlich verletzt haben, unterschiedlich stark, so daß sich die Bundesregierung nicht in der Lage sieht, die Firmen, die Gegenstand von Verwaltungsverfahren bzw. strafrechtlichen Ermittlungen sind, zu benennen. Dies könnte zu unverhältnismäßigen Schäden für die betroffenen Firmen führen, ohne daß feststeht, daß sich Verantwortliche dieser Unternehmen strafbar gemacht haben.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte sehr, Frau Dr. Hamm-Brücher.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, sind in diesen 30 Fällen die Verstöße über das Bundesamt für Wirtschaft in Eschborn gelaufen, und welche Entscheidungen sind dort getroffen worden? Für den Fall, daß Sie das jetzt nicht beantworten können, frage ich Sie, ob Sie mir das schriftlich beantworten können.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Frau Abgeordnete, ich gebe Ihnen das gern schriftlich, aber ich will schon vorweg sagen, daß ich natürlich nicht ausschließen kann, daß das auch Fälle sind, die über das Bundesamt gelaufen sind. Es gibt keine Schwerpunkte bei den betroffenen Bereichen. Die Ermittlungen beziehen sich auf sehr unterschiedliche Sachverhalte einschließlich der genannten. Hinzufügen möchte ich auch, daß sich die Ermittlungen nicht nur auf West-Ausfuhren, sondern auch auf Ost-Ausfuhren erstrekken.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte schön.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da es ja auch schon Verurteilungen wegen solcher illegalen Exporte gegeben hat, möchte ich den Herrn Staatssekretär gern fragen: Welche Konsequenzen hat die Bundesregierung eigentlich vor Rabta schon gezogen, um solche Verstöße zumindest - so sage ich einmal - zu erschweren?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Die Bundesregierung hat sich - genauso wie die sonstigen zuständigen Behörden des Bundes und der Länder - immer auf Informationen und Erkenntnisse bezogen, die ihr vorlagen. Wenn Sie einen besonderen Einzelfall haben, Frau Abgeordnete, bin ich gern bereit, in den Akten nachzusehen. Die Bundesregierung hält natürlich von sich aus keinen Fall zurück, sondern geht allen Hinweisen auf eine Rechtsverletzung nach. Das ist selbstverständlich. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Abgeordneter Gansel, Zusatzfrage.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Können Sie jetzt mitteilen oder Frau Hamm-Brücher oder mir schriftlich mitteilen, in wieviel Fällen die von Ihnen zitierten Ermittlungen durch das BAW bzw. durch Informationen der Bundesregierung ausgelöst worden sind und in wieviel Fällen die Staatsanwaltschaften auf Grund von Presseberichten tätig geworden sind?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, konkret werde ich Ihnen das genauso wie der Frau Abgeordneten Hamm-Brücher mitteilen. Die Palette ist sehr breit. Die Hinweise kommen zum Teil aus dem Bereich der Bundesregierung, aber zum Teil auch von anderen Behörden und aus dem Ausland. Ich werde Ihre Frage auf der Grundlage der Akten gern schriftlich beantworten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun rufe ich die Frage 31 der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher auf: Vizepräsident Cronenberg Welche rechtlichen, exekutiven und administrativen Konsequenzen gedenkt die Bundesregierung aus den zunehmenden Verstößen in den in Frage 30 bezeichneten Bereichen zu ziehen?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Die Bundesregierung hat am 15. Februar und am 15. März 1989 ein detailliertes Konzept zur Verschärfung des Außenwirtschaftsrechts beschlossen. Sie zieht damit die derzeit erkennbar notwendigen Konsequenzen aus den in den letzten Monaten bekanntgewordenen Vorgängen vollendeter oder versuchter Verbreitung gefährlicher Technologien in den bezeichneten Bereichen. Herr Präsident, Frau Abgeordnete, ich bin jetzt in einer etwas schwierigen Lage. Meine Antwort umfaßt vier Schreibmaschinenseiten. Ich müßte jetzt damit beginnen, vorzulesen, wie sich diese Verschärfungen im einzelnen darstellen. Wenn Sie das akzeptieren, würde ich Ihnen das aber auch gern schriftlich geben. Das ist eine detaillierte Aufzählung aller Maßnahmen im einzelnen. So könnten wir die Zeit besser für Zusatzfragen verwenden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Abgeordnete Hamm-Brücher ist damit einverstanden. - Dann können wir zu den Zusatzfragen kommen. Ich glaube, daß sie trotzdem sinnvoll sein können.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Staatssekretär. Zunächst wollte ich diese Fragen ja schriftlich beantwortet haben; aber wegen einer gewissen Aktualität habe ich rechtzeitig umgemeldet. Ich möchte jetzt gerne etwas fragen. Sie haben von den rechtlichen Konsequenzen gesprochen; meine Zusatzfrage bezieht sich auf die Konsequenzen in der Exekutive, weil zwischenzeitlich durch einen Bericht im „Spiegel" Vorwürfe gegen das Verhalten des Bundesamtes für Wirtschaft in Eschborn und die laxe Behandlung durch dieses lautgeworden sind. Darum würde ich Sie bitten, den Teil meiner Frage, der sich auf die Konsequenzen für die Administration bezieht, hier doch noch genauer zu beantworten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Staatssekretär.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident, Frau Abgeordnete, wir haben wie Sie diesen „Spiegel"-Bericht zur Kenntnis genommen und das getan, was selbstverständlich ist: Wir haben eine Prüfung eingeleitet, die feststellen soll, ob die Vorwürfe überhaupt richtig sind. Solange diese Ermittlungen nicht abgeschlossen sind, kann ich Ihnen beim besten Willen keine Auskunft geben, was es mit dieser Meldung auf sich hat. Wir werden aber unverzüglich insbesondere Sie als Fragesteller nach Vorliegen von Ermittlungsergebnissen gerne verständigen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfrage, bitte sehr.

Dr. Dr. h. c. Hildegard Hamm-Brücher (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000793, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Staatssekretär, es mußte Ihnen doch genau wie uns bekanntgewesen sein, daß Mitarbeiter dieses Bundesamtes schon vor dem Geschehen in Rabta immer wieder darauf hingewiesen haben, daß sie unter den damaligen personellen und sachlichen Bedingungen gar nicht imstande waren, die erforderliche Vorkontrolle für Exportgenehmigungen auch nur annähernd durchzuführen. Insofern trifft doch auch das Bundesministerium für Wirtschaft eine Mitverantwortung, daß eine Behörde tätig war, die schon lange vor den Skandalen gar nicht mehr imstande war, den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen. Dazu würde ich von Ihnen gerne einmal etwas hören.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Frau Abgeordnete, es ist ganz unbestritten, daß das Bundesamt für Wirtschaft personalmäßig unterausgestattet ist und daß das erforderliche Personal für detaillierte technische Prüfungen und Ermittlungen zum größten Teil nicht vorhanden war. ({0}) Die Bundesregierung hat deshalb in Abstimmung mit dem Bundesfinanzminister über den Nachtragshaushalt eine entsprechende Zahl von Stellen zur Verfügung gestellt. Ich möchte, Frau Abgeordnete, aber auch darauf hinweisen, daß wir beim Bundesamt für Wirtschaft nicht sozusagen als Vorhaltemaßnahme Stellen bereitstellen können, ohne daß ein entsprechender Aufgabenumfang erkennbar ist. Die Sachlage hat sich seit Rabta wesentlich verändert, und die Bundesregierung hat gehandelt und hat die Planstellen zur Verfügung. Sie werden es nicht glauben: Jetzt haben wir die Planstellen, suchen händeringend nach qualifiziertem Personal und bekommen dies nur ganz schwer. Selbst ganzseitige oder große Anzeigen in den Tageszeitungen motivieren angesichts der nicht berauschenden Bezahlung qualifizierte Kräfte nicht, sich auf solche Dienstposten zu begeben. Die Bundesregierung hat also auch bei der Personalbeschaffung in diesem Bereich erhebliche Schwierigkeiten.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Gansel, Sie wollen hierzu eine Zusatzfrage stellen? Bitte schön.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Beabsichtigt die Bundesregierung auch nach den Erfahrungen von Rabta an der Praxis festzuhalten, bei Hinweisen auf strafbare, illegale Rüstungsexporte nicht sofort die Staatsanwaltschaft einzuschalten, sondern bei den Firmen erst eine Außenwirtschaftsprüfung so wie im Fall von IK Lübeck oder Imhausen durchzuführen, was dazu führen kann, daß die Firmen vorgewarnt sind und Beweismittel beiseite schaffen können?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter Gansel, Sie wissen ja: Nach dem Kirchgang ist man meistens klüger als vorher. Wenn Fälle auf vagen Hinweisen und Vermutungen beruhen, ist es natürlich nur recht und billig, daß zunächst einmal eine Außenwirtschaftsprüfung eingeleitet wird. Der Gang zum Staatsanwalt natürlich setzt voraus, daß es handfeste Informationen bzw. Beweise gibt. Das ist ja in aller Regel nicht der Fall. Es ist durch die bisherige HandParl. Staatssekretär Dr. Riedl habung weder der deutschen Volkswirtschaft noch dem Gesetzgeber irgendein Schaden entstanden. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Keine Zusatzfrage mehr. Dann darf ich die Frage 34 des Abgeordneten Gansel aufrufen. Trifft es zu, daß gegen einen Regierungsdirektor a. D. und ehemaligen Referatsleiter beim Bundesamt für Wirtschaft ({0}), der auch bei den U-Boot-Geschäften mit Südafrika für die Firma Ingenieurkontor Lübeck ({1}) als Gutachter eingeschaltet war, im Zusammenhang mit neueren illegalen Rüstungsexporten staatsanwaltschaftliche Ermittlungen laufen, und welche Maßnahmen gedenkt die Bundesregierung gegen Beamte des BAW zu ergreifen, die während ihrer Dienstzeit Rüstungsexportkontrollen gegenüber antragstellenden Firmen durchzuführen haben, aber unmittelbar nach ihrer Dienstzeit dieselben Firmen dabei beraten, wie man Rüstungsexportkontrollen umgehen kann? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Präsident, Herr Abgeordneter, die Staatsanwaltschaft in Bielefeld hat bestätigt, daß sie Ermittlungen gegen einen ehemaligen Mitarbeiter des Bundesamtes für Wirtschaft, der bis Herbst 1985 im Bereich der Exportkontrollen tätig war, im Zusammenhang mit Ausfuhren für das irakische Projekt SAAD 16 eingeleitet hat. Im jetzigen Stadium läßt sich noch keine Aussage darüber treffen, ob und gegebenenfalls in welcher Art dienstrechtliche Maßnahmen gegen Beamte des BAW in Betracht kommen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine Zusatzfrage, bitte schön.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Trifft die „Spiegel"-Meldung zu, daß der fragliche Beamte vom Ministerium ein Verbot der Verwertung seiner dienstlichen Kenntnisse erhalten hat, nachdem er pensioniert wurde?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, davon ist mir nichts bekannt. Aber wenn Sie so konkret fragen, muß ich nachfragen. Ich weiß es nicht. Mir ist davon nichts bekannt. Ich muß da mal nachfragen. Wir haben hunderte Beamte. Ich schließe das nicht aus, aber ich kann Ihnen erst eine Antwort geben, wenn ich konkret nachgefragt habe. Sie bekommen die Antwort.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Dann bitte ich Sie, mir auch meine zweite Zusatzfrage schriftlich zu beantworten: Warum hat die Bundesregierung dann keine Maßnahmen gegen diesen Beamten ergriffen, nachdem sie bei den Vernehmungen des Untersuchungsausschusses, der unter dem Begriff ,,U-Boot-Ausschuß" läuft, durch ihre anwesenden Vertreter hat zur Kenntnis nehmen müssen, daß dieser fragliche Beamte, gegen den jetzt die Staatsanwaltschaft ermittelt, schon in der U-Boot-Affäre dem Ingenieurkontor Lübeck seine Kenntnisse zur Verfügung gestellt hat?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Herr Abgeordneter, ich weiß das nicht. Aber ich gehe mal grundsätzlich davon aus, daß die Beamten des Bundeswirtschaftsministeriums ihre Aufgaben und Pflichten nach Recht und Gesetz wahrnehmen und daß sie die Ermessensspielräume, die ihnen der Gesetzgeber und die Verwaltungen einräumen, mit einem hohen Maß von Verantwortungsbewußtsein ausüben. Ich habe etwas dagegen, Herr Abgeordneter, wenn man gleich mit dem Staatsanwalt über die Beamten herfällt, wenn irgendwo mal etwas steht. ({0}) Es gehört auch zur Fürsorgepflicht einer Behörde und zur sorgsamen Wahrnehmung der Möglichkeiten in einem Rechtsstaat, jedem eine faire und echte Chance zu geben. Das ist auch meine Auffassung von einer korrekten Amtsführung im Bundeswirtschaftsministerium. Ich unterstelle es Ihnen nicht, aber ich würde es strikt ablehnen, bei jeder Meldung eine Hexenjagd auf einen Beamten durchzuführen. Dafür stehe ich als Politiker und als Staatsbürger nicht zur Verfügung.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Eine weitere Zusatzfrage des Herrn Abgeordneten Jungmann. Bitte schön.

Horst Jungmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001047, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, stimmen Sie mit mir überein, daß es hier nicht um eine Hexenjagd, sondern darum geht, daß Tatsachen durch einen Untersuchungsausschuß bekanntgeworden sind, die auch dem Wirtschaftsministerium hätten bekannt sein müssen, daß ein ehemaliger Beamter des Bundesamtes für Wirtschaft Unternehmen beraten hat, die versucht haben, Gesetze zu umgehen, und ist es nicht auch so, daß jeder Beamte, auch wenn er pensioniert ist, die in seinem Dienst erworbenen Kenntnisse auch nach der Pensionierung nicht weitergeben darf?

Dr. Erich Riedl (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001843

Da es hierfür, Herr Abgeordneter, ganz klare Vorschriften gibt - im Beamtenrecht und durch die Rechtsprechung ist dies alles sehr genau festgelegt - , können Sie davon ausgehen. Ich werde Ihre Frage zum Anlaß nehmen, den zuständigen beamteten Staatssekretär zu bitten, dies alles noch einmal nachzuprüfen. Ich gehe davon aus, daß auch diese Antwort in die schriftliche Beantwortung Ihrer vorigen Frage mit einbezogen wird, Sie bekommen Bescheid.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bevor ich den Geschäftsbereich des Bundesministers für Verteidigung aufrufe, muß ich für das Protokoll noch festhalten, daß der Abgeordnete Hinsken um schriftliche Beantwortung seiner Fragen 32 und 33 bittet. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Ich rufe die Frage 35 des Abgeordneten Gansel auf: Wann hat die Bundesregierung gemäß Artikel 7 des deutschindischen Geheimschutzabkommens den Verdacht der unbefugten Preisgabe von Verschlußsachen, die durch das deutschindische Geheimschutzabkommen über den Bau von U-Booten des Typs 1500/1650 für Indien in der Bundesrepublik Deutschland geschützt sind, an die indische Regierung weitergeleitet, nachdem sie durch den Antrag der Kieler Staatsanwaltschaft auf Erteilung einer Ermächtigung zur Aufnahme von Ermittlungsmaßnahmen über einen solchen Verdacht informiert worden ist, und beabsichtigt die Bundesregierung, gemäß Artikel 7 des Geheimschutzabkommens Sicherheitsverstöße durch Gerichte verfolgen zu lassen? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Der Bundesminister der Verteidigung als Vertragspartner des genannten Geheimschutzabkommens hat bereits im Dezember 1985 auf diplomatischem Wege die indische Seite darüber unterrichtet, daß eine eingehende Überprüfung der Vorgänge keine Anhaltspunkte für einen Geheimnisverrat erbracht hat. Ob eine weitere Mitteilung nach Art. 7 des Geheimschutzabkommens an Indien erforderlich ist, kann erst nach Abschluß der derzeit laufenden Prüfung des Antrags der Kieler Staatsanwaltschaft entschieden werden. Die Ermächtigung zur Strafverfolgung ist Voraussetzung für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, bitte schön.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Trifft es zu, daß nach dem Wortlaut des deutsch-indischen Geheimschutzabkommens die Bundesregierung verpflichtet ist, der indischen Regierung Mitteilung zu machen, wenn es den Verdacht eines Verstoßes gegen das Geheimschutzabkommen gibt, und trifft es zu, daß in dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Kiel an die Bundesregierung vom April dieses Jahres ein solcher Anfangsverdacht bejaht worden ist und deshalb der Antrag auf Ermächtigung zur Aufnahme von Ermittlungen gestellt worden ist?

Not found (Staatssekretär:in)

Ich kann Ihnen, Herr Abgeordneter, sagen, daß der Bundesminister der Verteidigung nach dem mit der indischen Regierung abgeschlossenen Geheimschutzabkommen verpflichtet ist, eine eigene Bewertung dieses Tatbestandes durchzuführen, und zwar vor dem Hintergrund entsprechender staatsanwaltschaftlicher Anträge bzw. ihrer Einbeziehung in die eigenen Überlegungen. Wie jetzt exakt der Wortlaut des entsprechenden Antrags der Kieler Staatsanwaltschaft ist, kann ich Ihnen im Augenblick nicht sagen. Ich reiche das im Rahmen meiner Zuständigkeit, wenn sie gegeben sein sollte, gerne nach.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die zweite Zusatzfrage, wenn Sie sie wünschen, Herr Abgeordneter Gansel.

Norbert Gansel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000631, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß bei einer Ressortbesprechung der Bundesregierung über die Frage, ob diesem Antrag zur Aufnahme von Ermittlungshandlungen stattgegeben werden sollte, laut einer Aufzeichnung des Bundeswirtschaftsministeriums von Vertretern des Verteidigungsministeriums darauf hingewiesen worden ist - ich zitiere -, daß die mit einer Verweigerung der Ermächtigung zwangsläufig verbundene Durchbrechung des Legalitätsprinzips hingenommen werden kann, weil der Unrechtsgehalt der mit einer Weitergabe von VS-Sachen an Südafrika verbunden wäre, verhältnismäßig gering zu bewerten ist. ({0}) Billigen Sie diese unglaubliche Rechtsauffassung, und sind Sie dann auch bereit, der indischen Regierung mitzuteilen, daß Sie die Weitergabe von VS-Sachen über indische U-Boote an die südafrikanische Regierung als - ich zitiere - „verhältnismäßig gering ... bewerten"? ({1})

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege Gansel, das, was das Bundesministerium der Verteidigung macht und auf Dauer zu tun gedenkt, richtet sich nach Recht und Gesetz in diesem Lande, und das ist uns sehr wohl bekannt. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Bohl.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Staatssekretär, ist die Bundesregierung bereit, den Kollegen Gansel darauf hinzuweisen, daß seine Fragestellung irreführend ist, wenn er davon spricht, daß von der Kieler Staatsanwaltschaft ein Antrag auf Verfolgungsermächtigung gestellt wird, weil ja gerade die Kieler Staatsanwaltschaft im Februar dieses Jahres einen Anfangsverdacht ausdrücklich verneint hat?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weil Dreiecksfragen nicht erlaubt sind, streichen wir die Worte „den Abgeordneten Gansel darauf hinzuweisen" . Dann ist es formal in Ordnung. Und nun können Sie antworten.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Präsident! Herr Kollege Bohl, im Zusammenhang mit dem Kollegen Gansel wird die Bundesregierung jede Bemühung unternehmen. Ob es allerdings etwas hilft, liegt nicht in ihrem Ermessen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage des Abgeordneten Jungmann.

Horst Jungmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001047, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, sind Sie bereit, dem Hohen Hause mitzuteilen, daß der Antrag der Kieler Staatsanwaltschaft darauf beruht, daß seit dem letzten Jahr neue Dokumente aufgetaucht sind? ({0}) Zweitens. Sind Sie bereit, die Authentizität der Aufzeichnung des Wirtschaftsministeriums über die Aussagen des Verteidigungsministeriums, die der Kollege Gansel vorhin hier vorgetragen hat, zu bestätigen?

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege Jungmann, ich habe eben bereits darauf aufmerksam machen dürfen, daß hier das dem Bundesministerium der Verteidigung eigene Prüfungsverfahren läuft und noch nicht abgeschlossen ist, daß es aber in Kürze abgeschlossen sein wird. Das, was Gegenstand unserer internen Beratungen ist, wird erst nach Abschluß dieses Prüfverfahrens mitgeteilt werden können.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Jungmann, Sie können stehenbleiben, da der Abgeordnete Schreiner um die schriftliche Beantwortung der Fragen 36 und 37 gebeten hat - die Antworten werden als Anlagen abgedruckt - und ich somit Ihre Frage 38 aufrufen kann: Trifft es zu, daß der Erprobungsplatz Meldorfer Bucht der Bundeswehr auch zur Erprobung von Munition durch private Unternehmen genutzt wird, und wenn ja, mit welcher Begründung? Herr Staatssekretär, Sie haben das Wort.

Not found (Staatssekretär:in)

Herr Kollege Jungmann, die Bundeswehr selbst entwickelt kein Wehrmaterial. Deshalb führen Firmen im Auftrag der Bundeswehr Entwicklungen von wehrtechnischem Gerät und Untersuchungen im Rahmen des Forschungs- und Technologiekonzepts durch. Privatfirmen treten im Erprobungsgebiet Meldorfer Bucht nur im Auftrag und nur unter Aufsicht von Dienststellen des BMVg auf.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage. Bitte schön.

Horst Jungmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001047, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, wenn die Firmen dieses Gelände im Auftrag und unter Aufsicht des BMVg benutzen, dann ziehen sie aber aus dieser Benutzung einen wirtschaftlichen Nutzen. Läßt die Bundeswehr sich das bezahlen?

Not found (Staatssekretär:in)

Wie die Honorierung in diesem Zusammenhang ist und ob es überhaupt eine gibt, kann ich Ihnen im Augenblick nicht beantworten. Aber ich gehe der Frage gern nach und stelle Ihnen die Antwort zur Verfügung ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Weitere Zusatzfragen? - Nicht. Ich rufe die Frage 17 des Abgeordneten Jungmann ({0}) auf: Welche Stellen im Auswärtigen Amt und im Bundesministerium der Verteidigung sind mit der Vorbereitung bzw. Anmeldung des Besuches des amerikanischen Kriegsschiffes Iowa zur „Kieler Woche" befaßt worden?

Not found (Staatssekretär:in)

Die Stadt Kiel hat an die Vereinigten Staaten von Amerika eine Einladung zur Entsendung von Flotteneinheiten zur Kieler Woche ausgesprochen. Das Auswärtige Amt wurde über diese Einladung unterrichtet. Ich habe bereits in der letzten Fragestunde auf Anfragen hierzu die entsprechenden zeitlichen Überlegungen angesprochen. Am 10. März 1989 erfolgte die offizielle Anmeldung des Besuchs der Iowa entsprechend den internationalen Gepflogenheiten durch den Marineattaché der Vereinigten Staaten in Bonn beim Bundesministerium der Verteidigung. Das Bundesministerium der Verteidigung unterrichtete am 14. März 1989 über diese Besuchsanmeldung u. a. das Auswärtige Amt sowie alle an der Durchführung des Besuchs beteiligten Dienststellen des nachgeordneten Bereichs des Bundesministeriums der Verteidigung. Dazu gehören insbesondere die enger mit der Besuchsabwicklung befaßten, in Kiel ansässigen Dienststellen des Territorialkommandos Schleswig-Holstein und des Marineabschnittskommandos Ostsee sowie das Marinestützpunktkommando in Kiel. Mit gleichem Fernschreiben wurden übrigens auch die Stadt Kiel und die Landesvertretung Schleswig-Holsteins beim Bund über die Anmeldung der Iowa zur Kieler Woche unterrichtet. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage? - Das ist nicht der Fall. Die Fragen 39 und 40 des Abgeordneten Steiner werden auf Wunsch des Fragestellers schriftlich beantwortet. Die Antworten werden in der Anlage abgedruckt. Herr Staatssekretär, ich bedanke mich. Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf. Zur Beantwortung steht uns der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer zur Verfügung. Ich rufe die Frage 41 der Frau Abgeordneten Walz auf: Welche Erkenntnisse liegen der Bundesregierung über den Gesundheitszustand von Eltern, insbesondere von Müttern Behinderter, vor, die diese zu Hause betreuen, und wie beurteilt sie die physischen und psychischen Belastungen einer solchen Betreuung?

Anton Pfeifer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001703

Herr Präsident! Frau Kollegin Walz! Die Bundesregierung hat schon mehrfach betont, daß nach ihrer Einschätzung die seelischen und körperlichen Belastungen bei häuslicher Pflege pflegebedürftiger Angehöriger je nach Intensität der erforderlichen Pflege für die betroffenen Pflegepersonen hoch sind und bis über die Grenze der Belastbarkeit hinaus gehen können. Dies gilt namentlich auch bei der Pflege pflegebedürftiger Kinder. Bei einem vom Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in den Jahren 1984 bis 1987 geförderten Vorhaben über physische, psychische und soziale Belastungskonstellationen von Müttern genetisch kranker Kinder hat sich gezeigt, daß die aus der Geburt eines behinderten Kindes resultierenden physischen und psychischen Belastungen und das Bewältigungsverhalten der Mütter bzw. der Eltern zu einem wachsenden Problemdruck führen können. Im Anschluß an das Forschungsvorhaben wurde ein Handbuch erstellt, welches inzwischen ein wichtiges Hilfsmittel für Ärzte, Sozialarbeiter und andere Berufe des Gesundheits- und Sozialwesens geworden ist. Es kann darüber hinaus auch Betroffenen, die sich z. B. in Selbsthilfegruppen zusammenschließen, wichtige Informationen und Hilfen anbieten. Des weiteren möchte ich auf die Ausführungen im Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über die „Lage der Behinderten und die entwicklung der Rehabilitation" von 1989 verweisen. Hier wird konstatiert, daß die mit der Betreuung einhergehenden Belastungen physischer, psychischer und finanzieller Art oftmals auf einzelne Familienmitglieder konzentriert sind und durch Angebote an externen Hilfen aufgefangen oder wenigstens vermindert werden müssen, und zwar insbesondere durch den Ausbau ambulanter familienentlastender Dienste.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Walz? - Das ist nicht der Fall. Ich rufe die Frage 42 der Abgeordneten Frau Walz auf: Ist die Bundesregierung bereit, falls ihr keine diesbezüglichen Erkenntnisse vorliegen, ein Pilotprojekt bzw. eine Studie in Auftrag zu geben, mit dem Ziel zu untersuchen, welchen gesundheitlichen Belastungen Eltern - insbesondere die Mütter - behinderter Kinder unterliegen und welche materiellen und/oder finanziellen Hilfen nötig wären, sie bei der häuslichen Betreuung ihrer Kinder zu entlasten?

Anton Pfeifer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001703

Die Bundesregierung nimmt Ihre Frage, Frau Kollegin Walz, zum Anlaß, zu prüfen, ob über die in der Antwort auf die vorherige Frage genannte Studie hinaus die Notwendigkeit und die Möglichkeit einer weiteren Studie im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungs-Programms der Bundesregierung besteht und ob eine derartige Studie einem der zahlreichen Förderschwerpunkte dieses Programms zugeordnet werden kann. Zu den materiellen und finanziellen Hilfen stellt der in der Antwort auf die vorige Frage erwähnte Behindertenbericht fest, daß auch die finanzielle Situation von Familien mit behinderten Kindern vielfach durch besondere Belastungen geprägt ist. Die Bundesrepublik hat deshalb in dieser Legislaturperiode eine Reihe von Initiativen ergriffen, um diese Familien zu entlasten. Ich nenne beispielsweise das Gesundheits-Reformgesetz, das Steuerreformgesetz 1990, ({0}) den Gesetzentwurf für ein Rentenreformgesetz 1992. Welche weiteren Hilfen erforderlich und realisierbar sind, wird in der nächsten Legislaturperiode zu entscheiden sein. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Zusatzfrage, Frau Abgeordnete Walz? - Damit sind wir am Ende der Fragestunde. Für das Protokoll muß ich darauf hinweisen, daß die Fragen 43 und 44 der Abgeordneten Frau Würfel schriftlich beantwortet werden. Die Antworten werden als Anlagen abgedruckt. Die Frage 45 der Abgeordneten Frau Faße ist zurückgezogen. Nun sind wir endgültig am Ende der Fragestunde. Ich rufe den Zusatzpunkt 1 zur Tagesordnung auf: Aktuelle Stunde Die Fraktion der SPD hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem Thema Haltung der Bundesregierung zum Besuchsverkehr zwischen Berlin-West und Berlin-Ost sowie der DDR gestellt. Zunächst einmal hat der Regierende Bürgermeister das Wort. - Herr Bürgermeister. Momper, Regierender Bürgermeister von Berlin: Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bedaure es als Regierender Bürgermeister von Berlin, daß sich die Bundesregierung bislang öffentlich noch nicht zu den neuen Regelungen geäußert hat, die Berlin betreffen und die bei uns in der Stadt natürlich in der Diskussion sind. Ich bin der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses um so dankbarer dafür, daß Gelegenheit gegeben worden ist, daß sich nicht nur alle Fraktionen äußern können, sondern daß auch ich mich zu dieser Frage äußern kann und Gelegenheit habe, Ihnen das darzulegen, und daß vor allen Dingen auch die Bundesregierung Gelegenheit hat und, wie ich vermute, nehmen wird, sich zu diesen Fragen zu äußern. ({0}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, am vergangenen Montag bin ich zu einem ausführlichen Gedankenaustausch mit Erich Honecker in Ost-Berlin zusammengetroffen. Wie Sie wissen, hat dieses Gespräch wichtige Ergebnisse für die Verbesserung der Lage in und um Berlin erbracht. Es ist ein großer Schritt nach vorn, daß die Berlinerinnen und Berliner vom 1. August dieses Jahres an die Erlaubnis zur Einreise in die DDR und nach Ost-Berlin bei Tagesbesuchen direkt an den Grenzübergängen erhalten können, wenn sie im Besitz eines Mehrfachberechtigungsscheines sind. ({1}) Das ist die von den Berlinern so lange erwünschte Soforteinreise, die damit nach 28 Jahren, erstmals seit 1961, erreicht worden ist. Mit der neuen Regelung ist spontan und schnell ein Ausflug in das schöne Umland Berlins nunmehr fast - fast - so einfach und unbürokratisch möglich wie in Hamburg, in München oder auch in Frankfurt. Die DDR wird zudem die Möglichkeit zur Übernachtung bei Tagesbesuchen auf die Bezirke Potsdam und Frankfurt/Oder ausdehnen und eine Erweiterung auf den Bezirk Cottbus prüfen. Aufbauend auf den Vorarbeiten meines Vorgängers Eberhard Diepgen, der die Möglichkeit zur Übernachtung in Ost-Berlin erreicht hat, ist es mir nach fünf Jahren endlich gelungen, die Mängel der 1984 für den grenznahen Bereich zur Bundesrepublik vereinbarten sogenannten Jenninger-Regelung für Berlin endlich auszubügeln. ({2}) - Wissen Sie, Sie nehmen wahrscheinlich diese Möglichkeiten nicht wahr, weil Sie ohnedies nicht in die DDR oder nach Ost-Berlin fahren. Deshalb ist es für Sie natürlich keine Verbesserung. Aber für viele Berlinerinnen und Berliner, gerade ältere Menschen, die Regierender Bürgermeister Momper ({3}) bei ihren Verwandten in der DDR übernachten wollen, ist das schon eine große Erleichterung. ({4}) Das sollten Sie als Berliner Bundestagsabgeordneter einmal zur Kenntnis nehmen. ({5}) Das Gespräch mit Erich Honecker hat darüber hinaus die Bekräftigung des Ziels beider Seiten ergeben, daß die Kooperation zwischen beiden Seiten in den verschiedenen Bereichen ausgebaut wird. Das gilt für den Kulturaustausch, wo im Rahmen des Kulturabkommens konkrete Projekte für 1990 verabredet sind, ebenso wie für die kommunalpolitische Zusammenarbeit zwischen den Bezirken in beiden Teilen der Stadt. Das gilt für den wirtschaftlichen Austausch und auch für die Kooperation im Umweltschutz. Der neue Berliner Senat hat nach nur drei Monaten Amtszeit mit diesem Ergebnis einen großen berlinpolitischen Erfolg erzielt. ({6}) Das sechste Treffen eines Regierenden Bürgermeisters mit Erich Honecker seit 1983 zeugt von der stabilen Fortentwicklung der deutsch-deutschen Beziehungen, in die Berlin ({7}) voll einbezogen ist. Ich beabsichtige, derartige Gesprächskontakte kontinuierlich fortzusetzen und zu einer deutsch-deutschen Normalität werden zu lassen. ({8}) Das Gespräch auf Parteiebene, das die SPD und die Berliner Sozialdemokraten seit Jahren mit SED-Vertretern führen, ist dabei eine wertvolle Unterstützung, eine gute Vorbereitung und auch eine effektive Hilfe gewesen. ({9}) - Ja, auch die AL führt Gespräche mit der SED. Es kann nur von Nutzen sein, solche Informationen auszutauschen. Herr Kollege Schulze, Sie als Berliner wissen doch, daß es auch eine große Hilfe für die CDU wäre, wenn sie mal anfinge, solche Gespräche zu führen, und sich dann mit der anderen Seite auch direkt auszutauschen. Dies würde vielleicht auch bei Ihnen dazu führen, daß der eine oder andere den Stahlhelm lockerer schnallte und dann schlichtweg absetzte. Das würde Deutschland insgesamt zugute kommen. ({10}) Meine Damen und Herren, nicht erreicht werden konnte die von uns seit Jahren gewünschte Senkung des Mindestumtausches. Ich muß an dieser Stelle allerdings anmerken, daß unsere jahrelangen Bemühungen in dieser Frage durch den Beschluß der Bundesregierung, von polnischen Staatsbürgern bei der Einreise den Nachweis von 50 Mark ({11}) zu verlangen, praktisch torpediert worden sind - wir wurden damit argumentativ ausgehebelt -; denn Absicht und auch Wirkung dieser Regelung der Bundesregierung gegenüber den Polen ist es ja schließlich, eine finanzielle Barriere im Reiseverkehr zu errichten, und das ist auch der Zweck der DDR-Regelung. 50 DM sind - wenn Sie nachrechnen, dann werden Sie es feststellen - doppelt soviel wie 25 DM. ({12}) - Stimmt, nicht wahr? Danke schön. ({13}) - Sie müssen noch einmal nachrechnen. Nehmen Sie mal den Taschenrechner. Das ist richtig. ({14}) - Ihre Banknachbarin sagt sie Ihnen. Im übrigen hat die 50-DM-Regelung, die ja auf Grund der alliierten Vorbehalte in Berlin nicht gilt, dazu geführt, daß nunmehr eine Verdrängung des Reiseverkehrs der Polen in unsere Stadt hinein stattfindet. Das ist bei der Beschlußfassung der Bundesregierung offenbar nicht bedacht worden, vielleicht auch gar nicht bekannt gewesen. Überhaupt müssen wir mit Besorgnis registrieren, daß Berlin im Bewußtsein mancher Verantwortlicher in Bonn - nicht aller; Herrn Schäuble z. B. möchte ich ausdrücklich davon ausnehmen - weiter nach hinten gerückt worden ist, was uns besorgt macht. Keine andere Stadt ist von den großen Veränderungen im Verhältnis zwischen Ost und West, die sich angebahnt haben und die sich abzeichnen, so sehr berührt wie Berlin. Berlin bereitet sich intensiv darauf vor, seine Chancen in einem zusammenwachsenden Europa zu sichern und seine Funktion in einem künftigen europäischen Haus zu definieren. Europa endet nicht an der Elbe. Das gemeinsame europäische Haus wird alle Staaten Europas umfassen. Auf Dauer wird sich niemand in sein Zimmer einschließen können. In dem gemeinsamen Haus wird auch niemand in seinem Zimmer so randalieren können, wie er es will. Berlin ist der Ort der kürzesten Wege zwischen Ost und West. Berlin will aus seinem Standortnachteil einen Standortvorteil machen. Es will zu einem Scharnier für ein größeres Europa werden, zu einem Ort des Austausches und der Kooperation auf allen Feldern und auf allen Ebenen der Zusammenarbeit. Berlin muß in die deutsch-deutschen Beziehungen und in die Entspannung zwischen Ost und West voll einbezogen werden. Die Vorteile und Chancen unserer Stadt für die europäische Zusammenarbeit müssen offensiv eingebracht werden. Dies gilt für die Regelungen über einen deutsch-deutschen Luftverkehr, die Nutzen auch für Berlin bringen müssen, ebenso wie für Vorschläge, internationale Konferenzen z. B. im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozeß nach Berlin zu bringen, oder für die Perspektiven der Durchführung einer Olympiade in Ost- und West-Berlin im Jahre 2004. In all diesen Fragen sind berlinpolitisches Bewußtsein und berlinpolitische Kreativität gefordert. Verbesserungen in und um Berlin sind möglich, wenn unterhalb des Status der Stadt und bei strikter Einhaltung und voller Anwendung des Viermächteabkom11324 Regierender Bürgermeister Momper ({15}) mens beide Seiten eine Praxis etablieren, die die gewachsenen Realitäten respektiert, nämlich die Bindungen Berlins an den Bund auf der einen und die faktische Funktion Ost-Berlins als Sitz der DDR-Regierung auf der anderen Seite. Wir müssen in und um Berlin zu praktischen Regelungen kommen und uns jeglichen Dogmatismus und jeglichen Formalismus enthalten. Wesentliche Voraussetzungen sind eine Verbesserung des deutschdeutschen Verhältnisses und eine Abrüstungspolitik, die dazu beiträgt, daß die Deutschland- und die Ostpolitik auch wirklich vorankommen und alle Körbe des KSZE-Prozesses wirklich fortentwickelt werden. Wer den Kalten Krieg ablösen, wer ein Europa der durchlässigen Grenzen und der guten Nachbarschaft erreichen will, wird die Forderung nach neuem Denken nicht auf die Führer der kommunistischen Staaten begrenzen dürfen, sondern wird das auch für sich selbst gelten lassen und manche formelhafte Wiederholung - der Formel nach der Wiedervereinigung und nach einer Abschaffung der Grenzen - fallen lassen müssen, weil es den Menschen nicht dient und weil es uns nicht voranbringt. Neues Denken ist also auf allen Seiten gefordert. Wir wollen dieses neue Denken einsetzen für die Zukunft Berlins in Frieden und für eine gute Nachbarschaft Berlins mit der DDR sowie für eine gute Nachbarschaft und Frieden zwischen allen Staaten Europas. Das ist das Ziel der Politik des Senats von Berlin. Danke schön. ({16})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.

Peter Kittelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Fraktion freut sich mit den Berlinern über die praktischen Verbesserungen, die im Reise- und Besuchsverkehr ab dem 1. August 1989 gelten sollen. Diese Vereinbarungen stehen in unmittelbarer Kontinuität der erfolgreichen Politik Richard von Weizsäckers und vor allen Dingen Eberhard Diepgens gegenüber SED-Generalsekretär Honecker. Hier wurden gemeinsam mit der Bundesregierung die erfolgreichen Grundlagen für die jetzt bekanntgewordenen Regelungen gelegt. Ich freue mich, daß der Regierende Bürgermeister das eben auch anerkannt hat. ({0}) Prüfstein für eine uneingeschränkte Zustimmung bleiben für die Fraktion der CDU/CSU die Einhaltung des Status der Stadt und die Viermächtevereinbarung. Deshalb drückt die CDU/CSU-Fraktion ihre Genugtuung aus, daß sich der Regierende Bürgermeister von dem Vorhaben einer gemeinsamen Erklärung mit der DDR rechtzeitig zurückziehen ließ. Unsere Frage bleibt: Wie konnte es zu solcher Überlegung überhaupt kommen? Erhard Eppler hat bei der Gedenkfeier im Deutschen Bundestag am 17. Juni 1989 ausgeführt, daß geniale Diplomatie in Deutschland nicht die Regel sei. Hätte er zu diesem Zeitpunkt die gemeinsame Presseerklärung gekannt, hätte er diese bestimmt in seine Überlegungen einbezogen. Es beginnt schon mit der Einleitung, in der nicht klar ersichtlich ist, in welcher Eigenschaft Herr Momper diese Erklärung abgegeben hat; denn da heißt es: Der Regierende Bürgermeister Walter Momper - nicht: der Regierende Bürgermeister von Berlin -, Mitglied des Parteivorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands und Vorsitzender der SPD in Berlin ({1}): Wie immer: Es kommt gerade mit der DDR sehr auf die Details an. Darin sind wir uns sicherlich einig: Hier handelt es sich nicht um eine Fortsetzung der überflüssigen und fragwürdigen Kontakte der SPD mit der SED, sondern um Verhandlungen zwischen dem Senat von Berlin und der DDR mit hoffentlich sehr enger Kooperation mit der Bundesregierung. Apropos Stahlhelm, Herr Momper, worüber Sie sich ausgelassen haben: Sie hatten gerade im Gespräch mit Herrn Honecker ausreichend Gelegenheit, ihn ein bißchen von seiner Stahlhelmpolitik abzubringen. Es war überflüssig, daß Sie sich in diesem Zusammenhang mit der CDU/CSU beschäftigt haben. ({2}) Wir wissen, das rot-grüne Bündnis in Berlin hat sich schon in der kurzen Zeit seiner Existenz mit Hypotheken belastet, die seine deutschland- und berlinpolitische Glaubwürdigkeit erheblich in Frage stellen, sei es z. B. das schädliche und provozierende Vorgehen der Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses, Frau Schramm, die es abgelehnt hat, die Sitzungen des Berliner Abgeordnetenhauses mit folgenden Worten zu eröffnen: „Ich bekunde unseren unbeugsamen Willen, daß diese Mauer fallen und daß Deutschland mit seiner Hauptstadt Berlin in Frieden und Freiheit wiedervereinigt werden muß. " Was ist daran schädlich? War die Reaktion des linken Hügels Hilflosigkeit oder stilles Einvernehmen? Oder wie ist die Einstellung der Beteiligung der Finanzierung der Zentralen Erfassungsstelle von Menschenrechtsverletzungen der DDR in Salzgitter als einer der ersten Beschlüsse des neuen Senats zu werten ({3}) oder die Forderung der Alternativen Liste, den 17. Juni als Gedenktag abzuschaffen? Diese Verhaltensweise nimmt die DDR mit Wohlgefallen zur Kenntnis. Für uns sind dies deutliche Anzeichen für ein Verlassen der Gemeinsamkeit in Grundsatzfragen zumindest der Berliner SPD. Vieles in der gemeinsamen Presseerklärung ist nebulös und mißverständlich. Ich verweise z. B. auf die Passage über die „fortdauernde Zweistaatlichkeit", ohne daß Herr Momper den Standpunkt der deutschen Politik auf Überwindung dieses Zustands zum Ausdruck bringt. Ich darf ausdrücklich feststellen: Sowohl die Form als auch der Inhalt der gemeinsamen Presseerklärung, so fragwürdig sie überhaupt ist, können nicht in allen Formulierungen die Zustimmung der CDU/CSU-Fraktion finden. Auch die unverbindliKittelmann chen Formulierungen über den „vernachläßigten Sportverkehr" sind nicht gerade ermutigend. Zu dem untauglichen Versuch des Regierenden Bürgermeisters, die gemeinsame Olympiade in Berlin zum Gesprächsthema zu machen, hat Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, gestern folgende Worte gefunden: Wir haben die Idee „Olympische Spiele in beiden Teilen Berlins" mit großer Behutsamkeit und politischer Einfühlsamkeit verfolgt und werden das auch weiterhin tun. Leider hat der Regierende Bürgermeister Momper mich von der Absicht seines Alleingangs im Gespräch mit Staatschef Honecker nicht vorher verständigt. Das Ergebnis ist dann auch dementsprechend ausgefallen. ({4}) - Setzen Sie sich doch mit Herrn Daume auseinander, aber nicht mit mir. Die CDU/CSU erwartet vom Berliner Senat eine enge Kooperation mit der Bundesregierung in allen berlin- und deutschlandpolitischen Fragen. ({5}) Das wird sich als nützlich für unsere kommende Politik und vor allem für die Berliner Bürger erweisen. Schönen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Büchler.

Hans Büchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000294, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben eben den Einstieg der CDU gehört. Er war dürftig. Zu den Problemen und dem, was nun in Verhandlungen erreicht worden ist, Herr Kittelmann, haben Sie nichts gesagt. ({0}) Sie sind auf Nebenkriegsschauplätze ausgewichen, auf Fragen, die wir sicher morgen diskutieren können, aber nichts mit der heutigen Aktuellen Stunde zu tun haben. Ich möchte noch ein Wort zu Ihnen sagen, weil Sie Herrn Momper wegen des Vergleichs bezüglich des kleinen Grenzverkehrs kritisiert haben. Natürlich hatten wir, alle Obleute, die Zusage des damaligen Kanzleramtsministers, daß in Berlin dieselbe Regelung gelten wird, wie das nun beim kleinen Grenzverkehr geschehen ist. Infolgedessen hat der Regierende Bürgermeister recht und nicht Sie. Auch das muß klar sein. ({1}) Das haben Sie versäumt, jetzt wurde das nachgeholt. Wir haben diese Aktuelle Stunde beantragt, damit der Deutsche Bundestag Gelgenheit bekommt, sich mit der verbesserten Lage Berlins zu befassen. Wir wollen wissen, welche Haltung die Bundesregierung dazu einnimmt; sie ist bei diesem wichtigen Berlin-Thema leider recht spärlich anwesend. ({2}) Der Regierende Bürgermeister Walter Momper hat einen großartigen Erfolg erreicht, zu dem der Deutsche Bundestag und jeder, der es mit den Berlinern gut meint, ihm nur gratulieren kann, Herr Bürgermeister. ({3}) Sein Gespräch mit Erich Honecker ist ein großer Fortschritt in von uns allen gewünschten Teilen der Berlin-Politik, vor allem für die Berliner; das müssen wir doch sagen. ({4}) Dieses Ergebnis zeigt, wie unsinnig das Mißtrauen gegen den Berliner Senat war und ist. In zwei Aktuellen Stunden mußte sich der Deutsche Bundestag mit kleinkarierter Polemik gegen den Berliner Senat beschäftigen. Aus parteipolitischen Gründen wollten Sie diesem Senat Steine in den Weg werfen. Nichts anderes war das. ({5}) Das Mißtrauen war künstlich geschürt, wie Sie heute wohl feststellen können. Der Berliner Senat hat Ihnen das bewiesen. Ich denke, die destruktive Politik derer, die in Berlin in der Opposition sind, wird sich jetzt totlaufen. Gerade in der Berlin- und Deutschland-Politik hätte man sich ohnehin besser daran erinnert, daß die beiden von CDU und FDP gestellten Bürgermeister auf diesem Feld der Union vorausgewesen sind. Daraus ergibt sich wirklich eine Linie von der Politik Willy Brandts, der das Passierscheinabkommen aushandelte, über alle Bürgermeister der Stadt, über Dietrich Stobbe, Hand-Jochen Vogel, Richard von Weizsäcker, Eberhard Diepgen und Walter Momper, auf die wir jetzt alle zusammen aufbauen können. Das ist doch nicht bestritten. Wir sind in der Politik doch ehrlich. Wir sind doch keine Windmacher. ({6}) Niemand kann doch die Entbürokratisierung des Reiseverkehrs kritisieren, die jetzt stattfindet. Niemand kann Einwände gegen die Absicht erheben, dringende Fragen der kommunalen Umweltpolitik zu regeln. Niemand kann ernsthaft eine Förderung der Sportbeziehungen in Frage stellen, erst recht nicht, wenn sie ausdrücklich „im Rahmen der bestehenden Abkommen" stattfinden soll. Indem also Ausflüge und Wochenendfahrten bis an die polnische Grenze stattfinden können, ({7}) ist die Lebensqualität der Bürger in Berlin doch nun wirklich gestärkt worden. ({8}) Schritte hin zur Normalität, zur Vergleichbarkeit mit der Situation in anderen Großstädten werden endlich Büchler ({9}) unternommen. Das und nichts anderes ist doch für die Berliner wichtig. ({10}) Das fordern wir seit Jahren. Wir freuen uns, daß dies für die Berliner nun erreicht worden ist. ({11}) Der Kollege Lintner hat - genauso wie Sie, Herr Kittelmann - in der Öffentlichkeit wohl zu früh polemisiert und von der angeblichen Unzuverlässigkeit des rot-grünen Senats gesprochen und geschrieben. ({12}) Seine Warnungen waren von Anfang an nicht nur völlig unbegründet, sondern auch politisch schädlich. Das gilt auch für Ihre Einlassungen in der gemeinsamen Entschließung und gemeinsamen Presseerklärung. Besonnenere Stimmen in der Union haben rechtzeitig wieder das zurechtgerückt, was zurechtzurücken war. Wenn wir den Status Berlins und das Viermächteabkommen mit Geschick und Augenmaß im Interesse der Menschen gemeinsam ausloten und für praktische Fortschritte nutzen, können überflüssige Streitereien über diesen Status vermieden werden. Inzwischen begreift doch jeder, daß der Berlin-Status nicht als selbstauferlegte Fessel mißverstanden werden darf, sondern als Chance für Berlin genutzt werden muß. Das ist doch die neue Politik, die der Regierende Bürgermeister, Herr Momper, eingeleitet hat. Er hat Berlin ein Stück vorwärtsgebracht. Dafür bedanken wir uns recht herzlich. ({13})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine Fraktion hat die Abhaltung dieser Aktuellen Stunde aus zwei Gründen begrüßt. Der erste Grund war der, daß wir - in Erinnerung an das, was wir am vergangenen Sonnabend hier von Herrn Eppler gehört haben - hofften, die Gemeinsamkeit in der deutschen Frage in einer solchen Aktuellen Stunde bestätigt zu sehen. Ich hoffe, der Herr Regierende Bürgermeister wird es mir nicht verübeln, wenn ich an dieser Stelle sage: Der erste Teil Ihrer Ausführungen, Herr Bürgermeister, hat diese Hoffnung allerdings zumindest eingeschränkt. ({0}) Ich wäre sehr froh gewesen, wenn wir zu dieser Gemeinsamkeit heute ein absolutes Ja gesagt und damit auch deutlich gemacht hätten, ({1}) daß das, was Sie in Berlin erreicht haben und was ich im Interesse der Berliner uneingeschränkt begrüße, ({2}) auch Ausfluß einer jahrelangen, einer jahrzehntelangen Deutschlandpolitik ist, die wir von verschiedenen Seiten dieses Hauses her gemeinsam betrieben haben. ({3}) Ich wäre Ihnen dankbar gewesen, wenn das aus Ihren Worten etwas deutlicher herausgeklungen hätte. ({4}) - Ich wäre doch dankbar, wenn einem bei FünfMinuten-Beiträgen Gelegenheit gegeben würde, das, was man für nötig hält, im Zusammenhang zu sagen. ({5}) Das, was ich soeben gesagt habe, Herr Regierender Bürgermeister, ändert überhaupt nichts an dem zweiten Grund unserer Freude, dem Grund nämlich, uns darüber zu freuen, daß den Berlinern die Tür nach Ost-Berlin und in das Umland wiederum ein Stück weiter geöffnet worden ist. Ich gratuliere Ihnen vorbehaltlos dazu, daß dieser Schritt Ihnen als Regierendem Bürgermeister gelungen ist. ({6}) Das ist überhaupt nicht aus der Welt zu reden und soll auch nicht in irgendeiner Weise getrübt werden. Nur, eines sollte man auch in dieser Aktuellen Stunde nicht verschweigen - ich will versuchen, das an einem Beispiel aus einem Presseartikel deutlich zu machen - : In einer Tageszeitung ist der Bericht über die Erleichterungen für Besucher aus West-Berlin im Zusammenhang mit dem Vermerk „West-Berliner an der Mauer von Grenzsoldaten festgenommen" zu lesen. Von daher gesehen sage ich: Bei aller Freude über jeden Schritt, den wir auch in der Vergangenheit gemeinsam erreicht haben, bleibt die Betrübnis darüber, daß es an der Grenze und an der Mauer immer noch einen anachronistischen Zustand gibt. ({7}) Es ist überhaupt nicht zu bestreiten, daß dieser Zustand an der Grenze auch nach diesen Schritten immer noch verbesserungsbedürftig bleibt und daß wir auch für die Zukunft die gemeinsame Aufgabe haben, auf diesem Wege, den wir in der Vergangenheit beschritten haben und den Sie weiter gegangen sind, Herr Regierender Bürgermeister, weiter nach vorne zu gehen. Es ist insofern eine vielleicht auch ein wenig getrübte Freude, die wir mit den Berlinern teilen, daß ab dem 1. August erhebliche Erleichterungen an der Grenze eingeführt werden, auf die die Bürger der eingeschlossenen 2-Millionen-Stadt lange gewartet haben, auf die übrigens in der Vergangenheit auch Regierende Bürgermeister, Bundesregierungen und Fraktionen dieses Hauses gedrängt und sie gefordert haben. Es ist in diesem Zusammenhang vielleicht für den einen oder anderen nicht uninteressant, einmal die Erklärung des damaligen Staatsministers beim BunRonneburger deskanzler, Dr. Philipp Jenninger, vom 25. Juli 1984 und jene elf Punkte nachzulesen, die damals erreicht wurden. Vielleicht sollte der eine oder andere auch noch einmal aus dem Protokoll des Abgeordnetenhauses von Berlin - 81. Sitzung vom 22. September - den Bericht des damaligen Regierenden Bürgermeisters Diepgen über die Erfolge der Berlin- und Deutschlandpolitik nachlesen. Hier gibt es interessante Hinweise auf das, was gemeinsame Sache war und was - das sage ich im Rückblick auf die Rede von Herrn Eppler vom Sonnabend vergangener Woche - hoffentlich auch gemeinsame Sache zwischen dem Abgeordnetenhaus von Berlin, dem Bundestag und innerhalb dieses Hohen Hauses in Zukunft sein wird. Ich danke Ihnen. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Meneses Vogl.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Regierender Bürgermeister! Es ist erfreulich, daß es bereits innerhalb der ersten hundert Amtstage des rot-grünen Senats in Berlin zu ersten konkreten Vereinbarungen mit der Regierung der DDR gekommen ist. Darüber freut sich mit Sicherheit die große Mehrheit der Berliner. ({0}) Bei dem Treffen in Niederschönhausen haben der Regierende Bürgermeister und der DDR-Generalsekretär ein vereinfachtes Einreiseverfahren für West-Berliner in die DDR verabredet. Schon in wenigen Wochen wird es auch West-Berlinern möglich sein, auch in den angrenzenden DDR-Bezirken Potsdam und Frankfurt/Oder bei Tagesbesuchen zu übernachten. Auch die Hunde dürfen die West-Berliner bei ihren Besuchen in die DDR mitführen. Wie Sie vielleicht wissen, gehören die Abfallprodukte der Hunde zu einem der brisanten innenpolitischen Probleme in der Stadt. Ich hoffe, daß daraus nicht ein schwerwiegendes Exportproblem wird. ({1}) Ein Schritt in die richtige Richtung ist auch, daß die West-Berliner Bezirke Wedding, Kreuzberg und Reinickendorf mit den Stadtteilen Berlin-Mitte, Prenzlauer Berg und Pankow künftig enger und partnerschaftlich zusammenarbeiten können. Die GRÜNEN begrüßen die getroffenen Vereinbarungen nachdrücklich; denn zu dieser Politik des Dialogs gibt es keine Alternative. ({2}) Dabei wäre es aus meiner Sicht natürlich wünschenswert gewesen, wenn der Regierende Bürgermeister Momper auch in angemessener Weise von Vertretern meiner Partei, die bekanntlich Koalitionspartner in Berlin ist, begleitet worden wäre. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Der Besuch des Regierenden Bürgermeisters selbst und die erzielten Vereinbarungen mit der DDR bewegen sich immer noch auf dem schmalen Pfad der begrenzten Möglichkeiten und der möglichen Grenzen. Es ist ja noch immer nicht selbstverständlich, daß ein Regierender Bürgermeister zu Gesprächen in die DDR reist, sondern erst die Ausnahme. Die Alternative Liste hat sich immer zum Viermächtestatus von Berlin bekannt, auch wenn uns andere gern in eine andere Ecke drängen wollten. Die westlichen Alliierten hatten im übrigen offenbar viel weniger Probleme mit der rot-grünen Koalition als die dortige Opposition. Kaum war dieser Senat im Amt, hoben die Alliierten die Todesstrafe auf - eines von noch anderen Relikten aus der Besatzungszeit, die nicht mehr in unsere Gegenwart passen. ({3}) Andererseits bewegte sich der Besuch des Regierenden Bürgermeisters Momper noch zu sehr in der Kontinuität seiner Vorgänger Diepgen und Richard von Weizsäcker. Vorsichtig, nach meinem Ermessen allzu vorsichtig und behutsam, bewegte sich der Besuch in den eng abgesteckten Grenzen, die der Status dieser Stadt auferlegt. Er wurde nicht als Chance begriffen, die eigenen politischen Handlungsmöglichkeiten West-Berlins auf der Grundlage des Viermächteabkommens stärker auszuloten, als das in der Vergangenheit der Fall war. „Es gilt bei fortwährender Zweistaatlichkeit so viel an Zusammenarbeit wie möglich zu schaffen" heißt es in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung. Wenn ich von den noch vielen ungenutzten Chancen Berlins gesprochen habe, so möchte ich einige davon nennen. Es sind jetzt erst einmal weitere Verbesserungen bezüglich der unbürokratischeren DDR-Besuche von West-Berlinern erzielt worden. Ich hoffe, daß dies auch in umgekehrter Richtung fortgesetzt wird, ({4}) wobei ich die schon bisher erzielten Fortschritte nicht verkenne. Die West-Berliner dürfen künftig Hunde mitführen. Aber es ist nach wie vor nicht möglich, von West-Berlin aus eine Fahrradtour an den schönen Müggelsee zu unternehmen. Gespräche zwischen den entsprechenden Fachministerien der DDR und dem Senat von Berlin müssen in konkrete Vereinbarungen vor allem im Bereich des Umweltschutzes einmünden. Die Palette allein auf diesem Gebiet reicht von einem gemeinsamen Smog-Alarmplan über die Luftreinhaltung und den Gewässerschutz bis hin zum sensiblen Bereich der Müllentsorgung. Wir könnten bestimmt glaubwürdiger für eine Senkung des Zwangsumtausches eintreten, wenn nicht die Bundesregierung den Reisenden aus Polen eine Art „Sicherheitsgarantie" von 50 DM täglich auf erlegen würde. ({5}) Es gibt nach wie vor beträchtliche Defizite. Es genügt nicht, sich im Schloß Niederschönhausen höchst offiziell zu treffen - so notwendig und wichtig das auch ist -; wir müssen auch einen Zustand des Dialogs und der Kommunikation mit allen gesellschaftlichen Gruppen herbeiführen. ({6}) Es kommt nicht auf eine Neuregelung von Grenzen an, sondern auf mehr kulturelle, gesellschaftliche, politische und individuelle Begegnungen. Danke schön. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Frau Dr. Wilms, Bundesministerin für innerdeutsche Beziehungen.

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die praktischen Verbesserungen, die das Treffen zwischen dem Regierenden Bürgermeister von Berlin und dem SED-Generalsekretär erbracht hat. Herr Regierender Bürgermeister, es bedarf nicht Ihrer Aufforderung, das zu begrüßen, denn das ist etwas, was uns alle und ganz sicher alle Berliner und Berlinerinnen erfreut. ({0}) Das sind aber auch - das möchte ich doch noch einmal mit aller Deutlichkeit herausstellen - Erfolge, die seit langem grundgelegt wurden und die jetzt zur Geltung kommen, und zwar, wie ich sagen muß, leider zu spät zur Geltung kommen. Uns wäre es lieber gewesen, das wäre schon früher gekommen. ({1}) Begrüßenswert ist vor allen Dingen, daß im Reise- und Besucherverkehr bürokratische Hemmnisse abgebaut und weitere Gebiete für Tagesbesuche zugelassen werden. Gerade für diese Verbesserungen, die den Menschen in Berlin ganz unmittelbar zugute kommen, hat sich die Bundesregierung mit dem jeweiligen Berliner Senat seit langem eingesetzt. Unsere Genugtuung möchte ich auch im Hinblick auf die in Aussicht genommenen Bezirkspartnerschaften im geteilten Berlin und ebenso mit Blick auf die verstärkte Zusammenarbeit im kulturellen Bereich, zwischen den Universitäten, im örtlichen Umweltschutz und im Nahverkehr äußern. Aber ich befinde mich sicher auch in Übereinstimmung mit allen Berlinerinnen und Berlinern und auch, so denke ich, in Übereinstimmung mit dem Senat von Berlin, wenn ich sage, daß die jetzt erreichten Verbesserungen kein Ruhekissen sein dürfen. Sie müssen vielmehr Ansporn für alle Verantwortlichen sein, die Folgen der unmenschlichen Teilung Berlins für die Menschen weiter zu mildern, so gut es eben geht. Dazu gehört nicht zuletzt, die Bindungen Berlins zum Bund zu stärken und weiterzuentwickeln. Meine Damen und Herren, ich betone dies deshalb so deutlich, weil die östliche Seite ihre Absicht, den freien Teil Berlins als besondere politische Einheit zu behandeln, keineswegs aufgegeben hat. ({2}) Niemand sollte diesen Aspekt leichtfertig beiseiteschieben. Hier geht es auch nicht um Formelkram, sondern um die Existenzgrundlage des freien Berlin. Es wäre verhängnisvoll, wenn hier irgend etwas ins Rutschen käme. Den dann eintretenden Schaden könnten auch noch so viele praktische Erleichterungen nicht aufwiegen. ({3}) Eben deshalb strebt die Bundesregierung für Berlin ebenso wie für die innerdeutschen Beziehungen insgesamt praktische Fortschritte an, ohne sich in Grundsatzfragen etwas abhandeln zu lassen. ({4}) Diese Politik, die Festigkeit und Stabilität miteinander verbindet, war bisher außerordentlich erfolgreich, Frau Kollegin. Vielen Dank, daß Sie mir das gerade bestätigt haben. Es liegt nicht zuletzt im Berliner Interesse, daß sie fortgesetzt wird. Unter diesem Aspekt erscheinen mir manche Aussagen und Formulierungen in der Presseerklärung des Berliner Senats nicht eindeutig genug und lassen Fragen laut werden: Kann man z. B. die Teilung Europas darauf reduzieren, daß sich hier lediglich zwei Militärblöcke gegenüberstehen? Dies würde den eigentlichen Grund der Teilung, nämlich die Unvereinbarkeit der politischen und gesellschaftlichen Systeme in Ost und West, vernebeln. Es geht doch nicht primär darum, die Militärblöcke zu überwinden, sondern es muß vorrangig unser Ziel sein, die Prinzipien der Freiheit, der Menschenrechte und der Selbstbestimmung in ganz Europa zur Geltung zu bringen. ({5}) So fordert es übrigens auch der KSZE-Prozeß, dem die DDR zugestimmt hat. ({6}) - Es ist zumindest sehr wichtig, Frau Kollegin, falls Ihnen das noch nicht bewußt ist. ({7}) Lassen Sie mich noch etwas anderes sagen: Eigentlich sollten wir alle uns darin einig sein, daß wir auf deutschem Boden soviel wie möglich an Zusammenarbeit schaffen, und zwar trotz noch andauernder Zweistaatlichkeit und nicht bei fortdauernder Zweistaatlichkeit. Denn Formulierungen, die praktisch auf eine Bestandsgarantie der deutschen Teilung hinauslaufen, sind auch mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker - wie es übrigens vor wenigen Tagen in der Gemeinsamen Erklärung der Bundesregierung und der Regierung der Sowjetunion bekräftigt wurde - gewiß nicht zu vereinbaren. Die Bundesregierung bleibt auch künftig bemüht, die Interessen Berlins zu vertreten und nach Kräften zu fördern. - Ich sage das, Herr Regierender Bürgermeister, obwohl Sie eben Ihre Ausführungen nicht so besonders freundlich begonnen haben. - Wir sind auch bemüht, dies in enger Abstimmung mit dem Berliner Senat und den drei Schutzmächten zu tun. Die Bundesregierung nimmt ihre Pflicht, die Außenvertretung Berlins im Rahmen der alliierten Zustimmung wahrzunehmen, sehr ernst. Dieses Engagement für Berlin ist allerdings keine Einbahnstraße; dies sage ich mit allem Nachdruck. Um wirkungsvoll und erfolgreich zu sein, bedarf es der gegenseitigen Abstimmung und der vertrauensvollen Zusammenarbeit. Wir sind dazu bereit, zum Wohle Berlins und der Berliner. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Herr Professor Heimann.

Prof. Gerhard Heimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000845, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Bundesministerin, Ihre Erklärung hier, daß Sie die Ergebnisse begrüßen, kommt spät, aber es ist gut, daß sie gekommen ist. ({0}) Denn es ist wichtig, daß Bundesregierung und Senat im Interesse Berlins in dieser Frage übereinstimmen. Von den vielen positiven Ergebnissen des Gesprächs möchte ich nur eines hervorheben: Ich weiß nicht, ob sich die Bürger der Bundesrepublik wirklich vorstellen können, was es für einen Berliner bedeutet, an einem schönen Sonntagmorgen aufzuwachen, sich spontan zu entschließen, mit seiner Familie nach Sanssouci, Rheinsberg oder in den Spreewald zu fahren und dieses alles sofort realisieren zu können, ohne wochenlange Vorausplanung und tagelanges Warten auf einen Passierschein. Wenn dieses einmal erreicht sein würde, so habe ich jahrzehntelang argumentiert, sei der eigentliche Durchbruch gelungen, um der Mauer wenigstens in einer Richtung ihren trennenden Charakter zu nehmen. Ich muß offen gestehen, ich habe nicht geglaubt, daß das so schnell gehen würde. Aber nun hat es Walter Momper, der Regierende Bürgermeister von Berlin, tatsächlich erreicht. Noch gestern abend berichtete mir Günter Gaus, die Forderung, Passierscheine unmittelbar an der Grenze empfangen zu können, sei schon 1974 in einer insgesamt 24 Punkte umfassenden Wunschliste von ihm aufgenommen worden. So lange also mußte verhandelt werden. Otto-Jörg Weis formuliert heute in seinem Kommentar in der „Frankfurter Rundschau", um der Bedeutung des Vorgangs gerecht zu werden: „Das alte Europa lebt immer noch. " - Genau das ist es. Auch in und um Berlin ist das Zeitalter vorbei, in dem Europa an den Grenzen endete, die die Siegermächte und der Ost-West-Konflikt geschaffen haben. Je mehr die DDR die Hand zur guten Nachbarschaft reicht und je weniger wir sie zurückweisen, desto weniger wird die fortdauernde Zweistaatlichkeit ein Problem für uns alle sein, desto größer wird der Beitrag der Deutschen zur Stabilität in Zentraleuropa werden. In einer Zeit, in der westliche Politiker - besonders die, die weit weg vom Schuß sind -, gern auf spektakuläre Weise die Beseitigung der Mauer fordern, verdient folgendes hervorgehoben und besonders gewürdigt zu werden: Die DDR-Führung hat offenbar den Zusammenhang von Öffnung ihrer Grenzen und einer neu zu schaffenden und zu definierenden Stabilität in ganz Europa begriffen. Es ist auch eine sehr persönliche Leistung, wenn der, der die Verantwortung beim Bau trug, die Mauer nun nach einem langen politischen Lebensweg Stück für Stück noch selbst abzutragen beginnt. Wie anders, so frage ich, soll es denn überhaupt gehen, wenn wir Wandel u n d Stabilität aufrichtig wollen? Der Vorgang hat aber auch in einer weiteren Hinsicht exemplarischen Charakter. Die Herstellung von Normalität, die jede große Stadt im Verhältnis zu ihrem Umland braucht, kann, bezogen auf Berlin-West und DDR, im Grunde nur von den Deutschen selbst geleistet werden. ({1}) Das war schon so, als Willy Brandt und Egon Bahr die Passierscheinverhandlungen begannen. Gewiß, die Anwesenheit der Drei Mächte in Berlin-West ist unverzichtbar, und am Status von Berlin darf nicht gerüttelt werden, solange für Berlin-West im Rahmen einer dauerhaften europäischen Friedensordnung keine andere, die Freiheit und Lebensfähigkeit gleichermaßen garantierende Lösung in Sicht ist. Das alles ist richtig, aber es ist auch richtig, daß es eine europäische Friedenslösung für Berlin, die nicht mehr auf Besatzungsrecht beruht, nie geben wird, wenn nicht irgendwann mit der Konstruktion der einzelnen Elemente einer solchen Friedensordnung begonnen wird, ({2}) ob Öffnung der Grenzen oder Luftverkehr, ob wirtschaftliche Kooperation oder kultureller Austausch, bei aller Würdigung der fortbestehenden Verantwortung der Vier Mächte für Berlin: Ohne eine vorausgehende Verständigung unter den Deutschen geht in Wahrheit nichts mehr. Wäre nicht in jahrelangen Gesprächen zwischen der SPD und der SED unter den handelnden Personen ein gegenseitiges Vertrauen über die Motive des anderen gewachsen und eine Bereitschaft, unterschiedliche Rechtspositionen, die fortbestehen, nicht zu Stolpersteinen werden zu lassen, dann hätte der Regierende Bürgermeister von Berlin nicht mit diesen Ergebnissen aus Niederschönhausen zurückkehren können. ({3}) Solche Gespräche müssen daher auch in Zukunft stattfinden. ({4}) Keine Partei in der Bundesrepublik ließe sich im übrigen von irgend jemandem vorschreiben, mit wem sie spricht und ob sie spricht. Etwas ganz anderes ist es, wenn mögliche Ergebnisse aus solchen Gesprächen in die staatliche Ebene gehoben und verwirk11330 licht werden sollen. Dann allerdings müssen die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten für Berlin genau beachtet, dann muß sorgfältig konsultiert und darf der Status nicht verletzt werden. Auf diesem Feld hat sich der Regierende Bürgermeister Walter Momper von keinem seiner Vorgänger, ob Richard von Weizsäcker oder Eberhard Diepgen, übertreffen lassen. Wer es genauer weiß, wird eher zu dem Schluß kommen: Noch nie seit den Passierscheinverhandlungen der 60er Jahre ist so genau unterrichtet und konsultiert worden wie diesmal. Dieser Senat weiß nicht nur, was er will, sondern er beherrscht auch sein Handwerkszeug. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Schulze ({0}).

Gerhard Schulze (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002109, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gott schütze das Handwerk! Das möchte ich grundsätzlich einmal sagen. ({0}) Das muß nicht unbedingt auf den Regierenden Bürgermeister zutreffen. ({1}) - Das ehrbare Handwerk; das kann man hier noch besonders betonen. Ich sage das als engagierter Mittelständler auch besonders gerne. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Treffen des Regierenden Bürgermeisters mit Erich Honecker und die von der DDR zugesicherten Verbesserungen für uns Berliner sind selbstverständlich grundsätzlich zu begrüßen, insbesondere was die Verbesserung der Reise- und Besuchsmöglichkeiten für die Bürger in Berlin ({2}) angeht. Das dient dem besseren Zusammenleben mit den Menschen im anderen Teile Deutschlands und Berlins und ist der Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit förderlich. Der Bundesregierung ist dafür zu danken, daß sie sich in engagierter Weise immer wieder für Berlin eingesetzt hat und die Interessen Berlins in vorbildlicher und zukunftsweisender Weise wahrnimmt. Seit dem Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik im September 1987 haben sich nicht nur die Beziehungen zwischen beiden Staaten in Deutschland, sondern auch innerhalb Berlins langsam, aber ständig verbessert. Dazu hat nicht zuletzt auch besonders die mit der Bundesregierung abgestimmte Deutschland- und Berlinpolitik unter Berücksichtigung der Statusfragen des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen beigetragen. Als Beispiele nenne ich einige Vereinbarungen, die zwischen beiden Staaten in Deutschland abgeschlossen worden sind und deren Auswirkungen für Berlin von besonderer Bedeutung sind. Im Bereich des Umweltschutzes hat die DDR im Februar 1988 zugesagt, erstmals die Emissionsdaten der zu errichtenden Sondermüllverbrennungsanlage in Schöneiche zu übermitteln. Für Ostberlin, so muß man feststellen, war dies leider noch nicht erreichbar. Nach der Vereinbarung im Kommuniqué vom September 1987, eine Schnellbahnverbindung zwischen Berlin und dem übrigen Bundesgebiet zu schaffen, sind inzwischen im September 1988 Verhandlungen aufgenommen worden. Ein Baubeginn sollte auch positive Wirkungen für die Berliner Bauwirtschaft haben. Meine Damen und Herren, der im September 1987 zwischen dem Bundeskanzler Kohl und dem Staatsratsvorsitzenden Honecker im gemeinsamen Kommuniqué geplante Stromverbund ist inzwischen durch entsprechende Vereinbarungen im März 1988 abgesichert. Allein der neue Senat verhindert eine schnelle Vollendung des Stromverbundes. Wir haben uns in der vergangenen Sitzung darüber speziell unterhalten. ({3}) Zwischen 1987 und jetzt ist eine erhebliche Anzahl von für die Berliner positiven Vereinbarungen mit der DDR über den Besuchs- und Reiseverkehr erreicht worden. ({4}) Ich darf auch darauf hinweisen, daß es kürzlich auf Initiative der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch ermöglicht wurde, für den Wohnungsbau in Berlin noch eine besondere Förderungsmaßnahme zu erreichen. ({5}) Besonders hervorheben möchte ich auch, daß ab Februar 1988 die Bewohner Westberlins erstmals bis zu 10mal im Jahr mit einem Tagesvisum eine Nacht im Ostteil der Stadt verbringen können und erst bis 24 Uhr des folgenden Tages wieder in den Westen zurückgekehrt sein müssen. Das zeigt aber auch, daß das an sich zu begrüßende jetzt erzielte Ergebnis von der Bundesregierung im Einvernehmen mit dem vorherigen Senat sowie mit unseren Schutzmächten eine gründliche Vorbereitung erfahren hat. Die jetzt erzielten Fortschritte sind Zeichen einer begrüßenswerten Kontinuität der seit mehreren Jahren geführten Gespräche mit der DDR. Meine Damen und Herren, es ist allen Berlinern, aber auch den übrigen Bürgern in beiden Staaten in Deutschland zu wünschen, daß der Senat von Berlin auch künftig Verbesserungen für Berlin und seine Bewohner zu erreichen versucht. Bei der Verwirklichung praktischer Politik zugunsten Berlins kann der Senat auch weiterhin mit der Unterstützung durch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion rechnen. Wir sind der Meinung: Gemeinsames Handeln der demokratischen Parteien in Lebensfragen unserer Stadt ist geboten. Herr Kollege Heimann, wir beide haben ja noch mit den Berlin-Anträgen zu tun - dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP und Ihrem Antrag, dem Antrag der SPD-Fraktion - , und wir sind immer noch der Meinung - ich hoffe, daß wir das auch erreichen - , daß wir hierbei zu einem gemeinsamen AnSchulze ({6}) trag für das Haus kommen können; das ist jedenfalls unsere Zielsetzung. ({7}) Ich bin auch mit dem von Ihnen geleisteten Redebeitrag, von einigen Passagen abgesehen, einverstanden und hatte so den Eindruck, daß Sie selbst noch zur Gemeinsamkeit hinstreben. ({8}) - Aber fair. ({9}) - Aus mir hat jetzt nicht der Geist Epplers gestrahlt, sondern das ist meine innere Einstellung, die ich, so glaube ich, in der jahrzehntelangen Tätigkeit bisher auch immer gezeigt habe. ({10}) Ich bin immer für Gemeinsamkeit, wenn es geht, wenn die Grundsätze dabei nicht verletzt werden. Meine Damen und Herren, leider ist es unter anderem dem Regierenden Bürgermeister nicht gelungen, Erfolge beim Abbau der Finanzmauer durch eine Verminderung des Zwangsumtauschs zu erzielen. Hierbei gibt es einen Nachholbedarf. Unser Ziel muß es selbstverständlich sein, daß die Mauer verschwindet. Die Mauer muß also weg. ({11}) Ich möchte zum Schluß kommen. Bei allen erzielten Verbesserungen für die Menschen in unserer Stadt besteht sicher kein Anlaß zum Jubeln, sondern eher zu der Verpflichtung, hier alles Erdenkliche zu tun, um insbesondere auch die Lebensverhältnisse unserer Landsleute in der DDR zu verbessern. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird auch weiterhin um ein deutliches Mehr an Austausch von Menschen, Informationen und Meinungen im Interesse der Menschen in beiden Teilen Deutschlands bemüht bleiben. Dabei kommt der Ausweitung des Reise- und Besucherverkehrs sowie dem angestrebten Tourismus mit der DDR eine besondere Bedeutung zu. Ich möchte gerade als Kreuzberger mit einbeziehen, daß auch die Bezirkspartnerschaften einen Beitrag dazu leisten können. Nur wenn wir politisch so tätig werden, läßt sich die Teilung Deutschlands leichter überwinden. Ich danke Ihnen. ({12})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Meneses Vogl.

Not found (Mitglied des Bundestages)

, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte an meine vorherigen Ausführungen anknüpfen. Ich habe darauf verwiesen, daß es in Europa nicht auf eine Neuregelung von Grenzen ankommt, sondern auf den kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Dialog auf allen Ebenen. In der rot-grünen Koalitionsvereinbarung ist von einer „fortwährenden Zweistaatlichkeit" die Rede, also von der Anerkennung zweier deutscher Staaten. In einer sich verändernden und dem fortwährenden Wandel unterworfenen weltpolitischen Konstellation - ich verweise hier nur auf die Veränderungen in Ungarn, Polen und in der Sowjetunion - wird sich unweigerlich auch die sogenannte deutsche Frage zuspitzen. Es hat sich in den Diskussionen der letzten Wochen ja bereits gezeigt, daß die sogenannte deutsche Frage ein Spiel mit dem Feuer ist. Das sogenannte Offenhalten eben dieser Frage wird nicht nur in Osteuropa mit Argwohn und Mißtrauen verfolgt, sondern auch kein westeuropäischer Nachbar - auch nicht die USA - ist an einem historisch überholten starken deutschen Nationalstaat interessiert. Es wäre also endlich an der Zeit, den territorialen Status quo und damit die DDR anzuerkennen; denn nicht, meine Damen und Herren, das sogenannte Offenhalten der deutschen Frage führt zu gesellschaftlichen Reformprozessen in Europa, sondern das gern zitierte „gemeinsame europäische Haus" wird kräftig durchlüftet werden, bei dem niemand sein Fenster auf Dauer geschlossen halten kann. Die Vereinbarungen zwischen der DDR und dem amtierenden rot-grünen Senat sind hoffentlich ein erster positiver Schritt. Ich hoffe, daß immer noch bestehende hartnäckige Widerstände gegen das selbstbewußtere Auftreten West-Berlins am besten dadurch abgebaut werden können, daß weitere positive Abkommen folgen. Danke schön. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Gespräch des Regierenden Bürgermeisters von Berlin mit dem Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, hat erfreuliche weitere Erleichterungen für die Menschen im geteilten Berlin gebracht. Für die Bundesrepublik sind die verabredeten Gespräche auf Fachebene von besonderer und überregionaler Bedeutung. Sie sollen auf der Grundlage der entsprechenden innerdeutschen Abkommen unter Mitwirkung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in der DDR vom WestBerliner Senat geführt werden. Man wird gespannt sein dürfen, mit welchen Akzenten z. B. die geplante Kulturwoche der DDR in West-Berlin versehen sein wird. Will der neue Berliner Senat den West-Berliner Bürgern Anschauungsunterricht über die in der DDR herrschenden, staatlich sanktionierten kulturellen Anschauungen, z. B. durch exemplarische Ausstellungen und Dichterlesungen, vermitteln, oder soll einer solchen ideologisch bestimmten und daher ehrlichen Selbstdarstellung der DDR durch die Präsentation von unverfänglichen Rückgriffen auf Historisches eher aus dem Weg gegangen werden, etwa durch eine der künstlerisch hochstehenden Inszenierungen oder musikalischen Interpretationen klassischer Werke? Man wird diese Frage mit um so größerer Berechtigung stellen und Herrn Momper zu besonderer Aufmerksamkeit empfehlen dürfen, ais wenige Tage vor dem Besuch Herrn Mompers nicht irgend jemand, sondern die Volksbildungsministerin, Margot Honekker, in Anwesenheit ihres Ehemannes, also des Gesprächspartners von Herrn Momper, auf dem 9. Pädagogischen Kongreß in Ost-Berlin höchst bemerkenswerte kulturpolitische Aussagen gemacht hat. Die Zeitungen in West-Berlin und in der Bundesrepublik berichteten ausführlich darüber. Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, daß Frau Honecker als öffentlichen Kurs der Kulturpolitik der DDR verkündet hat, daß es demagogisches Geschwätz sei, wenn von einem, wie sie sagt, pluralistischen humanen und modernen Sozialismus gesprochen werde, also von jener Form des Sozialismus, den Gorbatschow zur Zeit intendiert. Stabilisierung, nicht Umgestaltung des in der DDR herrschenden Systems ist nach Frau Honecker die Aufgabe der DDR-Politik. Zur Zeit seien, so betont sie, alle dem Sozialismus feindlichen Kräfte auf den Plan getreten, um ihm zu schaden. Die Aufgabe der Bildungs- und Kulturpolitik müsse es dementsprechend sein, der Jugend den Blick für die Feinde des Sozialismus zu öffnen. Kinder dürften nicht, so Frau Honecker, in der Illusion aufwachsen, es gebe keine Feinde mehr in dieser Welt, der Klassenkampf sei beseitigt, und der Friede könne sich ungehindert ausbreiten. Sie war es, die vor wenigen Tagen jene in vielen Zeitungen wörtlich zitierten Sätze sprach, die auch ich hier - mit Erlaubnis der Frau Präsidentin - wörtlich zitieren will: Unsere Zeit ist eine kämpferische Zeit. Sie braucht eine Jugend, die kämpfen kann, die den Sozialismus stärken hilft, die für ihn eintritt, die ihn verteidigt, mit Wort und Tat und, wenn nötig, mit der Waffe in der Hand. Soweit das Zitat. ({0}) - Einen kleinen Moment, ich komme gleich darauf. Wer denkt bei solchen Worten nicht an China, an die chinesischen Studentinnen und Studenten, die es nicht wahrhaben wollten, daß der Freiheitwille eines Volkes durch sozialistische Regime immer noch, trotz aller unverkennbaren Fortschritte in anderen sozialistischen Ländern, mit Waffengewalt unterdrückt wird. Es waren kulturell führende Kräfte in China, die diesem Pogrom anheimfielen. Wird auch Frau Honecker eines Tages gegen kulturell führende Kräfte der DDR, gegen ihr als Bildungsministerin besonders anvertraute Menschen also, Panzer zur Hilfe rufen wollen? ({1}) Haben Sie, Herr Regierender Bürgermeister von Berlin, der Sie in der großen, die Freiheit bewahrenden Tradition eines Ernst Reuter stehen, auch diese Kulturfragen vor diesem Hintergrund bei der Planung kultureller Veranstaltungen und Besuche angesprochen? Wir alle werden gut daran tun, diese Worte Frau Honeckers nicht im politischen Tagesgeschehen zu vergessen, sondern die darin mitschwingende Warnung ernst zu nehmen. Unsere Politik muß darauf gerichtet sein, für alle kulturell tätigen Menschen in der DDR mehr persönliche Freiheit und vom politischen Regime unabhängige kulturelle Entfaltungsmöglichkeiten zu erwirken. Dazu sollten auch die neuen Besuchsregelungen beitragen, und ich glaube, Herr Regierender Bürgermeister und meine Damen und Herren, darin sind wir uns alle einig. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir Sozialdemokraten begrüßen die getroffenen Verabredungen, und wir begrüßen auch die Vereinbarung einer Kulturwoche der DDR in West-Berlin, ({0}) egal, wer daran teilnimmt und sich den kritischen Blicken und kritischen Fragen der West-Berliner aussetzt. Nur, Frau Honecker wird es nicht sein, Frau Kollegin; sie ist drüben Schulministerin, und die Kultur liegt in einem anderen Ressort. Insofern habe ich mich über Ihre Abweichung von dem heutigen Thema gewundert, so sehr ich Ihr Befremden über die Äußerung der Volksbildungsministerin teile. ({1}) Ich möchte einen kurzen Rückblick auf die Vorgeschichte des jetzigen Treffens und seiner Verabredung machen, zumal auf die Viermächtevereinbarung über Berlin vom September 1972 und die neue Ost- und Deutschlandpolitik der damaligen Bundesregierung, die diese Vereinbarung ermöglicht hat. Das alles hat sich als wichtige, tragfähige und ergiebige Grundlage einer gedeihlichen Entwicklung für Berlin erwiesen. Heute wissen wir das. Damals war das Berlin-Abkommen nicht weniger umstritten als die Ostpolitik im ganzen. „Ich schäme mich, in Berlin werden die Flaggen eingezogen" , kommentierte Franz Josef Strauß im September 1972 das Berlin-Abkommen. Diese Auffassung hat sich als falsch erwiesen. Keine Flagge ist eingezogen worden. Lebenswichtige Positinen für die Existenz und Zukunft der Stadt wurden nicht geräumt; sie wurden gestärkt und ergänzt. Wie die Ost- und Deutschlandpolitik insgesamt, so war auch die Berlin-Politik notwendig und richtig. Was wir heute in dieser Debatte mit Zustimmung betrachten können, gehört zu ihren Früchten. Die Politik des langen Atems, der geduldigen Verständigung über immer neue Verbesserungen und Fortschritte ist ein weiteres Mal bestätigt worden. Wer die kleinen Schritte geringschätzt, wer ungeduldig nach dem großen Durchbruch fragt, sollte sich zumindest einmal vor Augen halten, was allein in den letzten 17 Jahren erreicht werden konnte - für die Berliner so gut wie für die anderen Deutschen in beiden Staaten. Da ist ein Stück deutscher Einheit LebensDr. Schmude wirklichkeit geworden, die täglich erfahren wird und auf Ausweitung angelegt ist. Meine Damen und Herren, für uns ist klar, daß West-Berlin, ohne von Bonn aus regiert zu werden, zur Bundesrepublik Deutschland gehört. ({2}) Übrigens sind diese Zugehörigkeit und der besondere Status durch die Absprachen nicht berührt worden, und sie sollten auch nicht berührt werden. Den Plan eines gemeinsamen Papiers mit der DDR hat es nicht gegeben, Herr Kittelmann. Wir werden weiterhin darauf drängen, daß die Zusammengehörigkeit durch die Sowjetunion und andere Staaten des Warschauer Paktes angemessen berücksichtigt wird. Wenn Nikolai Portugalow Anfang Juni im „Spiegel" erklärte, es seien für die Einbeziehung West-Berlins in das sowjetisch-bundesdeutsche Verhältnis - wie er sagt - „pragmatische Lösungen ohne Prinzipienreiterei nur noch eine Frage der Zeit" , dann bitten wir dringend darum, daß diese Zeit jetzt abläuft. Die Vorbehalte und kleinlichen Verwahrungen, auf die wir treffen, wenn es etwa um die Tätigkeit der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in OstBerlin in Angelegenheiten West-Berlins geht, machen uns unruhig und besorgt. ({3}) Freilich, die sichtbare Pflege und Stärkung der Zusammengehörigkeit ist vor allem uns in der Bundesrepublik anvertraut. Auch kleine Versäumnisse können da Signalwirkung haben, zumal wenn sie kleinlich und demonstrativ angelegt sind. Im Klartext: Daß ein Regierender Bürgermeister von Berlin von einem Besuch des amerikanischen Präsidenten in Bonn ausgeschlossen wird, darf sich nicht wiederholen, egal wer in Bonn und egal wer in Berlin regiert. ({4}) Meine Damen und Herren, die verabredeten Ansätze für eine Zusammenarbeit in wichtigen Sachfragen ermöglichen einen wichtigen Zuwachs an Mittler- und Brückenfunktionen Berlins. Daß beide Teile Deutschlands zusammenwachsen, und zwar im Rahmen eines Zusammenwachsens Europas, wie es Erhard Eppler hier vor einigen Tagen formuliert hat, das gilt auch für beide Teile Berlins. Wir haben auf diesem Weg einen weiteren wichtigen Fortschritt zu verzeichnen. Der Weg bleibt richtig. Ausdauer und Kraft sind für ihn weiterhin nötig. Vielen Dank. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Werner.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wer Berlin kennt - Herr Mom-per kennt Berlin -, weiß um die Vielzahl von Vernetzungen im Versorgungs-, im Entsorgungs- und im Kommunikationsbereich. Das sind Dinge, die die Lebensvoraussetzungen und die Überlebensfähigkeit der Stadt garantieren und die auf eine gute Nachbarschaft und Zusammenarbeit mit der DDR zwingend angewiesen sind. Deswegen, glaube ich, ist es richtig, daß man den von Ihnen ausgehandelten Vereinbarungen und Verabredungen uneingeschränkt Beifall zollt. Denn jeder praktische Schritt in Richtung auf mehr Kooperation und Sicherung der Überlebensfähigkeit Berlins ist zu begrüßen. Ich glaube, es muß aber deutlicher gemacht werden als bisher - Herr Momper, Sie haben dies angedeutet, um der Wahrheit die Ehre zu geben -, daß Sie sich hier natürlich selber in einer bestimmten Tradition von Weizsäcker und Diepgen sehen. Sie kennen natürlich sehr wohl die bisherigen Bemühungen der Bundesregierung, die ja in engster Kooperation mit dem Senat von Berlin in den vergangenen Jahren in diese Richtung gearbeitet hat. Es ist also, meinen wir, ein Erfolg für alle Berliner, der hier durch gemeinsame Arbeit erreicht wurde. Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, daß man nach 100 Tagen besonders stolz ist, wenn man etwas in die Scheuer fahren kann, was andere teilweise mit gesät haben. Aber so ist es in der Politik. Ich möchte allerdings vor dem Hintergrund bestimmter Ausführungen, die Sie gemacht haben, noch einmal auf einzelne Gefahren hinweisen. Sie sagten, Herr Momper, man müsse sich von Formalismus und Dogmatismus verabschieden. Sie haben recht, wenn Sie damit einfach stetes wehleidiges Klagen meinen, daß man des Rechtes wegen nichts tun dürfe. Sie haben allerdings unrecht, wenn Sie damit meinen sollten, daß man nicht in besonderer Weise, gerade wenn es sich um Berlin handelt, in engster Abstimmung mit den Alliierten und der Bundesregierung vorangehen sollte, um jede Irritation, die den Status von Berlin als Ganzem verändern oder auch nur tangieren könnte, zu vermeiden. Ich meine, es war auch nicht ganz glücklich, daß Sie sich zweimal auf die fortdauernde Zweistaatlichkeit - Peter Kittelmann hat es schon angesprochen - haben festlegen lassen. Nun wissen wir alle: Die DDR ist als Staat in Deutschland anerkannt. Aber wir wissen auch, daß die DDR ganz bestimmte Intentionen mit derartigen Formeln verfolgt, daß sie genau einen bestimmten Formalismus eben auch dem Inhalt ihrer Politik zugeordnet hat. Und deswegen sollten wir mit allen Äußerungen vorsichtig sein, die die DDR als eine Bekräftigung auslegen könnte. ({0}) Ich glaube es war Kollege Ronneburger, der auf ein frappierendes Defizit ihrer Ausführungen, Herr Momper, hingewiesen hat. Sie haben leider nichts zu den bedauerlichen Vorgängen an der Mauer gesagt, zu dem Protest der Alliierten, zu dem, was wir immer noch alle miteinander an Übergriffen an der Mauer und an der Grenze zwischen Ost und West zu beklagen haben. Ich möchte mich hier eigentlich auch an die Adresse von Hans Büchler wenden und sagen: Lieber Kollege Büchler, ich finde es bedauerlich, wenn Sie die von uns sowohl hier als auch teilweise in Berlin vorgetragene Kritik - und es muß erlaubt sein, daß auch wir Werner ({1}) teilweise anderes und mehr erwartet haben und wünschen würden - als destruktive Politik darlegen. ({2}) Ich finde, das ist falsch. Destruktion wird von der CDU weder in Berlin noch hier in Sachen Berlin- und Deutschlandpolitik betrieben. Im Gegenteil. Sie werden uns stets an ihrer Seite haben, wenn es um die Verbesserung der Situation Berlins geht. Es wurde der Bahnverkehr nach Hannover genannt. Es wurde ein Luftdrehkreuz Berlin genannt. Es wurde erwähnt, KSZE-Tagungen nach Berlin zu bringen. Der Gedanke einer Olympiade in Ost- und West-Berlin ist in die Diskussion gekommen. Das sind Dinge, die wir gern in der Diskussion mit gestalten und mit vertreten wollen, weil sie insgesamt Berlin und Berlins Lage verbessern. Deswegen möchte ich anfügen, daß es natürlich bestimmte Irritationen gibt, die Sie, Herr Momper, bitte aus dem Weg räumen mögen. Ich erinnere an die leidige Diskussion über die Akademie der Wissenschaften oder die Standortfrage des Deutschen Historischen Museums und an andere Dinge, die Sie in Berlin doch gar nicht notwendig haben. Deswegen meinen wir, daß wir alle miteinander in der Tat zur Gemeinsamkeit finden müssen. Was Berlin anlangt, vermag ich Ihnen zu versichern, daß Sie die Gemeinsamkeit, die die Berliner brauchen und wünschen, auf seiten der CDU/CSU finden. Vielen Dank. ({3})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Seit der Osterpause - manche werden sagen: seit der Bildung des rot-grünen Senats in Berlin - haben wir uns in mehreren Aktuellen Stunden mit Berlin, mit politischen Vorgängen und Entwicklungen in der Stadt auseinandersetzen müssen. ({0}) Ich erinnere an die kritische Auseinandersetzung mit den Gewalttätigkeiten in Kreuzberg und Neukölln in der Nacht zum 1. Mai. Ich erinnere an die Bedrohung der Wissenschaftsfreiheit durch Schließung der Akademie der Wissenschaften und an den energiepolitischen Leichtsinn des Spiels mit dem Energieverbund. Ich habe da kritisiert, was zu kritisieren war. Um so mehr freue ich mich, daß heute Gelegenheit zur Diskussion eines Berliner Themas ist, das den Menschen in dieser Stadt und damit der Situation in Deutschland Fortschritte bringt. Wir haben festzustellen, daß wohl nur die „taz" sich dazu hat hinreißen lassen, die Ergebnisse „kleinkariert" zu nennen. ({1}) Wir können miteinander feststellen, daß das, was hier erreicht worden ist, ein guter Fortschritt für die Menschen in Berlin, aber auch für die Situation in Deutschland ist. Wir werden uns die Einzelheiten des umfangreichen Katalogs, der in den Zeitungen schon abgedruckt ist, noch genau angucken. Wir werden das wichtigste Ergebnis immer wieder hervorheben müssen: die Verbesserungen der Möglichkeiten, Ost-Berlin und die DDR zu besuchen. Die können nur begrüßt werden. Wir wollen nicht vergessen, daß diese Wünsche seit fünfzehn Jahren auf der Tagesordnung deutsch-deutscher Gespräche standen. Günter Gaus hat das, lieber Herr Heimann, nicht nur Ihnen gestern unter vier Augen gesagt, sondern schon gestern morgen im WDR weltweit verkündet. ({2}) Meine Damen und Herren, ich bewerte Ergebnisse von Verhandlungen nicht danach, wer sie erzielt hat, sondern danach, für wen sie etwas bringen. ({3}) Was hier erreicht worden ist, ist das Ergebnis langen Bohrens dicker Bretter. Niemand sollte so tun, als hätte Rot/Grün mit einem Schlag erreicht, worum frühere Regierungen in Bonn und frühere Senate in Berlin gerungen haben. Herr Büchler, nehmen wir den Dietrich Stobbe und den Klaus Schütz in die Bemühungen mit hinein. ({4}) - Sie hatten bei Vogel abgebrochen, wie mein Gedächtnis mir sagt. Niemand sollte so tun, als sei etwas mit einem Schlag erreicht worden. Um im Bild zu bleiben: Als Letzter hat Herr Momper das dicke Brett durchbohrt und das Loch geschaffen. ({5}) - Den letzten Teil dieses Punktes hat er geschafft. Wir sollten uns über das Ergebnis freuen. Wir sollten ihm dafür danken, daß er dieses Engagement gebracht und diesen Erfolg erzielt hat. ({6}) Wir alle, die wir uns mit Grenzfragen in Europa beschäftigen, wissen, daß das kein Anlaß zur Euphorie ist. Wenn wir Normalitäten von Grenzübergängen und Grenzübertritten im Westen kennen und wenn wir sehen, wozu selbst ein Staat wie Ungarn fähig ist, dann wissen wir, wie weit der Weg bis zur vollen Normalität noch ist. Aber wir müssen und können begrüßen, daß jeder Fortschritt, der in einem Punkt erzielt worden ist, ein Fortschritt insgesamt ist. Da sollten wir uns, Herr Kittelmann, nicht daran stoßen, ob nun im „Neuen Deutschland" mehrere Titel des Regierenden Bürgermeisters angegeben worden sind. ({7}) Lider Ich habe mich übrigens gefreut, daß im „Neuen Deutschland" abgedruckt worden ist, daß er auch als Mitglied des Parteivorstandes der SPD und als Berliner Landesvorsitzender dort erschienen ist. ({8}) Daß man das als Normalität mitnimmt, ist ein Stück von dem, was früher nicht möglich war. Herr Kittelmann, ich habe das nur deswegen erwähnt, weil vorhin Herr Stavenhagen in der Regierungsbefragung auch nicht sagen konnte, in welcher Eigenschaft Herr Blüm nach Südafrika fährt. ({9}) Von daher bleiben wir in der Kontinuität dieses Tages. Es ist für mich klar und deutlich geworden, daß der Regierende Bürgermeister für seine Stadt und damit für unser Land hier Erfolge erzielt hat. Ich stehe nicht an, ihm dafür danke zu sagen. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Bahr.

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte dem Regierenden Bürgermeister zunächst einmal dafür danken, daß er dem Deutschen Bundestag einen Bericht gegeben hat, noch bevor er das Abgeordnetenhaus von Berlin unterrichtet hat. Denn das ist ein Zeichen der Bindungen, so wie wir sie verstehen. ({0}) Zum anderen, Kollege Werner, wenn Sie sich eben darüber beklagt haben, daß der Regierende Bürgermeister hier nichts über die Grenzzwischenfälle gesagt hat: Ich finde, es war wichtiger, daß er das Herrn Honecker gesagt hat als hier. ({1}) - Na ja, bei uns weiß man doch, wie wir dazu stehen. Im übrigen möchte ich darauf aufmerksam machen, daß die Frage des Zwangsumtauschs etwas ist, wo ich hoffe, daß die Bundesregierung das beseitigen wird. Das ist eine Aufgabe der Bundesregierung. Das soll man doch nicht dem Berliner Senat zuschieben; das wäre eine komische Auffassung. Das muß die Bundesregierung für den Berliner Senat machen, und sie darf es nicht Herrn Momper in die Schuhe schieben. Das ist doch gar keine Frage. ({2}) Sie ist doch sonst immer dafür: Alles, was die Bundesregierung macht, braucht der Berliner Senat nicht zu machen. Ich bin dem Regierenden Bürgermeister wirklich dankbar, daß er den großen Fehler der Bundesregierung korrigiert hat, was die Übernachtungsmöglichkeiten der Berliner angeht. ({3}) - Entschuldigen Sie, dies war das erstemal, daß in einer Vereinbarung zwischen der Bundesregierung und der DDR Berlin nicht drin war, ({4}) und zu meinem großen Bedauern hat es auch der Bundeskanzler nicht vermocht, bei dem Besuch von Herrn Honecker dies zu korrigieren. ({5}) Ich finde, wir alle haben Grund dazu, Genugtuung darüber zu äußern, daß dies nun erledigt ist. ({6}) Bei dieser Gelegenheit möchte ich der Bundesministerin ausdrücklich zustimmen. Wir sind daran interessiert - genauso wie die Bundesregierung - , daß der Status und die Rechte der Vier Mächte, insbesondere der Drei Mächte, gehalten werden, nicht beschädigt werden und auch respektiert werden. Das ist gar keine Frage. Das gilt selbstverständlich auch für die Bindungen zwischen den drei Westsektoren, wie es in dem Abkommen heißt, und der Bundesrepublik Deutschland. Ich möchte nur hinzufügen: Wir dürfen uns, wie bisher, von diesem Status nicht davon abbringen lassen oder beeindrucken lassen, das Mögliche im Interesse der Menschen und der Verbesserung ihrer Lage zu tun. Ich möchte dem Regierenden Bürgermeister sagen: Auch unsere Erfahrung war - diese Erfahrung wird er ja auch machen; das ist nun einmal so in der Weltgeschichte - , daß die Besiegten überhaupt nicht in der Lage sind, über die Sieger zu entscheiden. Als die beiden deutschen Staaten in die Vereinten Nationen eintraten, wurde von seiten der Amerikaner auch darauf aufmerksam gemacht, daß dies gar nicht möglich ist. So schrecklich ängstlich braucht man also gar nicht zu sein. Ich hoffe, Herr Regierender Bürgermeister, daß Sie sich Herrn Diepgen auch in dem einen Punkt zum Vorbild nehmen und langsam anfangen, über einen Besuch von Herrn Honecker in West-Berlin nachzudenken, und ich hoffe, daß sich die Bundesregierung Mühe geben wird, die natürliche Forderung endlich zu erfüllen, ein deutsch-deutsches Luftfahrtabkommen abzuschließen, damit die Lufthansa auch nach Berlin kommen kann. Das ist der Punkt, wo die Hilfe der Bundesregierung nötig und erwünscht ist und hoffentlich auch kommt. - Schönen Dank. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lummer. ({0})

Heinrich Lummer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001396, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Gegensatz zu manchem, was in stiller Güte im kirchlichen Bereich getan wird, lebt die Politik ja nun wirklich mehr von dem Motto: Tue Gutes und rede davon. Das tun wir alle. Und wenn es denn nun an der Zeit ist, Herrn Momper und den Berliner Senat, wie er jetzt ist, zu loben, dann soll man das auch tun, finde ich. Natürlich geschieht das immer in der Weise: Heute sagen Sie, das sei ein großer Schritt und ein großer Sprung nach vorn. Wenn das bei Herrn Diepgen passiert wäre, hätten Sie gesagt: ein kleiner Schritt. Aber gelobt wird er auch. ({0}) Aber wollen wir deswegen nicht kleinlich sein, meine Damen und Herren. Jedenfalls bin ich nicht bereit, mich in die Situation des Koalitionspartners zu versetzen, Herr Momper, der schlicht und einfach gesagt hat: Die DDR hat durchaus ein Interesse daran, daß dieser rot-grüne Senat im Bereich Deutschland- und Berlin-Politik Erfolge vorzuweisen hat. Wenn ich das wörtlich nähme, müßte ich jetzt nämlich sagen: Ich danke ausdrücklich Herrn Honecker, daß er Sie empfangen hat, daß er Ihnen ein paar Geschenke gegeben hat, nachdem Sie ihm vielleicht auch ein paar gegeben haben; ich weiß es nicht. ({1}) Das ist die Situation. Und da muß man vielleicht wirklich einmal hinterfragen, ob wir uns bei solchen Dingen gelegentlich nicht zu sehr loben, ganz gleich, wer vorne eine Rolle spielt. Denn die Frage ist doch: Warum macht es die DDR? Ich meine, dafür gibt es verschiedene Gründe, die wir auch bei künftiger Politik beachten müssen. Der eine Grund kann ja sein: Sie hat ein eigenes Interesse daran. Ich glaube, dieses Interesse ist ganz deutlich geworden, nachdem die DDR heute praktisch unter einem zweiseitigen Druck steht: auf der einen Seite das Schaufenster des Westens, das Angebot der Waren und der Freiheiten bei uns, was die Leute drüben inzwischen kennen und weshalb sie die eigene Regierung auch ein bißchen in die Verantwortung nehmen; auf der anderen Seite Perestroika und Glasnost. Das ist keine einfache Situation. Da muß man schon für die Menschen hüben wie drüben etwas hinüberbringen. Aus dieser Interessenlage will ja niemand Herrn Honecker befreien. Die zweite Möglichkeit wäre: Geld will er haben. Gut, in bestimmten Situationen mag er das bekommen. Da müssen wir dann nur aufpassen, daß wir nicht über den Tisch gezogen werden, sondern daß alles hübsch in der Ordnung geht. ({2}) - Ja, ich weiß, da sind von allen Fehler gemacht worden, nicht nur von Strauß. ({3}) - Gut. Aber wenn es ein Fehler gewesen wäre, kann ich Ihnen sagen: Nicht nur da wäre ein Fehler gemacht worden, sondern andernorts auch. Die dritte Möglichkeit habe ich jüngst wirklich einmal deutlich aufscheinen sehen in dem Papier, das die SED für die SPD vorbereitet hat. Darin ist eine ganze Menge Zucker, aber darin sind auch Fallen. Man muß eben darauf achten, daß man in diese Fallen nicht hineintappt. Eines will ich einmal in Deutlichkeit sagen, um wieder einmal den Koalitionspartner zu zitieren, der mit schöner Deutlichkeit sagt: Schließlich wollen wir in viel stärkerem Maße, als das bislang in der offiziellen Politik West-Berlins der Fall war, eigene Handlungsmöglichkeiten ausloten und die Besonderheit West-Berlins als Chance begreifen. ({4}) Da hört man doch die Nachtigall trapsen, daß sie nämlich auf das Boot mit der besonderen politischen Einheit West-Berlin aufsteigen. Bei allem, was Herr Bahr zutreffenderweise gesagt hat - daß wir uns nicht allzusehr vom Status gefangenhalten lassen sollen; das hat Herr Diepgen auch nicht getan - : Das ist eine Lebensgrundlage Berlins. Dabei geht es nicht nur um die Frage, ob wir den Siegern irgendwelche Rechte nehmen können. Das sind Sieger. Aber es sind auch unsere Schutzmächte. Die dürfen wir nicht vor die Schienbeine treten, sondern wir müssen das mit ihnen abstimmen. Wir wissen ja auch, wie das Abstimmungsverfahren in diesem Falle gelaufen ist und daß einiges zurückgenommen werden mußte, weil dieser Senat schon wieder einmal in Versuchung war, sich ein bißchen über den Tisch ziehen zu lassen. Darauf muß also deutlich hingewiesen werden. Aber gleichwohl: Wir wollen nach Möglichkeit alles im Interesse der Berliner im Konsens tun. Da ist ewas erreicht worden, und das ist gut so. Eine Bemerkung möchte ich mir gerne noch erlauben, Frau Präsidentin, wenn Sie es gestatten. Es ist die Rede von der fortdauernden Zweistaatlichkeit gewesen. Die Bundesministerin hat dazu etwas gesagt. Das ist eine mißverständliche Formulierung. Sie kann als permanente Bestandsgarantie der DDR verstanden werden. ({5}) - Ich sage, wie sie verstanden werden kann, Herr Schmude, und ich weiß auch, daß es welche gibt - nicht nur auf der anderen Seite der Mauer - , die das so verstehen. Es gibt solche Politiker auch bei uns. Gucken Sie einmal genau in Ihre Reihen. Diese Formulierung kann auch gewissermaßen als eine Liquidierung des Selbstbestimmungsrechtes verstanden werden; denn hier bin ich wie Herr Eppler, der heute schon vielfach zitiert worden ist, der Meinung: Die Menschen drüben müssen sich in die Politik I des Landes dort als Akt der Selbstbestimmung einmischen können. Wenn die Menschen drüben das Interesse haben, die fortdauernde Zweistaatlichkeit zu beenden, dann, finde ich, muß man ihnen auch die Gelegenheit dazu geben. ({6}) Davon träume ich wirklich noch, und die Menschen drüben träumen wahrscheinlich auch davon. Bitte sorgen Sie dafür, daß solche Formulierungen nicht in einer solchen Weise mißverstanden werden; denn dann ginge leider ein Stück des Konsenses verloren. ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich komme nun zur Verlesung der Amtlichen Mitteilungen. Die Kollegen Straßmeir und von der Wiesche feierten am 20. Juni ihren 60. Geburtstag. Ich spreche ihnen die herzlichen Glückwünsche des Hauses aus. ({0}) Interfraktionell ist vereinbart worden, den in der 125. Sitzung des Deutschen Bundestages an den Raumordnungsausschuß zur federführenden Beratung überwiesenen Gesetzentwurf zur Errichtung einer Stiftung „Haus der Geschichte", Drucksache 11/2583, nunmehr dem Innenausschuß zur federführenden Beratung und dem Raumordnungsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Alle anderen mitberatenden Ausschüsse bleiben unverändert. Der Bitte des Haushaltsausschusses folgend, wird ebenfalls interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Aufhebung der Verlängerung von Grundwehrdienst und Zivildienst, Drucksache 11/4379, nachträglich dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Sind Sie mit den soeben genannten Ausschußüberweisungen einverstanden? - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Weiter soll nach einer interfraktionellen Vereinbarung die heutige Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. Sind Sie mit der Erweiterung einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Ebenfalls beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 und die Zusatztagesordnungspunkte 2 und 3 auf: 3. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit - Drucksache 11/3622 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Zivilgerichte - Drucksache 11/4155 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß c) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über Statistiken der Rohstoff- und Produktionswirtschaft einzelner Wirtschaftszweige ({1}) - Drucksache 11/4614 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Wirtschaft ({2}) Innenausschuß d) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Vieh- und Fleischgesetzes - Drucksache 11/4727 - Überweisungsvorschlag des Ältestensrates: Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Bekämpfung der Produktpiraterie - Drucksache 11/4792 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({3}) Ausschuß für Wirtschaft ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Müller ({4}), Gerster ({5}), Brück, Büchner ({6}), Conrad, Diller, Dr. Ehmke ({7}), Erler, Fischer ({8}), Dr. Götte, Heistermann, Horn, Jahn ({9}), Leonhart, Pauli, Dr. Pick, Dr. Scheer, Scherrer, Schreiner, Sielaff, Dr. Soell, Stiegler, Voigt ({10}), Weyel, Wieczorek-Zeul, Reimann Abzug aller chemischen Waffen aus Rheinland-Pfalz - Drucksache 11/4094 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({11}) Auswärtiger Ausschuß Ausschuß für Wirtschaft ZP3 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Kelly und der Fraktion DIE GRÜNEN Menschenrechtsverletzungen und Kriegsrecht in Tibet - Drucksache 11/4264 ({12}) - Überweisungsvorschlag: Auswärtiger Ausschuß ({13}) Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit Es handelt sich um Überweisungen im vereinfachten Verfahren ohne Debatte. Präsidentin Dr. Süssmuth Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sind Sie damit einverstanden? - Ebenfalls beschlossen. Wir kommen jetzt zu einer Reihe von Vorlagen ohne Aussprache, über die abgestimmt werden muß. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 a auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({14}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung des Rates über eine Bescheinigung für Hunde und Katzen bei Aufenthalten von weniger als einem Jahr in einem anderen Mitgliedstaat und über Gemeinschaftsmaßnahmen zur Durchführung von Pilotprogrammen zur Bekämpfung und Tilgung der Tollwut - Drucksachen 11/4019, Nr. 2.31, 11/4393 Berichterstatter: Abgeordneter Kalb Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit Mehrheit angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 b auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({15}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in Bonn gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung - Drucksachen 11/2112, 11/4667 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Struck Roth ({16}) Frau Vennegerts Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 c auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({17}) Sammelübersicht 117 zu Petitionen - Drucksache 11/4787 Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 d auf: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Haushaltsausschusses ({18}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Vorschlag für eine Verordnung ({19}) des Rates zur Änderung der Haushaltsordnung vom 21. Dezember 1977 für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften - Drucksachen 11/3927, Nr. 3.2, 11/4791 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Struck Dr. Schroeder ({20}) Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist mehrheitlich angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({21}) zu dem Antrag der Fraktion der SPD Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Opfer von NS-Unrecht - Drucksachen 11/1413, 11/2195 Berichterstatter: Abgeordnete Frau Dr. Wisniewski Schröer ({22}) Frau Dr. Vollmer b) Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({23}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Änderung des Bundessozialhilfegesetzes - Drucksachen 11/1396, 11/2977 Berichterstatter: Abgeordneter Werner ({24}) Zum Tagesordnungspunkt 5 a liegt ein Änderungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP und ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/4820 und 11/4831 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt ({25}).

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! In diesen Tagen und Wochen gibt es in der Bundesrepublik viele Gedenktage. Wir haben gute und nachdenkliche Reden zum 40jährigen Bestehen unserer Republik und zum Tag der deutschen Einheit gehört. Wir sind nicht euphorisch, doch haben wir - oder zumindest die meisten von uns - das Gefühl, in einem Staat zu leben, der das Nachdenken und das Arbeiten und das Verbessern wert ist. Die meisten Menschen - nicht alle, das zeigen uns die Wahlergebnisse - glauben, daß ihnen im Zweifelsfall Gerechtigkeit widerfährt, daß es gerecht zugeht oder sie mindestens mit Aussicht auf Erfolg um ihr Recht kämpfen und streiten können. Aber das gilt nicht für alle. Unter uns leben Menschen, die an diesem Staat und seiner Gerechtigkeit Frau Schmidt ({0}) nicht nur zweifeln, sondern verzweifeln, Menschen, denen kaum beschreibbares Unrecht angetan wurde, deren Lebensglück ohne ihre Schuld zerstört wurde und die an diesen Folgen heute noch oder erneut leiden. Alle Fraktionen dieses Hauses haben das erkannt. Alle Fraktionen wollten Abhilfe schaffen. Alle Fraktionen waren der Meinung, daß wir noch nicht alles getan haben, um erlittenes Unrecht zu mildern. Alle Fraktionen haben es mit Beifall bedacht, als Herr Kleinert für die FDP in der Debatte über die Nichtigkeitserklärung der Erbgesundheitsgesetze sagte, daß wir mit der unbürokratischen und schnellen Hilfe nun endlich ernst machen müßten, daß man weit über die Beträge der Einmalentschädigung für Zwangssterilisierte hinausgehen müsse, daß Sozialhilfe nicht angerechnet werden dürfe und daß das Ziel vorrangig nicht Einmalentschädigungen, sondern laufende Beihilfen seien. Dies zu verwirklichen für die vergessenen Opfer der Nazis - der von uns vergessenen Opfer - war unser Ziel: für die Zwangssterilisierten und die Sinti und Roma; die sogenannten Wehrkraftzersetzer und die Kommunisten, die ihrer Überzeugung nicht abschwören wollten; die Homosexuellen und die so bezeichneten Asozialen; die Euthanasiegeschädigten und die Zwangsarbeiter; diejenigen, die wir uns damals noch gar nicht vorstellen konnten, deren physische und psychische Leiden erst heute auftreten, und natürlich vor allem auch die jüdischen Opfer, die bisher unzureichend entschädigt wurden. Liebe Kollegen, es ist nun beinahe auf den Tag genau zwei Jahre her, als wir durch die öffentliche Anhörung erschüttert und vielleicht auch beflügelt wurden, etwas zu tun. Es sind eineinhalb Jahre vergangen, seit der Bundestag den Beschluß gefaßt hat, eine neue Härteregelung zu schaffen und sie mit insgesamt 300 Millionen DM auszustatten. Es ist ein Jahr her, daß der vorgesehene Unterausschuß seine Arbeit aufgenommen hat. Was ist seither geschehen? - Damit bin ich bei den Zweifeln und bei der Verzweiflung der Menschen angelangt: Verzweiflung am eigenen Schicksal, Zweifel an der Gerechtigkeit. Wie sollten sie auch nicht zweifeln und verzweifeln, wenn der ehemalige Kreisleiter der NSDAP, in Luxemburg zu 15 Jahren Haft wegen Verschleppung von Zwangsarbeitern verurteilt, nach seiner Freilassung selbstverständlich eine Heimkehrerrente erhielt und selbstverständlich nicht seine Bedürftigkeit, nicht seine Gesundheitsschäden, nicht das Einkommen seiner Ehefrau nachweisen mußte? Wie sollten sie auch nicht zweifeln und verzweifeln, wenn die in amerikanische Kriegsgefangenschaft geratenen Bewachungsmannschaften der KZs Entschädigungen erhielten oder unter das Bundesversorgungsgesetz fielen? Wie sollten sie nicht zweifeln, wenn die Witwe Werner Brauns, der 4 000 Juden und Zigeuner auf der Krim ins Grab gebracht hat - ich zitiere hier - , als „Opfer einer mit der Besetzung verbundenen Gefahr" eine Entschädigung erhielt? Wie sollten sie nicht an ihrem Schicksal verzweifeln, wenn einem Angehörigen der Sinti und Roma, der als Kind in das NS-Kinderheim Mulfingen gesperrt wurde, dessen Eltern ermordet, dessen drei Geschwister vergast wurden, der selbst schwere Gesundheitsschäden davongetragen hat und der heute von einer kleinen Erwerbsunfähigkeitsrente und Sozialhilfe lebt, seine Anträge auf eine Rente mit der Begründung „kein hinreichend schweres Verfolgungsschicksal" - das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen - bisher abgelehnt wurden? Oder ein Ehepaar, beide von den Nazis verfolgt, denen die Sozialhilfe, die Vermietung einer Garage, die bei ihrer Mietwohnung dabei ist, die sie aber nicht brauchen, weil sie sich kein Auto leisten können, in Höhe von 50 DM, ja sogar eine einmalige Beihilfe des Sozialamts auf ihre Entschädigungsleistung angerechnet werden. Oder der geborene Pole, an dem pseudomedizinische Versuche vorgenommen wurden, die ich Ihnen hier im Detail schildern könnte, der Zwangsarbeit leistete, der in Deutschland blieb und inzwischen Deutscher ist und dem die Entschädigung versagt wird, weil er - ich zitiere wieder - „zum Zeitpunkt der Verfolgung kein Deutscher war". Oder die Kommunisten, die im KZ gelitten haben, auch nach dem Krieg Kommunisten blieben und die - ebenso auch Hinterbliebene - nach wie vor nicht entschädigt werden, beispielsweise weil sie einen Nachruf im „Neuen Deutschland" bekamen oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung dadurch bekämpft haben, daß sie sechs bis sieben Informationsblätter der Berliner SED, in denen die geplante Neuregelung der Sozialversicherung kritisiert wurde, in Briefkästen steckten. Wie sollen Zwangssterilisierte nicht verzweifeln, wenn eine Frau, die mit 15 Jahren zwangssterilisiert wurde, seit dem 21. Lebensjahr Zwangsarbeit geleistet hat, zwei Jahre im SS-Bordell des KZ Buchenwald mißhandelt und gepeinigt wurde, so daß sie heute nur noch zu 10 % hört und ihr bereits 1945 eine Brust abgenommen werden mußte, bis heute die Jahre der Zwangsarbeit in der Rente nicht anerkannt bekam und absolut unzureichend entschädigt wurde? Wo ist eigentlich die von uns geforderte, wo ist die notwendige Schnelligkeit, die deshalb so notwendig ist, weil es im Regelfall alte Menschen sind, die unter diese Gruppen fallen, die nicht mehr lange zu leben haben, wo also ist diese Schnelligkeit, wenn von den 525 Fällen verfolgter Sinti und Roma, die über Hans-Jochen Vogel dem Herrn Bundeskanzler vor zwei Jahren übergeben wurden, heute gerade 100 bearbeitet wurden? Zwölf Menschen, deren Leben wir vielleicht ein ganz klein bißchen hätten verbessern können, sind inzwischen über dem Instanzenweg gestorben. Warum muß eine Frau, deren Mutter zuerst zwangssterilisiert wurde, der dann alle Zähne ohne Betäubung gezogen wurden, um anschließend dem wahnwitzigen Euthanasieprogramm zum Opfer zu fallen, warum muß die Tochter dieser Frau, die als Zehnjährige zur Waise wurde, praktisch auch Zwangsarbeit leistete, und zwar mit bloßen Füßen in der Landwirtschaft, die als junges Mädchen schon direkt nach dem Krieg rheumakrank war und heute 214 DM Alters11340 Frau Schmidt ({1}) rente bezieht, zwei Jahre lang - mit unzähligen Schriftsätzen und fachärztlichen Gutachten - auf eine einmalige Entschädigung von 5 000 DM warten? Warum werden bei Verfolgten die Einkommen der Ehepartner auf Entschädigungsleistungen angerechnet? Wir sprechen davon, daß das Kriegsfolgen sind. Rechnen wir diese Einkommen bei den anderen, die unter dem Krieg zu leiden hatten, bei den Vertriebenen, bei den Heimkehrern, bei den Aussiedlern genauso an? Nein, wir tun das nicht. Wir behandeln Opfer ungleich. ({2}) Warum müssen Menschen, die zweifelsohne verfolgt wurden, nochmals 23seitige Fragebögen ausfüllen und sich ein viertes, fünftes, sechstes Mal fachärztlich untersuchen lassen? Warum ist unsere Phantasie, die wir kurz nach der Anhörung noch hatten, so schnell verlorengegangen? Merken wir nicht, daß Menschen, die ursprünglich keinen Gesundheitsschaden angemeldet hatten - das hat so funktioniert, daß man damals einen Fragebogen ausgefüllt und angekreuzt hat, was für Schäden man hat; und manche fühlten sich damals nicht in dem Sinne krank - , daß also Menschen, die das nicht angekreuzt haben, heute nichts mehr in Anspruch nehmen können? Haben wir also die Fähigkeit verloren, zu sehen, daß diese Menschen jetzt, nach Jahrzehnten, feststellen, daß sich vor allem psychische Gesundheitsschäden bemerkbar machen, weil nämlich die Verfolgung und auch die Zeit danach nicht verarbeitet werden konnten? All diese Menschen, die ich hier genannt habe, und viele mehr haben mehr berechtigte Ansprüche an uns als nur auf unser Mitgefühl und unsere Sympathie. Die Erfahrungen dieser Menschen hat Jörg Friedrich in seinem Buch „Die kalte Amnestie" so geschildert: In den Amtsräumen wird seit nunmehr 40 Jahren ein Zank ausgetragen, wer Opfer des Nationalsozialismus ist. Ganz das Spiegelbild der Debatte, wer NS-Täter ist, allerdings das umgekehrte: Hier muß die Bürokratie dem Täter, dort das Opfer der Bürokratie den Nachweis liefern. Das Ergebnis wiederum ähnelt sich. Es gibt wenig Täter und wenig Opfer. Die einen entpuppen sich als Erz-Humanisten, die anderen als Simulanten oder Unglücksraben. Sie sind Verfolgte, passen aber sowenig in § 1 Entschädigungsgesetz wie die Verfolger in § 211 Strafgesetz. Sie leiden an Krankheiten, lassen aber nicht erkennen, ob aus Verfolgungs- oder Altersgründen. Sie sind gestorben, doch nicht in der erforderlichen verfolgungstypischen Weise. Sie haben opponiert aus falschen Motiven und auf untauglichen Wegen. Sie sind dem Verfolger richtig erlegen, doch durch leichtsinnig selbstverschuldetes Verhalten. Sie hinterlassen Versorgungsbedürftige, hätten sie aber voraussichtlich selbst nicht versorgt. Sie ziehen ihre Hinterbliebenen mit ins Verderben, die sich mit ihnen aber gar nicht einzulassen brauchten. Hunderttausende Einzelschicksale zum Gotterbarmen sind durch die Walzen der 241 Paragraphen des Gesetzes gewunden, vor Gerichts-, Berufungs- und Letztinstanzen geschleppt worden, haben Amtsärzten, Gutachtern, Gegen- und Obergutachtern ihre Wunden, Narben und Psychosen darbieten müssen, ihre Erwerbsfähigkeit in Prozentsätzen klassifizieren lassen, ihre verdorbenen Lebenschancen, ihre Fluchtwege, Unterschlüpfe und Entbehrungen dokumentiert. All das ruinierte, schreckgesichtige, zittrige Menschentum, das als Ausschuß der Vernichtungsindustrie durch die Nachwelt geistert, ist noch einmal durch die deutschen Amtskorridore getrieben, in die Spalten der Vordrucke gepreßt und dem bohrenden Blick der Experten ausgesetzt worden. So wollten wir das doch aber nicht! Der Deutsche Bundestag hat 300 Millionen DM zur Verfügung gestellt. 50 Millionen davon sollten im ersten Jahr ausgegeben werden. Tatsächlich konnten zusätzlich nur 1,6 Millionen vergeben werden. Im ersten Jahr der Tätigkeit unseres Unterausschusses wurden gerade in zehn Fällen - in sage und schreibe zehn Fällen im ersten Jahr! - laufende Beihilfen bewilligt. Dies hat alle Mitglieder des Unterausschusses unbefriedigt gelassen, und wir haben gemeinsam versucht, Verbesserungen durchzusetzen, um unseren Intentionen auch tatsächlich zu entsprechen. Nur ist leider von den ursprünglichen Absichten auch hier zu wenig übriggeblieben. Für viele der von mir geschilderten Fälle wird alles beim alten bleiben, für die Kommunisten und die Sinti und Roma, für einen Teil der Zwangssterilisierten, die immer noch 40 % Minderung der Erwerbsfähigkeit nachweisen müssen, für die Opfer, bei denen sich Spätfolgen bemerkbar machen, und für die heute deutschen Staatsbürger, die zum Zeitpunkt ihrer Verfolgung keine Deutschen waren. Der Fragebogen soll verbessert werden, gut. Spielräume sollen ausgeschöpft, die Rechtsauffassung der Bundesregierung zur Anrechnung von Sozialhilfe bekräftigt werden, auch gut. Das nicht anrechenbare Einkommen soll um 300 DM aufgestockt werden. Das bringt für einige sicher etwas, und deshalb werden wir diesen Änderungen, so bescheiden sie auch sind, zustimmen. Aber ansonsten wird wieder geprüft, als ob wir nicht längst keine Zeit mehr zum Prüfen hätten. Noch nichts ist für die Härtefälle unter den jüdischen Opfern geschehen, die ebenfalls nicht mit Einmalzahlungen abgespeist werden dürfen, sondern die ebenfalls laufende Beihilfen erhalten sollen. Die Verhandlungen laufen, ich meine, schon sehr, sehr lange, vielleicht zu lange. Es ist nichts für die Nationalgeschädigten geschehen, deren Fonds beim Hohen Flüchtlingskommissar erschöpft ist und wo inzwischen Fälle vorliegen, bei denen ausschließlich mit dem Argument: kein Geld vorhanden, obwohl wir das Geld hätten, Anträge abgelehnt werden. Wir wissen heute - noch mehr als vor zwei Jahren - , daß wir mit Härteregelungen, die auf dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz und dem Bundesentschädigungsgesetz beruhen, nicht zu Rande kommen werden. Das Ziel, zu besseren Entscheidungen zu kommen, kann so nicht erreicht werden. Denn nach heutigen Maßstäben und auch nach heutigem LeiFrau Schmidt ({3}) stungsvermögen ist die vergangene Entschädigungspraxis in vielen Fällen als ungerecht zu bezeichnen. Härterichtlinien nach diesen beiden Gesetzen sind deshalb der mehr oder weniger untaugliche Versuch, Gerechtigkeit in der Ungerechtigkeit zu schaffen. Deshalb werden wir Ihnen morgen nochmals unseren Antrag vorlegen, eine Stiftung einzurichten, sowie einen weiteren Antrag, Mittel für den Hohen Flüchtlingskommissar für Nationalgeschädigte in bescheidenem Umfang mit ganzen 2 Millionen DM zur Verfügung zu stellen. Wir halten uns damit in dem Rahmen, den die Bundesregierung mit 300 Millionen DM gesetzt hat. Diese Anträge liegen heute nicht vor, weil wir das Versäumnis begangen haben - es ist eine Panne passiert -, sie fristgemäß bis gestern abend 18 Uhr vorzulegen. Ist es die Kleinkariertheit oder sind es die überreizten Nerven eines Kollegen Abgeordneten: Eine interfraktionelle Vereinbarung dazu kam leider nicht zustande. Wir wollen diese Anträge überweisen lassen, weil wir die Hoffnung nicht aufgegeben haben, daß unseren gemeinsamen Worten in diesem Haus auch gemeinsame Taten folgen werden. Die Erfahrungen der Stiftung in Berlin zeigen uns, daß dort unter Beteiligung der Verfolgten, wie wir es auch mit unserer Stiftung vorschlagen, bessere, unbürokratischere und schnellere Regelungen erreicht werden können. Der Anteil der laufenden Beihilfen ist dort wesentlich höher. Hamburg und Bremen folgen diesem Beispiel bzw. sind ihm schon gefolgt; andere werden sich vielleicht anschließen, wenn wir hier im Deutschen Bundestag weiterhin zu wenig tun. Es darf doch nicht davon abhängig sein, wo jemand 40 Jahre nach dem Kriegsende als ehemals Verfolgter lebt, um entschädigt zu werden. Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dieses Jahr wäre ein gutes Datum, damit diejenigen, die an diesem Staat und an ihrem Schicksal zweifeln und verzweifeln, zur Ruhe kommen können. Bitte ergreifen Sie mit uns diese Chance. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Wisniewski.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist für manchen Mitbürger und für manche Mitbürgerin schwer verständlich, daß die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts mehr als 40 Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft immer noch der Nachbesserung bedarf. In der Tat zeigt es sich immer wieder, daß die Wiedergutmachung nicht alle Opfer der schweren Unrechtsmaßnahmen erreichen konnte, wobei es ohnehin selbstverständlich ist, daß das erlittene Unrecht durch Wiedergutmachungsmaßnahmen nicht ausgelöscht werden kann, sondern daß die oft bis heute andauernden Folgen der Schäden nur gemildert werden können. Nur, liebe Frau Schmidt, wir sollten aufhören, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen. Denn die sozialliberale Koalition hätte ja die Möglichkeit gehabt, die von Ihnen mehrfach geforderte Stiftung einzurichten. ({0}) - Ich nehme gern zur Kenntnis, daß sich diese Kritik von Frau Schmidt an alle Regierungen der gesamten Nachkriegszeit gerichtet hat. Der vom Deutschen Bundestag hinsichtlich der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts eingeschlagene Weg soll auch durch die Maßnahmen, über die wir heute hier verhandeln, grundsätzlich weiterverfolgt werden. Die beiden großen Wiedergutmachungsgesetze - das Bundesentschädigungsgesetz von 1953 bzw. 1956 und das Allgemeine Kriegsfolgengesetz von 1957 - bleiben weiterhin die Grundlage. Das haben alle Fraktionen so beschlossen. ({1}) - Gut, die GRÜNEN nicht. Weitere Härtefallregelungen sind notwendig. So hat der Deutsche Bundestag auch mit der Entschließung vom 3. Dezember 1987 anerkannt, daß trotz der umfassenden Regelungen zur Wiedergutmachung in Einzelfällen sowie bei bestimmten Gruppen von NS-Geschädigten Härten geblieben sind, zu deren Ausgleich verbesserte Möglichkeiten geschaffen werden sollten. Auf Grund einer entsprechenden Initiative der Koalitionsfraktionen wurde die Bundesregierung aufgefordert, unverzüglich im Rahmen einer neuen Härteregelung in Anpassung an das Allgemeine Kriegsfolgengesetz Richtlinien für abschließende Maßnahmen zur Wiedergutmachung von nationalsozialistischem Unrecht zu erlassen und für eine schnelle und unbürokratische Durchführung der zusätzlich beschlossenen Maßnahmen zu sorgen. Der Innenausschuß hat im Februar 1988 die vorgelegten Richtlinien der Bundesregierung sowie die Neufassung der „Richtlinien der Bundesregierung für die Vergabe von Mitteln an Verfolgte nichtjüdischer Abstammung zur Abgeltung von Härten in Einzelfällen im Rahmen der Wiedergutmachung", so der umständliche Titel, vom 26. August 1981 zustimmend zur Kenntnis genommen, nachdem er auf Grund der durch die Bundesregierung hierzu gegebenen Interpretation davon überzeugt war, daß die Richtlinien die durch den Plenarbeschluß vom 3. Dezember 1987 angestrebten Verbesserungen für die Opfer der NS-Gewaltherrschaft enthielten. Um die Wirksamkeit der erlassenen Richtlinien zu überprüfen, hatte der Ausschuß die Bundesregierung ferner um jährliche Vorlage eines Berichts über die Durchführung der Richtlinien ersucht. Für die Weiterbehandlung der mit der Wiedergutmachung zusammenhängenden Fragen wurde ein Unterausschuß „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts" eingesetzt, der die Berichte der Bundesregierung entgegennehmen, sie erörtern und hierzu Stellungnahmen und Empfehlungen erarbeiten soll. Damit ist auch eine stärkere parlamentarische Kontrolle sichergestellt, und es zeigt sich, wie ernst Bundesregierung und Bundestag die ihnen gestellte Aufgabe, nun endlich eine vernünftige Regelung in der Wiedergutmachungsfrage durchzusetzen, nehmen. ({2}) Bei den Beratungen im Ausschuß bestand im übrigen Einvernehmen, daß sich der Ausschuß eine Überprüfung der Richtlinien im einzelnen vorbehalten würde und noch auftretende Zweifelsfälle in dem Unterausschuß erörtern wollte, um gegebenenfalls auch auf notwendige Änderungen der Richtlinien hinzuwirken. Der entsprechende Bericht und die Beschlußempfehlung des Innenausschusses liegen bereits seit April 1988 vor. Die Beschlußfassung im Plenum des Deutschen Bundestages ist mehrfach vertagt worden, was nicht - ich stelle das ausdrücklich fest - von den Koalitionsfraktionen zu verantworten ist. Heute, endlich, nach mehr als einem Jahr, debattieren wir über diese Vorlagen. Auch dies ist eine Art des Vorgehens, die man kritisieren kann. ({3}) - Entschuldigung, ich sagte schon: nicht die Koalitionsfraktionen sind verantwortlich für dieses Verfahren. ({4}) - Ja sicher! ({5}) Es ist richtig: die Opposition ist schuld an dieser Verzögerung. Positiv ist immerhin, daß wir auf Grund dieser Verzögerungen nun auch die Erfahrungen, die innerhalb dieses einen Jahres mit der Durchführung der Richtlinien gemacht wurden, in unsere Beratungen einbeziehen können. Es hat sich gezeigt, daß die Richtlinien Verbesserungen mit sich gebracht haben, daß aber in einer Vielzahl von weiteren Härtefällen das Ziel, Leistungen rasch und unbürokratisch gewähren zu können, nicht voll erreicht werden konnte. ({6}) - Frau Schmidt, dies hätten wir auch ohne die Verzögerung haben können. Frau Schmidt hat die Zahlen bereits genannt: Von 47,2 Millionen DM, die im Haushalt 1988 zur Verfügung gestellt wurden, sind lediglich 1,6 Millionen DM ausgegeben worden. ({7}) - Nein, sondern weil die Anlaufschwierigkeiten in der Tat erheblich waren. Das muß man der Gerechtigkeit halber sagen. ({8}) - Frau Vollmer, das stimmt nicht, ({9}) sondern es ist so, daß die Einrichtung der Beratungsstelle, die Verhandlungen in dieser Hinsicht, die Antragstellung, die Bearbeitung der Anträge, wie wir wissen, mit einem erheblichen Zeitaufwand verbunden sind. Aber, wie gesagt: Dieses Ergebnis ist nicht so, daß wir uns damit zufriedengeben könnten. Das wollen wir nicht. Daher haben wir einen Änderungsantrag zu der Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/2195 vorgelegt, in dem die Koalitionsfraktionen die Bundesregierung auffordern, bei der Durchführung der Richtlinien die folgenden Punkte und Maßnahmen im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten zu realisieren: Erstens. Bekräftigt wird die Rechtsauffassung der Bundesregierung, daß die Leistungen zur Abgeltung von Härten als Folge der NS-Verfolgung bei der Gewährung oder Bemessung von Sozialhilfeleistungen, namentlich bei Nachzahlungen, nicht als Einkommen anzurechnen sind. Wir erwarten, daß die für die Durchführung des Bundessozialhilfegesetzes zuständigen Behörden nochmals eindringlich auf die Beachtung dieser Rechtslage hingewiesen werden. Zweitens. Bei der Entscheidung über das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände im Einzelfall soll der gegebene Ermessensspielraum von den Entschädigungsbehörden soweit wie möglich zugunsten der Antragsteller ausgeschöpft werden. Insbesondere bei Anträgen auf laufende Leistungen soll in der Regel von einer unverschuldeten Fristversäumnis ausgegangen werden, sofern im Einzelfall schwerwiegende Gründe nicht entgegenstehen. Drittens. Bei der Festlegung von Einkommensgrenzen als Berechnungsfaktor für laufende Leistungen soll ein Sockelbetrag von rund 300 DM als Freibetrag eingeführt werden, der als Einkommen nicht zu berücksichtigen ist. Die Koalitionsfraktionen sehen in einer derartigen Freibetragsregelung eine Möglichkeit, die Wirkung der Richtlinien erheblich zu verbessern und den Kreis der Leistungsberechtigten zu erweitern. Dies ist die wichtigste der angestrebten Verbesserungen. Schließlich, viertens, wird gefordert, daß der Fragebogen zum Antrag auf Leistungen aus dem neuen Härtefonds so verbessert wird, daß die bisher bestehende Hemmschwelle für die Antragsteller herabgesetzt bzw. beseitigt wird. Dabei sollen insbesondere Fragen, die den Antragsteller über Gebühr psychisch belasten, künftig vermieden werden. Wir wollen darüber hinausgehend Verbesserungsvorschläge machen. Ob sie realisiert werden können, wird nach dem Vorliegen ergänzender Auskünfte, die zur Zeit durch die Bundesregierung von den Behörden der Länder eingeholt werden, zu prüfen sein. In diesem Zusammenhang fordern wir die Bundesregierung auf, in einem besonderen Bericht bis zum 31. 8. 1989 darzulegen, in welcher Höhe der Grad der Behinderung durch Zwangssterilisation anzusetzen ist und in welchem Umfang der Kreis der Leistungsberechtigten durch eine Absenkung des Grades der Behinderung in diesen Fällen erweitert würde. Außerdem soll der Bericht Auskunft darüber geben, welche Voraussetzungen künftig an den Nachweis bzw. die Glaubhaftmachung eines als Folge der Zwangssterilisation eingetretenen nachhaltigen Gesundheitsschadens zu stellen sind. Dabei sollte von der Bundesregierung insbesondere auch eine Änderung der zur Durchführung der Härterichtlinien geltenden Verwaltungsvorschriften dahin gehend erwogen werden, anstelle des bisher geforderten Gutachtens eines Facharztes die Vorlage eines hausärztlichen Attestes grundsätzlich als ausreichenden Nachweis für einen sterilisationsbedingten Gesundheitsschaden anzuerkennen. ({10}) Erwogen werden sollte auch, ob im Wege eines Rechtshilfeersuchens, sofern der Antragsteller dies wünscht, das ärztliche Gutachten von einem Gesundheitsamt oder durch ein Versorgungsamt ausgestellt werden kann. In diesem Zusammenhang erinnern wir daran, daß es das besondere Anliegen bei der Schaffung des neuen Härtefonds war, den Opfern der Zwangssterilisationen, bei denen im Alter verstärkt psychische und physische Schäden auftreten, eine laufende Leistung zu gewähren und die Empfänger in die Lage zu versetzen, weitestgehend unabhängig von der Sozialhilfe zu leben. Wir müssen in diesem Zusammenhang nochmals betonen, was wir als Regierungskoalition in der Entschließung am 3. Dezember 1987 gesagt haben: Die Leistungen aus dem neuen AKG-Härtefonds sollen nicht der Aufstockung bereits gewährter Entschädigungen oder der Korrektur früherer Entscheidungen dienen, durch die Entschädigungsbegehren aus materiellen Gründen abgelehnt worden sind, sondern sie sind bisher nicht berücksichtigten Härtefällen vorbehalten. Aus dem soeben Gesagten geht hervor, daß weitere Beratungen und Beschlüsse im Bereich der Wiedergutmachung notwendig sein werden. Wir werden uns auch mit den Problemen zu beschäftigen haben, die die jüdischen Verfolgten betreffen. Unsere besondere und schwere Verantwortung zwingt uns immer erneut, um Besserung und Gerechtigkeit bemüht zu sein. Die Vorschläge der SPD-Fraktion zur inhaltlichen Ausgestaltung der Richtlinie im vorliegenden Antrag konnten schon im Ausschuß keine Mehrheit finden, weil diese Vorschläge von den gemeinsam getragenen Kriterien der vergleichbaren Härtefonds für jüdische und nichtjüdische Verfolgte aus den Jahren 1980 und 1981 zum Teil grundlegend abwichen, ({11}) so daß die Verwirklichung dieser Vorschläge auch zu einer ungleichen Behandlung der Verfolgten einerseits und der nicht unter das Bundesentschädigungsgesetz fallenden Opfern nationalsozialistischer Unrechtsmaßnahmen andererseits geführt hätte. ({12}) - Ich möchte Sie bitten, dieses bösartige Wort zurückzunehmen; denn alle, glaube ich, die sich mit diesen Fragen beschäftigen, sind dauernd in einer sehr schwierigen Situation. ({13}) Wir sehen uns dauernd mit Ungerechtigkeit und Leiden konfrontiert, die wir heute nicht mehr gutmachen können. Wir versuchen, zu mildern. Ich sagte das bereits eingangs. ({14}) - Liebe Frau Vollmer, Sie wissen genau, wie schwer es ist, in diesen Bereichen etwas voranzukommen. ({15}) Wir haben es vorhin von Frau Schmidt gehört: Alle Regierungen haben diesen sehr mühsamen Weg beschritten und sind zu zusätzlichen Fortschritten gekommen. ({16}) - Sie wissen genau, daß viele Milliarden an Wiedergutmachung in schwierigen Zeiten dieser Bundesrepublik gezahlt worden sind. ({17}) - Frau Vollmer, wir werden - das habe ich schon soeben gesagt - , weiter sehen, daß Verbesserungen ermöglicht werden. Daher plädiere ich jetzt im Namen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion für die Ablehnung der vorgelegten Anträge der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN und für die Annahme der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses auf Drucksache 11/2195 sowie des von den Koalitionsfraktionen eingebrachten Änderungsantrags auf Drucksache 11/4820. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wie oft habe ich in dieser Sache schon an diesem Pult gestanden, und wie beschämend und wie niedrig und klein ist das Ergebnis, das dabei herausgekommen ist. Es ist wirklich deprimierend. ({0}) Renate Schmidt, ich finde, Sie haben sehr gut gesprochen. Ich aber kann nicht mehr an die Wirkung dieser Worte glauben. Dabei sah das einmal ganz anders aus. Wenn wir zurückblicken, erinnern wir uns: Es gab eine Anhörung des Innenausschusses im Jahre 1987, in der es so schien, als ob es vielen zum erstenmal klar würde, wie viele Opfergruppen der NS-Herrschaft ohne Anerkennung und Entschädigung in der Bundesrepublik und im Ausland leben, und in der von allen Fraktionen gesagt worden ist - es hat in dieser Anhörung auch Tränen gegeben - : Wir müssen unbedingt etwas tun, und es muß schnell und unbürokratisch sein. ({1}) Schon damals war erkennbar, daß diese Misere gerade durch die Konstruktionsprinzipien der bisherigen Entschädigungspraxis und der bisherigen Entschädigungsgesetzgebung entstanden ist. Es war die Rede von einer zweiten Phase der Verfolgung und von tiefem, kaltem Desinteresse am Schicksal der Verfolgten. Wenn man das aber damals schon sehen konnte, dann mußte man auf eine andere Ebene gehen, weil das Unrecht in die bisherige Praxis und in die bisherige Gesetzgebung eingewoben war: ({2}) unzumutbare Fristen, Beweisverpflichtung für die Opfer, Ausschlüsse von Opfern, die in anderen Staaten leben, der Kriegsdienstverweigerer, der Deserteure, der Zwangsarbeiter. Wenn man allein daran denkt, wie lange die Zwangssterilisierten gebraucht haben, bis sie als Verfolgte anerkannt wurden! Darin lag das Unrecht. Das Hauptproblem aber stellte dar, daß die Verantwortung auf eine Behörde übertragen worden war, deren ureigenstes Ziel das Sparen ist und deren Vertreter jetzt auf dieser Regierungsbank sitzen. Diese hatten vom Ansatz des Denkens ihrer Behörde her natürlich das Ziel, ihre bisherige Praxis gerechtzusprechen. Sie war aber nie gerecht gewesen, jedenfalls nicht wenn man als Maßstab für Gerechtigkeit das Schicksal der Verfolgten nimmt. ({3}) Wir wollten mit unseren Anträgen im Bundestag mit dieser Tradition brechen, und die SPD wollte es mit ihrem Stiftungsmodell. Es hätte gerade mit einem Stiftungsmodell eine Möglichkeit bestanden, die Verbände der Verfolgten an der Entscheidung über die Mittelvergabe zu beteiligen, weil man denen zutrauen konnte, daß sie aus Kenntnis dieses Schicksals eine ganz andere Sensibilität entwickelt hätten. Es war notwendig, die Dominanz des Finanzministeriums und die Abhängigkeit von ihm zu brechen. Wir haben das immer wieder versucht. Es wäre notwendig gewesen, die Praxis auch in der Hinsicht zu verändern, daß es den Verfolgten nicht mehr abverlangt wird, ihre Leiden nachträglich noch zu qualifizieren und überprüfen zu lassen, weil sich Leiden überhaupt nicht messen lassen, schon gar nicht mit Geld. Das Parlament hat sich aber in seiner Mehrheit von unseren Vorschlägen unbeeindruckt gezeigt. Es hat die unselige Tradition mit einer neuen Härteregelung fortgesetzt. Es hat dafür politisch nach einem Jahr durch den Bericht des Finanzministeriums die Quittung bekommen: Von den geplanten 300 Millionen DM waren nur 1,6 Millionen DM zusätzlich ausgegeben worden. War schon die Ablehnung einer Bundesstiftung durch den Deutschen Bundestag ein schwerer Schlag für die Verfolgten, so wurde die Debatte über die Richtlinien erst recht zu einer Farce, die einen verbittern muß. Wieder machte das Finanzministerium die Vorlage, die Koalition sorgte für die Mehrheiten. Alle Änderungsanträge der SPD und der GRÜNEN wurden auf Ausschußebene abgelehnt. Den Bedenken, ja selbst dem Nachweis gegenüber, es würden vorsätzlich ganze Gruppen von der Entschädigung ausgeschlossen, stellte man sich taub. Die Verfolgtenverbände bekamen keine Mitbestimmung bei der Vergabe von Leistungen, wenn sie zu Recht davon ausgingen, nur ihre Beteiligung könne eine angemessene Berücksichtigung der Verfolgungsschicksale sicherstellen. Das wollte man offensichtlich verhindern. Statt dessen wurde - ich würde heute sagen: als Alibi - ein Unterausschuß eingesetzt, der politisch überhaupt keine Einflußmöglichkeiten hatte. Er war abhängig von den Informationen des Finanzministeriums. Wenn ich an die Sitzungen denke, fallen mir die Lächerlichkeiten ein, mit denen wir uns abgeben mußten: mit Fragen, ob ein Schild an ein entsprechendes Gebäude kommt, ob ein Hinweis ins Telefonbuch kommt, ob wir das Recht haben, Kritik an dem Fragebogen zu üben. Selbst als wir gesagt haben, daß dieser Fragebogen unzumutbar sei, ist uns gesagt worden: Aber die bisherigen Exemplare müssen weiter verbraucht werden, und zwar aus Sparsamkeitsgründen. Es ist notwendig, sich die Beschlußempfehlung, die Ihnen heute vorliegt, genauer anzusehen. Eine nüchterne Bestandsaufnahme läßt erschrecken und sollte auch Ihnen von den Koalitionsfraktionen genügend Gründe liefern, diese Beschlußempfehlung abzulehnen. Ich nenne nur einige Beispiele: Die Praxis der almosenartigen einmaligen Abfindung wird bruchlos fortgesetzt. Renten sind nur unter strengsten Bedingungen, also als Ausnahme, vorgesehen. Ganze zehn Personen bekamen eine Rente durch diese neue Regelung. Davon betrug die eine ganze 23 DM monatlich. Alle diejenigen können nichts erhalten, die bereits früher einmal einen Antrag gestellt hatten, selbst wenn dieser damals abgelehnt wurde oder wenn die Betroffenen damals eine einmalige, vielleicht nur 100 oder 200 DM umfassende Abfindung bekommen hatten. Die Betroffenen müssen nachweisen, daß sie nicht nur heute Bundesbürger sind, sondern sogar zum Zeitpunkt der Verfolgung Deutsche gewesen sind. Das ist z. B. gegenüber den Sinti und Roma geradezu ein Zynismus, die damals gerade ausgebürgert wurden. Unhaltbar, ja verfassungswidrig ist es ebenfalls, den jüdischen Verfolgten laufende Leistungen zu versagen, obwohl sie die gleichen Kriterien erfüllen wie die nichtjüdischen NS-Opfer. Weiterhin müssen die Opfer nachweisen, Fristen unverschuldet versäumt zu haben. Ganze Gruppen werden weiterhin ausgegrenzt, etwa die Zwangsarbeiter und die Kommunisten, die mit dem § 6 des Bundesentschädigungsgesetzes, einem Relikt des Kalten Krieges, um ihre Rechte betrogen wurden. Großzügig wolle man mit ihnen umgehen, hat man gesagt; aber warum konnte man denn die Richtlinie nicht ändern? Haben Sie doch heute den Mut, nachdem Sie Herrn Gorbatschow zujubeln und mit ihm Geschäfte machen, dieses Relikt des Antikommunismus und des Kalten Krieges auch aus deutschem Rechtswesen und deutscher Gesetzgebung zu beseitigen. ({4}) Nichts machte die unwürdige Ausschlußpraxis dieser neuen Härteregelung deutlicher als der Jahresbericht des Finanzministeriums; ich habe schon darauf hingewiesen. Das ist erneutes Unrecht gegenüber den Opfern. Deswegen hat eine Reihe von Bundesländern ja den Beschluß gefaßt, eine eigene Stiftung zu gründen. Ich will aber darauf hinweisen, daß das durch die Hoffnung, die wir damals in der Anhörung erzeugt haben, daß nämlich der Bund eine großzügige Regelung treffen würde, wiederum um zwei Jahre verzögert worden ist. Denn sonst hätte die Stiftung auf Länderebene schon längst mit der Arbeit begonnen. Das ist insgesamt das, was ich so deprimierend finde. Wir haben bei Menschen, die schon sehr schwer seelisch belastet waren, Hoffnungen erzeugt, und wir haben diese Hoffnungen dauernd enttäuscht. Das, finde ich, bleibt auch an diesem Parlament hängen. Es ist auch keineswegs gesichert, davon auszugehen, daß die Leistungen in Härtefällen den Betroffenen von den Sozialämtern nicht wieder genommen werden. Wir hatten ja den Antrag gestellt, daß das richtigzustellen sei. Hier nutzt auch die Beschlußempfehlung der Koalitionsfraktionen nicht viel, die die Rechtsauffassung der Bundesregierung widerspiegelt. Wenn Sie nämlich nicht, wie von uns gefordert, das Bundessozialhilfegesetz ändern, ist es den Kommunen weiterhin freigestellt, diese Leistungen anzurechnen oder nicht. Wir haben bereits entsprechende Hinweise aus den Bundesländern. Am liebsten würde ich jetzt noch einmal aus den Reden von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP vom Dezember 1987 zitieren. Schnell und unbürokratisch sollte die Hilfe sein. Damals haben selbst Staatssekretär Voss und Frau Hamm-Brücher eine Bundesstiftung mit dem Argument abgelehnt, dies würde zu lange dauern und die Betroffenen zu lange warten lassen. Die Versprechungen haben sich aus heutiger Sicht als Hohn erwiesen. Schneller und unbürokratischer ist der Ausschluß von Leistungen vonstatten gegangen. Längst hätten wir eine Bundesstiftung haben können, wenn es nur wirklich den politischen Willen dazu gegeben hätte. Die Koalitionsfraktionen haben sich in dem heute vorgelegten Entschließungsantrag wiederum - das verstehe ich nun angesichts unseres parlamentarischen Selbstverständnisses bald nicht mehr - die Feder vom Finanzministerium führen lassen. Diese Entschließung wimmelt nämlich von unverbindlichen Appellen an die Bundesregierung. Sie erläßt Prüfaufträge und bringt nur in einem Punkt, nämlich in einem Sockelbetrag bei laufenden Leistungen, eine geringfügige Verbesserung. Ich habe es ziemlich satt, hier wiederum die Prophetin zu spielen. Aber lassen Sie uns in einem Jahr einmal prüfen. Ich prophezeie schon jetzt, Sie werden die Gelder wieder nicht ausschöpfen, und zwar weil Sie wiederum die Prüfung und Ausgestaltung in die Hände derjenigen geben, die diese Gelder bisher so wunderbar für den Staat gespart haben. Nicht einmal über die in Ihrer Vorlage ursprünglich vorgesehene Verbesserung für Zwangssterilisierte wollen Sie heute vom Parlament abstimmen lassen. Ich frage Sie: Was passiert eigentlich, wenn im Herbst die Prüfaufträge ausgeführt werden? Das Parlament hat dann nämlich gar keine Möglichkeit mehr, darüber abzustimmen. Wir könnten über diese im Plenum des Bundestages nicht mehr abstimmen; wir könnten keinen Einfluß mehr nehmen. Es ist also ein leeres Versprechen. Soll dies eine neue Variante der alten Vertröstungsstrategie sein? Ich fordere Sie auf: Haben Sie doch den Mut, den politischen Irrtum einzusehen. Korrigieren Sie die Beschlußlage vom Dezember 1987, und verweigern Sie den heutigen Beschlußempfehlungen Ihre Zustimmung. Machen Sie den Weg frei für eine Bundesstiftung unter Beteiligung der Verfolgtenverbände, den einzigen, glaube ich, die diesem Parlament noch helfen können, eine einigermaßen angemessene Regelung zu finden. Ich danke Ihnen. ({5})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor zwei Jahren haben wir uns in diesem Haus mehrheitlich darauf verständigt, den Opfern nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen auf dem Wege zu helfen, der heute hier zur Diskussion steht. Wir haben uns darauf verständigt, ihnen mit einer Einmalzahlung in der bescheidenen Höhe von 5 000 DM, in einzelnen Fällen oder Gruppen von Schädigung auch mit einer bescheidenen laufenden Geldzahlung, die die Bezeichnung Rente kaum verdient, zu helfen. Wir haben damals gesagt - und wir haben es gewußt - , daß es sich hier um Regelungen handelt, die auf dem aufbauen, was in den ersten, damals knapp 40 Jahren unserer Republik geleistet wurde. Wir haben gewußt, daß wir Einschränkungen, Eingrenzungen der möglichen Regelungen aus den vorgegebenen Gesetzen hatten. Das Bundesentschädigungsgesetz und andere Gesetze konnten nicht geöffnet werden. Wir haben deswegen Härtefallregelungen vorgenommen. Wir haben in Verhandlungen erreicht, daß, nachdem ursprünglich, vor der Anhörung, Frau Vollmer, die Tendenz darauf hinausgelaufen war, gar nichts zu zahlen, wenigstens ein Fonds - ich nenne es unbürokratisch Fonds; Verzeihung, Finanzministerium - von 300 Millionen DM zur Ver11346 fügung steht, der gestreckt auf mehrere Jahre, dafür eingesetzt werden sollte, schnell und unbürokratisch - ich wiederhole die Worte, die damals gesagt worden sind - zu helfen. Ich habe damals dem Bundeskanzler dafür gedankt, daß er sich persönlich für diese Angelegenheit eingesetzt hatte. Nur durch das gemeinsame Bemühen aller Fraktionen dieses Hauses und des Bundeskanzlers gelang es, eine - wie wir es uns jedenfalls damals vorstellten - unbürokratische und wirksame Regelung auf den Weg zu bringen. Für 1988 stand diese Summe von 50 Millionen DM bereit. Jetzt mußten wir sehen, daß davon nur 1,6 Millionen abgeflossen sind. Das lag nicht etwa an der fehlenden Zahl von Antragstellungen. Es lag vor allem an verschiedenen Bremsen, die in die Richtlinien eingebaut waren. Ich fasse dabei den Begriff Richtlinien jetzt immer untechnisch und nehme auch die Verwaltungsvorschriften zu den Richtlinien hinzu. Ich sehe seit einiger Zeit, daß auch ich damals zu vorsichtig formuliert und zu sparsame Kriterien angelegt habe und damit dem Rat hochgeschätzter Finanzbeamter nachgekommen bin, der sich jetzt als falsch erwies. Jetzt wollen und werden wir aus dieser Entwicklung Konsequenzen ziehen. Die Frage ist, ob die Konsequenz, die als Alternative einer Stiftung in der Diskussion steht, hier etwas bringt. Ich bin nach wie vor davon überzeugt, daß wir mit einer Stiftung keine wesentliche Verbesserung bekämen. ({0}) Auch die Erfahrungen aus Berlin und Bremen zeigen, daß die großen Wirkungen, die man sich erhofft hatte, damit nicht eingetreten sind. ({1}) Auch Stiftungen sind an Gesetz und Recht gebunden. Auch Stiftungen haben ihre Probleme. Wir können Finanzbürokraten nicht dadurch ersetzen, daß wir neue Stiftungen schaffen. ({2}) Wir raten dringend dazu, Verbesserungen der Richtlinien und der Praxis vorzunehmen und uns auf diesem Weg weiterzubewegen. Das ist im Interesse einer sozial gerechten Härteregelung für die NS-Opfer nötig. Ich will das an einem Beispiel verdeutlichen, das wir in dem Antrag erfaßt haben. Wir hatten uns darauf eingelassen, daß jeder alleinstehende NS-Verfolgte, auch wenn sonst alle Kriterien vorliegen, dann keine laufende Entschädigung erhalten sollte, auf die er nach den sonstigen Kriterien Anspruch hätte, wenn er mehr als 1 270 DM im Monat verdient. Man muß sich einfach einmal diese Summe klarmachen, die hier als Verdienst bisher zugrunde gelegt wurde. Wer als Alleinstehender 1 271 DM oder mehr verdiente, wurde nicht als Härtefall angesehen. Aus den Anträgen wissen wir, daß viele Antragsteller 100 oder 200 DM im Monat mehr Rente erhalten oder verdienen als diese nahezu 1 300 DM. Aus den Einzelfällen wissen wir auch, daß sehr oft verfolgungsbedingte Sonderausgaben anfallen. So haben wir uns jetzt verständigt, einen Freibetrag von 300 DM vorzusehen, wodurch die Einkommensgrenze praktisch um diesen Betrag erhöht wird. So klein die Summe im Einzelfall ist, so groß wird die Wirkung für die Betroffenen sein, die mit 1 271 DM oder mehr im Monat auskommen müssen. Sie werden jetzt von uns als Härtefälle anerkannt werden, wenn diese Regelung eintritt. Ich will hier noch einmal darauf hinweisen, daß es uns darum geht, daß bei dieser Berechnung der Einkommensgrenzen insbesondere die Empfänger von Härtefalleistungen in die Lage versetzt werden sollen, weitestgehend unabhängig von der Sozialhilfe zu leben. Wir halten es für nicht erträglich, daß man denjenigen zum Sozialhilfeempfänger macht, der als NS-Verfolgter Anspruch auf laufende Leistungen hat. ({3}) Ich will nicht die verschiedenen Einzelbereiche durchgehen, in denen wir der Bundesregierung dringend empfehlen, die Richtlinien oder deren Anwendungspraxis zu verbessern. Frau Kollegin Wisniewski hat darauf im einzelnen schon hingewiesen. Wir stehen in einzelnen Fragen auch noch in einer Prüfung. Wir bitten jedoch die Bundesregierung - das sage ich mit allem Nachdruck - , für Verbesserungen aufgeschlossen zu sein und wie bisher mit dem Unterausschuß Wiedergutmachung konstruktiv zusammenzuarbeiten. ({4}) Frau Kollegin Vollmer, Sie haben davon gesprochen, wir hätten uns vom Finanzministerium sagen lassen, was wir beschließen. ({5}) Ich bitte Sie zu beachten, daß wir bei allen Finanzdingen auch das berücksichtigen, was unsere Haushälter - nicht der Finanzminister - mit akzeptieren. ({6}) Wir können nicht leichthin finanzwirksame Beschlüsse fassen und dann nicht wissen, wie das finanziert werden soll. Deswegen brauchen wir die Rückkoppelung mit dem Finanzministerium ({7}) und unseren Haushältern. Ich möchte eines von dem wiederholen, was Frau Kollegin Wisniewski zu dem Prüfauftrag an die Bundesregierung gesagt hat. ({8}) Die Bundesregierung sollte insbesondere eine Änderung der zur Durchführung der Härterichtlinien geltenden Verwaltungsvorschriften dahin gehend vornehmen, an Stelle des bisher geforderten Gutachtens eines Facharztes die Vorlage eines hausärztlichen Attestes grundsätzlich als ausreichenden Nachweis für einen sterilisationsbedingten Gesundheitsschaden anzuerkennen. Ich glaube, man muß hier sehen, daß man an diejenigen, die von Ärzten geschädigt worden sind, nicht mit der normalen Latte der Anforderung medizinischer Zeugnisse herangehen kann; ({9}) denn diese haben auf Grund dessen, was mit ihnen geschehen ist, ihre subjektiven Vorurteile, und sie dürfen sie auch haben. ({10}) Deswegen müssen wir über diesen Punkt springen und von dem Nachweis durch den Facharzt wegkommen. Das sage ich hier mit aller Deutlichkeit. Ich möchte zwei Bitten anknüpfen, die unmittelbar mit den Verfolgten zu tun haben, aber nur mittelbar mit den heutigen Richtlinien. Die eine ist diese: Bei den Richtlinien geht es um die nichtjüdischen Verfolgten. Wir wissen aber, daß es auch noch zahlreiche jüdische Verfolgte gibt, die unter vergleichbaren Kriterien vergleichbare Ansprüche haben, die über die Claims Conference geregelt werden. Ich habe die Bitte an die Bundesregierung, die Gespräche mit der Claims Conference konstruktiv fortzuführen ({11}) und zu befriedigenden Regelungen zu kommen. Diese Regelungen schließen auch Wünsche ein, die die Bundesregierung kennt. Ich denke an den berechtigten Hinweis auf die verfolgten NS-Opfer, die heute in Israel ihren Lebensabend verbringen und von ihrer Rente kaum einen Platz im Altersheim finanzieren können. Hier kann mit kleinem Geld große Hilfe bei der Errichtung von Altersheimen gegeben werden. Die zweite Bitte: Wir wissen, daß bei dem Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen noch mehr als tausend Wünsche angemeldet, Ansprüche gestellt sind. Meine Bitte an die Bundesregierung: Suchen Sie im Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar bald Klarheit darüber zu gewinnen, welcher der Bittenden anspruchsberechtigt ist. Auch Klarheit über eine Entscheidung kann klärende Hilfe geben. Lassen Sie mich zum Abschluß noch einige allgemeine politische Bemerkungen aus gegebenem Anlaß zu diesem Tagesordnungspunkt anfügen. Wir haben bei der Beratung der Richtlinien nach der Anhörung vor zwei Jahren und vielleicht auch in der Folgezeit vielleicht zuwenig erwähnt, daß es sich bei denen, für die wir hier etwas erreichen wollen, um jene Mitbürger handelt, die seit mehr als den vierzig Jahren, auf die die Bundesrepublik jetzt so stolz ist, mit uns leben, ohne daß häufig der Nachbar weiß, welche Greuel ihm der andere Nachbar angetan hat. Heute reden wir über die Opfer des NS-Regimes und wir reden zu ihnen, zu denen, die heute mit uns leben. Aber wir müssen auch sagen: Es sind nicht bloß Opfer eines Regimes. Die Opfer des NS-Terrors sind Opfer der Vollstrecker dieses Terrors. Und diese Vollstrekker sind mitten unter uns. ({12}) Sie waren in der allgemeinen SS, und sie waren auch in der Waffen-SS. Schönhubers Wähler müssen wissen, daß von Schönhubers Kameraden viele den KZ-Mördern Schutz gaben. ({13}) Nicht nur die Täter leben noch, sondern auch die Opfer. Das bleibt unser Problem, unsere Herausforderung an die politische Verantwortung und unsere Chance zu politischer Bewältigung deutscher Vergangenheit aus dunkler Zeit. ({14}) Wir sagen dazu jedem - zu jedem, in welchem Rang in dieser Republik er auch steht - , der die Geschichtsbücher und die Geschichtslehrer der letzten 40 Jahre kritisiert, wie es die Republikaner in ihrem Programm ausdrücklich aufgeführt haben: Geschichtliche Wahrheit läßt sich nicht durch Diffamierung der Wahrheitsvermittler aus der Welt schaffen. Das gilt auch für die Opfer, aber ebenso für die Täter. Wir brauchen Geschichtsübermittlung umfassend. Nur so können wir verhindern, daß es Leute wie Schönhuber weiterhin wagen können, einen Satz zu sagen, den ich nur mit Abscheu zitiere: „Die Deutschen" , sagte er, „haben der Menschheit viel mehr gegeben, als Auschwitz je kaputtmachen kann." Weil ein solcher Satz von einem derer gesagt worden ist, die die Parole verbreiten, deutsche Lehrer betrieben Geschichtsfälschung, müssen wir uns vor undifferenzierter Lehrerschelte hüten. Wir sollten uns verpflichtet sehen, wenigstens eine Anerkennung für das Leid auszusprechen, wenn wir schon keine wirkliche Wiedergutmachung erbringen können. ({15}) - Wirkliche Wiedergutmachung können wir nicht leisten; das ist unmöglich. Aber wir können einen Beitrag dazu leisten, wenigstens eine Anerkennung für das Leid auszusprechen. ({16}) Ich bitte Sie um Zustimmung zu dem heute vorgelegten Entschließungsantrag, damit wir die Fehler korrigieren können, bei denen dies auch im Zielkonflikt zwischen politisch gewollter Großzügigkeit einerseits und vom Haushalt gesetzten Schranken andererseits nicht nur vertretbar, sondern auch notwendig ist. Danke. ({17})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Schröer.

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Professor Wisniewski, Ihre Rede mindert nicht meine Wertschatzung für Sie, aber Schröer ({0}) sie bedrückt mich, und zwar deswegen, weil Sie offensichtlich unter Druck stehen, unter Druck aus Ihrer eigenen Fraktion. Sie haben sich hinter Formalien zurückgezogen, obwohl es doch nur darauf ankam, Menschlichkeit sichtbar werden zu lassen. Und ich weiß, daß Ihnen das nicht fremd ist. Aber Sie haben eine rein formale Rede gehalten. Das tut mir weh.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Professor Wisniewski?

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Selbstverständlich.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Frau Wisniewski!

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Schröer, wissen Sie, daß ein Arzt helfen kann, indem er die notwendigen Schnitte tut, und nicht dadurch, daß er sein Mitgefühl ausspricht? ({0})

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich glaube, wir haben es hier nicht mit einer Operation zu tun, sondern wir haben es hier mit Leuten zu tun, die schon einmal schlimme Sachen erfahren haben, zum Teil auch in Form von Operationen, und denen wir jetzt menschlich entgegenkommen sollten. Da sollten wir das Wort Operation nach Möglichkeit vermeiden. Ich denke, der letzte Sonntag hat gezeigt, daß es Menschen bei uns, in unserem Lande gibt, die bewußt zwölf Jahre unserer jüngsten Geschichte beiseite schieben, verdrängen wollen. Wer dies mitmacht, verleugnet nicht nur unsere Vergangenheit, sondern er versündigt sich auch an unserer Zukunft. Wir wollen uns all dem Schrecklichen und dem Bitteren, was sich mit unserer historischen Schuld verbindet, stellen. Deshalb ist unsere erste Aufgabe, denen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, die ungerechtfertigt haben leiden müssen. Meine Damen und Herren, vor einigen Monaten haben wir, die Mitglieder des Unterausschusses NS-Unrecht, die Oberfinanzdirektion in Köln besucht, die ja, wie Sie wissen, mit der Regelung von Entschädigungsansprüchen nach den sogenannten Härterichtlinien beauftragt ist. Wir hatten mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Behörde gute Gespräche, die bei mir den Eindruck hinterließen: Da gibt es zwar viel überflüssige Bürokratie, aber die, die dort arbeiten, sind in der Sache durchaus engagiert. Menschen zu helfen ist ihr Ziel. Ich habe jedenfalls keinen Grund, die Beschäftigten dieser Behörde in irgendeiner Form zu tadeln. Aber ich habe Grund, uns zu tadeln, oder besser gesagt: die Mehrheit dieses Hauses zu tadeln. Wir haben hingenommen, daß alte Menschen, die wahrlich Schreckliches genug erlebt haben, wie ein junger Mann behandelt werden, der zum Wohnungsamt kommt und Wohngeld beantragt. Ihm sagt man: „Bitte füllen Sie das Formular aus. " Eine Frage in diesem Formular, das die Menschen, über die wir jetzt reden, ausfüllen müssen, lautet: Waren Sie jemals Mitglied der NSDAP? ({0}) Welche Gefühle müssen da bei jemandem hochkommen, der von den Nazis gepeinigt worden ist? ({1}) Was ich sagen will, ist: Wir Glücklichen, die nicht gepeinigt wurden, praktizieren Rechtsstaat: Gesetze, Fragebögen, Einspruchsmöglichkeit, Berufungsverfahren. Aber der Rechtsstaat kann auch zur Behörde und zum Formular denaturieren. Ich denke, Menschen, die Schweres erlitten haben, sollten nicht obrigkeitsstaatlich drangsaliert werden. Deshalb brauchen wir die Stiftung, die eben nicht mehr obrigkeitsstaatlich ist, sondern mit Menschen besetzt ist, die vielleicht auch etwas mehr von dem Thema verstehen als andere. Diese Stiftung haben wir seit Jahren gefordert. Nur so gibt es die Möglichkeit, daß menschlich und nicht bürokratisch über Schicksale befunden wird. Schicksale - ich nenne zwei. Da gibt es einen Mann aus Polen, der 1942 nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurde. 1946 wurde er von der damaligen britischen Besatzungsmacht nach Großbritannien verbracht, weil er Koch ist. Nach seiner Rückkehr in die Bundesrepublik 1966 heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. Er ist zu 100 schwerbehindert. Bis heute hat er nicht eine Mark Entschädigung für erlittenes Unrecht erhalten, weil er zum Zeitpunkt der Verschleppung kein deutscher Staatsangehöriger war. Seine deutsche Ehefrau schreibt sich die Finger wund, um ihm zu helfen. Antwort z. B. des Bundesarbeitsministeriums - ich zitiere - : „Wir haben Ihr Schreiben mit Interesse zur Kenntnis genommen. Das Inkrafttreten der Härterichtlinien hat an der bisherigen Rechtsprechung nichts geändert." ({2}) Die Frau hat geweint, als sie mir diesen Brief übergab. Was mich bewegt, ist, ob wir eigentlich merken, daß wir in zwei verschiedenen Welten leben: hier der Staat und dort die, für die wir Gesetze machen. ({3}) Ein Mann aus meinem Wahlkreis wurde mit 16 Jahren zwangssterilisiert. Er war aktiv in der evangelischen Jugendarbeit tätig. Weswegen wurde er sterilisiert? Aus unerfindlichen Gründen. Heute ist er 68 Jahre alt. Er hat nie geheiratet. Bis heute hat sich dieser Mann nicht getraut, mit einem Arzt über seinen Fall zu reden. Er ist in Scham getrieben worden. Warum? Weil andere ihm Schändliches angetan haben, nein mehr: ein Verbrechen an ihm verübt haben. Dieser Mann wird nie fröhlich sein können. Er wird nie einen Fragebogen ausfüllen. Deshalb wird er auch nie die läppische Pauschalzahlung von 5 000 DM erSchröer ({4}) halten, weil er sich für etwas schämt, was ihm angetan worden ist. Wer die Briefe liest, die die Mitglieder unseres Ausschusses in den letzten Monaten erhalten haben, der kann davon innerlich nicht unberührt bleiben. Sie rühren zu Tränen. Allein, mit Tränen ist es ja nicht getan. Was die Betroffenen von uns erwarten, erwarten dürfen, ist, daß wir endlich handeln, wie wir es seit zwei Jahren versprochen haben, und uns unseren Handlungsspielraum nicht vom Bundesfinanzminister vorgeben lassen, sondern ihn endlich als Parlament selbst bestimmen. Das Parlament ist gefordert, nicht der Bundesfinanzminister. ({5}) Morgen ist hierzu Gelegenheit.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer?

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, Frau Vollmer.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Frau Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, wie würden Sie in diesem Zusammenhang denn die Praxis im Unterausschuß sehen? Sehen Sie überhaupt noch irgendeine Chance, daß er seinen Auftrag, nämlich die Praxis des Finanzministeriums zu kontrollieren, wahrnehmen kann?

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich denke, daß wir hierüber gemeinsam nachdenken sollten und dann in den Ausschuß hineingehen und versuchen, diejenigen, die auf der anderen Seite, der Regierungsbank, sitzen, von dem Willen des Parlaments zu überzeugen. Morgen ist Gelegenheit dazu, unsere drei Anträge, die Ihnen vorliegen, einzubrinen. Wir bitten Sie sehr herzlich, in den Ausschußberatungen noch einmal darüber nachzudenken, ob wir seinerzeit nicht etwas vorschnell gehandelt haben, als wir eben nicht die Stiftung, sondern die Härterichtlinien beschlossen haben. Wir bitten Sie, diesen Anträgen zuzustimmen, weil sie helfen können, Mißstände, offenkundige Mißstände zu beheben. Es geht uns nämlich - das sage ich jetzt für meine ganze Fraktion - bei diesem Thema nicht darum, daß die SPD-Fraktion recht behält; es geht uns darum, daß Menschen, die Unsägliches erlitten haben, endlich zu ihrem Recht kommen. Das ist der Punkt, um den es uns geht. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Werner ({0}).

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte einiges zu dem Antrag der GRÜNEN bezüglich Bundessozialhilfegesetz sagen. Im Namen Deutschlands und von Deutschen wurden - es war hier schon erwähnt worden - unermeßliche Verbrechen begangen. Millionen von Menschen wurden ermordet, unzähligen Menschen wurde durch die Vernichtung von Familienangehörigen, durch den Raub von Vermögen, durch körperliche und seelische Qualen, durch Zerstörung von Lebensplanungen und Entwicklungschancen Schäden und Leid zugefügt, die sich durch finanzielle Leistungen letztlich niemals abgelten oder gar wiedergutmachen lassen. So wird alle finanzielle Hilfe für NS-Verfolgte und NS-Geschädigte stets nur ein bescheidener Beitrag zur Lebensgestaltung und Lebensbewältigung sein können, vor allen Dingen dort, wo die Betroffenen ihr Leben mittels öffentlicher Hilfe fristen müssen, wo es sich also um Härtefälle handelt. Deswegen, glaube ich, steht für uns alle hier fest: NS-Verfolgte haben ein Anrecht auf eine Entschädigung, erforderlichenfalls auf Versorgung. Dies ist eine Frage der elementaren Gerechtigkeit. Um so mehr kommt es darauf an, daß NS-Verfolgte, die ohne eigenes Zutun in Not geraten sind und laufende oder einmalige Leistungen aus dem sogenannten Härtefonds bzw. vergleichbare Leistungen aus Stiftungen und Fonds auf Länder- und Kommunalebene oder aus privatrechtlichen Stiftungen erhalten, diese Leistungen nicht auch noch auf die Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz angerechnet bekommen. Die Fraktion DIE GRÜNEN wollte dies durch eine Änderung des Bundessozialhilfegesetzes gesichert haben. Nach ausführlicher Beratung im federführenden Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ist dieser Ausschuß mit den Stimmen von CDU/ CSU, FDP und SPD zu dem Schluß gekommen, daß eine derartige Gesetzesänderung überflüssig ist. Die Richtlinien der Bundesregierung über die Härteleistungen an Opfer von nationalsozialistischen Unrechtsmaßnahmen von März 1988 stellen klar, daß die von den GRÜNEN befürchtete Anrechnung und damit eine Minderung der Einkünfte nicht stattfindet. Auch § 77 BSHG, der sich mit der Anrechnung von „demselben Zweck" dienenden Leistungen auf Sozialhilfeleistungen befaßt - so heißt das so schön - kann keine Grundlage für eine Anrechnung bieten. Daß Härtefondsleistungen angerechnet werden können, wurde von der Bundesregierung abgestritten. Die obersten Landessozialbehörden haben dies in einer entsprechenden Besprechung gleichfalls eindeutig festgestellt. ({0}) Härtefondsleistungen werden also entsprechend den Leistungen des Bundesentschädigungsgesetzes behandelt. Somit, Frau Vollmer, sieht das geltende Gesetz und sehen die von Bund und Ländern beschlossenen Verwaltungsvorschriften eindeutig vor, daß die befürchtete Anrechnung eben nicht stattfindet. ({1}) Eine Anrechnung wäre also ein Rechtsverstoß! Wir fordern die Bundesregierung auf, allen Behörden nachdrücklich klarzumachen, daß wir derartige Rechtsverstöße nicht hinnehmen würden! Sollten derartige Fälle offenkundig geschehen, so werden wir für Werner ({2}) gesetzliche Klarstellungen eintreten. Aus diesen Gründen - aber nur aus diesen Gründen - erübrigt sich die Umsetzung des Antrags der GRÜNEN auf Drucksache 11/1396. ({3}) Deswegen, meine Damen und Herren, lehnen wir den Antrag der GRÜNEN ab und bitten Sie, die Beschlußempfehlung zu unterstützen. Vielen Dank. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen, Herr Voss.

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Kollegin Vollmer, Ihr Maßstab für Gerechtigkeit ist offensichtlich ein anderer als der meine. ({0}) Das will ich hier nicht qualifizieren. Nur, Ihre pauschalen Vorwürfe gegen das Finanzministerium und dessen Beamte muß ich hier mit aller Klarheit zurückweisen. ({1}) Im übrigen, Frau Kollegin Vollmer, scheinen Sie es mit der Wahrheit nicht ganz so ernst zu nehmen. ({2}) Denn Ihre Behauptung, es seien Leistungen nach den Härterichtlinien auf Sozialleistungen angerechnet worden, stimmt nicht. Es gibt keinen einzigen Fall! Und wenn Sie einen Fall kennen, dann bitte ich Sie, mir diesen Fall nachzuweisen. ({3}) Der Kollege Werner hat soeben schon darauf hingewiesen, daß wir mit Argusaugen immer darauf geachtet haben, daß das nicht geschieht. Selbst bei größeren Nachzahlungen ist das nicht geschehen. Wenn Sie andere Fälle an der Hand haben, bitte ich Sie, sie mir zu nennen. Wir werden dann nachsehen, ob Sie oder ob wir recht haben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Hämmerle?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Frau Hämmerle!

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist das, was ich Sie jetzt fragen möchte, ein Einzelfall, kommt es vor, oder kann es überhaupt nicht vorkommen? - Eine 84jährige Sinti-Frau bekommt mit 84 Jahren 15 000 DM Entschädigung für Auschwitz. Diese 15 000 DM werden ihr vom Sozialamt der Stadt Karlsruhe auf ihr übriges Einkommen, auf ihr Vermögen und auf ihre Sozialhilfe voll angerechnet. ({0})

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Ja, das habe ich getan. Das beruht auf den Erkenntnissen, die wir im Finanzministerium haben. Und Sie können schon davon ausgehen, Herr Kollege, daß wir uns alle Mühe machen - ({0}) - Nein, nein, wir machen uns genausoviel Mühe, wie sich alle an diesem Verfahren, an dieser Wiedergutmachung Beteiligten machen; davon können Sie ausgehen. - Frau Kollegin, ich kann auf einen Einzelfall, den Sie hier jetzt gerade genannt haben, natürlich nicht in der notwendigen Klarheit eingehen. ({1}) Aber wir werden das prüfen und Ihnen einen schriftlichen Bescheid geben. Ich darf vorweg, meine Damen und Herren, auf noch etwas eingehen - der Kollege Lüder hat es hier angemerkt, und Sie, Frau Kollegin Schmidt, sind auch darauf eingegangen - , nämlich auf das Gespräch mit dem Hohen Flüchtlingskommissar. Wir sind mit dem Hohen Flüchtlingskommissar - das wissen Sie, Frau Schmidt, und das wissen auch Sie, Herr Kollege Lüder - seit längerer Zeit im Gespräch. ({2}) Wir haben ihn im Februar dieses Jahres aufgefordert, uns einmal Fälle zu nennen, in denen Flüchtlinge nach der Genfer Konvention betroffen sind. Da ist bis heute keinerlei Reaktion erfolgt, Frau Kollegin Schmidt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage zuzulassen, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Schmidt?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Bitte sehr. - Aber dann die letzte, Herr Präsident; sonst werde ich in der Zeit nicht fertig.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ja, ich passe auf. - Bitte schön, Frau Schmidt.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt, daß aus Ihrem eigenen Hause Schreiben an Petenten gerichtet wurden, daß sie zwar aus Mitteln des Fonds des Hohen Flüchtlingskommissars eine Entschädigung erhalten könnten, daß die Frau Schmidt ({0}) Mittel aber erschöpft seien, und wissen Sie ebenfalls, daß der Hohe Flüchtlingskommissar es ablehnt, bei den Betroffenen Hoffnungen zu wecken, wenn hinterher keine Mittel dafür zur Verfügung stehen? Ist es also nicht so, daß erst einmal die grundsätzliche Bereitschaft erklärt werden muß, Mittel zur Verfügung zu stellen, bevor man in Einzelfälle geht?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Also, Frau Kollegin Schmidt, die Mittel und deren Zurverfügungstehen, das ist hier nicht die Frage. ({0}) Wir haben, wie ich soeben gesagt habe, den Hohen Flüchtlingskommissar aufgefordert, uns entsprechende Fälle zu nennen. Wir müssen uns hier an Recht und Gesetz halten. ({1}) Und wenn derartige Fälle nicht genannt werden, dann beruht das offensichtlich darauf, daß der Hohe Flüchtlingskommissar keine nennen kann. Und wenn Sie Fälle haben, ({2}) dann fordere ich auch Sie auf, uns diese Fälle einmal zu nennen. Meine Damen und Herren, die Bundesregierung hat, der Entschließung dieses Hauses vom 3. Dezember 1987 folgend, eine neue, das Allgemeine Kriegsfolgengesetz ergänzende Härteregelung für die von NS-Unrechtshandlungen Betroffenen, die nicht Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes sind, sowie Verbesserungen bezüglich der Voraussetzungen für Leistungen aus dem Wiedergutmachungsdispositionsfonds geschaffen. Beide Regelungen sind, wie bereits erwähnt worden ist, unter dem 7. März 1988 im Bundesanzeiger veröffentlicht worden. Bisher sind etwa 2 000 Anträge auf Härteausgleich nach den neuen AKG-Richtlinien eingegangen. Der Innenausschuß und der Unterausschuß „Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts" haben den Antragseingang und den Mittelabfluß zum Anlaß genommen, Verbesserungen der Härteregelungen zugunsten der Betroffenen zu prüfen. Die Bundesregierung begrüßt diese Initiativen. Sie wird die erbetenen Prüfungen so schnell wie möglich vornehmen. Allerdings sollten wir uns vor der Illusion bewahren, daß mit den Prüfungsergebnissen grundlegende Korrekturen der seit Jahren abgeschlossenen Gesetzgebung im Entschädigungsrecht erreicht werden. Erstens. Die Anhörung vor dem Innenausschuß im Sommer 1987 hat ergeben, daß eine Novellierung des Bundesentschädigungsgesetzes nicht in Betracht kommt. Hierauf haben Sie, Frau Kollegin Wisniewski, und Sie, Herr Kollege Lüder, richtigerweise hingewiesen. ({3}) - Sie hat nichts anderes ergeben, Frau Kollegin. Dies hat zur Folge, daß die gesetzlichen Vorschriften des Bundesentschädigungsgesetzes oder des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes den Spielraum bestimmen, in denen Härterichtlinien ergänzende Wirkung entfalten. Die Exekutive muß hier die Vorgabe des Gesetzgebers achten. Zweitens. Seit 1980 und 1981 gelten die Härteregelungen für jüdische und für nicht jüdische Verfolgte. Aus Gründen der Gleichbehandlung mit den Verfolgten im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes ist es nicht möglich, für andere NS-Geschädigte Härteregelungen zu treffen, die besere oder unter großzügigeren Voraussetzungen zu gewährende Leistungen vorsehen. Drittens. Einer Entschädigung ausländischer Zwangsarbeiter steht das Londoner Schuldenabkommen vom 27. Februar 1953 entgegen. ({4}) Bei Forderungen wegen Zwangsarbeit handelt es sich um Reparationsforderungen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg. Nach den Grundsätzen des Völkerrechts können diese nur von Staat zu Staat geltend gemacht werden. Die Prüfung dieser Forderungen ist nach Art. 5 Abs. 2 des Abkommens bis zur endgültigen Regelung der Reparationsfrage zurückgestellt worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatssekretär, gestatten Sie noch einmal eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Ja, bitte schön.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Staatssekretär, da Sie sich immer auf das Londoner Schuldenabkommen beziehen: Die Auslegung ist ja umstritten, aber wenn Sie es so tun, wieso gab es dann die Möglichkeit, den westlichen Staaten gegenüber solche Globalabkommen abzuschließen, und wieso gibt es das z. B. gegenüber der Volksrepublik Polen nicht?

Dr. Friedrich Voss (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002396

Wir haben uns immer an Recht und Gesetz gehalten, Frau Kollegin. ({0}) Wenn Sie eine Minderheitsmeinung zitieren, die es überall in der Juristerei gibt, dann ist das kein Maßstab für unsere Haltung. ({1}) - Nein, Sie haben nicht meine Meinung zitiert. ({2}) - Ich habe Ihnen gerade dargelegt, Frau Kollegin, was wir auf Grund des Londoner Schuldenabkom11352 mens können und was wir nicht können. Da ist unsere Auslegung dieses Abkommens. ({3}) Wenn Sie sich hier einer Minderheitsmeinung anschließen, ist das Ihre Sache. Aber Sie können von mir nicht verlangen, daß ich ihr folge. ({4}) Die Bundesrepublik Deutschland ist auf Grund des Abkommens auch gehindert, an Staaten Zahlungen zu leisten, die dem Abkommen nicht beigetreten sind. Zu der Initiative, die Gesamtproblematik interfraktionell noch einmal zu erörtern, darf ich zu bedenken geben, daß die ausführlichen Beratungen im Innenausschuß und im Unterausschuß für Wiedergutmachung zur Einbringung des angesprochenen Entschließungsantrags geführt haben. Die Bundesregierung hält deshalb eine zusätzliche interfraktionelle Erörterung vor Abschluß der erbetenen Prüfungen nicht für geeignet, zu den angestrebten kurzfristigen Verbesserungen zu kommen. Das Bundesministerium der Finanzen wird sich bemühen, den im Entschließungsantrag gestellten Forderungen so zügig wie möglich nachzukommen. ({5}) Das gilt im übrigen auch für die an die Kolleginnen und Kollegen in diesem Hause herangetragenen Einzelschicksale. Auch hier habe ich wiederholt meine Mithilfe zu unbürokratischem Handeln angeboten. Im übrigen - das mag den einen oder anderen von Ihnen beruhigen - wird der vom Deutschen Bundestag beschlossene Betrag von 300 Millionen DM in voller Höher für die Betroffenen ausgegeben, so daß gegenteilige Befürchtungen völlig unbegründet sind. Ich danke Ihnen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen im Rahmen von Tagesordnungspunkt 5 a zunächst zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4831. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat hierzu nach Abschnitten getrennte Abstimmung beantragt. Wer stimmt für Nr. 1 des Änderungsantrags der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4831? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltung? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Wir stimmen über Nr. 2 des Änderungsantrages auf Drucksache 11/4831 ab. Wer zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Danke schön. Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieser Teil des Antrages ist mit derselben Mehrheit abgelehnt. Wir kommen zu Nr. 3 derselben Drucksache. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Wiederum mit derselben Mehrheit abgelehnt. Wir stimmen über Nr. 4 ab. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Dieselbe Mehrheit. Ich stelle fest, daß damit der Änderungsantrag insgesamt durch alle Einzelabstimmungen abgelehnt worden ist. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/4820. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Änderungsantrag ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden. Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/2195 mit der soeben beschlossenen Änderung. Wer stimmt für die Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit auf Drucksache 11/2977 ab. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1396 abzulehnen. Wer dieser Beschlußempfehlung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen. Meine Damen und Herren, die Abgeordnete Frau Professor Wisniewski hat eine persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung zu Protokoll gegeben. Diese Erklärung beschäftigt sich mit der Wiedergutmachungsdebatte vom 3. Dezember 1987. Sie betrifft den Kollegen Waltemathe und eine Äußerung von ihm. Ich nehme diese Erklärung zu Protokoll und wäre dankbar, wenn der Kollege Waltemathe darauf hingewiesen würde, damit er sie lesen kann. * ) Nun rufe ich Punkt 6 der Tagesordnung auf: Beratung des Berichts des Petitionsausschusses ({0}) Bitten und Beschwerden an den Deutschen Bundestag Die Tätigkeit des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages im Jahre 1988 - Drucksache 11/4570 Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Es erhebt sich kein Widerspruch; dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Pfennig.

Dr. Gero Pfennig (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001706, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor nicht ganz einem Monat haben wir das 40jährige Bestehen des Grundgesetzes gefeiert. Im Grundgesetz ist auch das Petitionsrecht ent- *) Anlage 2 halten. Es ist ein Grundrecht, das trotz seiner jahrhundertelangen Geschichte ein sehr modernes Recht geblieben ist. Es ist im Bewußtsein der Bürger fest verwurzelt und nicht wegzudenken. In den ersten Wahlperioden des deutschen Bundestages lag die Zahl der Eingaben meist deutlich über 5 000 pro Jahr, niemals darunter. Seitdem hat sich die Zahl der Eingaben zwischen 11 000 und 13 000 eingependelt. In den Jahren des Bestehens des Bundestages sind insgesamt 366 204 Petitionen bearbeitet worden - zuzüglich weit über 2 Millionen Massenpetitionen. Die Neugestaltung des Petitionswesens im Jahre 1975 hatte in der Öffentlichkeit Signalwirkung. Auch der vorliegende Bericht des Petitionsausschusses für das Jahr 1988 macht deutlich, daß in der Bevölkerung ein elementares Bedürfnis besteht, sich bei Beschwerden an eine unabhängige Institution wenden zu können, ohne rechtliche oder tatsächliche Nachteile befürchten zu müssen. Der Petitionsausschuß sieht seine Aufgabe in der Verwaltungskontrolle und in der Gesetzeskontrolle. Im letzten Jahr haben viele Petenten und Petentinnen die Gelegenheit genutzt, ihre Meinung zu Gesetzesnovellen wie etwa dem Steuerreform- oder dem Gesundheitsreformgesetz zu artikulieren oder eine Wohnungsbauförderung des Bundes zu verlangen. Fast 600 Eingaben gingen zur Bundesgesetzgebung ein. Über 13 200 Bürger haben sich darüber hinaus mit Einzeleingaben an den Ausschuß gewandt. Die Zahl der Massenpetitionen ist auf über 2 Millionen gestiegen und bewegte sich im Jahre 1988 bei 240 000. Die meisten von ihnen sprachen Probleme des Umweltschutzes an. Daran ist eine verstärkte Sensibilität der Bevölkerung für Fragen des Umwelt- und Naturschutzes abzulesen. Ein ähnliches Gespür für die Arbeit des Ausschusses - das muß ich hier anmerken - hatte die Bundesregierung im Berichtsjahr 1988 zumindest in zehn Fällen vermissen lassen, ({0}) in denen die Regierung dem Votum des Bundestages, daß das Anliegen des Petenten begründet oder Abhilfe notwendig sei, nicht oder nur verspätet oder unvollständig gefolgt ist. Dementsprechend ist der Ausschuß nicht mehr bereit, diese Haltung der Bundesregierung zu akzeptieren, und er wird ablehnende Entscheidungen nur noch in begründeten Ausnahmefällen hinnehmen. ({1}) Wie in den Vorjahren erhielt der Petitionsausschuß Zuschriften aus sämtlichen Bereichen. Ein besonderer Schwerpunkt war wieder die Arbeits- und Sozialverwaltung. Ich erinnere daran, daß es der Ausschuß immer als besondere Aufgabe verstanden hat, sich um die Integration Behinderter in unserer Gesellschaft zu kümmern. Dementsprechend finden Sie viele Petitionen zu diesem Thema in dem Jahresbericht, etwa zur behindertengerechten Beförderung bei der Deutschen Bundesbahn oder auf Fahrgastschiffen. Ich möchte hier nur einmal anmerken, daß z. B. das Bundespresseamt versprochen hat, Besuchergruppen des Parlaments nur bei solchen Schiffahrtsgesellschaften zu buchen, die für eine behindertengerechte Ausstattung ihrer Schiffe sorgen werden. Ich finde, das ist ein guter, praktischer Anfang. Wir haben gute Erfolge auch im Bereich der Opferentschädigung erzielt, bei Opfern von Gewaltkriminalität. Vor allen Dingen haben wir einen Fall eines Dauerärgernisses für die Bürger im Jahre 1988 lösen können: Die Deutsche Bundespost hat endlich einen Weg gefunden, Subskriptionsangebote für ihre Breitbandkabelanschlüsse in Zukunft wirklich einhalten zu können. Ich habe Ihnen hier nur wenige Beispiele nennen können. Ich kann Ihnen versprechen, der Petitionsausschuß wird sich auch 1989 weiterhin bemühen, Dauerärgernisse aus der Welt zu schaffen. Wir werden 1989 dazu eine Sitzung mit den Vorsitzenden aller Petitionsausschüsse der Landtage und des Bundestages erstmalig gemeinsam in Form einer Arbeitssitzung in Berlin haben. Ich hoffe, daß wir dabei einige Probleme im gemeinsamen Bereich von Bundes- und Landeszuständigkeit grundsätzlich lösen können. Herzlichen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich bitte eine Zwischenbemerkung machen; ich glaube, ich tue das im Namen aller Kollegen, die an dieser wichtigen Arbeit der Petitionsbetreuung teilnehmen: Wir haben schon einmal den Versuch gemacht, die Bundesregierung zu einer solchen Debatte heranzuholen. Wir hatten damals sehr deutliche Worte sprechen müssen, um sie zahlreich vertreten zu sehen. Offensichtlich haben wir ins Leere gesprochen. Das finde ich nicht gut. ({0}) Es gibt zwar kein direkt dem Petitionsausschuß gegenüberstehendes einzelnes Ressort, ({1}) aber wir alle wissen genau, daß fast alle Ressorts betroffen sind. Der Präsident kann nur handeln, wenn er Anträge zu dem Thema hier bekommt; aber er wollte doch diese Bemerkung machen. ({2}) Der nächste Redner ist der Abgeordnete Zumkley. Bitte schön.

Peter Zumkley (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002608, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über 13 000 Bürgerinnen und Bürger haben sich im vergangenen Jahr in Einzeleingaben und weitere in über 240 000 Massenpetitionen an den Petitionsausschuß des deutschen Bundestages gewandt. Dies bedeutet eine nicht unerhebliche Steigerung der Eingaben gegenüber dem Vorjahr 1987. Zum Ver11354 gleich: 10 992 Eingaben 1987, 13 222 Eingaben 1988. In diesem Zusammenhang danke ich namens meiner Fraktion dem Ausschußdienst, der die wichtigen Vorarbeiten zur Entscheidungsfindung im Berichtsjahr erneut erfolgreich geleistet hat. ({0}) Dies, meine Damen und Herren, ist nicht immer einfach, weil man gelegentlich erst durch ständiges, wiederholtes Nachfragen in den betroffenen Ministerien den oft komplizierten Sachverhalt klären kann. Die Gewährleistung des Petitionsrechts erfordert auch in Zukunft eine ausreichende personelle Besetzung des Ausschußdienstes und zu dessen Unterstützung eine gute technische Ausstattung, z. B. auch die Hilfe moderner Datenverarbeitung. Der Tätigkeistbericht der Bundesregierung weist aus, daß die Bundesregierung knapp ein Drittel der ihr zur Berücksichtigung überwiesenen Petitionen letztlich nicht berücksichtigt hat. Ich hoffe an dieser Stelle, daß der Petitionsausschuß die Bundesregierung nicht so arg verprellt hat, daß sie nicht mehr im Saale weilt. Ich bitte darum, doch dafür Sorge zu tragen, daß wenigstens ein oder zwei Vertreter der Bundesregierung hier anwesend sind. ({1}) Ich möchte diesen Antrag an dieser Stelle stellen. ({2}) Einerseits ist der Bundestag zu unmittelbaren Eingriffen in die Entscheidungen, die nach unserer Verfassung der Exekutive obliegen, nicht befugt. Eine solche Befugnis wird ihm auch nicht durch das Petitionsrecht und der daraus herzuleitenden Entscheidungsbefugnis des Bundestages über Petitionen eingeräumt. Andererseits ist der Bundestag der Repräsentant des Souveräns, nämlich des Volkes. Er wählt den Bundeskanzler und kann ihn abwählen. Die Bundesregierung unterliegt der politischen Kontrolle des Bundestages. Aus dieser besonderen Stellung des Bundestages im Verfassungsgefüge und der besonderen, sich unmittelbar aus der Verfassung herzuleitenden Befugnis, über Petitionen zu entscheiden, folgt, daß es sich bei Petitionsentscheidungen des Deutschen Bundestages nicht um bloße Wünsche handelt, bei denen die Bundesregierung völlig frei ist, sie zu berücksichtigen oder sie zu ignorieren. Der gegenseitige Respekt, den die Verfassungsorgane einander schulden, die besondere Stellung, die der Bundestag gegenüber der Regierung hat, und die Achtung vor dem Grundrecht des Art. 17 Grundgesetz ergeben, daß Petitionsentscheidungen des Bundestages politisch verbindlich sind und daß die Bundesregierung verpflichtet ist, sie zu respektieren. ({3}) Diesen Respekt läßt die Bundesregierung nur dann erkennen, wenn sie grundsätzlich bereit ist, das ihr Mögliche zu tun, um der Petitionsentscheidung des Bundestages gerecht zu werden. Ich empfehle dringend - auch nachdem ich mir gestern noch einmal einige Fälle angesehen habe, bei denen die Bundesregierung dem Votum des Petitionsausschusses auf Berücksichtigung nicht gefolgt ist -, diesen Grundsätzen seitens der Bundesregierung noch mehr Aufmerksamkeit zu schenken als in einigen Fällen bisher. Meine Damen und Herren, auch heute kann ein Redner nicht auf alle Punkte des Tätigkeitsberichtes, der meines Erachtens alle wesentlichen Feststellungen und wichtigen Sachverhalte mit über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung zutreffend aufzeigt, eingehen. Ich möchte zwei Anliegen aufgreifen. Im ersten Anliegen geht es um die Amtshilfe der Bundeswehr für die Polizeien des Bundes und der Länder sowie für die Zollbehörden. Sowohl ein Petent, der sich an den Petitionsausschuß gewendet hatte, als auch Berichte in den Medien im Zusammenhang mit Hilfeleistungen der Bundeswehr für die Polizei anläßlich von Demonstrationen haben eine parlamentarische Behandlung im Deutschen Bundestag ausgelöst. Auch der Innenausschuß hat sich damit beschäftigt. Der Petitionsausschuß hat die verfassungsrechtlichen Bedenken des Petenten nicht geteilt. Dessen ungeachtet sollten sowohl die Petition als auch die Berichterstattung in den Medien Anlaß dafür sein, die besondere Stellung der Streitkräfte mit den verfassungsrechtlichen Grenzen für ihren Einsatz eindeutig herauszustellen. Wir bestehen darauf, auch im Interesse der Streitkräfte selbst, daß die Bundeswehr weder in politische Streitigkeiten hineingezogen noch zu polizeilichen Zwecken eingesetzt werden darf. Die Bundeswehr darf im Innern sozusagen nicht „streitbeteiligt" werden. ({4}) Die Bundesregierung, die diese Grundsätze bejaht, bleibt aufgefordert, auch in Zukunft keine Änderung dieser verfassungsrechtlich begründeten Grundsätze vorzunehmen. In dieser sensiblen Frage ist eine enge Auslegung der Verfassung geboten. Bei dem zweiten Anliegen geht es um den militärischen Fluglärm. Wie bereits in den Vorjahren steht die abschließende Behandlung der Tiefflugproblematik auf Grund zahlreicher Einzel- und Sammeleingaben im Petitionsausschuß an. Auch im Jahre 1988 sind viele Forderungen und Bitten auf Einstellung von Tiefflügen an den Ausschuß herangetragen worden. Der Verteidigungsausschuß des Deutschen Bundestages ist als zuständiger Fachausschuß um eine Stellungnahme in Sachen „militärischer Tiefflug" gebeten worden. Der Verteidigungsausschuß hat einen Unterausschuß „Militärischer Fluglärm/Truppenübungsplätze" eingesetzt, der sich seit Dezember 1987 mit der gewiß nicht leichten Problematik befaßt. Inzwischen wenden sich in dieser Frage immer mehr betroffene Bürgerinnen und Bürger sowie auch Städte und Gemeinden an ordentliche Gerichte. Es sind bereits bemerkenswerte Urteile zum Problembereich Tiefflug ergangen. Um so dringlicher, meine Damen und Herren, wird die abschließende Beratung dieses für viele Menschen eine besondere Belastung darstellenden Problems. Das Parlament muß sich nun unverzüglich mit den Eingaben befassen und über diese entscheiden. Alle Fraktionen sind aufgefordert, im Unterausschuß „Militärischer Fluglärm" die Beratung aktiv und zügig zu Ende zu führen, so daß dem Petitionsausschuß gegenüber die fachliche Stellungnahme abgegeben werden kann. Hierzu ist es erforderlich - das sage ich als stellvertretendes Mitglied dieses Unterausschusses - , daß diesem Unterausschuß genügend Beratungszeit zur Verfügung gestellt wird, mehr, als dies bisher der Fall war. ({5}) Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch darauf, jetzt baldmöglichst Bescheide auf ihre Eingaben und Beschwerden hin zu erhalten. Ich meine: Wir sind schon im Verzug. Sowohl den betroffenen Bürgern als auch der Bundeswehr gegenüber müssen der parlamentarische Wille und die parlamentarische Bewertung sowie Problemlösungen deutlich werden. Wir können uns der parlamentarischen Verantwortung, in dieser Frage endlich zu entscheiden, nicht länger entziehen. Ich danke Ihnen. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich rufe den Abgeordneten Funke auf. ({0}) - Herr Funke, Sie waren schon aufgerufen. Besteht der Wunsch nach einem Wort zur Geschäftsordnung weiterhin? ({1}) - Dann ziehe ich das vor. Bitte schön.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte im Namen der Fraktion DIE GRÜNEN und auch für die SPD-Fraktion beantragen, daß der Herr Seiters und, wenn dies möglich ist, weitere Regierungsmitglieder herbeigerufen werden; Herr Seiters als Kanzleramtsminister würde uns aber schon ausreichen. Das Interesse hier ist doch sehr mangelhaft, und dieser Tagesordnungspunkt geht doch eigentlich jedes Ressort an. Wir können Ihre Erklärung, Herr Präsident, die Sie vorhin abgegeben haben, nur voll unterstützen, aber mit der Erklärung allein ist es nicht getan. Wir denken schon, daß ein Regierungsmitglied hier vertreten sein sollte. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Der Abgeordnete Kraus möchte zur Geschäftsordnung sprechen. Bitte.

Rudolf Kraus (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001202, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Diesen Geschäftsordnungsantrag haben wir schon seit einigen Minuten erwartet. Ich habe mich zwischenzeitlich auch sehr bemüht, Mitglieder der Regierung herbeizubringen; inzwischen haben wir auch jemanden von der Regierung im Saal. Ich möchte folgendes sagen - ({0}) - Lassen Sie mich doch bitte einmal etwas dazu sagen. - Sie wissen doch ganz genau, warum die Leute heute nicht da sind. Derzeit findet ein Empfang zu Ehren von Herrn Barzel statt. Wenn man die Situation kennt, dann, so glaube ich, könnte man doch ein Einsehen haben, hier einmal ein Auge zudrücken und uns die Chance geben, die Leute herbeizurufen. Zwischenzeitlich ist ja auch jemand von der Regierung da, und insofern ist diese Sache dann doch wohl aus der Welt geschafft. Wir müssen doch nicht über diesen Antrag abstimmen. Ich bitte darum, daß man den Antrag zurückzieht. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Geschäftsordnungsmäßige Abwicklung bedeutet, daß ich darüber jetzt abstimmen lassen muß. ({0}) Frau Weyel, Sie wollen zur Geschäftsordnung sprechen?

Gudrun Weyel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002496, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Da Herr Seiters soeben angekündigt hat, daß er auf dem Weg hierher ist, verzichten wir auf eine Abstimmung und hoffen, daß er vor Ende der Debatte eintrifft.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich werde mir nachher Mühe geben, im Namen des Hauses den ankommenden weiteren Mitgliedern der Regierung und auch Herrn Bundesminister Seiters ein Wort dazu zu sagen. Ich hoffe, Sie sind einverstanden. ({0}) - Ja, in die Richtung zielt das. Jetzt hat Herr Funke das Wort.

Rainer Funke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000624, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bericht des Petitionsausschusses beweist einmal mehr, wie richtig und weise es von den Verfassern des Grundgesetzes gewesen ist, das Petitionsrecht des Bürgers im Grundgesetz, in Art. 17, zu verankern. ({0}) Der Bericht des Petitionsausschusses zeigt nämlich auf, wo den Bürger der Schuh drückt. Über 13 000 Eingaben und über 240 000 Unterschriften, auch von Sammeleingaben, zeigen, daß die Bürger von ihrem Petitionsrecht in großem Umfang Gebrauch machen. Diese Eingaben sind aber auch eine Reaktion darauf, daß der Bürger unsere allzu häufig zu komplizierten Gesetze nicht mehr versteht. ({1}) Dies gilt vor allem für die sogenannten Leistungsgesetze, insbesondere im Sozialversicherungsrecht. Das sind Gesetze, die selbst ein gut ausgebildeter Rechtsanwalt, Jurist oder Richter häufig nicht mehr versteht. Ich gebe offen zu, daß ich von diesem Recht nichts mehr oder sehr wenig verstehe. ({2}) Das geht anderen natürlich genauso. Wir müssen versuchen, diese Gesetze wieder klarer und deutlicher, auch für den Leistungsempfänger deutlicher, zu gestalten. Wir dürfen uns auch nicht wundern, wenn in der Verwaltung und auch beim Bürger gerade in diesem Bereich Mißverständnisse entstehen. Die Zahl der Eingaben ist sicherlich auch ein Spiegelbild für manche Unzufriedenheit über politische Enscheidungen - Frau Nickels, ich vergesse das ja nicht -, die wir in diesem Hause treffen und manchmal auch treffen müssen. Diese Eingaben können ein Seismograph für Zufriedenheit und Zustimmung, aber auch für Unzufriedenheit der Bevölkerung über unsere Entscheidungen sein, zeigen sie doch, daß man als Politiker sehr schnell in die Gefahr gerät, im Elfenbeinturm politische Entscheidungen zu treffen und an den tatsächlichen Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei zu entscheiden. ({3}) Daher bin ich meiner Fraktion sehr dankbar, daß sie mich als Obmann in den Petitionsausschuß entsandt hat, ({4}) um an dieser Nahtstelle zwischen Bürgerwünschen und Politik tätig sein zu können. Der Petitionsausschuß hat sich in diesem Jahr für seine Arbeit neue Grundsätze gegeben, die jedoch ein Dilemma, vor dem wir bei unseren Entscheidungen stehen, nicht auflösen können. Bei unseren Entscheidungen sind wir an Recht und Gesetz gebunden. Oft genug ist es aber gerade das Gesetz, daß vom Bürger als ungerecht, zumindest was den Einzelfall angeht, angegriffen wird. Hier müssen wir noch Möglichkeiten der Billigkeitsentscheidung entwickeln, um den betroffenen Bürgern helfen zu können; denn der Petitionsausschuß ist ja kein Gerichtshof besonderer Art, sondern soll dem Bürger in seiner Betroffenheit und Auseinandersetzung mit den Gesetzen auf besondere Art und Weise helfen. Ich weiß, daß ich mich hier auf dünnem Eis bewege und daß wir nur helfen können, wenn gleichzeitig die jeweils betroffenen Ministerien bereit sind, Billigkeitsentscheidung und Billigkeitslösungen mitzutragen. Schwer verständlich ist für den Bürger häufig auch, wenn zwar das Handeln staatlicher Verwaltung durch den Petitionsausschuß geprüft werden kann, nicht jedoch das privatrechtliche Verhalten staatlicher Unternehmen, halbstaatlicher Unternehmen oder von Tochtergesellschaften. ({5}) - Noch viel zuviel, mein Lieber. Das gleiche gilt in eingeschränktem Umfang, wenn die Bundesämter für das Kreditwesen und das Versicherungswesen eingeschaltet werden können. Das eigentliche Handeln der betroffenen Banken und Versicherungen unterliegt im Grunde genommen keiner Überprüfung, da es sich hier um privatrechtliche Verhältnisse von Bürgern zu Banken bzw. zu Versicherungen handelt. Die Masseneingaben, die hier vorhin schon erwähnt worden sind, machen deutlich, daß der Bürger die Politiker mahnt, auf bestimmten Gebieten endlich tätig zu werden. Das gilt, meine Damen und Herren, insbesondere für den Umweltschutz, der endlich auch im Grundgesetz geregelt werden soll, und - ein ganz anderes Thema- für die Massentierhaltung. Hier sind wir als Parlament aufgerufen, noch in dieser Legislaturperiode möglichst über die Parteiengrenzen hinweg - in Fragen des Grundgesetzes muß es ja über die Parteiengrenzen hinweggehen - eine befriedigende Lösung zu finden. Die Fragen des Tierschutzes spielten auch bei einer Petition über Tiertransporte eine entscheidende Rolle. Anhand dieser Petition wurde deutlich, daß Tierschutz heute nicht nur ein nationales, sondern ein europäisches Problem ist und auch nur auf europäischer Ebene gelöst werden kann. Der Petitionsausschuß hat folgerichtig den Landwirtschaftsminister gebeten, über die EG für eine einheitliche Regelung zu sorgen. Im übrigen - das lassen Sie mich noch sagen - wird ja das BGB geändert werden. Das Tier soll in Zukunft nicht mehr als Sache behandelt werden. ({6}) - Sicher, Frau Garbe, Sie haben recht: Das ist überfällig. Wir werden es aber in dieser Legislaturperiode tun. ({7}) - Das wird uns beide freuen. Naturgemäß spielten auch Fragen des Ausländerrechts eine wichtige Rolle, jedoch nicht alleine. Häufig beklagten sich Ausländer, daß die Einreisevisa nur unter erschwerten Bedingungen zu erlangen waren. Dies liegt nicht nur an einer restriktiven Behandlung durch die Konsularabteilungen der deutschen Botschaften im Ausland. Allzu häufig sind die materiellen Ausstattungen der Konsularabteilungen der deutschen Botschaften vorsintflutlich, so will ich es einmal sagen. Sie arbeiten nämlich noch mit Zettelkästen, während wir schon alle mit Computern arbeiten. Hier muß unbedingt eine Änderung herbeigeführt werden; ({8}) denn wir haben auch als gastfreundliches Land einen guten Ruf zu verlieren. Die mit dem 2. Haushaltsstrukturgesetz verbundenen Einschränkungen im Beamtenversorgungsrecht waren erneut Gegenstand zahlreicher Eingaben. Mit der nunmehr beschlossenen Regelung, ab 1. Januar 1990 eine geminderte Anrechnung vorzunehmen, dürften diese Petitionen bald erledigt sein. Die schwierigen Strukturveränderungen im Bereich der Stahl- und Werftindustrie haben zu umfangreichen Massenpetitionen geführt. Daran ist auch zu erkennen, wo die Grenzen des Petitionsausschusses sind. Der Petitionsausschuß hat diese Petitionen zwar besonders gründlich mit den Betroffenen beraten, aber er ist kein Überausschuß und kann auch keine Handlungsanweisungen für die Regierung geben. Vielmehr muß in einer freien Wirtschaftsordnung wie der unseren der Markt über den Bestand von Industriezweigen entscheiden. Der Bundestag und auch die Bundesregierung sind lediglich in der Lage, soziale Härten abzumildern und durch Hingabe von Subventionen Strukturhilfen zu gewähren. Dies hat die Bundesregierung mit Erfolg getan: Die Werft- und auch die Stahlindustrie sind auf dem Wege der Gesundung. Wir werden gemeinsam im Parlament z. B. für die Werften in den nächsten Jahren noch einiges tun. Ich wünschte, daß sich der Bundestag mit den Sorgen der Bevölkerung anhand der Eingaben der Bürger häufiger auseinandersetzte und daß die Bundesregierung dann auch häufiger, und zwar soweit wie möglich komplett, vorhanden wäre; ({9}) denn diese Beratung mit den Petitionen wird uns bei unserer politischen Entscheidung zur größeren Realitätsnähe führen. Lassen Sie mich abschließend sagen: Einen herzlichen Dank an das Büro des Petitionsausschusses für die hervorragende Arbeit und dem Vorsitzenden des Petitionsausschusses herzlichen Dank für die sehr konsequente Führung des Petitionsausschusses! ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich hatte Ihnen zugesagt, gemeinsam für das Haus ein Wort zu der Vertretung der Bundesregierung hier zu sagen. Nachdem Herr Bundesminister Seiters gekommen ist, ist das, glaube ich, der richtige Zeitpunkt. Ich weiß um sein besonderes Problem, das er mir eben deutlich gemacht hat, daß er genau wie sicher viele andere die Absicht hatte - und es auch getan hat - an einem bestimmten Empfang zu Ehren von Herrn Dr. Barzel teilzunehmen. Wir aber standen - deswegen sage ich Ihnen das, Herr Minister - vor der Tatsache, daß wir eine Viertelstunde lang drei Redner hatten, die alle die Bundesregierung in bestimmten Fragen des Petitionsrechts und ihrer Erfahrungen angesprochen haben, aber niemand auf der Regierungsbank war. Das Problem ist: Wir haben kein direktes, ressortgebundenes Gegenüber; das ist klar. Diese Problematik hatten wir in vergangenen Jahren schon einmal und wissen, daß wir dann natürlich an den Chef des Kanzleramts gehen müssen. Insofern und nicht in der Frage Ihres persönlichen Verhaltens sind Sie der Angesprochene. Ich kann nur darum bitten - ich glaube, ich tue das im Namen des Hauses - , daß diese Frage in der Regierung in dem Sinne besprochen wird, daß Berichte des Petitionsausschusses aus unser aller Sicht eine wichtige Angelegenheit gerade im Gegenüber zu allen Ressorts der Bundesregierung sind und deswegen für Präsenz gesorgt werden muß. ({0}) Sie wollen dazu das Wort haben. Bitte schön, Herr Minister.

Dr. Rudolf Seiters (Minister:in)

Politiker ID: 11002156

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe lange Jahre hier in dieser Funktion des ersten parlamentarischen Geschäftsführers gesessen und habe auch immer auf die Rechte des Parlaments gegenüber der Bundesregierung gedrungen. Deswegen will ich vorweg sagen, daß ich volles Verständnis dafür habe, wenn aus den Reihen des Parlaments der Wunsch, die Forderung und die Bitte erhoben wird, daß auch bei Tagesordnungspunkten, die vielleicht nicht so im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen - Petitionen gehören zu wichtigen Themen, wo natürlich Anliegen der Bürger berührt sind - , auch die Regierung vertreten ist. Ich sage auch hier als Chef des Kanzleramtes, daß ich, wenn ich mit solchen Problemen rechtzeitig konfrontiert werde, sicherstellen werde, daß sich das Parlament nicht zu beklagen hat. Dennoch meine ich, jetzt vielleicht auch aus meiner Situation einmal sagen zu dürfen, daß man rechtzeitig über Probleme informiert werden sollte, die sich möglicherweise ergeben. Ich stehe jetzt hier vor der Situation - ich bedauere das tief - : Ich hatte vor, einem Mann die Ehre zu erweisen bei seinem 65. Geburtstag, der Präsident dieses Hauses war, der Fraktionsvorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion war, bei dem ich auch parlamentarischer Geschäftsführer war. Ich bedaure, daß sich im parlamentarischen Miteinander nicht eine andere Form hat finden lassen und daß mir dies jetzt nicht möglich ist.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, das einzige, was getan werden muß, ist, rechtzeitig in die Tagesordnung zu gucken, und dies ist auch eine Aufgabe der Regierung. ({0}) Das Wort hat nun Frau Garbe.

Charlotte Garbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Der Petitionsausschuß des Deutschen Bundestages ist in besonderer Weise bürgergerichtet: Wir agieren nicht, sondern wir reagieren auf die Eingaben von Bürgerinnen und Bürgern. Bei uns landen Beschwerden, wenn die Regierungskünste an der Basis als Streich oder als Unrecht empfunden werden oder eben auch als Humoreske, z. B. wenn Helmut Kohl einem 59jährigen nicht die passende 35jährige Frau besorgt hat. Aber Heiterkeit beiseite, die gestiegene Zahl von mehr als 13 000 Eingaben im Jahre 1988 gegenüber 11 000 im Jahre 1987 legt Zeugnis davon ab, daß die Regierung wohl auch 20 % mehr politischen Unsinn produziert hat, was natürlich keine neue Erkenntnis ist. ({0}) Es ist völlig richtig, Herr Kollege Pfennig, die Leute bewegt halt die Gesundheitsreform, die ja direkt beim Geldbeutel durchschlägt. Die Leute reagieren mit Petitionen auf die Steuerreform, die bei einigen gut zu Buche schlägt, bei der aber viele die Leidtragenden waren. In vielen dieser Zuschriften und Petitionen wurde deutlich, daß durch die Gesetzgebung der letzten Jahre und die verschiedenen als Reformwerke titulierten Vorhaben im Sozialbereich die Maschen größer geworden sind. Dementsprechend ist die Zahl der Abstürze durch die Löcher des sozialen Netzes gestiegen. ({1}) Verehrte Kolleginnen und Kollegen, was uns aber - wie auch die anderen Kollegen schon betont haben - in besonderer Weise zu denken geben sollte, sind die Massenpetitionen. Ich darf hier an die Nordseepetition, die uns kürzlich beschäftigt hat, und an die Petition zur Neuordnung der Stahl- und Werftindustrie erinnern. 190 000 Unterschriften waren allein unter dieser Petition für umfassende Initiativen zur sozialen Neuordnung der Stahlindustrie. 15 000 hatten die Petition zur Werftindustrie unterschrieben, Tausende die Eingaben zu Nukem und Alkem, zu militärischem Tieffluglärm und anderem mehr. Meine Herren und Damen, hinter diesen Petitionen steht die Ohnmacht der Petenten und - auf besonderen Wunsch meiner Kollegin - der Petentinnen. Die Hoffnung wird auf den Petitionsausschuß gerichtet. Aber auch der Petitionsausschuß ist ja alles andere als mächtig. Nicht, daß nicht alle Mitglieder des Petitionsausschusses gewillt wären, dem einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen und die Sorgen und Nöte zur Kenntnis zu nehmen - nein. Aber ich meine, zu leicht binden wir uns die Hände selber, so daß wir den Appell der Bürger und Bürgerinnen intern gar nicht erst an uns herankommen lassen, sondern - dies sage ich in Richtung Koalitionsfraktionen - nur allzu leicht die Regierungspolitik als richtig absegnen und damit dann die Bürger allein lassen. Wir hatten ja beim letzten Tagesordnungspunkt ein beredtes Beispiel dafür. Hier sollten Sie, meine Herren und Damen von den Koalitionsfraktionen, viel mehr und öfter in kritische Distanz zu Ihrer Regierung überwechseln. ({2}) Erfreulicherweise darf ich aber auch sagen: Es hat Augenblicke in der Arbeit dieses Petitionsausschusses gegeben, wo die Meinungen interfraktionell in Bewegung kamen und wir uns auf ungewöhnliche Mehrheiten geeinigt haben. Diesen Sternstunden der Ausschußarbeit stehen allerdings die vielen ernüchternden Situationen entgegen, wo sich die Ausschußmehrheit mehr oder weniger widerstandslos von der ministeriellen Stellungnahme beeindrucken ließ. ({3}) Ich meine, dadurch nehmen wir uns viel zuviel von unseren möglichen Wirksamkeiten, für Bürgerinteressen einzutreten. Der Gipfel ist allerdings, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, wenn unsere positiv beschiedenen Petitionen von der Regierung mißachtet werden. ({4}) Ich meine wie auch der Kollege Zumkley, der Ausschuß darf nicht mehr bereit sein, die Entscheidungen der Bundesregierung ohne Widerspruch hinzunehmen und Abhilfe zu verweigern. Das sollten wir uns wirklich nicht mehr bieten lassen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, noch eines: Wir haben verschiedentlich hier im Plenum zum Ausdruck gebracht, daß wir von seiten der GRÜNEN Petitionen anders beschieden haben möchten, als dies die Mehrheit im Ausschuß zu tun gewillt ist. Wir setzen uns dabei manches Mal durchaus zwischen die Stühle. Ich möchte nur an unsere Debatten über die Einreise seiner Heiligkeit des Bhagwan Shree Rajneesh erinnern; ich hoffe, ich habe das richtig ausgesprochen. Wir waren durchaus für eine liberale Regelung und bekamen Schelte von Ihnen, meine Herren und Damen. Wir bekamen aber auch Schelte und harte Vorwürfe von den Bhagwan-Jüngern und -Jüngerinnen. Ich möchte auch an den Bereich des Tierschutzes erinnern, wo wir gerne gewillt sind, Petitionen möglichst weitgehend zu folgen, wo wir aber auch nicht jede Petition als der Weisheit letzten Schluß ansehen, was mir z. B. - das möchte ich hier ebenfalls einmal erwähnen - sogar schon einmal Rücktrittsforderungen aus den eigenen Reihen einbrachte. Ich hoffe, verehrte Kolleginnen und Kollegen, daß wir weiterhin unsere Arbeit im Petitionsausschuß nicht als Pflichtpensum verstehen, sondern als eine besondere Herausforderung, den Bürgern und Bürgerinnen unseres Landes über unseren eigenen politischen Schatten hinweg ein wenig mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ein wenig mehr Hoffnung zu geben und auch die Hoffnung zu rechtfertigen, daß die Entscheidungen der Regierung nicht immer unrevidierbar sind. Meine Herren und Damen, ich hoffe, daß wir den Petitionen zu Drogen, zu Gefahren verstrahlter Lebensmittel, zu Gefahren von Atomanlagen, zu Lärmproblemen, zu Problemen von Behinderten im öffentlichen Verkehr und anderes mehr auch in Zukunft möglichst oft gerecht werden und daß wir das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen wiedergewinnen können. Wenn wir das aber alle wollen, verlangt es von uns, daß wir für die Regierung noch unbequemer werden. Das bedeutet, daß sich der gesamte Ausschuß häuslich zwischen den Stühlen einrichten muß. Ich würde mich freuen, liebe Kollegen und Kolleginnen, wenn Sie in diesem Punkt meiner Petition folgen würden. Zum Schluß möchte auch ich ganz herzlich danken u. a. für die faire Art und Weise, die der Ausschußvorsitzende, Herr Pfennig, meistens an den Tag legt, ({5}) aber auch für die gute Arbeit und das gute Zusammenwirken mit dem Petitionssekretariat in Gänze. Herzlichen Dank. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Haungs.

Rainer Haungs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000830, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im vergangenen Jahr haben wir neben den Tausenden von Petitionen auch - das wurde erwähnt - die neuen Verfahrensrichtlinien beraten, die viel Zeit gekostet und uns viele Anregungen gebracht haben. Dabei zeigte sich, daß unter den engagierten Petitionspolitikern aller Parteien sehr viel gemeinsame Übereinstimmung herrscht. Natürlich hat ein Parlamentsausschuß - das wurde vorhin schon erwähnt - Kontrollaufgaben gegenüber Regierung und Bürokratie. Die Schwerpunkte unserer täglichen Arbeit liegen aber weniger in der Kontrollaufgabe der Volksvertretung als beim Rechts- und Interessenschutz des Petenten. So bilden wir im Ausschuß bei vielen Abstimmungen eine große Koalition für die Bürger, die sich hilfesuchend an den Deutschen Bundestag wenden. Mehr als jede Meinungsumfrage zeigen die vielen Petitionen die Stimmungslage der Bürger und ihre Reaktionen auf aktuelle politische Probleme. Gegenüber den Vorjahren nahm die Zahl der Eingaben, die Ausreiseanliegen aus dem osteuropäischen Raum enthielten, deutlich ab. Insbesondere die große Zahl von Aussiedlungen aus der UdSSR und Polen dürfte hierfür die Ursache sein. Nahezu alle Altakten zu Aussiedlungsbegehren aus der UdSSR konnten erfolgreich abgeschlossen werden. Einige Petenten - das ist neu - polemisierten in zum Teil gehässiger Form gegen die Einreise dieser „Ausländer". Nach Auffassung des Petitionsausschusses hat dieser Personenkreis einen verfassungsrechtlichen und moralischen Anspruch. Es wäre beschämend, wenn die Bundesrepublik Deutschland nicht imstande wäre, diesen Spätaussiedlern bei uns eine neue Heimat zu geben. Im Gegensatz zu den Vorjahren blieben im Berichtsjahr Fragen zur Abrüstung aus. Auch dies dürfte die Resonanz auf die erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen und die abnehmende Bedrohungsgefahr unserer Bevölkerung sein. Zwei Petitionen zum Ausländerrecht fanden in der Öffentlichkeit großes Interesse. Der Petitionsausschuß erhielt 153 Eingaben mit insgesamt 2 377 Unterschriften, die die Erteilung eines Sichtvermerks für den indischen Sektenführer Bhagwan Soundso forderten. Der Ausschuß vertrat mehrheitlich die Auffassung, daß die Entscheidung des Bundesministers des Innern, die Einreise zu verweigern, rechtlich nicht zu beanstanden sei, da dieser in den USA rechtskräftig verurteilt worden war und eine Aufenthaltserlaubnis nur zu erteilen sei, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtige. Der Petitionsausschuß verzichtete hierbei auf eine religionswissenschaftliche Bewertung der Bhagwan-Bewegung und beschränkte sich bei der Ablehnung auf den rechtlichen Aspekt der Petition. Aufmerksamkeit erregten auch mehrere Eingaben, die sich mehrheitlich für eine Aufnahme von 15 inhaftierten Chilenen in die Bundesrepublik Deutschland aussprachen. Sowohl im Ausschuß als auch im Plenum gab es hierzu kontroverse Auffassungen. Nach unserer Auffassung, die auch die Mehrheit fand, wurde die Petition an die Bundesregierung mit dem Ziel überwiesen, daß diese sämtliche Informationsmöglichkeiten zur Aufklärung der Tatvorwürfe ausschöpfe und alles unternehme, damit die 15 Chilenen weder zum Tode verurteilt noch hingerichtet werden. Die Bundesregierung wurde weiter gebeten, beim Eintreten einer konkreten Gefahr unverzüglich eine Entscheidung über ihre Aufnahme zu treffen. Einen deutlichen Anstieg verzeichneten Petitionen aus dem Geschäftsbereich des Bundesministers für Verkehr. Deshalb bin ich sehr froh, daß der Parlamentarische Staatssekretär dieses Hauses bei uns weilt. ({0}) Mehrere Petenten wandten sich gegen Lärmbelästigungen, die vom Verkehr auf Straße und Schiene ausgehen, und forderten Maßnahmen zu deren Verminderung. Nach Auffassung des Ausschusses ist die Minderung der Lärmbelastung generell ein dringliches umwelt-, gesundheits- und verkehrspolitisches Problem. Die Eingaben wurden dem BMV als Material überwiesen und den Fraktionen zur Kenntnis gegeben. Sofortmaßnahmen, wie von den Petenten gefordert, konnten nicht beschlossen werden. Lassen Sie mich zum Abschluß sagen, was die Arbeit im Petitionsausschuß wahrscheinlich für die meisten von uns so interessant macht. Das Wissen um und das Verständnis für die Anliegen der Bürger müßten eigentlich zum Grundanliegen unserer Politik gehören. ({1}) Nirgendwo erfahren wir über diesen Tatbestand mehr als im Petitionsausschuß. Deshalb freue ich mich, daß hier nicht nur die Neulinge im parlamentarischen Bereich aktiv sind, sondern daß es uns über Jahre hinweg gelingt, engagierte Kollegen dort zu halten, damit sie neben ihrem fachlichen Rat auch ihr menschliches Engagement für unsere Bürger dort einbringen. ({2}) - Das ist eine Leistung. Abschließend auch von meiner Seite, damit es nicht vergessen wird, auch wenn es zum Schluß kommt, der Dank an das Büro und an den Dienst, der sehr hilfreich ist. Wir könnten die Arbeit in einer Stunde pro Sitzungswoche nicht bewältigen, wenn wir hier nicht seit Jahren vorbildliche Unterstützung fänden. Vielen Dank. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hämmerle.

Gerlinde Hämmerle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000777, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Garbe und insbesondere Herr Kollege Zumkley haben schon darauf hingewiesen, daß die Bundesregierung mit der Erledigung der Voten des Petitionsausschusses äußerst zögerlich umgeht. Ich denke, die Tatsache, daß zu Beginn des Berichtsjahres 39 Fälle, die zur Berücksichtigung, und 48 Fälle, die zur Erwägung überwiesen wurden, noch nicht endgültig abgeschlossen waren, läßt erkennen, daß Anliegen der Bürgerinnen und Bürger, bei denen der Petitionsausschuß die Regierung zu einer Regelung auffordert, nicht ernst genug genommen werden. ({0}) Es geht doch keineswegs darum, daß wir aus purer Rechthaberei heraus irgend etwas beschließen, sondern darum, daß der Petitionsausschuß - meistens in seiner Mehrheit, manchmal sogar auch einstimmig - die Notwendigkeit einer sofortigen Hilfe oder einer längerfristigen Regelung erkannt hat. Wenn das so ist, dann haben die Betroffenen auch ein Recht darauf, möglichst rasch den Vollzug des Votums des Petitionsausschusses durch das zuständige Ministerium zu erfahren. ({1}) Ich denke, die beiden Verfassungsorgane Bundestag und Bundesregierung sind sich gegenseitig so viel Respekt schuldig, daß wir davon ausgehen können, daß die Bundesregierung - ich bitte hier offiziell darum - mit den Voten nicht so zögerlich umgeht, sondern sie rasch erledigt. Ich führe hier als Beispiel einen Fall an, der in diesem Jahresbericht überhaupt nicht drinsteht, weil er nämlich schon viel älter ist. Es handelt sich um eine der ersten Petitionen, die ich gelesen habe, als ich Mitglied des Petitionsausschusses wurde. Der Petent begehrt eine Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes, weil er es als ungerecht und deswegen unhaltbar empfindet, daß Eigentümer, die über den größten Anteil an Fläche in einer Wohnanlage verfügen, die übrigen Eigentümer, und seien es zahlenmäßig viel mehr, überstimmen können. Es ist nämlich nicht die Anzahl der Menschen, sondern das Eigentum an Fläche entscheidend. Im Extremfall kann durch nur einen Eigentümer eine Majorität über alle anderen herbeigeführt werden. Das wird besonders dann deutlich, wenn der Eigentümer z. B. über Ladengeschäfte oder über Tiefgaragen verfügt. Ich rufe das in Erinnerung, weil der Petitionsausschuß diesen Sachverhalt in einem einstimmigen Beschluß am 21. Januar 1988 als ungerecht anerkannt hat. Seit diesem Datum, auf das ich Sie besonders hinweisen möchte, liegt das einstimmige Votum des Petitionsausschusses an das Bundesjustizministerium zur Änderung des Wohnungseigentumsgesetzes dortselbst, aber es hat sich weder für den Petenten noch für die vielen hunderttausend anderen Betroffenen, noch für uns, die wir dies beschlossen haben, irgend etwas geändert. ({2}) Ich möchte diese Gelegenheit dazu benutzen, das anzumahnen. Auch das zweite Problem, das ich kurz aufgreifen möchte, betrifft den Bereich der Wohnungspolitik. Im Jahresbericht 1987 hatte der Ausschuß über eine Eingabe berichtet, in der gefordert worden war, die Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft bei der Vergabe von Wohnungsberechtigungsbescheinigungen Ehepaaren gleichzustellen. Diese Eingabe war der Bundesregierung zur Erwägung überwiesen worden. Der Bundesbauminster teilte hierzu inzwischen mit, er lehne eine Änderung der geltenden Rechtslage ab, da eine Erweiterung des Berechtigtenkreises auf nichteheliche Lebensgemeinschaften dazu führen würde, daß Ehepaare und Familien mit geringem Einkommen nur unter zusätzlich erschwerten Bedingungen geeignete Sozialwohnungen fänden, und dadurch würde die familienpolitische Komponente des öffentlich geförderten sozialen Wohnungsbaus stark gefährdet. Ich habe eine zehnjährige Tätigkeit im Aufsichtsrat eines kommunalen gemeinnützigen Wohnungsbauunternehmens hinter mir, und ich weiß, daß es so gut wie überhaupt keinen Fall gibt, in dem eine nichteheliche Lebensgemeinschaft bei der Vergabe einer Sozialwohnung berücksichtigt wird. Ich schätze die familienpolitische Komponente sehr hoch ein; aber die Realität ist doch anders. Immer mehr Paare leben ohne Trauschein zusammen. Dabei handelt es sich meist um zwei Menschen, die jeweils für sich einen Anspruch auf eine öffentlich geförderte Wohnung hätten. Das macht das ganze Ding doch so außerordentlich pikant. Die SPD tritt deswegen dafür ein, daß die Bestimmungen über die Wohnungsvergabe zugunsten nichtehelicher Lebensgemeinschaften geändert werden. ({3}) Eine Ablehnung ist deswegen so absurd - ich sagte es schon - , weil jeder einzelne dieser beiden einen Anspruch auf 45 qm hätte, wohingegen sie zusammen nur einen Anspruch auf 54 qm haben. Es wird nicht mehr, es wird nicht teurer - warum sollte man das eigentlich nicht machen? Ein letztes Beispiel: 76 Eltern drogenabhängiger Kinder traten für die Bekämpfung der Drogensucht durch eine ambulante Ersatzdrogenbehandlung ein. Bei der parlamentarischen Prüfung stellt sich heraus, daß keine Einigkeit darüber besteht, ob eine Behandlung mit Ersatzdrogen, namentlich mit Methadon, geeignet ist, die Drogensucht wirksam zu bekämpfen. Besonders umstritten ist, welche Rückschlüsse aus den bisher vorliegenden Erfahrungen gezogen werden können. Die Einführung von Ersatzdrogenprogrammen wird vielfach deswegen negativ beurteilt, weil es sich bei der Ersatzdroge unbestrittenermaßen auch um ein Suchtmittel handelt. Ganz sicher ist es richtig, daß grundsätzlich eine drogenfreie Therapie erreicht werden soll. Andererseits wird der Gebrauch von Ersatzdrogen von sehr, sehr vielen Fachleuten positiv bewertet, u. a. von der Konzertierten Aktion im Gesundheitswesen und von der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und Wege zu ihrer Eindämmung". Ich möchte hier nichts fordern; ich möchte die Fraktionen dieses Hauses, die es bisher noch nicht getan haben, nur dazu aufrufen, sich eine Meinung zu bilden, damit sich auch das zuständige Ministerium zu diesem Ersatzdrogenprogramm leichter eine abschließende Meinung bilden kann. ({4}) Wenn der Kollege Haungs so sagt, wie wir immer so dasitzen und die Petitionen lesen, dann denke ich immer an mich selbst, wie ich nachts dasitze und die Petitionen lese. Dann bin ich froh, wenn ich manchmal etwas Lustiges lese. Da ich zwei so unendlich lustige Sachen gelesen habe, möchte ich diese hier auch einmal vortragen: Ein Bundeswehroffizier, der immerzu gern - wegen seiner Schönheit, nehme ich an ({5}) Null-Diät macht, wendet sich bis an das Bundesverfassungsgericht, weil er sich dadurch, daß er an der Gemeinschaftsverpflegung teilnehmen soll, in seinen Menschenrechten beeinträchtigt fühlt. ({6}) Dagegen habe ich ja nichts. Ich finde es nur so lustig, daß das Bundesverfassungsgericht ein Urteil sprechen mußte und daß in diesem Urteil der Satz vorkam, daß man insbesondere während der Gefechtsübung „Schwerer Dampfhammer" auf die Null-Diät verzichten solle, ({7}) weil sonst die Entscheidungsfähigkeit dieses Offiziers beeinträchtigt würde. Sowas finde ich nett, sowas finde ich lustig, sowas finde ich menschlich, und das muß auch sein. Ein zweiter Petent wendet sich gegen die Transportbestimmungen der internationalen Luftfahrtgesellschaften, weil sein 36 kg schwerer Hund nicht mehr neben ihm im Flugzeug sitzen darf, sondern in die Transportkiste muß. Auch ich habe einen Hund. Es ist schrecklich, wenn man sich von ihm trennen muß. Dieser Hund hatte psychische Störungen durch die Transportkiste. Der Petent begehrte daher eine Änderung der Transportbestimmungen. Ich wollte auch einmal so etwas einbringen, weil das alles menschliche Anliegen sind und weil ich mich darüber freue, wenn man auch einmal so etwas liest. Herr Vorsitzender Dr. Pfennig, selbst auf die Gefahr hin, daß es Ihnen schaden könnte, möchte ich Ihnen ganz, ganz herzlich für Ihre stets faire Führung des Vorsitzes danken, aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Petitionsbüros und nicht zuletzt den Kolleginnen und Kollegen des Ausschusses. Ich glaube, wir sind ein Ausschuß, in dem über alle politische Unterschiedlichkeit hinweg eine gute menschliche und faire Atmosphäre herrscht. Das freut mich besonders. Dafür möchte ich an dieser Stelle auch einmal danken. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Unter Beachtung der Relativität ist es offensichtlich besser, auf den Hund zu kommen als in die Transportkiste. Herr Fuchtel ist der nächste Redner.

Hans Joachim Fuchtel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000616, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Im vergangenen Berichtsjahr haben sich wieder sehr viele Bürgerinnen und Bürger an uns gewandt, um Hilfe und Unterstützung zu bekommen. Auf der anderen Seite wird kolportiert, daß die Stimmung schlechter werde, wenn sich Bundespolitiker irgendwo näherten. Solche gesellschaftlichen Widersprüche begegnen uns zunehmend. Deswegen ist es nach meiner Meinung höchste Zeit, in dieser Aussprache einmal eine Petition an die Öffentlichkeit zu richten. Meine Bitte an die Medien ist, die Gesamtheit der parlamentarischen Arbeit so darzustellen, wie sie jeder Insider selbstverständlich kennt. ({0}) Politiker sind ganz sicherlich keine Engel. Sie sind aber auch nicht die Streithähne und Streithennen mit hohem Gehalt bei mangelnder Präsenz und ausgeprägter Reiselust, wie sie in der einen oder anderen Version - manchmal auch in zusätzlichen Versionen - dargestellt werden. Da wird beispielsweise ständig das Bild von der leeren Abgeordnetenbank gezeigt. Mit der Arbeit im Petitionsausschuß allein läßt sich natürlich nicht erklären, warum das so ist. Aber warum wird der bundesdeutschen Öffentlichkeit vorenthalten, wie es um den Arbeitsalltag der Abgeordneten wirklich bestellt ist? ({1}) Die Petitionsgruppe der CDU/CSU tagt beispielsweise über Mittag, weil sonst keine Zeit vorhanden ist. ({2}) Der Petitionsausschuß selbst tagt mittwochs morgens pünktlich ab 8 Uhr in äußerst disziplinierter Form, weil sonst die vielen Eingaben nicht bewältigt werden könnten. Jeder von uns ist noch Mitglied in mindestens einem weiteren Ausschuß, ist Stellvertreter in mehreren Ausschüssen, ({3}) gehört den Arbeitsgruppen der Fraktionen an, hat Verpflichtungen gegenüber den vielen Bonner Interessengruppen und muß Kontakte zu ausländischen Parlamentariern und zu Botschaften halten. Und das alles während der Sitzungswoche. Wie oft kommt es vor, daß Ausschußsitzungen parallel zu Bundestagssitzungen stattfinden. Darüber schreibt kein Journalist. So haben auch die Sitzungen für die neue Verfahrensordnung des Petitionsausschusses natürlich parallel zu Sitzungen des Bundes11362 tages stattgefunden. Und während ich rede, tagt der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, in dem ich gleichzeitig an Abstimmungen teilnehmen soll. ({4}) Oder: Wie soll der Abgeordnete im Parlament präsent sein, wenn er gleichzeitig als Berichterstatter eingeteilt ist und - wie es vorgekommen ist - einen Ortstermin in Kassel wahrzunehmen hat? Über all dies werden die Bürger nicht unterrichtet. So entsteht mit der Zeit ein schiefes Bild. Wenn wir uns dann im Parlament auseinandersetzen, heißt die Überschrift regelmäßig: Streit. Warum heißt es nicht öfter Kontroverse, Disput oder Auseinandersetzung? Das würde der Sache wirklich gerechter werden und ist auch Stil im Petitionsausschuß. ({5}) Wenn dann der Vorsitzende des Petitionsausschusses alle vier Jahre mit einer kleinen Delegation zur Weltombudsmännerversammlung fährt, ist das mit weit mehr negativen Bemerkungen in allen Zeitungen begleitet als die zehntägige Dienstreise honoriger Kommunalpolitiker im Beirat einer Landesbank nach China. ({6}) Meine Damen und Herren, es geht nicht um den berühmten Gang an die Klagemauer, was ich hier mache; vielmehr kann es für die Demokratie und für die Autorität der Politik nicht gut sein, wenn das Image der Politik und der Politiker immer weiter herabgeritten wird. ({7}) Vielleicht hängen sogar jüngste Wahlerfahrungen auch etwas mit dem Ansehensverlust der Politiker zusammen. Wir Abgeordnete haben sicher Anlaß, unseren Beitrag zur Besserung des Ansehens zu leisten. Wir bitten aber auch die Medien, uns dabei zu helfen, indem über die Gesamtheit unserer Arbeit, auch den Einsatz und das Ringen um positive Lösungen, mehr berichtet wird. Die Arbeit des Petitionsausschusses bietet für eine solche Berichterstattung genug Material. Vielen Dank. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Jung ({0}) ist der nächste Redner.

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen! Bei über 13 000 Eingaben, die der Petitionsausschuß im vergangenen Jahr erhalten hat, nimmt sich die Zahl derer aus dem Geschäftsbereich des Auswärtigen Amtes mit 333 gering aus. Dennoch geht es hier um besondere menschliche Schicksale und Probleme, so daß ich mich diesem Thema widmen möchte. Etwa ein Drittel der Zuschriften in diesem Bereich enthielt Probleme der Aussiedlung und Familienzusammenführung deutscher Volkszugehöriger aus dem osteuropäischen Raum. Die Zahl der Eingaben - Kollege Haungs hat bereits darauf hingewiesen - mit Ausreiseanliegen nahm jedoch deutlich ab, was insbesondere damit zusammenhängt, daß wir eine große Zahl von Aussiedlungen aus der UdSSR und Polen hatten. Nahezu alle Altakten zu Aussiedlungsbegehren aus der Sowjetunion konnten erfolgreich abgeschlossen werden. Anläßlich des Kanzlerbesuchs in der Sowjetunion wurde eine Liste besonderer Härtefälle auch über den Petitionsausschuß überreicht; ein Teil ist inzwischen erfreulicherweise gelöst. Besondere Probleme gibt es aber heute noch mit Rumänien. In Zuschriften schildern Petenten die bedrükkende Lage durch behördliche Maßnahmen und die schwierige wirtschaftliche Situation. Aber auch mit Petitionen gegen die Einreise deutscher Volkszugehöriger hatte sich der Ausschuß zu beschäftigen. Diese Personen wurden auf den rechtlichen und moralischen Anspruch der Deutschen in Osteuropa hingewiesen. Ein weiterer Schwerpunkt im Bereich des Auswärtigen Amtes waren die Eingaben von Deutschen, die im Ausland in Schwierigkeiten geraten waren. Hier hat die jeweilige Nachprüfung ergeben, daß die Auslandsvertretungen nach besten Kräften helfen, allerdings nicht in allen Fällen den Wünschen der Antragsteller Genüge tun können. Ein Punkt der Kritik - im Ausschuß sehr intensiv diskutiert - bot die Behandlung von türkischen Staatsangehörigen, die Sichtvermerksverfahren bei deutschen Auslandsvertretungen in der Türkei begonnen hatten. Die unbefriedigende Aufklärung war für den Petitionsausschuß Anlaß, die beiden Berichterstatter die Sache in der Türkei überprüfen zu lassen. Der Kollege Bernd Reuter und ich waren dort. Ich finde, dies war ein erneutes Beispiel, wie über Fraktionsgrenzen und über Grenzen Koalition/Opposition hinweg im Ausschuß gemeinsam um die beste Lösung von anstehenden Problemen gestritten wird. ({0}) Wir hatten dort festgestellt, daß es Mängel nicht nur bei der Information der Antragsteller über die Gründe der Ablehnung ihres Visums gibt, sondern auch im Rahmen der materiellen Prüfung der Ablehnungsgründe durch diese Stellen. Mängel bestehen auch in der Zusammenarbeit mit den Ausländerbehörden der Länder. Ich will ein Beispiel dafür nennen. Bei der Prüfung der Frage, ob für im Rahmen des Familiennachzugs einreisende Ausländer ausreichend Wohnraum vorhanden ist, orientieren sich Ausländerbehörden zu sehr an den hiesigen Vorstellungen von angemessenen Wohnverhältnissen und ignorieren somit die Lebensgewohnheiten von Ausländern sowie das besondere Interesse an der Wiedervereinigung der Familienmitglieder. Uns lag die Entscheidung einer Ausländerbehörde vor, die die Zustimmung zum Familiennachzug für eine türkische Ehefrau und sechs Kinder erteilt hatte, für das siebte Kind jedoch unter Hinweis auf den nicht ausreichenden Wohnraum nicht. Das war nicht akzeptabel. Hier hat der Petitionsausschuß helfen können. Es ist auch nicht hinnehmbar, wenn Ausländerbehörden AnfraDeutscher Bundestag - 11. Wahlperiode - 151. Sitzung. Bonn. Mittwoch. den 21. Juni 1989 11363 Jung ({1}) gen einer Auslandsvertretung erst nach mehr als einem Jahr beantworten. Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir bei unserer Reise in die Türkei festgestellt haben, ist, daß die technische Ausstattung und die räumliche Unterbringung der Sichtvermerksstellen absolut indiskutabel sind. Ich nenne hier besonders diejenigen Stellen, die wir besucht haben, also die deutsche Botschaft in Ankara und die Konsulate in Istanbul und Izmir. Dies gilt aber natürlich auch für andere Auslandsvertretungen. ({2}) Das ist angesichts des traditionell guten Verhältnisses zwischen Deutschland und der Türkei und unseres Rufes als Industrienation absolut unverständlich. ({3}) Notwendige Verbesserungen, meine Damen und Herren, sind hier aber gerade auch durch Initiativen des Petitionsausschusses in die Wege geleitet worden. Es gab und gibt allerdings auch Klagen, z. B. deutscher Spediteure, deren LKWs wegen angeblichen Schmuggelverdachts beschlagnahmt wurden und durch die Länge des Verfahrens heute nur noch Schrottwert aufweisen. In Gesprächen mit den zuständigen Ministerien sowie dem Verkehrs- und Petitionsausschuß des türkischen Parlaments ist die Erledigung hier angemahnt und eine Beschleunigung gefordert worden. Der Petitionsausschuß - damit komme ich zum Ende - hat auch in diesem Bereich deutlich gemacht, daß es seine vornehmste Aufgabe ist, in Einzelfällen zu gerechten und überzeugenden Lösungen zu kommen. Dieser Aufgabe werden wir uns auch weiterhin stellen. Vielen Dank. ({4})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Grünewald.

Dr. Joachim Grünewald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000739, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! „Keine Pause, kein Sommerloch", so schrieb Eberhard Nitschke im August des vergangenen Jahres in der „Welt" . Er fuhr dann fort: Den Mitgliedern des Petitionsausschusses wird mindestens einmal jährlich bei Vorlage des Tätigkeitsberichts warm gedankt. Im übrigen wird in diesem Gremium der Mangel an Anerkennung durch ein Übermaß an Arbeit kompensiert. ({0}) Diesem Zitat ist an sich nichts hinzuzufügen, außer, daß sich auch im Berichtszeitraum - die Zahl wurde ja schon genannt - wieder weit über 13 200 Bürger vertrauensvoll an uns gewandt haben. Nun, wir haben das mit dieser Vielzahl von Eingaben uns abverlangte „Übermaß an Arbeit" in durchweg harmonischer Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg - Frau Hämmerle hat schon sehr freundlich darauf hingewiesen - , tatkräftig unterstützt von den fleißigen und überaus sachkundigen Mitarbeitern des Petitionsbüros, sehr gerne erbracht. Denn in fast allen Fällen, auch in jenen, in denen wir, aus welchen Gründen auch immer, nicht helfen konnten, ist uns als schönster Lohn das Vertrauen vieler Bürger in uns, in unsere Arbeit geblieben. Dazu nun einige konkrete Beispiele aus dem Geschäftsbereich des BMF, bildete doch dieser Bereich mit 13 % aller Eingaben einen Schwerpunkt der Ausschußarbeit. Erstens. Gleich mehrere Petenten beanstandeten, daß nach ihrer Ansicht die steuerliche Förderung schadstoffarmer Personenkraftwagen mit einem Hubraum von weniger als 1 400 cm3 unzureichend sei. Da diese Kraftfahrzeuge aber nur als bedingt schadstoffarm eingestuft werden können, mußten wir die abweichenden steuerlichen Regelungen gegenüber den Petenten rechtfertigen. Weil ihre Autos aus technischen Gründen nicht als voll schadstoffarm eingestuft werden können, haben die Halter Mehrkosten zum Schutze unserer Umwelt nach dem Verursacherprinzip grundsätzlich hinzunehmen. Ich meine, der Petitionsausschuß konnte dies den Betroffenen auch klarmachen. Im übrigen wird dieses Problem dank der Bundesregierung ab Oktober 1991 seine Erledigung finden. Zweitens. Da konnte in einem Einzelfall erreicht werden, daß der Bundesminister der Finanzen einem Steuerschuldner die restliche Schuld nach Zahlung einer einmaligen größeren Abschlagsleistung erlassen hat. Der Petent hatte durch seine langjährigen Ratenzahlungen den Willen zur Abtragung seiner Steuerschuld bekundet und war auf Grund seiner schwierigen wirtschaftlichen und persönlichen Verhältnisse mit der Bitte um Restschuldenerlaß an uns herangetreten. - Hier wurde übrigens im öffentlichen Bereich in einem Einzelfall erstmalig das verwirklicht, was wir im Insolvenzrecht im Augenblick diskutieren, nämlich die Restschuldbefreiung für langjährig willige Schuldner. Drittens. Der Ausschuß sah die gesetzliche Regelung für unbillig an, daß Verluste aus Vermietung und Verpachtung bei der Inanspruchnahme der degressiven Abschreibung nicht unter die auf die zu Jahresbeginn auf der Lohnsteuerkarte eintragungsfähigen Freibeträge fallen, obwohl diese Verluste bei der Festsetzung von Einkommensteuervorauszahlungen berücksichtigt werden. Zwar ist in diesem Verfahren - so hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, und der Petitionsausschuß hat sich dem auch angeschlossen - nichts Verfassungswidriges zu sehen. Dennoch hielt der Ausschuß diese Praxis für änderungswürdig. Viertens. Natürlich ist nicht immer Erfolg für den Petenten zu verbuchen. Die Petitionen einiger verwitweter Bürgerinnen und Bürger, die beklagten, daß sie steuerrechtlich wie Ledige behandelt werden und nicht in die günstigere Steuerklasse III eingestuft sind, hat der Ausschuß nicht unterstützen können; denn entscheidend ist, daß die steuerliche Leistungsfähigkeit bei allen Alleinstehenden im wesentlichen gleich ist. Auch diese Begründung - dessen bin ich sicher - wird bei objektiver und nüchterner Betrachtung die Petenten überzeugen; denn grundsätzlich sind unsere Bürger fair und einsichtig. Für eine sachlich und fachlich begründete Stellungnahme haben sie in aller Regel Verständnis. Gerade darin, solches Verständnis zu finden und damit Vertrauen zu gewinnen, liegt eine der Hauptaufgaben des Petitionsausschusses. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir haben hier jetzt nichts zu beschließen. Aber, ich glaube, auch von hier aus sollte den Kolleginnen und Kollegen, die diese Arbeit laufend für uns alle tun, gedankt werden. Ihnen, Herr Pfennig, und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auch in der Verwaltung, die eine so große Arbeit im Petitionsausschuß und für die Petitionen der Bürger leisten, möchte ich hier im Namen des Hauses herzlichen Dank sagen. ({0}) Lassen Sie mich hinzufügen: Wenn ich richtig gezählt habe, Herr Minister Seiters, sind sechs oder gar sieben Ministerien konkret erwähnt worden. Nur in einem Fall haben wir einen direkten Treffer erzielt, weil einer der Kollegen aus der Regierung als Vertreter seines Ministeriums hier anwesend ist. Dies läßt sich nicht vorher regeln. Insofern danke ich Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich bitte, zu erwägen, sich dies zukünftig vorher anzusehen, damit Vertreter aller Ministerien hier sind, wenn aus der Arbeit des Petitionsausschusses berichtet wird. Vielen Dank. ({1}) Ich rufe Punkt 7 der Tagesordnung auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft ({2}) zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1988 - Drucksachen 11/3177, 11/4055 - Berichterstatter: Abgeordnete Nelle Rixe b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Berufsbildungsbericht 1989 - Drucksache 11/4442 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Bildung und Wissenschaft ({3}) Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung 90 Minuten vereinbart worden. Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Oswald.

Eduard Oswald (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001663, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Situation auf dem Lehrstellenmarkt hat sich 1988 noch einmal deutlich verbessert. Bundesweit standen jeweils 100 Bewerbern 106 Ausbildungsplätze zur Verfügung - ein Ergebnis, wie es die Statistik seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahre 1976 noch nie aufgewiesen hat. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die Lehrstellensituation „vor Ort" in den allermeisten Fällen noch viel besser aussieht, als es die offiziellen Statistiken vermuten lassen. Dies gilt um so mehr für das überaus erfolgreiche Wirtschaftsjahr 1989. Bei inzwischen mehr als 60 000 nicht zu besetzenden Ausbildungsplätzen allein im deutschen Handwerk sollte die Parole vom Lehrstellenmangel endgültig der Vergangenheit angehören; denn selbst in den uns bekannten Problemregionen gibt es inzwischen Tausende von Baustellen, Hotels, Gaststätten und Einzelhandelsgeschäften, die händeringend nach Lehrstellen suchen. Das bayerische Handwerk hat sogar auf einen katastrophalen Lehrlingsmangel hingewiesen, der Tausende von Handwerksbetrieben vor ernste Probleme stellt. Kein Wunder, daß man in dieser Situation auf der jüngsten Münchener Handwerksmesse ungewöhnliche Angebote lesen konnte wie: „Schreinerlehrling gesucht; Wohnung in München vorhanden. " Die günstige Lehrstellenentwicklung wird sich bei anhaltend stabiler Konjunktur und weiterhin rückläufigen Bewerberzahlen auch in den nächsten Jahren verstärkt fortsetzen. Nach Angaben des Deutschen Industrie- und Handelstags wird die Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge in diesem Jahr bereits auf etwa 560 000 zurückgehen und damit um rund 44 000 unter dem Stand des Jahres 1988 liegen. Im Rekordjahr 1984 wurden noch - man höre - 705 000 Ausbildungsverträge abgeschlossen. Durch die geburtenschwachen Jahrgänge sei bis etwa 1995 mit weniger als 500 000 Neuverträgen pro Jahr zu rechnen. Deshalb sei zu erwarten, daß auch in Regionen, in denen heute die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen das Angebot noch übertreffe, schon bald ein Ausgleich erreicht sein werde. Meine Damen und Herren, der inzwischen gravierende Lehrlingsmangel in den meisten handwerklichen Ausbildungsberufen, in den Bauberufen wie überhaupt in den meisten gewerblich-technischen Ausbildungsberufen stellt nicht nur viele Betriebe, sondern auch unsere Volkswirtschaft vor eine erhebliche Belastungsprobe. Die zuständigen Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen sollten deshalb in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitsämtern, aber auch mit den zuständigen Schulverwaltungen rechtzeitig darauf hinwirken - oder dies zumindest versuchen - , daß sich das Bewerberverhalten junger Menschen stärker als bisher an den praktischen Gegebenheiten und Erfordernissen ausrichtet. Diese Forderung ist keineswegs irgendeine Diskriminierung von Lebenswünschen Jugendlicher oder gar eine „Unterordnung von Lebensschicksalen unter die Kapitalinteressen", wie da und dort wohl zu hören ist; sie entspricht vielmehr den Anforderungen einer modernen Industriegesellschaft, in der die weit überwiegende Zahl der Jugendlichen eine bessere Berufs- und Lebenschance als in der Generation zuvor vorfindet. Meine Damen und Herren, in eine Debatte über den Berufsbildungsbericht gehört auch die Diskussion über die Frage der Qualität der Berufsausbildung gerade auch im Hinblick auf den europäischen Binnenmarkt. Wir haben insgesamt eine gute, auf hohem Niveau stehende berufliche Ausbildung in unserem Lande. Daß die Qualität der Berufsausbildung besser ist, als manche Kritiker zugestehen möchten, beweist eine aktuelle Studie des Bundesinstituts für Berufsbildung. Aus dieser Untersuchung geht hervor, daß das Lernen am Arbeitsplatz und die zunehmende Pädagogisierung in allen befragten Betrieben zu einem hohen Lernerfolg und zu einer hohen Qualität geführt haben. In rund 87 % der Betriebe wird auf das individuelle Lerntempo der Auszubildenden Rücksicht genommen. Ein sehr wichtiges Merkmal für die Qualität der Ausbildung sind auch der hohe Informationsstand unserer Betriebe über die Arbeit in den Berufsschulen und die damit verbundene Zustimmung zu den dort erbrachten pädagogischen Leistungen. Wir sollten auch an dieser Stelle einmal den Lehrern an unseren Berufsschulen Dank und Anerkennung für ihre Arbeit aussprechen. ({0}) Wichtig erscheint mir auch die Feststellung - ({1}) - Nun, auch wenn uns etwas selbstverständlich erscheint, sollten wir es doch manchmal sagen. ({2}) - Ob wir es dürfen? Natürlich dürfen wir es! Etwas Gutes darf man immer sagen, lieber Herr Kuhlwein. Wichtig erscheint mir auch die Feststellung, daß 62 % der Handwerksbetriebe die überbetriebliche Unterweisung als eine sinnvolle Ergänzung der Ausbildung im Betrieb in Anspruch nehmen und damit zur Erhöhung der Ausbildungsqualität beitragen. Die Qualität der Ausbildung wird in den nächsten Jahren zur Trumpfkarte der Unternehmen. Nur so können die Betriebe um den immer knapper werdenden Nachwuchs erfolgreich werben. Meine Damen und Herren, die praxisnahe Berufsausbildung im Rahmen des dualen Systems trägt entscheidend dazu bei, das Problem der Jugendarbeitslosigkeit zu entschärfen. Im Vergleich zu anderen Industriestaaten in Europa und Übersee sichert unser Ausbildungssystem der nachwachsenden Generation vor allem gegenüber schulischen Ausbildungssystemen weitaus bessere Berufschancen. Natürlich muß auch unser Berufsbildungssystem den jeweiligen Anforderungen des technologischen Wandels angepaßt werden. Das ist eine selbstverständliche Daueraufgabe. Dabei sehe ich nicht ohne Sorge, daß im Zuge der Neukonzeption von Ausbildungsordnungen die relativ große Gruppe der theorieüberdrüssigen und praktisch begabten Jugendlichen nicht immer die Förderung bekommt, die sie verdient. Zwar habe ich Verständnis dafür, daß die jeweiligen Branchenvertreter auf die hohe Qualifikation ihres Ausbildungsberufs schon deshalb Wert legen, weil sie auch in Zukunft qualifizierte Nachwuchskräfte gewinnen wollen. Aber es bedrückt mich doch der Gedanke, daß vor allem viele Haupt- und Sonderschüler diesen Anforderungen dann nicht mehr gerecht werden können. Ich kann der Forderung von Minister Möllemann nach mehr innerer Differenzierung in den Ausbildungberufen nur zustimmen. Wir brauchen Ausbildungsordnungen, die so gestaltet sind, daß sie Spielraum für die Bedingungen im einzelnen Betrieb, für die persönlichen Bedürfnisse des einzelnen Auszubildenden und für neue Entwicklungen geben. Um auch Schwächeren eine Chance zu geben und um den erhöhten Bedarf an Fachkräften zu decken, muß in der Ausbildungspraxis mehr als bisher differenziert werden, was die Anforderungen und die Ausbildungszeiten betrifft. Eine solche Differenzierung kann zweierlei verhindern: zum einen, daß lernschwächere und benachteiligte Jugendliche angesichts der hohen Anforderungen womöglich auf der Strecke bleiben, und zum anderen, daß die Qualität der Berufsausbildung generell auf ein so niedriges Niveau gesenkt wird, daß eben alle eine Chance haben. Eine gute Berufsausbildung ist der beste Schutz gegen Arbeitslosigkeit. Wir wissen aus der Strukturanalyse der Bundesanstalt für Arbeit, daß fast jeder zweite Arbeitslose keine abgeschlossene Berufsausbildung vorweisen kann. Umgekehrt sind fast dreiviertel aller Stellen, die von den Arbeitsämtern angeboten wurden, für Fachkräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung ausgeschrieben. Deshalb darf die relativ niedrige Arbeitslosenquote in unserem Lande, über die wir froh sind, für uns natürlich kein Anlaß zu irgendeiner Selbstzufriedenheit sein. Wir alle wissen, daß Jugendatbeitslosigkeit den Betroffenen die Lebensperspektive nimmt. Weshalb sollten wir alle angesichts der wenig befriedigenden Erfahrungen, die mit manchen Sonderschulungsprogrammen gesammelt wurden, nicht die Frage stellen, ob es für diese überwiegend praktisch begabten Jugendlichen nicht hilfreicher wäre, ihnen angemessene, praxisgerechte Ausbildungsgänge anzubieten? Es ist falsch, angesichts dieser Lebensschicksale womöglich von einer Lehre zweiter Klasse zu sprechen. Meine Damen, meine Herren, der Deutsche CaritasVerband hat diese vor allem unter den Jugendlichen ohne Hauptschulabschluß zu findenden Betroffenen kürzlich einmal treffend als die „Nachhut der Nation" bezeichnet. Man könne davon ausgehen - so der Caritas-Verband -, daß in unserer Bevölkerung mindestens 10 % mit einem für heutige Verhältnisse zu leichten Gepäck in das Berufsleben eintreten. Natürlich ist immer auch ganz entscheidend, mit welcher Motivation junge Menschen in das Berufsleben hineingehen: Wollen sie sich ausbilden lassen? Wollen sie etwas tun? Wollen sie mitarbeiten? Diese ganz persönlichen, individuellen Punkte stehen natürlich immer im Mittelpunkt. Aber angesichts dieses Problems stellt der Deutsche Caritas-Verband offene Fragen an die Schule, an die Tarifpartner, aber auch an die Ausbildung. Ich möchte drei Fragen herausgreifen, auf die es mir persönlich ankommt: Erstens. Ist es wirklich immer gerechtfertigt, die Anforderungen stets höherzuschrauben, so daß diese für den Personenkreis der schwächeren Schüler praktisch unerfüllbar werden? - Das ist die erste Frage. Die zweite Frage: Welche schulische Vorbildung ist für eine Ausbildung tatsächlich erforderlich? Muß es immer das Abitur oder ein wenig darunter - möglichst wenig darunter - sein? Drittens. Wenn schon eine höhere Ausbildung als Vollausbildung unvermeidlich ist, gibt es dann nicht doch über die bisherigen Ansätze hinaus eine Art anerkannte Zwischenstufe, etwa qualifizierte Anlernberufe? Muß es fast immer heißen: gelernt - ungelernt, brauchbar - unbrauchbar? Dies sind drei Fragen, über die wir nachdenken müssen, wir von politischer Seite, gemeinsam, intensiv, die wir aber auch den Tarifpartnern mit auf den Weg geben müssen. Wir müssen sie damit sehr intensiv beschäftigen. Eine große Bedeutung haben auch Maßnahmen zur Verringerung von Ausbildungsabbrüchen. Eine Untersuchung des BIBB hat ergeben, daß die überwiegende Zahl der Lehrlinge mit der Ausbildung zufrieden ist: 80 % beurteilen ihre Lehre positiv; 4 % sind sehr unglücklich und würden am liebsten, so formulieren sie es, „den ganzen Krempel hinschmeißen". Tatsächlich brechen von den 1,8 Millionen Jugendlichen, die sich in der Berufsausbildung befinden, jährlich etwa 100 000 ihre Lehre ab, und das mit steigender Tendenz. Von den Jugendlichen, die ihre Lehre vorzeitig beenden, beginnt nur die Hälfte eine neue Ausbildung. Die Zahlen sind zu hoch, und sie dürfen von uns nicht hingenommen werden; das ist ganz klar. Wir alle sind hier gefordert. ({3}) Ich will nicht alle möglichen Lösungswege herausgreifen, aber es ist ganz entscheidend, daß es einer weiteren Intensivierung der Kontakte zwischen Ausbildern, Ausbildungsberatern und Lehrlingen, einer besseren Abstimmung zwischen Betrieb und Berufsschule und eines vermehrten Einsatzes moderner Lehr- und Lernmethoden, aber auch einer intensiven Vorbereitung auf die Arbeits- und Wirtschaftswelt in allen unseren Schulen bedarf. Das scheint mir eine ganz entscheidende Forderung zu sein. ({4}) Meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, der Reichtum unseres dualen Systems - das duale System ist ein Stück Reichtum, das wir durchaus auch mit Stolz erwähnen dürfen ({5}) liegt nicht zuletzt in seiner Vielfalt, die den unterschiedlichen Interessen und Begabungen der jungen Menschen am ehesten gerecht wird. Wenn wir heute viel über Weiterbildung reden, so müssen wir festhalten, daß die erste und wichtigste Voraussetzung zur Bewältigung des Strukturwandels eine hochwertige Erstausbildung ist. Dabei ist für mich ganz entscheidend, daß die Berufsausbildung insgesamt nicht vertheoretisiert wird, sondern daß sie sich ganz eng an der Wirklichkeit unserer Arbeits- und Wirtschaftswelt orientiert. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Rixe.

Günter Rixe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001861, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist der Bundesregierung bei ihrem Beschluß zum Berufsbildungsbericht 1989 zuzustimmen, wenn festgestellt wird: Eine qualitativ hochwertige duale Berufsausbildung ist die Grundlage für Berufs- und Lebenschancen des größten Teils der jungen Generation und ein bedeutsamer Wettbewerbsvorteil des Standortes Bundesrepublik. Weiter sieht die Bundesregierung in der Entspannung auf dem Ausbildungsstellenmarkt ... einen großen Erfolg für die Zukunftssicherung der jungen Generation. Im Berufsbildungsbericht 1989 selber heißt es entgegen dieser Selbstbeweihräucherung schon etwas realistischer - wir haben ja soeben von Herrn Oswald gehört, wie schön das hier ist - : Die Berufsbildungspolitik steht in den nächsten Jahren vor erheblichen neuen qualitativen und quantitativen Herausforderungen. Obwohl die Bundesregierung für Chancengleichheit in allen Bundesländern die Verantwortung trägt, ist die Struktur der am 30. September 1988 unbesetzten Ausbildungsplätze in ihrer regionalen Verteilung keineswegs ausgewogen. In vier Ländern lag das Angebot an Ausbildungsplätzen auch 1988 sogar noch unter der Nachfrage. Das gilt auch für 35 von 142 Arbeitsamtsbezirken. Obwohl der Anteil versorgter junger Frauen mit 60 % weiterhin über dem Durchschnitt liegt, glaubt der Bericht vermerken zu müssen: „Die Vermittlungschancen der Mädchen haben sich damit leicht verbessert. " - Unter der Überschrift: „Noch nicht vermittelte Bewerber und unbesetzte Ausbildungsstellen" wird die Situation für auf dem Ausbildungsstellenmarkt benachteiligte Gruppen mit vielen Worten schöngeredet. Diese schönen Worte entlarven sich selbst, wenn es im Bericht dann wohl richtigerweise heißt: Statistisch hat die günstigsten Vermittlungschancen ein deutscher junger Mann mit mittlerem Schulabschluß, der jünger als 18 Jahre ist. Sie wissen, Herr Staatssekretär - der Minister ist nicht anwesend - , daß zusätzlich zu den knapp 25 000 Jugendlichen, denen die Arbeitsverwaltung 1988 keinen Ausbildungsplatz vermitteln konnte, noch gemäß den sogar offiziellen Statistiken fast doppelt so viele Jugendliche hinzugerechnet werden müssen, die aus verschiedenen Gründen in den letzten Jahren auf eine betriebliche Ausbildung verzichten mußten. „Fördern statt Auslesen - qualifizierte Ausbildung für alle! " bleibt die berufsbildungspolitische Devise der SPD-Fraktion. Für Jugendliche mit schulischen und sozialen Problemen wollen wir deshalb nicht „verstärkt praxisorientierte ... Ausbildungsgänge" einführen, bei denen dann mit verkürzter Ausbildungszeit eine Qualifikation unterhalb des bisherigen Facharbeiterniveaus vergeben wird, sondern auch diesen jungen Menschen ist das erfolgreiche Absolvieren einer normalen Berufsausbildung zu ermöglichen. ({0}) Deshalb hält es die SPD für eine völlige Fehlorientierung, Modelle zur Förderung für „besonders leistungsfähige und begabte junge Frauen und Männer" entwickeln zu wollen. Ihr Vorschlag, Herr Minister - - Er ist leider nicht hier. Er feiert nicht, sondern er übergibt irgendwo einen Preis, habe ich mir sagen lassen. ({1}) - Ja, natürlich, das ist wichtig. Ich kritisiere das auch gar nicht. ({2}) Als ich mein Redemanuskript verfaßte, ging ich davon aus, daß der Minister selbst hier ist; bei den letzten Malen war er eigentlich auch immer anwesend. - Der Vorschlag zur Trennung der Facharbeiterausbildung in Eliteausbildung und praxisorientierte Qualifikation in Fachfertigkeiten läuft nach meiner Ansicht auf eine weitere Spaltung des Ausbildungs- und Arbeitsmarkts hinaus. Aus demselben Grund weise ich auch die Forderung nach kürzeren Bildungszeiten entschieden zurück. Eine verkürzte Eliteausbildung ist im Hinblick auf die benötigten Praxiszeiten in der Berufsausbildung wohl gar nicht sinnvoll und praktisch kaum umsetzbar. Statt hier an bewährten Regelungen des dualen Systems herumzufummeln, verlangt die SPD schulische und soziale Hilfen im Sinne des Benachteiligtenprogramms, damit allen Jugendlichen der erforderliche Abschluß einer Berufsausbildung ermöglicht werden kann. Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte in meiner heutigen Rede zum Berufsbildungsbericht 1989 kurz auf fünf Stichworte eingehen: Erstens. Das Berufsbildungsgesetz von 1969 ist jetzt 20 Jahre alt und hat dem Berufsbildungssystem der Bundesrepublik einen vorbildlichen Ruf eingebracht. Man muß allerdings auch feststellen, daß das Berufsbildungsrecht in seiner jetzigen Form nicht ausreichte, die notwendigen betrieblichen Kapazitäten zur Berufsbildung zu sichern. ({3}) Zweitens. Ich habe schon in meiner letzten Rede zum Berufsbildungsbericht darauf hingewiesen, daß bis zum Jahre 2000 wohl mehr als 1 Million Jugendliche als Ungelernte ins Erwerbsleben treten. Die Chancen dieser Jugendlichen auf eine dauerhafte Beschäftigung sind außerordentlich schlecht. Auch hier - darauf muß ich hinweisen - war die 9. AFG-Novelle das völlig falsche Zeichen. Man kann heute halt nur so viele Facharbeiter beschäftigen, wie man früher ausgebildet hat. ({4}) Der rasante technische Fortschritt und die Hinwendung zur Dienstleistungsgesellschaft mit sauberen Angestelltenberufen sind natürlich weitere Erklärungen für dieses Problem. Auch die Bundesregierung hat festgestellt: Den Fachkräftenachwuchs zu sichern liegt in erster Linie in der Verantwortung der Arbeitgeber. ({5}) Drittens. Das Handwerk muß Qualität planen. Das Handwerk darf nicht nur Ausbilder für die Industrie sein, was es in den letzten zehn Jahren eigentlich immer gewesen ist; es hat nämlich zwei Drittel aller Ausbildungen in den Ausbildungsberufen bereitgestellt. Bei der Attraktivität für den Nachwuchs spielen laut Berufsbildungsbericht offenbar die Arbeitsbedingungen, das Bild von den Zukunftschancen der Branche, aber auch die Erkennbarkeit von Weiterbildungsmöglichkeiten und Aufstiegschancen im Beruf eine große Rolle. Meine Kollegen aus dem Handwerk haben schon das letztemal protestiert, als ich darauf hingewiesen habe, daß nach einer Zusammenstellung der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung bei bestimmten Berufen ein erhöhtes berufliches Arbeitsmarktrisiko besteht. Aber ich will mir die nochmalige Aufzählung der Berufe heute ersparen. Wenn sich das Handwerk um zukünftige Fachkräfte sorgt und gleichzeitig ein genereller Facharbeitermangel festgestellt wird, muß an dieser sogenannten zweiten Schwelle, also an der Berufseinmündung, einiges getan werden. Qualität spricht sich auch bei den künftigen Auszubildenden und späteren Fachkräften herum. Viertens. In diesen Zusammenhang gehört auch eine Sicherung der Qualität der Berufsausbildung, insbesondere im Handwerk, durch eine Sicherung der überbetrieblichen Berufsbildungsstätten. Wir müssen uns endlich darauf verständigen, daß die überbe11368 trieblichen Berufsbildungsstätten als Teil des dualen Systems der Berufsausbildung auf Dauer finanziell abgesichert werden müssen. Ich will nur an die Fachausschußsitzung von heute morgen erinnern: Leider ist das nicht so erfüllt worden, wie ich mir das vorstelle. ({6}) Ohne die Konditionen für die Vergabe von Fördermitteln zu erschweren, muß die Bundesregierung die Finanzierung auf Dauer sichern und den Bundesanteil für die Förderung, insbesondere in der bisherigen prozentualen Höhe, festschreiben, was in dem Antrag der Koalitionsfraktionen nicht enthalten ist. Auch darf die Rolle des Bundesinstituts für Berufsbildung nicht eingeschränkt werden. Das BIBB muß weiterhin mit der gesetzlichen Aufgabe betraut sein, Planung, Errichtung, Weiterentwicklung in diesem Bereich zu unterstützen und die Mittel zu vergeben. Dafür sind auch die wichtigsten Strukturdaten zu erheben und zu veröffentlichen. Ich denke, daß wir uns in inhaltlichen Bereichen auf die Zielsetzung dieser überbetrieblichen Ausbildungsstätten, z. B. im Hinblick auf die zukunftsorientierten Berufsausbildungen und damit auch auf eine funktionale Nutzung, verständigen können. Die SPD hält darüber hinaus eine Abstimmung und Zusammenarbeit mit den örtlich zuständigen Berufsschulen für notwendig und unterstreicht, daß auch bei allen überbetrieblichen Berufsbildungsstätten paritätisch besetzte Mitbestimmungsgremien eingerichtet werden müssen und eingerichtet werden sollten. Auch das war heute morgen Gegenstand der Diskussion im Ausschuß. Fünftens. Ich will noch kurz drei Sätze zu der Qualifizierungsoffensive und zur Weiterbildung sagen. Das sind Stichworte, die uns zu einer besonderen Betrachtung der Situation am Übergang von Ausbildung in den Beruf veranlassen sollten. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den Berufen bei dem Einstieg nach der Ausbildung, wieder die zweite Schwelle. Diese zweite Schwelle ist deutlich auch eine geschlechtsspezifische Angelegenheit. Auch hier kommen die Mädchen immer wieder ein bißchen unter Druck. Sie haben nicht die Chancen, die die Jungen bei der Ausbildung in unserer Gesellschaft haben. Dies wäre im Hinblick auf Qualifikationsanforderungen von Handwerk und Industrie auch falsch. Ziel muß es deshalb nach meiner Meinung bleiben, in allen Ausbildungsberufen breite Grundqualifikationen anzubieten, die den jungen Leuten später ein freies und flexibles Umgehen mit den Unwägbarkeiten des Berufslebens ermöglichen. Diese Qualifikationen können nur begrenzt über die organisierte Weiterbildung erworben werden. Sie prägen sich vor allem über die Berufserfahrung, über das Lernen im Arbeitsprozeß, ein. Es geht um eine langfristige Perspektive für die Wirtschaft und für den einzelnen und damit um mehr Mündigkeit und mehr Selbstbestimmung auf der Grundlage einer breiten Berufsausbildung. Ich darf mich bei Ihnen bedanken. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Meine Damen und Herren! Ein Zitat: Mit einer rollenden Berufsberatung besuchen die Arbeitgeber der südhessischen Metall- und Elektroindustrie in dieser Woche Schulen. Der Grund: Die Branche findet nicht mehr genügend Lehrlinge und möchte Schülerinnen und Schüler gern von der Attraktivität ihres Ausbildungsangebotes überzeugen. Quelle: „Frankfurter Rundschau" vom 7. Juni. Man kann eine solche Meldung, wie es hier geschehen ist, zwar regional oder branchenspezifisch relativieren; aber wenn die im gleichen Artikel zitierte Aussage der Industrie- und Handelskammer Darmstadt hinzugenommen wird, die ganz pauschal davon spricht, daß es für jeden Berufswunsch in Südhessen eine Stelle gebe, so zeigt sich an diesem fast zufälligen Lesebeispiel eine Umkehrung der quantitativen Situation, von der wir vor einigen Jahren nicht zu träumen wagten. Das ist, meine Damen und Herren, bei allen erwähnten Unterschieden zwischen Regionen und Branchen ein Zeichen grundlegender Verbesserungen, um so mehr, als der Raum - auf den man etwas näher eingeht, wenn man eine solche Meldung liest - , der Arbeitsamtbezirk Darmstadt, im Berufsbildungsbericht 1985 zu 92,8 %, im Berufsbildungsbericht 1988 zu 99,4 To und jetzt zu 107,2 % in der Angebots-Nachfrage-Relation als versorgt angegeben wird, also nicht zu den Spitzenreitern zählte oder zählt und in diesem Sinne also die allgemeine positive Entwicklung - positiv aus der Sicht der Bewerber - widerspiegelt. ({0}) Meine Damen und Herren, dieser Artikel war mit den Worten „Lehrlingssuche per Info-Bus" überschrieben. Das kommt dem Ausrollen des berühmten roten Teppichs sehr nahe, den die Kollegen von der SPD kürzlich in einer Presseerklärung in schöner Übereinstimmung mit dem Minderheitenvotum der Gruppe der Arbeitnehmervertretung im Hauptausschuß des BIBB als noch eingerollt sahen. Sehr nahe kommt es diesem Ausrollen - Herr Kollege Osswald hat schon darauf hingewiesen - , daß das Handwerk überall ähnliche Aktionen startet. Es befürchtet schon in diesem Jahr - Sie sagten es - über 60 000 Ausbildungsplätze nicht besetzen zu können ({1}) und sieht in dem sich so abzeichnenden Mangel an Nachwuchs- und Fachkräften ({2}) - ich zitiere wiederum eine Pressemitteilung - „immer schärfer wirkende Bremsen" für die ansonsten gute Entwicklung. Meine Damen und Herren, ich sage das nicht, um zu jubeln; denn wir haben nichts dazu beigetragen, daß sich die Demographie so entwickelt hat. ({3}) Ich sage es, weil ich auf neue, wiederum quantitative Fragen aufmerksam machen will, die jetzt aber unter einem ganz anderen Vorzeichen als bisher stehen. Ich möchte, weil wir uns sozusagen an einer Schwelle befinden, die Gelegenheit nutzen, wie das Herr Osswald getan hat, all denen zu danken, die in den vergangenen Jahren des sogenannten demographischen Drucks mit vielen Initiativen und Kampagnen der verschiedensten Art alle nur möglichen Anstrengungen unternommen haben, Ausbildungskapazitäten zu schaffen, um jungen Menschen Ausbildungschancen zu bieten. ({4}) Diese Jahre waren eine Bewährungsprobe für das duale System; diese Probe ist bestanden worden, und zwar deshalb, weil sich viele einzelne an den Aktionen beteiligt haben: in Betrieben, Schulen, Verwaltungen, Gewerkschaften, Verbänden und zahlreichen Einrichtungen. Besonders eindrucksvoll waren für mich immer die Leistungen des Handwerks. Ihnen allen gilt der Dank dafür, daß sie die Sorge um die Zukunft der jungen Menschen zu ihrer eigenen und auch zum Anstoß auch für unkonventionelle Maßnahmen gemacht haben. ({5}) Ich glaube, meine Damen und Herren, ich übertreibe nicht, wenn ich sage, daß das doch einmal im Rückblick als ein besonderes Kapitel in der Sozialgeschichte dieser Jahre gewürdigt werden wird. Meine Damen und Herren, es ist uns hier in diesem Hause, eben auch durch Zurufe, oft der Vorwurf des bloßen Appellierens gemacht worden. Das war erstens nie richtig, und zweitens verkannte er ein - jetzt greife ich nicht auf Demokrit, sondern auf John Stuart Mill zurück - von diesem formuliertes liberales Prinzip. Ich zitiere: Eine Regierung kann niemals genug von der Aktivität bekunden, die die individuelle Tätigkeit und Entwicklung nicht hindert, sondern stützt und fördert. Das Unheil beginnt erst da, wo sie, anstatt die Aktivität und die Fähigkeiten der Individuen und der Gemeinschaften hervorzurufen, ihre eigene Aktivität an deren Stelle setzt. Ein Zitat, meine Damen und Herren, das für uns nicht nur für die vergangenen, sondern auch für die gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen an die Berufsbildungspolitik eine Art Prüfstein sein wird. Meine Damen und Herren, auch wenn, wie gesagt wurde und es der Bericht ausweist, regionale Sorgen bleiben, und der Appell, über den unmittelbaren Bedarf hinaus auszubilden, gerade im Hinblick auf diese Problemregionen weiterhin gilt, so ist es angesichts der unleugbaren Veränderungen nicht nur richtig, sondern notwendig, daß der diesjährige Berufsbildungsbericht die qualitativen Gesichtspunkte der Berufsbildung stärker hervorhebt. ({6}) Es geht auch aus ihm hervor, Herr Kollege Beckmann, daß der quantitative und der qualitative Aspekt auf eine neue Weise zusammen gesehen werden müssen. In der Zukunft wird an die Stelle des Wettbewerbs der Nachfragenden ein Wettbewerb der Angebote treten und sich zugleich der Wettbewerb der verschiedenen Ausbildungswege deutlicher bemerkbar machen. Schon werden in diesem Zusammenhang auch dunkle Prognosen für das duale System gestellt. Daß sie nicht eintreten, meine Damen und Herren, liegt dann wiederum in der Hand und im Aufgabenbereich aller Beteiligten. Das kann ich jetzt nur mit einigen Bemerkungen anreißen und möchte noch auf einige Einzelpunkte eingehen. Zunächst möchte ich auf die Anregung bei der Modernisierung der Ausbildungsordnungen zu sprechen kommen - es wurde schon gesagt - , Möglichkeiten der Beschleunigung der Neuordnungsverfahren zu prüfen. Das entspricht einem oft und von verschiedenen Seiten geäußerten Wunsch. ({7}) Meine Partei hat auf ihrem Parteitag in Köln die Beteiligten aufgefordert, sich in - ich betone das - konstruktivem Zusammenwirken um solche Verkürzungen zu bemühen. Eine ähnliche Formulierung im Bericht wird in dem erwähnten Minderheitsvotum als „Drohgebärde" und als „Vorboten obrigkeitsstaatlicher Sehnsüchte im Gewande liberaler Politik" meines Erachtens gründlichst mißverstanden. Schön formuliert, aber weit an der Sache vorbei. ({8}) - Nein, Herr Kuhlwein, ich möchte im Zusammenhang sprechen. ({9}) Leider, meine Damen und Herren, werden ähnliche Sprachschöpfungen mit einem weiteren Thema verbunden, das wir hier schon strittig diskutiert haben. Meine Partei hat in Köln deutlich gemacht, daß alle Jugendlichen, die an einer Ausbildung im dualen System interessiert sind, so gefördert werden sollen, daß sie diesen Ausbildungsweg erfolgreich abschließen können. Sie gibt aber zu bedenken, daß es auch - jede Lebenserfahrung bestätigt es - Jugendliche gibt, die trotz intensiver Förderung dieser Anforderung nicht genügen können, und daß es nicht zu verantworten sei, diese Jugendlichen ohne berufsqualifizierenden Abschluß und damit ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu lassen. Es wird aber wieder von „Ausgrenzung" oder „Schaffung von Discountregelungen" gesprochen, wenn nun auch der Berufsbildungsbericht diesen Fragen nachgeht. Betrachtet man jedoch seine Erörterungen genauer, so enthalten sie, z. B. auf Seite 8 des Berichtes, eine Reihe von Förderanregungen, die gerade nicht ausgrenzen, sondern unterstützen und Chancen öffnen sollen. Ich möchte sie aufzeigen: Er11370 stens werden die allgemeinbildenden Schulen aufgefordert, sich der Gruppe der hier gemeinten Jugendlichen stärker zuzuwenden, um die Zahl von Abgängern ohne allgemeinbildenden Schulabschluß zu verringern; zweitens wird darauf hingewiesen, daß bewährte Motivierungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen und die Maßnahmen für die Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher und vergleichbare Programme fortgeführt werden müssen; drittens sollten nicht gerechtfertigte Anforderungen an die schulische Vorbildung der Bewerber, die bei entsprechender Gestaltung der Ausbildung zum Erreichen des Ausbildungszieles nicht notwendig sind, abgebaut werden; viertens wird es für notwendig gehalten, daß leistungsschwächeren Jugendlichen, jungen Ausländern und behinderten Jugendlichen eine intensive Betreuung durch pädagogisch wie fachlich qualifizierte Ausbilder gewährt wird; fünftens sollten von den Ausbildungsbetrieben die für die Berufsausbildung benachteiligter Jugendlicher entwickelten und erprobten ausbildungsbegleitenden und -unterstützenden Hilfen stärker genutzt werden; sechstens wird eine gegebenenfalls mögliche längere Ausbildungszeit für die Jugendlichen erwähnt und siebtens, erst und endlich, wird die Notwendigkeit von Lösungen für solche Jugendlichen angesprochen, die trotz der unterstützenden Maßnahmen an den Anforderungen der bisher anerkannten Ausbildungsberufe scheitern. Meine Damen und Herren, deutlicher als in diesem Bericht dargestellt kann das Prinzip Förderung nicht gemacht werden, ({10}) und für die erwähnten Vorwürfe ergibt sich daraus nicht der geringste Anlaß. Im übrigen irritiert mich zunehmend der diskriminierende Gebrauch des Begriffs Praxisorientierung. Daß praxisorientierte berufliche Bildung Bildung ist, darüber waren wir uns lange Jahre einig. ({11}) Ich hoffe, daß diese Einigkeit auch bleibt. Meine Damen und Herren, ich habe im Interesse der jungen Leute die Hoffnung, daß sich die starren Fronten lockern und einem realistischen Gesprächsklima weichen, denn es geht darum, daß Jugendliche Arbeitschancen wahrnehmen können und sich so auch Wege der Weiterbildung öffnen, die sonst verschlossen bleiben. Andererseits ergibt sich aus dem Wettbewerb der Ausbildungswege auch die Notwendigkeit, die Attraktivität des dualen Systems allgemein und dabei auch für besonders befähigte Jugendliche zu stärken. Wer diese Überlegungen heute tabuisiert, wird sich nicht aus der Verantwortung für die Folgen für das duale System davonstehlen können. ({12}) Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluß nur noch einen Aufriß weiterer wichtiger Themen im Stichwortverfahren geben, auf die ich hier nicht eingehen kann: auf die Verbesserung der Ausbildungschancen junger Frauen als eine weitere Aufgabe, auf die Herausforderung durch Veränderungen in der Arbeitswelt durch neue Technologien und Kommunikationstechniken, auf die - nicht nur in diesem Zusammenhang - notwendige Unterstützung der Ausbildung in kleinen und mittleren Betrieben durch überbetriebliche Ausbildungsstätten als eine ständige Aufgabe, auf die europäische Herausforderung, insbesondere für das Bildungswesen, deren Umrisse uns erst sehr langsam deutlich werden und - nicht abschließend - auf das in seiner Wichtigkeit immer deutlicher werdende Gebiet der Weiterbildung. Meine Damen und Herren, gerade hier müssen unsere künftigen Diskussionen anknüpfen. Weiterbildung lebt, und hier folge ich wieder der zitierten Millschen Maxime, von der Pluralität der Träger und der Angebote. Es ist die Aufgabe des Staates, Rahmenbedingungen zu schaffen, die diese Pluralität sichern. Dabei geht es um ein umfassendes Angebot, um die gleichberechtigte Teilnahme aller, um einen fairen Wettbewerb und um die Qualität und Verwertbarkeit der Weiterbildung. Ich glaube, auch zur Diskussion dieses Themas und vieler weiterer Punkte bietet gerade der in diesem Jahr vorgelegte Berufsbildungsbericht eine gute Grundlage. Ich danke Ihnen. ({13})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Hillerich.

Imma Hillerich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000902, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das, was mein Kollege Neuhausen gerade gesagt hat, bin ich noch nicht imstande zu beurteilen. Ich vermisse nämlich den ausführlichen Berichtsteil II in diesem Berufsbildungsbericht. Im letzten Jahr trug er das Datum vom April. Inzwischen haben wir Juni. Ich möchte ganz gerne gleich von dem Herrn Staatssekretär erfahren, warum dieser Berichtsteil noch nicht vorliegt. Meine Damen und Herren, ich habe den Eindruck, in der heutigen Debatte ist es ein bißchen so wie mit dem Glas Wasser, das man auf der einen Seite als halbvoll und auf der anderen Seite als halbleer bezeichnen kann. ({0}) Wir reden nämlich von den gleichen Entwicklungen, aber wir kommen doch zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen. Wir haben von dieser Stelle schon des öfteren die von Ihnen immer so gepriesenen Selbstregulierungskräfte des Ausbildungsmarktes in Frage gestellt. Ich denke, mit den heute zu diskutierenden Berichten liegt für alle sichtbar auf der Hand, daß unsere Skepsis berechtigt ist. Wir haben auf der einen Seite auch bei zahlenmäßig immer schwächeren Abschlußjahrgängen in den Betrieben immer noch kein auswahlfähiges Angebot an Ausbildungsplätzen in allen Regionen der Bundesrepublik, auf der anderen Seite hat ein allgemeines Jammern der Betriebe über mangelnden Facharbeiternachwuchs eingesetzt. Am lautesten schreien genau die Branchen über den Facharbeitermangel, die in der jüngsten Vergangenheit äußerst kurzsichtig Ausbildungskapazitäten abFrau Hillerich gebaut und Belegschaften ausgedünnt haben. Herr Rixe hat den Satz vorhin schon gesagt, den ich hier auch noch einmal zitiere: Man kann nur so viele Facharbeiter beschäftigen, wie man früher auch ausgebildet hat. So Eberhard Mann, Sprecher der Bundesanstalt für Arbeit. Er hat recht. Aber in den vorliegenden Berichten fehlt diese Problemwahrnehmung. Die mindestens 1,5 Millionen im vergangenen Jahrzehnt nicht- oder fehlausgebildeten Menschen reiben sich jetzt die Augen und können es kaum glauben: Sie hat man zum „Sozialschrott" gestempelt, in die Erwerbslosigkeit oder in Hilfsarbeiterjobs abgedrängt. Von ihnen ist in dem Bericht nicht die Rede. Nach wie vor fehlen die Weiterbildungsmöglichkeiten, die ihren Lebens- und Arbeitssituationen angemessen sind. Auf der anderen Seite meinen manche offenbar, die Jugendlichen sollten doch nun einfach dankbar sein, daß die Betriebe ihnen jetzt endlich wieder Ausbildungsplätze anbieten, egal, wie gut und mit welchen Beschäftigungsaussichten. Manche hoffen offenbar, die Mädchen und Jungen und ihre Eltern seien blind für ihre eigenen Zukunftsaussichten. Nach einer Repräsentativuntersuchung der Münchener Bundeswehrhochschule zu der Frage, was z. B. Bauarbeiter - die Baubranche wird ja dauernd erwähnt - selbst von ihrem Job halten, würden 83 % ihren Kindern eher ab- als zuraten, einen Bauberuf zu erlernen. Das spricht wohl für sich. Wer dennoch glaubt, insbesondere für die Ausbildung im Baubereich werben zu sollen, der sollte wohl mal ein Wort darüber sagen, wie deren Qualität aussieht, aber auch über Kurzarbeitergeld im Winter statt ganzjähriger Bezahlung, ({1}) über fehlende Aufstiegsmöglichkeiten, Weiterbildung und über das Tagelöhnerimage der Bauarbeiter. Dies gilt auch für die anderen Branchen, wo Bewerbermangel angemeldet wird: tarifliche Schlechterstellung von Arbeitern gegenüber den Whitecollar-Berufen, Schicht-, Nacht-, Sonntagsarbeit, rationalisierungsgefährdete Arbeitsplätze. Wollen Sie es den jungen Menschen verwehren, nach Berufen Ausschau zu halten, die zukunftsorientiert sind und zumutbare Arbeitsbedingungen bieten? Das ist nicht nur das gute Recht der Jugendlichen, das ist auch sehr vernünftig für ihre Zukunft. Zurück zu den angeblichen Selbstregulierungskräften der Ausbildung im dualen System. Der Bund ist gesetzgeberisch und ordnungspolitisch zuständig für die Einhaltung bestimmter Mindeststandards, und insofern war das Berufsbildungsgesetz von 1969 schon eine Notwendigkeit, Herr Nelle. ({2}) Ich frage Sie aber: Ist es wirklich ausreichend, Regelungen auf dem Papier zu verabschieden, ohne deren zügige Umsetzung dann auch durchzusetzen, geschweige denn kontrollieren zur können? Wie sieht es denn aus mit der Einhaltung der ohnehin äußerst bescheidenen Ausbildereignungsverordnung, wie sieht es aus mit der Umsetzung der Neuen Ausbildungsordnungen in den Betrieben und überbetrieblichen Ausbildungsstätten, wie sieht es aus mit der Übernahme der in den neuen Ausbildungsordnungen formulierten Ausbildungsziele in die Prüfungen? Das sind nur einige Beispiele, und ich denke, es ist fast schon eine Art Realsatire, wenn nach der Verabschiedung der neuen Ausbildungsordnung für den Bereich des Einzelhandels mit endlich obligatorisch gewordener dreijähriger Vollausbildung für alle von den betreffenden Unternehmerverbänden erst ein Moratorium verkündet und dann fröhlich beraten wird, ob es nicht doch besser sei, bei der alten, zweijährigen Stufenausbildungsregelung zu bleiben. Sie wissen, daß dies zu Lasten der Mädchen und jungen Frauen geht. ({3}) Der Bund steuert zwar über Forschungsvorhaben und Modellversuche des BIBB die Entwicklung von berufspädagogischen Konzepten für die betriebliche Ausbildung und für die Kooperation mit den Berufsschulen. Welchen Einfluß kann er aber wirklich geltend machen, um ihre reale und auch nicht nur punktuelle Umsetzung durchzusetzen? Noch nicht einmal solche Mißstände wie nicht vorhandene betriebliche Ausbildungspläne, die zunehmende Zahl von Ausbildungsabbrüchen oder z. B. die gar nicht so seltene Verweigerung von Freistellungen für die überbetriebliche Unterweisung - wir haben darüber in der entsprechenden Anhörung Ausführliches gehört - bieten eine Handhabe, staatlichen Einfluß auf den betrieblichen Teil der Berufsausbildung auszuüben. Für mich ist daher das Fazit: Der Bund macht Gesetze, er und die Länder und Kommunen finanzieren oder subventionieren inzwischen jeden vierten Ausbildungsplatz - von wegen: funktionierendes duales System! - , es werden auch Hunderte von Millionen DM Subventionen in die überbetrieblichen Ausbildungsstätten gesteckt, nach wie vor sind es aber die Betriebe und Unternehmerverbände, die bestimmen, wohin der Hase läuft. Die Mitbestimmungsmöglichkeiten von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sind schon formal äußerst unzureichend. Sie werden darüber hinaus aber auch unzureichend wahrgenommen; das muß auch in der Gewerkschaft selbstkritisch festgestellt werden. Ein Gutachten der Max-TrägerStiftung belegt dies. Gesamtgesellschaftliches Entwicklungsinteresse und Bildungsansprüche von Jugendlichen stoßen hier also sehr hart zusammen mit der Unternehmerdominanz in der Berufsbildung, mit einzelwirtschaftlichen Rentabilitätserwägungen, die häufig genug noch nicht einmal ihrer betriebswirtschaftlichen Logik entsprechen, siehe Facharbeitermangel im Baubereich. Ich möchte an dieser Stelle auch auf Brüchigkeiten im häufig beschworenen sozialen Konsens der an der Berufsausbildung Beteiligten hinweisen. Das Minderheitenvotum zum Berufsbildungsbericht 1989, das die Arbeitgeber im Hauptausschuß des BIBB abgegeben haben, ist hierfür - für mich jedenfalls - ein ernst zu nehmendes Indiz, zumal dieses Minderheitenvotum im Vergleich zur Stellungnahme des Hauptausschusses von Beiträgen der Arbeitgeberseite zur Bewältigung struktureller Probleme fast völlig gereinigt ist. Auch wir GRÜNEN können für die aufgezeigten Probleme nicht plötzlich das Ei des Kolumbus aus der Tasche zaubern. Aber ich nehme es mir auch heute wieder heraus, laut über die prinzipielle und akute Notwendigkeit von Strukturveränderungen in der Organisation und Trägerschaft der Berufsbildung im dualen System nachzudenken. Ich denke, der Fetisch des dualen Systems muß endlich enttabuisiert werden, und die Propaganda für dieses System sollte endlich aufhören, damit nicht anderswo dieselben Fehler wie hier entstehen. Ich denke, wir werden in der Enquete-Kommission dazu kommen, einige Hinweise Oder Empfehlungen für Änderungen zu formulieren. Einige Worte zu den ja nicht nur von Herrn Möllemann mit Biedermannsmiene vorgetragenen Plänen einer Ausbildung unter Facharbeiterniveau für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten, für Ausländer und Aussiedler. Verstärken und verbessern Sie die sozialpädagogisch begleiteten Formen außerbetrieblicher Ausbildung und die ausbildungsbegleitenden Hilfen! Das ist ja zum Teil auch angesprochen worden. Die Anhörung zum Benachteiligtenprogramm im Ausschuß für Bildung und Wissenschaft gibt dazu eine Fülle von Anregungen. Verlängern Sie die Ausbildungszeiten, wo es notwendig ist! Schaffen Sie für die angesprochene Gruppe von Jugendlichen die Möglichkeit, Prüfungsleistungen über einen längeren Zeitraum zu verteilen! Aber lassen Sie die Hände vom Facharbeiter- oder Gesellenbrief als dem im zur Zeit geltenden dualen System für alle gültigen Abschluß! ({4}) Das hat überhaupt nichts mit der Diskriminierung von Praxisorientierung zu tun. Es hat etwas damit zu tun, daß in der jetzigen Situation diese Jugendlichen eben keine entsprechenden Ansprüche auf Weiterbildung haben. Von daher werden sie in der jetzigen Situation im Angelerntenstatus verbleiben und werden von daher auch eher von Arbeitslosigkeit bedroht sein. ({5}) Es gibt hierzu auch einen bemerkenswerten Satz in der Stellungnahme des Hauptausschusses - ich zitiere -: Alle Tendenzen, die die Bildungsansprüche von Jugendlichen einschränken und die Berufsschule mit ihrem Bildungsauftrag im dualen System in Frage stellen, werden zurückgewiesen. Damit komme ich zu meinem Ceterum censeo - positiv gewendet. Die Berufsschulen müssen in ihrer personellen und technischen Ausstattung, besonders aber im Hinblick auf ihre Möglichkeiten, neue pädagogische Methoden zu entwickeln, gestärkt werden. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordert ein gemeinsames Bund-Länder-Sofortprogramm von 2 Milliarden DM, um die technischen und räumlichen Voraussetzungen der Berufsschulen zu verbessern. Wir wollen uns dieser Forderung ausdrücklich anschließen. Die 2,7 Millionen Berufsschülerinnen und Berufsschüler haben ein Recht auf verbesserte Arbeits- und Lernbedingungen. Die Berufsschulen als ohnehin schon ziemlich schmächtige zweite Säule des dualen Systems sind aber nicht nur durch materielle Benachteiligungen gefährdet. Diese Säule droht in den nächsten zehn Jahren völlig zusammenzubrechen, weil durch eine jahrelange Abschreckungspolitik die Studentenzahlen in berufspädagogischen Studiengängen dramatisch zurückgegangen sind. Schon heute fehlen in den Berufsschulen ca. 6 000 Lehrerinnen und Lehrer. Bis zum Jahre 2000 müßten auf Grund der Altersstruktur eigentlich ca. 30 000 weitere eingestellt werden. Wo sollen sie aber herkommen, wenn nicht umgehend und gezielt für diesen Beruf geworben wird? Die KMK hat auf die neuen Ausbildungsordnungen mit ihren neuen Rahmenrichtlinien bzw. Rahmenlehrplänen bisher leider nur administrativ reagiert. Nötig wäre aber ein umfassendes Fortbildungskonzept für Berufsschullehrer und -lehrerinnen, das auch Freistellungen oder Teilfreistellungen für Kontaktstudiengänge, betriebliche Praktika und Arbeitskreise mit Ausbildern in den Betrieben umfassen muß. ({6}) Der GEW-Vorsitzende Dieter Wunder fordert in diesem Zusammenhang: Wenigstens alle fünf Jahre brauchen Berufsschullehrer eine Fortbildungsphase von mindestens sechs Monaten. Wir können ihm auch hier nur zustimmen. In Wirklichkeit kann von einem eigenständigen Bildungsauftrag der Berufsschule, z. B. im Sinne des Lernziels Mündigkeit, gerade auch gegenüber den Anforderungen, Problemen und sogenannten Sachzwängen der Arbeitswelt kaum mehr die Rede sein. Vielmehr ist der Unterricht in den Berufsschulen immer stärker durch die betrieblichen Ausbildungsziele und -inhalte „kolonisiert" worden, wie dies die Autoren des schon erwähnten Gutachtens der Max-Träger-Stiftung detailliert nachweisen. Dem entspricht, daß Berufsschullehrer mit Techniker- oder Meisterqualifikation inzwischen immer häufiger für die betrieblichen oder überbetrieblichen Teile der Ausbildung abgeworben oder dort über Honorarverträge beschäftigt werden. Ich meine, daß sich hier wirklich entscheidende Fehlentwicklungen anbahnen, was die Rolle der Berufsschule als Ort der Verbindung von allgemeinem und fachlichem Lernen, von reflektierter arbeitsbezogener Bildung betrifft. Ich denke, der Minister sollte sich überlegen eine BLK-Initiative anzustrengen, wenn er nicht abwarten will, bis die Auszubildenden es eines Tages den Studentinnen und Studenten nachtun. Mich hat die Studentenbewegung sehr gefreut. Noch mehr wünsche ich mir aber für unseren Bildungsminister für den Rest seiner Amtsperiode und auch für alle selbstgefälligen Protagonisten des dualen Systems eine neue, selbstbewußte, kritische und lautstarke Lehrlingsbewegung, die die Verhältnisse auch einmal zum Tanzen bringt. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Odendahl.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Zahlen des Berufsbildungsberichts 1988 und erst recht des Berufsbildungsberichts 1989 stellen die Lage auf dem Ausbildungsmarkt rechnerisch zunehmend besser dar. Im letzten Jahr gab es mehr Ausbildungsplatzangebote als -nachfragen. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen. Ob allerdings Anlaß zu der großen Jubelfanfare gegeben ist, wollen wir einmal kritisch beleuchten. ({0}) - Ein bißchen schadet nie, Herr Kollege. Ich juble immer gern und auch laut. In einzelnen Regionen spricht man wieder davon, für Lehrstellenbewerber den roten Teppich auszurollen. Ich habe bewußt die männliche Form bei den Bewerbern gewählt, weil für junge Frauen allerhöchstens ein Fleckerl-Teppich übrigbleibt. Beide Berichte gehen im besonderen darauf ein. Das wissen Sie, wenn Sie ihn gelesen haben. Wir haben an dieser Stelle schon öfter angesprochen, daß Mädchen bei den Schulabschlüssen gleichgezogen haben, so daß sich die Frauen wohl als das lernfähigere Geschlecht erweisen werden. ({1}) - Sie sollten einmal zuhören; vielleicht werden auch Sie lernfähiger. Wir müssen also von der Tatsache ausgehen, daß junge Frauen zwar einen Bildungsvorsprung, jedoch noch immer ein Ausbildungsdefizit haben. Dies beruht zum einen - laut Berufsbildungsbericht 1989 - auf der Konzentration von jungen Frauen auf wenige frauentypische Berufe. 28 % aller weiblichen Auszubildenden werden noch immer in den fünf am stärksten besetzten Berufen mit sehr hohem Frauenanteil - Friseurinnen, Fachverkäuferinnen im Nahrungsmittelhandwerk, Arzthelferinnen, Zahnarzthelferinnen, Rechtanwalts- und Notargehilfinnen - ausgebildet. Diese Berufe zeichnet eines gemeinsam aus: Sie haben kaum Aufstiegschancen und zum Teil zudem noch eine inoffizielle Altersgrenze, so daß sie damit auch als typisches Beispiel für den „instabilen Frauenarbeitsmarkt" gelten können. ({2}) Auf Grund der mangelnden Berufsvielfalt werden Mädchen in strukturschwachen Regionen damit zu einem Ausbildungsverzicht veranlaßt. Dazu gibt es einen interessanten Vergleich von einzelnen Städten und ländlich-peripheren Kreisen in Niedersachsen, Hessen und Nordrhein-Westfalen. Dort schwanken die Ungelerntenquoten - ermittelt durch den Anteil der Mädchen an Berufsschulen ohne einen betrieblichen Ausbildungsplatz - in den untersuchten Städten zwischen 0,5 und 16 % , in abseits gelegenen, ländlichen Kreisen dagegen zwischen 32 und mehr als 60%. Desgleichen stellt der Berufsbildungsbericht 1989 auch fest, daß nur 25 % aller den Arbeitsämtern gemeldeten Ausbildungsplätze für Männer und Frauen angeboten werden, dagegen 50 % nur für Männer und nur 25 % nur für Frauen. Fast alle Berufe stehen jungen Frauen inzwischen in der Tat offen. Aber ihr Anteil an früher gern so genannten Männerberufen - aber das wäre ein Fehler - wächst nur sehr gering. Er betrug 1988 im Fertigungsbereich bzw. gewerblich-technischen Bereich zwischen 1,4 und 10 % - darin ist alles enthalten -, wobei Berufe mit Mädchenanteil unter 5 % überwiegen. Neben der Konzentration auf ein enges, als frauentypisch bezeichnetes Berufsspektrum gibt es eine weitere gravierende Barriere für die Frauen: die Steuerung der Berufsfindung und Berufswahl in technikferne oder technische Berufsausbildung. Die offensichtlich immer noch vorhandenen Rollenklischees setzen sich auch beim Übergang in das Berufsleben fort. Junge Frauen sind nach der Ausbildung etwa viermal so häufig arbeitslos wie junge Männer. Vor allem in Berufen, in denen junge Frauen einer übergroßen Konkurrenz männlicher Bewerber gegenüberstehen, haben sie schlechtere Beschäftigungschancen nach der Ausbildung. Dies gilt insbesondere für Elektroinstallateurinnen, Maschinenschlosserinnen und Kfz-Mechanikerinnen. Gute Beschäftigungschancen bestehen dagegen für Informationselektronikerinnen und Meß- und Regelmechanikerinnen. Ich führe diese Beispiele an, um deutlich zu machen, daß grundsätzlich die Beschäftigungschancen in gewerblich-technischen Ausbildungsberufen für junge Frauen sehr differenziert zu betrachten sind. ({3}) Nun gibt es auch in diesem Jahr wieder etwa 15 000 junge Mädchen, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Es gibt noch immer viele junge Frauen, die in den letzten Jahren leer ausgegangen sind und den Wunsch nach einer Ausbildung noch nicht aufgegeben haben. Auch ihretwegen haben wir die Verpflichtung, dieses frauenspezifische Defizit bei der beruflichen Bildung endlich aufzuarbeiten und auch neue Wege einzuschlagen. ({4}) 1978 begann ein Modellversuch, mit dem junge Frauen in gewerblich-technischen Berufen ausgebildet werden sollten. Seien wir doch einmal ehrlich: Durchschlagende Erfolge haben wir damit nicht erreicht. Erst jetzt, auf Grund des regional vorhandenen Facharbeitermangels, bemühen sich die Betriebe, junge Frauen für eine Ausbildung in ihrem Bereich zu gewinnen. Festzuhalten ist: Sie sind nur zweite Wahl, weil vielfach junge Männer dafür nicht zu haben sind. Es gibt nun also nicht mehr das katholische Arbeitermädchen vom Lande, aber die junge Frau in führender Position in Industrie und Handwerk ist noch immer ein Zukunftsbild. Junge Frauen sind von der Lage auf dem Ausbildungsstellenmarkt auch betroffen, wenn sie eine höhere Schulbildung und die Studienberechtigung haben. Zwar geht der Trend zur Berufsausbildung vor dem Studium oder auch anstatt Studium zurück, allein in einem Jahr um fast 7 %. Allerdings ist der Rückgang bei jungen Frauen nicht so stark. Durch die Überlastsituation an den Hochschulen werden Frauen von einigen zukunftsträchtigen Studien wie Betriebswirtschaft, Informatik, Jura und - was ich für besonders besorgniserregend halte - auch in einigen technischen Fächern völlig ausgeschlossen. Durch die Bevorzugung von Wehrdienstleistenden bei der Zulassung zum Studium werden Frauen in weitere Warteschleifen verwiesen. Bei harten NC-Fächern plus Anerkennung der Wehrdienstzeit haben selbst Frauen mit Einser-Abitur keine Chance. Meine Damen und Herren, das Europäische Parlament fordert, daß 1990 zum europäischen Jahr der Chancengleichheit zwischen Männern und Frauen in der schulischen und beruflichen Bildung erklärt wird. Zur beruflichen Qualifizierung der Frauen gibt es keine Alternativen. Entscheidend wird in Zukunft sein, die männlichen Monopole bei den technischen und leitenden Positionen aufzulösen. ({5}) Die selbstverständliche Beteiligung von Frauen in gewerblich-technischen Schlüsselberufen, Frauen in technischen Berufen und Frauen in Führungspositionen sind Qualifizierungsaufgaben der Zukunft. Unser Entschließungsantrag zum Berufsbildungsbericht 1988 enthält dazu wesentliche Punkte: ein Sonderprogramm zur Erweiterung der Ausbildungschancen junger Frauen, damit vermieden wird, daß junge Frauen mit guten Schulabschlüssen ohne entsprechende Ausbildung bleiben; eine entschiedene politische Anstrengung und entsprechende finanzielle Ausstattung, um die erfolgreichen Modellversuche zur beruflichen Bildung, insbesondere zur Förderung des Ausbildungsverbundes und der Ausbildung von jungen Frauen in zukunftsorientierten gewerblich-technischen Berufen, durch flächendeckende Informations- und Weiterbildungsveranstaltungen, auch für Ausbilderinnen - hier stimmen wir voll überein -, umzusetzen; und eine Erweiterung der Programme über die bisherigen Modelle hinaus zur Qualifizierung von Ausbildern und Ausbilderinnen sowie den in der Ausbildungsberatung und Berufsberatung Tätigen - denn da fängt es an - , damit nach den neugeordneten Ausbildungsordnungen auch tatsächlich ausgebildet werden kann. Der Teil I des Berufsbildungsberichts 1989 trägt die Überschrift „Standortfaktor Qualifikation" . Ich habe mich bemüht, einen Defizitbereich aufzuzeigen, der bei der Sicherung unseres gegebenen Standortvorteils im Bereich der Qualifikation eine ganz entscheidende Rolle spielt. Vielen Dank. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Schemken ist der nächste Redner.

Heinz Schemken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001955, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ja wohltuend, heute dieses Einvernehmen feststellen zu können. Das ist auch deshalb wichtig, weil wir in den 90er Jahren in eine Situation geraten, in der es darauf ankommt, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Die heiße Zeit der Aktuellen Stunden ist vorbei. Dies gilt auch für die forsche Forderung nach mehr Reglementierung. Ich denke dabei z. B. an die Ausgleichsabgabe. Heute ist ein Grundkonsens darüber festzustellen, daß man doch der Marktwirtschaft mit dem sozialen Anspruch zutraut, daß sie dieses Problem bewältigt. Ich möchte vorab einige wichtige Erkenntnisse für die 90er Jahre nennen. Die Zahl der am Arbeitsmarkt der 90er Jahre verfügbaren Fachkräfte wird stark zurückgehen - dies ist unzweifelhaft der Fall, und dies ist auch eine demographische Problematik -; der Bedarf an Arbeitsplätzen für Erwerbstätige ohne qualifizierte Ausbildung - das ist eine weitere Erkenntnis - wird bis zum Jahre 2000 deutlich sinken. ({0}) - Ich komme gleich noch dazu. - Durch die Einführung und durch den verstärkten Einsatz der Technologien und Techniken werden die Arbeitsplätze im Bürobereich - deshalb ist es so wichtig, daß wir auch einmal über die Frage des attraktiven Arbeitsmarkts sprechen, wenn wir Menschen jetzt bei höherem Qualifizierungsanspruch auf den Weg schicken - in stärkerem Maße zurückgehen als die Arbeitsplätze im Fertigungsbereich. Im Hinblick auf die Internationalität - auch diesen Aspekt möchte ich im Hinblick auf das Jahr 2000, aber auch im Hinblick auf den EG-Binnenmarkt 1993 nennen - werden wir unseren hohen Qualitätsstandard - immer auf dem Hintergrund der dualen Ausbildung - halten müssen; ich meine sogar, wir müssen den Qualitätsvorsprung sichern und ihn im Zweifelsfall ausbauen. Wenn wir feststellen, daß von der Zahl her die Chancen steigen, dann müssen wir uns fragen, wie wir sie für den einzelnen möglich machen. Ich sage bloß „Chancen", nicht „Gleichheit", Frau Hillerich - das ist etwas anderes - , die Chancen, die Ausgangssituation für den jungen Menschen nach Eignung und Neigung. Wir müssen also fragen, wie wir diese Chancen für den einzelnen möglich machen und wie er sie wahrnehmen kann. ({1}) - Nein, Gleichheit ist etwas anderes. Chancen! ({2}) - Von mir aus können es gleiche Chancen sein. Die Frage ist, wie wir dem einzelnen die Wahrnehmung der Chancen möglich machen. Dazu gehören vor allem Problembereiche wie Aussiedler - ich sage das ganz deutlich - und ausländische Mitbürger. Wir können die dritte Generation nicht ohne Qualifizierung lassen. Dies brächte auch gesellschaftliche Probleme. Ich bringe das ganz deutlich hier vorab zum Ausdruck. ({3}) - Herr Dr. Penner, dies sage ich auch im Hinblick auf diejenigen, die den Hauptschulabschluß nicht geschafft haben. Wir müssen dennoch noch einmal darSchemken über nachdenken, wie wir es erreichen, daß wir den Gesellen- oder Facharbeiterbrief nicht so hoch hängen, daß er möglicherweise für den einen oder anderen nicht erreichbar ist und er damit in die Langzeitarbeitslosigkeit fällt; denn genau dieses Thema beschäftigt uns ja auch in diesen Monaten. Es geht auch um Frauen. Ich komme gleich zu diesem Thema zurück. Wir stellen des weiteren fest, daß dieser Bericht - deshalb heißt es auch „Teil B" oder „Teil II" - eigentlich schon ein Vorgriff ist. Es ist das erstemal, seitdem ich hier mitwirke, daß wir schon das laufende Jahr miterfassen, also aktueller sind, als das sonst der Fall war. ({4}) - Ist das richtig? - Das haben wir in der Vergangenheit so sicherlich nicht behandeln können. Ich stelle auch fest, daß es die beste Bilanz ist - da muß ich hier auch einmal die SPD und diejenigen ansprechen, die vor 1982 die Verantwortung getragen haben. ({5}) - Herr Kuhlwein, für Sie als ehemaligen Staatssekretär muß das doch interessant sein. ({6}) - Entschuldigen Sie mal. Ich kann Ihnen auch gleich die Zahlen nennen. - Es ist die beste Lehrstellenbilanz, die wir seit 1976, seitdem die Bundesregierung Bericht zu erstatten hat, haben. ({7}) Diese Bilanz - das ist ganz klar - geht einher mit der guten Entwicklung am Arbeitsmarkt. Wir haben eine gleich hohe höchste Beschäftigung in den vier Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland gehabt, und zwar mit 27,5 Millionen Erwerbstätigen. ({8}) Es gibt viele Elemente, die hier zusammengefügt werden müssen. Es gibt auch die gemeinsame Anstrengung der Tarifpartner, über den Mittelstand, über unsere Berufsausbildungseinrichtungen, über die Kirchen, über die Berufsschulen ({9}) bis hin zu den mittelständischen Betrieben, die uns geholfen haben. Nun komme ich zu der Zahl, Herr Kuhlwein. Sie sprechen von der demographischen Rückführung. ({10}) Sie haben in den 70er Jahren auch nur 600 000 bewältigt. Sie brauchten auch nicht mehr zu bewältigen, weil wir damals auch geburtenschwache Jahrgänge hatten. Bis zum Jahr 1984 kam es zu einer Vermittlungsquote von über 700 000. Das waren in den letzten fünf Jahren durchweg fünf mal 100 000 Jugendliche mehr, die wir in Ausbildung bringen konnten. Was das auf dem Arbeitsmarkt, der sich öffnet, bedeutet, wird demjenigen klar - das ist das Entscheidende im Gegensatz zur Vergangenheit - , der in Zukunft nicht nur keinen Arbeitsplatz bekommen kann, sondern gar nicht erst, weil er die Qualifikation nicht hat, zum Arbeitsplatz kommt, der demnächst verfügbar sein wird. In einigen Regionen ist das schon der Fall. ({11}) Ich gehe auch auf die regionalen Verwerfungen ein. Ich will gar nicht beklagen, woran das liegt. Natürlich ist auch hier ein Nord-Süd-Gefälle deutlich. Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen sind Spitzenreiter. Ich sage das ganz bewußt. Genauso schwer tun sich Hamburg und Bremen als Stadtstaaten, während sich die Lage in Südbayern und Baden-Württemberg auf Grund der gesunden Wirtschaftsstruktur natürlich völlig anders darstellt. Das gilt auch im Hinblick auf die Berufsfelder, d. h. auf die zukünftigen Berufe. Hier komme ich zu einem ganz entscheidenden Punkt. ({12}) - Die wählen diese Seite zumindest dann nicht mehr so schnell, ({13}) wenn wir uns so verhalten, wie wir es jetzt tun, wo es um junge Menschen geht. In der Vergangenheit haben wir oft ein Beispiel dafür gegeben - das gilt auch für diesen Bereich - , daß wir uns in wesentlichen Fragen einig waren - ich sage das bewußt - und die wichtigen Dinge hinsichtlich der Weichenstellung zerredet haben. ({14}) Das ist wechselseitig geschehen. Herr Kuhlwein, Sie wissen sehr wohl, wie schwierig das noch vorgestern war. ({15}) Ich komme damit zur neunten Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes. Die neunte Novelle AFG muß vor dem Hintergrund gesehen werden, daß wir in Zukunft bei der Qualifizierung nicht mehr die große Zahl vor uns haben. Vielmehr müssen wir jetzt die Qualität und auch den Einzelfall beachten. Deshalb ist das Langzeitarbeitslosenprogramm, das die Bundesregierung jetzt auflegt, der richtige Hebel; denn wir stellen fest, daß die Vermittlung bei den Jüngeren bis zu 25 Jahren sehr positiv läuft und daß die mangelnde Qualifizierung gerade bei den Älteren über 50 Jahren zu der folgenschweren Arbeitslosigkeit führt. Sie können nicht mehr vermittelt werden. Man kann eben einen Stahlwerker aus Rheinhausen nicht nach Stuttgart zu IBM verpflanzen. Das ist ein Problem. Ich sage das einmal holzschnittartig. Wohlgemerkt, es geht um die über 50jährigen. ({16}) Das überbetriebliche Ausbildungsstättenprogramm soll dazu beitragen - das ist unsere Aufga11376 be -, die Vermittlung der Technologie zu verbessern. Vor allen Dingen müssen die großen Betriebe, die über viel mehr Kapital verfügen als die kleineren Betriebe, ihre betrieblichen Ausbildungsstätten so ausrichten, daß sie den Intervallen der Fortschreibung der Technologie gerecht werden. Immerhin sind unter den 599 Ausbildungsstätten 341 im Handwerk angesiedelt, 72 in der Landwirtschaft und noch einmal 19 in Endustrie und Handwerk. Wenn wir über die 90er Jahre und auch schon über das Jahr 2000 reden, wird man feststellen können: Wer jetzt die Weichen richtig stellt, wird auch zukünftig das Richtige tun, wenn es um die Problembereiche Jugendliche und Erwerbslose geht. Wir sind allerdings der Meinung, daß in den Ausbildungsordnungen noch einiges geschehen muß. Die Tarifpartner können durchaus noch progressiver handeln. Es liegt nicht immer nur am Wirtschaftsminister - ich sage das ganz bewußt - , es liegt auch oft daran, daß man in diesen Bereichen nicht flexibel genug ist. Ich meine, hier gilt es aufzuarbeiten. Ich meine auch, daß sich die Arbeitsverwaltung - das möchte ich abschließend sagen - stärker dem Problem der Mädchen annehmen müßte.. Das kann die Arbeitsverwaltung aber nicht alleine. Das muß im Grunde genommen in der Pädagogik grundgelegt werden. Sie können einem Mädchen nicht innerhalb von drei Stunden klarmachen, daß der attraktive Arbeitsmarkt in Zukunft im gewerblich-technischen Bereich liegt. Ich will jetzt gar nicht von traditionsreichen Berufen sprechen, weil man dann immer in den Verdacht gerät, es gebe Männerberufe und Frauenberufe. Die gibt es im Grunde genommen nicht. Das wird eben nur vom Rollenverständnis her so beschrieben. Aber ich sage es noch einmal ganz deutlich: Gerade dort, wo der interessante Arbeitsmarkt ist, gehören auch die Mädchen hin. Das ist der technologisch, gewerblich-technisch ausgerichtete Arbeitsmarkt. Wir wünschen uns hier eine bessere Beratung, eine bessere Hinführung. Wir wünschen uns insbesondere, daß die Frauen auch eine größere Unterstützung erfahren, wenn es darum geht, die dritte Schwelle - so möchte ich es einmal nennen - zu überwinden, d. h. nach der Familie den Wiedereinstieg in das Berufsleben zu finden, um gesellschaftlich mithalten zu können. Das ist uns auch ein Anliegen. Wir sollten uns auf diesen kritischen Bereichen konzentriert bewegen. Dazu sollte das Haus insgesamt bereit sein. Ich glaube, dann werden wir die 90er Jahre auch für unsere jungen Menschen draußen bewältigen. Schönen Dank. ({17})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Zwanzig Jahre nach Verabschiedung des Berufsbildungsgesetzes hätte man von der Bundesregierung eigentlich erwarten können, daß sie das duale System der Berufsausbildung auch einmal einer kritischen Würdigung unterzieht. Der Berufsbildungsbericht beschränkt sich auf die sattsam bekannten Bekenntnisse, aber er vermeidet es peinlichst, auch systembedingte Mängel zu untersuchen. Den jungen Menschen, die noch in 30 oder 40 Jahren davon zehren können sollen, was sie in ihrer Erstausbildung gelernt haben, ist damit jedoch wenig gedient. Wenn ich jetzt im folgenden auf einige ausgewählte Probleme unseres Berufsbildungssystems eingehe, dann wird das hoffentlich nicht als Absage an die duale Ausbildung gewertet; man muß da ja sehr vorsichtig sein, damit man nicht in Verruf gerät. Gerade Verfechter des dualen Systems oder eines dualen Systems müssen alles tun, um dieses System wettbewerbsfähig zu halten. Ds gilt nicht nur für die Konkurrenz der Qualifikationen auf dem europäischen Binnenmarkt; das gilt genauso für die Konkurrenz der betrieblichen Ausbildung nach dem BBiG mit anderen Ausbildungen, etwa in beruflichen Vollzeitschulen, in Berufsakademien oder auch in Hochschulen, wo wir eine steigende Nachfrage zu beobachten haben. Eine letzte Vorbemerkung zum Thema Exportartikel duales System in Europa, zur Frage, Herr Oswald, duales System als Reichtum oder duales System als Fetisch oder als Tabu. Nicht jeder, der ein alternierendes System von Theorie und Praxis in der Berufsausbildung für richtig hält, meint das duale System in der Bundesrepublik mit seinen besonderen strukturbedingten Stärken, aber eben auch mit seinen Schwächen. Einige davon möchte ich jetzt nennen, um sozusagen die Schularbeiten, die die Bundesregierung gemacht hat, um diesen Teil zu ergänzen. Erstens. Das duale System hat seit Mitte der 70er Jahre nach neueren Untersuchungen etwa 1,5 Millionen junge Menschen völlig ins Abseits gestellt. Die können Sie doch, Herr Neuhausen, nicht einfach wegdiskutieren. Der Markt hat es eben nicht geregelt, Herr Schemken. ({0}) Das duale System hat den eigenen Anspruch „Ausbildung für alle" in dieser Zeit eben nicht eingelöst. ({1}) Es hat ein gewaltiges Problem für die Weiterbildung geschaffen, und die Kosten dafür sind vergesellschaftet worden. Die Bewährungsprobe - bei allen Bemühungen, die wir durchaus respektieren und anerkennen - ist eben in diesen schwierigen Zeiten nicht bestanden worden, Herr Neuhausen. ({2}) Zweitens. In einigen Regionen und Branchen gibt es heute schon Mangel an qualifizierten Fachkräften; das ist gesagt worden. Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit auch unter ausgebildeten Jugendlichen immer noch relativ hoch. Das vielgelobte System der Steuerung der Ausbildungskapazitäten über den Bedarf an Arbeitskräften funktioniert offenbar nur unzureichend. Wenn die Bundesregierung in ihrem Beschluß zum Berufsbildungsbericht lapidar schreibt, zu einer vorausschauenden Strategie zur Sicherung des mittelKuhlwein bis langfristigen Fachkräftebedarfs gehöre „eine Ausweitung des Ausbildungsplatzangebots für besonders gefragte Berufe und mit guten Arbeitsmarktchancen", dann hat sie zwar recht, drückt sich jedoch um die Frage des Wie. Wenn es richtig ist, daß auf dem Arbeitsmarkt ein starker Trend in Richtung Dienstleistungsberufe festgestellt werden kann, dann kann es doch nicht vernünftig sein, wie bisher überwiegend für den gewerblich-technischen Bereich auszubilden. Und, meine Damen und Herren, so mancher rote Teppich, der heute wieder für den gefragten Lehrling ausgerollt wird, wird ihm doch schleunigst wieder unter den Füßen weggezogen, wenn er anschließend nach einem Dauerarbeitsplatz fragt. Drittens. Das genannte Problem hat mit der einzelbetrieblichen Verfügung über Ausbildungsplätze zu tun. Unternehmen entscheiden, ob sie Ausbildungsplätze schaffen oder nicht. Dabei sind diese Entscheidungen längst nicht so rational, wie immer vorgegeben wird. Sie haben manchmal mit Traditionen, manchmal mit vorübergehendem Arbeitskräftemangel, nur selten mit langfristigen Personalplanungen zu tun. Wie auf diese Weise ein Optimum an Übereinstimmung zwischen individuellen Berufswünschen auf der einen Seite, angebotenen Ausbildungsplätzen auf der zweiten Seite und dem künftigen Arbeitsmarkt auf der dritten Seite geschaffen werden soll, ist mir ein Rätsel. Dieser Feststellung widerspricht auch nicht die Tatsache, daß Ausbildungen im dualen System, also Ausbildungen, die teilweise im Betrieb absolviert werden, häufiger in einen Arbeitsplatz einmünden als rein vollzeitschulische oder außerbetriebliche Ausbildungen. Dies hat nämlich mehr mit der Kenntnis der jeweiligen konkreten Person und ihrer bisherigen Arbeitsleistung in der Ausbildung als mit der Überlegenheit der betrieblichen Ausbildung zu tun, wie manchmal behauptet wird. ({3}) - Es gibt einen sehr komplizierten Zusammenhang. Aber es ist daraus nicht automatisch abzuleiten, daß alle, die dual ausgebildet worden sind, besser sind als all die, die vollzeitschulisch ausgebildet worden sind. Sonst würden wir unsere Studenten auch alle dual ausbilden, ({4}) eine Forderung, über die ich mit mir ja durchaus reden ließe. Aber bisher scheint der Bereich der konservativen Hochschullehrer, der Ihnen näher steht als uns, dieses Projekt nur sehr unwillig verfolgen zu wollen. Vierter Punkt. In allen neuen Ausbildungsordnungen werden stärker als bisher sogenannten Schlüsselqualifikationen wie Systemdenken, Handlungskompetenz, Sozialkompetenz, Kommunikationsfähigkeit und weniger Spezialkenntnisse und Spezialfertigkeiten gefordert. Solche Inhalte lassen sich am Arbeitsplatz - am Arbeitsplatz! - eines Großbetriebes nur schwer vermitteln. Dies würde nämlich die teuren betrieblichen Abläufe erheblich stören. Deshalb weicht die Lehrlingsausbildung in solchen Unternehmen gerne in die Lehrwerkstatt, neuerdings in die „Lernstatt" oder ins „Lernbüro" aus, in dem dann betriebliche Abläufe nur noch simuliert werden. Für das Handwerk versucht die überbetriebliche Ausbildungsstätte Ähnliches zu leisten. Der Widerspruch zur ursprünglich gewollten Dualität zwischen Theorie - Schule - und praktischer Anwendung - Betrieb - wird in beiden Fällen offensichtlich: Die Frage, warum die simulierte Praxis fern von den eigentlichen sozialen Beziehungen im Betrieb nicht auch in der Schule gelernt werden könnte, bleibt unbeantwortet. Fünftens. Die Frage, wie bei steigenden Anforderungen in den einzelnen Ausbildungsordnungen sichergestellt werden kann, daß alle Jugendlichen eine geordnete Ausbildung absolvieren, wird auch mit den raffiniertesten betrieblichen Konzepten kaum gelöst werden können, zumal die Großbetriebe mit besonders gründlich konzipierter Ausbildung in der Regel die besten Bewerber aussuchen können, während die Lernungewohnten an Kleinbetriebe verwiesen werden, die keine hauptamtlichen Ausbilder mit entsprechender pädagogischer Qualifikation einsetzen können oder wollen. - Und, Herr Oswald, vielleicht liegt darin ja auch eine Erklärung für die große Zahl der Abbrecher, daß die pädagogischen Bemühungen in vielen Betrieben eben gerade nicht ausreichen, um den Jugendlichen und ihren Lernmöglichkeiten heute gerecht zu werden. Sechster Punkt. Eigentlich müßte hier jetzt das Stichwort „Berufsschule" kommen. Immerhin war die Bundesregierung so mutig, diesen Begriff in ihrem Beschluß zu verwenden, ohne sich eine Rüge durch die Länder einzuhandeln. - Und Herr Oswald als bayerischer Bundestagsabgeordneter hat hier an dieser Stelle sogar die Arbeit der Berufsschullehrer gelobt; auch ich tue das gern. ({5}) Einige andere haben hier auch über die Schule und darüber geredet, was sie eigentlich alles tun müßte, um die Chancen junger Menschen zu verbessern, anschließend eine geordnete Ausbildung zu absolvieren. Ich teile das alles und werde mich dann, Herr Oswald, an geeigneter Stelle auf diesen Teil der Debatte noch einmal gern berufen. - Aber wenn die Kenntnis der Probleme der Berufsschule bei der Bundesregierung vorhanden ist, dann wundert es mich doch um so mehr, daß die Probleme der Teilzeitberufsschule im Berufsbildungsbericht nicht offensiv aufgegriffen werden. Wir alle kennen die erhebliche Verunsicherung der Berufsschullehrer bei der Suche nach dem besonderen Profil des Lernorts Berufsschule in Konkurrenz zur „Lernstatt" oder zur überbetrieblichen Ausbildungsstätte. Die im Verfahren der Neuordnung vorgesehene Abstimmung von Ausbildungsordnungen mit den Rahmenlehrplänen reicht offenbar nicht aus, um dieses neue Profil zu schaffen und zu klären. Dabei wissen wir alle, daß der Berufsschulunterricht nicht nur die betriebliche Ausbildung ergänzt, sondern daß er für viele Jugendliche die einzige Chance ist, Mobilität zu lernen und Motivation für Weiterbildung zu entwickeln. Die Berufsschule könnte der Ort sein, an dem die betrieblichen Erfahrungen systema11378 fisch vorbereitet, nachbereitet, reflektiert und die betrieblichen Zusammenhänge theoretisch aufgearbeitet werden. Das, meine Damen und Herren, setzt allerdings eine bessere Ausstattung der Berufsschulen, mehr Lehrerfortbildung und mehr Planstellen voraus. Das erfordert viel Phantasie und neue Anreize, um den Lehrernachwuchs für die Berufsschulen zu sichern; Frau Hillerich ist darauf eingegangen. Der Bund sollte den Versuch machen, im Berufsbildungsbericht auch für diesen Bereich der Berufsschule die notwendigen Anstöße zu geben. Und man kann dann ja auch einmal darüber reden, ob man, wie Frau Hillerich das vorgeschlagen hat, den Weg über die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung sucht. Aber der Bund darf sich, wenn er für das duale System steht, nicht vor der Mitverantwortung auch für diesen Bereich drücken. ({6}) Siebter Punkt. Auch über die Qualifikation und das Berufsbild der Ausbilder müßte neu nachgedacht werden. Steigende theoretische und pädagogische Erfordernisse rufen nach einer Weiterentwicklung der Ausbildereignungsverordnung. ({7}) 120 Stunden sind dafür nicht mehr genug; regelmäßige Fortbildungen müssen folgen. Achter Punkt: Schließlich, aber nicht zuletzt, müssen die Ausbildungsinhalte in allen Berufen überarbeitet werden. Sie müssen sowohl den Umgang mit neuen Technologien als auch die Aufnahme ökologischer Fragestellungen ermöglichen. Sie müssen über Mitwirkung und Mitbestimmung die Fähigkeit zur Mitgestaltung entwickeln - eine Schlüsselqualifikation, die den Auszubildenden im dualen System noch häufig vorenthalten wird. Ich komme zum Schluß, meine Damen und Herren. Der Berufsbildungsbericht drückt sich um eine ganze Reihe wirklich wichtiger Probleme herum. Er gibt außer allgemeinen Formeln nur wenig sachdienliche Hinweise zur notwendigen Weiterentwicklung des dualen Systems. Er wird geradezu absurd an der Stelle, wo die Folgen der 9. Novelle zum AFG glattgeredet werden. Ich begrüße es, daß der Hauptausschuß beim Bundesinstitut für Berufsbildung der Bundesregierung dazu einige kritische Bemerkungen ins Stammbuch geschrieben hat. Das waren Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam. Schließlich brauchen wir das AFG auch, um einige Mängel des dualen Systems wieder auszubügeln, Herr Schemken. ({8}) Wir begrüßen es, daß die zunehmende Entspannung auf dem Ausbildungsstellenmarkt die Chance eröffnet, sich wieder stärker auf die Qualität der Ausbildung zu konzentrieren. Dies muß dann aber auch wirklich geschehen. Wir werden bei der Beratung des Berichts im Ausschuß darauf zurückkommen. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, Herr Dr. Lammert.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich stelle gerade fest, daß die Kürzung der Redezeit offensichtlich der Kürzung der Streitgegenstände Rechnung trägt, die sich in den vergangenen Jahren beobachten läßt. Darüber will ich mich insofern auch gar nicht beklagen. Die Bundesregierung legt heute parallel zur Beratung des Berufsbildungsberichts 1988 den Berufsbildungsbericht 1989 vor. Der Materialteil, Frau Hillerich, nach dem Sie gefragt haben, der im übrigen nie Bestandteil des politischen Berichts der Bundesregierung war, wird wegen Problemen in der Druckerei, die diesen Auftrag von uns bekommen hat, vermutlich spätestens in der nächsten Woche vorliegen und dann natürlich auch allgemein zur Verfügung stehen. ({0}) Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Berufsbildungsbericht 1989 dokumentiert die beste Ausbildungsbilanz, die es seit 1976 gegeben hat. Seit Beginn der Berufsbildungsberichterstattung war die Situation für die Bewerber nicht mehr so gut wie heute. Das wird man als Sachverhalt feststellen dürfen. Die gelegentlich nachgefragte Wende hat auf dem Lehrstellenmarkt längst stattgefunden. ({1}) Auch und gerade dann, wenn man die Entwicklung weiter verfolgt, die seit der Drucklegung dieses Berichts stattgefunden hat, kann man ganz gewiß nicht zu einem anderen Ergebnis kommen. Ich nenne Ihnen gern die jüngsten Zahlen von Ende Mai 1989. Gegenüber Mai des vergangenen Jahres ist die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen um 10,7 % zurückgegangen. Dies hängt in der Tat mit der demographischen Entwicklung zusammen. Daß die Zahl der Angebote an Ausbildungsplätzen gegenüber dem Mai 1988 um 7,5 % gestiegen ist, kann mit demographischen Argumenten schwerlich erklärt werden. Die Zahl der noch nicht vermittelten Ausbildungsplatzbewerber ist gegenüber dem Mai vergangenen Jahres um 20,4 % gesunken. Die Zahl der nicht be-setzbaren oder jedenfalls noch nicht besetzten vorhandenen Ausbildungsplätze ist um 40,7 % gestiegen. Meine Damen und Herren, insgesamt - und das ist der Befund - ist die Lage der Berufsbildung so gut wie nie zuvor. Das hat sicher auch, wenn auch nicht nur, zu tun mit der erfolgreichen Wirtschaftspolitik und mit der konsequenten Berufsbildungspolitik dieser Bundesregierung. ({2}) Ich füge gern hinzu: Die Lage ist auch differenzierter als je zuvor. All die Zahlen, die die Kollegin Odendahl zur notwendigen Differenzierung des Bildes zu Recht vorgetragen hat, finden sich genau in dem Bericht, der insofern die Lage weder beschönigt noch verdrängt. Deswegen sage ich ganz ausdrücklich: Globale Konzepte und globale Kommentare, die versuchen, alles über einen Leisten zu schlagen, bringen bei dieser uns allen bekannten Lage jedenfalls keinen politischen oder praktischen Nutzen. Ich sage also nicht: Wir brauchen nichts mehr zu tun. Im Gegenteil: Wir brauchen eine aktivere, von regionaler Politik und Wirtschaft getragene regionalspezifische Qualifikations-Struktur-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik. Anders können die nach wie vor vorhandenen, wenn auch tendenziell zurückgehenden regionalen Angebots- und Nachfrageungleichgewichte zugunsten der Jugendlichen und der regionalen Entwicklung nicht dauerhaft überwunden werden. Aber wir können uns auf der Basis einer durchgreifend verbesserten allgemeinen Lage nun verstärkt den qualitativen Aufgaben und Problemen zuwenden, und ich bin den Kollegen sowohl von den Regierungsfraktionen wie von der Opposition dafür dankbar, daß sie genau diese qualitativen Ansatzpunkte, die die beiden Berufsbildungsberichte ja aus guten Gründen in den Vordergrund der Berichterstattung stellen, auch zum Gegenstand ihrer eigenen Beiträge gemacht haben. Was die regionalen Entwicklungen und Notwendigkeiten betrifft, kann die Bundesregierung nicht an die Stelle der unmittelbar verantwortlichen politischen Entscheidungsgremien treten, aber wir können bei der Lösung dieser Aufgaben behilflich sein, und wir sind in ganz ungewöhnlichem Umfang bei der Wahrnehmung dieser Aufgaben auch tatsächlich behilflich gewesen. Ich verweise auf die Sonderprogramme für Montan- und Werftregionen, auf das Strukturhilfegesetz, auf die Gemeinschaftsaufgabe „regionale Wirtschaftsstruktur" mit angehobenen Bundesmitteln und auf die vielfältigen Maßnahmen, mit denen gerade regionale Aus- und Weiterbildungskapazitäten geschaffen und erhalten werden, insbesondere beispielsweise mit genau dem Schwerpunkt Ruhrgebiet, den wir aus guten Gründen bei früheren Gelegenheiten hier gemeinsam als besonders förderungsbedürftig angemerkt haben. Wenn wir gemeinsam von der Notwendigkeit ausgehen, daß auf der Basis einer zahlenmäßig ganz unzweifelhaft wesentlich verbesserten Lage jetzt verstärkt qualitative Aspekte in den Vordergrund der Betrachtung treten müssen, will ich in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf neue Qualifikationsanforderungen und auf einen wachsenden Nachwuchs-und Fachkräftebedarf verweisen, der nicht nur, aber ganz besonders in Verbindung mit der Schaffung des europäischen Binnenmarktes zu einer Herausforderung unseres Bildungssystems wird. Die Ausbildung für nahezu 90 % aller Auszubildenden ist neu geordnet. ({3}) Wir werden nun in die zweite Runde gehen und damit beginnen, die in den 70er Jahren neu geordneten Ausbildungen zu überarbeiten und festzustellen, inwiefern Veränderungs- oder Modifizierungsbedarf besteht. ({4}) Im übrigen geht es - da schließe ich ausdrücklich und gerne an eine Bemerkung des Kollegen Oswald aus der Debatte an - bei solchen Anpassungen keineswegs durchgehend in jedem Fall um höhere, sondern in vielen Fällen schlicht um andere Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten. ({5}) Auch an dieser Stelle ist eine Differenzierung erforderlich, die vielleicht in den vergangenen Jahren auf dem Hintergrund vorrangig quantitativer Betrachtungen etwas zu kurz gekommen ist. Es ist falsch, die Menschen glauben zu machen, nur in Abitur und Studium habe man als Fachkraft auf den Arbeitsmärkten der Zukunft noch eine Chance. ({6}) An diesem falschen Leitbild darf sich die Bildungspolitik nicht beteiligen, und sie wird sich daran auch nicht orientieren. Selbständigkeit, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeiten sind Schlüsselqualifikationen, die jeder erwerben kann und erwerben sollte. Zum anwendungsbezogenen Umgang mit neuen Techniken braucht man nicht unbedingt Abitur. Umweltbewußte Berufsausübung ist gewiß die Einsicht in neue Notwendigkeiten, aber sie ist gewiß keine Frage des Intellekts. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, in der Bundesrepublik werden gut 90 % aller Jugendlichen jedes Altersjahrgangs im Berufsbildungssystem oder an den Hochschulen qualifiziert ausgebildet. Das ist - allen berechtigten kritischen Randbemerkungen zum Trotz - eine beachtliche Leistung, die in fast allen mit dem unseren vergleichbaren Industrieländern nicht erreicht wird. Das Netz der Berufsausbildung mit der Säule des dualen Systems, mit öffentlicher und privater Verantwortung - übrigens auch jeweils konkreter Finanzverantwortung - hat die quantitativen und die qualitativen Erwartungen junger Menschen bei uns jedenfalls besser erfüllt als in nahezu jedem anderen System, in nahezu jedem anderen mit dem unseren vergleichbaren Industrieland. ({7}) Deswegen kann es überhaupt nicht um die Notwendigkeit der Enttabuisierung bewährter Systeme gehen, sondern um die klare Einsicht, daß wir auf der Basis eines solchen soliden, international fast beispiellosen Fundaments nun konkret und mit Augenmaß an die Anpassung herangehen müssen, die Veränderungen auch der wirtschaftlichen und der politischen Entwicklungen zweckmäßig erscheinen lassen. „90 % Absolventen", das bedeutet umgekehrt eben auch: Fast 10 % der jungen Menschen verlassen jedes Jahr ohne eine Qualifikation die entsprechenden Bildungssysteme. Damit können und wollen wir uns sowohl aus Gründen ihrer individuellen Erwartungen wie aus sozialen und volkswirtschaftlichen Gründen nicht zufriedengeben. ({8}) Das heißt, wir brauchen Strategien, die auch diesem Defizit mit Aussicht auf Erfolg abhelfen können. Da will ich nun folgendes ganz ausdrücklich und offensiv vertreten, weil dies, für jedermann erkennbar, einer der wenigen konkreten Streitgegenstände dieser Debatte heute abend gewesen ist: Ich bin fest davon überzeugt, daß wir uns gerade auf der Basis der Zahlen, über die wir nicht zu streiten brauchen, von der Vorstellung lösen müssen, die Aufgabe der Bildungspolitik ließe sich darauf reduzieren, die durchschnittlichen Anforderungen ständig neu zu formulieren, die man in dem einen wie dem anderen Bereich unseres Bildungssystems braucht. Wir werden uns ganz im Gegenteil immer stärker mit denjenigen befassen müssen, die diesen durchschnittlichen Anforderungen entweder nicht genügen können oder die umgekehrt wesentlich mehr leisten können und wollen, als wir in Durchschnittsanforderungen in Ausbildungsordnungen beispielsweise hineinzuschreiben bereit sind. Dieses Problem, das im übrigen auch eine Chance ist, ist nicht dadurch aus der Welt zu schaffen, daß man sich ständig neue Formulierungsübungen bezüglich der durchschnittlichen Anforderungen einfallen läßt. Es ist nur dadurch überzeugend zu lösen, daß man nach dem Prinzip Förderung statt Auslese, nach der einen wie nach der anderen Seite sich um diejenigen bemüht, die aus diesen Durchschnittsbetrachtungen herausfallen. Da muß ich nun von hier aus die Opposition herzlich um die Enttabuisierung eines Themas bitten, das auch heute abend liebevoll wieder zum Tabu erklärt worden ist: Was machen wir mit denjenigen, die trotz aller Förderung und trotz aller Bemühungen um angemessen formulierte Anforderungen diesen definierten Anforderungen nicht genügen? Ich plädiere noch einmal mit Nachdruck dafür, daß wir nicht ausgerechnet bei denen das Nachdenken einstellen, weil der Nachweis erbracht ist, daß sie diesen Durchschnittsanforderungen nicht genügen können. ({9}) Meine lieben Kollegen von der Opposition, wenn wir darüber in der Sache, in der Zielsetzung einer Meinung sind, dann muß es doch möglich sein, ohne ideologische Denkblockaden nüchtern über die Fragen nachzudenken, ob überhaupt und, wenn ja, in welcher Weise hier nun ergänzende Förderinstrumentarien möglich und nötig sind, um auch für diese jungen Leute dafür zu sorgen, daß sie zu einer Abschlußqualifikation kommen, die ihnen jedenfalls bessere Berufsaussichten eröffnet, als das gegenwärtig der Fall ist. Ich will dann, weil das dieser Betrachtung nur konsequent entspricht, auch die andere Seite dieser Herausforderung ansprechen, die Herr Rixe in seinem Diskussionsbeitrag zu meiner Betrübnis ein bißchen sehr kritisch angesprochen hat, nämlich die von der Bundesregierung angekündigten Bemühungen, besondere Förderungen für die jungen Menschen in Angriff zu nehmen, die mehr leisten können und wollen als der Durchschnitt. ({10}) Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, was für die Hochschulen möglich ist, nämlich besondere Begabtenförderung zu betreiben, das muß doch mit einem Mindestmaß an politischem Ehrgeiz für den Bereich der Berufsausbildung allemal möglich sein. ({11}) Meine lieben Kollegen von der Opposition, gerade eine sozialdemokratische Opposition hätte eigentlich zu ihren Regierungszeiten längst auf einen solchen Gedanken kommen müssen. Jedenfalls wird die Bundesregierung ihre Bemühungen nicht aufgeben, auch für die Berufsausbildung ein Begabtenförderungswerk durchzusetzen. Wir fänden es ausgesprochen betrüblich, wenn dies ausgerechnet gegen den politischen Widerstand einer sozialdemokratischen Opposition erfolgen müßte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Parlamentarischer Staatssekretär, wir haben nur noch ganz wenig Zeit; aber ich gebe Ihnen gerne noch etwas Zeit, wenn Sie einer Zwischenfrage zustimmen. Dr. Lammert, Pari. Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft: Ja, gerne.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Staatssekretär, halten Sie es mit dem dualen System für vereinbar, wenn bestimmte Berufe im dualen System förmlich nur noch mit bestimmten schulischen Abschlüssen ergriffen werden können, oder ist es nicht vielmehr einer der besonderen Vorzüge des dualen Systems, daß grundsätzlich alle Ausbildungsberufe mit mindestens dem Hauptschulabschluß angestrebt werden können?

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Natürlich ist das einer der großen Vorzüge dieses Systems. Aber das ändert doch nichts an der Betrachtung, die ich vorhin noch einmal auf einer möglichst breiten Basis plausibel zu machen versucht habe, nämlich daß wir uns mit der Frage beschäftigen müssen: Wie gehen wir mit den jungen Leuten um, die auf dieser klassischen Bildungslaufbahn nicht zu dem Ziel kommen, das Sie und wir gemeinsam eigentlich als erstrebenswert ansehen? Mein Appell geht dahin, daß wir uns gemeinsam darum bemühen, hier zu Lösungen zu kommen, die den qualitativen Ansprüchen soweit wie möglich Rechnung tragen sollen, die auch jetzt in Ihrer Zusatzfrage noch einmal angemerkt worden sind.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Nun bleibt nur noch die Chance für einen Schlußsatz, Herr Parlamentarischer Staatssekretär.

Prof. Dr. Norbert Lammert (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001274

Davon möchte ich auch gerne Gebrauch machen, Herr Präsident. Meine liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn wir den Berufsbildungsbericht und auch die heutige Debatte bilanzieren, dann kann man vielleicht das Fazit ziehen: mit der positiven Wende bei den Zahlen auf dem Lehrstellenmarkt sind uns weder die Themen ausgegangen noch ist uns die politsiche Phantasie ausgegangen. Deswegen möchte ich diese Debatte gerne mit der Bitte abschließen, daß wir - ähnlich wie in der Vergangenheit - mit dem Bemühen um eine breite Basis für eine möglichst chancengerechte Entwicklung im Bereich der Berufsausbildung auch der Notwendigkeit neuer Konzepte im Bereich der Berufsausbildung, die mit dem Berufsbildungsbericht 1989 zur Diskussion gestellt werden, politisch zum Erfolg verhelfen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft auf Drucksache 11/4055. Der Ausschuß empfiehlt, nach Kenntnisnahme des Berufsbildungsberichts 1988 den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen. Wir haben noch eine Abstimmung zu Punkt 7 b der Tagesordnung durchzuführen. Der Ältestenrat schlägt vor, den Berufsbildungsbericht 1989 auf Drucksache 11/4442 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Sie sind damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe Punkt 8 der Tagesordnung auf: a) Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({0}) zu dem Antrag des Bundesministers der Finanzen Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1986 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({1}) zu der Unterrichtung durch den Bundesrechnungshof Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1988 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung ({2}) - Drucksachen 11/1572, 11/3056, 11/3574, 11/4782 - Berichterstatter: Abgeordneter Deres b) Beratung des Antrags des Präsidenten des Bundesrechnungshofes Rechnung des Bundesrechnungshofes für das Haushaltsjahr 1988 - Einzelplan 20 -- Drucksache 11/4599 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung dieser Punkte eine Stunde vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Deres. ({3})

Karl Deres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000374, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Daß Vertrauen gut ist, Kontrolle aber besser, hat der Rechnungsprüfungsausschuß in den vergangenen Wochen und Monaten praktiziert. In neun Sitzungstagen und über 33 Sitzungsstunden hat der Rechnungsprüfungsausschuß die Grundlagen für die Beschlußempfehlung des Haushaltsauschusses auf der vorliegenden Drucksache 11/4782 erarbeitet. Dieser Beschlußempfehlung liegen zugrunde: erstens der Antrag des Bundesfinanzministers „Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1986 - Vorlage der Haushaltsrechnung und Vermögensrechnung des Bundes ({0})" auf Drucksache 11/1572 und zweitens die Unterrichtung des Bundesrechnungshofes 1988 zur Haushaltsund Wirtschaftsführung ({1}) auf der Drucksache 11/3056. Gemäß Art. 114 des Grundgesetzes in Verbindung mit § 114 der Bundeshaushaltsordnung empfiehlt der Haushaltsausschuß, der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1986 auf Grund der Bundeshaushaltsrechnung ({2}) und den dazu vorliegenden Bemerkungen des Bundesrechnungshofes 1988 Entlastung zu erteilen. Die Entlastung für das Haushaltsjahr 1986 umfaßt auch die Rechnung der Sondervermögen des Bundes, für die kein abweichendes Entlastungsverfahren vorgesehen ist. Der Bundesrat hat in seiner 595. Sitzung am 25. November 1988 beschlossen, der Bundesregierung Entlastung auf der Grundlage der zitierten Unterlagen zu erteilen. Seine Stellungnahme ist insoweit berücksichtigt. Die Viertelsjahresübersichten zu den über- und außerplanmäßigen Ausgaben im Haushaltsjahr 1986 werden auf Grund der Beratungen für erledigt erklärt. Die Bundesregierung wird ersucht, bei der Aufstellung und Ausführung der Bundeshaushaltspläne den Feststellungen und Bemerkungen des Haushaltsausschusses Rechnung zu tragen. Der Bundesfinanzminister insbesondere wird ersucht, dafür Sorge zu tragen, daß den Feststellungen des Haushaltsausschusses entsprochen wird und daß unter Berücksichtigung der Bemerkungen des Haushaltsausschusses Maßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftlichkeit in die Wege geleitet werden. Die Bundesminister werden ersucht, die Beanstandungen der Handlungsweise einzelner Bediensteter diesen zur künftigen Beachtung zur Kenntnis zu bringen und die Durchführung der gebotenen Maßnahmen unter Beachtung der Einzelbemerkungen des Haushaltsausschusses zu überwachen. Nach dieser relativ streng formalen Pflichtübung des Jahresberichterstatters darf ich einer sehr angenehmen Pflicht nachkommen. Es soll auch in diesem Jahr nicht unerwähnt bleiben, daß die Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß trotz harter und kritischer Passagen in einem sehr angenehmen Klima abgewik11382 kelt werden konnte. Dank gilt es in erster Linie dem Bundesrechnungshof zu sagen. Ich wollte den Herrn Präsidenten hier begrüßen und ihn bitten, diesen Dank auch allen Mitarbeitern des Bundesrechnungshofs zu übermitteln. Das ist jetzt nicht möglich, aber das Protokoll wird diesen Dank ja ausweisen. Der Präsident hat in Berlin anläßlich der Eröffnung des XIII. Kongresses der Internationalen Organisation der Obersten Rechnungskontrollbehörden am 12. Juni dieses Jahres in der Kongreßhalle erklärt - ich zitiere - : Wenn wir dabei - also bei der Arbeit des Rechnungshofs den Geprüften, ja manchmal auch denen, die berufen sind, über unsere Prüfungsfeststellungen und Empfehlungen zu entscheiden, unbequem sind, sollte uns das nicht abschrecken. Mit diesem Spannungsverhältnis - so möchte ich dem Herrn Präsidenten sagen - , das sich in der Unabhängigkeit des Rechnungshofs und seiner Mitglieder, aber auch in der Unabhängigkeit der Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses gründet, müssen wir nun einmal leben. Ich meine, wir können auch gut damit leben, wenn wir das Gesamtergebnis unserer Arbeit bewerten: Mehr als 90 % der Bemerkungen wurden zustimmend zur Kenntnis genommen, und zwar vom ganzen Ausschuß. Selten gab es differenzierende Voten; noch seltener war es, daß der Rechnungsprüfungsausschuß dem Beschlußvorschlag nicht folgte. Wir haben Verständnis dafür, daß eine solche Entscheidung dem einzelnen Prüfer und auch dem Hof dann nicht genehm ist, aber deswegen wird ja noch keine „schwarze Strichliste " geführt. Wir danken auch den Vertretern aller Ministerien, insbesondere den Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums, die ihre engagierte Arbeit eingebracht haben. Daß sie nicht alle immer zufrieden in ihre Häuser zurückkehren, ist so gewollt, wenn es sich aus der Sachlage ergibt. Ein besonders herzliches Wort des Dankes gilt heute unserem Vorsitzenden des Rechnungsprüfungsausschusses, Herrn Dr. Bernhard Friedmann, ({3}) und zwar für seinen immer engagierten Einsatz, die gute Vorbereitung der Sitzungsabläufe, besonders aber für die konsequente und doch verständnisvolle Diskussionsführung. Sein großes Querschnittswissen und sein phänomenales Gedächtnis, seine Unabhängigkeit und seine Unbeeinflußbarkeit haben die Ausschußarbeit geprägt. Das war schon immer so, war also nicht nur in diesem Jahr so. ({4}) Da sich aber abzeichnet, daß Herr Dr. Friedmann in Zukunft seine Arbeit mit höheren Weihen auf europäischer Ebene fortsetzen wird, ist es angemessen, ihm heute besonders zu danken und ihm für die Zukunft alles Gute zu wünschen. ({5}) Lieber Bernhard, ich hoffe, daß wir bald Gelegenheit haben, dich als einen der Präsidenten des Europäischen Rechnungshofs in Luxemburg begrüßen zu dürfen. Bei uns in Bonn bist du auf jeden Fall jederzeit herzlich willkommen, wenn die Zeit es erlaubt. ({6}) Den Mitarbeitern im Sekretariat gilt ebenso unser Dank für den unermüdlichen Einsatz bei der Vor- und Nachbereitung der Sitzungen. Insbesondere darf ich Herrn Ministerialrat Levermann hier nennen. Herr Vorsitzender, überbringen Sie unseren Dank den Mitarbeitern des Sekretariats. Für die Zukunft wünsche ich mir, auch im Namen aller Kollegen der CDU/CSU-Fraktion, daß die Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen der anderen Fraktionen so effektiv und zugleich menschlich angenehm bleibt. In dieser Diskussionsrunde vor dem Plenum werden die mir nachfolgenden Redner noch auf die Prüfungsbemerkungen im Detail eingehen. Gestatten Sie mir noch einige grundsätzliche Ausführungen zur Diskussion der Vorbemerkung im Bericht des Bundesrechnungshofs. Die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Professor Dr. Rita Süssmuth, hat in Berlin anläßlich des bereits vorher erwähnten Kongresses Goethe zitiert: Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr. Damit ist auch unsere große Sorge angesprochen, daß jede weitere Nettokreditaufnahme mit den daraus folgenden Zinskosten die politische Handlungsfähigkeit im Augenblick zwar erweitert, mittel- und langfristig aber über Gebühr einengt. Die Mitglieder des Rechnungsprüfungsausschusses und des Haushaltsausschusses fühlen sich heute verpflichtet, hier auf die Folgen und Grenzen der Verschuldung aufmerksam zu machen und sie dem ganzen Parlament eindringlich vor Augen zu führen. Die im Haushalt 1986 veranschlagte Nettokreditaufnahme von 23,660 Milliarden DM wurde nur mit 22,926 Milliarden DM in Anspruch genommen und lag damit um über 10 Milliarden DM unter dem Investitionssoll von 34,506 Milliarden DM. Die Gesamtverschuldung des Bundes lag Ende 1986 bei über 415 Milliarden DM, wofür Zinsen in Höhe von 30,3 Milliarden DM zu zahlen waren. Damit sind die Zinsausgaben zum drittgrößten Einzeletat geworden. Diese steigende fixkostenartige Last kann so nicht fortgeschrieben werden. Wir begrüßen daher die Begrenzung des Ausgabenzuwachses, die im Haushalt 1986 bei nur 1,7 % lag. Für die Haushaltsplanung 1990 empfiehlt der Finanzplanungsrat, daß die Ausgabendisziplin auch mittelfristig fortgesetzt wird. Günstigere Einnahmeperspektiven dürfen nicht zu einem höheren Ausgabenpfad führen. Es bleibt Aufgabe der Finanzpolitik, das Ausgabenwachstum der öffentlichen Hand weiterhin auf rund 3 % zu begrenzen, so der Finanzplanungsrat. In diesem Zusammenhang begrüßen wir es sehr, daß der Bundesbankgewinn nach Feststellung jetzt in einer Summe überwiesen wird und damit Zinsersparnisse gegenüber Ratenzahlungen erwirtschaftet werden können. Zugleich haben wir es sehr begrüßt, daß erstmals in diesem Jahr ein hoher Bundesbankgewinn nicht voll in den Haushalt vereinnahmt wird, sondern teilweise der Tilgung von Altschulden zugeführt wird. Per saldo bleibt das Ergebnis zwar gleich, psychologisch werden aber der Begehrlichkeit Grenzen gesetzt. Kritisch ist aus der Vorbemerkung noch aufzugreifen, daß im Laufe des Jahres 1986 ohne Einwilligung des Bundesfinanzministers bei immerhin 15 Einzelplänen insgesamt 95,9 Millionen DM überplanmäßig ausgegeben wurden. Im Vorjahr waren es bei 14 Einzelplänen dagegen nur 4,1 Millionen DM. Der Bundesminister hat zwar in der Haushaltsrechnung bestätigt, daß er bei rechtzeitiger Vorlage des Antrags seine Einwilligung nach Art. 112 gegeben hätte; wir aber ersuchen die Ministerien, sich auf diesem Gebiet wieder größerer Zurückhaltung zu befleißigen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ging mir bei der Darstellung der Diskussion der Vorbemerkung darum, alle Mitglieder des Hauses auf die mittel- und langfristigen Auswirkungen der steigenden Zinslast aufmerksam zu machen. In Zeiten einer guten Konjunktur muß die Erkenntnis wachsen, daß steigende Verschuldung und wachsende Zinslasten nicht hingenommen werden dürfen, sondern daß die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte durch den konsequenten Abbau des Defizits der laufenden Haushalte und eines Tages auch durch Tilgung anzustreben ist. Solange, wie ein Sprichwort sagt, daß die Zinsen mit aus dem Topf essen, wird es bei dem Verhalten, wie wir es bisher geübt haben, entweder weniger Suppe geben, oder die Suppe muß mit Wasser verdünnt werden. ({7}) Das sollten wir denjenigen, die nach uns kommen, nicht zumuten. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Sieler.

Wolfgang Sieler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002173, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich war schon fast versucht, meine Rede zu Protokoll zu geben. Ich glaube, daß das jährliche Entlastungsverfahren und die Bemerkungen des Bundesrechnungshofes zur Haushalts- und Wirtschaftsführung der Bundesregierung im Bewußtsein vieler unserer Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag immer noch als ein notwendiges bürokratisches Ritual betrachtet oder gar als Spielwiese für die Opposition angesehen werden. Dabei weiß doch eigentlich ein jeder: In der Politik geht nichts oder fast nichts ohne Geld. Ist es denn nicht die ureigenste Angelegenheit des Parlamentes und nicht nur der jeweiligen Regierung, die erforderlichen und von uns, von den Haushältern, vom Parlament beschlossenen Mittel zur Verfügung zu stellen und auch darüber zu 'wachen, wie und in welcher Weise das Geld ausgegeben wird? ({0}) Genau über diese Kontrolle, meine Damen und Herren, wollten wir hier heute eigentlich debattieren. Ob es eine Debatte wird, wird sich zeigen. Mein Vorredner hat bereits dargelegt, in welcher Atmosphäre die Beratungen in diesem Ausschuß, der diese Kontrollaufgabe als Unterausschuß des Haushaltsausschusses für das Parlament übernommen hat, stattfanden. Ich meine, daß dies natürlich ein wertvoller Beitrag ist, um alle sich anstauenden Sachfragen in der geeigneten Weise abzuhandeln. Die entscheidende Vorarbeit, meine Damen und Herren, leistete wie in der Vergangenheit die hochqualifizierte und motivierte Mannschaft des Rechnungshofes mit ihren vorliegenden Prüfbemerkungen. Dafür möchten auch wir, Kollege Deres, dem Rechnungshof und seinem Präsidenten unseren herzlichen Dank aussprechen. ({1}) Aus Zeitgründen möchte ich nun einige Probleme aus der Fülle der von uns behandelten Vorgänge aufgreifen und sie einmal aus der Sicht der Opposition darstellen. In den vergangenen Jahren hat die Regierungskoalition auch im Rechnungsprüfungsausschuß davon gelebt, uns, der SPD, die Defizite und die Zinsbelastungen vergangener Haushaltsjahre vorzuhalten. Irgendwann, meine Damen und Herren, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist das natürlich nicht mehr glaubwürdig, vor allen Dingen dann nicht, wenn viele Jahre einer Regierung Kohl ins Land gegangen sind, deren finanzpolitische Auswirkungen wir nun zu beurteilen haben. Das Problem von Verschuldung, Zinsbelastung und Bundesbankgewinnen ist mit dem Eintritt der Regierung Kohl nicht von der Tagesordnung verschwunden - im Gegenteil. Ich sage dies nicht mit Häme, sondern weil dies ein Problem ist, das jede amtierende Regierung belasten und berühren wird. Der Bundesrechnungshof verweist mit Recht in der Textziffer 1.9.2. auf die überhöhte Nettokreditaufnahme von 5,1 Milliarden DM im Haushaltsjahr 1988 im Zusammenhang mit Art. 115 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Der Rechnungshof hat bewußt die entscheidende Frage offengelassen, ob die Höhe von 39,2 Milliarden DM neue Schulden unter Einschluß des Bundesbankgewinns zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts erforderlich war. Aus der Sicht der SPD-Bundestagsfraktion gab es dazu allerdings keinerlei Berechtigung. Mißt man diese Frage nämlich mit den Maßstäben der Opposition zu Zeiten der Regierung Schmidt, also der heutigen Bundesregierung, d. h. betrachtet man die Begründung der Klage beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, dann allerdings kommen wir zu der Feststellung: Wenn man schon Gleichgewichtsstörungen ins Feld führt, dann sind es wohl die Gleichgewichtsstörungen der Regierung Kohl mit ihrem Anspruch, Sieler ({2}) die Zinsbelastung zu senken und die Schuldenlast abzubauen. Die Wirklichkeit sieht ja leider etwas anders aus. Tatsache ist, daß die Schulden weiter kontinuierlich steigen, daß der Bund alleine die 500-Milliarden-DMGrenze bei der Verschuldung bereits überschritten hat und daß die Zinsausgaben des Bundes mit 32,4 Milliarden DM bereits den drittgrößten Einzelposten im Bundeshaushalt nach den Posten Arbeit und Sozialordnung sowie Verteidigung ausmachen. Der Bundesrechnungshof weist deshalb erneut und zu Recht in der Textziffer 1.9.4. auf das Zinsrisiko für die Einnahmenseite der zukünftigen Bundeshaushalte hin. Auch Kollege Deres hat dies vorhin noch einmal betont. Schon heute gibt der Bund achtmal soviel Geld für Zinsen aus wie für Bildung und Wissenschaft und sechzigmal soviel wie für die Umwelt. Das ist die eigentliche Gleichgewichtsstörung im Bundeshaushalt, die es zu beseitigen gilt - unabhängig, welche Seite jeweils die Regierung stellt. ({3}) Meine Damen und Herren, der neue Bundesfinanzminister hat in seiner ersten Rede am 27. April 1989 hier im Hohen Hause erklärt: Wir müssen durch Sparsamkeit den Anstieg der Schulden und der Zinsausgaben begrenzen, weil wir sonst Schritt für Schritt finanzpolitischen Handlungsspielraum preisgeben würden. Wir müssen zumindest erreichen, daß der Anteil der Zinsausgaben an den gesamten Bundesausgaben nicht mehr zunimmt. Die Zielsetzung ist richtig. Wir werden auch diesen Finanzminister an seinen Taten zu messen haben und nicht an seinen Versprechungen. In diesem Zusammenhang sind wir dem Rechnungshof dankbar, daß er auch diesmal die Frage der Steuergerechtigkeit aufgegriffen hat, d. h. Praktiken der Finanzverwaltung, die in einer Reihe von Fällen die Anpassung der Einkommensteuervorauszahlung im Zusammenhang mit hohen Abschlußzahlungen verzögert oder erst nach Betriebsprüfungen, d. h. oft erst nach Jahren ihres Entstehens die Steuervorauszahlungen bei Groß- und Konzernunternehmen festgesetzt hat. Dem Fiskus sind darüber erhebliche Einnahmeverluste entstanden. Das ist für uns aber nicht das alleinige Problem. Die Großzügigkeit mancher Finanzämter bei der Gewährung oder gar der Verlängerung von Fristen für die Abgabe von Steuererklärungen für bestimmte große Einkommensteuerzahler gegenüber den Arbeitern und Angestellten, denen jeden Monat die Steuer gnadenlos einbehalten wird, ist ein Ärgernis, auf dessen Abstellung wir nachhaltig drängen. ({4}) Ein weiteres Problem, das übrigens gar nicht so neu ist, hat uns auch diesmal beschäftigt, nämlich die Kontrolle der im Bundesbesitz befindlichen Unternehmen bzw. bundesunmittelbarer juristischer Personen des öffentlichen Rechts und der dort in die Kontrollorgane entsandten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder aus dem Bereich der staatlichen Verwaltung. Zunächst ging es um ein Unternehmen des öffentlichen Rechts, in dem ein Vorstandsmitglied nach Feststellung des Bundesrechnungshofes in einer Reihe von Fällen gegen ein Gesetz verstoßen und vorstandsbeschlußwidrige Handlungen begangen hatte, die dem Unternehmen Schaden in Millionenhöhe zufügten. In jedem privaten Unternehmen wäre ein solches Vorstandsmitglied zur Rechenschaft gezogen worden und hätte wahrscheinlich seinen Posten verlassen müssen. Anders hier: Trotz Kenntnis der Sach- und Rechtslage wurde dessen Vertrag durch den Verwaltungsrat für weitere fünf Jahre verlängert und der Vorstand insgesamt durch die Hauptverwaltung entlastet. In der Hauptversammlung vertritt der Bundesfinanzminister die Interessen des Anteilseigners Bund und im Verwaltungsrat saßen und sitzen hohe und höchste Beamte des Bundesfinanzministeriums und der Bundesregierung. Der Bundesrechnungshof stellt deshalb zu Recht die Frage nach der Rechtsaufsicht und nach den Folgerungen. Unbefriedigend, meine Damen und Herren, für uns alle ist die Antwort auf die Frage nach den Konsequenzen angesichts der hier sichtbar gewordenen Interessenkollisionen. Jeder kleine Postbeamte haftet für den Verlust einer Briefmarke, jeder Handwerker für das ihm überlassene Handwerkszeug, nur für Vorstandsmitglieder von im Bundesbesitz befindlichen Personen scheint dies nicht zu gelten. Das ist leider nicht der erste Vorgang dieser Art. Bereits im Juni 1986 mußte sich der Rechnungsprüfungsausschuß mit einem ähnlichen Vorgang beschäftigen. Ich möchte die Bundesregierung nachdrücklich ersuchen und ermuntern, nicht nur ihrer Aufsichtspflicht zu genügen, sondern bei der Besetzung der Aufsichtsgremien die erforderliche Sorgfalt walten zu lassen. ({5}) Meine Damen und Herren, unter Hinweis auf die besonderen Prüfungsergebnisse des Rechnungshof es möchte ich noch ein Problem aufgreifen, das uns derzeit beschäftigt, weil es das Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofes bei öffentlichen Aufträgen betrifft. Ausgangspunkt war und ist die Tatsache, daß der Bund jährlich 11 Milliarden DM Aufträge zu Selbstkostenpreisen vergibt, davon allein 6,4 Milliarden DM Aufträge aus dem Wehrbereich. 1987 wurden 6,1 Milliarden DM Aufträge freihändig vom Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung vergeben. Mit den Regeln und den Bestimmungen des öffentlichen Vergabe- und Preisrechts, nach denen vor Abschluß der Lieferungs- und Leistungsverträge eine öffentliche Ausschreibung erfolgt und der Zuschlag im Wettbewerb erfolgt, hat das natürlich wenig zu tun. Mit Recht hat auch Kollege Friedmann immer wieder diesen praktizierten Mechanismus kritisiert, der da lautet: Die Kosten werden festgestellt und dann kommen 5 % Gewinn darauf; je höher die Kosten, desto höher der Gewinn. - Das ist vielleicht Sieler ({6}) für die Industrie eine gute Formel, aber nicht für den Steuerzahler und nicht für den Staat. Deshalb hat es auch nicht erstaunt, daß gewisse Kreise der Wirtschaft an dieser Veranstaltung festhalten wollen und dabei ordnungspolitische Gründe gegen dieses von uns verlangte Prüfungsrecht des Bundesrechnungshofes bei den Auftragnehmern vorbringen. Der Beschluß des Rechnungsprüfungsausschusses vom 22. Juni 1988 und des Haushaltsausschusses vom 29. September 1988 läßt eindeutig erkennen, daß wir die Position des Bundesrechnungshofs zur Preisprüfung auf diesem Felde voll und ganz unterstützen. Vor dem Hintergrund der Entscheidungen zum Rüstungsvorhaben „Jagdflugzeug 90 EFA" bekommt diese Frage noch eine zusätzliche europäische Bedeutung und eine zusätzliche finanzpolitische Dimension, auch wenn der Herr Bundesverteidigungsminister dies heute bestreitet. Der Bundesrechnungshof erkennt zwar an, daß sich der Verteidigungsminister bei der hier in Rede stehenden finanziellen Größenordnung um Kostenbegrenzungen bemüht, hält jedoch die fortlaufende verstärkte Überwachung für notwendig. Wir Sozialdemokraten halten jedoch nach wie vor dieses Projekt Jäger 90 für ein unkalkulierbares finanzielles Risiko für alle späteren Haushalte und teilen daher die Meinung des Rechnungshofes, daß auch und gerade im Interesse des Parlaments und der Bürgerinnen und Bürger unseres Landes Prüfungsmöglichkeiten bei der NEFMA für den Rechnungshof geschaffen werden müssen, eine Aufgabe, Herr Kollege Friedmann, mit der Sie sich wahrscheinlich zukünftig stärker beschäftigen müssen. Ich meine - das ist sicher auch im Interesse des gesamten Parlaments -, der Selbstbedienungsladen Bundesverteidigungsministerium für Rüstungsmonopole zu Selbstkostenpreisen darf nicht weiter uneingeschränkt geöffnet bleiben. ({7}) Abschließend möchte ich mich im Namen meiner Fraktion bei den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuß für die kollegiale Zusammenarbeit recht herzlich bedanken, bei Ihnen, Kollege Friedmann, für die sachliche und sachgerechte Verhandlungsführung. Ich gebe ehrlich zu, daß ich bei Ihnen eine ganze Menge gelernt habe. Der Rechnungsprüfungsausschuß ist ein Gremium, in dem man einen Einblick in die Zusammenhänge der politischen Arbeit und die Wechselwirkung zwischen Geldeinnehmen und Geldausgeben bekommt. Insbesondere als Parlamentarier bekommt man etwas Gespür auch für die Notwendigkeit der parlamentarischen Kontrolle. Dies ist die zentrale Aufgabe dieses Parlaments, und sie muß es bleiben, egal, welche Seite auch immer die Regierung stellt. Es ist schließlich ein systemimmanentes Verhalten jeglicher Verwaltung - ich sage das einmal etwas flapsig -, das Parlament dann, wenn man die Möglichkeit dazu sieht, hinter die Fichte zu führen, wie die Haushälter zu sagen pflegen. Unsere Aufgabe muß es sein, dieses unter allen Umständen zu verhindern. Ich glaube, erst dieses Wechselspiel der Kräfte ermöglicht nicht bloß einen Dialog, sondern auch eine wirkliche Kontrolle. Für die sachliche und sachgerechte Verhandlungsführung bedarf es eines sehr hohen Sachverstandes, und dieser zeichnet Sie besonders aus, Herr Kollege Friedmann. Auch der Kollege Deres hat als Jahresberichterstatter schon darauf hingewiesen; ich kann mich dem uneingeschränkt anschließen. Natürlich bedanken wir uns auch bei den Mitarbeitern des Ausschußsekretariats. Ich weiß, daß sie unter sehr, sehr schwierigen Bedingungen ihre Arbeit haben leisten müssen, weil auch wir unsere Arbeit ständig unter Zeitdruck neben der Parlamentsarbeit und auch neben der Haushaltsarbeit zu leisten haben und auch zukünftig leisten müssen. Danken möchte ich auch dem Rechnungshof und ihn ermuntern, so konstruktiv und kritisch wie bisher unsere künftige Arbeit zu begleiten. Meine Fraktion stimmt der Entlastung zu. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Zywietz.

Werner Zywietz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002612, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn es um Entlastung und Neuwahlen geht, egal wo, dann habe ich immer erlebt, daß die Säle oder die Versammlungsräume voll sind. Wenn es aber nur um Entlastung geht, wie hier um die Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1986, dann ist die Besetzung, wie hier seitens der Regierung, unzureichend, wie ich meine. Man könnte daraus schließen, daß sie sich ihrer Sache sehr sicher ist, eine gute Haushaltsrechnung vorgelegt zu haben. Das kann man im Formalen aus unserer Sicht, aus der Sicht der FDP unterstreichen, aber man könnte vielleicht auch ursächlich im Hintergrund haben, daß die Volksweisheit „Was schert mich mein Geschwätz von gestern" oder übertragen „Was schert mich meine Rechnung oder meine Abrechnung von gestern" hier ein bißchen mitschwingt. Gerade in einer schnelllebigen Zeit könnte man das meinen, weil man damit zum Ausdruck bringt, es gibt Wichtigeres, als zwei oder drei Jahre zurückzuschauen. Das scheint nicht mehr viel Präsenz vonnöten zu machen. Aber ich meine doch, die Worte des Kollegen Karl Deres als Jahresberichterstatter und auch die Worte der Opposition haben deutlich gemacht - das möchte ich für die FDP unterstreichen -, daß es sehr wohl lohnend sein kann, ja lohnend ist, ein wenig zurückzuschauen, nicht wegen irgendwelcher Vergangenheitsb ewältigung, sondern um daraus Rückschlüsse für die Haushaltsgestaltung und für die Haushaltsdurchführung der Zukunft zu ziehen. Hier - ich habe da einen Gleichklang herausgehört - ist wohl eine zentrale Lehre, die, daß die Defizite in den Haushalten - nicht nur in dem des Jahres 1986, sondern man kann mittlerweile mehr als 15 Jahre, bis zum Anfang der siebziger Jahre, zurückgehen - groß, zu groß sind. Ich möchte eigentlich Gelegenheit nehmen, bei der Entlastung der Bundesregierung für ein Haushaltsjahr ebenfalls mit einem Defizit von 25 Milliarden DM - in dieser Größenordnung jedenfalls - darauf hinzuweisen, weil ich meine, das ist eine, vielleicht sogar die zentrale Schlußfolgerung, die man als politisch Verantwortlicher zu ziehen hat. Denn hier geht es auch nicht um Formalien, sondern hier geht es darum, daß durch diese Defizite, wenn sie dann anhalten, durch die Zinsbelastung und durch die enger werdenden politischen Gestaltungsspielräume für die Zukunft eben die politischen Gestaltungsmöglichkeiten tendenziell abnehmen. Das ist ein bedenkenswerter Punkt. Dem könnte man, wenn die Dinge weitergehen, nach meiner Meinung nur begegnen, indem man dann irgendwann Ausgab en drastisch zurückfährt, mit allen Konsequenzen, die das beinhaltet, oder aber indem man Haushaltsdefizite durch Steuererhöhungen, also mehr Einnahmen, ausgleicht. Darüber muß man sich im klaren sein. Das ist, meine ich, die zentrale Lehre, die auch aus diesem Haushalt 1986 zu ziehen ist. Es ist egal, ob die Nettokreditaufnahme unter Anstrengung eher bei 20 Milliarden DM oder bei 30 Milliarden DM pro Jahr liegt. Wir sprechen immer von Nettoneuverschuldung und nicht von der Rückzahlung von Krediten. Das sind Verschuldungsschichten, die auf den erwähnten Sockel von rund 500 Milliarden DM Jahr für Jahr obendrauf kommen. Das bedingt aber, wenn im Prinzip eine Rückzahlung in nennenswerter Größe nicht vorhanden ist, daß bei 20 Milliarden DM - das kann jeder mit dem Einmaleins ausrechnen - bei 8 % 1,6 Milliarden DM und bei 30 Milliarden DM die Größenordnung von ca. 2 Milliarden DM Jahr für Jahr obendrauf kommen. Das heißt, wenn wir jetzt als drittgrößten Posten eine Zinsbelastung in der Größenordnung von 30 Milliarden DM haben, haben wir in fünf Jahren mit jährlich 2 Milliarden DM eine Zinsbelastung von 40 Milliarden DM. Keine Position im Bundeshaushalt wächst so schnell wie diese. Es gibt kein anderes Entrinnen, als dann entweder Ausgaben zurückzufahren - wir sehen alle, wie schwierig das ist - oder aber durch normale Finanzierung, sprich Steuererhöhungen, zu finanzieren. Aber just das wollen wir als FDP aus unserer politischen Sicht nicht. Deswegen stellt für uns die Aufgabe, Defizite zurückzufahren, eine zentrale politische Tätigkeit dar. Denn wir wollen als Liberale den Staatsanteil klein halten und ihn zurückführen. Das bedingt, daß auch die Defizite nicht weiter steigen dürfen, weil ansonsten alles nur ein Wort, aber keine Realität ist. ({0}) Darin - so sehe ich es - liegt der „Casus cnactus" dieser ganzen Bemühungen. Nun sage ich sowohl zur einen Seite des Hauses als auch zur anderen, gleichgültig was der eine halbwegs gut, der andere ein bißchen besser oder schlechter gemacht hat: Fazit ist, daß seit 1972 immense Nettokreditaufnahmen stattgefunden haben. Irgendwo ist es dann letztlich auch ein Appell an alle, an der Verringerung mitzuwirken. Daß die Oppositionen, weil es populär ist, eher für Steuersenkungen plädiert und, weil es gut ist, mehr auszugeben, dann noch einen Sack voller Ausgabenwünsche hat, ({1}) liegt vermutlich im parlamentarischen Rollenspiel. Nur, es hilft nicht; wir kommen damit insgesamt in unserem demokratischen Gemeinwesen aus dieser Klemme, wie ich sie glaube ein bißchen beschrieben zu haben, auf dem Hintergrund der Feststellungen nicht heraus. All diese generellen Feststellungen und noch ein paar spezielle Punkte, die ich gerne noch in aller Kürze ansprechen möchte, hätten wir uns allerdings nie so präsent machen können, wenn dem Parlament nicht der Bundesrechnungshof mit seinen über 500 Mitarbeitern Hilfe leistete und zur Seite stünde, die uns mit hoher Qualifikation und in einer Unabhängigkeit, die sie auch nutzen, Zuarbeit leisten. Deshalb Dank dem Bundesrechnungshof, Dank aber auch - das ist schon gesagt worden - , lieber Bernhard Friedmann, für deine Art, Intensität und Sachkompentenz, mit der du diesen Ausschuß durch die Bearbeitung dieser spannenden 150-Seiten-Lektüre des Bundesrechnungshofs geführt hast, und dafür, daß du mit immer spürbarem menschlichen Mitfühlen, aber auch mit durch die Sache gebotener Härte und Klarheit die Dinge Punkt für Punkt nach vorne getrieben hast. Auch wenn ich als Mitglied der kleinen Partei nicht immer mit 100%iger Aufmerksamkeit alles verfolgen konnte, weil wir da immer ein bißchen selektiv vorgehen müssen, habe ich das doch immer mit großer Bewunderung zur Kenntnis genommen. Ich sage dafür auch im Namen unserer Gruppe Dank und wünsche für den weiteren beruflichen Lebensweg, der ja dieser Aufgabe verhaftet bleibt, auf der europäischen Ebene alles Gute. ({2}) In einem kurzen zweiten Teil ein paar Bemerkungen zu Einzelheiten, die dargelegt worden sind. Die Fülle der Bemerkungen ist so groß, daß man selektiv vorgehen muß, abgestuft nach Wichtigkeit oder vielleicht auch etwas typisierend oder mit Elementen von beidem. Ich meine, wir werden zu Recht sowohl im Rechnungsprüfungsausschuß als auch im Haushaltsausschuß darauf zu achten haben, daß wir, wie erwähnt, die Kontrolle bei öffentlichen Aufträgen dort verschärfen, wo keine Marktpreise gegeben sind. ({3}) Das ist der entscheidende Punkt. Natürlich sind wir als Liberale froh und unsere Vorstellungen sind erfüllt, wenn Vater Staat - sage ich mal - von der Kommune bis zur Bundesebene - über die wir hier bevorzugt sprechen - Aufträge vergibt, wenn sich die Dienstleistungs- oder Warenlieferungspreise in einem marktwirtschaftlichen Wettbewerb überprüfen lassen. Dann ist die Sache in Ordnung. Aber gerade auf der Bundesebene gibt es zunehmend Felder, wo solche Marktpreise nicht gegeben sind, ob bei Strukturen im oligopolistischen oder im monopolistischen Bereich, bei Bahn, Bus, aber insbesondere im Rüstungsbereich, wo man einen Auftrag nur einer einzigen Firma oder nur einem einzigen Technikerteam übergeben kann und nachher sozusagen nach Aufwand plus Gewinnzuschlag abzurechnen hat. Hier dürfen wir uns nicht zurücklehnen und sagen: Das ist jetzt nicht mehr Sache des Parlaments oder des verlängerten Arms des Parlaments, also des Bundesrechnungshofs. Hier bin ich - egal, woher Angriffe kommen - dezidiert der Meinung, daß es eine ganz zentrale parlamentarische Verantwortung ist, diesem Steuerzahlergeld mit Intensität hinterherzuschauen. Das ist unsere Verantwortung. Wir müssen die Ausgabe auch dieser Gelder, die per Steuer oder Zoll in die Staatskasse kommen, gegenüber den Bürgern vertreten. Wir haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dort, wo wir uns nicht auf Marktpreise verlassen können, mit einem gewissen Instrumentarium hinterherzuschauen, ob die Rechnungen, die dem Vater Staat gestellt werden, in Ordnung sind. Wir dürfen uns nicht auf das verlassen, was andere behaupten. Das muß kontrollierbar sein. ({4}) - Wir haben dazu Vorschläge gemacht. Es könnte auch gut sein, unseren Vorschlägen zu folgen. Auch sie enthalten gute Lösungen. Aber das läßt sich intensivieren. Noch zwei, drei andere Bereiche. Bei Durchsicht dieses 150-Seiten-Papiers ist mir beispielsweise sehr aufgefallen, eigentlich unangenehm aufgefallen, daß alles in allem - ich kann jetzt die einzelen Beispiele und Zitate nicht bringen - die Personalwirtschaft im öffentlichen, im staatlichen Bereich nach wie vor zu großzügig, zu wenig methodisch, zu wenig modern ist. Da gibt es Beispiele von der Bundeswehr, von der Bundesanstalt für Arbeit und anderswoher. Die Kriterien sind unterschiedlich. Es gibt kein durchgehend modernes Management, wofür brauche ich welche Leute nach Zahl und Qualität und in der Fortbildung. Das macht der eine so und der andere so. Meistens machen es alle zusammen zu großzügig. Ich sehe das gelbe Licht - nicht der Ampelkoalition, sondern hier nur als Vorwarnung. ({5}) Darum belasse ich es bei der Nennung der Stichworte. Der zweite, vielleicht vorletzte, Punkt der mir bei der Durcharbeitung und auch bei der Behandlung im Ausschuß aufgefallen ist, ist ganz einfach der, daß bei Einführung neuer Techniken - unser Zeitalter ist geprägt von der Nutzung der Technik und auch der Einführung neuer Techniken in immer kürzer werdenden Intervallen - die Investitionsrechnungen in der Generallinie nicht sorgfältig genug durchgeführt werden. Man verspricht, welche Arbeit dadurch besser, schneller oder günstiger gemacht werden kann, das tritt aber in den seltensten Fällen ein. Auf diesen Sachverhalt in Zukunft ein stärkeres Augenmaß zu richten ist auch eine Lehre, die wir aus diesem Bericht ziehen, dem wir ansonsten als Unterlage zur Entlastung der Bundesregierung für das Haushaltsjahr 1986 zustimmen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Vennegerts.

Christa Vennegerts (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002365, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der soviel gelobte Bundesrechnungshof wird von der Bundesregierung und auch den nachgeordneten Bereichen und Behörden häufig als Störenfried empfunden. Das muß man auch einmal sagen. ({0}) Er überprüft, ob sie mit dem Geld der Steuerzahler wirtschaftlich und sparsam umgehen, rügt die Verwaltung, wo dies nicht der Fall ist, und stellt unbequeme Fragen. Wir GRÜNEN stehen deshalb dem Bundesrechnungshof ganz entgegen unserem Image als staatskritischer Partei sehr positiv gegenüber. ({1}) Wir unterstützen den Bundesrechnungshof, soweit das für eine Prüfung und Kontrolle des öffentlichen Ausgabengebarens erforderlich ist, und schlagen politische Konsequenzen vor. Allerdings erfolgt unsere Unterstützung für den Bundesrechnungshof nicht blind und kritiklos. In der Vergangenheit ist es hin und wieder vorgekommen, daß wir im Rechnungsprüfungsausschuß den Vorschlägen des Bundesrechnungshofes nicht folgen konnten. Das lag daran, daß der Bundesrechnungshof nach unserer Auffassung seine Kompetenzen überschritt, indem er Gesetzesänderungen und Einsparungen anregte, die mehr von politischen als haushaltsrechtlichen Motiven geprägt waren. Beispiel: Bundesschuldenverwaltung. Der Bundesrechnungshof schlug eine Auflösung der Führung von Schuldbuchkonten bei der Bundesschuldenverwaltung vor. Das heißt im Klartext, daß die von der Schuldenverwaltung kostenlos geführten Depots vor allen Dingen für Kleinsparer an die Banken abgegeben werden sollten. Nach Abwägung aller Vor- und Nachteile folgte die Mehrheit des Rechnungsprüfungsausschusses meinem Vorschlag auf Beibehaltung der Einzelschuldbuchkonten bei der Bundesschuldenverwaltung. ({2}) - Natürlich. Das ist ein Erfolgserlebnis. Das muß man schließlich auch einmal sagen. An einigen Punkten werde ich darstellen, wo wir den Bundesrechnungshof voll und ganz unterstützen, wo wir meinen, daß seine Kompetenzen noch erweitert und gestärkt werden müssen. Meine Damen und Herren, es wurde schon mehrfach gesagt: Der Staat ist einer der größten Nachfrager bei der privaten Wirtschaft, vor allem im Rüstungsbereich. Wir alle wissen aus Erfahrung, daß es in der Vergangenheit vor allem bei Großprojekten immer wieder zu Unregelmäßigkeiten, insbesondere zu Bestechungsaffären gekommen ist. Aber auch die regelmäßig eintretenden exorbitanten Preissteige11388 rungen sind hier zu nennen. Ich kann mich hier dem anschließen, was Kollege Sieler und Kollege Zywietz zu diesem Punkt gesagt haben. Der Jäger 90 ist dafür ein weiteres unrühmliches Beispiel. Nachdem im letzten Jahr, als die Beschaffung anstand, die Industrie versicherte, es sei von einer durchschnittlichen Preissteigerungsrate von 3,5 % auszugehen, liegen die neuesten Preisforderungen bereits bei rund 5 %. Und auch das ist noch Schönfärberei. Wir können also davon ausgehen, daß das Ende der Preissteigerung auch beim Jäger 90 noch längst nicht erreicht ist. ({3}) Um so wichtiger wäre es, daß der Bundesrechnungshof endlich die Möglichkeit erhält, bei den Unternehmern vor Ort selbständig zu prüfen und nicht nur begleitend, wie es jetzt der Fall ist, ({4}) ob diese Preise gerechtfertigt sind. Der Bundesrechnungshof hat ein solches Recht immer für sich gefordert, ist jedoch bei der Bundesregierung, insbesondere im Wirtschaftsministerium, bei Minister Bangemann, Minister Haussmann, auf taube Ohren gestoßen. Insofern, Herr Kollege Zywietz, muß ich mir schon erlauben, hier zu sagen: Sagen Sie das, was Sie hier ankündigen, Ihren Ministern. Die blocken schließlich ab, daß der Rechnungshof hier prüfen kann. ({5}) Das haut so nicht hin. Mit den abwegigsten Argumenten wird versucht, erweiterte Prüfungsrechte für den Bundesrechnungshof zu torpedieren. Angeblich soll die marktwirtschaftliche Ordnung in Gefahr sein, wenn der Bundesrechnungshof Rüstungsunternehmen prüfen könne. Dabei, meine Damen und Herren, ist es im Mutterland des Kapitalismus - ich meine die USA - gang und gäbe, daß der Rechnungshof die dem Staat in Rechnung gestellten Selbstkostenpreise der Unternehmen prüft. Bei uns dagegen setzt sich die Regierung über Beschlüsse des Rechnungsprüfungsausschusses und des Haushaltsausschusses hinweg. Gerade heute habe ich da eine Niederlage erlitten; vorhin habe ich in einem anderen Zusammenhang von einem Erfolg gesprochen. Da wurde nämlich mit Zustimmung auch der SPD dieser Punkt heute von der Tagesordnung abgesetzt. Das muß ich hier einfach sagen. So sind die Tatsachen. Es wurde auf die Haushaltsberatungen vertröstet. Deshalb kann ich zu diesem Punkt nur sagen: Ich höre immer Ihre Worte; aber an den Taten soll man Sie doch erkennen. ({6}) Es ist jedoch nicht so, daß nur bei großen Beschaffungsvorhaben der Wurm drin ist. Auch bei ganz einfachen, alltäglich wiederkehrenden Einkäufen scheint innerhalb des Verteidigungsressorts manchmal die eine Hand nicht zu wissen, was die andere macht. So sind z. B. von einer Beschaffungsstelle Bekleidungssäcke zum Stückpreis von 83,75 DM und weitere, genau identische Bekleidungssäcke bei einer anderen Firma zum Stückpreis von 910 DM - das ist mehr als das Zehnfache - angeschafft worden. ({7}) Ein anderer Bereich, der dringend der verstärkten Kontrolle durch den Bundesrechnungshof bedarf, ist der der öffentlichen Unternehmen. Die skandalösen Vorgänge aus der letzten Zeit um die mögliche Berufung des früheren Regierungssprechers Friedhelm Ost auf den Vorstandsposten einer bundeseigenen Bank zeigen, daß die Bundesregierung offenbar öffentliche Unternehmen als Auffangbecken für abgeschobene Poltiker verwenden möchte. Das finden wir nicht gut. Öffentliche Unternehmen als Selbstbedienungsladen für die Regierungsparteien - das scheint das Motto zu sein, nach dem der Finanzminister hier arbeitet. ({8}) Dies beweist auch der Vorgang um Verluste in Millionenhöhe bei der Deutschen Pfandbriefanstalt, die Sie, Herr Kollege Sieler, schon angesprochen haben. Dort hat ein Vorstandsmitglied im Rahmen gerichtlicher Auseinandersetzungen für das Unternehmen Vergleiche geschlossen, die zu Millionenverlusten führten. Obwohl dieser Sachverhalt bekannt war, hat die Hauptversammlung den Vorstand entlastet, und der Verwaltungsrat hat das betreffende Vorstandsmitglied für fünf weitere Jahre bestellt. Da sage noch einer, Unfähigkeit lohne sich nicht! Was muß das aber für ein Verwaltungsrat sein, der eine solche Entscheidung trifft? In der Tat: Wenn man sich den Verwaltungsrat genauer betrachtet, dann stellt man fest, daß alle hier im Bundestag vertretenen Parteien, leider auch die SPD - die GRÜNEN sind dort nicht vertreten -, einschließlich Beamten des Finanzministerium in diesem Verwaltungsrat als sogenannte Aufpasser tätig sind. Und das kommt dabei heraus. Das ist außerordentlich traurig. Fazit: Der Bundesrechnungshof ist ein wichtiges Instrument der Kontrolle der Haushaltspolitik. Bedauerlicherweise wird er von dieser Regierung nicht entsprechend ernst genommen, geschweige denn unterstützt. Wenn er schon begleitend bzw. im vorhinein prüft wie bei der geplanten Fusion MBB/Daimler, wird das Ergebnis, nämlich daß eine Verringerung der Airbus-Subventionen nicht zu erwarten ist, von dieser Regierung ähnlich gewichtet, als ob es die Meinung der GRÜNEN wäre. Das ist leider die Realität, trotz aller netten Ausführungen der CDU- und auch FDP-Kollegen gerade jetzt. Trotz allem muß ich sagen: Die Arbeit im Rechnungsprüfungsausschuß macht Spaß. - Dem Vorsitzenden die besten Wünsche für Brüssel! ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Friedmann.

Prof. Dr. Bernhard Friedmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000589, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich für die anerkennenden Worte von Karl Deres, Wolfgang Sieler, Werner Zywietz und auch von Ihnen, Frau VenneDr. Friedmann gerts, sehr herzlich bedanken. Ich habe mich darüber sehr gefreut. Wer unsere Diskussionen verfolgt oder hinterher das Protokoll nachliest, dem wird auffallen, welch sachlichen und doch freundschaftlichen Umgangston wir miteinander haben, soweit wir diesem Ausschuß angehören. Dieser Umgangston beruht nicht nur auf persönlicher Wertschätzung, die wir gegeneinander haben, sondern er beruht auch auf der gemeinsamen Einsicht, daß Finanzkontrolle Aufgabe nicht nur der Opposition, sondern des ganzen Parlaments ist. Ich muß dies immer wieder sagen, weil ich bei der Tagesarbeit immer wieder feststelle, wie manches Regierungsmitglied überrascht ist, daß wir miteinander so kritisch umgehen. Aber ich denke, dies dient der Sache. Wir reden über die Entlastung der Bundesregierung. Die Regierungsbank ist zwar mit Innenminister Schäuble und den Parlamentarischen Staatssekretären Dr. Voss und Willi Rawe qualitativ hervorragend besetzt, aber wie in den Vorjahren ist hinsichtlich der quantitativen Besetzung unser Wunsch nicht ganz erfüllt. Daraus darf man aber keinen falschen Eindruck gewinnen; denn bei unserer täglichen Ausschußarbeit finden wir viel Interesse, eine gute Zuarbeit durch die Regierung und durch die anderen Ausschüsse. Die Arbeit des Rechnungsprüfungsausschusses wird anerkannt. Am Montag letzter Woche hat der Präsident des Bundesrechnungshofes den INTOSAI-Kongreß - Herr Deres hat sich darauf bezogen - in Berlin eröffnet. Er zitierte am Anfang einen britischen Staatsmann, der schon vor 200 Jahren gelebt hat, nämlich William Pitt den Älteren. Dieser sagte folgendes: Unbegrenzte Macht ist geeignet, die Seele derjenigen zu verderben, die diese Macht besitzen. ({0}) Üblicherweise und nicht zu Unrecht schreibt man die Macht den Regierenden zu. Niemand von uns will, daß die Seele der Regierenden verdirbt. Deshalb ist es unsere Aufgabe, die Macht zu kontrollieren. Keinem anderen Zweck dient unsere Aufgabe im Rechnungsprüfungsausschuß. Wir hatten auch durchaus kritische Diskussionen mit dem Bundesrechnungshof. Einerseits benötigen wir ihn sehr dringend, um die Finanzkontrolle ausüben zu können; wir würden ja sonst mit der Stange im Nebel herumfuchteln. Andererseits haben wir auch manch kritische Diskussion mit dem Rechnungshof selber. So kamen wir auf die Frage: Ist der Bundesrechnungshof eigentlich sein Geld wert? Das war eine überraschende Frage, die manches Erstaunen ausgelöst hat. Wir haben darauf bestanden, daß da einmal eine saubere Nachkontrolle gemacht wird, die vom Finanzminister gegengezeichnet wird. Das Ergebnis war erstaunlich. Der Rechnungshof hat dargelegt, daß nach seiner Überzeugung in den Jahren 1989 bis 1992 insgesamt 2,6 Milliarden DM gespart werden können. In kritischer Diskussion haben der Rechnungsprüfungsausschuß und der Finanzminister einiges abgestrichen. Übrig geblieben sind für die vier Jahre 2,135 Milliarden DM. Das ergibt im Jahresdurchschnitt Einsparungsmöglichkeiten von 534 Millionen DM. Das ist ein Wort. Man kann also sagen: Der Rechnungshof ist auch aus unserer Sicht sein Geld wert. Auch aus diesem Grund - dabei ist die vorbeugende Wirkung noch gar nicht mitgezählt - wollen wir uns für seine Arbeit recht herzlich bedanken. Verschiedentlich ist angesprochen worden, daß der Wettbewerb bei der Auftragsvergabe des Staates nicht richtig funktioniert. Die CDU/CSU, die FDP und auch weite Teile der SPD bekennen sich mit Sicherheit zur sozialen Marktwirtschaft. In der sozialen Marktwirtschaft kommt es entscheidend auf den Wettbewerbspreis an. Wenn aber dieser Wettbewerbspreis ausgehebelt wird, indem nur wenige oder nur ein einziges Unternehmen als Auftragnehmer in Frage kommen, dann brauchen wir eben die zweitbeste Lösung. Das ist ein Erhebungsrecht des Rechnungshofes direkt bei einzelnen Firmen, soweit diese öffentliche Aufträge ohne Wettbewerb bekommen haben. ({1}) Nach bisheriger Auffassung darf der Rechnungshof das Verwaltungshandeln prüfen. Er kann also prüfen, ob die Preisprüfer richtig prüfen. Aber er darf nicht selber - wie Sie, Frau Vennegerts, gesagt haben - Erhebungen anstellen, wie es beispielsweise in den USA möglich ist. Das ist der Grund, weshalb wir hier in der Tat eine Änderung haben wollen. Ich habe in dieser Hinsicht manches harte Gefecht hinter mir; Sie wissen es. Wir werden da auch nicht nachgeben. Wir werden dafür im Haushaltsgesetz eine gesetzliche Grundlage schaffen. Es gibt ordnungspolitische Bedenken - ich kenne sie - , und es gibt wettbewerbsmäßige Bedenken; ich kenne diese auch. Aber wenn der zentrale Preis, nämlich der Wettbewerbspreis ausgehebelt wird, müssen wir, wie gesagt, nach der zweitbesten Lösung suchen. Wer sagt, es gebe doch schon die Preisprüfung, was wollt ihr denn noch, der möge bedenken: Die Preisprüfung ist Sache der Länder. Welcher Landesbeamte ist bereit, ein Unternehmen zu kritisieren, an dem sein Land beteiligt ist? Wenn er den Mut dazu hat, kann er seine Karriere als beendet ansehen. ({2}) Man muß auch wissen, daß die Preisprüfung eine andere Aufgabenstellung hat. Bei der Preisprüfung kommt der fiskalische Aspekt des Bundes nicht zum Tragen. Unter diesem Gesichtspunkt findet Preisprüfung nicht statt. Vor allen Dingen läßt die Preisprüfung die für uns so wichtige kalkulatorische Nachkontrolle nicht zu. Dies ist der eigentliche Grund, weshalb wir auf dem Erhebungsrecht bestehen müssen. ({3}) In letzter Zeit ist auch hier im Hohen Hause so manches Buch verteilt worden, das sich mit Staatsrecht befaßt. Ich stoße mich immer wieder daran, daß zwar von der Kontrolle der Exekutive durch das Parlament die Rede ist, aber die Finanzkontrolle als Beispiel dafür fast nirgendwo aufgeführt wird. ({4}) Es ist dringend notwendig, daß die politischen Wissenschaften und die Staatswissenschaften dieses Thema aufarbeiten. Es gibt kaum eine Universität, auf der dieses Stoffgebiet abgehandelt wird. Das gehört mehr in die Lehrbücher, das gehört auch an die Universitäten. Professor Diederich, vielleicht werden Sie es auch bei Ihrer Arbeit umsetzen können. Ich würde mich freuen, wenn ich einen praktischen Hinweis gegeben haben sollte. ({5}) Wir waren ja bemüht, den Rechnungshof auch beratend immer stärker an das Parlament heranzuführen. Nicht zuletzt diente dem die letzte Änderung des Bundesrechnungshofgesetzes, die wir betrieben und durchgesetzt haben. In der Verfolgung dieses Anliegens kam es zu einigen Reibereien mit Ministerien. Welcher Verteidigungsminister freut sich schon, wenn der Rechnungshof plötzlich Überlegungen anstellt, ob die moderne Technik des Tornados noch durch den Menschen beherrschbar sei? ({6}) Welcher Verteidigungsminister akzeptiert, wenn der Rechnungshof plötzlich prüft, ob in einen Panzer die richtige Kanone eingebaut wird? Welcher Verteidigungsminister ist glücklich darüber, wenn der Rechnungshof meint, die Fregatten sollten nicht jetzt, sondern ein paar Jahre später angeschafft werden? Ich habe Verständnis für solchen Unmut. Aber Wesen der Finanzkontrolle ist es eben, durch die Zahlen hindurchzuschauen. Finanzkontrolle besteht auch darin, daß man nicht erst dann prüft, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Vielmehr gehört zur Finanzkontrolle auch, daß man sich prüfend einschaltet, wenn finanzwirksame Entscheidungen getroffen werden, um Schaden zu verhindern. ({7}) Diesem Gesichtspunkt muß in Zukunft, obwohl wir miteinander schon recht weit gekommen sind, mehr Beachtung geschenkt werden. Alles in allem glaube ich sagen zu können, daß wir in der Bundesrepublik die Finanzkontrolle - ich verwende bewußt dieses Wort, weil sich das Wort „Rechnungsprüfung" so bürokratisch anhört - auf einen erheblichen Stand gebracht haben. Wenn es immer wieder Kolleginnen und Kollegen gibt, die meinen, sie hätten auf die Regierung keinen Einfluß oder sie hätten hier im Parlament kein Gebiet, auf dem sie gestaltend tätig werden könnten, so kann ich Ihnen nur empfehlen, sich dem Gebiet der Finanzkontrolle zuzuwenden. Hinter den Zahlen steckt harte Politik. Wer immer sich wundert, weshalb sich Finanzkontrolleure mit der sachlichen Politik befassen, der sollte diesen Zusammenhang durchschauen, und dann wird er gerne auf uns zustoßen. Schönen Dank, daß Sie mir zugehört haben. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Ich darf mir erlauben, Ihnen auch von hier aus, Herr Dr. Friedmann, noch einmal herzlichen Dank zu sagen und Ihnen alles Gute für Ihre zukünftige Arbeit zu wünschen. ({0}) Wir kommen jetzt zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses auf Drucksache 11/4782. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Gegenstimme ist die Beschlußempfehlung angenommen. Zu Tagesordnungspunkt 8 b. Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag des Präsidenten des Bundesrechnungshofs auf Drucksache 11/4599 an den Haushaltsausschuß zu überweisen. - Kein Widerspruch. So beschlossen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 9 auf: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Katastrophenschutzgesetzes und anderer Vorschriften ({1}) - Drucksache 11/4728 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({2}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Verteidigungsausschuß Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Helfer der Bundesanstalt Technisches Hilfswerk ({3}) - Drucksache 11/4731 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({4}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß c) Erste Beratung des von der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Achtunddreißigsten Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes ({5}) - Drucksache 11/3045 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß ({6}) Innenausschuß Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß Im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes 30 Minuten vereinbart worden. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Bundesminister des Innern, Herr Dr. Schäuble.

Dr. Wolfgang Schäuble (Minister:in)

Politiker ID: 11001938

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit den EntwürBundesminister Dr. Schäuble fen eines Katastrophenschutzergänzungsgesetzes und eines THW-Helferrechtsgesetzes bekennt sich die Bundesregierung zur verfassungsmäßigen Pflicht des Bundes, der Bevölkerung in Notlagen durch organisierte Hilfe beizustehen. Die Bundesregierung nimmt diese Verpflichtung ernst. Der Bund bringt jährlich rund 400 Millionen DM für das gemeinsame Hilfeleistungssystem von Bund und Ländern auf. Er finanziert u. a. über 7 000 Einheiten mit über 140 000 Helfern von Feuerwehren, Sanitätsorganisationen und Technischem Hilfswerk. Er trägt damit ganz wesentlich bei zu dem Schutz, den Länder und Gemeinden bei der Bekämpfung von Unglücksfällen und Katastrophen leisten können und geleistet haben. Ich erinnere an das Jahrhunderthochwasser im vergangenen Jahr am Rhein, an Donau und Mosel oder das Tankwagenunglück in Herborn, an die Flugzeugabstürze in Ramstein oder Remscheid. Ich erinnere aber auch an humanitäre Hilfe im Ausland wie die beispiellose Hilfe für die von der Erdbebenkatastrophe betroffenen Menschen in Armenien. Ich möchte an dieser Stelle den vielen Helfern im Katastrophenschutz namens der Bundesregierung sehr herzlich danken. ({0}) Sie leisten Jahr um Jahr Dienst am Nächsten: unter Zurückstellung eigener Interessen, oft genug unter Gefahr für Leib und Leben und keineswegs immer nur im Lichte der Öffentlichkeit. Der nunmehr von der Bundesregierung eingebrachte Entwurf eines Katastrophenschutzergänzungsgesetzes rundet die Vorsorgemaßnahmen des Bundes auf gesetzlichem Gebiet ab. Das Katastrophenschutzgesetz soll nach jahrelangen Diskussionen nunmehr teilweise erneuert und fortgeschrieben werden. Vor allem gilt es, rechtliche Lücken zu schließen, die die Leistungsfähigkeit des Katastrophenschutzes beeinträchtigten. Durch den Gesetzentwurf erfüllt die Bundesregierung auch ihre humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung, der Bevölkerung in Katastrophen, einschließlich des Verteidigungsfalles, staatliche Hilfe zu leisten. Die Genfer Rot-Kreuz-Abkommen, vor allem die Zusatzabkommen hierzu, deren Ratifizierung von allen im Deutschen Bundestag vertretenen Parteien gefordert wird, ({1}) gehen davon aus, daß alle zivilisierten Staaten die ihnen möglichen Maßnahmen ergreifen, um der Bevölkerung auch im Falle einer militärischen Auseinandersetzung Hilfe leisten zu können. Dies ist ein Gebot der Menschlichkeit. Und wer sich ihm verweigert, muß wissen, daß er die Verantwortung dafür trägt, wenn wirksame Hilfe nicht geleistet werden kann. Ich begrüße es, daß über die notwendigen Verbesserungen des Katastrophenschutzrechts mit den humanitären Hilfsorganisationen, dem Deutschen Feuerwehrverband, der Bundesärztekammer und den ärztlichen Verbänden ein breiter Konsens erzielt worden ist. Der Entwurf eines THW-Helferrechtsgesetzes verfolgt das Ziel, die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk und die Rechtsverhältnisse ihrer Helfer auf eine gesicherte gesetzliche Grundlage zu stellen. Dies haben die Gerichte seit geraumer Zeit gefordert; nunmehr wird es realisiert. ({2}) Gegenstand dieser Debatte, Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ist außer den beiden Gesetzentwürfen der Bundesregierung auch eine Initiative der GRÜNEN zur Aufhebung der Art. 80 a und 12a Abs. 5 und 6 des Grundgesetzes. Diese Verfassungsbestimmungen sind wesentlicher Inhalt der Notstandsverfassung. Sie sind im Jahre 1968 in das Grundgesetz aufgenommen worden. Sie ermöglichen ein Höchstmaß parlamentarischer Kontrolle in der Krise. ({3}) Denn sie machen die Anwendung der Sicherstellungsgesetze und der auf ihnen beruhenden Rechtsverordnungen von einer Zweidrittelmehrheit des Deutschen Bundestages abhängig. Angesichts der mit der Anwendung dieser Gesetze verbundenen erheblichen Eingriffe in das öffentliche Leben halte ich die Entscheidung von damals auch heute für richtig. Die Bundesrepublik Deutschland hat eine Notstandsverfassung, die auch im Falle einer außenpolitischen Krise den Anforderungen des Rechtsstaates und der demokratischen Legitimation in höchstem Maße entspricht. Es gibt keinen Anlaß, an der Entscheidung des Verfassungsgesetzgebers zu rütteln und eine, wie ich meine, höchst unnötige Notstandsdiskussion wieder zu entfachen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Nöbel.

Dr. Wilhelm Nöbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001617, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Minister, wir sind uns in einem einig: Wir wollen das würdigen und weiter gemeinsam fördern, was alle ehrenamtlichen Helfer in diesen Organisationen, die wir gemeinsam schätzen, angefangen von den Feuerwehren bis hin zum Roten Kreuz, Arbeiter-Samariter-Bund, Johanniter-UnfallHilfe, Malteser-Hilfsdienst, seit eh und je leisten. ({0}) Eines muß ich sagen: Es gibt in dem Gesetzentwurf einen Drive, wo wir vielleicht verschiedener Meinung sein können; aber - Herr Neusel sitzt neben Ihnen - wir haben damals einiges ausgehandelt und haben gemeinsam einiges zugunsten der ehrenamtlich Tätigen zuwege gebracht. Ich bin sehr dankbar, daß sich das im Entwurf niederschlägt. Es geht heute um nichts anderes als um die Überweisung von drei Vorlagen. Das machen wir. Ich denke, wir sollten im Gespräch mit den Partnern, die das im wesentlichen ehrenamtlich machen, versuchen, das, was vorgelegt worden ist, noch zu verbessern. Wir wollen heute keinen Streit. Sie sehen: Ich schöpfe meine Redezeit von zehn Minuten nicht aus, Frau Präsidentin. Ich denke, das war aber doch eine ganz gute Rede, und deshalb mache ich jetzt Schluß. Schönen Dank. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Dankbarkeit hat gar keine Grenzen. Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Kalisch.

Joachim Kalisch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001059, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich werde, lieber Herr Kollege Nöbel, ein paar Minuten länger reden, meine Zeit aber auch nicht voll ausschöpfen. Am 3. Juli 1980 beschlossen alle Parteien im Deutschen Bundestag, die Bundesregierung aufzufordern, die Zivilschutzgesetzgebung zu vereinfachen und zu verbessern sowie - das erwähnten Sie auch - das Recht der freiwilligen Helfer im Einsatzfall verbindlich zu regeln. Jetzt, im Jahre 1989, liegen uns zwei Gesetzentwürfe der Bundesregierung vor, die in etwa den damaligen Beschluß realisieren werden. Es hat also neun Jahre gedauert. Das ist keine Kritik, aber ich muß schon sagen: Diejenigen, die sich mit der Materie befaßt haben, wissen, wie schwer wir es uns manchmal selbst machen, sogar bei selbstverständlichen Notwendigkeiten die Initiative zu ergreifen. Ich will nicht klagen, sondern dafür danken, daß wir heute über diese Gesetzentwürfe reden können, daß sie eingebracht werden. Sie schließen Lücken - das sagte der Minister bereits - in den vorhandenen Gesetzen. Die Verbesserung des Zivil- und Katastrophenschutzes dient vorrangig dem Schutz der Bevölkerung vor Gefahren aller Art, seien es Katastrophen oder große Unglücksfälle, seien es Naturkatastrophen oder auch bewaffnete Auseinandersetzungen. Das integrierte Hilfeleistungssystem, das Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam erstellt haben, ist hervorragend geeignet, den Bürgern in jedweden Ausnahmesituationen helfen zu können. ({0}) Alle einschlägigen Gesetze dienen - ich wiederhole es - dem Schutz der Bevölkerung, dienen ausschließlich humanitären Zielen und berücksichtigen dabei auch den Sinn - das hat der Minister auch angeschnitten - und den Inhalt der Genfer RotKreuz-Abkommen. Wer diese für den Staat selbstverständliche Pflicht zum Schutz seiner Bürger als Kriegsvorbereitung bezeichnet, wie ich das in Diskussionen sehr häufig höre - ({1}) natürlich besonders von Ihnen - , handelt entweder dumm oder unwissend. ({2}) Er weiß genau, daß hier die Bevölkerung geschützt wird. Ein wichtiger Bestandteil ist die erweiterte Einbeziehung der Hilfsorganisationen, die bereits seit Jahrzehnten in Praxis und Ausbildung wesentlich dabei und tragende Säulen im erweiterten Katastrophenschutz sind. Die Organisationen wie auch der Staat können dabei erwarten, daß ihr Verhältnis zueinander rechtlich und gesetzlich geregelt wird. Mit diesem Entwurf des Katastrophenschutzergänzungsgesetzes wird dem Rechnung getragen und sichergestellt, daß die Organisationen künftig ausreichend vertreten sind und über eine angemessene Beteiligung verfügen. Die vorgesehenen Regelungen betreffen nicht nur den Aufgabenbereich des erweiterten Katastrophenschutzes, sondern ändern auch u. a. die Rechtsgrundlage des Technischen Hilfswerks und bewirken eine Verbesserung der gesundheitlichen Vorsorge und die Anpassung der Rechte und Pflichten der Beamten an die besonderen Erfordernisse im Spannungs- und Verteidigungsfall. Vor allem erhält die Bundesanstalt Technisches Hilfswerk die von der Rechtsprechung verlangte gesetzliche Grundlage sowie eine gesetzliche Regelung des Rechtsverhältnisses zu ihren Helfern. Insbesondere letztere Neuregelung ist für den öffentlich-rechtlichen Bereich des THW dringend erforderlich. Über 49 000 Bürger, die freiwillig im Technischen Hilfswerk engagiert sind, wie selbstverständlich auch die über 35 000 Helfer in den humanitären Hilfsorganisationen finden sich zu ehrenamtlichen Diensten bereit, opfern Freizeit, oftmals viele Wochenenden im Jahr, um regelmäßig zu üben, damit im Einsatzfall Leben und Gesundheit anderer gerettet werden können. Diese Menschen haben den Anspruch, in ihrer Tätigkeit für die Allgemeinheit rechtlich gesichert zu sein, und, meine Damen und Herren, sie haben Anspruch auf unseren Dank. Das THW-Helferrechtsgesetz ist hier gesondert aufgeführt. Das hat - lassen Sie mich das an dieser Stelle noch sagen - den Sinn, daß auch auf diesem Gebiet die Rechtseinheit zwischen Berlin und dem übrigen Bundesgebiet gewahrt bleibt. - Die Verbesserungen im Bereich der gesundheitlichen Vorsorge sind ein Schritt in die richtige Richtung, aber es könnte hier noch mehr getan werden. Lassen Sie mich allen diesen Organisationen danken. Lassen Sie mich aber auch den Kollegen im Innenausschuß danken. Danken möchte ich auch dem Kollegen Gerster, der auch hier, immer wenn es klemmte, seine Unterstützung nicht versagt hat. Ich habe mich sehr kurz gefaßt; eigentlich hatte ich mehr Minuten, als jetzt vergangen sind. Ich freue mich auf die Diskussion in den Ausschüssen und danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Schilling.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was die Bundesregierung erst gestern als Bundestagsdrucksache bekanntgemacht hat und noch vor der Sommerpause auf die Tagesordnung gedrückt hat, steht unter dem verharmlosenden Titel „Katastrophenschutz". Wir sollten hier der Kritik vieFrau Schilling ler Bundesländer folgen. Der Bund soll sich nicht in Länderangelegenheiten einmischen; er soll mit seinen Katastrophen gefälligst in Bonn bleiben. Denn in Art. 73 des Grundgesetzes, der die ausschließliche Gesetzgebung regelt, steht nichts von Katastrophenschutz. Dort steht nur etwas von Verteidigung einschließlich Zivilschutz gegen Kriegsfolgen. ({0}) Es geht der Bundesregierung mit diesem Gesetzentwurf darum, der Bevölkerung eine bessere Versorgung bei Katastrophen vorzugaukeln, und zwar unter Hinweis auf Industrie- und Alltagsgefahren und unter eiskalter Ausnutzung des Tschernobyl-Schocks. Es geht der Bundesregierung nicht um den Schutz der Bevölkerung, denn dann hätte sie längst das Verfahren zur Ratifizierung der Zusatzprotokolle zum Genfer Abkommen einleiten können. Seit zehn Jahren weigert sie sich beharrlich. Es geht der Bundesregierung vielmehr darum, Maßnahmen zur Mobilmachung der Heimatfront zu treffen und eine Erhöhung der Militärakzeptanz zu erreichen, ({1}) indem sie kriegsbezogene Dienstpflichten für Männer und Frauen, für Beamtinnen und Beamte und für ehemalige und derzeitige Gesundheitsberufler und -beruflerinnen plus organisatorische Kriegsanpassung des Gesundheitsbereichs einführen will. ({2}) Mit unserem Gesetzentwurf zur Änderung des Grundgesetzes, der bei diesem Punkt mit beraten wird, geht es uns darum, die den Kriegsdienstpflichten zugrunde liegenden Ermächtigungen in Art. 12 a des Grundgesetzes abzuschaffen und zu verdeutli:hen, daß Art. 80a des Grundgesetzes eine bloße Fiktion parlamentarischer Notstandsmitbestimmung ist, weil er u. a. schon mangels Definition des sogenannten Spannungsfalles in Wahrheit nur der NATO und den US-Militärs die Initiative überläßt. ({3}) - Nein, das ist keine Phantasie, sondern wir befinden uns mit dieser Meinung schon in guter Gesellschaft. Vielleicht kapieren Sie es eines Tages ja auch noch. ({4}) - Ja, das weiß ich. Deswegen bin ich dagegen. ({5}) Am Ausbau der Zivilverteidigung wird seit zehn Jahren herumgebastelt. In all der Zeit ist es nicht mögich gewesen, die fachlich wohlbegründeten Einwände gegen die zentralen Inhalte dieser Vorlage inzuarbeiten. Es ist nicht möglich gewesen, den Schwur der Minister, nämlich Schaden vom Volk abzuwenden, als oberste Maxime anzusetzen. So haben wir heute nicht nur einen juristisch-handwerklich abenteuerlichen, sondern auch einen konzeptionell kurzatmigen, unausgreiften Entwurf vorliegen. Statt die veränderte Lage in der Weltpolitik, die letzte Woche hier in Bonn noch als historisches Ereignis gefeiert wurde, wenigstens ansatzweise zu überdenken, wird hier versucht, mit der Brechstange und sogar gegen Ihre eigenen Beteuerungen Ihre Zivilverteidigungsanstrengungen platt vorzuschreiben. Dabei schrecken Sie auch nicht davor zurück, die verfassungswidrige Mischverwaltung und Zweckentfremdung von allein kriegsbezogenen Bundeshaushaltsmitteln im sogenannten friedensmäßigen Katastrophenschutz vorzuschreiben. Die brisanten Einzelregelungen des Entwurfs, also die bereits erwähnten Dienstpflichten, sind auch von Kollegen der Koalitionsfraktionen bereits zutreffend als Aprilscherz charakterisiert oder gar abgelehnt worden. - Gut, daß Sie auf seiten der FDP dabei husten. ({6}) - Aprilscherz oder Ablehnung, das kam von Ihrer Seite. ({7}) Auch der Präsident des Bundesamtes für Zivilschutz äußerte vernichtende Kritik. Die Fachministerien der A- und der B-Länder haben die wesentlichen Punkte durchweg und prinzipiell abgelehnt, und Sie legen hier so etwas vor. Asterix würde sagen: Die spinnen, die Bonner. ({8}) - Nein, Asterix.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich wollte es an sich auch so nett machen wie der Kollege Nöbel, dem ich zu seiner Rede gratuliere. Aber die letzte Rede, die wir eben gehört haben, ist natürlich eine Herausforderung. Ich frage mich, über welches Gesetz Sie eigentlich gesprochen haben. Sie haben offenbar eine ganz andere Drucksache als wir. Es ist so: Es gibt drei Gesetzentwürfe. Einer stammt von Ihnen, von dem wir annehmen, daß er in der Erwartung eingebracht wurde, daß der Mangel an Ernsthaftigkeit nicht verkannt wird. Da schlagen Sie vor, den Art. 80a abzuschaffen, d. h., die Beteiligung dieses Bundestages, des Parlamentes, an der Feststellung, ob ein Spannungsfall vorliegt, abzuschaffen. Das ist eine entscheidende Rechtsveränderung für jeden Bürger im Lande. Wir denken nicht daran, bei dieser wichtigen Entscheidung den Bundestag auszuschalten. ({0}) Wenn wir oder die Bundesregierung einen solchen Vorschlag machen würden, dann würden Sie sich hier mit geschwollener Brust hinstellen und sagen, das sei nun wirklich das Letzte an Kriegsvorbereitung. Aber wenn Sie diesen Antrag bringen, dann ist das auf einmal ein Ausbund an Friedensbewahrung. Das kann ich nicht mehr verstehen. Das zweite Gesetz, über das wir reden, ist das THWHelferrechtsgesetz. Da sind wir unabhängig vom Inhalt der Meinung: Das ist zu lang geraten, das muß etwas gekürzt werden, das wird auch gehen. Die dritte, entscheidende Gesetzentwurf ist das Katastrophenschutzergänzungsgesetz. Dazu muß man sagen, daß der wesentliche Kern dieses Gesetzentwurfs ist, für den Schutz der Bevölkerung das Menschenmögliche zu tun, die freiwilligen Organisationen - Herr Nöbel hat sie aufgezählt: Arbeiter-Samariter, Rotes Kreuz, DLRG, Malteser, Johanniter, die Feuerwehren, das THW ({1}) so auszubilden, so auszurüsten, die Helfer so zu schulen, daß sie ihre Arbeit im Interesse der Bevölkerung so gut wie möglich ausführen können. Natürlich werden sie eingesetzt, nicht nur im Spannungsfall oder im Verteidigungsfall; sie werden natürlich in den vielen Vorgängen des täglichen Lebens eingesetzt. Sie werden möglicherweise bei der nächsten Großveranstaltung Ihren Nutzen davon haben. Das ist der Kern dieses Entwurfs. Wer sagt, daß der Versuch, auf die Rettung von Menschenleben vorzubereiten, ein Abbau von Hemmnissen oder eine Vorbereitung für einen Krieg ist, der muß in dem Deutschen Roten Kreuz die größte Kriegsförderungsgesellschaft unserer Zeit sehen, und er muß fordern: Zurück zu den Schlachtfeldern von Solferino! ({2}) Das ist doch die Logik Ihrer Argumentation, die man nicht mehr begreifen kann. Wir haben diesen Gesetzentwurf von einer Reihe von Vorstellungen befreit, die ursprünglich einmal darin enthalten waren: kein Zwang mehr zum Bau von Luftschutzkellern, natürlich keine allgemeine Zivildienstpflicht für den Verteidigungsfall, sondern eine persönliche, einzelfallbezogene Hilfeleistung, die für einen normalen Menschen sowieso eine Selbstverständlichkeit ist, daß man dann, wenn es brennt, bereit ist, zu helfen. Wir sind der Meinung, daß der einfache und der erweiterte Katastrophenschutz in unserem Land nur funktioniert auf der Basis der Freiwilligkeit und nach dem Grundsatz der bestmöglichen Zusammenarbeit mit den Freiwilligen-Organisationen ({3}) Darum ist es so wichtig, daß der Inhalt dieses Entwurfes und dieses Gesetzes auch noch einmal akribisch mit den Organisationen abgestimmt wird, die wir genannt haben und die im freiwilligen Katastrophenschutz eingesetzt werden. Das werden wir tun, und wir sind ziemlich sicher, daß wir diese Gesetze noch im Laufe dieses Jahres durch die dritte Lesung bringen können. Im übrigen: Es gilt auch der geschriebene Text, damit das, was über die Pressestellen verbreitet wird, auch legitimiert ist. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Guten Abend, meine Damen und Herren! Herr Hirsch, es tut mir leid, aber Sie bemühen sich genauso wie Herr Nöbel, nur mit einer anderen Art des Vorgehens, den politisch brisanten Kern dieser beiden Gesetze, die nicht von den GRÜNEN eingebracht wurden, zu verwischen. Es geht genau um das, was wir heute an einem anderen konrekten Beispiel im Innenausschuß lange debattiert haben, nämlich um die Vermischung von zivilem und militärischem Leben. Dort ging es darum, ob die Bundeswehr der Polizei Amtshilfe leisten darf. Hier haben wir exakt eine ähnliche Konstellation, nämlich die, daß der sogenannte Zivilschutz in den Katastrophenschutz hineingezogen wird und eine Vermengung der Kapazitäten vor allen Dingen aus dem Katastrophenschutz auch für die Kriegsvorbereitungsstrategien stattfindet. Vor allen Dingen haben Sie folgendes ignoriert: Im Auftrag des Bundestags-Haushaltsausschusses prüft der Bundesrechnungshof seit geraumer Zeit - er ist längst noch nicht fertig - alle Teilbereiche des Zivilschutzes. Sämtliche bisher vorgelegten Teilgutachten zum Warndienst, zu den Hilfskrankenhäusern, zum Selbstschutz und zum erweiterten Katastrophenschutz, insbesondere zum Technischen Hilfswerk enthielten Auflistungen gravierendster Mängel und Forderungen nach einschneidenden Veränderungen. So soll der Warndienst völlig umorganisiert werden; dem aufgeblähten Bundesverband für den Selbstschutz soll durch eine organisatorische Straffung und konsequente Effektivitätskontrolle beigekommen werden; auf den weiteren Bau von Hilfskrankenhäusern sei überhaupt zu verzichten; das Technische Hilfswerk sei aufzulösen - so der Bundesrechnungshof - , und seine Aufgaben seien den Feuerwehren zu übertragen. Im erweiterten Katastrophenschutz gebe es mangels Bedrohungsanalysen - Frau Schilling nahm vorhin darauf Bezug, daß man diese aktuelle Entwicklung überhaupt nicht mehr wiederfindet, gerade bei diesen beiden Gesetzentwürfen - keine nachvollziehbaren Kriterien für die Aufstellung und Ausstattung der Fachdienste und -einrichtungen, dafür aber um so mehr organisatorische Mißwirtschaft. Dies, meine Damen und Herren, gerade von der Opposition zur Linken, ist Ihnen doch wohl nicht verlorengegangen. Und dann gehen Sie nach vorne und halten so eine flapsige Rede zu Gesetzentwürfen mit dieser Dimension in politischen Bereichen. Das ist mir schlicht unverständlich. ({0}) Daß Herr Hirsch sich dann bemüht hat - er gehört zur Regierungskoalition - , das hier elegant mit herüberzuziehen, dafür habe ich sehr viel Verständnis. Es geht weiter. Ähnlich verheerende Ergebnisse sind für die noch ausstehenden Teilprüfungen der Bereiche Trinkwasserversorgung, Kulturgutschutz, Sanitätsmittelbevorratung und Schutzbunker zu erwarten. Die Vorlage eines Gesetzentwurfs zur Festschreibung der solchermaßen kritisierten Praxis vor einer sorgfältigen Auswertung auch der letzten Gutachten kann nur als Versuch der Betroffenen verstanden werden - genau das findet heute abend auch statt - , mit einem legislativen Überrumpelungsmanöver ({1}) die eigene Existenz zu retten bzw. vollendete Tatsachen zu schaffen. ({2}) - Natürlich befinden wir uns in der ersten Beratung. ({3}) Nur, die Absurdität ist doch, heute, an einem Mittwochabend, zu einer solch ungünstigen Zeit in 30 Minuten drei solche komplexe Vorgänge über den Tisch zu ziehen. ({4}) In diesen beiden Gesetzentwürfen, auf die es mir bei meiner Kritik hier besonders ankommt, sind so gravierende Mängel vorhanden, die Sie alle auch kennen, daß Sie hier eine ganz andere Figur machen müßten, um zu verhindern, daß wir überhaupt über solch einen geistigen Schrott im Ausschuß und bei der zweiten und dritten Lesung verhandeln müssen. ({5}) Tatsächlich ist es so, daß zuallererst erstens eine aktualisierte und realistische Bedrohungsanalyse im Lichte dieser Entwicklung, zweitens Grundlagenstudien über die noch zu befürchtenden kriegsbedingten Schadenslagen - das hat sich doch auch alles geändert, nicht nur auf Grund der aktuellen Entwicklung -, drittens auf dieser Grundlage eine Überprüfung des etwa verbleibenden Stellenwerts von Zivilschutzmaßnahmen hätten durchgeführt werden müssen. Was wollen wir überhaupt noch mit solch einem Zivilschutz?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, das rote Licht - Wüppesahl ({0}) : Ich komme zum Schluß.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie sollen nicht zum Schluß kommen und dann noch zehn Punkte aufzählen. Ich habe Ihnen schon eine halbe Minute mehr gegeben. Nun bitte den Schlußsatz!

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Die vier Minuten; aber das Verfassungsgericht hat ja eh entschieden. ({0}) Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sehr schön. - Das Wort hat der Abgeordnete Nöbel. ({0})

Dr. Wilhelm Nöbel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001617, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe mich vorhin auf zwei Minuten beschränkt. Herr Kollege Wüppesahl, es ist eine erste Lesung. Es geht um drei Entwürfe, und die werden überwiesen. Ich habe im Einvernehmen mit der Regierung und den Koalitionsfraktionen klargemacht, daß wir wohl gemeinsam wissen, was Wir denen schulden, die in Friedenszeiten ehrenamtlich das alles für uns tun. Da sind wir uns einig. ({0}) Davon nehme ich nichts zurück. ({1}) Der Punkt ist doch, daß wir uns dann im federführenden Ausschuß und in den mitberatenden Ausschüssen darüber unterhalten: Wie sieht das denn bei diesen drei Entwürfen detailliert aus? Dabei werden wir zu unterschiedlichen Meinungen kommen, so sie so bleiben. Aber wir sind uns alle in diesem Haus einig, Herr Kollege Wüppesahl - deshalb bin ich noch einmal hierhergekommen; ich wollte das gar nicht - , daß es uns um den Katastrophenschutz im Frieden in erster Linie geht, wobei wir als Bundestag wissen, daß die Kompetenz für den Katastrophenschutz im Frieden zunächst einmal den Ländern zusteht. ({2}) - Hören Sie doch einmal zu! Sie können doch nicht blauäugig hingehen und hier Kriegserklärungen verbreiten. Das macht die SPD-Fraktion nicht mit. Um das zu sagen, habe ich mich noch einmal zu Wort gemeldet. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe - (Zuruf der Abg. Frau Schilling ({0}) Vizepräsidentin Renger - Seien Sie doch bitte einmal still! Frau Schilling, ich lese Ihnen gerade vor, worüber Sie abstimmen müssen. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/4728, 11/4731 und 11/3045 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. ({1}) Wer dem zuzustimmen wünscht, bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Gegen eine Stimme ist das so beschlossen. Zusätzlich sollen die Vorlagen zu Tagesordnungspunkt 9 a und zu Tagesordnungspunkt 9 b zur Mitberatung an den Rechtsausschuß und den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit überwiesen werden. Darüber hinaus wird interfraktionell vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/4728 - Tagesordnungspunkt 9 a - zur Mitberatung an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/4731 - Tagesordnungspunkt 9 b - zur Mitberatung an den Haushaltsausschuß sowie den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/3045 - Tagesordnungspunkt 9 c - zur Mitberatung an den Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und den Haushaltsausschuß zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN Umgang mit der sogenannten entarteten und mit der sogenannten schönen Kunst - Drucksachen 11/2646, 11/4300 Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag von bis zu 10 Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Das Haus ist damit einverstanden? - Das ist dann so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Vollmer.

Dr. Antje Vollmer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002391, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir haben jetzt einen gründlichen Themenwechsel, und ich beginne mit einer Beschreibung. Zum 50. Jahrestag jener unseligen Ausstellung der Nationalsozialisten über die sogenannte entartete Kunst im Haus der Kunst in München - das war die Ausstellung, auf der die wunderbarsten Werke der Moderne verfemt werden sollten - hat der Maler Gottfried Helnwein ein ästhetisches Experiment gewagt. Auf der Rampe des Kölner Bahnhofs hat er riesengroße Kinderbilder montiert. Es sah rampenähnlich aus: Bilder von Kindern mit offenen und geschlossenen Augen, bleiche und lebendige Gesichter, behinderte Kinder, schwarzhaarige und blonde. Vor den riesengroßen, im Dunkeln angestrahlten Kindergesichtern stand nur ein Wort: Selektion. Am Ende der langen Bildtafel war eine Zeichnung aus einem Schulbuch der NS-Zeit nachgemalt, das in plumpen Strichzeichnungen zweierlei Gesäßformen abbildete. Unter dem einen stand: arisch; unter dem anderen stand: germanisch. Das war eine originalgetreue Kopie. Der Betrachter dieser Bilder ertappte sich aus der Ferne dabei, wie er diese Bilder auf der Rampe mit den Augen magisch nachzählte. Irritiert ertappte man sich selber beim Geschäft des Unterscheidens, des Selektierens. Mit den Augen lief man die Bildreihe entlang und sortierte: blond, schwarz, behindert, nichtbehindert usw. Es war eine künstlerische Provokation, die den Betrachter selber entlarvte. Die Provokation war so groß, daß diese Bilder eines Nachts von unbekannten Tätern aufgeschlitzt wurden. Gottfried Helnwein hat dazu eine Erklärung geliefert. Er hat gesagt, daß er als Künstler die Scham nicht ertragen hat, daß sein Medium, das Bild, eine Zeitlang von der faschistischen Ästhetik besetzt war. Er hat gesagt: Es mußte von uns aus eine Rebellion mit unseren eigenen Mitteln, mit den Mitteln der Ästhetik, gegen diese Form von Enteignung und der Demütigung der Kunst geben. Damit hat er der eilfertigen Kunstumerziehung, der pädagogischen Läuterung der Betrachter nicht getraut, die nach 1945 die wunderbaren Bilder der verfemten Maler der Moderne aus den Kellern herausholte und wieder in die Museen hängte und die ästhetisch plumpen, teilweise lächerlichen, dem Kultur- und dem Malideal des 19. Jahrhunderts verpflichteten Mammutschinken des Faschismus wiederum in die Keller der Museen verbannte. Seine Absicht war, aufklärerisch, rebellisch und nicht pädagogisch zu wirken. Irgendwo hat er die Hoffnung gehabt, daß hinter solchen Aktionen, die die Faszination des Schrecklichen nicht ausklammern, vielleicht eine haltbarere Form der Verteidigung der Freiheit der Kunst verborgen liegen könnte als im Gehorsam gegenüber dem Kunstmarkt, den Kunstpädagogen und den Kunsthistorikern. Eben diese Debatte wollten wir mit unserer Großen Anfrage anzetteln. Wir wollten die demokratische und die ästhetische Rebellion gegen die Benutzung und den Mißbrauch der Ästhetik durch die Politik wachrufen. Die gibt es übrigens zu jeder Zeit; sie ist im Faschismus aber in besonderer Weise für verbrecherische Ziele und mit einer besonderen medienmäßigen Perfektion mißbraucht worden. Gottfried Helnwein hat übrigens diese seine Aktion auf der Rampe des Kölner Hauptbahnhofs selber bezahlen müssen. Ein Kunstmarkt, eine ministerielle Förderung oder ein Kunstmäzen hat sich dafür nicht gefunden. Das ist für dieses Thema überhaupt schwer. Wir wollten im kleinen versuchen, diese Debatte mit einer Ausstellung zu begleiten. Es gibt eine Gruppe von Bonner Kunsthistorikern und Kunsthistorikerinnen, die eine ungewöhnlich interessante Ausstellung zur Konfrontation der Kunst der Moderne mit dem, was die Nationalsozialisten künstlerisch prägen wollten, gemacht hat. Dafür haben wir im Bundestag leider keinen Raum finden können, obwohl es gleichzeitig eine Ausstellung über 40 Jahre Deutsche Bundesbahn gab. Auch die Deutsche Bundesbahn hat ja ihre Geschichte, und die, glaube ich, war in dieser Ausstellung nicht enthalten. Übrigens ist diese Ausstellung im kleinen jetzt im Fraktionssaal der GRÜNEN zu besichtigen. Ich möchte Sie einladen, sie anzugucken. Sie ist diese Woche noch zu sehen. ({0}) - Es lohnt sich. Ein zweites Beispiel. Die Großveranstaltung des Deutschen Evangelischen Kirchentages dieses Jahres fand teils im Berliner Olympia-Stadion und teils in der Waldbühne statt. Ich war dabei. „Das ist ein wunderbares Stadion", sagte der Taxifahrer, als ich dort hinfuhr. Tatsächlich hat dieses Stadion, wenn man oben auf der Tribüne sitzt, einen eigenartigen Reiz. Man fühlt sich als Zuschauer gut bedient. Wer aber wie ich vorne auf der Tribüne saß, dem erschließt sich das Geheimnis dieser Architektur: Die Masse der Menschen, die ein solches Stadion - im übrigen mit einer hervorragenden Akustik - faßt, liegt vor dem Redner wie eine zu knetende Masse, die sich ihm fast zubeugt. Die vielen Jugendlichen aber, die in diesem Stadion saßen, haben davon nichts merken können. Ich hätte es ihnen irgendwie erklären müssen, was ich aber nicht getan habe, weil ich so schnell auch nicht auf einen Begriff bringen konnte, was da mit diesem ästhetischen Mittel „Architektur" gemacht worden war. Denn die Architektur, ein Lieblingstummelfeld der Ästhetik des „Führers" Adolf Hitler, steht einfach so in vielen Städten in unserem Alltagsleben herum, ohne dem Benutzer und dem Betrachter erklärt zu werden. Um es deutlich zu sagen: Wir haben keine sicheren Ratschläge, wie man mit der NS-Kunst korrekt umgeht. Wir beanspruchen auch das Recht auf Irrtum, auf Experimente, auf Versuche, die mißlingen können. Wir haben aber einige Thesen zum Umgang damit. Erstens. In der gezielten Benutzung von Ästhetik zu Zwecken der Politik und der Massenbeeinflussung lag ein Teil der Faszination des Faschismus, und zwar der Teil, den uns unsere Eltern so wenig erklären konnten, den wir aber begreifen müssen, wenn wir uns selbst im Medium der Politik tummeln. Ich glaube, daß gerade auch in dieser Faszination das lag, worüber unsere Eltern uns immer sagten: Ihr begreift das nicht richtig. Da war etwas. - Das heißt, sie fühlten sich irgendwie geprägt und auch fasziniert. Eben dieses getrauten sie sich nicht auszudrücken. Es war für sie auch sehr schwer. Zweitens. Was wir in den Museumskellern verstekken, sind die eher harmlosen Medien, die altertümlichen Schinken, die Muskelprotze, die Bauern mit den zu kleinen Köpfen, die weit über die deutsche Scholle starren und die kitschigen Mutterbilder. Deren Magie und Faszination würde - dessen bin ich mir sicher - in einer öffentlichen Bloßstellung und Ausstellung wahrscheinlich leicht vergehen wie die Vampire in der Sonne. Drittens. Die wirkliche Gefährlichkeit der Benutzung der Ästhetik durch den Faschismus aber lag darin, daß sie gleichzeitig und zum erstenmal die modernste Medientechnik ihrer Zeit benutzen konnten und daß sie darin perfekt waren. Die Architektur, in der Massen zusammengefaßt werden konnten, die Lichterdome von Speer, die Filme mit den mystischen Farben, die Volksempfänger, die zum erstenmal Töne in jede Wohnstube brachten, auch die einprägsame Kitschigkeit der Frauenbilder, die ganze Jungmädchenträume prägten, machten die Benutzung der Ästhetik durch den Faschismus so gefährlich. In diesen Medien aber war der Nationalsozialismus nicht altmodisch-protzig, sondern hochmodern. Diese Medien aber stehen heute der Politik zur Prägung eines Massenpublikums immer noch zur Benutzung frei. Viertens. Wir sind der festen Überzeugung, daß eine demokratische Gesellschaft sowohl die Konfrontation mit den Bildern, dem Medium Bild, wie auch mit den Massenmedien aushalten kann und daß sie dafür geübt werden muß. Wir fordern eine Entdämonisierung der Nazikunst als emanzipatorischen Akt einer Gesellschaft, die die Freiheit der Kunst nicht durch staatliche Zensur, sondern durch selbstbewußte Individuen garantieren möchte. Dafür aber brauchen wir öffentliche Diskurse. Mit dieser Debatte wollten wir genau einen solchen beginnen. Er ist auch nicht von Regierungen zu leisten, sondern Thema der Öffentlichkeit. Vielleicht ist er aber doppelt notwendig zu einer Zeit, in der der Medienstar Herr Schönhuber noch einmal versucht, die alte Wirkung mit dem Wachrufen der alten Ängste und der alten Aggressionen und der alten Faszination auszuüben. Wer mit Ästhetik und Medien Politik macht, muß sich der Gefahr der Beeinflußbarkeit der Menschen bewußt sein. Kontrollierbar ist er nur von einer Bevölkerung, die sich ihrer Verführbarkeit ebenso bewußt ist und einen solchen Mißbrauch ihrer Sinne und ihres Wunsches nach Schönheit nie wieder hinzunehmen bereit ist. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, seien Sie mir nicht böse, wenn ich sage: Meine Eltern haben mir rechtzeitig gesagt, was Faschismus und Nationalsozialismus einschließlich der Kunst bedeuten. Ich wollte es Ihnen nur einmal sagen. Es trifft nicht für alle zu, was Sie da sagen. Frau Dr. Wisniewski, Sie haben das Wort.

Prof. Dr. Roswitha Wisniewski (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002532, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN hat das Thema der von den Nationalsozialisten so genannten entarteten Kunst und der von den Nationalsozialisten so genannten schönen Kunst - wir sprechen meist von NS-Kunst - und auch über die Architektur dieser Zeit. Sie hat sie zum Gegenstand der Beratungen im Deutschen Bundestag gemacht, und ich halte das für verdienstvoll. Denn damit ist nun auch der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag die Möglichkeit gegeben worden, einmal ausführlich und grundlegend über die Behandlung dieses Problems in einer freiheitlichen Demokratie, die eben keine Staatsdoktrin für Kunst und Kultur kennt, nachzudenken und diese Gedanken darzulegen. Ich möchte aber zu Anfang das energisch zurückweisen, was im Vorspann der Großen Anfrage geäußert wird. Dort steht, daß sich die heute verantwortlichen Kulturpolitiker in der Bundesrepublik angeblich auch mehr einem Schönheitsideal der Tradition verpflichtet fühlen als einem avantgardistischen und experimentellen Kunstbegriff, so daß es von der gefühlsmäßigen Ablehnung alles Fremden in der modernen Kunst bis hin zu versteckten oder offenen Eingriffen in die grundgesetzlich garantierte Kunstfreiheit oft nur ein kleiner Schritt ist. So ist es sinngemäß auf Seite 3 der Drucksache zu lesen. ({0}) Diese Unterstellung hat, wie mir scheint, mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Sie hat aber viel mit dem Geschichts- und dem Gegenwartsverständnis der GRÜNEN zu tun. Die Antwort der Bundesregierung ({1}) läßt das sehr deutlich erkennen. Es ist unbestritten, daß Kunst und Architektur Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes sind. Im Fall der NS-Kunst sind sie Ausdruck eines Ungeistes. Frau Vollmer hat völlig zu Recht die Faszination beschrieben, die gerade von manchen architektonischen Zeugnissen dieser Zeit, von der Überdimensionalität ausgehen. Aber das ist etwas, was nun überall der Kunst zu eigen ist und was überall benutzt werden kann. Das Material an sich ist neutral. Was wir Menschen damit machen, das ist die Frage, und dort liegt unsere Verantwortung. Deshalb stellt sich zunächst einmal die Frage, ob diese Produkte, die in vielen Fällen schlicht mit dem Epitheton Trivialkunst bezeichnet werden können, wirklich die Ehre verdienen, wie es nahegelegt wird, einem breiten Publikum vorgeführt zu werden. Die Erscheinung der Trivialkunst ist ja weit verbreitet. Auch in der Gegenwart haben wir viel Trivialkunst, wahrscheinlich mehr als Kunstwerke, die diese Bezeichnung zu Recht verdienen. Niemals kommen wir auf die Idee, dieser weitverbreiteten Trivialkunst der Gegenwart die Ehre einer breiten Präsentation in öffentlichen Gebäuden etwa zuteil werden zu lassen. Ganz anders stellt sich das Problem, wenn diese Produkte als historische Zeugnisse für die Interpretation der nationalsozialistischen Geisteshaltung herangezogen werden. Damit gehören sie in die Hände von Wissenschaftlern und bei entsprechender Kommentierung auch in Museen, die der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus dienen. Weder Rehabilitierung noch, wie die GRÜNEN meinen, Entdämonisierung können meines Erachtens hinsichtlich dieser Kunstprodukte Aufgabe der Kulturförderung der Bundesregierung und des Bundestages sein. Diese Produkte sind, ich sagte es schon, meistens im wesentlichen trivial und wenig oder gar nicht dämonisch. Wichtig aber ist nun, daß - und da unterstütze ich durchaus die Meinung der GRÜNEN -, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Epoche unserer Geschichte auf kultureller Basis verstärkt wird. Die Bundesregierung sagt denn auch in ihrer Antwort auf die Große Anfrage die sorgfältige Prüfung dementsprechender Anträge zu, und dies ist zu unterscheiden. Anders als die NS-Kunst ist die von den Nationalsozialisten so genannte entartete Kunst, soweit sie von entsprechendem Rang ist, längst - und dies zu recht - in den Traditionszusammenhang unserer Kulturgeschichte aufgenommen und weit bekanntgemacht worden, denn diese Werke markieren den Weg des menschlichen Geistes im 20. Jahrhundert. Es sind eigenwillige Gesetze, denen diese Kunstwerke folgen. Sie sind nicht immer leicht verständlich, aber es besteht kein Zweifel daran, daß sie der entscheidende Beitrag unseres Jahrhunderts zur Kultur der Menschheit sind. Daß die Bundesregierung mit Unterstützung und auch Förderung durch den Deutschen Bundestag in besonderer Weise zur Förderung von Publikationen und Ausstellungen zur Rezeption dieser Kunstwerke beiträgt, dokumentiert die Antwort auf die Große Anfrage, aber auch z. B. ein so imponierendes Werk wie das von Werner Haftmann „Verfehmte Kunst, bildende Künstler der inneren und äußeren Emigration in der Zeit des Nationalsozialismus". Hierzu hat Bundeskanzler Helmut Kohl ein Geleitwort geschrieben. Dies sagt viel aus: Wiederaufbau eines zerstörten geistigen Kontinuums, geistige Wiedergutmachung werden in diesem wie in anderen Werken auf vorbildliche Weise geleistet. Solche Bemühungen müssen von den verantwortlichen Politikern weiterhin unterstützt werden. Daß die von den Nationalsozialisten verfemten Künstlerinnen und Künstler in die materielle Wiedergutmachung - einfach um den Gegensatz zur geistigen einmal herauszustellen, nenne ich es jetzt so - schon bisher einbezogen wurden und weiterhin einbezogen werden, ist selbstverständlich. Die in der Großen Anfrage und in der Antwort der Bundesregierung enthaltenen Anregungen sind bedenkenswert und sollten weiter verfolgt und umgesetzt werden. Ich freue mich, daß wir einmal Gelegenheit haben, zu diesen Dingen hier zu sprechen. Wir haben diese Gelegenheit selten genug. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich darf nur darauf hinweisen, daß wir eben beschlossen haben, daß jede Fraktion nur einen Beitrag bis zu zehn Minuten hat, aber ich denke, daß das Haus nichts dagegen hat, wenn die SPD-Fraktion dennoch zweimal fünf Minuten spricht. Herr Duve, Sie haben das Wort.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das hat etwas mit meiner merkwürdigen Fremdheit dem Thema gegenüber zu tun, daß ich Peter Conradi angerufen und gesagt habe: Ich komme so nicht ganz klar, laß uns das zu zweit machen! Warum nicht? Ich habe immer gemeint, das sei doch die Schlacht von gestern. Das habe ich als Kind bei meinen Großeltern noch erlebt. Nicht jeder, Frau Präsidentin, hat Glück mit seinen Eltern, auch wenn man sie liebt. Ich habe dort solche Bilder gesehen, habe sie schön gefunden und habe das dann gelernt. Meine Mutter liebte die abstrakten Bilder, und ich dachte, es sei ausgestanden. Aber ich bin den GRÜNEN eigentlich dankbar, daß wir diese Diskussion haben. Es hat sie gegeben, es hat auch große Ausstellungen in Hamburg, München und anderswo gegeben. Aber diese Diskussion hat es wohl wirklich nicht im politischen Raum gegeben. Merkwürdig leichtfüßig und leichtgeistig ist die Politik fast brav in die jubelnde Bejahung der abstrakten Kunst nach dem Krieg gehüpft und war dabei. Herr Neusel, Sie sind etwas älter als ich. Möglicherweise hat man sich an der Faszination der schönen Bilder in einer vom Krieg zerstörten Welt erfreut. Es gab schöne Bilder von Bauernhöfen mit tiefgezogenen Dächern. Jedenfalls die ältere Generation hat sich damit nicht auseinandergesetzt. Und doch, denke ich, bleibt es eine Schlacht von gestern, wenn wir nicht darauf gucken, was politische Ikonographie heute ist. Diese Kunst ist ganz eindeutig von Goebbels erklärt worden: „Kunst ist Instrument der Politik" . Es gibt vom 26. November 1936 einen Erlaß „Ab heute gibt es keine Kunstkritik mehr" . Die Ausschaltung und Ausmerzung der Kritik als Kategorie menschlicher Verständigung ist angeordnet worden. Es gibt nur noch den Kunstbericht - ich will das Zitat wegen der Zeit hier verkürzen - für Menschen, die aus der Lauterkeit des Herzens - wie es in dieser Anordnung heißt - Bilder betrachten und dann vermitteln. Aus dieser Lauterkeit des Herzens bei gleichzeitigen Gestapo-Kellern und Rassengesetzen ist sozusagen die Doppelheit dieses Faschismus zu deuten. Gemütlichkeitselemente, wärmende Elemente, vor allem aber unkritische Elemente zum Abdecken einer kranken, einer zerstörten, einer verstümmelten Wirklichkeit findet man hier. Die Entwirklichung durch diesen Typ von Realismus ist etwas, was einen heute noch beeindruckt. Aber heute haben wir - wir können das in einigen Nachbarländer sehen - eben etwas ganz anderes. Diese Bilder sind harmlos, völlig harmlos. Sie sind bereits, Antje Vollmer, sozusagen völlig entdämonisiert. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, daß man sie versteckt oder besonders zeigt. Man muß einmal sagen, was Instrumente der Kulturpolitik sind oder auch Ornamente im Bauwesen, über die Peter Conradi gleich noch sprechen wird, aber eben niemals Argumente sind, niemals im Dienste der Aufklärung, immer nur im Dienste der Verklärung einer unangenehmen, einer von der Technik veränderten Welt. Da muß ich - das ist der letzte Gedanke - sagen: Das, was heute Bildwelt zum Zwecke des Ornamentierens, zum Zwecke der Ausschmückung und Verklärung der Welt darstellt, sehen und spüren wir in unserem Ringen um ein aufklärerisches Fernsehprogramm, um das Erhalten der wirklichen Welt im Fernsehprogramm und nicht sozusagen im Wegschieben des Argumentativen zugunsten des Unterhaltsamen. Da befürchte ich nun in der Tat, daß viele Verantwortliche, ohne sich dessen bewußt zu sein, im Dienste dessen, was damals als gesundes Volksempfinden Hauptleitlinie war, das heute wieder treiben, ohne sich sehr klar zu sein, was eigentlich die Herrschaft des gesunden Volksempfindens in Relation zur Einschaltquote bedeutet, wenn der gesunde Menschenverstand ausgeschaltet ist; denn das hat ja Goebbels mit seiner Verordnung vom 26. November 1936 gewollt. Er wollte keinen gesunden Menschenverstand mehr, damit man mit dem gesunden Volksempfinden entpolitisieren konnte. Der Gefahr der Entpolitisierung in den Massenkommunikationsmitteln müssen wir bewußt begegnen. Deshalb ist es sinnvoll, darauf hinzuweisen, wie in einer von manchen wieder als groß empfundenen schrecklichen Epoche Kunst und Künstler instrumentalisiert wurden und sich auch viele haben instrumentalisieren lassen und sich nicht selber gewehrt haben. Ich danke für die Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Walz.

Ingrid Walz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002426, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Zur Frage, ob die Kunst der NS-Zeit ausgestellt werden soll und muß, gibt es zwei Fronten. Die einen sagen, aus künstlerischer Sicht lohnt es sich nicht, höchstens aus geschichtlichem Interesse. Die anderen fürchten den angeblich verhängnisvollen Einfluß auf das Kunstverständnis der Bürger. Diese Gruppe meint, damit würden Geister gerufen, die die oft widerborstige, unverständliche Moderne durch Gartenzwerge und Nymphen bedrohen. Diese Diskussion, zuerst nur unter Fachleuten, hat jedoch deutlich gemacht, daß ein Teil der Geschichte des Dritten Reiches noch nicht erledigt ist. Es geht um die Frage, inwieweit wir hinnehmen müssen, daß das Staats- und Gesellschaftsverständnis des Nationalsozialismus die Kunst und die Künstler, die nicht ihrem Bilde entsprachen, verfemte, verbannte und verbrannte und andere Kunst und andere Künstler für seine todbringende Agitation mißbrauchte, dies unter dem Deckmantel des Schönen, der das Ästhetische in der Kunst auch heute noch verdächtig macht, ja, geradezu diskreditiert. Meine Damen und Herren, diese Seite unserer Geschichte tut weh und erfüllt uns mit einer besonderen Scham. Davon zeugt auch die Kraft der Verdrängung. Für uns als Liberale und auch für mich als Frau vom Fach, die ihr halbes Leben lang für die moderne Kunst gestritten und manche Schlacht verloren, aber auch manche gewonnen hat, gilt: Zeit prägt Menschen, die sich über Sprache, Töne, Bilder ausdrücken. Das war schon immer so. Doch kulturhistorische Tatsache ist es, daß sich die Gewichtung der Kulturtechniken im Leben dieser Welt verändert hat. Heute ist Kunst individualisiert. Kunst ist nicht mehr Symbol, Chiffre für ein kollektives Verständnis, für ein Einverständnis über Religion, Gesellschaft, Staat. Die Väter der Moderne, vor allem die kühlen und kühnen Abstrakten, beendeten diese kollektive Funktion der Kunst. Wir haben heute keine verbindliche Sprache der Kunst mehr, die im Dienst der Kirchen, des Staates und der Bürger Macht oder ihren Anspruch auf und an die Menschen formuliert und beschreibt. Kunst ist heute nicht mehr die Sprache, die alle verstehen. Kunst beeinflußt nur noch in den seltensten Fällen die Geschichte. Kunst provoziert - das ist richtig -; doch überwiegend löst sie individuelle Reaktionen aus, nämlich Zustimmung oder Ablehnung. Wir dürfen dies bei unseren Betrachtungen nicht in Vergessenheit geraten lassen. Die Kunst des Dritten Reichs nahm Rückgriff auf diese Funktion der Kunst. Kunst wurde zum Sprachrohr der Herrschenden; Kunst wurde im schönen Gewande zum Mittel der Unterdrückung und der Konformität. Die heutige Kunst hat ihren sakralen Charakter und damit ihren politischen Einfluß verloren. Nun zur Großen Anfrage der GRÜNEN. So ganz sicher bin ich mir nicht bei der Beurteilung des Hintergrunds Ihrer Fragen. Erstens. Wollen Sie eine Lücke in unserem Bewußtsein schließen: daß Geschichte, Staaten, Menschen Symbole ihrer Macht und ihrer Zugehörigkeit brauchen, und wollen Sie dies anhand der NS-Kunst dokumentieren? Zweitens. Wollen Sie beweisen, daß Kunst immer in der Gefahr steht, von den Herrschenden als Mittel der Beherrschung eingesetzt zu werden; daß also die, die zahlen, das Sagen haben? Drittens. Wollen Sie beweisen, daß die „entartete" Kunst, also die klassische Moderne, noch immer ihrer Rehabilitation harrt? Das kann angesichts der heute auf dem Kunstmarkt zu erzielenden Preise ja wohl nicht gemeint sein. Viertens. Sollen die Menschen durch staatliche Ausstellungs- und Sammlungstätigkeit nur mit der Moderne, nur mit der Avantgarde vertraut werden, einer Konzeption, die von den meisten Museen mit Hingabe und ohne unsere Aufforderung längst verwirklicht wird? Wir sollten uns hüten, auch mit gutgemeinten politischen Absichten hier einzugreifen. Fünftens. Oder wollen Sie diesem Staat, also ganz konkret der Bundesregierung, nachweisen, daß es, wie Sie in Ihrer Großen Anfrage formulieren, für den Begriff der „Entartung" eine historische Kontinuität gibt, die - wenn man die vorhergehenden Fragen Ihrer Großen Anfrage ernst nimmt - auch in dieser Republik gängiges Kunstverständnis geworden ist? Wenn Sie so fragen, dann gehört Ihnen einiges ins Stammbuch geschrieben. Ich weiß nicht, wie sachkundig Sie sich bei der Formulierung der Großen Anfrage gemacht haben. ({0}) Auf jeden Fall gehen Ihre Fragen völlig an der Ausstellungs-, Förderungs- und Kaufrealität vorbei. Dank der Kulturhoheit sind die Länder, die Gemeinden, fast ausschließlich für die Kunst und Kulturlandschaft dieser Republik zuständig. Dort werden das Terrain und das Klima gestaltet. Die Künstler, ihre Verbände, die Museen, die privaten Anbieter, also auch die Galeristen - zu denen auch ich gezählt werde - , die Käufer und die Sammler und eine sehr kritische Presse sind dabei. Dort wird entschieden, was gekauft und ausgestellt wird; dort wird entschieden, was gut und schlecht ist; dort wird entschieden, welcher Künstler Erfolg haben wird und welcher nicht. Das ist gut so und soll auch so bleiben. ({1}) In dieses komplizierte Geschehen darf auf keinen Fall mit Verboten und Vorgaben eingegriffen werden, wie Ihnen dies in Ihrem missionarischen Überschwang im Hinblick auf die NS-Kunst vorschwebt. ({2}) - Ich habe Ihre Anfrage sehr gut gelesen. Sie müssen sich davor hüten, Zensur mit Gegenzensur zu beantworten. Die NS-Kunst vom freien Markt fernzuhalten und nur sozusagen die „schöne Kunst" des Dritten Reiches pädagogisch aufbereitet dem Bürger darzubieten, halte ich für einen illiberalen Ansatz. Wir halten es nämlich mit dem mündigen Bürger, der gute Kunst sehr wohl von schlechter Kunst unterscheiden kann ({3}) und den wir mit guter Kunst auch überzeugen können. Ich habe das in meiner eigenen Praxis erlebt. Wir Liberale plädieren für einen absolut freien und unbefangenen Umgang mit aller Art von Kunst, selbst wenn sie auf Ablehnung stößt, was allen Großen und allen Neueren geschehen ist. Um die Moderne brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Hier gibt es durchaus Ablehnung. Aber mit der können wir leben. Denn auf der anderen Seite - das wissen Sie auch - stürmen die Menschen heute geradezu die Ausstellungen der klassischen, aber auch der avantgardistischen Moderne. Deshalb meinen wir, wir sollten den Kampf mit den Gartenzwergen und Gespenstern ruhig aufnehmen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Über das Thema NS-Kunst und NS-Architektur ist in diesem Haus in vierzig Jahren nie geredet worden. Ich meine, dieses Thema verdiente schon eine gründliche Erörterung, zu der wir heute leider nicht die Zeit haben. Wahrscheinlich wäre es viel besser, wir säßen drüben in der Parlamentarischen Gesellschaft im Garten und würden uns miteinander darüber unterhalten, was an diesem Thema ist. Der Nachteil wäre nur: Unsere freundlichen StenograConradi phen wären nicht da, um die bedeutenden Reden, die wir hier halten, für die Öffentlichkeit festzuhalten. ({0}) - Richtig, Herr Weng. Sie haben es genau richtig verstanden. Ich will zwei Anmerkungen machen. Ich meine, daß sich die Frage nach der NS-Kunst - Soll sie gezeigt werden? Wie soll sie gezeigt werden? - nicht einfach mit marktwirtschaftlichen Argumenten erledigen läßt. Das ist mir wirklich ein bißchen zu platt. Hinter der Überlegung, sie nicht zu zeigen, steht die Angst, daß viele Menschen das schön finden könnten, daß viele Menschen sagen könnten: Das mit dem Nationalsozialismus war gar nicht so schlimm. Deswegen gibt es begründete Positionen, zu sagen: Nein, das kann man eigentlich nicht zeigen. Es gibt auch begründete Positionen, die sagen: Das ist künstlerisch so minderwertig, daß es überhaupt nicht in ein Kunstmuseum gehört. Ich vertrete gleichwohl die andere Position. Ich meine, man sollte diese Bilder zeigen, aber nicht in einem Kunstmuseum einfach in der Abfolge: deutsche Kunst 1900 bis 19 . darin enthalten auch 1933 bis 1945. Man sollte diese Kunst eher in einem historischen Museum zeigen, möglicherweise im Deutschen Historischen Museum in Berlin. Man sollte sie auch erklären und ihre Funktion, ihre Indienstnahme für die Propaganda zeigen. Man sollte auch das Menschenbild deutlich machen, das hinter dieser Kunst steht. Dann wirkt es aufklärerisch. Sie zu verstecken, sie nicht zu zeigen macht sie möglicherweise gerade erst interessant, gibt ihr einen geheimnisvollen Charakter. Deswegen plädiere ich sehr nachdrücklich dafür, diese Kunst in Sonderschauen, in historischen Museen selbstbewußt zu zeigen und deutlich zu machen, was ihre Funktion war. Zweite Anmerkung: zur Architektur. Ich glaube, man tut sich zu leicht, Frau Vollmer, wenn man bei der Architektur immer nur die Repräsentationsbauten der Nazizeit heranzieht. Die Architektur der Nazizeit ist sehr vielgestaltig und keineswegs einheitlich. Im Siedlungsbau etwa haben wir die Blut-und-BodenArchitektur der Siedlungshäuschen, Sachen, die Sie heute bei den Biohäusern durchweg wiederfinden. Und dafür gibt es große Sympathien. Zeigen Sie Häuschen der Nazizeit irgend jemandem, der heute für Bioarchitektur ist! Die findet er ganz toll. ({1}) Im Industriebau wurde in der Nazizeit die moderne Architektur fortgesetzt. Die Nazis haben durchaus moderne Industriebauten errichtet. Nur im öffentlichen Repräsentationsbau kam dieser Neoklassizismus, diese Imponierarchitektur, die wir heute zum Teil wieder bei den Postmodernen finden, unter denen uns einzelne Architekten durchaus erklären, Speers Entwürfe seien ganz großartige Architektur. Man muß in der Betrachtung der Architektur der Nazizeit also differenzieren. Man muß sehen, daß sich manche Architekten der 20er Jahre in der Nazizeit sehr wohl haben in Dienst nehmen lassen. Man muß vor allem sehen, daß nach der Nazizeit die Architekten und Städtebauer, die dort tätig waren, unseren Wiederaufbau zum Teil mitgeplant und gemacht haben. ({2}) Das heißt, es gibt hier gar nicht -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege - - Conradi ({0}): Augenblick, Frau Präsidentin.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, ich gestatte sie, aber ich möchte den Satz zu Ende führen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sonst sind Sie nämlich gleich fertig.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist doch sicher möglich, daß man hier den Satz zu Ende sprechen kann. Es muß schon gesehen werden, daß nach 1945 Architekten und Städteplaner aus der Nazizeit den Wiederaufbau in vielen Städten geplant und begonnen haben. Auch darüber müssen wir uns einmal unterhalten, wenn wir über „40 Jahre Bundesrepublik" reden. - Jetzt, Freimut.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie haben das Wort, Herr Abgeordneter.

Freimut Duve (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000425, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, stimmen Sie mir zu, wenn ich sage, daß ja sogar ein Teil der Siedlungskultur, etwa der sozialdemokratischen oder gewerkschaftlichen Gartensiedlungen der 20er Jahre, der frühen 20er Jahre in der Gestalt häufig nahtlos weitergeführt wurden von den anderen, daß da also sozusagen gar nicht mal so sehr eine eigenständige faschistische oder nationalsozialistische Form war, sondern daß man diese Elemente einfach übernommen hat, und daß die unterschiedliche Ausprägung dann diese Architekturlandschaft ausmacht?

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist richtig. So wie die Nazis in der Musik-, in der Jugendkultur Elemente der 20er Jahre durchaus übernommen und für sich verwendet haben, so haben sie auch Elemente der Siedlungsarchitektur der 20er Jahre, beispielsweise der genossenschaftlichen, übernommen. Ich will zur Architektur nur eines sagen: Einmal müßte man an die Bauten schon etwas dranschreiben und sagen: Das war da mal, so war das gemeint, die und die Funktion hat es gehabt. Zum anderen bin ich aber auch der Meinung, wir sollten selbstbewußt damit umgehen und uns etwa in Nürnberg oder andernorts diese Bauten aneignen und verändern; denn das ist der Unterschied zwischen Bauten und Bildern: Bauten eignet sich jede Generation neu an. In der Geschichte haben sich eben christliche Kirchen römische Tempel oder germanische Kultstätten angeeignet und haben sie umgebaut und für ihre Zwecke verändert. So sollten wir die Bauten der Nazizeit nicht als Denkmäler pflegen, unter Denkmalschutz stellen und sie für die Zukunft erhalten, sondern wir sollten da, wo wir das können, diese Bauten sehr selbstbewußt für uns verwenden und sie uns aneignen und mit dem prägen, was uns wichtig ist. Ich danke Ihnen für die Debatte, Frau Vollmer. Ich hoffe, daß wir sie an anderer Stelle fortführen können, vielleicht auch eines Tages wieder im Bundestag. Ich würde mir wünschen, daß die Bundesregierung der Aufforderung nachkommt, das, was sie an Kunst in ihrem Gewahrsam hat, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, aber auch zu interpretieren und zum Verständnis beizutragen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Keine weiteren Wortmeldungen mehr. Dann rufe ich den Tagesordnungspunkt 11 auf: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Chemikaliengesetzes - Drucksache 11/4550 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) Innenausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Haushaltsausschuß gem. § 96 GO Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. Einverständnis? - So beschlossen. Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Grüner.

Martin Grüner (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11000738

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Die Bundesregierung hat sich für diese Legislaturperiode ein ehrgeiziges umweltpolitisches Programm vorgenommen, das zu einer besseren, und zwar vorsorgenden Beherrschung der Umweltrisiken unserer Industriegesellschaft beitragen soll. Die wesentlichen Elemente dieses Programms sind Ihnen bekannt. Ich nenne die novellierte Störfallverordnung, die Altstoffkonzeption, das Gesetz zur Umweltverträglichkeitsprüfung und bei bestimmten Großprojekten die einschneidenden Novellierungen, die Fortentwicklungen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes, des Abfallrechts, der Abwasserabgabengesetze sowie die Novelle zum Chemikaliengesetz, die hier zur Debatte steht. Das Chemikaliengesetz und seine Novellierung ist ein besonders schwieriger, aber auch wichtiger Punkt des Gesamtkonzepts. Die EG-rechtliche Situation bringt für die Novelle des Chemikaliengesetzes das Problem mit sich, daß sie zugleich von zwei Seiten angegriffen wird. Die einen haben sie einen Papiertiger genannt, weil sie an dem Prinzip des Anmeldeverfahrens und der Mengenschwellen für die Gefährlichkeitsprüfung im Anmeldeverfahren festhält, statt ein allgemeines Zulassungsverfahren für Industriechemikalien vorzusehen. Andere wiederum sagen, die Reform sei verfrüht, man solle doch erst einmal abwarten, was die neue EG-Richtlinie - die ja kommen muß und in Arbeit ist, die aber noch nicht auf dem Tisch liegt - tatsächlich bringen werde. Wir nutzen mit dieser Novellierung die EG-rechtlich gegebenen Möglichkeiten aus. Ich möchte auf die wesentlichen Punkte in aller Kürze hinweisen. Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft bedeutet im Chemikalienbereich zunächst, daß die Wirkungen eines Stoffes auf Mensch und Umwelt schon bei der Entwicklung dieses neuen Stoffes von vornherein berücksichtigt werden. Wir haben deshalb eine Vorschrift in das Chemikaliengesetz eingeführt, die sicherstellt, daß auch Stoffe, die von der Anmeldepflicht ausgenommen sind, weil sie entweder unterhalb einer Tonne in den Verkehr gebracht werden oder aber sich im Stadium der Forschung befinden, frühzeitig auf wesentliche Sicherheitsaspekte überprüft werden. Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft bedeutet auch, daß neue Stoffe nicht nur deshalb völlig ungeprüft bleiben können, weil sie entweder lediglich innerbetrieblich verwendet oder in Länder außerhalb der Europäischen Gemeinschaft exportiert werden. Wir wollen deshalb eine neue Mitteilungspflicht für derartige Stoffe einführen, die im Interesse der mit diesen Stoffen beschäftigten Arbeitnehmer und zur besseren Beherrschung des Störfallrisikos eine Sicherheitsprüfung auch dieser Stoffe voraussetzt. Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft bedeutet auch, daß alle Anstrengungen unternommen werden, die bereits existierenden Chemikalien systematisch auf ihre möglichen Gefahren zu untersuchen. Die Politik der Bundesregierung beruht in diesem Bereich in erster Linie auf der Altstoffkonzeption. Staat, Wissenschaft und Wirtschaft haben einen Arbeitskreis zur Altstoffbearbeitung ins Leben gerufen. Zur Abrundung und Sicherung dieser Konzeption wird nun auch das gesetzliche Instrumentarium zur Bewältigung des Altstoffproblems wesentlich verfeinert, ohne die praktizierte freiwillige Vereinbarung und Zusammenarbeit in Frage zu stellen, die erhebliche Erfolge erzielt hat. Es wird die Option eines gezielten rechtlichen Eingriffs des Staates geschaffen. Wir gewinnen auf diese Weise das große Maß an Flexibilität staatlichen Handelns, das wir für eine zügige und inhaltlich befriedigende Regelung des Altstoffproblems benötigen. Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft bedeutet auch, daß alles getan wird, um im Falle tatsächlich eingetretener Gesundheitsschäden durch Chemikalien - wir registrieren jedes Jahr erschreckende Zahlen, beispielsweise etwa 200 000 klinische Vergiftungsfälle - wirksam medizinische Hilfe leisten zu können. Die Chemikaliengesetzesnovelle sieht daher die Schaffung eines umfassenden Informationssystems zugunsten der Informations- und Behandlungszentren für Vergiftungen vor, das die verdienstvolle Arbeit dieser Einrichtungen weiter effektuieren soll. Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft bedeutet, daß sich der Staat das Instrumentarium schafft, schädlichen Einwirkungen von Chemikalien erforderlichenfalls durch Gebote, Verbote und BeschränkunParl. Staatssekretär Grüner gen wirksam entgegentreten zu können. Die Novelle sieht daher in einer Vielzahl von Detailpunkten eine erhebliche Ausweitung der Befugnisse der Anmeldestelle, der das Chemikalienrecht durchführenden Landesbehörden und nicht zuletzt der als Verordnungsgeber in der Pflicht stehenden Bundesregierung vor. Der vorliegende Gesetzentwurf ist zwischenzeitlich auch vom Bundesrat beraten worden. Es ist mit Befriedigung festzustellen, daß sich sowohl über die Gesamtkonzeption des Entwurfs als auch über die meisten der Einzelvorschriften ein breiter Konsens über die Parteigrenzen hinweg eingestellt hat. Ich hoffe sehr, daß es uns gelingt, auch bei den weiteren Beratungen des Gesetzentwurfes diese Atmosphäre des Konsenses und der Zusammenarbeit beizubehalten. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Müller.

Michael Müller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001561, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei einer Bestandsaufnahme der Umweltsituation wird man sicher ganz oben die Veränderungen der Chemie und Dynamik der Ökosysteme als ein zentrales Problem der Umweltpolitik anzusiedeln haben. Die entscheidende Ursache für diese schleichenden Veränderungen ist zweifellos die Zunahme der Zahl der synthetischen Stoffe. Wir haben in der Zwischenzeit in der Literatur ein Inventar von 4 Millionen Stoffen erfaßt. Dazu kommen etwa 40 000 pro Jahr. Allein das Altstoffinventar der Europäischen Gemeinschaft umfaßt etwas mehr als 100 000 Stoffe. Wir wissen zum zweiten, daß dieses Stoffpotential in hohem Maße eine für uns unbekannte Wirkungsweise hat, insbesondere durch Anreicherungsprozesse und durch bestimmte Dosiswirkungsbeziehungen sowie bestimmte Verstärkungseffekte. Richtig ist auch, daß es im Gegensatz beispielsweise zu Schmutz- und Dreckfrachten bei Chemikalien nicht unbedingt ein Massenproblem gibt, d. h. sehr kleine Mengen können ohne weiteres schon eine sehr hohe toxische Wirkung entfalten. ({0}) Mit dem stetigen Aufschwung der Chemieproduktion ist trotz der verstärkten Sicherheits- und Umweltschutzmaßnahmen eine gewaltige Vergrößerung des Risikopotentials eingetreten. Man muß sich nur vor Augen halten, daß sich die Chemieproduktion in den letzten 20 Jahren wertmäßig verdreifacht hat. Das sind enorme Expansionsgrößen, so daß es sicherlich berechtigt ist, wenn Experten von chemischen Zeitbomben reden. Dieser ungeheuren Expansion auf der einen Seite stehen auf der anderen Seite Regulierungsmechanismen gegenüber, die noch die Regulierungsmechanismen sind, die wir vor in etwa 100 Jahren hatten, mit einer Ergänzung: des Chemikaliengesetzes, das aber in seinen Mechanismen doch weitgehend unzureichend ist und bei dem bei der Beschlußfassung 1980 die Wissenschaft insgesamt schon damals gesagt hat, daß dieses Instrument nicht ausreicht. Das Grundprinzip, nach dem die chemische Industrie organisiert ist, heißt Produktionsfreiheit mit staatlichem Eingriffsvorbehalt. Es geht von einer Logik aus, die nur dann funktioniert, wenn es enge, also kurze Kausalketten zwischen Ursache und Wirkung gibt, d. h. wenn im Kern eine nachträgliche Schadensminimierung möglich ist. Wir wissen heute alle, daß es auf Grund der eben ungeheuren Zunahme des Schadenspotentials, des Stoffpotentials und der Komplexität immer schwieriger wird, eindeutige Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkungen zu entwikkeln, und daß es immer schwieriger wird, räumlich und zeitlich Ursachen Auswirkungen zuzuordnen. Mit anderen Worten: Je größer das Potential der Stoffe wird und je komplexer die Wirkungsweisen werden, desto größer ist die Illusion, mit der Sichtweise einer Linearität, also mit einem Verhältnis Ursache/Wirkung, operieren zu können. Wir müssen heute feststellen, daß das Regelwerk, das wir haben, eben diesen Naturprozessen, also den Veränderungen von Chemie und Dynamik in der Natur, keinesfalls entspricht. Insofern sind wir heute in der Situation, daß trotz einer Zunahme von Regelungen die drei zentralen Bereiche der Chemie, nämlich Störfallrisiko, Stoffrisiko und Entsorgungsproblematik, immer noch nicht geregelt sind. Wir werden sie auch nicht in den Griff bekommen, solange wir die Regelungsproblematik in medienspezifische, anlagenspezifische und stoffbezogene Regelungen auflisten. Das heißt, neben der Atomenergie trifft die Bezeichnung „Risikogesellschaft" wie auf kaum ein anderes Feld auch auf die Chemieproduktion zu. Dies ist etwas, was beispielsweise der Vorstandssprecher von Bayer Leverkusen, Herr Strenger, zu Recht als die „Janusköpfigkeit der modernen Produktion" bezeichnet. Seit 1984 wird deshalb die Forderung nach einer Chemiepolitik erhoben, einer Chemiepolitik, die eben von den stoffbezogenen, anlagenbezogenen oder medienbezogenen Regelungen weggeht und sich hin zu einer einheitlichen, umfassenden, sogenannten Chemiepolitik bewegt, die von drei zusammengehörenden Grundprinzipien ausgeht: erstens Minimierungsgebot, zweitens Wiederverwertungsprinzip und drittens Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit. Ich will jetzt nicht im einzelnen auflisten, was dazugehört. Aber es wird im Kern unter dem Begriff des sozialen oder gesellschaftlichen Nettonutzens der Chemieindustrie zusammengefaßt. Ich fand es doch schon interessant, daß dieser Begriff, wenn auch nicht in dieser Formulierung, aber dem Sinne nach auch in dem Entwurf der umweltpolitischen Leitlinien der CDU enthalten ist. Vielleicht läßt das für die Zukunft hoffen, auch wenn der Entwurf dem nicht gerecht wird. Sozialer Nettonutzen heißt für uns erstens umfassende Abwägung der Chancen und Risiken, zweitens systematische und vor allem vorsorgende Bewertung und drittens eine Strategie der ökologischen Innovation. Wir wissen, daß der Chemiebereich nicht nur wegen der volkswirtschaftlichen Bedeutung, sondern insgesamt wegen der vielfältigen Verflechtungen Müller ({1}) auch mit wesentlichen Wachstumsbereichen ein zentraler industriepolitischer Sektor der Zukunft ist. Wer den Chemiebereich heute, also sehr frühzeitig, nicht ökologisch akzeptabel macht, der verspielt auch die industriepolitischen Chancen dieses entscheidenden, dieses sehr wichtigen Wachstumsbereichs. ({2}) Meine Damen und Herren, wir haben ein sehr schlimmes Beispiel seitens der chemischen Industrie erlebt - ich will das in aller Deutlichkeit sagen -, das Beispiel der FCKWs. Die chemische Industrie, die mit Slogans wie „Chemie ist Leben" oder „Die Chemie handelt" operiert, hat sich mit ihrem Verhalten hinsichtlich der FCKWs selbst ad absurdum geführt. ({3}) Es ist für mich völlig unverständlich, daß die konkreten Zahlen über ihre Produktion und Einsatzbereiche heute noch immer nicht auf dem Tisch liegen. Sie schädigt sich damit selbst. Das muß man bei einer solchen Gelegenheit auch einmal sagen. Im übrigen sage ich auch da, daß wir gegenüber dem Ministerium beispielsweise anregen, zu überlegen, ob man in das Chemikaliengesetz für bestimmte Stoffe nicht auch solche Kriterien wie „ozonschädigend" und „klimawirksam" aufnehmen sollte. ({4}) Ich glaube, das wäre auf dem Hintergrund der letzten Diskussionen hilfreich. Auch würde das meines Erachtens Vertrauen wiederherstellen können. Ich halte das für eine wichtige Anregung. Herr Professor Henschler hat nach dem Zitat in der „Zeit" - und er hat das gegenüber der „Zeit" ja ausdrücklich bestätigt - gesagt, daß auch die neue Novelle recht dürftig ist. Mit seinen Worten: Das Gesetz wird seinem Anspruch auch weiterhin nicht gerecht, Mensch und Umwelt zu schützen. Es ist nur ein Gesetz zum Abbau von Handelshemmnissen in der EG. So das Zitat von Professor Henschler, von dem man ja nun nicht gerade sagen kann, daß er sich in der Vergangenheit mit besonders radikalen Forderungen hervorgetan hat. Meine Damen und Herren, ich glaube, dies wirft ein bezeichnendes Licht - und das ist leider traurig - auf den jetzt vorliegenden Regierungsentwurf. Wir hatten, als der Entwurf aus dem Ministerium kam, anerkannt, daß es eine Reihe von Verbesserungen gab - für uns zwar nicht ausreichende, aber zweifellos eine Reihe von Verbesserungen. Wir müssen jetzt feststellen, daß der vorliegende Regierungsentwurf diese Verbesserungen dann teilweise sogar noch zurückgenommen hat. Dafür haben wir relativ wenig Verständnis auf dem Hintergrund der chemiepolitischen Diskussion der letzten drei Jahre. ({5}) Wenn man dies sieht, meine Damen und Herren, dann sollte man das dennoch nicht - und das würde uns ängstlich machen - sozusagen zum Indikator für den Stellenwert der Umweltpolitik in dieser Bundesregierung nehmen. Wenn es so wäre, wäre es um den Status der Umweltpolitik in dieser Bundesrepublik in der Tat traurig bestellt. Meine Damen und Herren, wir haben besondere Probleme mit dem Entwurf vor allem bei folgenden Maßnahmen: Wir halten die Altstoffproblematik nicht für ausreichend geregelt. Im Gegenteil: Wir sehen keine wirklich großen Fortschritte. Des weiteren: Wir sehen die Mengenschwelle in der Regelung als viel zu hoch, ({6}) als nicht ausreichend an. ({7}) Genau dasselbe gilt auch für die Informations- und Mitteilungspflichten. Darüber hinaus möchten wir - auch das will ich Ihnen sagen - eindeutige Hinweise auf die Prüfungsschwellen bzw. auf die Prüfungsverfahren. Auch das ist für uns unverzichtbar. Nicht zuletzt muß man im Zusammenhang mit dem Chemikaliengesetz darüber diskutieren: Wie ist der Status der Arbeitnehmer in der chemischen Industrie? Wie ist die Beteiligung von Umwelt- und Verbraucherorganisationen bei der Bewertung von Stoffen? Auch an diesen Fragen kann man sich im Zusammenhang mit der Neufassung eines solchen Gesetzes nicht vorbeidrücken. ({8}) Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Gegenüber dem ursprünglichen Entwurf ist das, was jetzt vorliegt, meines Erachtens eine Verwässerung. Wir wollen alles tun, um im Ausschuß Korrekturen anzubringen. Wenige Korrekturen sind in dieser Situation schon viel. Ich kann Sie, Herr Minister, nur auffordern: Suchen Sie den Ausschuß als Verbündeten! Die Kollegen von der CDU sollten Ihre Leitlinien ernst nehmen, und insgesamt sollten wir Mut haben. Denn das ist nicht nur im Interesse der Umwelt, sondern sogar auch, glaube ich, im Interesse der Akzeptanz der Industriegesellschaft. ({9})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Lippold.

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Regulierungsmechanismen von vor 100 Jahren: Herr Müller, ich glaube, Sie verkennen die Situation, die sich auf Grund der Aktivitäten der Regierung in den letzten Jahren ergeben hat. ({0}) Ich bedaure eigentlich immer, daß in den Kurzvorträgen der Regierung die Leistungsbilanz nicht gebührend zur Geltung kommt, ({1}) für die man wesentlich mehr Zeit haben müßte, damit man integrierte Strategien, Vermeidung, Verminderung, Verwertung ({2}) Dr. Lippold ({3}) - nein, nein, Herr Müller - , und auch das dynamisierende Element, das drinsteckt, wenn ich auf integrierten Umweltschutz abstelle, deutlicher zum Ausdruck bringen kann. Das ist ein System, das, marktwirtschaftlich orientiert, dazu führt, daß ich mit der Vielfalt der Herausforderungen auf dynamische Art und nicht auf statische Art fertigwerden kann. Meine sehr geehrten Damen und Herren, bereits im vergangenen Jahr haben wir, die Abgeordneten der Regierungskoalition, eine „Entschließung zur Verbesserung der Gesundheits- und Umweltvorsorge im Chemikalienbereich" im Bundestag verabschiedet. Ziel war es, Bereiche aufzuzeigen, in denen die Vorsorge gegen Gefahren für Gesundheit und Umwelt im Bereich der Chemie weiter verbessert werden muß, um die Vorteile und Chancen der modernen Chemieproduktion zum Wohle aller weiterhin nutzen und die Bundesrepublik Deutschland hierfür längerfristig als Industriestandort sichern zu können. Herr Müller, wir müssen auch einmal die Vorzüge erwähnen, die mit der Chemieproduktion verbunden sind. Sie unterschlagen das immer. Im Interesse eines abwägenden Urteils sollte man das nicht tun. Wir waren uns damals einig, daß eine moderne und fortschrittliche Chemiepolitik darauf gerichtet sein muß, Risiken zu vermeiden und - wo noch nicht möglich - jedenfalls zu minimieren. Was ich hier als unsere Auffassung zu moderner Chemiepolitik skizziere, muß nicht nur Ziel moderner Chemiepolitik, sondern muß auch Ziel moderner Unternehmenspolitik sein bzw. dort werden, wo dies heute noch nicht der Fall ist, und zwar im Sinne der Leitlinien, Herr Müller, die Sie gerade völlig zu Recht zitiert haben.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müller?

Dr. Klaus W. Lippold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Im Moment nicht. Wir hatten damals die Bundesregierung dazu aufgefordert - ich nenne nur die ganz zentralen Punkte -, zur Vorsorge gegen Chemieunfälle u. a. folgende Maßnahmen zügig umzusetzen: baldmöglichst einen Entwurf zur Novellierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes einzubringen mit dem Ziel, eine systembezogene betreiberunabhängige Überwachung des Umgangs mit umweltgefährdenden Stoffen einzuführen; die Arbeiten zur systematischen Erfassung und Bewertung alter Stoffe parallel zur Novellierung des Chemikaliengesetzes auf der Basis der bereits praktizierten Kooperation mit der chemischen Industrie und Institutionen der Wissenschaft national und international voranzutreiben; einen Entwurf zur Novellierung des Chemikaliengesetzes unter Berücksichtigung der EG-Regelungen vorzulegen. Wir können heute hierzu feststellen: Die Novelle zum Bundes-Immissionsschutzgesetz wird im September in den Bundestag eingebracht werden. Die Bundesregierung hat also Wort gehalten. Die notwendigen Verbesserungen im Bundes-Immissionsschutzgesetz sind vorgesehen. Wir danken Ihnen, Herr Töpfer, ganz ausdrücklich dafür. Auch die Altstoffkonzeption hat die Bundesregierung, und zwar schon im vergangenen Jahr, vorgelegt. Sie bringt die erste geschlossene Darstellung aller bisherigen Aktivitäten. Sie bringt eine dringend notwendige Vernetzung mit internationalen Programmen und Untersuchungen in der EG, der OECD und den USA. International werden diese Anstrengungen mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und ausgesprochen respektiert, weil es nichts Vergleichbares auf der internationalen Ebene gibt. Hier sei nur beispielhaft auf die bilaterale Zusammenarbeit hingewiesen. Die bisherigen Altstoffaktivitäten erhielten neue Impulse, wurden beschleunigt. Dieser Beschleunigungsprozeß muß und wird sich noch fortsetzen. Dies ist unser aller Interesse. Insgesamt, so kann man sagen, hat die Altstoffkonzeption zur - sicherlich sehr gebotenen - Versachlichung der Diskussion einen Beitrag geleistet. Die Kooperationslösung, die wir mit der Wirtschaft gefunden haben, bewährt sich. Wir haben also auch beim zweiten Punkt, der Altstoffkonzeption, Wort gehalten. Zum dritten Bereich halte ich fest: Mit der Novellierung der Störfallverordnung haben wir schneller und gründlicher als jedes andere Land die Konsequenzen aus dem Sandoz-Unglück gezogen. Jetzt liegt auch der Entwurf des Chemikaliengesetzes vor. Damit werden Konseqenzen gezogen aus dem „Bericht der Bundesregierung über die Anwendung und die Auswirkungen des Chemikaliengesetzes". Damit soll auch der legislative Rahmen geschaffen werden für eine neue Sicherheitskultur in der Industriegesellschaft. Dazu gehört, daß von der Entwicklung eines Stoffes über die Herstellung und Verwendung bis zu seiner Entsorgung alle Aspekte möglicher Risiken in ganzheitlicher Weise erfaßt und berücksichtigt werden. Ich glaube, Herr Müller, das ist ein Ansatz, den wir in dieser Form bislang nicht hatten, den zumindest Sie begrüßen sollten. Die kennzeichnungsrechtlichen Regelungsmöglichkeiten werden erweitert. Es wird jetzt insbesondere möglich, Kennzeichnungs- und Verpackungsvorschriften auch für Erzeugnisse vorzusehen, die bestimmte gefährliche Stoffe und Zubereitungen freisetzen können oder enthalten. Ferner wird das Institut der sogenannten Negativkennzeichnung, also etwa die Kennzeichnung bestimmter Erzeugnisse, die kein FCKW enthalten, in das Gesetz eingeführt. Die Mitteilungspflichten des Herstellers oder Einführers werden erheblich ausgedehnt. Das Gesetz enthält darüber hinaus Eingangsschwellen für Verbote und Beschränkungen, die Umsetzung verschiedener EG-Richtlinien, Verbesserungen der chemikalienrechtlichen Regelungen zur Tierschutzproblematik. Schon diese kurze Skizze ergibt, daß der Gesetzentwurf in der Tat umfassend und tiefgreifend unser Chemikalienrecht weiterentwickelt. Wir werden - auch hier komme ich auf den Beschluß des Bundestages im letzten Jahr zurück - dies sinnvoll in Harmonisierungsbestrebungen auf EG-Ebene einfügen, uns EG-weit für gemeinschaftliche Dr. Lippold ({0}) Regelungen einsetzen. Eine EG-weite Harmonisierung im Interesse eines wirksamen Umweltschutzes sowie der langfristigen Sicherung der Bundesrepublik Deutschland als Standort für die Chemie und im Blick auf den künftigen EG-Binnenmarkt ist unverzichtbar. Wir wollen staatliches Handeln innovationsfreundlich gestalten, das Kooperationsprinzip zu unbürokratischer und effizienter Vorgehensweise nutzen, aber nicht nur den Staat, sondern auch die chemische Industrie auffordern, hier weiter zu handeln. Die Probleme sind lösbar. Der Schutz der menschlichen Gesundheit kann und wird gesichert werden, und der ökologische Generationenvertrag zwischen uns und den zukünftigen Generationen wird von uns erfüllt werden. Danke. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Garbe.

Charlotte Garbe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000635, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Herren und Damen! Die Novellierung des Chemikaliengesetzes war überfällig. Sie war lange angekündigt, vielfach angemahnt und liegt nunmehr auf dem Tisch. Verehrte Kollegen und Kolleginnen, was von der Regierung gerne als Filetstück ihrer Umweltpolitik begriffen wird - wir haben das ja gerade wieder gehört - , bereitet uns heftiges Magengrimmen; ({0}) denn der Stoffwechsel mit der Natur wird durch das neue Chemikaliengesetz nicht ökologisch reguliert, ({1}) sondern weiterhin mit einer Lawine von - im besten Falle besser gekennzeichneten - Giften überschüttet. ({2}) Die Novelle verschärft zwar Reglementierungen und Eingriffsmöglichkeiten, aber sie weist keinen Weg aus der Chemisierung aller Lebensbereiche und der weiteren Vergiftung von Mensch und Umwelt, und das wäre doch das allerwichtigste. ({3}) Ob Cadmium, ob Quecksilber, ob PCP oder PCB oder bromierte Diphenyläther, seit Jahren beschert uns der umfassende Einsatz von Chemikalien immer neue Umweltprobleme, immer neue Gesundheitsprobleme, immer neue unliebsame Überraschungen. Milliarden sind jetzt nötig, um die Asbestfeinstäube in der Innenraumatemluft zu reduzieren; Milliarden sind notwendig, um die Grundwasserschäden durch chlorierte Kohlenwasserstoffe zu sanieren; Milliarden sind nötig, um die dioxinbelasteten Klärschlämme außerhalb der Landwirtschaft zu entsorgen; Milliarden sind nötig, um die Pestizide aus dem Trinkwasser wieder herauszufiltern; und unbezahlbar und nicht mehr umkehrbar sind die Klimaschäden durch Chemikalien, die in den letzten Jahren zur Gewißheit geworden sind. Zieht nun die Novelle des Chemikaliengesetzes aus all diesen Entwicklungen Lehren? Nein, verehrte Kollegen und Kolleginnen! Dieses Gesetz wird, so wie der Entwurf der Novelle jetzt vorliegt, die Gesundheits- und Umweltschäden durch Chemikalien nicht eindämmen, sondern EG-weit harmonisiert auf die Spitze treiben. Ich erwähnte es ja schon: Unbestreitbar gibt es in dieser Novelle auch einige Verbesserungen des Chemikalienrechts. Aber die Richtung stimmt nicht. Die grundsätzlichen Probleme werden nicht angepackt, ja, sie werden teilweise verschlimmert. Ein Beispiel: Die Prüfpflichten werden ergänzt; denn der Prüfnachweis in der Grundprüfung für neue Stoffe nach § 7 erstreckt sich nunmehr auch auf sensibilisierende Eigenschaften. Das ist gut so, kommt aber ein bißchen zu spät; denn inzwischen leiden, wie die Anhörung des Gesundheitsausschusses am 26. April verdeutlicht hat, bereits 20 % der Bundesbürger an Allergien. Dafür zeichnet ganz stark die Chemikalienflut verantwortlich. Wird durch die neue Prüfpflicht nun eine Vorsorge betrieben? Nein! Denn Zehntausende von Altstoffen bleiben erst einmal ungeprüft am Markt. ({4}) Fehlanzeige also! Werden die Chemikalien jetzt auf Klimaverträglichkeit geprüft? Der Kollege Müller hat eben darauf hingewiesen: Fehlanzeige. Unseres Wissens widerstandslos hat diese Regierung der Aufblähung des ungeprüften Altstoffverzeichnisses zugestimmt. So sieht die Vorsorgepolitik dieser Regierung aus! Unter dem EG-Mäntelchen versteckt werden wir es zukünftig im Chemikalienrecht nicht mit 35 000 Altstoffen zu tun haben, sondern mit 100 116 ungeprüften Chemikalien. Dadurch werden alle Verbesserungen der Novelle zehnfach konterkariert. Die Novelle versäumt es auch, eine Demokratisierung der Chemiepolitik einzuleiten, wie sie von den Verbraucherverbänden längst gefordert wird, damit die Einführung neuartiger Chemikalien endlich einem gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß unterworfen werden könnte. Die Novelle versäumt es auch, Instrumente in das Chemikalienrecht einzubauen, um mißliebige umweltschädigende Substanzen aus dem Markt zu drängen. ({5}) Für den Knüppel des möglichen Verbots bleiben komplizierte Hürden eingebaut, die den § 17 weiterhin inpraktikabel erscheinen lassen. Meine Herren und Damen, die Bundesregierung hat sich in den vergangenen Jahren glücklicherweise zu der Erkenntnis durchgerungen, daß Chemiepolitik ein eigenständiges Politikfeld ist. ({6}) Sie hat es aber leider bis heute nicht fertiggebracht, die Risiken der Chemisierung unserer Umwelt politisch in den Griff zu kriegen. Das neue Denken, um der Chemikalienflut Einhalt zu gebieten, ist beim Umweltminister offensichtlich noch nicht angekommen. Wir bedauern dies sehr. Die Novelle hat uns sicherlich noch ausführlich im Ausschuß zu beschäftigen. Im Interesse aller Allergiker und im Interesse aller jungen Mütter und ihrer Babies hoffe ich, daß etwas Besseres dabei herauskommt. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Segall.

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Bevor wir uns bei den Beratungen im Ausschuß in das Gestrüpp der Paragraphen stürzen, sollten wir uns hier vielleicht einmal einen kurzen Augenblick besinnen und einen Blick auf das Warum aller Umweltpolitik werfen. Ziel dieser Umweltpolitik ist mehr Sicherheit im Umgang mit gefährlichen Stoffen. Es geht darum, Gefährdungen für Menschen und Umwelt durch gefährliche Stoffe abzuwenden. Das reicht von der Vorsorge im Bereiche des Arbeitsschutzes über alle Schritte der Produktion, einschließlich der Belastungen für Boden, Wasser und Luft. Das geht weiter über den Verbraucherschutz und endet bei der Sorge darum, was mit den übrigbleibenden Abfällen geschieht. Ich möchte mir jetzt einmal die Instrumente ansehen, die wir bisher haben oder an deren Bereitung wir gerade sitzen. Wir sitzen als Gesetzgeber gerade dabei, die Umweltverträglichkeitsprüfung fertigzustellen. Das ist der erste umfassende Versuch, alle Gefahren, die Mensch und Umwelt drohen können, medienübergreifend zu bewerten. Aber wir haben inzwischen auch schon das Pflanzenschutzgesetz, wir haben die Störfallverordnung, wir haben die Gefahrstoffverordnung, und wir haben dieses Chemikaliengesetz vom Jahre 1980. ({0}) Ich bin sehr stolz darauf, daß der FDP-Bundesinnenminister Baum dieses Gesetz damals in die Wege geleitet hat. ({1}) - Okay, das war in der sozialliberalen Koalition. - Wir haben damals Neuland betreten, indem wir das erste Mal überhaupt Risiken aus dem Chemikalienbereich erfaßt haben. Es war sicherlich ein modernes Umweltgesetz, das schon damals medienübergreifend und losgelöst von Verwendungsbereichen formuliert worden ist. Ich würde sagen: Es hat sich bewährt, es existiert neun Jahre, und wir sind erst jetzt gezwungen, es zu novellieren. Das ist die allererste Novellierung; das ist ganz interessant, wenn man sich manch andere Gesetze hier ansieht. Der Novellierungsbedarf hat verschiedene Gründe: Wir wollen vor allen Dingen das Vorsorgeprinzip verstärken, und zwar durch ausdrückliche Verankerung der Vorsorge im Gesetz, durch ein Absenken der Eingriffsschranken und durch Erweiterung von Kennzeichnungs- und Mitteilungspflichten. ({2}) - Das wäre vielleicht nicht ganz verkehrt. Wir haben vor allen Dingen auch die Altstoffproblematik, die hier vorhin schon angesprochen worden ist. Sie ist im Prinzip bisher auf freiwilliger Basis gelaufen. Dabei müßte immer wieder einmal festgestellt werden, daß die Zahlen von den 100 000 Stoffen, die hier immer wieder in die Welt gesetzt werden, sich auf alte Stoffe beziehen, mit denen wir ewig gelebt haben. Sie kommen nicht jetzt erst mit der Altstoffproblematik auf uns zu; sie waren schon da. Wir wollen sie nur endlich einmal auflisten. Wir werden jenseits dieser freiwilligen Kooperation mit der Industrie uns mit dem Gesetz jetzt eine Eingriffsermächtigung beschaffen, das uns eventuell Eingriffe als Ultima ratio ermöglicht. Ich habe hier im Bundestag vor einiger Zeit einmal im Bereich Gesundheit gearbeitet. Wir haben dort auch die Problematik der Nachzulassung von Medikamenten gehabt. Wir müssen aufpassen, daß wir die Engpässe, die wir beim Bundesgesundheitsamt im Prinzip immer noch haben, nicht auch hier bei der Nachaufbereitung bekommen. Insofern wäre es wichtig, daß sich auch die Universitäten - jedenfalls einer unserer Bildungspolitiker ist noch anwesend ({3}) einmal darum kümmern. Uns fehlen Ökotoxikologen. Die Universitäten sollten einmal dafür sorgen, daß dort mehr ausgebildet werden. Das ist nämlich ein Beruf für die Zukunft. Der FDP wäre es im Prinzip lieber, wenn man, statt vieler Paragraphen, in denen mit Verboten und detaillierten Vorschriften gearbeitet wird und mit denen dann immer der Zwang zur Definition von Mengen und Werten verbunden ist, eigentlich etwas mehr auf freiwilliger Basis machen könnte - das ist ein Herzensanliegen von Liberalen - oder wenn man die Eigeninteressen des einzelnen bzw. der Unternehmen mit einbinden würde. Insofern erhoffe ich mir von der Erweiterung des Umwelthaftungsrechts wesentliche Fortschritte auch für diesen Bereich. Wenn wir die Verantwortung der Unternehmer auch für nicht gesetzlich erfaßte Risiken in das Umwelthaftungsrecht mit hineinbekommen könnten, wären wir einen wesentlichen Schritt weiter. Eines aber möchte ich Ihnen auch einmal sagen - ich möchte davor warnen, daß wir hier ganz ohne Risiko leben könnten. ({4}) Wir können versuchen, das Risiko zu beschränken. - Aber Herr Müller hat doch hier soeben versucht, uns ein Leben ohne Chemie, ohne Risiko darzustellen. ({5}) Gestatten Sie mir noch ein Wort. ({6}) - Vielleicht kriege ich mal ein bißchen Ruhe hier.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Es ist außerordentlich schwierig, aber ich möchte die Damen und Herren wirklich bitten, Frau Dr. Segall zum Schluß kommen zu lassen. Lassen Sie das doch bitte!

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte zum Schluß nur noch sagen: Vergessen wir nicht die vielen Techniken, die uns so sauber erscheinen, die uns so umweltfreundlich erscheinen, die aber, wenn ich die ganze Prozeßkette betrachte, ganz anders aussehen. Ich möchte dabei nur das Stichwort Solarenergie nennen. Insofern werden wir Politiker aus dem Abwägungsproblem nie herauskommen. Wir müssen uns immer zwischen verschiedenen Risiken entscheiden. Danke. ({0}) Vizepräsidentin Renger Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 11/4550 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Zusätzlich soll die Vorlage zur Mitberatung auch an den Rechtsausschuß überwiesen werden. Gibt es noch andere Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Es ist so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Donnerstag, den 22. Juni 1989, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.