Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 6/16/1989

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Sitzung ist eröffnet. Ich habe amtlich kurz mitzuteilen, daß der Abgeordnete Dr. Hauff am 14. Juni 1989 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet hat. Als Nachfolger hat Abgeordneter Dr. Kübler am 15. Juni 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben. Ich begrüße den uns aus der letzten Wahlperiode bekannten Kollegen herzlich. ({0}) Zweitens. Interfraktionell ist vereinbart worden, Punkt 10 der Tagesordnung - Beratung des Gesetzentwurfs zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes - heute nach Punkt 35 ohne Aussprache aufzurufen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Punkt 29 der Tagesordnung auf: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zum Besuch des Generalsekretärs der KPdSU und Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR Michail Gorbatschow in der Bundesrepublik Deutschland Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4788 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung drei Stunden vorgesehen. - Auch dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Es ist so beschlossen. Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Staatsbesuch des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU und Vorsitzenden des Obersten Sowjets, Michail Gorbatschow, stand unter drei Leitmotiven, die wir uns bei meinem Besuch in Moskau im Oktober des vergangenen Jahres gemeinsam vorgenommen hatten: Erstens. Wir wollen die Beziehungen zwischen der Sowjetunion, unserem größten und wichtigsten östlichen Nachbarn, und der Bundesrepublik Deutschland auf allen Gebieten ausbauen. Diese Beziehungen sind für uns von zentraler Bedeutung. Zweitens. Wir wollen das Fundament des Vertrauens zwischen beiden Staaten und Regierungen ausbauen und darauf einen Zustand guter Nachbarschaft dauerhaft begründen. Drittens. Wir wollen einer über die Verständigung der Regierungen hinausführenden Aussöhnung der Völker den Weg ebnen. Meine Damen und Herren, auf dem Weg zu diesen drei Zielen war der Besuch von Generalsekretär Gorbatschow ein großer und wichtiger Erfolg. ({0}) Wir haben Generalsekretär Gorbatschow als neugewähltes Staatsoberhaupt der Sowjetunion begrüßt. Ich habe meiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß es besonders wichtig ist - und von uns auch als eine besondere Geste empfunden wird -, daß seine erste Auslandsreise im neuen Amt in die Bundesrepublik Deutschland führte. Ich habe ihm unseren Respekt dafür ausgesprochen, daß die Sowjetunion mit der soeben abgeschlossenen ersten Sitzungsperiode des Kongresses der Volksdeputierten ein erstes und wichtiges Stück auf dem Weg zu dem von ihm gesetzten Ziel der Demokratisierung zurückgelegt hat. Mit der Wahl eines neuen Obersten Sowjets verfügt die Sowjetunion nunmehr über ein ständig tagendes Parlament, von dem wir erwarten und erhoffen, daß es der Demokratisierung weitere Impulse gibt. Ich möchte Sie, meine Damen und Herren hier im Hohen Hause, ermutigen, nunmehr auch die Parlamentsbeziehungen zu verstärken. Für mich - das möchte ich deutlich unterstreichen - ist dabei selbstverständlich, daß die Berliner Kolleginnen und Kollegen an einer solchen Beziehung gleichberechtigt teilnehmen können. ({1}) Wir haben diese Meinung auch in unseren Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow mit aller Klarheit vertreten. Der Besuch des Generalsekretärs vollzog sich in einem außerordentlich bewegten internationalen Umfeld: In der Volksrepublik China wurde der friedliche Protest von Abertausenden von Studenten und Arbeitern durch Militär, durch Panzer erstickt. Ihre berechtigte Forderung nach Demokratie endete in einem von der chinesischen Regierung verfügten Blutbad. Jetzt hat in China eine Welle verordneter Denunzierung und planmäßiger Verhaftung begonnen. Wir trauern mit allen Chinesen in der Welt um die Opfer, und wir verurteilen mit allen Freunden Chinas diesen Rückfall in eine unverhüllte Unterdrückung. ({2}) Angesichts dieser bedauerlichen Tatsachen kann man eigentlich nur den Kopf darüber schütteln, daß in der DDR Volksbildungsministerin Margot Honecker ausgerechnet jetzt die Jugend auffordert, den Sozialismus, wenn nötig mit der Waffe in der Hand, zu verteidigen. ({3}) Dabei hatte Generalsekretär Honecker vor kurzem in einem Interview von einer Humanisierung an der Grenze gesprochen, auch was den Schießbefehl angeht. Ich hoffe, daß es zu Vorfällen, wie wir sie immer wieder bis in die jüngste Vergangenheit zu beklagen hatten, jetzt nicht mehr kommen wird. Dies wäre ein großer, begrüßenswerter Fortschritt. Mit Gewalt gegen Menschen an der innerdeutschen Grenze muß jetzt endlich Schluß sein. ({4}) Generalsekretär Honecker verteidigt allerdings im gleichen Interview erneut die Mauer. Wir hingegen sind überzeugt, daß die Entwicklung im West-OstVerhältnis schließlich auch über dieses unmenschliche Bauwerk hinweggehen wird. ({5}) In Polen bezeugen die ersten Wahlen seit über 40 Jahren, die diesen Namen verdienen, daß dort die demokratische Tradition ungebrochen ist. Ich wünsche unseren polnischen Nachbarn, daß sie bei der Neugestaltung der politischen, der wirtschaftlichen und der gesellschaftlichen Verhältnisse gut vorankommen. Zusammen mit unseren Freunden und Verbündeten wollen wir, die Bundesrepublik Deutschland, diese Entwicklung unterstützen. Wir sind gegenwärtig in einem intensiven Gespräch mit unseren französischen und unseren amerikanischen Freunden. Präsident Bush wird ja nach Staatspräsident Mitterrand Polen besuchen. Ich denke, daß im Gesamtkontext dieses Ablaufs dann auch sehr bald das Datum für meinen Besuch bestimmt werden kann. In der Ungarischen Volksrepublik hat gerade in den letzten Tagen der Reformprozeß neue Dynamik erhalten. In einer zukunftsweisenden Vereinbarung zwischen Staatspartei, Opposition und gesellschaftlichen Gruppen bekennen sich die Ungarn zur Souveränität des Volkes und zu freien Wahlen. Zugleich zieht Ungarn am heutigen Tag einen würdigen Schlußstrich unter ein schändliches Kapitel des Stalinismus: Mit der Rehabilitierung und dem ehrenvollen Begräbnis von Imre Nagy wird einem mutigen Mann endlich historische Gerechtigkeit erwiesen und wird der Weg der Versöhnung im Innern und nach außen beschritten. ({6}) Dies alles sind historische Entwicklungen von größter Bedeutung. Gerade angesichts dieser Entwicklungen und vor diesem Hintergrund möchte ich darauf hinweisen und es würdigen, daß Generalsekretär Gorbatschow seine Entschlossenheit bekräftigt hat, den Prozeß der tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umgestaltung seines Landes, der Sowjetunion, mit aller Energie fortzusetzen, und daß er auch hier öffentlich und in den Gesprächen erneut bestätigt hat, daß nach seiner Überzeugung jedes Land des Warschauer Pakts seinen eigenen Weg gehen kann und finden muß. ({7}) Meine Damen und Herren, dies sind Veränderungen von historischer Dimension, von denen ja auch das Abschlußdokument des Brüsseler NATO-Gipfels sprach. Die erste Auslandsreise Gorbatschows in ein westliches Land nach dem Gipfel führte zu uns. Wir konnten ihn deshalb aus erster Hand über die Brüsseler Ergebnisse unterrichten, insbesondere auch über die Gipfelerklärung der 16 Staats- und Regierungschefs und über das Gesamtkonzept der Abrüstung und Rüstungskontrolle des Bündnisses. Beide Dokumente, meine Damen und Herren, habe ich Ihnen in meiner Regierungserklärung am 1. Juni vorgestellt. Als Ergebnis habe ich Generalsekretär Gorbatschow vermittelt, daß der Westen die historischen Veränderungen in der Sowjetunion und in anderen Staaten des Warschauer Pakts begrüßt. Denn sie helfen, den Weg zu einem friedlichen Europa zu ebnen - zu einer friedlicheren Welt, in der die Menschenrechte geachtet werden und in der Sicherheit mit weniger Waffen gewährleistet werden kann. Der Westen setzt auch aus eigenem Interesse nicht auf Destabilisierung, sondern auf den Fortgang und den Erfolg der Reformen. Wir im Westen sind auch in Zukunft bereit, im Rahmen unserer Möglichkeiten diese Reformen zu unterstützen. Generalsekretär Gorbatschow hat in seiner Tischrede in der Redoute hier in Bonn dieses Angebot positiv aufgenommen. Ich zitiere ihn: Wir öffnen uns der Welt und rechnen damit, daß auch die Welt darauf mit Gegenseitigkeit antwortet. Meine Damen und Herren, genau dazu sind wir bereit. ({8}) Als sehr konstruktiv werte ich auch die Reaktion des Generalsekretärs auf die in Brüssel vorgetragene Initiative von Präsident Bush zur konventionellen Rüstungskontrolle. Ich will hinzufügen: Wer die Tischrede des Generalsekretärs Gorbatschow vom vergangenen Montag mit der Tischrede vergleicht, die Generelsekretär Breschnew im November 1981 an der gleichen Stelle gehalten hat, wird mit mir übereinstimmen, wenn ich

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Hier zeigt sich ein ganz anderer politischer Stil im Umgang miteinander. Es werden nicht mehr wie damals propagandistisch gefärbte Friedensinitiativen in Umlauf gesetzt, und es wird nicht für den Fall, daß die andere Seite nicht darauf eingeht, mit schlimmen Folgen gedroht. Es besteht die Bereitschaft, auf Vorschläge konstruktiv einzugehen. Es werden die Übereinstimmungen hervorgehoben, und es werden auch die Beiträge gerade der Bundesregierung zur Rüstunskontrollpolitik des Bündnisses ausdrücklich und sehr nachdrücklich gewürdigt. ({0}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der Generalsekretär und ich waren uns darüber einig, daß es jetzt vor allem auch darum geht, die Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa mit großer Energie voranzutreiben. Wir haben auch vereinbart, daß wir in diesen ganz wichtigen Monaten in einem sehr engen persönlichen Kontakt diese Entwicklung begleiten wollen. Manchen Skeptikern will ich auch entgegenhalten: Der Generalsekretär war ebenfalls mit mir einer Meinung, daß die von Präsident Bush genannten Fristen - ein erstes Abkommen in sechs bis zwölf Monaten und dessen Vollzug bis 1992/1993 - bei gutem Willen, d. h. bei beiderseitiger Anstrengung, durchaus erreichbar sein könnten. Dieses Ziel muß beibehalten werden. ({1}) Ein solcher Zeitplan kann dann auch den Weg für Verhandlungen über die teilweise Verminderung der amerikanischen und der sowjetischen Kurzstreckenraketen freimachen. ({2}) Auch hier ist die Reaktion des Generalsekretärs auf die Brüsseler Vorschläge konstruktiv: zwar Präferenz für parallele Verhandlungen, aber durchaus Offenheit für ein abgestuftes Vorgehen. Ich hoffe daher, daß sich der Warschauer-Pakt-Gipfel Anfang Juli in diesem Sinne weiter auf die westlichen Vorschläge zubewegt. Einig waren sich der Generalsekretär und ich auch in dem Wunsch, daß baldmöglichst die Konvention über die weltweite Ächtung chemischer Waffen zustande kommt. ({3}) Bei all diesen Gesprächen - den Gesprächen, die der Herr Bundespräsident führte und die ich führen konnte, die Bundesminister Genscher mit Außenminister Schewardnadse, die Bundesminister Haussmann mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Silajew geführt haben - gingen wir ganz selbstverständlich von der eindeutigen Verankerung der Bundesrepublik Deutschland in der westlichen Wertegemeinschaft aus, im Bündnis der freiheitlichen Demokratien Europas und Nordamerikas sowie in der Europäischen Gemeinschaft. Wir waren uns dabei unserer Rolle der „Partnerschaft in der Führung", wie es Präsident Bush in seiner Rede in Mainz formuliert hat, und der darin begründeten Verantwortung bewußt. Entgegen manchen, auch gelegentlich in der internationalen Presse zu lesenden Stimmen gab es weder deutsche Alleingänge noch sowjetische Versuche, an unserer Bündnistreue, an unserer Bindung zur westlichen Wertegemeinschaft zu rütteln. Im Gegenteil, das, was ich in meiner Moskauer Tischrede im Oktober des vergangenen Jahres im Kreml gesagt habe, hat sich erneut als richtig erwiesen: Unsere feste Verankerung im Westen steigert den Wert unseres Angebots zu fairer Partnerschaft. ({4}) Meine Damen und Herren, Generalsekretär Gorbatschow und ich haben als Angehörige der gleichen Generation, die noch als Kinder den Zweiten Weltkrieg mit all seinem Elend erlebt haben, mit großem Ernst über diese Zeit gesprochen, eine Zeit, die uns persönlich und auch unsere eigenen Familien unmittelbar betroffen hat. Wir haben gerade deshalb unseren politischen Willen bekräftigt, alles zu tun, damit sich die bitteren Erfahrungen, die vor 50 Jahren ihren Anfang nahmen, nicht wiederholen werden. In der Tischrede Generalsekretär Gorbatschows findet sich der bemerkenswerte Satz - ich zitiere - : Wir ziehen den Strich unter die Nachkriegsperiode. ({5}) Ich betrachte dies als Erklärung des politischen Ziels, von Zeiten der Konfrontation im Verhältnis zwischen Ost und West endgültig wegzukommen und in Zukunft auf Dialog und Zusammenarbeit zu bauen. Mit dieser Willenserklärung und mit dieser Zielsetzung stimme ich voll und ganz überein. ({6}) Zugleich schöpfe ich daraus die Hoffnung: Wenn wir auf diesem Wege weitergehen, wenn wir das Verständnis und das Vertrauen zwischen beiden Staaten und Regierungen weiter vertiefen, wird es auch möglich sein, ohne daß wir in irgendeiner Form Erfahrungen der Geschichte vergessen oder gar verleugnen, fortbestehende Folgen des Krieges und der Nachkriegszeit gemeinsam zu überwinden. Hier denke ich zuallererst an die Teilung Europas und, in seiner Mitte, an die Teilung unseres Vaterlandes. Ich habe in meiner Tischrede mit den Worten der Präambel unseres Grundgesetzes unseren politischen Willen bekräftigt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Meine Damen und Herren, das Thema Selbstbestimmung ist heute aktueller denn je: Jede den Völkern Europas eröffnete echte Wahlmöglichkeit, jedes Mehr an Freiheit, an Menschenrechten, jeder weitere Schritt zur Überwindung trennender Grenzen in Europa und in der Welt ist immer auch ein Markstein auf dem Weg zur freien Selbstbestimmung des ganzen deutschen Volkes. Die Gemeinsame Erklärung, die Generalsekretär Gorbatschow und ich am Dienstag unterzeichnet haben, enthält Formulierungen, die uns Deutschen gerade auf diesem wichtigen Feld in einer bemerkenswerten Weise entgegenkommen. Hier ist ein politisches Programm vorgezeichnet, das wir in den kommenden Jahren Schritt für Schritt umsetzen wollen. Seine Verwirklichung hängt untrennbar damit zusammen, daß sich, wie es in der Gemeinsamen Erklärung wörtlich heißt, das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen, und die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, in ganz Europa endlich durchsetzen. ({7}) Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, selbstverständlich werden auch bei Fortschreiten des Reformprozesses in der Sowjetunion grundsätzliche Unterschiede der politischen und der gesellschaftlichen Ordnung und auch der Wertvorstellungen fortbestehen. Es wäre eine Illusion, etwas anderes zu glauben. Gerade jetzt ist es wichtiger denn je, daß unsere Politik auf den Realitäten aufbaut und sich nicht in Illusionen verliert. ({8}) Gleichwohl haben Generalsekretär Gorbatschow und ich unser Moskauer Einverständnis bekräftigt, daß diese Unterschiede den Weg zu praktischen und vor allem für die Menschen sinnvollen und vernünftigen Lösungen nicht versperren dürfen. In diesem Sinne begrüße ich die im Vorfeld des Besuchs von den beiden Außenministern erzielte Einigung, Berlin ({9}) gemäß dem Viermächteabkommen sowohl in der Gemeinsamen Erklärung zu verankern als auch in alle unterzeichneten Verträge und Abkommen voll einzubeziehen. ({10}) Es bleiben in diesem Zusammenhang Fragen offen. Nach meinen Gesprächen mit Generalsekretär Gorbatschow vor allem in den letzten Stunden seines Besuchs habe ich die Erwartung - es ist mehr als ein Stück Hoffnung - , daß die jetzt noch offenen Fragen bald geklärt werden können. Ich habe dem Generalsekretär unmißverständlich erklärt: An der dynamischen Aufwärtsbewegung der deutsch-sowjetischen Beziehungen, die wir uns gemeinsam vorgenommen haben, muß Berlin ({11}) in jeder Weise voll teilnehmen. ({12}) Meine Damen und Herren, bereits anläßlich meines Besuchs im Oktober 1988 in Moskau waren wir, Generalsekretär Gorbatschow und ich, uns darin einig, daß die beiden Besuche eine politische Einheit bilden werden. Wir konnten jetzt an unseren offenen Meinungsaustausch in Moskau anknüpfen und so auch das gegenseitige Vertrauen stärken. Was wir uns damals in sogenannten „abgestimmten Besuchsergebnissen" vorgenommen hatten, ist bis zu diesem Gegenbesuch fast vollständig verwirklicht worden. Wir konnten in dem damals aufgeschlagenen neuen Kapitel in der Geschichte unserer Länder und Völker wiederum neue Seiten mit Inhalt füllen. Zu den im Herbst in Moskau unterzeichneten sechs Regierungsabkommen sind jetzt in Bonn elf weitere hinzugekommen. Dies ist eine bedeutende Verbreiterung der vertraglichen Grundlagen unserer Beziehungen. Es ist zugleich das politische Signal, daß wir auch in Zukunft zu umfassender Zusammenarbeit auf allen Feldern bereit sind. Ich will hier die wichtigsten Abkommen hervorheben: Im wirtschaftlichen Bereich wurde ein Vertrag über die Förderung und den Schutz von Investitionen unterzeichnet. Er wird der deutsch-sowjetischen Unternehmenskooperation, insbesondere auch in der Form von Gemeinschaftsunternehmen, neue Türen öffnen. Die Bundesregierung hat nunmehr die Möglichkeit, Kapitalanlagen in der Sowjetunion zu garantieren. Das ist eine vor allem für kleine und mittlere Unternehmen im Bereich des Mittelstandes entscheidende und notwendige Absicherung. Die Vereinbarung privater Träger, in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland „Häuser der Wirtschaft" des jeweils anderen Landes zu errichten, wird ebenfalls die Zusammenarbeit von Firmen und Unternehmen weiter erleichtern. Mit dem Abkommen über die Aus- und Weiterbildung von Fach- und Führungskräften wird meine Zusage vom letzten Herbst eingelöst. In den nächsten drei Jahren, und zwar jetzt beginnend, werden je 1 000 Sowjetbürger die Gelegenheit haben, unser Land wirklich kennenzulernen und unser Wirtschaftssystem aus der Nähe zu studieren, und sie werden davon sicherlich auch für zu Hause, für die Entwicklung in der Sowjetunion profitieren. ({13}) Im kulturellen Bereich werden dem Austausch auf allen Gebieten die Tore weit geöffnet. Ich habe mich auf diesem Feld persönlich sehr engagiert. Die Abkommen über Jugendaustausch, Schüleraustausch, Schulpatenschaften, Lehreraustausch sowie Austausch im Bereich von Wissenschaft und Hochschulen werden die jüngere Generation und den wissenschaftlichen Nachwuchs beider Länder einander viel näherbringen. Das wird auch die vornehmste Aufgabe der Kulturinstitute sein, über deren Austausch wir nunmehr die längst überfällige Vereinbarung unterzeichnet haben. Wir freuen uns auf das künstlerisch und literarisch besonders interessierte Moskauer Publikum. Ich bin ganz sicher, die Sowjetunion wird mit ihrem kulturellen Angebot in Stuttgart ebenso großes Interesse finden. Mit dem Austausch der Stadtarchive von Reval/Tallinn und den Hansestädten Bremen, Hamburg und Lübeck werden unersetzliche historische Dokumente an ihren Ursprungsort zurückgeführt und damit endlich auch der wissenschaftlichen Forschung erschlossen. Mit dem Abkommen über Zusammenarbeit bei der Rauschgiftbekämpfung stellen wir uns einer Aufgabe, die wie kaum eine andere nur in engster internationaler Zusammenarbeit erfüllt werden kann. Schließlich werden mit der direkten Nachrichtenverbindung zwischen dem Kreml und dem Bundeskanzleramt das gewachsene Vertrauen beider Regierungen und der Wille zum fortgesetzten Dialog bekräftigt. Das wichtigste Ergebnis dieser Woche ist jedoch die Gemeinsame Erklärung, das Bonner Dokument, das Generalsekretär Gorbatschow und ich unterzeichnet haben. Der Generalsekretär hat es gewürdigt - ich sage es mit seinen Worten, indem ich ihn zitiere -„als das erste Dokument von einem solchen Charakter und einer solchen Bedeutung, in welchem sich zwei große europäische Staaten, die zu unterschiedlichen Systemen und Bündnissen gehören, Mühe gegeben haben, sich philosophisch über den Sinn des zur Zeit von der Weltgemeinschaft erlebten Augenblickes Gedanken zu machen und gemeinsam die Ziele ihrer Politik dazulegen". ({14}) Wir wollen in der Perspektive eines enger zusammenwachsenden Europa eine friedliche Zukunft gestalten. In der Erklärung bekennen wir uns gemeinsam zu Grundsätzen, die für ein friedliches Miteinander der Länder und Völker unerläßlich sind: Der Mensch mit seiner Würde und mit seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen. ({15}) Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muß verhindert und der Frieden erhalten und gestaltet werden. Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muß sichergestellt werden. ({16}) Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muß gewährleistet werden. Nationalen Minderheiten mit ihrer Kultur gebührt Schutz. Und nicht zuletzt: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker muß geachtet, die Menschenrechte müssen verwirklicht werden. ({17}) Daß die Sowjetunion jetzt mit uns gemeinsam diese Grundsätze zum Programm erhebt, mit uns als dem freiheitlichen Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, mit uns als geteiltem Land in der Mitte Europas, mit uns als Mitglied eines anderen Bündnisses, ist in der Tat ein Markstein in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. ({18}) Das Bonner Dokument, die Gemeinsame Erklärung, greift weit über die bilateralen Beziehungen hinaus. Ausdrücklich wird die europäische Identität, die europäische Gemeinsamkeit beschworen, die auch nach jahrzehntelanger Trennung lebendig blieb. Ausdrücklich werden alle Teilnehmer der KSZE zur Mitarbeit an der künftigen Architektur Europas aufgefordert. Und ausdrücklich wird der Platz unserer amerikanischen und kanadischen Freunde in einem Europa des Friedens und der Zusammenarbeit verankert. ({19}) Einen noch weiteren Horizont eröffnen wir mit dem Eingangskapitel über die historischen Herausforderungen, vor denen die Menschheit an der Schwelle des dritten Jahrtausends steht. Ohne andere Aussagen des Dokuments damit herabzustufen, möchte ich zitieren: Die natürliche Umwelt muß im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden. Die Sorge um die natürliche Umwelt ist von Generalsekretär Gorbatschow, vom Bundespräsidenten und von mir in den Gesprächen und vor allem auch in den Tischreden immer wieder angesprochen worden. Der Generalsekretär hat konkrete Angebote der Zusammenarbeit unterbreitet. Wir wollen sie mit Vorrang aufgreifen. Dem dienen nicht nur das im Oktober 1988 unterzeichnete Umweltabkommen, sondern auch die neuen Schwerpunkte für die Gemischte Wirtschaftskommission, auf die sich Bundesminister Haussmann und der Ko-Vorsitzende der Kommission, der stellvertretende Ministerpräsident Silajew, geeinigt haben. Das Bonner Dokument, meine Damen und Herren, schließt mit einem Satz, der für mich der wichtigste ist. Ich zitiere: Diese Politik ... entspricht dem tiefen und lang gehegten Wunsch der Völker, mit Verständigung und Versöhnung die Wunden der Vergangenheit zu heilen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen. ({20}) Damit kommen wir zum Wesentlichen: Dokumente bleiben Papier und Politik bleibt abstraktes Gedankengebäude, wenn sie nicht von den Völkern angenommen und mitgetragen werden. Ich denke hier vor allem auch an den herzlichen Empfang, den unsere Mitbürger überall in der Bundesrepublik Deutschland unseren sowjetischen Gästen bereitet haben. Ich denke auch an das Telegramm, daß eine Siebzehnjährige aus Kiew uns beiden während des Besuchs schickte. Ich zitiere: Herrn Helmut Kohl, Genossen Michail Gorbatschow: Möge durch Ihre fruchtbare Arbeit für den Frieden auf der Welt der Juni 1989 in die Geschichte eingehen und die Tür für das gegenseitige Vertrauen und die Festigung der Freundschaft zwischen unseren Ländern öffnen. Diesem Telegramm ist nichts hinzuzufügen. ({21}) - Ich weiß nicht, warum Sie sich erregen. Sie sollten sich freuen. Ihr Anteil an dieser Entwicklung ist relativ gering; aber Sie sollten sich dennoch freuen. ({22}) Ich denke an die mitmenschliche Solidarität, die sich beispielsweise nach dem schrecklichen Erdbeben in Armenien erwiesen hat. Die Bürger in der Bundesrepublik Deutschland haben hohe Summen gespendet, und beim Wiederaufbau der zerstörten Städte und Dörfer legen wir mit Hand an. Generalsekretär Gorbatschow hat gegenüber der Bundesregierung und vor allem auch gegenüber dem Präsidenten des Deutschen Roten Kreuzes - stellvertretend für alle karitativen Hilfsorganisationen unseres Landes - erneut und ganz besonders herzlich für diese Hilfsbereitschaft gedankt. Meine Damen und Herren, viele unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger haben mir vor diesem Besuch in persönlichen Gesprächen und in Briefen ihren Willen zur Aussöhnung, ihre guten Wünsche für den Erfolg der Begegnung, aber auch ihre Sorgen übermittelt. Viele dieser Wünsche und Anliegen beziehen sich auf das schwierigste Kapitel unserer Geschichte: die Zeit des Zweiten Weltkriegs. In meinen Gesprächen mit dem Generalsekretär war es mir möglich, auch die offenen Fragen und persönlichen Anliegen vieler unserer Mitbürger anzusprechen. Mein besonderes Augenmerk galt dem Los und dem Schicksal der Sowjetbürger deutscher Nationalität. Ich habe für die in den letzten Jahren deutlich verbesserten Ausreisemöglichkeiten gedankt. Aber ich habe vor allem auch zugunsten derjenigen, die in ihrer angestammten Heimat bleiben möchten, unsere Hilfe angeboten, damit sie ihre Sprache, ihre Kultur, ihre Religion, ihr Brauchtum und ihre Identität pflegen können. Ich hoffe sehr, daß die jetzt anlaufenden Gespräche dazu führen, daß der Wunsch, ein autonomes Gebiet für die Deutschen in der Sowjetunion wiederherzustellen, bald in Erfüllung gehen kann. ({23}) Meine Damen und Herren, ich habe auch die Gelegenheit wahrgenommen, um zu danken für die gute und enge Zusammenarbeit bei der Betreuung von Kriegsgräbern und insbesondere für die Öffnung von vier weiteren Friedhöfen in der Nähe von früheren Kriegsgefangenenlagern. Ich bin gerade auch nach diesen Gesprächen zuversichtlich, daß die Zusammenarbeit zwischen dem Sowjetischen Roten Kreuz und dem Deutschen Roten Kreuz sowie dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge auch weiterhin eng und vertrauensvoll sein wird. Dabei geht es uns auch nach über 40 Jahren immer noch um die Klärung weiterer Schicksale von Vermißten. Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit den beiden Begegnungen in Moskau und in Bonn ist das Fundament der deutsch-sowjetischen Beziehungen gefestigt und, wie jeder erkennen kann, erheblich erweitert worden. Neue Chancen der Verständigung und der Zusammenarbeit haben sich eröffnet. Wir sind fest entschlossen, alle diese Chancen zu nutzen, alle Chancen, die dem Frieden in Europa, die unserem deutschen Vaterland, die der Welt dienen. ({24})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, inzwischen liegt ein Antrag aller Fraktionen des Hauses zur Gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung auf Drucksache 11/4805 vor, der in Kürze verteilt wird. Das Wort hat jetzt Herr Abgeordneter Brandt.

Willy Brandt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000246, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn über einen wichtigen Vorgang der Auswärtigen Politik nicht gestritten zu werden braucht, so ist das kein Nachteil, sondern ein Vorteil. ({0}) Ich denke, dem werden weder der Bundeskanzler noch der Bundesminister des Auswärtigen widersprechen, wenn ich gleich auch ganz offen hinzufügen muß: Der Bundeskanzler hätte sich auch nichts vergeben, wenn er daran erinnert hätte, daß dem, was dieser Tage vor sich ging, schon anderes vorausgegangen war. ({1}) Wie auch immer, Herr Gorbatschow war uns, uns Bürgern der Bundesrepublik Deutschland über fast alle Parteigrenzen hinweg - nicht alle - ein gern gesehener Gast. Auf Begeisterung ist freilich, wie man wohl weiß, nicht immer Verlaß. Doch keinen Grund gibt es, an der von den meisten unserer Menschen gehegten Hoffnung auf Frieden oder an ihrer Bereitschaft zu verläßlicher Zusammenarbeit auch mit den Partnern im Osten zu zweifeln. Ich finde, es paßte ganz gut, daß der Präsident der Vereinigten Staaten gerade hier gewesen war. ({2}) Und es läßt hoffen, daß sich das mittlerweile erhebliche Feld übereinstimmender oder doch sich berührender Vorstellungen und Vorschläge besser als bisher fruchtbar machen läßt. Es wird ja auch inzwischen kaum noch bestritten oder verkannt, daß deutsche Beiträge in den Bereichen von Entspannung und Rüstungsabbau ihr eigenes Gewicht haben und nicht durch die Bemühungen anderer einfach zu ersetzen sind. Für eine dauerhafte europäische Friedensordnung braucht es das nach vorn gerichtete Zusammenwirken von West und Ost, die garantierende Mitwirkung der, um Kennan zu zitieren, „halbeuropäischen Großmächte" , also der uns verbündeten Vereinigten StaaBrandt ten und der uns nun auch nicht mehr so fremden UdSSR. Das deutsche Erbe, das wir zu tragen haben, bleibt schwer genug. Andere haben eines, das dadurch nicht leichter geworden ist, und viele von uns wissen wohl auch, daß, wer auf die Geschichte zurückzugreifen nicht imstande ist, von ihr eingeholt wird. ({3}) Dies war, wie wir gehört und gelesen haben oder uns sogar überzeugen konnten, ein inhaltsvoller Besuch. Es war ein Erfolg der Bundesregierung, zu dem wir gratulieren, ({4}) zumal sie sich eine früher heftig umstrittene, nein angefeindete Politik zu eigen gemacht hat, ({5}) wozu wir auch gratulieren. ({6}) Das ist eine Wende, zu der wir Glück wünschen. ({7}) Die Gemeinsame Erklärung ist mit vollem Recht, meine Damen und Herren, für die Staaten und nicht bloß für die Regierungen formuliert worden. Diese Linie wird, wie ich sehen kann, von allen wichtigen politischen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland getragen. Das heißt: Sie ist für die anderen verläßlich und berechenbar. Sie, Herr Bundeskanzler, und Ihre Mitarbeiter in der Regierung haben es dabei leicht, leichter als es andere vor Ihnen hatten. ({8}) Mit meinen politischen Freunden begrüße ich die Ergebnisse dieser Tage, soweit es sich darum handelt, der praktischen Zusammenarbeit einiges hinzuzufügen und dabei nicht zuletzt die Rahmenbedingungen zu verbessern, unter denen sich ein zunehmender wirtschaftlicher Austausch vollziehen kann. „Hilfe" würde ich das, wo es um beiderseitige, also auch eigene Interessen geht, nicht nennen. Die braucht und sollte man, auch nicht indirekt, als Wohltätigkeit deklarieren. ({9}) Die Haarspalterei orthodoxer Statuspriester in Sachen Berlin hat auch 18 Jahre nach dem Viermächteabkommen, 19 Jahre nach dem Moskauer Vertrag nicht voll überwunden werden können. Das ist aus meiner Sicht mehr als ein Schönheitsfehler und korrekturbedürftig. Wenn ich den Bundeskanzler richtig verstanden habe, könnte sich dort etwas andeuten. Das wäre ja nur zu begrüßen. ({10}) Die Bilanz, meine Damen und Herren, bleibt gleichwohl in doppelter Hinsicht positiv. Das eine Positivum ergibt sich aus dem, was zwischenstaatlich vereinbart wurde; das andere sind die gemeinsamen - „Textübungen" hätte ich fast gesagt - Orientierungen - so will ich sagen -, auf die gestützt den Bemühungen um die Organisation des Friedens in Europa zusätzliche Impulse verliehen werden sollen. Die Gefahr von Formelkompromissen, Herr Bundeskanzler, ist natürlich weiterhin nicht von der Hand zu weisen. Sie ist aber geringer geworden, soweit ich sehen kann. Das ist auch schon etwas. Ich habe - das bleibt einem nicht erspart, wenn man mein Alter erreicht hat - schon viele Texte gelesen, ({11}) viele Texte, die sich gut und vielversprechend lasen, - mit einigen davon habe ich wohl auch direkt zu tun gehabt. Also weiß ich: Wichtiger als der Wortglanz von Prinzipien ist, was man mit und aus ihnen macht. ({12}) Aber, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich stehe nicht an zu sagen, die Gemeinsame Erklärung vom Dienstag ist ein gewichtiges Dokument. Sie formuliert eine Art gemeinsamer Philosophie - wie man heutzutage sagt - der Grundsätze für die Überwindung der europäischen Teilung. Wenn sich die beiden Staaten und ihre Regierungen daran orientieren, sich in ihrer Tagespolitik daran orientieren, dann werden sie den Erfolg haben, den ich uns allen wirklich wünsche. Gorbatschows Satz, daß unsere Zusammenarbeit zu einem Katalysator, zu einem Katalysator neuer Beziehungen zwischen Ost und West, werden könnte, habe ich gern gehört. Ich sage offen: Andere Bezüge erscheinen mir eher wie alte, nicht sonderlich beeindruckende Bekannte, Textbekannte. Etwa zum Selbstbestimmungsrecht der Völker und zu den Menschenrechten ist schon bei früheren Gelegenheiten Wegweisendes zu Papier - zu Papier! - gebracht worden. Manches steht schon in der Charta der Vereinten Nationen, anderes stand schon in der Erklärung von Helsinki. Hoffentlich kann mehr daraus werden. Von allem anderen abgesehen: Wenn wir miteinander das Niveau der Rüstungen in Europa wesentlich herunterschrauben helfen und wenn die Atomwaffen davon nicht ausgenommen werden, ({13}) gibt es neue Hoffnung für eine friedliche Zukunft. Dem sowjetischen Partei- und jetzt auch Staatschef ist im übrigen noch nicht nachgesagt worden, daß er von PR keine Ahnung habe. ({14}) „Public relations", was bei uns „Öffentlichkeitsarbeit" genannt wird, heißt drüben wohl noch immer „Propaganda". ({15}) Auf dem Gebiet haben sich die einen wie die anderen in diesen Tagen so gut bemüht, wie sie konnten. ({16}) Man könnte meinen, dies habe damit zu tun - so ein Besucher aus Übersee zu mir -, daß am Sonntag bei uns gewählt werde. Dieser Besucher hat sich aufklären lassen; aber er hat hinzugefügt, Gorbatschow, falls er kandidierte, hätte doch wohl eine gute Chance. ({17}) Dem konnte ich nun wieder nicht widersprechen. ({18}) Aber erstens kandidiert er nicht und zweitens nicht in Listenverbindung mit seinen Gastgebern in diesen Tagen; ({19}) mit anderen aber auch nicht. Gewiß: Miteinander zu tun haben westeuropäische Einheit und gesamteuropäische Einigung schon. Das wird ja auch, wenn man genau hinhört - auch wenn man es sonst nicht wüßte - , bei jenem Besuch deutlich, den Präsident Mitterrand dieser Tage - nicht zufällig dieser Tage - in Polen macht. ({20}) Da ich „Polen" gesagt habe, füge ich „Ungarn" hinzu. Herr Bundeskanzler, wenn ich nicht hätte hier sein müssen, dann wäre ich heute gern, da ich eingeladen war, in Budapest dabeigewesen, ({21}) wenn auf demonstrativ bewegende Weise einer der schlimmsten Justizmorde der europäischen Nachkriegsgeschichte jedenfalls symbolisch überwunden wird. ({22}) Mit meinen politischen Freunden - vermutlich nicht nur mit ihnen, aber gerade auch mit ihnen - grüße ich alle, die sich im sogenannten Osteuropa - als ich zur Schule ging, hieß das noch anders ({23}) auf jenen Weg begeben haben, der von Recht und Freiheit, europäischer Freiheit, handelt. Meine Damen und Herren, beide Prozesse, die ich andeute, der westeuropäische und der gesamteuropäische Prozeß, können, wenn man Glück hat, in den 90er Jahren - wohl eher in der zweiten Hälfte der 90er Jahre als in der ersten - zu ganz wichtigen Zwischenergebnissen führen. Es wird inhaltlicher Klarheit und ziemlich viel politischer Weisheit bedürfen, damit aus Schnittlinien nicht allzu schwierige Bruchstellen werden. Ich gehe davon aus, daß die meisten von uns, weil es im deutschen Interesse liegt, verhindern helfen möchten, daß die beiden großen europäischen Prozesse dieses Zeitabschnitts miteinander unnötig kollidieren. ({24}) Auch darum geht es übrigens im Europäischen Parlament, zu dem wir, die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik, übermorgen die deutschen Abgeordneten neu wählen. Das ist wichtig genug. Deshalb werbe ich - was erlaubt ist - von dieser Stelle dafür, daß wir nicht zu Hause bleiben, sondern uns auch bei schönem Wetter auf den Weg zur Wahlurne begeben. ({25}) Ich verbinde das mit einer Assoziation, die ich nicht loswerde. Ich habe, wie Sie alle, auch in Stunden, in denen man es loswerden möchte, die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens in Peking vor Augen, die Bilder von den jungen Studenten, von den jungen Arbeitern, die Bilder von Menschen, die meinten, Entwicklung zur Demokratie hin müsse bedeuten, wählen, auswählen zu dürfen. Wir können wählen; tun wir es also auch! ({26}) Dies führt nach vorn. Beim Blick zurück freue ich mich darüber, daß die Zeit hinter uns liegt, in der der Vertrag mit der Sowjetunion wie mit Polen nach hartem Streit der Meinungen und Emotionen nur mit knapper Mehrheit angenommen und auch der Weg nach Helsinki zur gesamteuropäischen Konferenz heftig umstritten war. Heute wird wohl den allermeisten klar sein: Ohne unseren Beitrag, ohne unsere Ostpolitik keine Überwindung des Kalten Krieges. ({27}) Ohne den Moskauer Vertrag keine Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die nach sehr schwierigen, enttäuschenden Anlaufjahren dann durchaus Vernünftiges zustande gebracht hat. Aber, wie wir seinerzeit sagten: Keine deutsche Ostpolitik, die nicht im Westen verankert ist! ({28}) So, wie wir dies damals sagten - wohl nicht von allen damals klar genug angenommen - , sage ich heute: Die Europäische, lies: westeuropäische Gemeinschaft, zu der wir gehören, muß offenbleiben für die sinnvolle Zusammenführung aller Teile des Kontinents, und Europa muß sein Gewicht mehren, ohne sich gegen Amerika zu formieren. ({29}) Ich bekenne, daß mir so war, als hätten in den Wochen vor dem Bush-Besuch einige zu tief in die nationale Mottenkiste gegriffen. Der Teil der europäischen Hausordnung, der in Wien hinsichtlich militärischer Stabilität auf möglichst niedrigem Niveau geschrieben wird, kommt nur mit Amerika zustande. Das weiß man in Moskau, und in Bonn sollte uns dies erst recht bewußt bleiben. ({30}) Im übrigen rückt die Zeit näher, in der abzubauen sein wird, was die Menschen, zumal die Menschen eines Volkes, willkürlich voneinander trennt. Verstehen Sie es nicht falsch, wenn ich sage: Im August 1961 war man - nicht in Berlin, aber sonst - ziemlich allein mit dem Ruf: Die Mauer muß weg! ({31}) Die Westmächte protestierten, bestätigten aber im übrigen, daß die andere Seite in ihrem Bereich machen könne, was sie für richtig halte. Hier in Bonn wurde dem sowjetischen Botschafter bestätigt, man teile unser Entsetzen, doch das Vorgefallene - wie es hieß - , solle die Beziehungen zwischen den beiden Staaten nicht stören. ({32}) Ein Stück Rückerinnerung. Warum erinnere ich daran? - Nicht nur, um uns klarzumachen, wieviel sich verändert hat, sondern auch, um davor zu warnen, in der veränderten Lage zu meinen, die beharrliche Arbeit am europäischen Frieden, die uns aufgegeben ist, sei nun plötzlich durch allzu einfache Formeln zu ersetzen, in Berlin oder anderswo. ({33}) Mancher wird beispielsweise in diesen Tagen gleich mir gedacht haben: Ein Glück, daß wir nicht denen gefolgt sind, die sich jahrelang, und zwar einige von ihnen mit einer gewissen Hartnäckigkeit, darum bemühten, uns den Maoismus als eine vorteilhafte Alternative zum Leninismus zu empfehlen ({34}) und uns das große China als natürlichen und mächtigen Helfer auf dem Weg zu unseren europäischen und deutschen Zielen anzupreisen. ({35}) Das hat sich als ein ziemlicher Irrtum erwiesen. Ein neuer Irrtum wäre es zu meinen, Glasnost und Perestroika kennzeichneten den Weg einer unfallfreien Fahrt. Ohne Rückschläge kann sich ein Prozeß von historischem Gewicht überhaupt nicht vollziehen. ({36}) Mir käme es allerdings einigermaßen anmaßend vor, unsere Empfindungen in die simple Form eines „alles Gute" an die Adresse Gorbatschows zu kleiden oder gar hinzuzufügen, warum wir meinten, er müsse bleiben, was er ist. ({37}) Auf uns in Deutschland kommt es dabei nicht sonderlich an, aber erschweren sollten wir gewiß nichts von dem, was in östlicher Himmelsrichtung an Öffnung und Neugestaltung im Gange ist. Das sympathische Bild vom europäischen Haus ist im übrigen nicht so neu, wie manche meinen. Herr Gromyko hatte es schon Ende der 60er Jahre vor den Vereinten Nationen auf seiner Liste. Breschnew hatte es bei seinem in anderem Zusammenhang erwähnten letzten Besuch in der Bundesrepublik Deutschland drauf, als er schon reichlich klapprig war. ({38}) Ich will damit sagen: Das Bild ist sympathisch. Eine ordentliche Hausordnung zu finden, das bleibt schrecklich wichtig und auch mühsam. Dazu gibt es brauchbare Entwürfe, an denen weiter zu arbeiten sein wird. Sie haben ihre Bedeutung gerade für uns Deutsche hüben und drüben. Denn vom Dach, von den Etagen und von den Umgangsregeln hängt viel für die Art ab, in der wir Deutsche in Europa werden miteinander leben können. Die Chancen - wenn ich dies abschließend sagen darf - , miteinander Vernünftiges zustande zu bringen, sind besser geworden. Das ist eine ganze Menge. Ich gehöre zu denen, die dafür dankbar sind. Aber ich möchte auch weiterhin bei denen sein, die einigermaßen eifersüchtig darüber wachen, daß die den Völkern gemachten Versprechen eingelöst werden. Denn nur wenn sie eingelöst werden, öffnen sich für Europa jene Chancen, auf die die Menschen hüben und drüben Anspruch haben. ({39})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Brandt, Sie haben unter dem Beifall aller Fraktionen auf die Europawahl am kommenden Sonntag hingewiesen. Ich greife das auf und appelliere auch von dieser Stelle aus im Namen des ganzen Deutschen Bundestages an alle unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger: Gehen Sie auch bei Sonnenschein am Sonntag zur Wahl des Europäischen Parlaments! Das ist wichtig für eine gute Zukunft der Völker Europas. ({0}) Das Wort hat jetzt der Abgeordnete Herr Rühe.

Volker Rühe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001897, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Außenpolitische Ereignisse, Staatsbesuche, Gipfeltreffen, das sind Stunden der Regierung. Aber eine kluge Regierung sagt dann nicht: Wir brauchen die Opposition nicht. Da es sich hier um eine kluge Regierung handelt, ({0}) Ruhe sagen wir: Danke für die Unterstützung durch die Opposition für das, was hier erreicht worden ist. ({1}) Ich möchte aber auch ganz besonders dem Kollegen Brandt danken für seine weise und, wie ich finde, große Rede, die er hier gehalten hat. ({2}) Ich danke ihm nicht nur, weil er der Regierung zu den Erfolgen gratuliert hat, sondern weil ich finde, daß er viel Nachdenkenswertes gesagt hat, das nachzulesen und in den außenpolitischen Debatten der nächsten Jahre zu beherzigen sich lohnt. Im übrigen hat er eine Fähigkeit demonstriert, von der man manchmal geglaubt hat, daß sie uns Deutschen abhanden gekommen ist. Das ist die Fähigkeit zur Gemeinsamkeit. Auch dafür ein herzliches Wort des Dankeschön. ({3}) Ich finde auch sehr wichtig, was er über den Zusammenhang zwischen West- und Ostpolitik gesagt hat. Es gibt in diesen Tagen im übrigen viele, die uns bescheinigen, daß wir eine führende Rolle in der Weltpolitik spielen. Ich finde es gut, wenn andere das sagen. Wir selbst sollten uns dabei zurückhalten und uns immer klar darüber sein, welches das Fundament unserer Politik ist: Das ist die Westpolitik, das ist die Demokratie, die wir in diesem Bündnis aufgebaut und geschaffen haben. Das gibt uns jetzt auch die Kraft, an diesem historischen Prozeß der Veränderung in Europa entscheidend mitzuwirken. ({4}) Danken möchte ich im Namen der gesamten Fraktion dem Bundeskanzler, dem Außenminister und der gesamten Bundesregierung insbesondere auch für die erfolgreiche Vorbereitung und Durchführung des Besuchs von Generalsekretär Gorbatschow und für die Arbeit, die hier geleistet worden ist. ({5}) Dieser Besuch kann in der Tat als ein Ereignis von historischer Dimension bezeichnet werden; gemessen an der politischen Bedeutung ist das, so meine ich, kein zu großes Wort. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen befinden sich jetzt auf einem neuen Niveau. Wir teilen diese Auffassung des sowjetischen Generalsekretärs. Daß das erreicht worden ist, ist das Ergebnis guter und harter Arbeit dieser Regierung. Der Bundeskanzler hat dafür mit seiner Politik und mit seinem Besuch in Moskau entscheidende Anstöße gegeben. Dafür gebührt ihm unser besonderer Dank. ({6}) Ich möchte drei Beispiele geben, die die historische Dimension dieses Besuchs in besonderer Weise verdeutlichen. Ein herausragendes und für die künftige Gestaltung der deutsch-sowjetischen wie auch der europäischen Zusammenarbeit bedeutsames Ergebnis des Besuchs ist die Tatsache, daß beide Seiten einen Schlußstrich unter die Nachkriegszeit gezogen haben und sich nun voll auf die gemeinsame Gestaltung einer besseren Zukunft in Europa konzentrieren wollen. Ein zweites, jetzt noch nicht angesprochenes und, wie ich finde, besonders bewegendes Beispiel war der Besuch von Frau Raissa Gorbatschowa und Hannelore Kohl auf dem sowjetischen Soldatenfriedhof im westfälischen Stukenbrock. Für viele deutsche und sowjetische Zuschauer wird es ein unvergeßliches Bild der Versöhnung bleiben. Es kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, daß die Bürger der Sowjetunion in ihrem Fernsehen Bilder sehen konnten, die ihnen zeigten, daß die Gräber ihrer hiergebliebenen Angehörigen von den Deutschen gepflegt werden. ({7}) Wir danken Hannelore Kohl und Raissa Gorbatschowa für dieses Beispiel der Versöhnung, das sie gegeben haben. Ich bin sicher, daß Stukenbrock es uns erleichtern wird, auch die Gräber deutscher Soldaten in der Sowjetunion zu pflegen und der Toten angemessen zu gedenken. ({8}) Zu Recht sind weltweit die Fernsehbilder der herzlichen Aufnahme des sowjetischen Generalsekretärs und seiner Frau gezeigt worden. Diese Bilder drücken doch die berechtigten Hoffnungen und Erwartungen der Menschen auf eine bessere Zukunft in Europa aus. Deshalb haben wir Vereinbarungen wie den Schüler-, Jugend-, Studenten- und Manageraustausch mit der Sowjetunion erreicht und unterzeichnet. Wir werden uns auch dafür einsetzen, daß diese Vereinbarungen, die erste Schritte sind, künftig weiter ausgebaut werden. Herr Kollege Brandt, Sie haben etwas scherzhaft darüber spekuliert, was passieren würde, wenn Gorbatschow hier kandidieren würde. Es gibt ja Meinungsumfragen, die besagen, er sei populärer, als westliche Führer. Ich glaube, wir sollten einmal sehr deutlich sagen: Das, was die Menschen an Gorbatschow - auch zu Recht - fasziniert, hat damit zu tun, daß er sich so grundsätzlich von seinen Vorgängern unterscheidet. Man sollte niemanden dafür tadeln, daß er sich von Breschnew und Stalin so grundsätzlich unterscheidet. Gott sei Dank unterscheiden sich bei allen Unterschieden der Bundeskanzler und der amerikanische Präsident nicht grundsätzlich von ihren Vorgängern. Das waren nämlich auch schon Demokraten und erfolgreiche Politiker. ({9}) Deswegen sage ich auch allen im Westen, die Bauchschmerzen über die Begeisterung haben, mit der Gorbatschow aufgenommen worden ist: Ihr würdet euch wundern, was passieren würde, wenn er bei euch kandidieren würde. Aber die Faszination Gorbatschow bedeutet Hoffnung auf Änderung des Stalinismus und des sowjetischen Kommunismus und bedeutet natürlich überhaupt keine Abwertung der westlichen Politiker. Sie zeigt eigentlich nur, wie erfolgreich wir in unserer Politik gewesen sind. ({10}) Ein drittes Beispiel für die historische Dimension ist die Gemeinsame Erklärung. Sie schaut über das Jahr 2000 hinaus, und sie nennt bedeutsame Bauelemente für den Aufbau eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit, für ein Zusammenwachsen Europas mit dem Ziel, die Teilung unseres Kontinents und damit auch unseres Landes zu überwinden. Ich meine, es ist schon ein sensationelles Dokument; denn darüber ist früher gesprochen worden, auch vor den Vereinten Nationen, aber unterzeichnet worden ist es in dieser Form von der Sowjetunion zusammen mit einem westlichen Staat niemals. „Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten ... muß im Mittelpunkt der Politik stehen. " Ich glaube, das könnte ein Zitat aus dem christlich-demokratischen Grundsatzprogramm sein, das der jetzige Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, für uns erarbeitet hat. Wir sind stolz darauf, daß wir das in einem gemeinsamen deutsch-sowjetischen Abkommen verankern konnten. ({11}) Dort wird festgeschrieben, daß das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen, sichergestellt werden muß, daß das Selbstbestimmungsrecht der Völker uneingeschränkt geachtet werden muß, die Trennung Europas überwunden werden muß. Das werden Leitlinien unseres politischen Handelns in den nächsten Jahren sein. Das sind Formulierungen, auf die nicht nur wir uns berufen können, sondern auf die sich die Menschen in der DDR, in Mitteleuropa, in Osteuropa und in der Sowjetunion berufen können. Ich möchte sie ausdrücklich ermutigen, sich auf dieses gemeinsame deutschsowjetische Dokument zu berufen. ({12}) Es sind aber auch Formulierungen, die das neue Denken in der Sowjetunion widerspiegeln, die eine Absage an den Anspruch auf Vorherrschaft einer Partei bzw. eines Landes sind und die vielmehr eine Zusicherung des Rechts aller Völker auf freie Gestaltung Ihres Schicksals bedeuten. Mit dièsen Formulierungen zur Menschenwürde, zum Selbstbestimmungsrecht und zur Überwindung der Trennung unseres Kontinents werden Perspektiven auf eine bessere Zukunft auch für diejenigen Menschen in Europa aufgezeigt, für die Offenheit, Freiheit und Demokratie bisher noch nicht erlebbar sind. Darin liegt der politische Wert dieser Gemeinsamen Erklärung. Ich denke, daß sie zusätzliche Dynamik in eine Politik der Überwindung der Trennung Europas bringen kann. CDU und CSU betrachten diese Gemeinsame Erklärung als eine beiderseitige Verpflichtung, den Absichtserklärungen Taten folgen zu lassen. Erster konkreter Ausdruck dafür sind die elf während des Besuchs von Generalsekretär Gorbatschow unterzeichneten Vereinbarungen. Wir sind entschlossen, darüber hinaus die vorhandenen Chancen zu nutzen und neue Formen der Zusammenarbeit zu erschließen und diese für einen Wandel in Europa hin zu mehr Offenheit und Freiheit nutzbar zu machen. Wir werden zugleich nüchtern auch die Grenzen der Zusammenarbeit sehen und dort, wo sich noch keine Übereinkünfte erreichen lassen, weiter beharrlich verhandeln. Nur ein solcher politischer Kurs hat die Ereignisse und die Ergebnisse der letzten Tage möglich gemacht und damit die Grundlagen für eine neue Qualität der Beziehungen geschaffen. Wir werden diesen Weg weitergehen, um all die Perspektiven, die sich jetzt aufzeigen, mit Substanz zu erfüllen und sie auszubauen. Wir stehen im übrigen damit in vollem Einklang mit dem, was sich die Staats- und Regierungschefs des Bündnisses in ihrer Brüsseler Erklärung erarbeitet haben, daß - ich zitiere - : das Bündnis seine eigenen Anstrengungen verstärken muß und wird, die Trennung Europas zu überwinden, und alle bestehenden Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Dialogs ausschöpfen. Grundlage dieser unserer Politik ist die feste Einbindung in die Wertegemeinschaft des Bündnisses und der Europäischen Gemeinschaft. Nur auf der Grundlage einer berechenbaren Westpolitik werden wir auch in Zukunft erfolgreiche Entspannungspolitik nach Osten betreiben können. Dazu gehört übrigens auch, daß wir in der Gemeinsamen Erklärung festgeschrieben haben, daß die USA und Kanada ihren Platz auch in dem künftigen Europa des Friedens und der Zusammenarbeit haben müssen; auch dies ist eine ganz wichtige Passage. ({13}) Auf dieser Grundlage kann die Bundesrepublik Deutschland ein Schrittmacher, beispielsweise bei der Durchführung der Bündnisbeschlüsse zur Zusammenarbeit mit dem Osten sein, wie sie während des NATO-Gipfels vereinbart wurden. Ich möchte dem Bundeskanzler auch dafür danken, daß er - und wie er - die deutsche Frage und Berlin deutlich angesprochen hat. ({14}) Herr Kollege Brandt, ich habe Verständnis, daß Sie die Politik der Sozialdemokraten in der Vergangenheit und auch ihre Verdienste um die Ostpolitik gewürdigt haben. Aber ich empfehle einmal das Studium der Reden von sozialdemokratischen Bundeskanzlern in Moskau und auch hier in Bonn bei Begegnungen mit sowjetischen Führern. Dann werden Sie sehen, daß es etwas ganz Neues ist, mit welch großer Deutlichkeit der Bundeskanzler unser Anliegen der Überwindung der deutschen Trennung hier angesprochen hat. ({15}) Das gehört auch zu den entscheidenden Grundlagen der Politik dieser Bundesregierung. ({16}) Was Berlin betrifft, so hat der Bundeskanzler klar gesagt: Die Berliner müssen uneingeschränkt und ohne Diskriminierung an der verstärkten deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit teilnehmen können. Dies muß in Zukunft noch besser sichergestellt werden: im Schiffahrtsabkommen, in der Behandlung von Bundestagsabgeordneten. ({17}) Herr Kollege Vogel, ich möchte einmal an Sie appellieren. Sie sind ja Berliner Bundestagsabgeordneter. Sie werden in Moskau nicht diskriminiert. Machen Sie den Sowjets doch einmal klar, daß Sie Berliner Bundestagsabgeordneter sind ({18}) und daß es natürlich überhaupt nicht hinzunehmen ist, daß man dem Kollegen Kittelmann, wenn der Auswärtige Ausschuß nach Moskau geht und Herr Kittelmann mitfährt, sagt, er sei ein Beobachter dieser Veranstaltung. ({19}) Ich glaube, wir sollten den Sowjets ganz klar machen - ich denke, hier gibt es eine Gemeinsamkeit aller Parteien - , daß Berliner Kollegen hier nicht diskriminiert werden können, wenn es zu der Reise des Auswärtigen Ausschusses nach Moskau kommen soll. ({20}) Es ist nicht zu verstehen, wenn sich in Europa vieles - wenn nicht alles - ändert, daß das um Berlin herumgeführt werden sollte. Auch die Entwicklung hin zu immer mehr Offenheit und Freiheit kann nicht an Deutschland vorbeigelenkt werden. Die Überwindung der Trennung Europas wird deshalb auch zu einer Überwindung der Trennung Deutschlands führen. Das bedeutet, daß die DDR in den Prozeß der Veränderungen in Europa mit einbezogen werden muß, wie sie in Ungarn, in Polen und in der Sowjetunion erfolgen. Um dies deutlich zu sagen: Wir wollen die DDR nicht isolieren, und wir wollen sie schon gar nicht destabilisieren. Aber wir betrachten die politische Stagnation im anderen Teil Deutschlands mit großer Sorge. Vorstellungen, man könne die Entwicklung in Europa hin zu mehr Offenheit, zu mehr Freiheit, zu politischem Pluralismus wieder zurückdrehen, sind völlig verfehlt. Die DDR kann sich auf Dauer nicht schützen gegen den Ostwind, d. h. die Perestroika Gorbatschows, und gegen den Westwind, d. h. die Faszination der westlichen Demokratie, etwa in unserem Lande. Es ist unmöglich, sich gegen eine solche Entwicklung zu stemmen. Deswegen wäre sie gut beraten, wenn sie diese Entwicklung positiver aufnehmen würde. ({21}) Wer versucht, überkommene Relikte des Kalten Krieges wie die Mauer in Berlin oder den Eisernen Vorhang an der innerdeutschen Grenze mit neuen Begründungen zu versehen, der wird damit scheitern. Ich appelliere deshalb an die Führung der DDR, an die Führung der SED, sich diesem historischen Trend in Europa nicht länger zu widersetzen. Früher oder später werden auch die Deutschen in der DDR genau die gleichen Rechte fordern, wie sie den Polen und Ungarn nunmehr zugestanden werden. Je früher die SED damit beginnt, diese Menschen, Reformer -übrigens auch Reformer in anderen sozialistischen Staaten - nicht, wie in den jüngsten Tagen geschehen, als Konterrevolutionäre abzutun, die - Zitat - „unter dem Motto der Vielfalt versuchten, ihr Süppchen zu kochen" , so Frau Margot Honecker, sondern sie in einen echten Dialog mit einzubeziehen, desto besser wird das für die weitere Entwicklung des anderen Teils Deutschlands und der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten sein. ({22}) Die DDR hat, was Luther, was Friedrich den Großen betrifft, die deutsche Geschichte mit Recht aufgearbeitet. Es ist heute - das sage ich einen Tag vor dem 17. Juni an dieser Stelle - mehr als überfällig, daß sie auch ihre eigene Geschichte aufarbeitet. Dazu gehört auch der 17. Juni 1953. ({23}) Deshalb drücke ich die Hoffnung aus, daß die kürzliche Äußerung eines führenden DDR-Historikers, wonach der Aufstand am 17. Juni kein konterrevolutionärer Putsch gewesen ist, der Beginn eines solchen Prozesses ist. Die DDR wird nicht daran vorbeikommen können, daß es sich bei den Ereignissen am 17. Juni 1953 um einen Volksaufstand der Deutschen gegen die kommunistische Herrschaft gehandelt hat. ({24}) Wenn heute in Budapest vielleicht Hunderttausende von Menschen auf die Straßen gehen und Imre Nagy rehabilitieren, ({25}) dann ist das eine politische Revolution. Wenn die Ungarn ihre Geschichte neu schreiben, und dies unter aktiver Mitwirkung des Politbüros der Kommunistischen Partei Ungarn, dann ist es doch eine Illusion, daß die kommunistische Partei im anderen Teil Deutschlands auf Dauer an einer Neubewertung des 17. Juni vorbeigehen könnte. ({26}) In Ungarn haben die Veränderungen nicht an der Grenze mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs begonnen, sondern der friedliche Wandel ist im Innern begonnen worden. Das hat die Öffnung nach außen ermöglicht; das hat den Abbau des Eisernen Vorhangs ermöglicht. Auch daraus kann die DDR lernen. Wir können uns vorstellen, welcher Mut für die Einleitung und Durchführung eines derartigen Veränderungsprozesses, wie er heute in Ungarn stattfindet, notwendig ist. Deswegen sollten wir an dieser Stelle auch den ungarischen Kommunisten, den Reformkommunisten, die dies betrieben haben, unseren tiefen Respekt für diesen Mut aussprechen. ({27}) Wir wünschen diesen Mut auch Generalsekretär Honecker. Ich möchte ihn aufrufen, sich mit seiner SED nicht länger einzugraben, sondern sich zu öffnen, die SED durchzulüften und für den Veränderungsprozeß in ganz Europa bereitzumachen. ({28}) Gerade die Veränderungen in Ungarn und Polen haben deutlich gemacht, daß für die notwendige politische Modernisierung der osteuropäischen Staaten der Dialog und die Zusammenarbeit mit allen gesellschaftlichen Kräften nicht nur nötig, sondern auch möglich ist. Nur auf diesem Wege bestehen Perspektiven für eine bessere Zukunft. Es wird viel über die Gefahr der Destabilisierung spekuliert. Auch in den Gesprächen des Bundeskanzlers mit dem sowjetischen Generalsekretär hat das eine Rolle gespielt. Ich meine, wir müssen deutlich machen, daß die größte Gefahr für die Stabilität dann besteht, wenn man sich in Europa nicht verändert, wenn man nicht bereit ist, sich zu reformieren. Eine Sowjetunion ohne Gorbatschow, die weiter erstarrt wäre, wäre die größte Gefahr einer Destabilisierung in Europa gewesen. Deswegen müssen wir mit aller Deutlichkeit sagen: Wer neue Stabilität, wirkliche Stabilität, Frieden und Zusammenarbeit, gegründet in Europa, schaffen will, muß auch zu einem radikalen Wandel bereit sein. Das ist heute das Lebensgesetz der Sowjetunion und der Staaten in Mittel- und OstEuropa: Neue Stabilität nur durch radikalen Wandel. In diesem Prozeß müssen wir sie unterstützen. ({29}) Was die Spielregeln in dem gemeinsamen Haus Europa angeht, so ist klar, daß darin das Machtmonopol einer einzigen Partei keinen Platz hat. Die Möglichkeit zum Machtwechsel gehört dazu. Wir sind froh, daß sich eine solche Entwicklung in Ungarn und in Polen abzeichnet. Anderswo ist das leider noch nicht so. Wir müssen auch unseren Bürgern sagen, daß unsere Sicherheit natürlich gar nicht in erster Linie von Panzern und Flugzeugen, sondern viel mehr noch von den politischen Veränderungen in Osteuropa abhängt. Wenn ein Parteichef einer kommunistischen Partei bereit ist, Oppositionsführer zu werden, dann frage ich: Wie viele Divisionen ersetzt das? ({30}) Das hat natürlich eine enorme Auswirkung für unsere Sicherheit. Deswegen wird die NATO in den nächsten Jahren verstärkt - ({31}) - Ich weiß gar nicht, Herr Schily, warum Sie sich so aufregen. Sie gehörten doch 1983 zu den Raketenzählern, die vielfach die Sicherheitsprobleme Europas viel zu verengt gesehen haben. ({32}) Je mehr Demokratie und je mehr Offenheit es in Europa gibt, desto sicherer fühlen wir uns doch auch. Zwischen Demokratien gibt es kaum die Gefahr eines militärischen Konflikts. Das muß man doch begreifen. Darum geht es doch in Europa. Deswegen ist dieser Prozeß der politischen Veränderungen in Europa von so großer Bedeutung. Meine Damen und Herren! Liebe Kollegen! Auch ich möchte am Ende appellieren, am Sonntag zu wählen. Wenn Sie Menschen treffen wollen, die von dem fasziniert sind, was wir in den letzten 30 Jahren in Westeuropa geschaffen haben - das ist bisher die einzige Revolution, die es nach dem Kriege in Europa gegeben hat -, dann dürfen Sie nicht nach London gehen - dahin schon gar nicht - , aber auch nicht in die Städte unseres Landes, sondern dann müssen Sie nach Warschau, nach Budapest, nach Belgrad gehen. ({33}) Diese Länder wissen einzuschätzen, was wir hier an Neuordnungen geschaffen haben. Ich finde, auch aus Respekt gegenüber diesen Europäern, die auf eine ähnliche Entwicklung für sich hoffen, müssen wir zu dieser Wahl gehen. Wir müssen die Kräfte unterstützen, die beim Aufbau eines politischen Europas, eines Europas, das auch in Zukunft faszinierend sein wird, das ein Magnet für die Menschen in Osteuropa sein wird, weitermachen wollen. Wir brauchen ein geeintes Westeuropa, damit dieser Prozeß, über den wir heute reden, in Zukunft ohne Zusammenbrüche weitergeführt werden kann. Deswegen mein Appell: Gehen Sie zur Wahl! Unterstützen Sie diejenigen, die diesen europäischen Prozeß energisch vorantreiben wollen! Vielen Dank. ({34})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In dieser Woche haben wir in unserem Land den Staatsbesuch des Generalsekretärs Gorbatschow erlebt. Wir GRÜNEN haben diesen Besuch begrüßt. Wir freuen uns, daß mit Gorbatschow und durch seine Politik die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion verbessert wurden. ({0}) In der fast überwältigenden Zustimmung, die dieser Besuch auch bei den Menschen in unserem Lande fand, wurde der Wunsch nach einer besseren Zukunft, nach Überwindung der alten Feindbilder, nach Überwindung der Militärblöcke, der gegenseitigen Bedrohung, der Überrüstung, der Abgrenzung und der geschlossenen Grenzen sehr deutlich. Wir spüren in dieser Zustimmung auch die Hoffnung, daß es den Politikern gelingen möge, den Weg zu einem friedlichen und freundschaftlichen Zusammenleben der Völker in Europa zu finden. Für alle, die in unserem Lande Politik machen, bedeutet diese Zustimmung auch eine Erinnerung an die große Aufgabe, an der Politik gemessen wird. Dr. Lippelt ({1}) Deshalb - nicht ganz in der noblen Haltung, die der Altbundeskanzler hier an den Tag legte - muß ich mit einigen Bemerkungen etwas direkter kritisieren. In seiner Tischrede sprach der Bundeskanzler die historische Dimension mit folgendem Satz an: Vor 50 Jahren begann der Zweite Weltkrieg mit dem Überfall auf Polen, das kurz zuvor durch einen schändlichen Pakt zum vierten Mal, geteilt wurde. Was für ein Satz! Da wird die Aggression - der Überfall auf Polen - hinter den anonymen Worten „es begann der Zweite Weltkrieg" versteckt, und das spätere Opfer wird in demselben Satz durch den Hinweis auf den Hitler-Stalin-Pakt schon in die Mithaftung genommen. Das alles geschieht in einem Satz. Wenn gute Politik Gestaltung der Zukunft aus Aufarbeitung der Vergangenheit ist, so ist aus solchem Vergangenheitsverständnis keine zukunftsträchtige Politik zu erwarten. Und ich frage weiter: Die nach wie vor ungesühnten Verschleppungen, die Zwangsarbeiter, die Deportierten, was ist eigentlich mit all diesen Opfern der nationalsozialistischen Verbrechen in der Sowjetunion? ({2}) Ich denke, es ist eine noble Geste von Gorbatschow, zu sagen: Wir machen einen Strich unter die Vergangenheit. Doch zwischen seinem und unserem Willen besteht ein großer Unterschied. Wir müssen wissen: Es gibt noch immer offene Wunden, noch immer fehlen Versöhnungsgesten gegenüber den Opfern. Das Buch der Nachkriegsgeschichte kann von unserer Seite erst geschlossen werden, wenn die Opfer des Nationalsozialismus auch dort entschädigt werden. Eine große Geste von deutscher Seite blieb bei dem Gorbatschow-Besuch leider aus. ({3}) Natürlich kann dieser Besuch nicht ohne die unmittelbare Vorgeschichte von NATO-Krise und Bush-Besuch gesehen werden. In der Gemeinsamen Erklärung sucht man in der Aufzählung der zu unterstützenden Abrüstungsschritte vergeblich nach der doch jetzt so zentral gewordenen Frage der Kurzstreckenraketen. Es ist zu vermuten, daß darüber nichts gesagt wird, weil die Sowjetunion dann ihre Option auf die dritte Null-Lösung hineingeschrieben hätte. In der Tischrede hat der Kanzler die Frage angesprochen, verknüpft mit der Aufforderung an seinen Gast, der nun ja doch schon einige einseitige Vorleistungen erbracht hat, er möge hier doch erst einmal eine einseitige Vorleistung erbringen. Das ist schon ein seltsames Vorgehen, wenn man bedenkt, wie sehr doch Kanzler und Außenminister in Brüssel mit ihrer Forderung nach sofortiger Verhandlung abgeblitzt sind; nicht einmal der Modernisierungsverzicht konnte bekanntlich in dem Hauptdokument untergebracht werden. ({4}) Während der Gast in seiner Tischrede eingangs von der Perestroika spricht, die nicht nur eine interne Angelegenheit, sondern auch ein „Bestandteil zunehmender Demokratisierung der Weltordnung" sei, verschanzt sich der Bundeskanzler hinter dem Raketenzaun der NATO, indem er - wörtliches Zitat - als „Mitglied dieses Bündnisses" seinen Gast begrüßt und ihm, obwohl längst in Kenntnis des Prinzipienkatalogs der Gemeinsamen Erklärung, zunächst erst einmal wieder die NATO als Wertegemeinschaft vorführt. Nein, neues Denken, neue Konzeptionen für eine Ost- bzw. Europapolitik wurden von seiten des Kanzlers nicht erkennbar. ({5}) Der Besuch diente, beurteilt man ihn nach den unterzeichneten Verträgen, dem Ausbau gesellschaftlicher Kontakte auf verschiedenen Ebenen, gesellschaftlicher und kultureller Kontakte sowie vor allem der Wirtschaftsbeziehungen. Die breite Zustimmung zu Gorbatschow während des Besuchs trug oft Züge einer unkritischen Begeisterung für Glasnost und Perestroika. Nur die persönliche Begegnung zwischen den Menschen beider Länder, gegenseitige Besuche, gemeinsame Arbeit werden dazu führen, daß sich die allgemeine Hilfsbereitschaft in ein vertieftes Verständnis füreinander umsetzt. Insofern begrüßen wir GRÜNEN ausdrücklich die Abkommen vom Dienstag, die solche Begegnungen erleichtern und systematisieren helfen. Wir möchten zusätzlich anregen - ich nehme hier die Worte des Bundeskanzlers auf - : Zum erstenmal seit den Anfängen der Sowjetunion fand eine solch große öffentliche Debatte über die Zukunft und die Probleme des Landes im Kongreß der Volksdeputierten statt. Wir haben die Herausbildung der demokratischen Strömung um Afanasjew und Saslawskaja, um Sacharow und Jelzin erlebt. Wir sehen, wie die informellen Gruppen in der Sowjetunion wachsen. Wir wünschen uns deshalb festere Beziehungen zwischen dem Deutschen Bundestag und den Mitgliedern des Kongresses der Volksdeputierten. Wir setzen uns für einen systematischen Erfahrungsaustausch mit ihnen ein. Wir hoffen, daß auf Grund der verbesserten Beziehungen solche Zusammenarbeit in Zukunft möglich ist. ({6}) Noch zwei Worte zum vereinbarten Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen. Die Bundesregierung und Gorbatschow haben in der Gemeinsamen Erklärung viele schöne Prinzipien unterschrieben: Das Überleben der Menschheit müsse im Mittelpunkt der Politik stehen, die natürliche Umwelt müsse gerettet werden, Hunger und Armut müßten überwunden werden. Das sind schöne Prinzipien, die auch wir unterstützen. Wir werden die Unterzeichner deshalb auch daran messen. Allerdings sind nach unserem Verständnis gemeinsame Weltraumfahrten und Zusammenarbeit in der Hochtemperaturtechnologie nach unserem Verständnis für die Durchsetzung solcher Prinzipien nicht geeignet. ({7}) Der Ausbau der allgemeinen Wirtschaftsbeziehungen, Investitionsschutzabkommen, Managertraining, ein schwäbischer Technologiepark bei Leningrad - das alles spiegelt die Hoffnung der Wirtschaft auf die Ausweitung des Business as usual wider, und wir haben auch nichts dagegen. Dr. Lippelt ({8}) Wir hören aber viele Reden, auch vom Bundeskanzler, in denen immer wieder selbstsicher festgestellt wird, daß sich angesichts der Krisen in Osteuropa der Westen und dieses Wirtschaftssystem endgültig als überlegen erwiesen hätten. Dagegen halten wir fest: Es geht schon lange nicht mehr darum, ob Kapitalismus oder Sozialismus das bessere System sind, sondern es geht darum, wie sich beide bei den neuen Aufgaben des Umweltschutzes bewähren. ({9}) Alle wissen genau, daß unser System des Raubbaus an der Natur, der Ressourcenverschwendung und der Umweltverschmutzung nicht einfach exportiert werden kann. ({10}) Angesichts eines sich reformierenden Osteuropa kommen auf uns große und andere Aufgaben zu. Wir müssen gemeinsam und verantwortlich darangehen, für uns und für Osteuropa Entwicklungswege zu suchen, die unsere eigenen Lebensgrundlagen nicht zerstören und die unseren Energieverbrauch eindämmen. Perestroika in der Sowjetunion und Umbau der Industriegesellschaft hier sind zwei sehr verschiedene Aufgaben, die auf sehr verschiedenen Grundlagen angegangen werden müssen. Doch Veränderungen stehen auch hier an. ({11}) In den Reden unserer Politiker war so enttäuschend wenig davon zu spüren, daß die Veränderungen in Osteuropa auch Anstöße zu Veränderungen bei uns bedeuten müssen. ({12}) In seiner Tischrede hat Gorbatschow zumindest diesen Aspekt angesprochen. Von der Bundesregierung kam weder in den Reden etwas, noch läßt sich in den unterzeichneten Verträgen auch nur ein Bewußtsein für diese Aufgabe finden. Frau Präsidentin; meine Damen und Herren, gestern landete Präsident Mitterrand zu seinem Staatsbesuch in Warschau. Im Fernsehen sahen wir, wie er nicht nur von Jaruzelski, sondern auch von Walesa begrüßt wurde. Heute wird in Budapest mit einer sicher sehr großen Demonstration Imre Nagy rehabilitiert und endlich in Ehren beigesetzt werden - alle meine Vorredner haben hierauf hingewiesen - , Imre Nagy, der reformkommunistische Politiker, der angesichts der einmarschierenden sowjetischen Truppen die Neutralität seines Landes ausrief. 1956, in der hohen Zeit des Kalten Krieges, wurden Konflikte zwischen den Militärblöcken nur als militärisch lösbar angesehen. Heute, angesichts des KSZE-Prozesses, der UNO-Pakte, der vielen Begegnungen und Verträge, könnte es hoffentlich in Europa nicht mehr passieren, daß ein Volksaufstand militärisch niedergewalzt wird. Wir setzen auf einen Zivilisierungsprozeß der Staatengemeinschaft, auch wenn sich China noch einmal so mörderisch davon ausgeschlossen hat. Im Rahmen eines solchen Zivilisierungsprozesses sind dann allerdings Militärblöcke zunehmend anachronistisch. Gegen Reformprozesse wie in Ungarn und Polen ist eine militärische Rüstung unsinnig. Wir wissen, daß die Wahlergebnisse in Polen, die Verhandlungen über die Wahlen in Ungarn und der Kongreß der Volksdeputierten in der Sowjetunion noch keine unumkehrbaren Prozesse sind. Trotzdem sind wir jetzt zu einer Zusammenarbeit und einer Hilfe herausgefordert, die es nicht mehr verantwortbar sein läßt, daß 53,3 Milliarden DM jährlich in unserem Lande für militärische Zwecke ausgegeben werden. Diese Folgerung, Herr Rühe, haben wir Ihnen zu Ihrer richtigen Bemerkung vorhin zugerufen. Angesichts einer solchen Summe ist es beschämend, daß sich die Bundesregierung bis heute ziert, Polen endlich die Schulden aus den alten Staatskrediten zu erlassen und Wege der finanziellen Hilfe auszuarbeiten, die weder einfach die Mißwirtschaft der Nomenklatura stützen noch Polen in eine neue Schuldenfalle schicken würden. Seit zwei Jahren wird nunmehr an dem sogenannten Durchbruch in den deutsch-polnischen Beziehungen gearbeitet. Am Beginn dieses Jahres zog der Bundeskanzler die Sache an sich. Inzwischen ist Herr Teltschik ein um das andere Mal - wenn ich recht gezählt habe, war es einschließlich der Treffen hier siebenmal - mit seinem Partner auf der Gegenseite zusammengewesen. ({13}) Der Bundeskanzler hat auch heute wieder seine baldige Reise in Aussicht gestellt. Doch selbst wenn es jetzt noch dazu kommen würde - wir wünschen es sehr, Herr Bundeskanzler, und wir unterstützen Sie darin - , muß doch das außenpolitische Versagen, diese Reise vor dem Gorbatschow-Besuch nicht zumindest ankündigen zu können, angemerkt werden. Denn die russischen Märkte zu pflegen ist eines; die konkrete Arbeit an der Rekonstruktion Europas auch und gerade in den Beziehungen zu den kleinen mittelosteuropäischen Ländern ist etwas anderes. Diese Tage des Gorbatschow-Besuchs waren leider nicht frei von einem Hauch von Rapallo. Das ist bedauerlich; das hätte durch eine frühere Einigung erledigt werden können. Wir hoffen, daß die Bundesregierung es jetzt endlich schafft, die Querelen in den Reihen der CDU/CSU zu beenden, das deutsch-polnische Verhältnis nicht länger zum Spielball des innerparteilichen Gezänks zu machen, und daß der Kanzler wirklich Mitte Juli nach Warschau fährt und der Bundespräsident am 1. September Polen besuchen wird. Erst bei gleicher, intensiver Pflege der Beziehungen zu den kleinen und dem großen Nachbarn im Osten ist eine Wiederherstellung des gesamteuropäischen Zusammenhangs möglich. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Graf Lambsdorff.

Dr. Otto Lambsdorff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001272, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Wann hätten wir - auch in diesem Hause - je feststellen können, die Welt sei in Bewegung geraten und endlich einmal - mit gewissen Einschränkungen, die immer übrig bleiben - in eine Richtung, die Hoffnung verspricht, die eine Bewegung zum Besseren kennzeichnet? Moskau, Polen, Ungarn stehen als Stichworte dafür. China ist ein entsetzlicher Rückschlag. Herr Brandt, wir werden uns einig sein: Es sind nicht nur die Bilder vom Platz des Himmlischen Friedens, die Bilder von gestern, die Jagd auf Menschen ist ebenso entsetzlich. ({0}) Ich sage, Herr Brandt - nicht wegen billiger Imitation - : Es tut mir genauso leid, heute wegen dieser Debatte nicht in Budapest sein zu können. Der Name Nagy steht für einen der schlimmsten Justizmorde der Nachkriegszeit. Er macht noch einmal deutlich, wie schrecklich irreversibel und deswegen widerwärtig die Todesstrafe ist. ({1}) Für Deutschland, für Europa, vielleicht für die Welt hat die deutsch-sowjetische Begegnung dieser Woche neue hoffnungsvolle Zeichen gesetzt. Wir sagen - ich glaube, ohne Übertreibung - : In diesen Tagen ist nicht nur für unser Volk allein eine große, weitreichende Perspektive der Versöhnung, des Ausgleichs und des Friedens eröffnet worden, die Perspektive einer guten Nachbarschaft, die nicht nur auf papierenen Verträgen - Sie haben recht, Herr Brandt -, sondern auch auf Vertrauen und Selbstbestimmung der Völker gründet. Es liegt vor allem an uns, an Regierungen und Politikern in Moskau wie in Bonn, ob aus dieser Chance Realität wird, die Realität einer europäischen Friedensordnung, die dann für das gesamte gemeinsame Haus Gültigkeit hat. Beide Begriffe sind in der am Dienstag unterzeichneten Gemeinsamen Erklärung beschrieben. Der Herr Bundeskanzler hat mit Recht auf den Satz von Herrn Gorbatschow hingewiesen, einen Schlußstrich unter die Nachkriegszeit zu ziehen. Wer weiß, daß es fast niemanden in der Sowjetunion, dem man in den letzten Jahren begegnet ist, gibt, der keine persönlichen Opfer in seiner Familie in diesem Kriege zu verzeichnen hatte, kann ermessen, was ein solcher Satz für die sowjetische Führung, aber auch für uns bedeutet. Es bedeutet die Manifestation der festen Absicht, daß wir unseren Kindern und Enkeln die Wiederholung eines solchen Krieges ersparen wollen. Das ist eines der vornehmsten Ziele derjenigen, die politisch arbeiten und diesen Krieg noch selber miterlebt haben, ob als Kinder, erst recht aber als Teilnehmer, als Soldaten. ({2}) Aber ich sage mit etwas Zurückhaltung auch dies: Historische Bedeutung wird diese Erklärung erst erhalten, wenn es uns gelingt, diese Begriffe mit Leben zu füllen. Wir sind für meinen Geschmack ein bißchen zu eilig dabei, als Tagespolitiker unsere Arbeit selber als historisch zu bewerten. Die Geschichte, die Historie - wie das Wort sagt - wird darüber entscheiden, nicht wir, auch nicht eilfertige Kommentatoren. Bei allem guten Willen beider Seiten wird es keine leichte Sache werden, das zu tun. Es bleiben ja politische Differenzen, unterschiedliche Interessen, unterschiedliche gesellschaftspolitische Wertvorstellungen. Es bleiben auch zwei Bündnisse. Wir wissen, daß es niemals einen deutsch-sowjetischen Neubeginn hätte geben können, wenn wir nicht so fest in unserer Bündnisgemeinschaft stünden. ({3}) Aber wir können jetzt demonstrieren, daß Bündnisse keine einbetonierten Blöcke sind, daß Bündnisse auf friedliche, verständigungsbereite Weise aufeinander zugehen können. Die Anfänge dazu sind gemacht. Das alles hat ja nicht erst am Montag dieser Woche angefangen. Als Abgeordneter der Freien Demokratischen Partei und jetzt als ihr Vorsitzender sage ich gerade in dieser Debatte - das tue ich mit besonderer Genugtuung - : Wir haben uns seit den 50er Jahren um Gespräche und Ausgleich mit Osteuropa bemüht. Ich nenne den Namen Karl Georg Pfleiderer, ich nenne den Namen Walter Scheel, und ich nenne den Namen Hans-Dietrich Genscher. ({4}) Durch 30 Jahre zieht sich eine klare Linie liberaler Außenpolitik. Wir haben Ihre Ostpolitik, Herr Brandt, mit konzipiert und mitgetragen. Die heutigen Ergebnisse gäbe es nicht ohne Ostpolitik und nicht ohne KSZE, wie Sie zu Recht gesagt haben. Wir waren mit Bundeskanzler Brandt am Werbellinsee. Aber wir haben auch am NATO-Doppelbeschluß festgehalten, als andere längst abgespungen waren. Auch er gehört in diese Kette. ({5}) Wir stehen mit Bundeskanzler Kohl zu den Abmachungen, Verträgen und Erklärungen dieser Woche, die unsere Beziehungen zur UdSSR auf eine neue Grundlage des Vertrauens stellen. Erlauben sie mir, meine Damen und Herren, eine persönliche Bemerkung. Als ich in der Redoute und im Schloß Augustusburg den großen Andrang, die Begeisterung sah - nicht nur die der sogenannten kleinen Leute, auch die der dort Geladenen - , habe ich daran gedacht, was es in meinem beruflichen Umfeld bedeutete, sich nach 1969 zu dieser Ostpolitik und ihrer Koalition zu bekennen. ({6}) Ich habe dies mit einiger Genugtuung und einigem Amüsement festgestellt, aber auch mit Befriedigung; denn wir haben uns durchgesetzt, und die Ergebnisse werden heute von allen akzeptiert. So, wie wir, die Freien Demokraten, diese Politik bis zum heutigen Tage mitgestaltet und mitverantwortet haben, so werden wir jetzt alle Anstrengungen mit unternehmen, um aus unserer fest verankerten Position in der westlichen Gemeinschaft Brücken zum Osten Europas zu schlagen. Das geschieht ohne Schwärmerei, ohne diesen angeblichen Anflug von Gorbimanie, die uns manche ausländischen Beobachter vorwerfen wollen. Herr Rühe hat recht mit seiner Bemerkung. Ich habe meine amerikanischen Freunde immer gefragt: Wie war das denn, als Herr Gorbatschow zu den Vereinten Nationen nach New York kam? Was war denn da auf den Fernsehschirmen zu sehen? Außerdem, meine Damen und Herren: Hier kommt eben zum erstenmal ein sowjetischer Generalsekretär, der nicht mit Zuckerbrot und Peitsche in die Bundesrepublik einreist, sondern dem man seine ehrliche Überzeugung und seinen ehrlichen Willen abnehmen kann. ({7}) Außerdem ist es etwas Neues. Die Besuche des französischen Staatspräsidenten sind Business as usual und routine, und das ist gut so. Auch jeder amerikanische Präsident kommt hierher; das ist ebensogut. Daß Gorbatschows Besuch hier besonderes Interesse findet, braucht bei unseren Freunden im Ausland niemanden aufzuregen. Es geschieht, so sagte ich, ohne Schwärmerei, aber voller Hoffnung, daß mehr Begegnungen von Schülern, Künstlern, Wissenschaftlern, Studenten, Orchestern, Theatern einen Boden bereiten, auf dem die Politiker aufbauen können. Es geschieht in der Erwartung, daß die recht verstandenen Interessen der Sowjetunion mit ihren brennenden politischen und wirtschaftlichen Problemen nur auf Ausgleich mit dem Westen, auch mit der Bundesrepublik, gerichtet sein können. Wir haben wohl alle in diesem Hause den Eindruck gewonnen, daß der Mann an der Spitze der UdSSR weiß, daß er seine innenpolitischen Ziele nur erreichen kann, wenn er Spannungen nach außen abbaut. Der Wandel der von Gorbatschow verfolgten sowjetischen Politik wird, wenn er am Ende Erfolg hat, nicht nur seinem Land dienen. Er wirkt sich schon jetzt auf Osteuropa aus - und nicht nur dort. Er bestätigt unsere Politik der Verständigung. Deshalb sind nicht nur wir Deutschen, sondern auch das gesamte Bündnis zur Kooperation bereit. Die jüngste NATO-Tagung hat es bewiesen, ebenso der Bonn-Besuch von Präsident Bush, der durch die Visite dieser Woche nicht in den Schatten gestellt worden ist, auch wenn ein Kommentator von Radio Bremen gestern abend meinte, den amerikanischen Präsidenten als graue Maus im Weißen Haus bezeichnen zu müssen. ({8}) Wenn ich den als „rote Ratte in Radio Bremen" bezeichnen würde, was dann wohl los wäre! ({9}) Meine Damen und Herren, wir sind zur ökonomischen Zusammenarbeit bereit. Herr Lippelt, das ist eben nicht Business as usual und nicht nur Geschäftemacherei, sondern wir wollen der Sowjetunion und Herrn Gorbatschow dabei helfen, ihren Bürgern einen Lebensstandard zu vermitteln, auf den diese Menschen beinahe 50 Jahre nach Kriegsende wirklich einen Anspruch haben. ({10}) Das hat mir Herr Dobrynin im vorigen Jahr gesagt, andere haben das gesagt: Wann können denn unsere Bürger einmal so leben wie eure? Wir müssen unsere Wirtschaft in Ordnung bringen. Dabei wollen wir ihnen helfen. ({11}) Die eigentliche Aufgabe aber, meine Damen und Herren, das Land zu modernisieren, auch ökonomisch, liegt nicht hier, sie liegt dort, bei aller deutschen Bereitschaft zur kommerziellen Hilfe. Der angekündigte Abbau der überdimensionierten, das Volksvermögen auffressenden Rüstungsproduktion mag der Sowjetwirtschaft helfen. Die Wiener Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte sind nicht zuletzt mit unter diesem ökonomischen Aspekt zu sehen. Das Angebot von Präsident Bush auf diesem Gebiet findet - das wissen Sie - unsere volle Unterstützung. Die Gespräche mit Generalsekretär Gorbatschow haben gezeigt, daß es - so hoffe ich jedenfalls - auf aufnahmebereite Resonanz trifft. Den leichten Unterschied zum NATO-Angebot zwischen der Rede in der Redoute und der Pressekonferenz habe ich nicht überhört. Da wird wohl noch Aufklärung notwendig sein. Herr Brandt, Sie haben hier vorhin gesagt: Ohne die Vereinigten Staaten geht es nicht. - Das ist völlig richtig. Das deckt sich mit unserer Auffassung. Von der Bundesregierung erwarten wir, alles Vernünftige zu tun, damit als Folge dieser Verhandlungen auch über die Verringerung der Kurzstreckenraketen auf beiden Seiten gesprochen werden kann, und zwar sobald wie möglich. ({12}) Meine Damen und Herren, wir haben Einfluß darauf. In aller Bescheidenheit: Nach den Besuchen der Präsidenten Bush und Gorbatschow bei uns hat diese deutsche Einflußnahme zumindest nicht abgenommen. Solch offensichtlich erstarktes Gewicht darf und wird uns nicht zur politischen Großmannssucht verführen. Wir haben nicht die Absicht, uns als Wortführer des Westens zu gerieren. Wir suchen nicht nach deutschen Sonderwegen. Das würde alle guten Ansätze zu mehr Verständigung, zu Abrüstung, zu fortgesetzter Kooperation aufs Spiel setzen. Wir sehen freilich, wie sich überkommene Strukturen der West-Ost-Politik verändern. Wir sehen, was in Osteuropa vor sich geht. Wir können uns deshalb auch nicht vorstellen, daß dies alles spurlos ausgerechnet an der DDR vorbeigeht, wenngleich ich uns zur Geduld mahne. Wir sind nicht dazu da, die Verhältnisse zu destabilisieren. Wir müssen sagen, daß wir Mauer und Stacheldraht weghaben wollen und entsetzlich finden. Aber wir müssen darauf warten, bis sich die Dinge so entwickeln, daß das ohne bruchartige Entwicklung vor sich gehen kann. ({13}) Uns muß daran liegen, meine Damen und Herren, mehr Freiheit und bessere Lebensbedingungen für die Menschen in der DDR zu bewerkstelligen. Das muß das erste Ziel sein, wobei wir aber - Herr Vogel, wir teilen nicht die Auffassung Ihres Präsidiumsmitglieds Schröder - den Weg zur staatlichen Einheit, das Ziel der staatlichen Einheit nicht aufgeben werden und nicht aufgeben dürfen. ({14}) Meine Damen und Herren, ganz Europa hat jetzt die vielleicht unwiederholbare Chance, zu einer neuen Gemeinsamkeit zu finden, zu einer Zusammenarbeit unter Prinzipien, wie sie in der Gemeinsamen Erklärung niedergelegt worden sind. Dafür braucht die sowjetische Führung innenpolitischen Erfolg. Dazu sollen auch die Länder des Warschauer Pakts beitragen, die heute noch abseits stehen. Dazu muß auch die DDR beitragen, indem sie ihren Bürgern mehr Freiheiten gewährt, und dazu muß das westliche Bündnis beitragen. Ich denke, wir können sagen, daß das geschieht. Dazu muß die Bundesrepublik durch ihre Kooperationsbereitschaft beitragen, die sie nun noch einmal bekräftigt hat. Wir merken alle: Es bewegt sich etwas in Europa und zwischen den Großmächten. Wir können und wir müssen diese Bewegung fördern, nicht allein, sondern zusammen mit unseren Freunden in Europa und jenseits des Atlantik, in eine Richtung, die auf gesicherten Frieden, auf Verständigung, auf Menschenrechte weist. Meine Damen und Herren, in aller Nüchternheit: Dies kann eine realistische Aussicht sein, dem von Kriegen und Spaltungen und Unterdrückungen geprägten 20. Jahrhundert dann doch noch einen versöhnlichen Ausgang - wenigstens auf unserem Kontinent - zu geben. Auch die, denen es viel schlechter geht als selbst den Armen Europas, würden ihren Nutzen haben, wenn wir unsere Anstrengungen hier auf andere Ziele als auf die Bewachung von Grenzen zwischen Ost und West lenken würden. Ich bedanke mich. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Bahr.

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Dieser Besuch kann nur mit dem des Präsidenten Kennedy und des Staatspräsidenten de Gaulle verglichen werden. Die Sympathie galt damals schon der Hoffnung auf einen Ausgleich mit dem Osten, auf einen Erfolg für die „Strategie des Friedens", wie Kennedy seine Vision nannte. De Gaulle erleichterte unsere Seelen, als er von „dem großen deutschen Volk" sprach. In der Sympathie für Gorbatschow vereinen sich Wunsch und Vertrauen auf ein Ende der Bedrohung aus dem Osten. Dieser Mann will ein Ende mit dem machen, was ein bestimmendes Element in all den 40 Jahren gewesen ist, seit diese Bundesrepublik Deutschland gegründet wurde. Die Menschen haben wohl zu Recht gefühlt, daß es sich da um einen Mann handelt, der dazu die Macht hat und tut, was er sagt. Wir sind Zeugen des Endes der europäischen Nachkriegsepoche, die durch Rüstung und mögliche militärische Konfrontation gekennzeichnet war. Es ist eine große Sache, nun ein Europa zu bauen, das allein durch den friedlichen Wettstreit der Systeme und wirtschaftliche Zusammenarbeit gekennzeichnet sein soll. Der Gedanke drängt sich auf, wie anders Europa aussähe, wenn Gorbatschow 20 Jahre früher im Kreml gewesen wäre. Das macht deutlich, daß die Chancen der Gegenwart nicht den Pershings und Cruise Missiles zu verdanken sind, sondern dem neuen Denken für Partnerschaft zur gemeinsamen Sicherheit, ({0}) für das Sozialdemokraten so lange ohne Echo aus Moskau geworben haben. Die Perspektive, wie sie in der Gemeinsamen Erklärung formuliert worden ist, ruht auf dem soliden Fundament des Moskauer Vertrages. Sie enthält die gemeinsame Philosophie einer auf unzerbrechbaren Frieden gerichteten Entwicklung. Wir wollen Krieg in Europa unmöglich machen. Diese Forderung von Sozialdemokraten, vor wenigen Jahren als Utopie herablassend belächelt, ist nun zur praktischen Aufgabe geworden. Unser Bündnis stellt sie so, die Gemeinsame Erklärung auch. Wir empfinden darüber große Genugtuung. Es gibt für diese Gemeinsame Erklärung, soweit ich sehen kann, nur einen Vergleich, und das ist die Grundsatzerklärung, die Nixon und Breschnew 1972 in Moskau unterschreiben haben. Auch dort handelte es sich um eine Philosophie für die Beziehungen der beiden Weltmächte, daß es im Nuklearzeitalter „keine andere Alternative gibt, als die gegenseitigen Beziehungen auf der Grundlage einer friedlichen Koexistenz zu führen. Unterschiede in der Ideologie und in den Gesellschaftssystemen sind keine Hindernisse. " 17 Jahre später wissen wir: Eine solche Erklärung ist eine Chance, die auch vertan werden kann, wenn sich die Regierungen im Tagesgeschäft nicht daran halten. Wir erwarten, daß diesmal in einer Welt mit gewachsenen Bedrohungen beide Regierungen diese Erklärung behandeln, als sei sie ein Vertrag. ({1}) Die Opposition wird jedenfalls die Bundesregierung daran erinnern, und wenn es nötig ist, mahnen und drängen, solange sie Opposition ist. In der Regierungsverantwortung werden wir diese Erklärung in allen ihren Möglichkeiten sehr aktiv ausschöpfen. Wir finden in ihr Elemente der Schlußakte von Helsinki und der Nachfolgekonferenz, wir finden darin erfreuliche Passagen aus der Rede Gorbatschows vor den Vereinten Nationen, Zielvorstellungen aus Brüssel und Gedanken aus dem Papier „Der Streit der IdeoloBahr gien und die gemeinsame Sicherheit" von SPD und SED. ({2}) Das ist auch kein Wunder, weil alle diese genannten Dokumente zu den notwendigen Erkenntnissen gekommen sind, die über das jeweils bilaterale Verhältnis hinausreichen, gleichgültig auf welcher Ebene. Wer nach Regeln für das neue Denken sucht, wird zu ähnlichen Formulierungen kommen. Was in der Gemeinsamen Erklärung fehlt, ist ein Bezug auf Deutschland und auf die Atomwaffen, die nun einmal wirklich da sind, auch wenn man nicht über sie sprechen will. Wer das ganze Europa ins Auge faßt, trifft in der Mitte Europas auf die Deutschen. Wer bis zum Jahre 2000 den Frieden unzerbrechbar machen will, braucht dazu die stabilisierende Wirkung der beiden Bündnisse. Niemand würde in ein europäisches Haus ziehen wollen, in dem einige seiner Bewohner die Fenster klirren lassen und andere sich mit Stuhlbeinen traktieren. Der unzerbrechbare Friede wird mit den beiden deutschen Staaten erreicht werden, die in diesem Prozeß unausweichlich wichtiger werden. Das gilt für beide. Man kann nur wünschen, daß in beiden Staaten begriffen wird, daß die Chancen für die Deutschen wachsen, je entschiedener sie helfen, auch im Interesse ihrer Nachbarn, diesen Prozeß zu beschleunigen. Ich bin überzeugt: Das neue Denken braucht keine Passierscheine, um Stacheldraht zu überwinden. Wir sind mit Recht stolz darauf, daß Krieg mit Frankreich unmöglich geworden ist. Wir sollten unseren ganzen Ehrgeiz dareinsetzen, Krieg mit der DDR unmöglich zu machen. ({3}) Das entspräche nicht nur dem Geist des Grundgesetzes, es wäre auch ein Dienst für Europa, weil angesichts ihrer jeweiligen militärischen Integration damit ein europäischer Krieg unmöglich würde. Das ist die deutsche Aufgabe der nächsten Phase. Nicht um Einheit, sondern um Gemeinsamkeit dieses überragenden Interesses geht es in dem vor uns liegenden Abschnitt der Geschichte, einen Bruderkrieg der Bundesrepublik mit der DDR unmöglich zu machen. Wir ziehen den Strich unter die Nachkriegsperiode - so hat Michail Gorbatschow in der Redoute erklärt. Angesichts der Unsäglichkeiten, die sich die beiden Völker nach unserem Überfall auf die Sowjetunion angetan haben, ist dies ein erlösendes Wort, wenn es vom ersten Mann der Sowjetunion kommt. Es befreit uns nicht von der Geschichte, aber für die Zukunft. Es beinhaltet aber auch, daß der Schlußstrich - nicht völkerrechtlich, aber politisch - der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik höhere Verantwortung einräumt. Integrität der Staaten und mehr Selbstbestimmung, das sind die beiden Elemente, die sich in der gemeinsamen Erklärung bedingen und austarieren. Der heutige Schlußstrich findet zwei Staaten; und soweit sie gemeinsame Interessen formulieren, die den Wünschen ihrer Nachbarn nach wachsender, stabiler Sicherheit gerecht werden, haben sie gute Chancen, ihre Bündnispartner zu überzeugen. Je besser es zwischen Ost und West wird, um so besser wird es für die Deutschen. Je aktiver sie sind, um so weniger werden sie als Objekte behandelt. Damit sind wir bei den Atomwaffen, die in der gemeinsamen Erklärung fehlen. Die SPD ist auch heute noch für baldige Verhandlungen über Kurzstreckenraketen im Zusammenhang mit Wien, wie es die Bundesregierung vor Brüssel formuliert hat. ({4}) Das bleibt wichtig. Und Gorbatschow ist dazu auch weiterhin bereit. Wir verstehen, daß sich die Bundesregierung in Brüssel nicht durchgesetzt hat und an den dortigen Beschluß gebunden ist und deshalb keinen gemeinsamen Standpunkt für die gemeinsame Erklärung formulieren konnte. Aber es ist mehr als ein Schönheitsfehler, daß die Hoffnung dieses Hauses, der Wunsch dieses Hauses auf möglichst schnelle Vereinbarungen in Wien ebenso wenig Eingang gefunden hat wie die Zeitvorgabe von sechs bis zwölf Monaten aus dem Bündnisbeschluß. Wir wollen weder den Osten noch den Westen und auch nicht die Bundesregierung aus diesem Zeitdruck entlassen. Das fällt um so mehr auf, als im Zusammenhang mit dem Thema Chemie vom frühestmöglichen Zeitpunkt für einen Vertrag die Rede ist und zu diesem Thema eine gesonderte Erklärung der beiden Außenminister nachgeschoben wurde - zum atomaren Thema kein Wort! Das sogenannte Gesamtkonzept - der NATO, meine ich jetzt - hat bekanntlich über die 4 000 Atomsprengköpfe für die Artillerie nichts gesagt, nichts festgelegt, für die Verhandlungen nichts vorgesehen. Die Bundesregierung hatte und hat hier einen Freiraum. Hierbei handelt es sich um die für uns gefährlichsten Waffen, wegen ihrer geringen Reichweite besonders selbst abschreckend. Auch viele unserer Militärs sagen: Wir brauchen sie nicht. Daß sie zuerst und möglichst schnell weg sollen, ist weitgehend die überwiegende Auffassung aller Fraktionen. Auch über diese Waffen kann der Bundeskanzler zwar nicht verhandeln, aber er kann darüber sprechen. Die atomare Überlegenheit der Sowjetunion darf nicht geringer geschätzt werden als die konventionelle. Jedenfalls handelt es sich bei diesen 4 000 atomaren Sprengköpfen auch um ein vitales Interesse. Es hätte doch kein so schrecklicher Mut dazugehört, das in der Gemeinsamen Erklärung festzustellen. Der ganze Deutsche Bundestag hätte hinter der Regierung gestanden. ({5}) Der Bundeskanzler hätte den Gast z. B. fragen können, ob er bereit sei, als ersten Schritt 50 % seiner atomaren Sprengköpfe für die Artillerie abzuziehen, in der Erwartung, daß das auch die NATO tut. Wer eine Führungsrolle eingeräumt bekommt, sollte sie auch nutzen. Verantwortung gibt es bekanntlich nicht nur für Handlungen, sondern auch für Unterlassungen. ({6}) Der Bundeskanzler hat den Gast zu weiteren einseitigen Schritten aufgefordert. Wir unterstützen das. Die Sicherheit der Sowjetunion würde durch eine Hal11204 bierung ihrer atomaren taktischen Mittel überhaupt nicht gefährdet. ({7}) Aber wäre es nicht an der Zeit, auch einmal über einseitige Schritte des Westens zu sprechen, die unsere Sicherheit nicht gefährden? ({8}) Wenn auf unserer Seite die Hälfte dieser 4 000 atomaren Sprengköpfe beseitigt würde, wäre unsere Sicherheit um keinen Deut geringer. Sie ist auch nicht durch den schon einmal erfolgten Abzug geringer geworden, auf den die NATO so stolz ist. Die SPD unterscheidet sich von Bundesregierung und Koalition, weil wir einen Zustand anstreben, in dem es keine Nuklearwaffen mehr auf unserem Boden gibt. Natürlich sind wir auch zu einem schrittweisen Vorgehen bereit. Wir vermissen aber, daß man es nicht einmal wagt, das Bein zum ersten Schritt zu heben. ({9}) Die SPD war die Partei der kleinen Schritte; das war das Mögliche unter Breschnew. Bei Gorbatschow ist die Zeit der großen Schritte gekommen. Wir sollten nicht seinen Mut loben, aber selbst keinen haben. ({10}) Für die konventionellen Waffen hat die NATO den notwendigen Vorschlag gemacht. Bei den Atomwaffen zeigt sie Vorsicht, bei der Abrüstung aber Mut zur Aufrüstung. Es gibt eine Vorsicht, die zur Feigheit wird. Dabei braucht der Westen weiß Gott sehr viel weniger Mut als Gorbatschow für seine Revolution. ({11}) Etwas mehr Mut zu neuem Denken würde der NATO nicht schaden. „Traut euch, macht Frieden! " hat meine Partei den beiden Besuchern zugerufen. „Keine Angst, den eigenen Freiraum zu nutzen! " muß man der Bundesregierung zurufen. ({12}) Es wäre an der Zeit, eine gesamteuropäische Konvention zum Schutz der Umwelt und die gesamteuropäischen Strukturen, die dazu erforderlich sind, zu entwickeln. Es wäre an der Zeit, die Strukturen der gesamteuropäischen Kontrollen zu entwickeln, die wir brauchen werden, wenn in sechs oder zwölf Monaten in Wien Ergebnisse vorliegen und vorliegen sollen. In dem einen wie im anderen Fall handelt es sich um dringliche Aufgaben, die nur gesamteuropäisch gelöst werden können, also um wichtige Pfeiler einer europäischen Friedensordnung. Ich habe keinen Zweifel, daß die sowjetische Seite für eine derartige konkrete Absichtserklärung beider Regierungen zu gewinnen wäre. Der Besuch Michail Gorbatschows war ein unerwarteter Gewinn. Die Art, wie unsere Bürgerinnen und Bürger den sowjetischen Gästen gegenübergetreten sind, hat eine Verpflichtung geschaffen. Jenseits der Gespräche und Abkommen haben wir alle die kostbare Möglichkeit neuen Vertrauens gewonnen. Mit dieser Kostbarkeit muß pfleglich umgegangen werden, in Bonn wie in Moskau, weil Vertrauen ein unentbehrlicher Baustein des europäischen Hauses ist. Es wäre ein Gewinn für Europa, wenn unser Land die Sowjetunion nicht nur Partner nennt, sondern auch als Partner behandelt. ({13})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Abgeordnete Schilling.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit auf einen grundsätzlichen Punkt lenken, der viele Vorbedingungen inhaltlicher Art erfüllt und sich daher auch anbietet, konkret umgesetzt zu werden. Es kann für den Bundestag nicht einfach darum gehen, im Schnellverfahren Absichtserklärungen von Regierungschefs zu übernehmen, sondern es muß für ihn darum gehen, etwas genauer hinzusehen und zu überprüfen, was einzelne Aussagen bedeuten, vor allem wie die Theorie in die Praxis umgesetzt werden kann. Vor genau 20 Jahren, anläßlich der Gründung des NATO-Umweltausschusses, stand für die Sicherheitsplaner der NATO außer Frage, daß wir uns in einer - wie sie sagten - weltumspannenden ökologischen Krise befinden, die sich letztlich als genauso ernst wie die Frage nach Krieg und Frieden erweise. Damals wurden starke Zweifel am herrschenden westlichen sogenannten Sicherheitsdenken vorgetragen, nämlich: Der Verfall der Umwelt und der Ökologie könne zu sozialen Erschütterungen führen, so daß die tradierte militärische Sicherheitspolitik nicht mehr ausreiche, die innere Stabilität in den Bündnisstaaten zu gewährleisten. Es bedürfe vielmehr neuer Arten von Bündnissen, auch mit dem potentiellen Gegner, damit die konzentrierte Kraft aller Beteiligten gegen den drohenden Umweltzerfall eingesetzt werden könne. - So die NATO vor 20 Jahren. Eine erste Antwort auf die von der praktischen Politik der NATO ignorierten Tatbestände gaben Gorbatschow und die Warschauer Vertragsorganisation im Juli 1988. Die wichtigsten Erkenntnisse lassen sich so zusammenfassen: Eine vernichtende Kritik an jeder Version von militärischer Abschreckung: Ohne Umschweife werden sämtliche militärischen Aktivitäten als naturgefährdend bezeichnet und es wird gesagt, daß das Wettrüsten den Anstrengungen im Umweltschutz zuwiderläuft, ja, daß die Lösung der ökologischen Probleme dadurch verhindert wird. - So die Warschauer Vertragsorganisation. Es ist also so, daß West und Ost unter dem Begriff der Internationalen ökologischen Sicherheit Einsichten und Forderungen formulieren - die NATO vor 20 Jahren, von der Praxis in keiner Weise gedeckt, und die Warschauer Vertragsorganisation immerhin seit 1988 -, denen sich ein Deutscher Bundestag und eine Bundesrepublik Deutschland an der Nahtstelle der beiden Blöcke nicht verschließen sollten. Daher fordern wir den Bundestag auf, dafür zu sorgen, daß der längst überfällige und überlebenswichtige Paradigmenwechsel von der militärisch-abschreckend gestützten zur ökologisch-kooperativ fundierten Sicherheitspolitik in der Bundesrepublik, in Europa vollzogen wird. Alle allgemeinen Formulierungen und Floskeln der Gemeinsamen Erklärung sind völlig wertlos, wenn nicht konkrete Programme der Umsetzung damit verbunden sind, ({0}) wenn nicht erkennbar ist, daß der politische Wille zur Veränderung bei erkannten Problemen - daß nämlich die vorhandenen Probleme militärisch nicht zu lösen sind - da ist. Militärisches Sicherheitsdenken ist grundsätzlich antiökologisch, ({1}) und ökologisches Sicherheitsdenken ist grundsätzlich antimilitaristisch. Nach der Feststellung, daß internationale ökologische Sicherheit ohne Abrüstung undenkbar sei, begann die Sowjetunion mit ihren einseitigen beispiellosen Vorleistungen. Entgegen dem, was die NATO vor 20 Jahren erklärt hat, bestreitet die Bundesregierung jedoch noch heute, daß ein innerer Zusammenhang zwischen der Verfolgung ökologischer und militärischer sogenannter Sicherheitspolitik besteht. Sie sagt nämlich, daß internationaler Umweltschutz sowie Friedenssicherung und Abrüstung isolierte, eigenständige Aufgaben seien, deren Lösung nicht durch künstliche Verknüpfungen behindert werden sollte. Und: Während die Sowjetunion 50 % ihres Verteidigungshaushalts senken will, will die NATO um 3 hoch. Mit dieser Weltsicht fällt die Regierung nicht nur um Jahrzehnte hinter - ich betone - frühe theoretische NATO-Einsichten zurück, sie will also auch weiterhin ihre eigenen Bemühungen im Umweltbereich, so klein und so mickrig sie auch sind, paralysieren. Eines muß klar sein: Militär und Ökologie widersprechen sich grundsätzlich. Es gibt hier nur ein „entweder - oder" . ({2}) Es läßt sich nicht verbinden. Die Gemeinsame Erklärung spricht den Tatsachen hohn, bzw. die Theorie muß in die Praxis übergeführt werden. Einige Beispiele: Da ist von intensiver ökologischer Zusammenarbeit die Rede. Die möchten wir dann auch gerne sehen. Die möchten wir vor allen Dingen erst einmal im Westen gemacht haben. Dann heißt es, daß man die eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf. Das ist wahr. Aber fangen Sie mit der internationalen ökologischen Sicherheit an! Der Bundeswehrplan für die 90er Jahre spricht eine ganz andere Sprache, und zwar die des kältesten Krieges, die ich bisher gelesen habe. Dann heißt es: Verminderung, Beseitigung der Kriegsgefahr - und das Potential, das zur Verteidigung, nicht zum Angriff ausreiche, wolle man schaffen. Da sage ich Ihnen: Dann fangen Sie gleich ganz praktisch an. Stellen Sie den Tiefflug sofort ein. Hören Sie auf, am Jäger 90 weiter herumzuoprieeren und Millionen dafür zu verschwenden. ({3}) Fangen Sie doch an. Es liegt alles da. Sie müssen es nur umsetzen. Dann heißt es so schön: mehr Transparenz der militärischen Potentiale und der Militärhaushalte. Da kann ich leider nur gequält lachen. Im Verteidigungsausschuß und im Notparlament sitzen die Parlamentarier und Parlamentarierinnen und lassen sich von dieser Bundesregierung sagen: Es tut uns leid, da können wir Ihnen keine Auskunft geben. Das ist nämlich geheim. Wohlgemerkt: in den zuständigen Fachausschüssen. Da kann man wirklich nur sagen: Ein bißchen mehr Glasnost und Perestroika in diesem Bereich wären gut. Fassen wir uns an die eigene Nase! Es ist alles ziemlich durchsichtig und bedeutet in Ihrer Argumentation weiterhin: Im Osten soll alles geändert werden, und bei uns soll es möglichst bleiben, wie es ist. Verbissen hält die Bundesregierung entgegen verbaler Beteuerungen an dem gemeingefährlichen Erkenntnismodell der Bedrohungsanalyse fest und meint, der Rest der Menschheit werde sich widerstandslos unter das Abschreckungsjoch zwingen lassen. Aber die Bevölkerung ist weiter, als Sie das wahrhaben wollen. Beide Völker wollen die Umsetzung dieser Ideen. Sie müssen sie endlich umsetzen. Die Bevölkerung wehrt sich immer deutlicher. Sie nimmt das Recht auf ökologische Kriegsdienstverweigerung in Anspruch. Der Rüstungssteuerboykott wird vorangetrieben. Die Leute sagen: Wenn ihr nicht fähig seid, Konflikte gewaltfrei zu lösen, bekommt ihr unsere Steuern nicht mehr. Auch die Einsicht, daß soziale Verteidigung besser als militärische Verteidigung ist, steigt. Die Soldaten als die letztlich Ausführenden müssen den Druck auf die Politiker und Politikerinnen verstärken, indem sie selbst solche Lösungen propagieren, z. B. die soziale Verteidigung, und somit auf Umsetzung drängen. Zum Schluß möchte ich betonen: Das gemeinsame Haus Europa muß innen und außen stimmen. Es nützt die schönste Villa nichts, wenn die Umwelt, Luft und Erde, ringsherum verseucht ist. Theorie muß in Praxis umgesetzt werden. Ich bitte Sie darum, deswegen unserem Entschließungsantrag zuzustimmen. Denn es müssen Handlungsstrategien mit den Staaten der Warschauer-Vertrags-Organisation entwickelt werden. Es muß in Verhandlungen getreten werden, um blockübergreifende Strategien der internationalen ökologischen Sicherheit zu entwickeln. Bundestag und Bundesregierung seien darin erinnert, daß es unsere gemeinsame Auf11206 gabe ist, „Schaden vom Volk" zu wenden. So können wir es anfangen. ({4})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da ich das erste Mitglied der Bundesregierung bin, das nach der Rede von Herrn Kollegen Brandt das Wort ergreift, möchte ich mich dem Dank anschließen, den andere vor mir ausgesprochen haben. Herr Kollege Brandt, die Bundesregierung hätte sich in der Tat keinen kompetenteren Gutachter für das Ergebnis des Besuches auswählen können. Es wird Sie nicht überraschen, wenn ich sage, daß ich Ihrer Beurteilung zustimme. Sie haben mit Ihrer Rede dazu beigetragen, daß der Konsens, der in diesen Tagen in unserem Volk deutlich geworden ist, auch im Bundestag zum Ausdruck kam. ({0}) In einer Demokratie ist das Parlament der Ort der politischen Auseinandersetzung und Meinungsbildung. Das Parlament wird um so glaubwürdiger sein, je stärker es dabei dem Rechnung trägt, was die von dem Parlament Repräsentierten empfinden. Ihr Name, Herr Kollege Brandt, ist wie der von Walter Scheel untrennbar mit dem Moskauer Vertrag und den anderen Verträgen verbunden. Wir alle wissen, welchen weiten Weg wir in den deutsch-sowjetischen Beziehungen bis zu dieser historischen Erklärung, die hier in Bonn unterzeichnet werden konnte, zurücklegen mußten. Ich glaube aber, es ist auch wichtig, daß Sie auf die notwendige Verbindung der beiden großen dynamischen Prozesse hingewiesen haben, die sich derzeit in Europa vollziehen: den Einigungsprozeß in der Europäischen Gemeinschaft und den Reformprozeß in sozialistischen Staaten. Ich kann leider nicht sagen: in den sozialistischen Staaten. Aber ich kann die Hoffnung aussprechen, daß das Beispiel Ungarns, Polens und der Sowjetunion auf diejenigen wirken möge, die heute noch nicht die Notwendigkeit der eigenen inneren Reform erkannt haben. ({1}) Die Faszination der Verbindung der europäischen Demokratien in der Europäischen Gemeinschaft und die Faszination der Selbstbesinnung und europäischen Besinnung unserer östlichen Nachbarn fußen beide auf demselben, auf dem Wissen um europäische Identität. Lassen wir uns hier in der Bundesrepublik Deutschland mit unseren berechtigten nationalen Interessen nicht in Stellung gegen unsere europäischen Interessen bringen. Europa ist unser Schicksal, mehr als das Schicksal irgendeines anderen Volkes. Für alles das, was wir ersehnen und erhoffen, haben wir die Chance Europa. Meine Damen und Herren, wir haben keine andere als die Chance Europa. ({2}) Der erste Gedanke muß heute bei jedem nach Budapest gehen, dorthin, wo ein kleines tapferes Volk in Imre Nagy den Mann ehrt, der ihm schon vor 33 Jahren mehr Menschlichkeit und mehr Freiheit bringen wollte. Das, was sich heute als Akt später Gerechtigkeit vollzieht, geschieht nicht gegen Willen der Führung Ungarns, sondern mit ihrem Willen und mit ihrer aktiven Teilnahme. Nichts kann grundlegender als diese Veränderungen in Ungarn und Polen kennzeichnen, was sich in Europa heute in Wahrheit vollzieht. Diese Entwicklungen wären so und zu diesem Zeitpunkt ohne den grundlegenden Wandel, der in der Sowjetunion vor sich geht, nicht möglich gewesen, einen grundlegenden Wandel, der nicht nur den Völkern der Sowjetunion, sondern allen Völkern dieser Welt neue Hoffnung gibt. Immer weniger überzeugend klingen die Stimmen derjenigen, deren einzige Reaktion auf diese aufwühlenden Entwicklungen die Forderung ist, den Worten müßten nun endlich Taten folgen. Die Beendigung des schrecklichen Krieges in Afghanistan, die Aufarbeitung der sowjetischen Geschichte, Wahlen mit verschiedenen, von der Partei keineswegs erwünschten Kandidaten, ({3}) die weltweite Beseitigung der Mittelstreckenraketen, eine Reihe einseitiger Abrüstungsmaßnahmen und zahlreiche Abrüstungsvorschläge - die Menschen in Bonn, Köln und Düsseldorf, in Stuttgart und in Dortmund haben erfaßt, daß sie hier in der Bundesrepublik Deutschland einen Mann begrüßen, der mit Mut und eisernem Willen darangeht, seinem Volk und damit auch den Völkern Europas den Weg zu einer besseren Zukunft zu ebnen. Frau Kollegin, es nimmt all diesen entscheidenden Schritten nichts von ihrem Wert und dem Mut desjenigen, der sie tut, wenn ich sage: Vorleistungen sind es nicht, sondern wohlbegründete Korrekturen von Fehlern, die seine Vorgänger gemacht hatten. ({4}) Meine Damen und Herren, niemand in der Bundesrepublik Deutschland braucht sich seiner Bewegung und auch nicht seiner Begeisterung in diesen Tagen zu schämen. Die Spontaneität des Empfangs drückte den Respekt vor einem mutigen Mann aus, dem man Vertrauen entgegenbringt; aber sie offenbarte auch die tiefe Friedenssehnsucht unseres Volkes und seinen Wunsch nach Aussöhnung mit den Völkern der Sowjetunion. Meine Damen und Herren, es hat andere Begeisterungen in der deutschen Geschichte gegeben; aber diese Gefühle ehren die Bürger unseres Landes, ({5}) und sie entziehen sich jeder törichten Verdächtigung. Am Vortage des 17. Juni 1989 können wir feststellen, daß sich die Bürger in beiden deutschen Staaten in ihren Wünschen, in ihren Sehnsüchten und in ihrer Verantwortung selten so einig waren wie in diesen Tagen. ({6}) Wie gerne hätten auch die Bürger der DDR Gorbatschow zugejubelt! Die ebenso gelassene wie verständnisvolle Reaktion der amerikanischen Regierung beschämt alle diejenigen, die hinter der Aufnahme Gorbatschows bei uns etwas anderes vermuten. ({7}) Sie beschämt sie genauso, wie auch Präsident Bush mit seiner großen Rede in Mainz diejenigen beschämt hat, die in der lebhaften Diskussion innerhalb des Bündnisses vor dem NATO-Gipfel eine Gefahr für das Bündnis gesehen haben. ({8}) Meine Damen und Herren, diese Rede des amerikanischen Präsidenten hat ebenso wie die politische Erklärung des Bündnisses bewiesen, daß der Westen zu einer gemeinsamen Haltung und zu einer gemeinsamen politischen Strategie für das West-Ost-Verhältnis gefunden hat. Das heißt ja wohl auch, daß wir mit unserer Politik in die Politik des westlichen Bündnisses fest eingebettet sind. Diese Einbettung, Herr Kollege Bahr, wird auch bewirken, daß wir zu den Verhandlungen kommen, die wir alle gleichermaßen wollen, auch zu denen über die nuklearen Kurzstreckenraketen. Das, was als Grundlage der Behandlung dieser Frage im Jahre 1992 genannt worden ist, nämlich die sicherheitspolitische Entwicklung zu gestalten, liegt allerdings weitgehend in unserer Hand und unserer Verantwortung. ({9}) Meine Damen und Herren, es müßte um das Bündnis schlecht bestellt sein und es könnte sich eigentlich gar nicht als ein Demokratienbündnis verstehen, wenn die offene Diskussion über den richtigen Weg dem Selbstverständnis dieses Bündnisses widerspräche. Ich denke, daß das Bündnis durch diese Diskussion nicht verloren hat, sondern es hat in Wahrheit gewonnen, auch an Glaubwürdigkeit. Von der „Partnerschaft in einer Führungsrolle im Bündnis" sprach der amerikanische Präsident Bush in Mainz; von der „Schlüsselrolle der deutsch-sowjetischen Beziehungen für das West-Ost-Verhältnis" sprach Generalsekretär Gorbatschow. Das zusammen beschreibt zutreffend den Standort und die Verantwortung unseres Landes als Mitglied der westlichen Demokratiegemeinschaft und seine Verantwortung für das West-Ost-Verhältnis. Verantwortung - das ist es, was die Menschen in den letzten Wochen und Monaten in unserem Land gespürt haben. Verantwortung - das ist das Kennzeichen der deutschen Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg: Verantwortung an Stelle von Machtstreben, Verantwortungspolitik an Stelle von Machtpolitik. Nie wieder wollen wir der Hybris der Machtversuchung erliegen. Meine Damen und Herren, nicht „Wir sind wieder wer" , sondern „Wir stellen uns unserer Verantwortung" , das ist das neue Denken der deutschen Nachkriegsaußenpolitik. ({10}) Diese Verantwortung machte uns zu Mitgliedern der westlichen Demokratie- und Wertegemeinschaft. Diese Verantwortung ermöglichte die deutschfranzösische Aussöhnung. Diese Verantwortung gab uns die Kraft für den Moskauer Vertrag, für den Warschauer Vertrag, für den Vertrag mit der CSSR und für den Grundlagenvertrag mit der DDR, für eine Politik, bei der der Moskauer Vertrag wiederum die zentrale Bedeutung der deutschsowjetischen Beziehungen bestätigt. ({11}) Diese Verantwortung gab uns die Kraft, zu Wegbereitern des KSZE-Prozesses zu werden, zu Wegbereitern des langen Weges zu einer europäischen Friedensordnung oder zu einem gemeinsamen europäischen Haus. Auf einer wichtigen Zwischenstation dieses Weges, nämlich bei der Wiener KSZE-Folgekonferenz, sprach mein geschätzter Kollege, der sowjetische Außenminister Schewardnadse, davon, daß der Eiserne Vorhang zerfalle. Je verantwortlicher wir in unserem Handeln, aber auch in unserem Reden sind, um so früher wird diese Vision umfassende Wirklichkeit werden können. Verantwortung verlangt heute von uns, Architekten und Baumeister einer europäischen Friedensordnung, also Mitarbeiter bei der Verwirklichung jenes großen Zieles zu sein, zu dem sich das westliche Bündnis schon 1967 in dem Harmel-Bericht bekannte; Baumeister des gemeinsamen europäischen Hauses, jenes Begriffes, den andere benutzt haben, aber den Gorbatschow als erster als positive Reaktion auf die westliche Vision einer europäischen Friedensordnung vom Atlantik bis zum Ural angewendet hat. Das festzuhalten ist wichtig. Es ist nämlich notwendig, daß wir uns vergewissern, was dieses europäische Haus umfassen soll. Es kann und darf keinen Zweifel geben: Kein Volk, kein Staat darf aus diesem gemeinsamen europäischen Haus ausgeschlossen und ausgegrenzt werden. ({12}) Europa kann eine bessere Zukunft nur dann gewinnen, wenn alle Staaten Europas dieser Friedensordnung, diesem gemeinsamen Haus zugehören. Auch die Sowjetunion gehört in dieses gemeinsame europäische Haus. ({13}) An der polnischen Ostgrenze beginnt Osteuropa und nicht Westasien. ({14}) Meine Damen und Herren, niemand wird dabei die Frage leugnen können: Was ergibt sich aus dem Gewicht, was ergibt sich aus der Größe der Sowjetunion? Was ergibt sich aus ihrem Anspruch, eine Supermacht zu sein, für die Statik und für die Stabilität im ganzen Europa? Das ist eine wichtige und ernstzunehmende Frage. Aber die Antwort darauf kann doch nicht sein, zu sagen: Wir müssen die Sowjetunion ausschließen. Sondern die Antwort lautet: Wir schließen die Vereinigten Staaten und Kanada ein in die Stabilität, in das europäische Haus. Die Feststellung in dieser wirklich bedeutsamen Gemeinsamen deutsch-sowjetischen Erklärung, daß die USA und Kanada in dem Europa des Friedens und der Zusammenarbeit ihren Platz haben, ist deshalb eine weitreichende Erklärung von grundsätzlicher Bedeutung. Es ist die erste Erklärung dieser Art in einem zweiseitigen Dokument eines westlichen Staates mit der Sowjetunion. Das allein schon schafft dieser Erklärung ihre grundsätzliche Bedeutung. Ich denke, daß alle diejenigen, die Gorbatschow die Absicht unterstellten, er wolle die Bundesrepublik oder gar ganz Westeuropa von den Vereinigten Staaten trennen, daß alle diejenigen, die das vermuteten und argwöhnten, Anlaß haben, ihre Auffassung gewissenhaft zu überprüfen. Man sollte den Realismus dieser sowjetischen Führung nicht unterschätzen, die sehr genau weiß, welche Bedeutung die USA und ihr europäisches Engagement für die Lage und die Stabilität in Europa haben. Und wir Deutschen sollten bei einer solchen Betrachtung niemals vergessen, daß ein deutscher Sonderweg, eine Herauslösung aus dem westlichen Bündnis und der Europäischen Gemeinschaft nicht Stabilität schaffen, sondern Unsicherheit bewirken würde und daß es kein Volk Europas gibt, das einen solchen Weg erhofft, aber daß sie alle gemeinsam einen solchen Weg fürchten. Wir Deutsche würden aus einem geachteten Mitglied sehr schnell zu einem isolierten Land. Es würde einsam und kalt um uns werden. Dies macht das aus, was in dieser Erklärung gesagt wird. Deshalb hat sie eine weittragende Bedeutung. Aber diese Gemeinsame deutsch-sowjetische Erklärung zeigt natürlich auch die Zielrichtung für die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen und sie entspricht der Verantwortung der Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend. Sie definiert Grundsätze für das Zusammenleben in einem besseren Europa. Sie eröffnet die Chance zur Entideologisierung der West-Ost-Beziehungen. Beide Staaten verpflichten sich, ihrer Verantwortung angesichts der weltweiten Herausforderungen gerecht zu werden. Die freie Wahl des eigenen politischen und sozialen Systems, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Forderung, über die Kriegsverhinderung hinaus den Frieden zu gestalten und sicherer zu machen, die Menschenrechte zu verwirklichen, und der Wille zu umfassender Kooperation zeigen die Richtung. Das bedeutet im Bereich der Sicherheit die Anerkennung der Sicherheitsinteressen aller Staaten, die Verurteilung des Strebens nach militärischer Überlegenheit, die Ablehnung des Kriegs als Mittel der Politik: Wie weit entfernt ist das von der Vorstellung, daß zwei große Länder Ordnungsgewalt ausüben könnten. Das geht von der Gleichberechtigung aller Staaten in Europa aus. Das allein ist die Möglichkeit, eine Ordnung zu schaffen, die den Namen Friedensordnung verdient. ({15}) Die Orientierung der Sicherheitspolitik und der Streitkräfteplanung allein an der Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr und am Ausschluß des Wettrüstens: Das sind die Ziele, die jetzt verwirklicht werden müssen. Es sind die Ziele, die die Entmilitarisierung der West-Ost-Beziehungen bewirken sollen. Das verlangt Dialog, und das verlangt Verhandlungen. Nichts, aber auch gar nichts, spricht gegen Verhandlungen. Alles spricht gegen Verhandlungsverweigerung. ({16}) Die Völker haben keine Angst vor Verhandlungen. Sie haben Angst, Verhandlungen könnten unterbleiben oder scheitern. Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion haben sich eindrucksvoll in diesem Dokument zu dem Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 als der Grundlage für ihr Verhältnis bekannt. Aber sie haben genauso deutlich gesagt, daß sie in ihrem Streben nach Entwicklung ihrer Beziehungen berücksichtigen, daß sie unterschiedlichen Vertrags- und Bündnisverpflichtungen unterliegen und angehören. Deshalb richtet sich diese Politik gegen niemanden, aber sie dient allen. Der Besuch des sowjetischen Generalsekretärs bei uns - das können wir heute feststellen - ist nicht nur eine Ermutigung für die Menschen unserer beiden Länder, sondern für das ganze Europa. Die gemeinsame Erklärung bedeutet nicht Abschluß, sondern Eröffnung eines Kapitels. Sie ist eine Aufforderung zum entschlossenen Handeln der politisch Verantwortlichen. Meine Damen und Herren, überlassen wir es anderen, bänglich zu fragen, ob Gorbatschow vielleicht scheitern könnte. Stellen wir uns lieber der Frage, was wir tun können, damit die Politik der Öffnung Erfolg hat. ({17})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Voigt ({0}).

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die heutige Debatte ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Spätestens mit der heutigen Debatte hat sich die CDU/CSU auf die Grundlage der von uns begonnenen Ostpolitik gestellt. Das ist jetzt nicht mehr nur eine Frage der Respektierung von Verträgen, das ist nicht nur eine Frage der Übernahme von Begriffen, sondern das ist, so zeigt es wenigstens die heutige Debatte, eine Obernahme des Konzepts. Nachdem wir uns Ende der 50er Jahre, ich sage das ganz bewußt, nach großen Schwierigkeiten und internen Diskussionen auf die Grundlage der Westverträge gestellt und dann später unsere Ostpolitik auf dieser Grundlage begonnen haben, ist die heutige Debatte Ausdruck dafür, daß die Voigt ({0}) CDU/CSU, wenn sie daran festhält, in der Lage ist, die künftige Ostpolitik auf der Grundlage einer gemeinsamen Konzeption, die sie früher bekämpft hat, fortzusetzen. Das begrüße ich. Ich begrüße auch - das ist das zweite Neue an dieser Debatte -, daß das erste Mal seit Beginn dieser Legislaturperiode in einer so wichtigen Frage der Ostpolitik und der Außen- und Sicherheitspolitik alle im Bundestag vertretenen Parteien einschließlich der GRÜNEN zu einer gemeinsamen Entschließung in der Lage sind. Ich füge hinzu: Nachdem die GRÜNEN heute einen Antrag eingebracht haben, in dem sie sich überwiegend unter Berufung auf NATO-Dokumente zum Umweltschutz bekennen, sehe ich doch auch eine gewisse Chance, daß sie ihre Haltung zur NATO in der Zukunft relativieren und verändern. ({1}) Weiterhin bemerkenswert - das ist der dritte Punkt, den ich vorweg sagen möchte - ist: Wenn ich mich an frühere Debatten erinnere und sehe, wie in den 50er, in den 60er und zum Teil noch in den 70er Jahren unter Hinweis auf ein Feindbild Sowjetunion Wahlkämpfe gegen die Sozialdemokratie geführt worden sind, dann muß ich in Umkehrung der damaligen Kampagne und der damaligen Sprüche, die da hießen: Alle Wege des Sozialismus führen nach Moskau, heute fast sagen, alle Wege des Kapitalismus führen nach Moskau, ({2}) denn der Wettbewerb der bürgerlichen Gruppen in unserer Gesellschaft, sich durch ein enges Verhältnis zur Sowjetunion besonders hervorzutun, ist zweifelsohne nicht zu übersehen. Der vierte Punkt: Bemerkenswert an dieser Debatte ist, daß alle Parteien im Bundestag, einschließlich der Christdemokraten, kommunistische Regime und kommunistische Parteien für reformfähig und nicht nur für reformbedürftig halten. Das war jahrelang unter uns umstritten. Dies ist heute nicht mehr umstritten. Wir kritisieren zwar einzelne Parteien und einzelne Staaten, weil sie noch nicht den Weg zur Reform gefunden haben, aber keiner hat in der jetzigen Debatte bezweifelt, daß kommunistische Parteien und daß auch kommunistische Staaten zur Reform fähig sind. Nun komme ich zu einzelnen Punkten in dieser Debatte. Zuerst zu Polen: Der Hinweis auf Polen von mehreren Rednern, aber auch vom Bundeskanzler selber, ist berechtigt, denn es ist schon bemerkenswert, wenn gleichzeitig, während wir hier debattieren, der französische Präsident Mitterrand sich in Polen aufhält und eine große finanzielle Geste macht. Nachdem diese große finanzielle Geste vorher schon durch den amerikanischen Präsidenten gemacht worden ist, ist es um so beschämender, daß die Bundesregierung bisher noch nicht in der Lage war, sich auf eine entsprechende Geste zu einigen. Ich halte es für beschämend, und ich sage: Es widerspricht auch deutschen Interessen, denn wir müssen jeden Eindruck vermeiden, als sei die Annäherung, die Aussöhnung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion etwas, was sich gegen die Polen richte, und dort sind die Politiker, aber auch die Bevölkerung nach wie vor sehr sensibel. Deshalb dränge ich auf eine baldige Entscheidung der Bundesregierung. Sie ist lange überfällig, und jeder Tag, um den sie später kommt, ist schon schädlich. ({3}) Ungarn: Die Rehabilitierung, das erneute, jetzt ehrenvolle Begräbnis für Imre Nagy ist schon hervorgehoben worden. Ich möchte dazu nur erwähnen, daß sich im Auftrage der SPD-Bundestagsfraktion und des SPD-Parteivorstandes unser Kollege Günter Verheugen heute in Ungarn aufhält. Ich nehme an, daß er dabei die Glückwünsche für diesen Schritt von allen Fraktionen des Hauses mit überbringen kann. Wir möchten das auch nicht als parteipolitische Sache vereinnahmen, denn ich glaube, es ist eine große Sache für alle Ungarn, daß sie sich zu diesem Schritt entschließen können. Es ist ein Schritt der Versöhnung innerhalb Ungarns, und deshalb sollten wir auch von diesem Platz hier zu diesem Schritt unsere Glückwünsche aussprechen und hoffen, daß der Weg in Ungarn weiter so und ohne Rückfälle voranschreitet. Nun zur DDR: Es ist schon traurig, wie sich in den letzten Tagen führende Politiker der SED im Unterschied zu Generalsekretär Gorbatschow zum Verhältnis von Freiheit und Sozialismus geäußert haben und wie sie wieder alte Parolen über die Unvereinbarkeit der Systeme, eigentlich verbunden mit gewissen Feindbildern, ausgegraben haben. Das hebt sich negativ von den Worten und den Bekenntnissen zur systemöffnenden Zusammenarbeit, zum Dialog auch mit Kritikern, zur Hinwendung zum Pluralismus ab, der hier durch den Generalsekretär der KPdSU erkennbar geworden ist. Es ist von Graf Lambsdorff gesagt worden, daß wir nicht drängen wollen, weil wir keine Instabilität wollen. Es ist richtig, daß wir keine Instabilität wollen, aber man muß auch deutlich sagen, daß verzögerte Reformen häufig zur Ursache von Instabilität werden können. ({4}) Meine Sorge ist, daß die Führung der DDR in einem Umfeld von Reformen in Ost und West nicht rechtzeitig sieht, daß sie, wenn sie damit zögert, Instabilität produziert, die wir nicht wollen und die sie eigentlich auch nicht wollen können. ({5}) Deshalb mein Appell an die Führung der SED und die Führung der DDR, nicht zusätzlich zur Mauer in Berlin zwischen Ost und West eine psychologische Mauer gegenüber den Reformprozessen im Osten zu errichten. Es kann nicht angehen, daß sich dort eine Mentalität in der Führung ausbreitet - ich hoffe, daß das auch nicht der Fall sein wird - , daß man letzten Endes in der Überzeugung verharrt und dieser Irrtum sich verfestigt, daß man das einzige und letzte sozialistische Land auf Erden sei. Voigt ({6}) Nun ist in diesen Diskussionen über die Reform in Osteuropa auch über die Aufgaben Westeuropas gesprochen worden, und ich glaube, daß das der Punkt ist, über den wir die Debatten in den nächsten Wochen, auch nach den Europawahlen, führen sollten. Wenn sich Osteuropa gegenüber dem Westen zuwendet und öffnet, dann darf ihm Westeuropa nicht den Rücken zukehren. ({7}) Meiner Meinung nach bedeutet es, daß wir eine Reihe von bisherigen Grundannahmen auch überprüfen müssen. Wir können nicht einfach so tun, als könnten wir das, was wir europäischen Integrationsprozeß genannt haben, was aber in Wirklichkeit nur ein westeuropäischer Integrationsprozeß war, so fortsetzen, so daß osteuropäische Staaten einfach aus ihm ausgeschlossen werden. Deshalb halte ich es schon für bemerkenswert, daß in der vergangenen Woche der Europarat der Sowjetunion, Jugoslawien, Ungarn und Polen einen Gaststatus eingeräumt hat. Damit ist übrigens auch anerkannt worden, daß die Sowjetunion ein Teil Europas ist. Alle anderen Staaten in Osteuropa haben ebenfalls die Möglichkeit dazu, wenn sie die Bedingungen erfüllen, die wir ihnen nicht von außen her aufzwingen, sondern die immanent in den Statuten des Europarates begründet sind. Damit wird eine Institution, die in den fünfziger Jahren von vielen bei uns so empfunden und von der östlichen Seite so kritisiert wurde, als sei sie ein Bollwerk zwischen Ost und West, zu einer Brücke zwischen Ost und West, ja zu einer gesamteuropäischen Institution. Wer hat das noch vor wenigen Monaten zu hoffen gewagt? Die Europäische Gemeinschaft - damit möchte ich etwas aufgreifen, was auch der Kollege Dregger und Heidi Wieczorek-Zeul gestern in der Europadebatte gesagt haben - ist nicht nur eine Gemeinschaft von NATO-Staaten und darf auch nicht nur eine Gemeinschaft von NATO-Staaten bleiben. Dann wäre die Europäische Gemeinschaft nämlich nicht ein Instrument zur Einigung Europas, sondern zur Spaltung Europas, zur Spaltung zwischen westeuropäischen NATO-Staaten und neutralen und bündnisfreien EFTA-Staaten und auch ein Instrument zur Spaltung zwischen Ost- und Westeuropa. Wenn wir das vermeiden und verhindern wollen, dann muß die EG zur Aufnahme der blockfreien und neutralen Staaten in Europa bereit sein. ({8}) Das bedeutet konsequenterweise auch, daß die militärische Komponente nicht im Rahmen der EG organisiert werden kann, sondern nur in der Westeuropäischen Union organisiert werden darf. ({9}) Dies sage ich, weil ich mit vielen Partnern in Europa über diese Frage leider kontrovers habe diskutieren müssen, weil manche meinen, darunter eine Abkehr vom Integrationskonzept verstehen zu müssen. Das ist falsch. Europa ist nicht nur ein Europa, das sich durch Abgrenzung von außen in seiner Integrationskraft bewähren kann und darf; die europäischen Institutionen müssen sich durch Öffnung nach außen, durch die Aufnahme neuer Mitglieder und durch die Bereitschaft zur Kooperation und nicht durch die Bereitschaft zur Abgrenzung bewähren. Wir haben ein friedenspolitisches Interesse an den Veränderungen in Osteuropa. Denn die Chancen für eine friedliche Umgestaltung des Ost-West-Konfliktes zur Entmilitarisierung und Entfeindung wachsen, wie Sie, Herr Bundesaußenminister, in Übernahme von Begriffen der Sozialdemokratie jetzt zu Recht sagen. ({10}) Die Chancen für eine friedliche Umgestaltung des Ost-West-Konfliktes wachsen, wenn sich der reformerische Wandel in Osteuropa fortsetzt. ({11}) Wir haben auch ein abrüstungspolitisches Interesse. Denn ein Land, das wie kein anderes Land der Welt mit konventionellen Waffen und mit Nuklearwaffen vollgestopft ist, hat einen Anspruch darauf, daß wir, wenn die Chancen dafür bestehen, bei Aufrechterhaltung der Sicherheit auf den Abbau dieser Rüstungen drängen. Ich halte es schon für eine sehr perverse Situation, wenn die britische Premierministerin, die auf ihrem eigenen Territorium nicht eine einzige landgestützte Nuklearwaffe stationiert hat - da gibt es U-Boote wie bei uns auch; da gibt es Flugzeuge wie bei uns auch; aber dort ist nicht eine einzige Lance-Rakete und nicht eine einzige bodengestützte Rakete stationiert - sagt: Wenn die landgestützten Nuklearwaffen aus der Bundesrepublik abgezogen werden, bedeutet das die Entnuklearisierung der Bundesrepublik. Wenn das der Fall wäre, dann wäre Großbritannien schon lange entnuklearisiert. Hier geht es in Wirklichkeit darum, daß uns gegenüber ein Maßstab angelegt wird, den viele Länder nicht bereit sind, für sich selber zu akzeptieren. Dieser Doppelstandard in der Verteilung der Risiken und der Lasten kann auf Dauer gesehen von uns nicht mehr hingenommen werden. ({12}) Es geht um gleiche Rechte, gleiche Risiken und gleiche Lasten im Bündnis, aber nicht um Ungleichheit. Je mehr unsere Bündnispartner im Westen dies respektieren und zu akzeptieren bereit sind, desto mehr werden sie verhindern, daß bei uns nationalistische Strömungen plötzlich das Bündnis als eine Form des Besatzungsrechts wahrnehmen und diffamieren. Denn nur die Gleichberechtigung im Bündnis und die Gleichheit der Risiken kann so etwas auf Dauer im Bündnis stabil erhalten. Wir haben ein gesellschaftspolitisches Interesse an den Veränderungen in Osteuropa. Denn es ist gar keine Frage, daß die Idee der Freiheit und der Demokratie nicht an den Grenzen von NATO und Warschauer Vertrag endet. Sie tut es heute schon nicht mehr. Deshalb muß aus dem unproduktiven Gegeneinander der Systeme ein friedlicher Wettbewerb werden, übrigens ein friedlicher Wettbewerb, der dann nicht mehr zu zwei Systemen, sondern zu einer Voigt ({13}) Vielheit von Systemen führen wird; denn der Unterschied zwischen Rumänien und Ungarn ist heute schon größer als der zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Wir haben auch ein europapolitisches Interesse an der Reform zwischen Ost und West; denn Europa endet nicht an den Grenzen von NATO und Warschauer Pakt. Europa endet erst recht nicht an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin. Der Prozeß, den wir jetzt begonnen haben, wurde mit den Ostverträgen beschrieben und mit der KSZE-Schlußakte ermöglicht. Das, was wir heute begonnen haben, ist der Schritt zur Schaffung eines gesamteuropäischen friedenspolitischen Modells, eines Modells, das sich nicht gegen Dritte richtet, eines Modells, das nicht in die alte Rivalität der Nationalstaaten zurückfällt, eines Modells, bei dem der Antagonismus der Systeme durch einen Pluralismus der Systeme abgelöst wird, bei dem wir friedliche Zusammenarbeit miteinander üben und praktizieren wollen. Wer diese Überwindung der Spaltung Europas will, wird damit auch ermöglichen, daß die Spaltung zwischen den beiden Staaten Deutschlands überwunden wird. Es ist überhaupt keine Frage: Man kann nicht die Spaltung Europas überwinden und die Spaltung Deutschlands in der bisherigen Form aufrechterhalten. In welcher Form die Spaltung zwischen den beiden deutschen Staaten überwunden wird, muß heute noch offenbleiben. Es kann auch die Form der Zweistaatlichkeit sein. Aber eins ist sicher: Eingebettet in einen multilateralen Prozeß der Annäherung zwischen Ost und West liegt ein solcher Prozeß im Interesse aller unserer Nachbarstaaten in Ost und West und nicht nur im Interesse der beiden deutschen Staaten. Damit ist es kein Sonderweg, sondern ein Beitrag der beiden deutschen Staaten zu einer europäischen Friedensordnung. In dem Sinne begrüße ich auch die Ergebnisse dieses Gipfels, die dafür einen wichtigen Beitrag leisten. Vielen Dank. ({14})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wir sind am Ende der Aussprache über die Regierungserklärung. Zur Abgabe einer persönlichen Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung hat Frau Abgeordnete Beer das Wort.

Angelika Beer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000134, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte eine Erklärung abgeben zu dem interfraktionellen Antrag über die gemeinsame deutsch-sowjetische Erklärung. Ich kann der Erklärung des Bundeskanzlers Helmut Kohl und des Generalsekretärs Gorbatschow nicht zustimmen. Ich kann ihr nicht zustimmen, weil die darin positiv formulierten Werte und Ziele nichts mit der jahrelangen politischen Praxis, die bis zum heutigen Tage anhält, zu tun hat. Ich kann der Erklärung nicht zustimmen, weil die Bundesregierung zeitgleich die Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr sowie die Sicherung des Friedens mit weniger Waffen verspricht und in Brüssel einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 3 zustimmt. Ich kann ihr nicht zustimmen, weil die Bundesregierung von Frieden spricht und gleichzeitig als Mitglied der NATO die Aufrüstungsmaßnahmen mitträgt. Ich kann der Erklärung nicht zustimmen, weil die Bundesregierung von intensiver ökologischer Zusammenarbeit spricht, um ökologische Gefahren zu überwinden bzw. zu verhindern, und gleichzeitig Raubbau und Vergiftung der Umwelt praktiziert. Ich kann der Erklärung nicht zustimmen, weil die Bundesregierung jedem Volk das Recht zugesteht, sein Schicksal selbst zu bestimmen, aber gleichzeitig das Recht ihres eigenen Volkes ablehnt, den tödlichen Tiefflug sofort zu stoppen und einzustellen, und weil die Bundesregierung das Recht der Völker z. B. in Kanada - Labrador - oder in der Türkei - Konya - nicht anerkennt und sich nicht gegen die Verlagerung des Tieffluges in deren Land ausgesprochen hat. Ich kann der Erklärung nicht zustimmen, weil die Bundesregierung unter der Bekämpfung des internationalen Terrorismus zuläßt, ({0}) daß Völker, die um ihr Selbstbestimmungsrecht einen Befreiungskampf führen, diskriminiert und unterdrückt werden. Die derzeitige Praxis der Terrorismusbekämpfung wird z. B. deutlich am Vernichtungskampf gegen die Kurden, den die Türkei und die Bundesrepublik Hand in Hand betreiben. Ich kann der Erklärung nicht zustimmen, weil sie nicht der Realität entspricht und - verglichen mit der Praxis der Bundesregierung - Heuchelei ist. Eine Zustimmung würde für mich bedeuten, die von mir bekämpfte unmenschliche Politik dieser Regierung zu legitimieren. Ich werde deshalb dagegen stimmen.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Eine weitere Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Czaja zu Protokoll gegeben. Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktion der CDU/CSU, SPD, FDP und der Fraktion DIE GRÜNEN zur Gemeinsamen deutschsowjetischen Erklärung auf Drucksache 11/4805. Wer für diesen Antrag stimmt, gebe bitte das Handzeichen. - Gegenprobe! - Zwei Gegenstimmen. Enthaltungen? - Eine Enthaltung. Damit ist dieser Antrag mit großer Mehrheit angenommen. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4806 ab. Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? -4 Stimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN. Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Bei einer Reihe von Enthaltungen ist dieser Entschließungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt. *) Anlage 3 Vizepräsident Stücklen Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 30. ({0}) - Er wird mir eben zugereicht, Herr Abgeordneter Dr. Vogel. ({1}) Ich lasse über den Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/4788 abstimmen. Wer dafür ist, gebe bitte das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich? - Bei drei Enthaltungen ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt. Sonst kommt nichts mehr, Herr Dr. Vogel? ({2}) Ich rufe Punkt 30 der Tagesordnung auf: a) Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 sowie zur Förderung des Mietwohnungsbaus und von Arbeitsplätzen in Privathaushalten - Drucksachen 11/4507, 11/4688, 11/4712 - aa) Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({3}) - Drucksachen 11/4775, 11/4803 - Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Faltlhauser Poß bb) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/4778 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Struck Frau Vennegerts Roth ({5}) Dr. Weng ({6}) ({7}) b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Hüser, Sellin und der Fraktion DIE GRÜNEN Quellensteuer auf Zinseinkünfte - Drucksachen 11/1894, 11/2599 Hierzu liegen Änderungsanträge und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf den Drucksachen 11/4783 bis 11/4786 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 90 Minuten vorgesehen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist dies so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem Herrn Bundesminister der Finanzen.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich gestehe, daß das Thema, das jetzt an der Reihe ist, nicht so faszinierend ist wie das Thema zuvor, das Parlamentarier und andere Menschen besonders berührt, wenngleich man durchaus einräumen muß, daß die Quellensteuer auch sehr viele Menschen in der Bundesrepublik Deutschland berührt und unsere Entscheidung, sie als Erhebungsform der Einkommensteuer nicht weiter zu verfolgen, auf breite Zustimmung gestoßen ist. Wir fühlen uns auch sehr bestätigt durch das, was die Deutsche Bundesbank und andere objektive Gremien dazu sagen. ({0}) Das, was uns von ({1}) Ihnen unterscheidet, ist folgendes: Wenn wir etwas als Fehler erkennen, dann räumen wir ihn ein, sagen das und ändern das, während Sie ein Leben lang in falscher Ideologie verharren. Das ist der große Unterschied zwischen uns. ({2}) Meine Damen und Herren, ich möchte mich bei allen Damen und Herren - vor allen Dingen bei den Damen und Herren des Finanzausschusses - für die Bereitschaft zur zügigen Beratung bedanken, um diese Gesetzesinitiative rechtzeitig verabschieden zu können. Wenn der Bundesrat am 30. Juni seine Zustimmung zu den vorgeschlagenen gesetzlichen Maßnahmen gibt, können sie wie geplant zum 1. Juli 1989 in Kraft treten. Zu diesen kurzen Beratungsfristen haben alle Mitwirkenden, insbesondere die Kolleginnen und Kollegen der zuständigen Ausschüsse, beigetragen. Das hat sie vor hohe Anforderungen gestellt. Aber wir wollten durch die Schaffung verbindlicher gesetzlicher Regelungen so rasch wie möglich Klarheit und Sicherheit schaffen. Vor allem die deutlicher gewordenen negativen Auswirkungen der kleinen Kapitalertragsteuer auf das Verhalten der Kapitalanleger erforderten rasches Handeln. Aber auch die verbesserte steuerliche Förderung des Mietwohnungsbaues und die endgültige Regelung bei den Veräußerungsgewinnen sollten so schnell wie möglich in Kraft treten. Mit dem Verzicht auf die kleine Kapitalertragsteuer werden wir das Vertrauen der deutschen und internationalen Anleger in die Attraktivität des Finanzplatzes Bundesrepublik Deutschland stärken. Nach Auskunft der deutschen Bundesbank hat sich der Nettokapitalabfluß im April bereits auf gut 6 Milliarden DM verringert. Im März waren es noch fast 15 Milliarden DM gewesen. Beim langfristigen Kapitalverkehr ist der Nettoabfluß mit 1,7 Milliarden DM im April fast zum Stillstand gekommen. Auch die Bedingungen für die Geldmengensteuerung haben sich zuletzt deutlich verbessert. Die Bargeldnachfrage beginnt sich zu normalisieren, nachdem der Umlauf im letzten Jahr um 15 % zugenommen hatte. Nach Aussage des Präsidenten des Sparkassen- und Giroverbandes, Helmut Geiger, hat sich der Rückgang der Spareinlagen im Mai deutlich abgeschwächt. Die überhöhte Nachfrage nach Auslandsanlagen habe zugleich nachgelassen, und auch die Relation zwischen Inlandsanleihen und AuslandsBundesminister Dr. Waigel anleihen hat sich zugunsten der Inlandsanleihen verbessert. Zinseinkünfte - darauf möchte ich heute nochmals in aller Klarheit hinweisen - bleiben wie bisher steuerpflichtig. Auf der Grundlage der in den letzten Monaten geführten öffentlichen Diskussion werden wir auch in Zukunft umfassend über die Pflicht zur Angabe von Zinseinkünften bei der Steuererklärung oder beim Lohnsteuer-Jahresausgleich informieren. Darüber hinaus besteht bis Ende 1990 die Möglichkeit, durch die Nacherklärung von Zinseinkünften den Schritt in die Steuerehrlichkeit zu gehen. Auch auf europäischer Ebene, meine sehr verehrten Damen und Herren, steht die Einführung einer für alle Mitgliedsländer verbindlichen Quellensteuer nicht mehr zur Diskussion. Das ist das Ergebnis des informellen Treffens der Finanzminister und Notenbankpräsidenten am 20. Mai in S'Agaro. Auf der Grundlage unserer eigenen Erfahrungen habe ich meine Kollegen eindringlich vor den negativen Konsequenzen einer solchen Regelung gewarnt. Meine Damen und Herren, was wir als nicht praktikabel, als bürokratisch zu aufwendig und als volkswirtschaftlich und finanzwissenschaftlich schädlich erkannt haben, das kann man doch nicht guten Freunden innerhalb der Europäischen Gemeinschaft als Lösung empfehlen. ({3}) Die Unterstellung der Opposition, wir betrieben ein Doppelspiel und wollten die kleine Kapitalertragsteuer jetzt nur aussetzen, um sie auf dem Umweg über Europa wieder einzuführen, war solch ein Doppelspiel. Uns gegenüber kann man diese Unterstellung nicht machen. Wir haben klar für das Inland gehandelt, und wir haben auch klar gemacht, was dies auf europäischer Ebene bedeutet. Das ist auch respektiert worden. Wir stehen da nicht allein. Auch ohne unsere Entscheidung hätte es eine europäische Quellensteuer nicht gegeben. Wenn wir gegen eine europäische Quellensteuer sind, dann sind wir natürlich auch gegen die Kontrollmitteilungen, weil sie die gleichen verhängnisvollen volkswirtschaftlichen Schäden wie die Quellensteuer mit sich brächten. ({4}) Wenn die SPD das zum Wahlkampfthema des nächsten Jahres machen möchte, wünsche ich ihr viel Glück dabei. Wir sind darauf durchaus vorbereitet. ({5}) Weder bei uns noch im europäischen Rahmen - ich sage das noch einmal - wird es ein Kontrollmitteilungsverfahren geben. Der in der Bundesrepublik gesetzlich verankerte Bankenerlaß, der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen den Banken und ihren Kunden bleibt in Kraft. Allerdings sind die Banken, wie bisher, auch in Zukunft verpflichtet, den Steuerbehörden bei konkretem Verdacht der Steuerhinterziehung Auskunft zu geben. Durch die von der Kommission vorgeschlagenen Änderungen der europäischen Amtshilferichtlinie sollen künftig solche Auskünfte auch grenzüberschreitend zwischen den EGMitgliedsländern möglich sein, sofern nicht eine gesetzliche Regelung entgegensteht. Wir bejahen diese Richtlinie und halten sie für notwendig. Mit der Verdoppelung des Sparerfreibetrages auf 600 DM für Ledige und 1 200 DM für Verheiratete dehnen wir zum ersten Mal seit seiner Einführung im Jahre 1975 den Betrag der begünstigten Zinseinkünfte spürbar aus. Für Verheiratete werden künftig Erträge aus Sparguthaben von bis zu rund 30 000 DM steuerlich nicht mehr erfaßt. Der Vorschlag der Bundesregierung ist im Interesse der Sparer angemessen und haushaltspolitisch bei günstigen Einnahmeerwartungen zu vertreten. Dem gegenüber wäre die von der SPD geforderte Verzehnfachung des Sparerfreibetrages nicht nur verteilungspolitisch problematisch; sie würde auch den Rahmen des Finanzierbaren im Augenblick weit überschreiten. ({6}) - Also ich wundere mich, daß ausgerechnet Sie sich für eine Verzehnfachung dieses Freibetrages einsetzen, obwohl Sie sonst fast jeden Freibetrag als sozial- und gesellschaftspolitisch unerwünscht und als Verteilung von unten nach oben darstellen. ({7}) Das wundert mich schon sehr. ({8}) - Entschuldigung, Herr Kollege Huonker. Damals war zufällig ein Mann von Ihnen Finanzminister. Im gleichen Jahr haben Sie den Eingangssteuersatz von 19 auf 22 % erhöht. Dafür sollten Sie sich heute noch schämen. ({9}) - Ich habe es bejaht. Das war damals in Ihrer Zeit. Wir erhöhen den Sparerfreibetrag jetzt. Sie haben damals den Eingangssteuersatz von 19 auf 22 % erhöht, und wir senken ihn wieder. Das ist eine sozialpolitische Tat von uns. Sie haben mit Ihrem Handeln in der Steuerpolitik die Arbeitnehmer geschröpft, weil das Geld nicht mehr gereicht hat. Anschließend haben Sie sich verschuldet. ({10}) Jetzt gehe ich mit großem Vergnügen auf die Argumentation der Frau Kollegin Matthäus-Maier ein. Daß ich im Augenblick ausgerechnet von der SPD die Mahnung bekomme, bei der Haushaltspolitik ja vorsichtig zu sein, das nehme ich natürlich gerne entgegen, aber das entbehrt nicht seines ganz besonderen Charmes - um es vorsichtig auszudrücken, weil es von Ihnen kommt. Wer in den Jahren bis 1982 mit dafür verantwortlich war, daß Ausgabensteigerungen von 8 bis 10 % jährlich erfolgt sind, wer damals, im Jahre 1982 - da waren Sie allerdings noch nicht bei der SPD, Frau Kollegin; damals noch nicht - ({11}) - Nein, das ist nicht unehrenhaft. Das Interessante war nur: Wenn ein anderer wegen seiner Parteipräferenzen irgendwo anders hingegangen ist, haben Sie das sehr kritisiert. ({12}) Ich habe Respekt davor. Darüber will ich aber gar keine Diskussion führen. Wer also damals so hohe Schulden gemacht hat, sollte jetzt mit Ermahnungen zurückhaltend sein. Wir kommen auf ein ganz anderes Thema: Im Juni 1982 hat Helmut Schmidt vor Ihrer Fraktion eine bemerkenswerte Rede gehalten. Damals hat er sinngemäß etwa folgendes gesagt: Steuererhöhungen gehen nicht mehr. Wir haben den Arbeitnehmer bis oben hin mit Steuern belastet. Mehr Konsum und weniger Investitionen gehen auch nicht mehr. Wir haben die Kürzung der Investitionen unverhältnismäßig durchgeführt. Das ist schädlich für unsere Volkswirtschaft. Eine höhere Verschuldung können wir uns auch nicht mehr leisten. - Ich kann mich erinnern, daß er ungefähr gesagt hat, er könne dann nicht mehr in den Spiegel schauen - damit hat er wohl nicht den aus Hamburg gemeint. Dann hat er einen interessanten Satz gesagt: Wer mehr für beschäftigungswirksame Maßnahmen tun will, muß tief, viel tiefer in das soziale Netz hineinschneiden. Es ist nicht bekannt die Rede wurde ja damals von Ihrem Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner verschickt - , daß es dagegen Protest gegeben hätte. Soweit, so gut. Als ich etwa drei oder vier Jahre später auf einer Wahlveranstaltung den gleichen Satz gebracht habe und bei einer Zufallsberichterstattung dieser, wie ich meine, richtige Satz von Helmut Schmidt nicht unter Helmut Schmidt, sondern unter Theo Waigel zitiert wurde, hat die SPD - haben leider auch geschätzte Kolleginnen und Kollegen, z. B. Frau Fuchs und Herr Glotz - diesen Satz zum Hauptwahlkampfthema gemacht, und zwar als unglaubliche Demagogie. Es hieß, man habe die soziale Maske fallen lassen; jetzt sei klar, wie CDU und CSU wirklich dächten. Obwohl ich Frau Fuchs und Herrn Glotz auf diese Dinge aufmerksam gemacht habe, haben sie sich nicht gescheut, nicht geschämt, das bis zum letzten Tag vor der Wahl in Millionen von Flugblättern zu verbreiten, das in allen Wahlspots zu bringen, das in allen Anzeigen zu bringen; und ich mußte Gerichte bemühen, um das wenigstens am Schluß klarstellen zu können. ({13}) Meine Damen und Herren! Ich will damit nur eines sagen: Wer so mit der Wahrheit, wer so mit der eigenen Geschichte, wer so mit der eigenen Finanzpolitik umgeht, der sollte sich für ein paar Jahre zurückhalten, bevor er mir und uns haushalts- und finanzpolitische Ermahnungen gibt. Das will ich Ihnen von hier aus noch einmal gesagt haben. ({14}) Sie sollten sich dafür entschuldigen, daß Sie einen Mann, der Achtung verdient, so behandeln und einen Satz von ihm im Wahlkampf als Demagogie gegen die andere Seite mißbrauchen. Das ist eine Schande, wo Sie unter Helmut Schmidt gedient haben, Herr Huonker! ({15}) - Ja, ja, alles, was Ihnen nicht paßt, alles, was Ihnen peinlich ist, kennen Sie nicht. Diese Vergeßlichkeit nehme ich Ihnen allerdings nicht ab, ({16}) und damit müssen Sie sich noch einmal beschäftigen. Herr Glotz hat wenigstens so viel Anstand gehabt, sich bei mir einmal zu entschuldigen. Das hat aber auch lange genug gedauert. ({17}) Es sind nur wenige Jahre, an die man Sie erinnern muß, aber Sie sind sehr sensibel. Meine Damen und Herren, wir ersparen Ihnen das nicht! Ich habe in letzter Zeit viele Veranstaltungen gehabt.. Wenn man die Menschen, auch bei größeren Veranstaltungen, fragt, ob es ihnen im Herbst 1982 besser gegangen ist als heute, ({18}) dann ist noch nicht ein einziger Sozialdemokrat bei größeren Veranstaltungen aufgestanden. Folglich ging es auch jedem Sozialdemokraten 1982 unter einer SPD-Regierung wesentlich schlechter. Das sind, wie ich meine, die besten Argumente dafür, auch bei der Europawahl und bei allen Wahlen danach wieder CDU und CSU zu wählen. ({19}) Meine Damen und Herren, mit dem Verzicht auf die kleine Kapitalertragsteuer entfallen in wenigen Monaten die der Außenstelle des Bundesamts für Finanzen in Trier zugewiesenen Aufgaben. Wir werden die Außenstelle in Trier mit anderen Aufgaben auslasten. Es wird keine neue Bürokratie geben, sondern wir werden hier andere Bereiche mit einführen. Zu den Abschreibungen im Mietwohnungsbau wird sicherlich einer meiner Kollegen Stellung nehmen, auch zu dem, was wir positiv für den sozialen Wohnungsbau getan haben. Zu den Steuerbefreiungen im Arbeitnehmerbereich will ich hier nur sagen: Erfreulicherweise ist der Finanzausschuß auch einstimmig - - Darf ich einen Geschäftsführer bitten, mir vielBundesminister Dr. Waigel leicht die Redezeit zu verlängern; denn hier leuchtet schon wieder das rote Licht. ({20}) - Ich war schon bei der Sache, und das war für Sie relativ unangenehm. Das weiß ich schon. - Erfreulicherweise ist der Finanzausschuß auch einstimmig einem Antrag der Koalitionsfraktionen zur Anreicherung des Gesetzes um arbeitnehmerfreundliche Regelungen gefolgt. Dadurch wird die bisherige Verwaltungspraxis auch für die Zeit ab 1990 rechtlich abgesichert. Die Zahlung von Werkzeuggeld, die Überlassung von Berufskleidung und die Sammelbeförderung von Arbeitnehmern zwischen Wohnung und Arbeitsstätte müssen also nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfen werden. Intensive Erörterungen mit den obersten Finanzbehörden der Länder haben ergeben, daß zur Steuerfreistellung eine Gesetzesergänzung erforderlich ist. Ich begrüße es deshalb ausdrücklich, daß sich der Finanzausschuß kurzfristig bereit erklärt hat, das Anliegen noch bei diesem Gesetzentwurf aufzugreifen. Meine Damen und Herren, wir schaffen mit diesem Gesetz Wachstumsvoraussetzungen und stärken sie. In der Summe schaffen wir durch die vorgeschlagenen steuerrechtlichen Änderungen noch bessere Voraussetzungen für Wachstum und Beschäftigung und tragen zur Entspannung am Wohnungsmarkt bei. Die im nächsten Jahr mit einem Volumen von rund 20 Milliarden DM in Kraft tretende Steuerentlastung wird in ihrer Wirksamkeit gestärkt. Die Erfolge unserer Finanz- und Steuerpolitik werden immer deutlicher sichtbar. Die ursprünglichen Wachstumserwartungen für 1989 werden nach den guten Ergebnissen des ersten Quartals voraussichtlich erheblich übertroffen. Bei einem Anstieg des realen Bruttosozialprodukts von über 3 % ist die Arbeitslosenzahl erstmals seit sieben Jahren unter die 2-Millionen-Grenze gesunken. Wir werden noch günstigere Bedingungen für berufliche Leistungen und betriebliche Investitionen schaffen und so die errungenen Erfolge sichern und ausbauen. Diese Regierung, diese Koalition ist in der Steuerpolitik auf dem richtigen Weg. ({21})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat Frau Matthäus-Maier.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das jetzige Steueränderungsgesetz ist innerhalb von nur neun Monaten bereits das zweite Steuerreformreparaturgesetz. Diese Reparaturgesetze beweisen: Die sogenannte Steuerreform 1990 ist eine schlampige Arbeit. Die Steuerpolitik dieser Bundesregierung ist geprägt von politischem Dilettantismus und handwerklichem Unvermögen. ({0}) Die Quellensteuer dieser Bundesregierung ist eines der peinlichsten Kapitel der deutschen Finanzgeschichte. ({1}) Von Anfang an mußte jedem klar sein: Die Quellensteuer ist ein bürokratisches und ungerechtes Monstrum. ({2}) Wir haben Sie immer vor der Einführung gewarnt. Leider mußten erst die Bürger den Schaden haben, bevor die Bundesregierung endlich klug wurde. Die Quellensteuer ist ein steuerpolitisches Bubenstück. Sie ist auch ein Symbol für eine verfehlte Finanzpolitik. Die Bundesregierung verfolgt einen finanzpolitischen Zickzackkurs: erst Einführung der Quellensteuer, nach sechs Monaten wieder Abschaffung; erst Ankündigung der größten Steuersenkung aller Zeiten, dann die größte Steuererhöhungsaktion zum 1. Januar 1989 mit den Verbrauchsteuern; erst Ankündigung eines Abbaus der Staatsverschuldung, dann Haushaltsdefizite auf Rekordniveau; erst Flugbenzinskandal, dann halb wieder heraus. Ich frage Sie, Herr Waigel: Wann kommt das nächste Reparaturgesetz, um den Flugbenzinskandal endlich aus der Welt zu schaffen? Die finanzpolitischen Wechselbäder, denen diese Bundesregierung unsere Bürger und unsere Wirtschaft aussetzt, sind unerträglich und unverantwortlich. ({3}) Wir brauchen Stetigkeit und Berechenbarkeit. Leider wird Ihre finanzpolitische Inkompetenz mittlerweile zu einer Belastung für Bürger und Wirtschaft. ({4}) Meine Damen und Herren, die Einführung der Quellensteuer war falsch; ihre Abschaffung ist also richtig. Ich frage Sie aber: Wie geht es jetzt weiter? Dazu haben Sie leider nichts gesagt. Nach Recht und Gesetz müssen Kapitaleinkünfte genauso versteuert werden wie Arbeitseinkommen und Unternehmensertäge. Bei den Arbeitnehmern haben wir den gläsernen Steuerzahler durch die Lohnsteuer, bei den Unternehmen kontrolliert die Betriebsprüfung. Nur bei den großen Kapitalerträgen geschieht nichts. ({5}) Die Folge ist, daß sich die großen Steuerhinterzieher mit Millionenvermögen ungestört ihr schlimmes Treiben leisten können. Auf 15 Milliarden DM schätzt die deutsche Steuergewerkschaft den Betrag, der hier an Steuern hinterzogen wird. ({6}) Auch die Bundesregierung - auch Sie, Herr Waigel - hat festgestellt, daß es verfassungsmäßig unumgänglich ist, die Besteuerung von Kapitalerträgen sicherzustellen. Aber was tun Sie, um den jetzigen Zustand zu beseitigen? Nichts. Im Gegenteil: Sie schützen die Steuerhinterzieher noch, indem Sie den Bankenerlaß zum Gesetz aufgewertet haben. Wenn man Ihrer Logik folgte, müßte man Sie fragen: Wann wollen Sie denn endlich ein Lohngeheimnis einführen? Vielleicht sollte zukünftig überhaupt nur noch jeder freiwillig seine Steuern bezahlen. Wieso können Sie Arbeitnehmer eigentlich so viel schlechter behandeln als die großen Steuerhinterzieher, meine Damen und Herren? ({7}) Ich fordere Sie auf: Handeln Sie endlich! Machen Sie sich nicht mitschuldig am fortgesetzten Rechtsbruch! Sorgen Sie durch eine Verzehnfachung der Sparerfreibeträge dafür, daß die Millionen Normalsparer aus der Besteuerung herausfallen, und zwar völlig legal, und sorgen Sie dafür, daß den großen Steuerhinterziehern das Handwerk gelegt wird! ({8}) Die politische Begünstigung der großen Steuerhinterzieher, Herr Waigel, ist zugleich auch ein schwerer Verstoß gegen unsere Verantwortung für die kommenden Generationen. Warum? - Unsere Enkel und Kinder müssen dafür zahlen, daß diese Bundesregierung vorsätzlich und fortgesetzt auf Milliarden Steuereinnahmen verzichtet, die dem Staat nach Recht und Gesetz zustehen; denn gleichzeitig mit Ihrer Weigerung, für die Sicherstellung der Besteuerung großer Kapitalerträge zu sorgen, erhöhen Sie in einem besorgniserregenden Ausmaß die Staatsverschuldung. ({9}) Die Bundesregierung, die jetzige, hat von 1982 bis heute 191 Milliarden DM neue Schulden gemacht. ({10}) Sie selbst planen einen Anstieg der Verschuldung des Bundes bis 1993 auf 612 Milliarden DM. Das ist gegenüber 1982 eine Verdoppelung. ({11}) Dies führt zu einem beängstigenden Anstieg der Zinsbelastung, Herr Uldall. 1982 mußte der Bund 22 Milliarden DM Zinsen zahlen, 1989 32,4 Milliarden DM. In nur vier Jahren werden sie nach Ihrer eigenen Planung erneut um 10 Milliarden DM steigen, nämlich auf 42 Milliarden DM in 1993. In Ihrem Bundeshaushalt ist der Zinsblock der drittgrößte Posten, größer als die Etats für Bildung und Wissenschaft, Wohnungsbau, Jugend und Familie sowie Umwelt zusammen, meine Damen und Herren. ({12}) Schon die Zinsen, die Sie, meine Damen und Herren, an nur 11 Tagen des Jahres - 11 Tagen! - zahlen, würden ausreichen, um ein Programm zur Rettung der Nordsee mit einem Volumen von 1 Milliarde DM jährlich zu finanzieren. ({13}) Das zeigt, wie absurd die jetzige Politik ist. ({14}) Wir müssen wieder dazu kommen, daß wir das Geld in die notwendigen Zukunftsprojekte investieren, statt Milliarden an Zinsen zu zahlen. Wenn Sie sich die relative Entwicklung, die Zinsquote, ansehen, dann stellen Sie fest, daß das noch schlimmer ist; denn sie soll - entgegen Ihren Worten in der Regierungserklärung vom 27. 4. - bis 1993 weiter steigen, nämlich auf mehr als 12,8 %. Herr Waigel, Sie sprachen mich auf die Schulden der alten Koalition an. Ich halte das für durchaus gerechtfertigt, aber ich bitte doch, zur Kenntnis zu nehmen, daß die beiden ersten großen Konsolidierungsgesetze von der alten Koalition beschlossen wurden, nämlich das erste Subventionsabbaugesetz und das zweite Haushaltsstrukturgesetz. Daß Sie, Herr Waigel, Helmut Schmidt zitieren, finde ich ja gut. Es gibt aber einen kleinen Unterschied. Ich habe ihn zitiert und unterstützt, als er Bundeskanzler war. Sie haben erst begonnen, ihn zu zitieren, als Sie ihn mit Hilfe der FDP gestürzt hatten. ({15}) Sie wissen - Sie belieben ja in jeder Rede darauf anzuspielen - , daß ich daraufhin die FDP aus Protest verlassen habe, und ich habe, Herr Waigel - das ist der kleine, aber wichtige Unterschied -, mein Bundestagsmandat niedergelegt, während die CDU/CSU aus der alten Koalition gern Überläufer mit Mandaten in Empfang genommen hat. ({16}) Lenken Sie also bitte nicht von Ihren neuen Schulden ab! ({17}) Nehmen Sie zur Kenntnis: Die Staatsverschuldung, die Sie auch durch die von Ihnen geduldete milliardenschwere Steuerhinterziehung verursachen, ({18}) führt zu einer unverantwortlichen Vorbelastung kommender Generationen. Unsere Kinder und Enkel müssen über künftige Zins- und Steuerzahlungen ({19}) dafür einstehen, daß unter Ihrer Regierung die großen Steuerhinterzieher ein feines Leben führen können. Das müssen wir ändern. ({20}) Ihre Steuerpolitik ist ungerecht und unausgewogen. Herr Uldall, kommen Sie hierher und machen Sie eiFrau Matthäus-Maier nen Gesetzentwurf, wo Sie der großen Steuerhinterziehung einen Riegel vorschieben. Das machen wir in der Tat zum Wahlkampfthema. Darauf können Sie sich verlassen. Ihre Steuerpolitik ist unausgewogen. Denn parallel zu der politischen Begünstigung der großen Steuerhinterzieher - das sind nicht meine Worte, sondern diese Worte sind im Hearing des Finanzausschusses gefallen - steht die steigende Steuerbelastung für die Arbeitnehmer. Trotz all Ihrer Regierungspropaganda zeigen die amtlichen Zahlen: Seit der Wende steigt die Lohnsteuerbelastung der Arbeitnehmer immer weiter an. Die Lohnsteuerquote lag 1982 bei 16 %. Sie ist auf 18,3 % angestiegen. Auch Ihre Steuerreform 1990 wird das nur sehr kurzzeitig verändern. Dieser Marsch in den Lohnsteuerstaat muß gestoppt werden. Sie müssen das korrigieren. Als ersten Schritt zur Wiedergutmachung an den Arbeitnehmern, die Sie z. B. dafür bezahlen lassen, daß Sie jetzt keine Alternative zur Quellensteuer einführen, fordern wir Sie auf: Führen Sie den von Ihnen abgeschafften Weihnachtsfreibetrag für Arbeitnehmer wieder ein. Sie haben einen Anspruch darauf. ({21}) Sie kündigen bereits jetzt milliardenschwere Steuersenkungen für Unternehmen in der nächsten Legislaturperiode an. Ich sage Ihnen: Einen Bedarf nach pauschaler Senkung gibt es bei den Unternehmensteuern nicht. Wenn es in diesem Land irgendwo einen Entlastungsbedarf gibt, dann bei den Arbeitnehmern. Deswegen ist das nicht nur finanzpolitisch erforderlich, sondern auch ein Gebot der wirtschaftspolitischen Vernunft. ({22}) Auch bei Ihrer Familienpolitik regiert die Ungerechtigkeit. Herr Waigel, da Sie angesprochen haben, wir wären gegen alle Freibeträge: Das ist nicht der Fall. ({23}) Aber wir sind der Ansicht: Bei der Grundförderung für jedes Kind, beim Minimum an Entlastung durch den Staat, auf die jede Familie ein Recht hat, sollten wir in der Tat nicht den Höherverdienenden für ihr Kind durch Freibeträge fast dreimal soviel Entlastung geben wie Kleinverdienern. ({24}) Das haben Sie in dieser Koalition eingeführt. ({25}) In Ihrer Familienpolitik gibt es ein unerträgliches Mißverhältnis. ({26}) Die Familie eines Normalverdieners bekommt für ihr Kind nur ganze 1 200 DM im Jahr nach der Steuerreform durch das Ehegattensplitting. Nun sagen Sie: Das habe ich schon einmal gehört. - Das werden Sie ununterbrochen hören, in jeder Rede von mir, ({27}) bis zur Bundestagswahl. In der Familie eines Spitzenverdieners bekommt man, ohne daß ein Kind in der Ehe vorhanden sein muß, einen jährlichen Steuervorteil von bis zu 22 842 DM, ({28}) und das Jahr für Jahr. Das heißt im Klartext: Durch Ihre Politik wird der Trauschein 19mal stärker gefördert als die Geburt eines Kindes. Und das ist falsch. ({29}) Auch das, was wir heute nachmittag hier im Bundestag beraten werden, die lächerliche Anhebung des Zweitkindergeldes um 30 DM, ist nicht in Ordnung. ({30}) Von den insgesamt 12 Millionen Kindern gehen bei Ihnen 10 Millionen Kinder völlig leer aus. Nach all dem, was Sie vor der Wahl über die Familien gesagt haben, ist das ein glatter Wortbruch, meine Damen und Herren. Aber für Spitzenverdiener haben Sie Geld. ({31}) Mit ihrem Dienstmädchenprivileg wollen Sie mit mehr als 400 Millionen DM jährlich die Beschäftigung von Haushaltshilfen steuerlich begünstigen. Dabei wissen sie genau, daß sich das nur für Ehepaare mit einem Monatseinkommen - für die Zuhörer: Monatseinkommen - von mehr als 15 000 DM ({32}) und für Alleinstehende mit mehr als 7 500 DM Monatseinkommen rechnet. ({33}) Dabei wissen Sie genau, daß Sie mit diesem neuen Freibetrag in einem Jahr schon zum drittenmal ein Gesetz gegen schwerste verfassungsrechtliche Bedenken verabschieden. Auch dieses Gesetz wird in Karlsruhe keinen Bestand haben. Sie reden viel vom Rechtsstaat. Wenn Sie aber als Gesetzgeber aus parteipolitischem Kalkül sehenden Auges verfassungswidrige Gesetze beschließen, dann ist das weder ein Beitrag zum Rechtsstaat noch zur geistig-moralischen Erneuerung. Wer so mit dem Rechtsstaat umspringt, der muß sich entsprechende Vorwürfe gefallen lassen, meine Damen und Herren. ({34})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete Matthäus-Maier, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Uldall?

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte schön, ja.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, da Sie bei den Ausschußberatungen nicht dabei waren, als über die Auswirkungen des Freibetrages von 12 000 DM gesprochen wurde, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen zumindest von Ihren Kollegen berichtet worden ist, daß sich bei diesen Ausschußberatungen herausgestellt hat, daß der volle Segen des neuen Freibetrages nicht erst ab 15 000 DM pro Monat eintritt, wie Sie behauptet haben, sondern bei einer Ledigen bereits ab 3 200 DM?

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Das ist ja alles Käse. Ich bitte um Entschuldigung. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, darf ich um Gehör für Frau Abgeordnete MatthäusMaier bitten, damit sie die Antwort geben kann.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe die Antwort schon gegeben. Sie rügen mich nicht. Aber es ist wirklich Käse. Mein Kollege Gunter Huonker wird das gleich nachrechnen. Sie können sich drehen und wenden, wie Sie wollen, Herr Uldall. Die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen hat in der Anhörung so schön gesagt, ({0}) daß die von Ihnen geplante Begünstigung sozialpolitisch unausgewogen, verfassungsrechtlich und steuersystematisch - ({1}) - Das macht Herr Huonker. ({2}) - Nun schreien Sie doch nicht so laut herum, Herr Kroll-Schlüter. Ich habe noch eine Minute, und die benutze ich für das, was ich sagen will, und nicht für das, was Sie aus mir herausholen wollen. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, darf ich bitten! Lebhaft ist meist auch interessant, aber bitte nicht so lange und nicht so aktiv.

Ingrid Matthäus-Maier (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001436, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also: Die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen hat diese Begünstigung in der Anhörung als sozialpolitisch unausgewogen, verfassungsrechtlich und steuersystematisch bedenklich und familien- und frauenpolitisch fragwürdig bezeichnet. Ich fordere die Abgeordneten der Christlich-Demokratischen und die Abgeordneten der Christlich Sozialen Union auf: Ziehen Sie die Konsequenz aus diesem vernichtenden Urteil der Kirche. Lehnen Sie den Hausgehilfinnen-Freibetrag ab. ({0}) Ich komme zum Schluß und fasse zusammen, meine Damen und Herren. Das heutige Steuerreparaturgesetz zeigt: Die Steuerpolitik dieser Bundesregierung ist handwerklich ungenügend, ihr finanzpolitischer Zickzackkurs ist eine schwere Belastung für Bürger und Wirtschaft. Sie lassen zu, daß Besitzer von Millionenvermögen viele Milliarden an Steuer hinterziehen, aber für die Arbeitnehmer wird die Lohnsteuerschraube angezogen. Sie finanzieren Ihre Steuergeschenke an große Steuerhinterzieher durch noch mehr Schulden, die unsere Kinder und Enkel bezahlen müssen, und unsere Familien und Kinder speisen Sie mit Almosen ab. Ich fordere Sie auf: Sorgen Sie dafür, daß die Millionen Normalsparer aus der Steuerpflicht herausfallen und die großen Steuerhinterzieher erfaßt werden: Führen Sie den Weihnachtsfreibetrag für Arbeitnehmer wieder ein, und erhöhen Sie schließlich das Kindergeld vom ersten Kind an auf mindestens 200 DM im Monat durch eine Reform des Splittings! Dann haben auch endlich die Familien etwas von dieser Regierung. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Faltlhauser.

Prof. Dr. Kurt Faltlhauser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000517, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Damen und Herren, wir haben im Finanzausschuß über viele Stunden und Tage gewartet, daß die charmante finanzpolitische Sprecherin der Opposition uns einmal besucht, insbesondere dann, als wir über die vielen Zahlen etwa zum Problem der Haushaltshilfen, die Sie angesprochen haben, diskutiert haben. ({0}) Sie sind nie gekommen. ({1}) Wir waren enttäuscht. Das Ergebnis haben wir gerade gehört: Als in einer Zwischenfrage von Herrn Kollegen Uldall konkrete Zahlen vorgehalten wurden, wußte sie nur ein Wort zu antworten: Käse. ({2}) Frau Kollegin, das ist für eine finanzpolitische Sprecherin eigentlich zu schwach. ({3}) Ich würde Sie auffordern: Beteiligen Sie sich da, wo Sie als finanzpolitische Sprecherin hingehören, im Finanzausschuß an der Fachdebatte! Dann können Sie dem Plenum und der deutschen Bevölkerung fachkundig Auskunft geben, und dann hätten Sie dem Herrn Kollegen Uldall auch zustimmen können. Sie verlangen Stetigkeit und Berechenbarkeit in der Finanzpolitik. Sie haben uns diese Stetigkeit bewiesen: über viele Jahre Ihrer Regierung stetig jährlich im Schnitt 9 % Anhebung des Haushaltsansatzes. Sie haben über die finanziellen Möglichkeiten gelebt. Diese Bundesregierung hat, seit sie regiert, diesen Weg eben nicht verfolgt, sondern ist jeweils unter dem Wachstum des Bruttsozialproduktes - mit einer Ausnahme, der jetzigen - geblieben. ({4}) Das hat die Solidität der Finanzen wiederhergestellt. Berechenbarkeit fordern Sie. Ihre Finanzpolitik ist meiner Ansicht nach für die Bevölkerung völlig unberechenbar. Man hört zur Unternehmensbesteuerung heute Frau Matthäus-Maier, am nächsten Tag sagt der Herr Apel, der ehemalige Sprecher, etwas ganz anderes, und am dritten Tag sagt der Herr Roth wieder etwas Neues. Das nenne ich „Berechenbarkeit". Das ist finanzpolitisches Chaos. Das sollten wir unserer Bevölkerung nicht zumuten. ({5}) Die deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute haben vor zwei Monaten in ihrem Frühjahrsgutachten der Finanzpolitik der Bundesregierung Bestnoten gegeben. Die wesentlichste Aussage dieses Gutachtens, das übrigens ohne irgendein Minderheitsvotum geblieben ist, lautete: Mit der Steuerreform sind Konjunktur- und Wachstumsimpulse beträchtlichen Ausmaßes verbunden. Die Steuerreform trägt in dieser Situation wesentlich zur Verstetigung des Wachstums der Inlandsnachfrage bei. Damit bestätigen diese Institute, daß diese Bundesregierung mit ihrem steuerpolitischen Weg auch unter konjunkturpolitischen Gesichtspunkten richtig lag. Der Selbstfinanzierungseffekt von Steuersenkungen ist in den USA ebenso umstritten gewesen wie bei uns; aber die gegenwärtige Entwicklung bei uns in der Bundesrepublik Deutschland bestätigt, daß die Laffer-Theorie ein gutes Stück Praxis werden kann. Wenn wir heute mehr als 4 % Wachstum des Bruttosozialprodukts haben, so ist das ohne diese Steuerreform in ihrem bisherigen Schritt nicht denkbar, und die Entwicklung wird sich mit dem nächsten Senkungsschritt fortsetzen. ({6}) Genau dieser positive Effekt wird durch das vorliegende Gesetz zur Änderung der Steuerreform verstärkt. Die Impulswirkung der Steuerreform wird um rund 5 Milliarden DM aufgestockt. Mit anderen Worten: Wir erhöhen die Nettoentlastung der Bürger 1990 um 5 Milliarden DM. 19 Milliarden DM waren geplant, 24 Milliarden DM werden es sein. Dies wird also nicht nur den einzelnen Bürgern zugute kommen, dies wird auch die Stabilisierung der Konjunktur und die Mehrung der Arbeitsplätze fördern. Deshalb wäre es wohl sinnvoller gewesen, liebe Kollegen, wir hätten dieses Gesetz nicht „Gesetz zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990" genannt, sondern hätten richtigerweise „Steuersenkungs-Erweiterungsgesetz" gesagt. ({7}) Das ist im Endeffekt nämlich das, was bei den Leuten ankommt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Steuersenkungs-Erweiterungsgesetzes - der Begriff gefällt Ihnen ganz offenbar - ist die Abschaffung der kleinen Kapitalertragsteuer. In diesem Zusammenhang ist folgendes Zitat interessant: Wir haben keine ausreichenden Vorstellungen davon gehabt, wie massiv die Widerstände der Lobbyisten, der Interessenverbände und einzelner Bürger waren. Dies könnte durchaus ein Zitat von uns im Zusammenhang mit der Quellensteuer sein. Das Zitat ist jedoch älter - es stammt von Frau Matthäus-Maier - : ({8}) Sie hat dies in einem Vortrag vor dem Institut Finanzen und Steuern am 7. Mai 1981 gesagt, und zwar im Hinblick auf das vergleichsweise bescheidene Vorhaben des sogenannten Subventionsabbaugesetzes 1981. Das heißt, Sie haben durchaus die Problematik der Akzeptanz eines Steuergesetzes erkannt und haben damals für Verständnis in der Bevölkerung für das Problem geworben, das ein politisch Handelnder bei der Durchsetzung eines Steuergesetzes haben kann. Das Verständnis, um das Sie damals geworben haben, haben Sie heute leider nicht mehr. Komplexität und komplizierte Sachverhalte wollen Sie offenbar nicht mehr zur Kenntnis nehmen. ({9}) Ich habe kürzlich einen Aphorismus gelesen, wonach es heißt, daß es im Leben eines Menschen zwei Tragödien gibt: Die eine Tragödie besteht darin, daß ein langersehnter Wunsch nicht in Erfüllung geht. Die zweite Tragödienmöglichkeit ist die, daß der langersehnte Wunsch in Erfüllung geht. Die zweite Möglichkeit trifft bei der SPD zum gegenwärtigen Zeitpunkt ganz offenbar zu. Es war doch Ihr langersehnter Wunsch, daß die Quellensteuer wieder abgeschafft wird. Jetzt sind Sie, wie ich in den Diskussionen der letzten Tage festgestellt habe, bestürzt und verwirrt, daß wir Ihren Wunsch erfüllen. ({10}) Was soll das also hier? Wir machen im Grunde doch das, was Sie immer schon gefordert haben. Aber Ihre Argumentation ist interessant, liebe Kollegen von der Opposition, seit Finanzminister Waigel in seinem Amt ist. Da kann man bei genauerem Hin11220 sehen drei Phasen der Argumentation zur Quellensteuer feststellen. Die erste Phase: Noch am Tag der Vereidigung von Finanzminister Waigel sagte mir ein Kollege aus dem Finanzausschuß - Mitglied der SPD - mit der Miene des Wissenden: „Die Abschaffung der Quellensteuer - das hat der Waigel nicht im Kreuz. " Wie Sie sehen: Er hat. Und Sie werden sich überhaupt noch wundern, was der CSU-Vorsitzende und Finanzminister noch alles im Kreuz hat. Dann aber war es passiert, dann haben Sie auf die zweite Phase umgestellt. Sie haben sich dann wieder auf das verlegt, worauf Sie sich besonders gut verstehen, nämlich darauf, der Bevölkerung Angst zu machen: Die Quellensteuer, so der Herr Kollege Poß bei der ersten Beratung dieses Gesetzes, werde zwar vor der Wahl abgeschafft, aber nach der Wahl unter dem Vorzeichen der EG wieder eingeführt. - Mit einer derartigen Behauptung ließen sich die Sparbuchinhaber wieder herrlich beunruhigen. Aber auch dieses Argument hat der Finanzminister Ihnen durch seine Beharrlichkeit am 20. Mai in Nordspanien aus der Hand geschlagen. Herr Poß, auch Sie müssen jetzt klar sehen: Die Quellensteuer ist auch auf europäischer Ebene vom Tisch. Deshalb verlegen Sie sich jetzt in der dritten Phase Ihrer Argumentation offenbar wieder zunehmend auf Ihre alten Vorstellungen von einer Scheinalternative, nämlich auf die der Kontrollmitteilungen. Ein Kommentator hat völlig recht gehabt, als er sagte: „Das ist die Methode, den Teufel durch Beelzebub auszutreiben. " Die Kontrollmitteilungen würden den Verwaltungsaufwand, den die Quellensteuer verursacht, weit in den Schatten stellen, auch bei der Variante des Stichprobe-Verfahrens nach dem Norwegen-Modell. Das hat die Anhörung im Finanzausschuß ganz klar erhärtet. Vor allem durch die Ausführungen des Vertreters der Deutschen Steuergewerkschaft und des Zentralen Kreditausschusses wurde klar: Ihre Alternative ist keine realistische Alternative. Stellen Sie sich einmal nur 1 % Stichprobe bei 200 Millionen Konten vor! Das ergibt dann pro Jahr zwei Millionen Kontrollmitteilungen. Das ist mit Sicherheit keine Verwaltungsvereinfachung, meine Damen und Herren. ({11}) Ich verstehe auch nicht, wieso Sie in diesem Zusammenhang immer so sehr auf die Kontrollmitteilungen abstellen. ({12}) Sie sind doch sonst immer so sehr gegen den „gläsernen Menschen" , sonst so sehr für den Datenschutz. Eine steuerliche Rasterfahndung, wie Sie sie in diesem Zusammenhang vorhaben, ({13}) ist das, was wir nicht wollen, ist das, was Sie in diesem Land im Grunde einführen wollen. ({14}) Und dann wollen Sie noch den Sparerfreibetrag, wie es in diesem Antrag, der uns vorliegt, deutlich wird, verzehnfachen. Also: Verzehnfachung des Sparerfreibetrages. Der Finanzminister hat schon darauf hingewiesen, daß dies ungeheuere finanzielle Folgen haben würde. Und ich erinnere Sie hier an die erheblichen Bedenken, die in der Anhörung gegen eine derart massive Anhebung vorgetragen wurden: Durch wesentlich weitere Anhebungen der Freibeträge würde die Einkommensart Kapitalerträge gegenüber anderen Einkommensarten ungerechtfertigt bevorzugt. ({15}) Professor Arndt, den Sie sonst so gerne zitieren, ({16}) hat gesagt, dies sei verfassungsrechtlich nicht nur bedenklich, sondern dies sei verfassungswidrig. Und die Anhörung, meine Damen und Herren, hat auch noch einmal eindrucksvoll bestätigt, daß der mutige Schritt von Finanzminister Waigel aus volkswirtschaftlichen Gründen völlig richtig war. Die Bundesbank hat die schädlichen Auswirkungen für den Kapitalmarkt, die Geldpolitik und Währungspolitik überzeugend dargestellt. Gegenwärtig sind wir ja - Gorbatschow ist gerade abgereist - besonders Moskau-freundlich. Aber das muß ja nicht so weit gehen, daß wir es dulden müssen, daß Moskau billiger an Kredite herankommt als die Bundesrepublik, wie es auf Grund der Kapitalbewegungen nach Einführung der Quellensteuer der Fall war. ({17}) Meine Damen und Herren, das SteuersenkungsErweiterungsgesetz steht in der Kontinuität einer erfolgreichen Finanz- und Steuerpolitik, die berechenbar ist und die berechenbar bleibt. Dieses Gesetz ergänzt und verstärkt die Impulswirkung der bevorstehenden Stufe der großen Steuerreform. Dieses Gesetz enthält wesentliche Anreize für zusätzliche Investitionen und Beschäftigungen. Dieses Gesetz ist der Ausdruck, wie ich meine, einer mutigen und klaren Politik des neuen Finanzministers. Ich bedanke mich. ({18})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Beinahe wären die Debatte über die Große Anfrage der GRÜNEN zur Quellensteuer und die Antwort der Bundesregierung hierauf zu einer Pflichtübung geworden. Immerhin liegt diese Anfrage schon fast ein ganzes Jahr zurück. Doch inzwischen hat es ein Stühlerücken in der Regierung am Kabinettstisch gegeben. Der neue Finanzminister hat nichts Übereilteres zu tun gehabt, als die ersatzlose Abschaffung jener Quellensteuer zu verkünden, die die BundesreHüser gierung gerade in dieser Antwort - das können Sie gern nachlesen - mit Rechtskonstruktionen und realitätsfernen Fiktionen bis aufs letzte verteidigt hat. Ich denke: Verwirrt und zögernd, aber letztlich doch gehorsam, wie man es ja bei der CDU/CSU-Fraktion gewohnt ist, haben sich die Koalitionsfraktionen diesem Salto fiscale angeschlossen. Das ist anscheinend das, was wir hier unter Wendepolitik zu verstehen haben. Fast alle Argumente, die die Koalition heute für die Abschaffung der Quellensteuer vorträgt, hätte sie bereits vor einem Jahr verinnerlichen können. Damals jedoch haben die Regierungsparteien alle Bedenken aus der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik vom Tisch gewischt, Änderungsvorschläge ungeprüft verworfen und jeden Anflug von Kritik quasi schon als Majestätsbeleidigung zurückgewiesen. Ich empfehle jedem, am besten noch einmal in die Antwort der Bundesregierung hineinzuschauen. Dort kann man das sehr genüßlich verfolgen. Alle skeptischen Anmerkungen, unter anderem von uns, zu dem befürchteten Verwaltungsaufwand, zu den negativen volkswirtschaftlichen Auswirkungen wie Zinssteigerungen und Kapitalflucht, zur Fragwürdigkeit der Besteuerung von Lebensversicherungen und zur Notwendigkeit der Erhöhung der Freibeträge wurden damals noch als unbedeutend abgetan. Das alles hat sich innerhalb des letzten halben Jahres so maßgeblich geändert, daß es fast schon unglaublich ist, was Sie hier an Kehrtwende vollbracht haben. Allerdings ist es jetzt noch viel schlimmer gekommen, als es vor einem Jahr aussah. Die Quellensteuer wird abgeschafft - was durchaus von Vorteil ist -, aber der Bankenerlaß wird beibehalten. Die gesetzliche Fixierung eines Ermittlungsverbots für Beamte bei den Banken bleibt bestehen. Die unsägliche Amnestie, die in der Anhörung von fast allen Sachverständigen als verfassungswidrig bezeichnet wurde, bleibt erhalten. Es hat fast den Anschein, die Nichtbesteuerung der Kapitalerträge wird der Bevölkerung von der Bundesregierung als eine ganz klare Aufforderung zur Steuerhinterziehung nahegebracht. Die Regierung erwartet, daß diese Steuerhinterziehung erfolgreich ist. Denn nicht anders läßt es sich erklären, daß im Haushaltsplan mit jährlichen Mindereinnahmen von 4 Milliarden DM gerechnet wird. Genau diese Punkte sind - Sie mögen alles andere bestreiten - bei der Anhörung eindeutig und kristallklar herausgearbeitet worden. Hier ist sehr deutlich von der Verbeugung vor dem Steuerhinterzieher und von einer Dummensteuer gesprochen worden, da sich jeder jetzt der Steuerpflicht leicht entziehen kann. Schwerste verfassungsrechtliche Bedenken gegen eine ersatzlose Abschaffung der Quellensteuer wurden sehr deutlich betont, ohne daß dies irgendeinen Niederschlag bei Ihren Beratungen gefunden hat. Sogar aus dem Justizministerium und von den Verfassungsjuristen Ihres Ministeriums wurden dagegen Bedenken erhoben. Diese Regelung wird sicher hier noch zur Sprache kommen. Schon jetzt liegen beim Bundesverfassungsgericht Anträge vor, diese Amnestieregelung zu prüfen. Wir meinen: Es kann nicht bei einer bloßen Abschaffung der Quellensteuer bleiben. Denn die Notwendigkeit einer gerechten Besteuerung von Zinseinkünften bleibt bestehen. Die Bundesregierung hat sich von dem in ihren verbalen Äußerungen angekündigten Weg durch diesen Gesetzentwurf gelöst. Die einzige angemessene Lösung sind Kontrollmitteilungen der Banken an die Finanzämter über Zinszahlungen. Das kann praktisch durchaus auch über Stichproben stattfinden. Solche Kontrollmitteilungen kennen wir in vielen anderen Industriestaaten, unter anderem in Holland und in den USA. Hier ist nicht festzustellen, daß der gesamte Kapitalmarkt zusammengebrochen ist, sondern er funktioniert dort ganz hervorragend. ({0}) Es ist auch nicht einzusehen, warum gerade für Banken und Kapitaleinkünfte besondere Schutzräume eingerichtet werden sollten. ({1}) Auch in einem weiteren Punkt ist die Anhörung im Finanzausschuß zu einem Desaster für die Bundesregierung geworden. Ich denke hier an das sogenannte Hausmädchenprivileg, das die soziale Ungerechtigkeit ihrer Steuerpolitik hier deutlich auf die Spitze treibt. Von der steuerlichen Begünstigung großbürgerlicher Lebensformen war in der Anhörung die Rede. Auch von einem mustergültigen Sparmodell für Großverdiener wurde da sehr deutlich gesprochen. Die Bedenken, die wir bereits bei der Einbringung dieses Gesetzentwurfs vorgebracht haben, wurden, denke ich, mehr als bestätigt. Hier vielleicht ein Hinweis für alle Alleinerziehenden, die die Möglichkeit haben, diese Debatte zu verfolgen oder sie nachzulesen: Es ist natürlich immer so, wenn man von Begünstigungen für Alleinerziehende spricht, daß dies von sich aus einen sozialen Aspekt hat. Ich denke, sie legen sich hier ein soziales Mäntelchen um, was sie nicht verdient haben. Denn auch im dem Bericht - Herr Uldall, das müßten Sie eigentlich im Finanzausschuß noch mitgekriegt haben - vom Finanzministerium steht ganz klar in der Tabelle, ab wann es sich lohnt. ({2}) - Genau, da steht ganz genau drin, daß es sich erst dann rechnet, wenn bei Alleinerziehenden ein Einkommen von 100 000 DM und bei Verheirateten von 200 000 DM im Jahr vorhanden ist. ({3}) Aber das ist gar nicht einmal der Punkt. Der Punkt ist, daß es hier so ist, daß den Alleinerziehenden ein Geschenk angeboten wird, was sie überhaupt nicht annehmen können, denn der Großteil der Alleinerziehenden hat überhaupt nicht diese Verdienstmöglichkeiten. Die Einkommen von zwei Dritteln der Alleinerziehenden liegen unter 2 000 DM im Monat. Diese Alleinerziehenden können überhaupt nicht daran denken, diese Vergünstigungen in An11222 Spruch zu nehmen. Dies ist eine Vortäuschung falscher Tatsachen. Das ist unsoziale Politik. ({4}) Hier wird nur eine kleine Klientel, eine kleine Gruppe von Alleinerziehenden mit hohen Einkommen, begünstigt. ({5}) - Das haben Sie schon einmal versucht, zu erklären. Das ist genau der Punkt, auf den ich jetzt auch noch hier eingehen will. Sie sprechen auch davon, daß hier große Arbeitsplatzeffekte stattfinden sollten. Ich denke, die Anhörungen haben ganz eindeutig belegt - und das ist ja auch in den Protokollen nachzulesen -, daß hier überhaupt nicht damit zu rechnen ist, daß hier große Arbeitsplatzeffekte stattfinden. Auch wenn dies 20 000 bis 30 000 Arbeitsplätze bringen sollte, ist das ein absolut untaugliches Instrument der Arbeitsmarktpolitik. Auf der einen Seite schaffen sie durch Gesetze und die Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes wirklich notwendige Arbeitsplätze in einem Ausmaße von Zigtausenden ab. Hier, durch eine Bevorzugung einer kleinen Gruppe, versuchen sie 10 000, 20 000 oder 30 000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist eine sehr schlechte Arbeitsmarktpolitik, von der wir uns ganz klar distanzieren. ({6}) Noch ein Punkt, den ich hier ansprechen möchte, ist die Entscheidung im Gesetzentwurf, die heute beschlossen werden soll, nämlich die Änderung des § 34 des Einkommensteuergesetzes. Daß die Verbände der Wirtschaft in der Anhörung ganz unverfroren hier ihre Interessen vertraten und diese Regelungen begrüßten, braucht uns, glaube ich, hier nicht weiter zu interessieren. Es verwundert auch nicht. Wie ernst die Argumente der Wirtschaft hier zu nehmen sind, zeigt sich auch daran, da sie z. B. auf einen völligen Verzicht auf jegliche Besteuerung von Kapitaleinkünften oder auf jede Begrenzung der Steuerermäßigung bei Gewinnen aus Unternehmensverkäufen plädiert hat. Die Notwendigkeit der teilweisen Wiedereinführung dieses sogenannten Flick-Privilegs konnte weder sozial- noch mittelstandspolitisch belegt werden. Wer könnte auch ernsthaft behaupten, daß ein Geschäftsmann mit 5 Millionen DM begünstigtem Verkaufserlös für seinen Betrieb einem Lebensabend voller Entbehrungen entgegensieht. Der maximale Steuervorteil, den allein diese Änderung, die sie jetzt hier eingebracht haben, bringt, kann für einen einzelnen bis zu 7 Millionen DM betragen. Das hat mit Alterssicherung überhaupt nichts mehr zu tun; gerade wenn man im Vergleich dazu sieht, was Sie bei dem Rentenreformgesetz jetzt vorhaben. ({7}) Immerhin hat ja auch die Bundesregierung selbst noch vor einem Jahr die Grenze auf 5 Millionen DM gezogen und dies für richtig und angemessen erachtet und damals auch schon gesagt, daß das das Maximale an Steuervergünstigungen ist, was hier noch erreicht werden kann. Ich habe noch eine Minute Redezeit und möchte noch auf einen letzten Teil eingehen, der in diesem Gesetzentwurf angesprochen wird. In dem anstehenden Gesetz wird auch noch die Förderung des Mietwohnungsbaus geregelt. Ich denke, hier sind die Ergebnisse und Anregungen aus der Anhörung der Wissenschaftler auch unbemerkt an Ihnen vorbeigeflossen; Sie haben sich davon auch überhaupt nicht beeindrucken lassen. Mitnahmeeffekte bei ohnehin geplanten Baumaßnahmen, die Förderung von Spekulationsgeschäften, die fehlende Koppelung von Subventionen mit Sozialbindungen, eine einseitige Förderung teurer Mietwohnungen, diese Stichworte zeigen deutlich, wo die Mängel in diesem Gesetzentwurf liegen. Wir beklagen hier insbesondere eine falsche Schwerpunktsetzung. Angesichts des Trends zur Umwandlung preiswerter Altbaumiethäuser in Eigentumswohnungen, des Auslaufens vieler Sozialbindungen bei älteren Wohnungen und der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit müßte die Priorität bei der Schaffung und Förderung dauerhaft gebundener sozialer Mietwohnungen liegen und eben nicht bei den Subventionen, bei der Förderung durch Milliardengeschenke an die Erbauer teurer Wohnungen. Das ist eigentlich die grundlegende Kritik an diesem Gesetzentwurf. ({8}) Dazu gehört auch der Punkt, der wahrscheinlich nachher noch einmal angesprochen wird, daß wir nämlich, wie uns schon im Ausschuß vorgeworfen wurde, dem Wohnungsbau in Berlin Steine in den Weg legen würden. Daran liegt es nicht, sondern wir haben uns grundsätzlich gegen dieses Modell der Abschreibungsmöglichkeiten gewandt. Wir wollen schon, daß auch der Wohnungsbau in Berlin gefördert wird, aber wir denken, daß dies durch direkte Zuschüsse mit der Bindung an den sozialen Wohnungsbau wesentlich günstiger als durch diese Abschreibungsmodelle passieren kann, die, denke ich, bei den Spekulanten in Berlin die Sektkorken wieder knallen lassen. Die von uns vorgeschlagenen Modelle hierzu sind wesentlich günstiger. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Hans Hermann Gattermann.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Verehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieses heute zu verabschiedende Steuergesetz enthält zwei Reparaturen und zwei Neuerungen. Das Spektakulärste scheint nach dem, was bisher hier heute morgen gesagt worden ist, die Abschaffung der kleinen Kapitalertragsteuer zu sein. Meine sehr verehrten Damen und Herren, niemand sollte sich bei dieser Selbstkorrektur von Regierung und Koalitionsfraktionen schadenfroh, hämisch oder besserwisserisch auf die Schulter klopfen, übrigens am allerwenigsten die Damen und Herren aus der Bankwelt. Der Zielkonflikt - Frau Matthäus-Maier, Sie haben es gesagt - zwischen Steuergerechtigkeit und rechtsstaatlich gebotener Gleichbehandlung auf der einen Seite und liberalen Kapitalmarktbedingungen wie Datenschutz für die Beziehungen zwischen Bürger und Bank auf der anderen Seite bleibt ungelöst. Wir haben geglaubt, mit dem maßvollen Satz von 10 % Quellenabzug auf eine ohnehin geschuldete Steuer einen maßvollen Einstieg gefunden zu haben, um diesen Zielkonflikt aufzulösen. Wir haben uns geirrt: Die Reaktionen in- und ausländischer Anleger waren bis hin zur blanken Irrationalität ({0}) weitaus hektischer, als wir es erwartet hatten, und die Akzeptanz des unvermeidbaren Maßes an Bürokratie beim Bürger war sehr viel geringer, als wir es erhofft hatten. ({1}) Alle diejenigen, die in der Debatte seit 1987 mit maßlos überzogener Polemik, mit Halb- und Falschinformationen zu diesem Ergebnis beigetragen haben, sollten sich einmal in einer stillen Stunde fragen, ob sie eigentlich verantwortlich gehandelt haben. ({2}) Unsere Bürgerinnen und Bürger müssen wissen - Frau Matthäus, Sie haben dankenswerterweise mit schöner Klarheit darauf hingewiesen - , daß Sie diesen Zielkonflikt durch Kontrollmitteilungen, wie immer man das nun zu ummanteln und einzugrenzen versucht, auflösen wollen. ({3}) Die Wirkungen auf den Kapitalmarkt sind ganz sicher nicht weniger schädlich als die der maßvollen kleinen Kapitalertragsteuer. ({4}) Die Akzeptanz bei der Bevölkerung ist sicherlich nicht größer, wenn sich der Wirkungsmechanismus erst einmal herumgesprochen haben wird, ({5}) und der Bürokratieaufwand wird lediglich auf eine andere Schiene verlagert. Wir machen mit unserer Revisionsentscheidung, national und europäisch ein Nein zu beidem zu sagen, sowohl zur Kapitalertragsteuer wie zu Kontrollmitteilungen, unseren Bürgerinnen und Bürgern ein Angebot. Denn ein gutes hat diese Wiedereinführung und Abschaffung der kleinen Kapitalertragsteuer immerhin: Niemand in diesem Lande wird sich mehr darauf berufen können, er habe nicht gewußt, daß Zinserträge steuerpflichtig sind. ({6}) Alle wissen nunmehr, daß der Staat die Steuern auf Zinserträge braucht, wenn nicht auf der anderen Seite die Steuern für Arbeitseinkommen bzw. für Gewerbeeinkommen unerträglich hoch werden sollen. ({7}) Die Brücke, die wir gebaut haben, um in die Steuerehrlichkeit zu gehen, bleibt bestehen. Die besondere Erklärungspflicht für Kapitaleinkünfte bleibt bestehen. Die Hinweise durch die Banken bleiben bestehen. Deshalb appellieren wir an die Bürgerinnen und Bürger, ungeachtet des Geschwätzes von der „Aufforderung der Regierung zur Steuerhinterziehung" ihrer staatsbürgerlichen Pflicht, zu der das Zahlen von Steuern auch auf Kapitalbeträge gehört, nachzukommen! ({8}) Anderenfalls - da gebe ich Ihnen wieder recht - kommt diese Diskussion früher oder später, so oder so, national oder auch europäisch wieder auf uns zu. ({9}) Meine Damen und Herren, wir haben auch noch die Grenze korrigiert, ab der die volle Besteuerung von Veräußerungsgewinnen eintritt. Wir haben sie von 2 bzw. 5 Millionen DM auf 30 Millionen DM angehoben. Auch hier hatten wir die Auswirkungen im mittelständischen Bereich falsch eingeschätzt; das geben wir unumwunden zu. Der Umfang konzentrationsfördernder steuermotivierter Firmenverkäufe war besonders im Hinblick auf die sich ohnehin verändernden Strukturen für den Binnenmarkt zu groß. Die steuerliche Belastung war in einer nicht zu vernachlässigenden Zahl von Fällen beim Anfallen von Veräußerungsgewinnen, ohne daß Geld fließt, zu drückend. Auch war der Alterssicherungsfunktion von Veräußerungsgewinnen jedenfalls dann nicht ausreichend Rechnung getragen, wenn aus den Veräußerungsgewinnen zunächst einmal die Schulden des veräußerten Betriebes abgetragen werden mußten. Wir hoffen, daß diese negativen Auswirkungen mit der neuen Grenze beseitigt sind. Meine Damen und Herren, die beiden neuen Maßnahmen: In Konsequenz der wohnungspolitischen Beschlüsse vom März haben wir neue Abschreibungssätze für Wohngebäude. Wir erhoffen uns hiervon Anreizwirkungen auf den quantitativen Wohnungsbau ganz allgemein, was die Basis für jede feingesteuerte Wohnungspolitik ist. Meine Damen und Herren, ich lege aber Wert darauf, festzustellen: Dies ist kein typisches Investitionsanreizinstrument oder gar ein befristetes Konjunkturprogramm, sondern Dauerrecht. ({10}) Lediglich aus fiskalischen Gründen konnten wir es nur für jene Gebäude einführen, bei denen der Bauantrag nach dem 28. Februar gestellt wird oder die nach diesem Termin erworben werden. Im Gesetzgebungsverfahren haben wir die Sache für Berlin noch ein bißchen aufgebessert. Das Präferenzgefälle ist gewahrt, und wir haben etwas Neues getan: Wir haben die Möglichkeit geschaffen, daß besonders günstige Abschreibungsregelungen auch für Eigentumswohnungen in Form des Dachgeschoßausbaus möglich sind. Dies trägt der besonderen Grundstücksmarktsituation in Berlin ausreichend Rechnung. Meine Damen und Herren, am heftigsten umstritten war die Sache mit den Hausgehilfinnen. Das Arbeitsplatzpotential privater Haushalte wird heute mit sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen im Umfang von nur rund 33 000 ausgenutzt. Die Zahl geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse kennt man nicht genau - sie ist weitaus höher - , und die Schwarzarbeit wird in diesem Bereich erheblich höher sein, ohne daß wir das wissen. Natürlich wissen wir, daß dies bei den hohen Lohnkosten und bei den besonders hohen Lohnkosten für sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse kein Instrument für Klein- und Kleinstverdiener ist. Natürlich wissen wir, daß sich dieses Instrument auch für beide Seiten schon rechnen und lohnen sollte, wenn es denn wirken soll. Deshalb wissen wir natürlich auch, daß es sich, jedenfalls wenn das Nettoeinkommen der Beschäftigten 550 DM und mehr betragen soll, erst bei einem Einkommen von etwa 50 000 DM bei einem Alleinerziehenden und von 100 000 DM bei Verheirateten rechnet. Das ist die korrekte Berechnung für die Steuerklasse I. Sie operieren natürlich polemisch-vordergründig nur mit der Steuerklasse V, wohl wissend, daß die Steuerklasse V nicht die endgültige Besteuerung darstellt. ({11}) Wer hier die Polemik von der „Umverteilung von unten nach oben" - ({12}) - Die ist hier völlig fehl am Platz! ({13}) Die Steuerersparnis, die für einen Arbeitgeber eintritt, dient einzig und allein der sozialen Absicherung von Arbeitnehmern. ({14}) Das Verfügungseinkommen des Arbeitgebers wird um Null erhöht. Wenn das eine Arbeitnehmerpartei nicht sehen will, dann frage ich mich, was eigentlich dahintersteckt. ({15}) Intellektuelle Schwächen unterstelle ich nicht. Was also steckt dahinter? Es ist ganz einfach: Weil sich eine alleinerziehende Verkäuferin trotz steuerlicher Förderung keine Haushaltshilfe für die Betreuung ihres Kindes unter zehn Jahren leisten kann, soll sich das gefälligst auch nicht die alleinerziehende Richterin leisten können. Das ist das Motiv. ({16}) Nein, lieber soll die illegale Haushaltshilfe in der Illegalität bleiben, lieber soll die geringfügig Beschäftigte ohne sozialen Schutz bleiben. Oder noch schlimmer: Lieber sollen die Arbeitsplätze gar nicht erst geschaffen werden. Unsere beschäftigungspolitischen Erwägungen sind deutlich anders. ({17}) Wir wissen auch, daß die gewählte familienpolitische Differenzierung bei dieser Maßnahme, ({18}) nämlich zwei Kinder bei Verheirateten und ein Kind bei Alleinerziehenden, nicht ohne gewisse verfassungsrechtliche Bedenken ist. ({19}) Schließlich stellt Art. 6 des Grundgesetzes Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates. Schließlich sagt das Bundesverfassungsgericht, daß es steuerlich durch die Tatsache der Eheschließung keine Nachteile geben darf und soll. ({20}) - Übrigens, Frau Matthäus-Maier, es hätte mich eben gereizt, unseren, ich glaube, zehn Jahre langen Dialog über das Ehegattensplitting fortzusetzen. Das machen wir einmal an anderer Stelle, wenn ein paar Minuten mehr Redezeit zur Verfügung stehen. Wir wissen, daß es hier Bedenken gibt. Wir glauben aber dennoch, daß es aus der beschäftigungspolitischen Zielsetzung der Maßnahme heraus ({21}) und auch unter dem Diktat der Haushaltslage vertretbar ist, der unterschiedlichen kinderbetreuungsbedingten Belastung von Alleinerziehenden auf der einen Seite ({22}) und von Verheirateten, die sich den Job teilen können, auf der anderen Seite durch diese Differenzierung Rechnung zu tragen. Das gilt zumal dann, wenn man die hochinteressante Begründung des Rechtsausschusses mit heranzieht, nach der nämlich das Wort „Familie" in Art. 6 des Grundgesetzes nicht zu definieren sei als unaufgelöste Ehe plus Kinder, sondern als Verbund mit Kindern, sei es des alleinerziehenden Vaters, der alleinerziehenden Mutter oder der gemeinsam erziehenden Eltern. ({23}) Wir betreten in diesem steuerlichen Bereich Neuland. Da sich dieses Neuland steuersystematisch in der Privatsphäre befindet, gewähren wir zwangsläufig zugleich Vergünstigungen. Wenn diese auch aus fiskalischen Gründen an bestimmte sozialpolitische und familienpolitische Gruppeneingrenzungen gebunden sind, dann ist bei der Definition doch unvermeidlich, daß man sich Fallkonstellationen denken kann - ich vermute, Herr Huonker wird gleich eine anführen - , bei denen die Bedenken im Hinblick auf Art. 3 oder Art. 6 des Grundgesetzes besonders schwerwiegend zu sein scheinen. ({24}) Wir meinen, daß sich unter Berücksichtigung aller Einwände und Vorteile diese Bedenken auf ein Restrisiko minimieren, das getragen werden kann und muß, zumal uns das Verfassungsgericht gerade bei solchen Konstellationen einen sehr weiten Gestaltungsspielraum einräumt. Übrigens: Die FDP hätte auf diese Differenzierung lieber verzichtet - das wissen Sie -, und zwar auch aus der beschäftigungspolitischen Perspektive heraus, glauben wir doch, daß mittel- und langfristig die postindustrielle Gesellschaft das Beschäftigungspotential der privaten Haushalte wird voll erschließen müssen. Dabei wird dann à la longue die strenge steuersystematische Trennung zwischen betrieblicher und privater Veranlassung von Lohnkosten auf die Dauer ohnehin nicht durchgehalten werden können. ({25}) Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen. ({26})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Huonker.

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Bundesfinanzminister, daß Sie mich, was das kleine Geplänkel mit der Geschichte aus dem Wahlkampf angeht, für allwissend zu halten scheinen, ehrt mich. Aber ich sage: Es ist leicht übertrieben. In der Zwischenzeit habe ich mich sachkundig gemacht. Anke Fuchs läßt Sie sehr grüßen. ({0}) Wahr ist, daß im Bundestagswahlkampf eine Agentur eine Meldung gebracht hat, aus der nicht erkennbar war, daß Sie ein Zitat von Helmut Schmidt benutzt haben, sondern es kam so an, als sei es Ihr eigenes Zitat. Dann gab es einen Briefwechsel. Die Sache ist ausgeräumt. Interessant, sehr geehrter Herr Bundesfinanzminister, ist, warum Sie sich nicht zu schade sind, auf diesen läppischen Vorgang des Jahres 1986 zurückzugreifen, ({1}) wenn Ihnen Frau Ingrid Matthäus-Maier zu Recht die Entwicklung der Bundesschulden seit der Wende vorrechnet. Offenbar fühlen Sie sich auf diesem Gebiet nicht sonderlich stark. ({2}) Noch etwas: Herr Gattermann, erneut sage ich: Ich kann es wirklich nicht mehr hören ({3}) - diesen Gedanken möchte ich erst einmal zu Ende führen - , wenn Sie, ohne Roß und Reiter zu nennen, jene attackieren, die gegen die Besetz- und rechtmäßige Erfassung von Zinseinkünften öffentlich polemisieren. Nennen Sie doch einmal Roß und Reiter! Mir fällt da nur eine politische Gruppierung ein; das ist die CDU/CSU. Ich erinnere mich an jene Äußerung von Manfred Lahnstein und deren Reaktion darauf. ({4}) Zweitens. Hören Sie doch bitte endlich damit auf, so zu tun, als ob in diesem Bereich die Steuerehrlichkeit einkehrt, weil die entsprechende Angabe statt in die kleine Rubrik in der früheren Einkommensteuererklärung jetzt auf ein DIN-A4-Blatt - KSO genannt - geschrieben wird. ({5}) Der Vorsitzende der Steuergewerkschaft hat uns doch in der Anhörung in unwiderlegbarer Weise - und von Ihnen auch nicht widersprochen - dargetan, daß das, was Sie hier an Alternativen nennen, überhaupt keine Auswirkungen in der Realität hat. ({6}) Im Gegenteil, da Sie von der Koalition den Bankenerlaß in der Abgabenordnung beibehalten wollen, ist es doch so: Die alternativlose Abschaffung der Quellensteuer, verbunden mit dem Bankenerlaß im Gesetz, rechtfertigt unsere Aussage, daß hier bewußt oder unbewußt amtliche Beihilfe zur Steuerhinterziehung geleistet wird. Das nennen die Juristen Dolus eventualis. ({7}) Bei diesem Vorwurf bleiben wir, Herr Bundesfinanzminister. Meine Damen und Herren, wir haben am 24. Mai miteinander den 40. Geburtstag unseres Grundgesetzes gefeiert. Heute drängt sich die Frage auf: Achtung vor der Verfassung in der rauhen politischen Praxis nur dann, wenn es opportun ist? Sie von der Koalition und von der Bundesregierung wollen heute ein Gesetz verabschieden, das in einem zentralen Punkt das Kainsmal der offenkundigen Verfassungswidrigkeit auf der Stirn trägt. ({8}) Ich meine den Sonderausgabenabzug für Haushaltshilfen. ({9}) - Ich habe vor Herrn Kinkel Respekt. Er ging bis an den Rand dessen, was ein beamteter Staatssekretär bei unserem Dienstrecht tun darf, als er im Finanzausschuß sagte: Das Bundesjustizministerium erhält die verfassungsrechtlichen Bedenken, die den Bundesjustizminister im Kabinett dazu veranlaßt haben, einen Protokollvermerk zu machen, in vollem Umfang aufrecht. ({10}) - Das hat Herr Kinkel gesagt, und das ist die Wahrheit. ({11}) Er hat hinzugefügt ({12}) - ich brauche doch keine Belehrung! -, ({13}) man könne auch politisch entscheiden. Daraufhin kam die Frage: Wie häufig hat denn der Justizminister so einen Protokollvermerk schon gemacht? Das wußte er nicht genau. Ich glaube, er sagte, sechs- oder zehnmal. ({14}) Und dann wurde gefragt: Wie häufig hatten Sie recht? Das wußte er nicht. ({15}) - Er wußte es nicht.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Erhalten die Herren nach dieser Hinzufügung ihren Wunsch aufrecht, eine Zwischenfrage zu stellen?

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, wird dieser Dialog von der Redezeit abgezogen?

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Huonker, selbstverständlich nicht.

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, dann kehre ich mit Vergnügen zu dem eigentlichen Gegenstand meiner Rede zurück.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, sind Sie damit einverstanden, daß der Abgeordnete Gattermann eine Zwischenfrage stellt? ({0})

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die wird aber nicht auf die Redezeit angerechnet!

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nein, sie wird nicht angerechnet.

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit Vergnügen.

Hans H. Gattermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000637, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Die an und für sich selbstverständliche Formulierung des Staatssekretärs im Bundesministerium der Justiz lautet: Diese Bedenken sind nicht so schwerwiegend, daß der Justizminister Widerspruch gegen die Kabinettsvorlage hätte einlegen müssen. ({0})

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Gattermann, ich will mich inhaltlich mit dem Thema befassen. Unverheiratete Elternpaare und Alleinstehende sollen durch die Beschäftigung einer Haushaltshilfe bis zu 12 000 DM im Jahr steuerlich geltend machen können, wenn sie ein Kind haben. Für verheiratete Elternpaare gilt das dagegen nicht; sie brauchen zwei Kinder, und zwar sogar dann, wenn beide Ehepartner arbeiten müssen. Bei Alleinstehenden genügt ein Kind auch dann, wenn z. B. der Lebensunterhalt bequem aus eigenem Vermögen oder hohen Unterhaltsleistungen bestritten werden kann. „Der nach dieser Vorschrift" - gemeint ist Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes - „gebotene Schutz von Ehe und Familie gewährt Eheleuten einen Anspruch darauf, nicht allein deshalb, weil sie verheiratet sind, gegenüber Ledigen benachteiligt zu werden. " So das Bundesverfassungsgericht im 47. Band zur steuerlichen Berücksichtigung von Kinderbetreuungskosten. Im Beschluß zum Grundsatz der getrennten Steuerveranlagung von Ehegatten aus dem Jahre 1959 heißt es - ich zitiere - : „Die Verfassungsnorm " - wiederum des Artikels 6 Abs. 1 - „verbietet jedenfalls dem Gesetzgeber, Ehegatten gegenüber Ledigen zu benachteiligen. " ({0}) Im Beschluß des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahre 1972 steht unter Hinweis auf die ständige Rechtsprechung - ich zitiere erneut - : „Verheiratete dürfen nicht allein deshalb, weil sie verheiratet sind, Ledigen gegenüber benachteiligt werden." ({1}) Jetzt wende ich mich insbesondere an das Bundesfinanzministerium und an die Beamten, die dort für Verfassungsrecht zuständig sind. Die Bundesregierung wurde damals in Karlsruhe politisch von mir und auf der Beamtenebene von Mitarbeitern des BMF vertreten, die damals im Amt waren und heute noch im Amt sind. 1982 erging das bedeutsame Urteil zur steuerlichen Behandlung Alleinerziehender mit Kindern. Ich zitiere: „Um einen Verstoß gegen die Steuergerechtigkeit ({2}) und das Schutzgebot für die Ehe ({3}) auszuschließen, darf die zu treffende gesetzliche Neuregelung Alleinstehende mit Kindern steuerlich nicht besserstellen als Ehepaare mit Kindern." Wenn es zum Steuerrecht an einem Punkt eine einheitliche Rechtsprechung seitens des Bundesverfassungsgerichts gibt, meine Damen und Herren von der Koalition und von der Bundesregierung, dann die, daß das Gericht in jedem Einzelfall an dem Grundsatz festgehalten hat, daß durch die Tatsache der Eheschließung allein niemand steuerlich benachteiligt werden darf. Weil das so ist und weil Sie das wissen müssen, werfen wir Ihnen auf diesem Gebiet vor, daß Sie sehenden Auges die Verfassung brechen. ({4}) Was die Sache, Herr Dr. Waigel, noch schlimmer macht: Es geht um einen Verfassungsbruch allein aus Koalitionsräson, ({5}) aus Wahltaktik und aus Feigheit. ({6}) Sie haben gesagt: Ihr Sozialdemokraten werdet ja sehen, wie weit ihr im Bundestagswahlkampf mit dem Thema „Man muß der großen Steuerhinterziehung bei Millionenvermögen einen Riegel vorschieben" kommt. ({7}) Dazu sage ich: Herr Bundesfinanzminister, Sie haben einen Amtseid geleistet, daß Recht und Gesetz eingehalten werden. Also müssen Sie darüber nachdenken, wie man hier Abhilfe schaffen kann. ({8}) Die Politik, Herr Bundesfinanzminister, braucht inhaltliche Orientierung. Sie braucht persönlich mutige Führung und doch nicht das opportunistische Schielen auf die jeweiligen Wahltage. ({9}) Wir können es uns doch nicht leisten, daß man Verfassungsbrüche um des lieben Koalitionsfriedens willen begeht. ({10}) - Daß Sie nervös werden, verstehe ich gut. ({11}) Die Entstehung dieser unsäglichen Vorschrift sagt alles. In der ersten Koalitionsabsprache am 14. März 1989 sollte der Sonderausgabenabzug für alle schon bei einem Kind gelten. Herr Gattermann hat zu Recht darauf hingewiesen. Das hätte bedeutet: millionenDM-schwere Steuersubventionen für Ehepaare mit einem Kind unter zehn Jahren für die Beschäftigung von Haushaltshilfen, für Spitzenverdiener eine Steuersubvention bis zu 6 350 DM im Jahr; zugleich aber - so der Koalitionsbeschluß - kein Geld für die Erhöhung des Kindergeldes. ({12}) Da schlug das soziale Gewissen der Familienpolitiker und der christlich-demokratischen Arbeitnehmer in der CDU/CSU-Fraktion. Sie verweigerten die Annahme dieses Kompromisses und schickten den Bundeskanzler in die Elefantenrunde der Koalition zurück. Dann kam der Vorschlag, über den wir hier heute reden. Deswegen ist natürlich klar: Sie haben jetzt die Debatte - nachdem Sie gemerkt haben, daß das verfassungsrechtlich nicht zu halten ist - nicht erneut in der CDU/CSU-Fraktion geführt, weil Sie in dieselben Konflikte hineingeraten wären, wenn Sie statt zwei ein Kind vorgeschlagen hätten. Der FDP, Herr Solms, war es recht. Sie hat im Prinzip das erreicht, was sie will, nämlich: ({13}) Gehälter von Butlern, Hausdamen und Dienstmädchen werden in Zukunft bis zu 6 300 DM aus der Staatskasse finanziert. ({14}) Und die Tatsache, daß auf Grund der Intervention der CDU jetzt zwei Kinder bei Ehepaaren erforderlich sind? Das wird im Zweifel das Bundesverfassungsgericht schon richten, meint die FDP, wenn es nicht - worauf ich hoffe - der Bundesrat tut. ({15}) Meine Damen und Herren, ich kann jetzt nicht noch einmal die ganzen Rechenspiele vorführen. Ich verweise nur auf die Tabelle, die uns am 12. Juni das Bundesfinanzministerium vorgelegt hat. Da ist nachzulesen: Putzhilfe, Steuerklasse I oder IV; da rechnet sich die Legalisierung des Arbeitsverhältnisses beim Arbeitgeber, wenn dieser, falls er verheiratet ist, ein Bruttojahreseinkommen von rund 110 000 DM oder, falls er ledig ist, ein Einkommen von rund 60 000 DM hat. Bei Steuerklasse V lauten die Zahlen: bei Verheirateten über 200 000 DM, bei Alleinerziehenden über 100 000 DM. ({16}) - Ich habe nicht die Zeit, Herr Uldall, um Sie erneut zu fragen, warum Sie die Tabelle nicht verstanden haben. Der Witz ist doch der: Wenn Sie ein zu versteuerndes Einkommen von 42 000 DM nehmen, dann entspricht dies einem Nettoeinkommen von rund 3 000 DM pro Monat. Die Tabelle geht davon aus, daß jemand, der 3 000 DM netto im Monat hat, für eine Putzhilfe jeden Monat 1 000 DM aufwenden kann. Daß dies unsinnig ist, versteht sich von selbst. ({17}) Meine Damen und Herren, auch die Poolbildung - ({18}) - Ich muß jetzt zu Ende kommen. ({19}) - Bitte schön.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Wenn Sie es gestatten, dann bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, stimmen Sie mir darin zu, daß Sie die Vorlage soeben hier bewußt falsch interpretiert haben? Wenn Sie auf der letzten Seite dieser Vorlage darauf achten, daß bei einem Jahreseinkommen von 42 000 DM - das sind bei 13 Monatsgehältern ca. 3 000 DM im Monat - sich ein Steuervorteil von 3 300 DM ergibt, und wenn Sie auf Seite 2 dieser Vorlage sehen, daß die zusätzliche Belastung ungefähr 3 000 DM ausmacht, würden Sie mir dann darin zustimmen, daß es sich bereits bei diesem Monatseinkommen lohnt, Herr Kollege?

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es ist wirklich schwierig; aber ich bin ja, wie Sie wissen, ein geduldiger Mensch. Ich erkläre es Ihnen jetzt zum drittenmal; ich habe es im Finanzausschuß schon zweimal versucht. ({0}) Der Steuervorteil, auf den Sie starren - ich habe die Tabelle hier; ich wußte ja, daß Sie hier wieder nach einer Belehrung einkommen würden -, ({1}) setzt doch voraus, daß jemand, der 3 000 DM im Monat als Verdienst hat, von diesen 3 000 DM 1 000 DM für eine Putzfrau ausgeben kann. Dies entspricht doch nicht der Lebenswirklichkeit. Wo leben Sie denn?! ({2}) Wer mit einem Kind oder mit zwei Kindern 3 000 DM netto hat, der ist froh, wenn er die Kindergartenbeiträge zahlen kann, deren Abzugsfähigkeit bei der Steuer Sie verhindern, wohl aber die Abzugsfähigkeit des Gehalts für den Butler einführen wollen. Das ist das Thema, über das wir hier reden. ({3}) Meine Damen und Herren, was das Thema des § 34 Einkommensteuergesetz, „Flick-Paragraph", angeht, so verweise ich kurzerhand auf unseren Entschließungsantrag, der Ihnen vorliegt. Dasselbe muß gelten für das Thema Rückgängigmachung einiger Streichungen im Bereich der Werbungskosten-Ersatzleistungen. Dasselbe muß ich aus Zeitgründen leider auch in bezug auf die Änderungen der degressiven AfA für den Mietwohnungsbau tun. Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zum Schluß noch eines sagen. Mit unserem Antrag zur Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrages hat die Koalition die Gelegenheit, durch ihre Zustimmung dazu den Wortbruch zu heilen, den der frühere Bundesfinanzminister Dr. Stoltenberg begangen hat. ({4}) Am 9. September 1987 hat er in diesem Hause erklärt, der Weihnachtsfreibetrag werde nicht abgeschafft. - Jetzt ist er ersatzlos gestrichen worden. Stimmen Sie unserem Antrag zu! Warten Sie nicht, bis die Wahlschlappen von Niedersachsen, vom Saarland, die herannahende Bundestagswahl - das Weihnachtsgeld wird ja im Herbst ausgezahlt - Sie veranlassen werden, Ihrerseits den Antrag zu stellen! ({5}) Meine Bitte ist: Stimmen Sie jetzt unserem Antrag auf Wiedereinführung des Weihnachtsfreibetrags zu! Dies wäre gut für Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, und es wäre auch ein Beitrag zur Wiederherstellung eines Stücks Ihrer eigenen steuerpolitischen Glaubwürdigkeit. - Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kansy.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf enthält auch neue Abschreibungsregelungen für den Mietwohnungsbau und ist ein Teil des wohnungspolitischen Gesamtpakets der Koalition, um die derzeitigen Engpässe auf dem Wohnungsmarkt möglichst zügig zu überwinden. Um die Wirkung dieser Vorschriften im Zusammenhang mit unseren anderen Beschlüssen zu erklären und um auch die Änderungsanträge der SPD aufzunehmen, möchte ich noch einmal kurz die Eckpunkte darstellen. Meine Damen und Herren, die SPD in Bund, Ländern und Gemeinden versucht immer wieder - auch in dem Antrag - , die Verantwortung für die derzeitige Wohnungssituation hauptsächlich dem Bund zuzuschieben und hauptsächlich hier Handlungsbedarf zu sehen. Dies ist falsch, wenn man die gesetzlichen Verantwortlichkeiten kennt, und unseriös, wenn man sich an die Geschehnisse der letzten Jahre erinnert. Denn in § 1 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes steht ausdrücklich, daß Bund, Länder und Gemeinden gemeinsam die Verantwortung für den Wohnungsbau haben. Nach der Verfassung liegt die Aufgabe der Wohnungsbauförderung primär bei den Ländern. Dennoch hat sich jetzt mit der Verbesserung der Abschreibungsregelung für Wohngebäude, mit einer Erhöhung der Wohnungsbauförderungsmittel und mit einer Wohngeldverbesserung der Bund dieser Herausforderung gestellt. Die neuen Abschreibungsregelungen für Mietwohnungen verbessern die steuerlichen Rahmenbedingungen für den Mietwohnungsbau. Es wird ein vermehrter Anreiz gegeben, privates Kapital für die zusätzlich benötigten Wohnraumflächen zu mobilisieren. Meine Damen und Herren, ich verwahre mich dagegen, wenn die GRÜNEN wie vorhin wieder in ihrem Redebeitrag zum Wohnungsbau - es ist schon Dauerzustand geworden - jeden, der privates Kapital in den Wohnungsbau steckt, einen Spekulanten nennen, wissend, daß von den 100 Milliarden DM, die jährlich für den Wohnungsbau investiert werden, weit über 90 % privates Kapital sind. Wenn es uns nicht gelingt, dieses Kapital zu mobilisieren und Vertrauen zu schaffen, werden alle unsere Anstrengungen hier im Wohnungsbau vergeblich sein. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern, Herr Präsident.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Bitte sehr.

Otto Reschke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001826, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kansy, bezogen auf privates Kapital wollte ich Sie fragen: Wissen Sie eigentlich, daß nach einer Untersuchung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 1985 90 % der vor der Einkommensteuer absetzbaren Verluste von insgesamt 31 Milliarden DM aus Vermietung und Verpachtung kommen? Das heißt, „Einsatz von privatem Kapital" stimmt nicht. Vielmehr werden Steuerressourcen immer wieder erspart, Steuerentlastungen immer wieder vorgenommen.

Dr. - Ing. Dietmar Kansy (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001064, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Reschke, es ist richtig, daß ein erheblicher Teil bei der Steuererklärung noch geltend gemacht wird. Aber selbst in dieser steuerlichen Situation hat es offensichtlich nicht mehr gereicht, überhaupt noch einen privaten Anleger zu ermuntern, Wohnungen zu bauen. Der Rückgang der Wohnungsbautätigkeit liegt doch im wesentlichen nicht daran, daß Bund, Länder und Gemeinden weniger gebaut haben, sondern daran, daß es sich überhaupt nicht mehr lohnt, in Wohnungen privates Geld zu stecken. Man kauft sich lieber Bundesobligationen oder schneidet sonstwo Coupons, aber man investiert nicht dort, wo das Geld hin soll, nämlich in neue Wohnungen. Ich möchte Sie bitten, hier keine Steuerneiddiskussionen zu entfachen, ({0}) sondern sich darauf zu konzentrieren, diesen wesentlichen Beitrag der Privaten zur Wohnungsbauförderung zur Kenntnis zu nehmen. ({1}) Meine Damen und Herren, bei einer Gesamtabschreibungsdauer von 40 Jahren - bisher 50 Jahre - kann man künftig in den ersten vier Jahren 7 % statt 5 % abschreiben. Verschiedene Verbände haben bei der Anhörung gesagt: Das ist zuwenig. Der SPD war es eigentlich schon zuviel. Sie wollte die Regelung einschränken. Wir haben uns dazu entschieden, diesen mittleren Weg zu gehen. Wir haben - der Kollege Gattermann hat es schon gesagt, ich kann mir Wiederholungen ersparen - einige Verbesserungen in der Ausschußarbeit vorgenommen, insbesondere die Berlin-Präferenz erhalten. Wir möchten damit sicherstellen, daß der Präferenzvorsprung in Berlin trotz der allgemeinen Verbesserung erhalten bleibt. Jetzt möchte ich als Wohnungsbaupolitiker einmal die Kollegin Frau Matthäus-Maier ansprechen - vielleicht hört sie einmal zu -: Wie in den letzten Jahren haben Sie auch heute, Frau Matthäus-Maier, als erste Rednerin dieser Debatte zunächst einmal die Platte gespielt, diese Koalition mache angeblich zu viel Schulden. Dann stellen Sie hier einen Antrag nach dem Motto: Dürfen es noch ein paar Milliarden mehr sein, wenn es darum geht, in Fachbereichen Politik zu machen. ({2}) Meine Damen und Herren, Ihr Antrag hat vor dem Hintergrund der Verantwortung von Bund, Ländern und Gemeinden und vor dem Hintergrund, daß die Bundesregierung bei Auftreten dieser Probleme im Wohnungsbau ihre Ansätze beinahe monatlich nach oben korrigiert hat, um ein Beispiel zu geben, wie man in solcher Situation in seiner Verantwortung zügig reagiert, nichts damit zu tun, jetzt hier wieder in die Vollen zu greifen. Was wir im Bereich der staatlichen Förderung zusätzlich zu den privaten Investitionsverbesserungen gemacht haben, ist, so meine ich, ein Riesenschritt nach vorn, was die Lösung des Wohnungsproblems angeht. Ich möchte den Kollegen der SPD an dieser Stelle nur eines sagen: Hören Sie endlich auf, ({3}) in Ländern und in Gemeinden mit dem Finger auf Bonn zu zeigen. ({4}) Bevor Bonn seine Wohnungsbauförderung ein wenig eingeschränkt hat, haben die Bundesländer - Nordrhein-Westfalen an der Spitze - damit begonnen, ihre Wohnungsbauförderung massiv herunterzufahren. Herr Kollege Struck, ich kenne Ihre Zwischenbemerkungen, und ich werde Ihnen das einmal an Hand von Zahlen kurz dokumentieren: Der Bund ist von einer Förderung von 2,09 Milliarden DM 1984 heruntergegangen auf den jetzigen Ansatz von 1,6 Milliarden DM. Die Bundesländer haben 1982 noch 7,84 Milliarden DM ausgegeben, und im letzten Jahr sind davon ganze 3,27 Milliarden DM übriggeblieben. Die stärkste Reduzierung passierte in Nordrhein-Westfalen. Dort ist das von 1,75 Milliarden im Jahr 1982 auf 0,6 Milliarden DM im letzten Jahr zurückgegangen. Das ist allein im Bundesland Nordrhein-Westfalen eine Rücknahme der Wohnungsbauförderung um 1,1 Milliarden DM durch die dortige SPD-Regierung. Und Sie stellen sich hier in Bonn pausenlos hin und wollen dieser Bundesregierung die Verantwortung in die Schuhe schieben! ({5}) In den Stadtstaaten Hamburg und Bremen, meine Damen und Herren, war es noch schlimmer. Da ist die Förderung auf ganze 20 % des ursprünglichen Betrages zurückgegangen. Die Maßnahmen der Bundesregierung im Bereich der Verbesserung der steuerlichen Abschreibungen zur Ermunterung privater Investoren, aber auch im Bereich der Direktförderung und im Bereich des Wohngeldes - in den Gemeinden mit besonders starkem Mietanstieg werden ja Verbesserungen vorgenommen -, zeigen, meine Damen und Herren, daß wir die Herausforderung annehmen. Länder und Gemeinden sind aber dringend aufgefordert, auch ihren Anteil zur Lösung des Problems beizusteuern. Meine Damen und Herren Kollegen Sozialdemokraten, wenn Sie dort, wo Sie Verantwortung haben, in Ländern und Gemeinden, die Problematik „Verbesserung der Wohnungssituation" genauso zügig in Angriff nehmen, werden wir es schaffen, möglichst bald wieder ein ausgeglichenes Angebot zu haben. Vielen Dank. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. - Wir kommen zur Abstimmung. Ihnen liegen die Druchsachen 11/4507, 11/4688, 11/4712 und 11/4775 vor. Es handelt sich um den Gesetzentwurf zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 sowie zur Förderung des Mietwohnungsbaus und von Arbeitsplätzen in Privathaushalten in der Ausschußfassung. Ich lasse zunächst über zwei Änderungsanträge der SPD abstimmen. Die SPD hat zu Art. 1 Nr. 2 gesonderte Abstimmung beantragt. Ich werde so verfahren und werde dann über den Art. 1 insgesamt abstimmen lassen. Ich hoffe, daß wir uns über dieses Verfahren verständigen können. ({0}) - Frau Abgeordnete Matthäus, wir sind jetzt in der Abstimmung. ({1}) Wir werden also so verfahren. Wir kommen zunächst zum Änderungsantrag auf Drucksache 11/4783. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist dieser Änderungsantrag der SPD abgelehnt worden. Nun kommen wir zum Änderungsantrag auf Drucksache 11/4784. Wer stimmt diesem Änderungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch dieser Änderungsantrag abgelehnt. Ich lasse nunmehr über die Nr. 2 des Art. 1 abstimmen. Wer stimmt der Nr. 2 des Art. 1 zu? ({2}) Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist diese Nr. 2 angenommen worden. Ich lasse nunmehr über den Art. 1 insgesamt abstimmen. Wer also für den Art. 1 insgesamt ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Damit kann ich feststellen, daß der Art. 1 angenommen ist. Ich rufe Art. 2 auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist dieser Artikel angenommen worden. Ich rufe Art. 2 a auf. Hierzu liegt auf Drucksache 11/4784 unter Nr. 2 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit ist dieser Änderungsantrag abgelehnt. Wir können nunmehr über den Art. 2 a in der Ausschußfassung abstimmen. Wer für den Art. 2 a in der Ausschußfassung ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Art. 2 a angenommen. Ich rufe die Art. 2b, 3 und 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Lesung abgeschlossen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen gedenkt, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf angenommen. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über die Entschließungsanträge. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4785? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt. Wer stimmt für den Entschließungsantrag der Fraktion der GRÜNEN, der Ihnen auf Drucksache 11/4786 vorliegt? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der SPD und der Koalitionsfraktionen abgelehnt. So, meine Damen und Herren, nun kann ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufen, den Punkt 31: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft - Drucksache 11/4087 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({3}) - Drucksache 11/4729 - Berichterstatter: Abgeordneter Freiherr von Schorlemer b) Bericht des Haushaltsausschusses ({4}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/4730 Berichterstatter: Abgeordnete Schmitz ({5}) Diller Frau Vennegerts ({6}) Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf den Drucksachen 11/4754 und 11/4764 vor. Der Ältestenrat empfiehlt Ihnen eine Debattenzeit von einer Stunde. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall. Bevor ich nun dem Bundesminister für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten das Wort gebe, möchte ich Vizepräsident Cronenberg die notwendige Ruhe im Hause herstellen. Die Kollegen, die der Debatte nicht zu folgen wünschen, bitte ich, die Unterhaltung draußen fortzusetzen. So, Herr Bundesminister, ich glaube, wir können es probieren. Sie haben das Wort.

Ignaz Kiechle (Minister:in)

Politiker ID: 11001091

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit der zweiten und dritten Lesung des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft schließen wir einen längeren Prozeß agrarpolitischer Meinungsbildung ab. Ausgangspunkt war eine Reihe von Initiativen, die bäuerlichen Familienbetriebe im agrarstrukturellen Wandel der Landwirtschaft zu unterstützen. Ich erinnere hier an wiederholt vorgetragene Forderungen aus dem bäuerlichen Berufsstand, an Entschließungen des Bundesrates und Bundestages in den Jahren 1986 und 1987, an die Koalitionsvereinbarung von 1987 und an konkrete Vorschläge der Bundesländer Bayern und Niedersachsen 1987. Die Antwort der Bundesregierung auf diese Initiativen ist der Gesetzentwurf, der Ihnen vorliegt, vom Oktober letzten Jahres. Dieser Gesetzentwurf war bereits ein Kompromiß zwischen den teilweise sehr unterschiedlichen agrarpolitischen Vorstellungen und Interessen in unserem Lande. Im Laufe der Beratungen in diesem Hohen Hause sind die von der Bundesregierung vorgeschlagenen Förderungsbestimmungen an einigen Punkten geändert worden. Die Änderungen bewegen sich im Rahmen der Zielsetzung des Gesetzes und werden auch den Auflagen der EG-Kommission gerecht. Ich will die Ziele des Gesetzes noch einmal in Erinnerung rufen. Erstens. Es soll zur Einkommenssicherung in den bäuerlichen Betrieben beigetragen werden. Zentrales Instrument ist der sogenannte soziostrukturelle Einkommensausgleich von 1,1 Milliarden DM über vier Jahre, von 1989 bis 1992, bei einer Flächenprämie von 90 DM je Hektar, ein Mindestbetrag je Betrieb von 1 000 DM und ein Höchstbetrag von 8 000 DM. Mit der vorgesehenen Halbierung der Viehzuschläge werden darüber hinaus ca. 70 000 flächenarme bäuerliche Veredelungsbetriebe von einheitswertabhängigen Steuern und Abgaben entlastet. Zweitens. Ein weiteres Ziel des Gesetzes ist gesellschaftspolitischer Art. Es geht darum, den bäuerlichen Familienbetrieb in der für ihn typischen flächenbezogenen und überschaubaren Wirtschaftsweise zu stützen. Konsequenterweise enthält das Gesetz Tierbestandsgrenzen, bis zu denen ein Betrieb durch den Einkommensausgleich gefördert wird. Über diese Fördergrenzen wurde in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages, mehr noch in Berufsstand und Agrarwissenschaft teilweise heftig diskutiert. Den einen waren die Grenzen zu hoch, anderen waren sie zu niedrig, und wieder andere wollten Fördergrenzen überhaupt nichts abgewinnen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, Theodor Litt, ein deutscher Philosoph, hat einmal festgestellt: Politik ist eine halsbrecherische Kunst, geübt auf dem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen: dort die sklavisch-opportunistische Anpassung, hier die wirklichkeitsblinde Benommenheit durch illusionäre Wunschbilder. Ich stelle fest: Bei der Festlegung von Fördergrenzen sind wir nicht gescheitert, wie uns manche vorausgesagt und insgeheim wohl auch gehofft haben. Es wurden Kompromisse gefunden, die einer ungehemmten Bestandsgrößenentwicklung in der Landwirtschaft Grenzen setzen, ohne einer an EG-weiten Maßstäben gemessenen Strukturentwicklung auch unserer Betriebe im Wege zu stehen. Drittens. Das große Ziel des Gesetzes zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft ist die gezielte Ausrichtung auf . eine umweltschonende Produktionsweise in den Betrieben, ({0}) ein wachsendes, ernstzunehmendes Anliegen unserer ganzen Bevölkerung. Die Instrumente sind: Betriebe von der im Gesetz vorgesehenen Förderung auszuschließen, in denen mehr als drei Dungeinheiten je Hektar landwirtschaftlich genutzter Fläche ausgebracht werden, und die Verankerung der guten fachlichen Praxis im Düngemittelgesetz; für verantwortungsbewußt handelnde und ökonomisch kalkulierende Landwirte ohnehin nichts Neues. Denn zur guten fachlichen Praxis gehört, daß die Düngung nach Art, Menge und Zeit auf den Bedarf der Pflanzen, den Bedarf des Bodens, die jeweiligen Standortbedingungen und Anbauverhältnisse ({1}) sowie auf die gewünschte Qualität der Erzeugnisse abgestellt wird. ({2}) Damit sollen die Nitratbelastungen des Grundwassers reduziert und Nährstoffeinträge in oberirdische Gewässer vermindert werden. Die Grundsätze der guten fachlichen Praxis sind bundeseinheitlich noch durch Rechtsverordnung näher zu bestimmen. Dabei sind neben den ökologischen Erfordernissen auch Aspekte der Wettbewerbsfähigkeit unserer Betriebe im Auge zu behalten. ({3}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, am Anfang der Beratungen über ein Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft haben hohe Erwartungen gestanden; ich weiß das sehr wohl. Im Laufe der Beratungen hat sich allerdings gezeigt, daß vieles von dem, was vielleicht wünschenswert sein könnte, nicht den notwendigen Abwägungsprozeß zwischen unterschiedlichen Interessen bestanden hat. Dies mag man bedauern. Kern des Gesetzes war, ist und bleibt aber die Zuwendung von 4,4 Milliarden DM in vier Jahren an unsere deutschen Bauern. ({4}) Dafür haben wir in Brüssel hart kämpfen müssen. Um so weniger Verständnis habe ich für eine Pressemitteilung der stellvertretenden Vorsitzenden der SPD11232 Fraktion, Frau Matthäus-Maier, vom 26. Mai dieses Jahres, ({5}) die der Bundesregierung einen explosionsartigen Anstieg der Agrarsubventionen vorhält und allen Ernstes fordert - ich zitiere - : „Der Subventionswahnsinn im Agrarbereich muß gestoppt werden." ({6}) Erst einmal fordert man Einkommensbeihilfen. Werden sie an einer Stelle produktionsneutral gewährt, ist das das Echo. Positiv kann man da höchstens noch werten, daß Frau Matthäus-Maier den Schafspelz vieler SPD-Sonntagsreden damit ein wenig gelüftet hat. Andererseits ist das natürlich wieder eine der Kampfansagen, die alle, die unseren Bauern in einem schwierigen Anpassungsprozeß zur Seite stehen, als solche empfinden müssen; denn einen Ausgleich für den Abbau des Grenzausgleichs kann man nicht nachträglich unter der hämischen Bezeichnung „Wahnsinnssubvention" diskriminieren. ({7}) Gerade deshalb, Frau Flinner - Sie gehören zwar nicht dazu, aber immerhin - , möchte ich heute allen, die die Beratungen über das Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft vorangebracht und damit auch dafür gesorgt haben, daß das Geld bald ausgezahlt werden kann, im Namen unserer Bauern für die gewährte Unterstützung danken. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Oostergetelo.

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Liebe Kollegen! Wir beschließen heute einen wichtigen agrarpolitischen Schritt, ein Stück Neuanfang, ({0}) einen Schritt, wie ich meine, in richtiger Richtung. Es werden nämlich erstmalig produktionsmengenabhängige Hilfen abgebaut und direkte produktionsneutrale Hilfen als Ersatz dafür entwickelt. Dies ist ein altes Verlangen von uns; dies ist gut so. Wir führen produktionsneutrale, flächenbezogene Hilfen ein. Das ist richtig; das ist ein richtiger Weg. Dazu gratuliere ich. Dies alles hätten - Herr Eigen, Sie wissen das - Sie mit unserer Unterstützung schon seit Jahren haben können. Schon bei Einbringung der 5 %igen Vorsteuerpauschale haben wir dies verlangt; damals haben Sie noch abgelehnt. Sie haben die Bauern ein paar Jahre damit alleingelassen. ({1}) Sie, die Regierung tragenden Parteien, haben das in den Wind geschlagen. Sie haben das mit Vokabeln aus der Mottenkiste belegt. Sie sahen den Sozialismus heraufziehen. - Soll ich all die Äußerungen, auch die Ihres Verbandes, hier einmal vorlesen, Herr Eigen? Nein, nein, es war wohl so: Direkte Einkommensübertragung war böser Sozialismus. Ein paar Jahre gehen ins Land, und nun sagt die Regierung: Jetzt helfen wir der bäuerlichen Struktur. Jetzt nehmen Sie also selber den sogenannten sozialistischen Weg. ({2}) Nun können wir darüber ja nicht traurig sein. Wir Sozialdemokraten halten an der Zielrichtung fest: Bei gegebener Situation auf den Agrarmärkten - die wird von uns ja nicht unterschiedlich gesehen - und bei ungünstigen Einkommensentwicklungen in unseren bäuerlichen Familienbetrieben müssen wir die indirekten produktionsanreizenden Hilfen, die doch Preissenkungen im Gefolge haben, weiter konsequent abbauen. Was hilft da das Gerede von aktiver Preispolitik, wenn Sie Preissenkungen beschließen oder - um es fair zu sagen - sogar beschließen müssen? Wir müssen die direkten Hilfen produktionsneutral ausbauen. Wir müssen sie aber schwerpunktmäßig zugunsten unserer bäuerlichen Familienbetriebe ausbauen. Wir dürfen ihnen das Geld nicht wegnehmen, um es den Massentierhaltungen, einer der Umwelt nicht gerecht werdenden Landbewirtschaftung und den Großverdienern zu geben. ({3}) Herr Minister, wo bleibt denn eigentlich beispielsweise das von Ihnen mitbeschlossene EG-Programm einer direkten Einkommenshilfe? Sie könnten es doch einführen. Wann wird es denn exekutiert? Der Agrarbericht hat uns doch vor Augen geführt: Viele Betriebe haben keine Eigenkapitalbildung. Sie können sich nicht mehr entwickeln. Viele, zu viele Betriebe leben von der Substanz. Existenzangst greift in vielen bäuerlichen Betrieben um sich. Die Jugend hat keine Perspektive, und Sie wissen: Perspektivlosigkeit ist das Schlimmste, was es gibt; das hat eine tödliche Wirkung. ({4}) Die Notwendigkeit des Abbaus der Überschußproduktion wird nicht bestritten. Das Stabilisatoren-Konzept vom vergangenen Jahr zeigt Wirkung: Mengen und Preise in wichtigen Produktionsbereichen gehen zurück, damit aber auch die Einkommen in unseren Familienbetrieben. An sich gut strukturierte Familienbetriebe kommen in Bedrängnis. Dazu gehören heute auch größere Marktfruchtbetriebe. Meine Damen und Herren, es ist doch unser aller Pflicht, das ernst zu nehmen, was wir in unseren Parteiprogrammen sagen, damit uns die bäuerliche Struktur nicht ganz vor die Hunde geht. ({5}) Sonst werden die Strukturen in unseren ländlichen Räumen, in unseren Dörfern vernichtet. Und das passiert täglich, machen wir uns nichts vor! Das beschleunigt sich sogar gravierend; einige wollen das ja leider. Also, es passiert, daß Strukturen kaputtgehen, die seit Jahren, seit Jahrhunderten, nein, seit Jahrtausenden gewachsen sind. ({6}) Wir wollen diese Strukturen aus gesamtgesellschaftlichen Gründen erhalten, behalten, und wir müssen das auch. Gerade in einer Zeit, in der Gorbatschow gelernt hat, daß die bei ihm vorherrschenden großen Strukturen kritisch zu werten sind und man die Strukturen zurückfahren müßte, habe ich manchmal bei einigen von Ihnen den Eindruck, daß Sie ihn in umgekehrter Richtung überholen wollen. ({7}) Wir Sozialdemokraten wollen diese direkten Hilfen. Wir wollen sie aber denen geben, die sie nötig haben. Wir wollen sie dort haben, wo sie not-wendig sind, wo sie not-wendend sind. Wir wollen sie auf die Betriebe konzentrieren, die durch den erforderlichen EG-Anpassungsprozeß am stärksten in Bedrängnis geraten. ({8}) Wir wollen erhaltenswerte bäuerliche Strukturen im Interesse unserer Dörfer und des ländlichen Raumes unterstützen. Wir wollen und wir müssen auch die Durststrecke dieser Betriebe bis zur Wiederherstellung eines Marktgleichgewichtes überbrücken. Ihr Gesetzentwurf wird dieser Zielsetzung eindeutig nicht gerecht. Herr Minister, es war schon ein Drahtseilakt, wenn Sie diese Vorlage, die Sie ja selber so gar nicht gewollt haben können, auch noch als mit den Zielen vereinbar hier dargestellt haben. Vergleichen Sie doch einmal, was das von Ihnen hervorgebrachte Produkt noch mit den Zielen, die Sie, Herr Minister, im Oktober 1988 selber proklamiert haben, gemeinsam hat! Vergleichen Sie dieses Produkt mit dem, was Ihre Freunde in der CSU seinerzeit eingebracht haben oder die Niedersachsen. Was dort niedergelegt ist, kommt unseren Vorstellungen sehr nahe, steht aber im deutlichen Widerspruch zu dem, was Sie hier heute durchpeitschen wollen. Ein im Grundsatz richtiger Schritt zur Unterstützung unserer bäuerlichen Familienbetriebe wird doch zur Farce, wie der Inhalt des Gesetzes zeigt. ({9}) Ich weiß gar nicht, wie Sie, meine verehrten Kollegen von der CSU und CDU, nunmehr vor die Bäuerinnen und Bauern in Bayern, in ganz Süddeutschland, in unseren Mittelgebirgen und in Niedersachsen, ({10}) deren Entwurf, Herr Kollege Strube, überhaupt nicht wiederzuerkennen ist, ({11}) treten wollen und das verteidigen wollen. ({12}) Auch am Sonntag bei der Europawahl geht es um die Zukunft unserer bäuerlichen Familienbetriebe. ({13}) Demokraten müssen zusammenstehen, wenn es darum geht, den Ewiggestrigen, die mit Argumenten von gestern die Leute verführen wollen, entgegenzutreten. Das ist die eine Wahrheit. ({14}) Die andere Wahrheit ist, daß wir uns, wenn es um existenzielle Nöte der Bürger geht, dieser Nöte annehmen müssen, ({15}) damit jene nicht aus Enttäuschung über uns verführt werden, den Parolen nachzulaufen, die da von rechtsaußen kommen; damit das ganz klar ist. ({16}) Meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, Sie haben einige im Grunde richtige Ansätze des Ministers in den Verhandlungen im Agrarausschuß in Grund und Boden getreten. Sie haben es so lange zerredet, bis nur noch ein verwässertes Gesetz übrigblieb, so daß auch ein werter Kollege Eigen notfalls zustimmen kann. Ja, wenn es einen Erfolg gibt, Herr Eigen, dann - das muß ich Ihnen zugestehen - haben Sie ihn. ({17}) Aber, Herr Eigen, Herr Heereman und andere: Wollen wir nun wirklich, daß nun auch noch die Agrarindustriellen ein angemessenes Taschengeld bekommen? ({18}) Und wenn sie sich dann zusammenschließen, sind das nicht bis zu 8 000 DM, sondern bis zu 24 000 DM. ({19}) - Nein, nein; nein, nein. Sie leben nach dem Prinzip: Man nehme unten und verteile es oben. ({20}) - Gut; wenn das Quatsch ist, dann sage ich: Bei der ersten Lesung habe ich wörtlich gesagt, daß einige von uns das nicht nötig haben. ({21}) Herr Heereman war so freundlich, mir zu sagen, daß er nicht unter das Gesetz fällt. Ich weiß nicht, ob er immer noch dieser Meinung ist. Ich denke, dazu sollte er ruhig etwas sagen. Ich kann mir das nicht vorstellen. Wenn nur noch 0,1 % nicht in den Genuß kommen, dann weiß ich nicht, Herr Präsident, ob das die Führung bedeutet. Entweder Sie bekommen es, oder Sie bekommen es nicht. Das hat mit Mißgunst nichts zu tun; nein. Es hat damit zu tun, daß wir es denen wegnehmen, die es zum Überleben notwendig haben. ({22}) Wir haben bei der Anhörung im Ausschuß - da gibt es doch unter uns keinen Zweifel - von den Wissenschaftlern und den Alternativen, von allen, erfahren: Eindeutig ist es eine Schlechterstellung der flächenarmen Betriebe. ({23}) Das gilt nicht nur gegenüber den flächenstarken Betrieben, sondern auch im Vergleich zur derzeitigen Umsatzsteuerregelung. Das war eindeutig. Auch Betriebe mit großen Beständen an Mastschweinen, Legehennen, Jungmasthühnern von über 330 Vieheinheiten erhalten den soziostrukturellen Einkommensausgleich, obwohl sie nach bisherigem Recht von der Förderung ausgeschlossen waren. ({24}) Auch daran gibt es doch wohl keine Zweifel. Ich halte fest: Richtig ist es, die produktionsabhängigen Hilfen abzubauen. Richtig ist es, die produktionsneutralen Hilfen auszubauen. Es ist in unserer Situation aber falsch, diese Hilfen jedem zu geben. Wir müssen sie auf die bäuerlichen Familienbetriebe konzentrieren. Sie sagen das doch in Sonntagsreden. Dann tun Sie es doch auch. ({25}) Es ist deshalb falsch, Herr Kollege, keine Prosperitätsregelung einzuführen. ({26}) Bei der Investitionsförderung von Bund und Ländern in der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes" gibt es eine solche Prosperitätsschwelle. CDU, CSU und FDP halten sie wie wir dort für zweckmäßig und notwendig. Warum wollen Sie sie denn hier nicht haben? Sagen Sie uns das heute! Vielleicht können Sie uns das heute erklären. ({27}) Da man jede Mark nur einmal ausgeben kann ({28}) und da wir wissen, daß jährlich nicht mehr als 1,1 Milliarden DM zur Verfügung stehen, müssen wir feststellen: Durch Ihre Verweigerung von Einkommensschwellen entziehen Sie den bäuerlichen Betrieben, die in besonderem Maß dem EG-Anpassungsdruck ausgesetzt sind, die knappen Mittel. Richtig ist es, flächengebundene direkte Einkommenshilfen zu geben. Es ist aber aus der Sicht der Sozialdemokraten falsch, Einheitsbeträge zu gewähren. Wir fordern eine Staffelung der Beträge um die benachteiligten flächenärmeren Betriebe ein wenig besserzustellen. Damit kann auch die ungünstige Einkommenssituation kleinerer und mittlerer landwirtschaftlicher Familienbetriebe eher ausgeglichen werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Oostergetelo, der Abgeordnete Kalb möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wenn sie mir nicht angerechnet wird.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich werde sie nicht anrechnen. Ich bitte aber, mit Rücksicht auf die Gesamtgeschäftslage die Sache nicht unnötig zu verlängern.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich werde mich hernach bei meinem Beitrag um so kürzer fassen. - Herr Kollege Oostergetelo, Sie beklagten soeben, daß die kleinen, flächenarmen Betriebe zu wenig Berücksichtigung fänden. Gleichzeitig forderten Sie soeben die flächenbezogenen Hilfen. Wie soll das zusammenpassen?

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Also, Herr Kollege, ich denke, daß Sie das verstanden haben. Wir wollen eine Staffelung, indem wir sagen: Bis zu 30 ha wollen wir mehr geben als darüber hinaus. ({0}) Dies wollen wir den Superbetrieben wegnehmen, die es nicht nötig haben. ({1}) Wir sagen zur flächenbezogenen Hilfe ja - mit der Staffelung. Das dürfte doch klar sein. Ich finde, da gibt es keinen Unterschied. Vielleicht wollen Sie davon ablenken, daß Sie sagen müßten: Wenn wir keine Staffelung haben, bekommt Ihr Durchschnittsbetrieb mit 20 ha - den Sie im Durchschnitt ja nicht einmal haben - ganze 1 800 DM und verliert vielleicht 3 000 oder 4 000 DM, wenn er viehintensiv ist. ({2}) Es ist richtig, für die Förderung landwirtschaftlicher Betriebe Obergrenzen für Tierbestände als Förderobergrenzen einzuführen. ({3}) Sie sind dann richtig, wenn diese Förderobergrenzen die bäuerliche Struktur der Landwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland repräsentieren. ({4}) Sie sind auch dann richtig, wenn möglichst vielen bäuerlichen Betrieben dazu verholfen wird, den Anpassungsprozeß zu überstehen und abzusichern. Aber, meine Damen und Herren, die Förderobergrenzen sind falsch und verheerend in der Wirkung, wenn Sie sie zu hoch ansetzen. Und das ist doch in Ihrem Gesetzentwurf der Fall. Daran gibt es doch keinen Zweifel. Das wissen doch auch viele Leute von Ihnen, die sich dann im Ausschuß haben auswechseln lassen, damit sie nicht zustimmen mußten. ({5}) Aber wir werden bei der namentlichen Abstimmung hören, wo der einzelne steht. ({6}) Wie wollen Sie, Herr Minister, und vor allem auch Sie, meine verehrten Damen und Herren, denn den Bäuerinnen und Bauern klar machen, daß nach Ihren Vorstellungen wie Sie es heute beschließen wollen, Betriebe bis 910 Vieheinheiten förderungsfähig sind? Das sind Betriebe mit 100 000 Hähnchenplätzen und einer Jahresproduktion von 700 000 Tieren. Wir sind gegen diese Inflation der Förderfähigkeit. Sie nennen es Hilfe für die bäuerliche Struktur und meinen Hereinnahme der GroBbetriebe. ({7}) Wir wollen die bisherige Grenze von 330 Vieheinheiten nicht überschreiten. Damit schließen wir kleine, flächenarme Betriebe nicht aus, aber wir schließen Betriebe mit agrarindustriellem Ansatz aus. Das wollen wir nicht nur, um die knappen öffentlichen Mittel vorrangig einkommensschwachen Familienbetrieben, Herr Kalb, zu geben, sondern auch aus Umwelt- und Tierschutzgesichtspunkten. Wir wollen darüber hinaus die Obergrenzen bei Milchkühen als Förderobergrenze senken. ({8}) - Es ist doch nicht notwendig, daß ein Betrieb mit 120 Kühen - das sind weniger als 0,1 % in der Bundesrepublik - nun auch noch zusätzliche direkte Hilfen bekommt, obwohl er garantiert 600 000 kg Milch liefern kann. Wenn er eine größere Quote hat, kann er auch 800 000 oder 900 000 kg Milch liefern. Haben solche Betriebe das denn wirklich noch nötig, eine Hilfe, die Sie als Sozialhilfe immer diffamiert haben? - Müssen Sie jene besegnen, die schon genug haben? ({9}) Nein, Freunde, wenn Sie von der Koalition in der Investitionsförderung ({10}) Bestände bis zu 60 Milchkühen je Betrieb fördern, so muß dies doch um so mehr für die Gewährung direkter Einkommensübertragung gelten. Sie wissen auch aus dem Ausschuß und aus unserem Antrag, daß wir gesagt haben: 60 bis 80 Kühe sind für uns eine Diskussionsgrundlage, ({11}) eine Überschreitung geht nicht. Wenn z. B. der geltende Vieheinheitenschlüssel - insbesondere im Geflügelbereich - nicht den heutigen Bedingungen entspricht, dann muß das Bewertungsgesetz geändert werden. Dann ist das eine saubere Sache, die auch für jeden nachvollziehbar ist. Vielleicht können Sie, Herr Minister, in diesem Zusammenhang hier einmal den politischen Hintergrund der sehr verschiedenen Tierbestandsobergrenzen in Deutschland erklären; die geltenden und die angestrebten. Ich verstehe das Durcheinander nicht. Die Bäuerinnen und Bauern verstehen das auch nicht. Am Beispiel der Mastschweine will ich Ihnen das hier klarmachen. Im Strukturgesetz wollen Sie nun 1 700 Liegeplätze. Das ist eine Jahresproduktion von 4 250 Tieren. Wenn Sie den gemeinsamen Stall machen, dann wollen Sie das auch noch verdreifachen. Bei Umweltverträglichkeitsprüfungen, wie in der vorigen Woche beschlossen, wollen wir 1 250 Plätze. ({12}) - Gut, in dieser Woche, aber das ist keine Zahlenveränderung, Herr Kollege. Wenn Sie sonst nichts einzuwenden haben, bin ich ja schon einverstanden. Beim Mehrwertsteuerausgleich von 3 % bleiben Sie bei 1 100 Plätzen, das sind 330 Vieheinheiten. Beim Baurecht sind 700 Plätze vorgesehen. In der Tierseuchen- und Schweinehaltungsverordnung sind wiederum 1 250 Mastschweineplätze vorgesehen. Was soll das alles? Das paßt doch nicht zusammen. Ist das Ausdruck einer gezielten Strukturpolitik? Das ist doch mehr Chaos als sonst etwas. ({13}) Meine Damen und Herren von der Koalition: Richtig ist es - damit das auch klar wird -, für Gemeinschaftsbetriebe besondere Regelungen zuzulassen. Sie können das in unserem Änderungsantrag lesen. Wir unterstützen das. Wir sind in der Landwirtschaft immer auch für Kooperationsmöglichkeiten aus ökonomischen und aus arbeitswirtschaftlichen Gründen. Nennen Sie doch einmal draußen im Wahlkreis Ihre Supergrößen, Kooperationen mit einer Jahresproduktion von 2,1 Millionen Masthähnchen, von 360 Milchkühen, von 12 750 Mastschweinen und einer Sauenhaltung mit einer Jahresproduktion von 13 000 bis 14 000 Ferkeln, und sagen Sie einmal, daß Sie das noch gefördert haben wollen! ({14}) Ich denke - das muß ich hart sagen - , dies ist ein Stück Verrat an den Bauern, ({15}) an der Umwelt und am ländlichen Raum. ({16}) Meine Damen und Herren von der Koalition, damit erreichen nur Agrarfabriken bald östlichen Zuschnitt. Sie können sich dann stolz fühlen. Das sind für uns keine Förderungsbetriebe. ({17}) - Ja, das tut weh, aber das ist wohl wahr. Wir wollen diese Betriebe nicht fördern. Wir Sozialdemokraten wollen den Familienbetrieb erhalten und entwickeln und keine Agrarindustrie aufbauen. Wir wollen keine intensive Massentierhaltung mit Umweltbelastung, sondern artgerechte Haltung in der bäuerlichen Landwirtschaft weiterhin möglich lassen. ({18}) Geben Sie unseren Tierbeständen und unseren Förderungsgrößen doch eine Chance, und wir könnten miteinander dieses Gesetz beschließen! Es ist doch auch falsch, die Hofstelle zu streichen. Warum haben Sie das denn gemacht? Damit wird doch einer Hofteilung wieder Tür und Tor geöffnet. Ich kann in München wohnen und in Holstein meinen Betrieb haben, und das ist dann alles noch bäuerlich. Das hat mit Kooperationsformen, wie wir sie meinen, nichts zu tun. Ich muß Ihnen das hart sagen: Sie zeigen hier wirklich Ihr klares Konzept, das nicht mehr durch Sonntagsreden verschleiert ist. Nein, meine Kollegen, jeder von Ihnen muß in der namentlichen Abstimmung dazu stehen, was er nun will und was er nicht will. ({19}) Wer diese Größenordnung, Herr Kollege, noch stützt und sie mit Steuergeldern unterstützt, der sollte wenigstens das Wort „bäuerlich" aus seinem Sprachschatz und aus seinem Parteiprogramm nehmen. ({20}) Meine Damen und Herren von der Opposition, meine lieben Kollegen, ich habe deutlich gemacht, wir Sozialdemokraten begrüßen den Einstieg in direkte Hilfen. Wir sind im Grundsatz auch für die Regelansätze, wir sind aber entschieden gegen Regelungen, die Tür und Tor für Massentierhaltung und agrarindustrielle Ausrichtung öffnen. Wir Sozialdemokraten wollen das nicht. Wir wollen die bäuerlichen Familienbetriebe unterstützen; damit tragen wir zur Lebensfähigkeit unserer Dörfer und des ländlichen Raumes sowie zur Erhaltung der Kulturlandschaft bei. ({21}) Wir können Ihrem Gesetzentwurf, dessen Inhalt den Namen, die Überschrift des Gesetzentwurfs verrät, doch so nicht zustimmen. Um die guten Ansätze im Gesetz wenigstens wieder von der Fehlentwicklung loszukriegen, möchte ich Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen. Ich darf noch ein Letztes sagen. Dies ist ein entscheidender Einschnitt in der Agrarpolitik, und das wissen Sie auch. Es geht nicht nur um die 1,1 Milliarden DM, sondern es geht darum, ob Sie Tür und Tor für die agrarindustrielle Landwirtschaft öffnen oder ob Sie den bäuerlichen Betrieb, der in der EG außerordentlich leistungsfähig ist, erhalten wollen. Dies ist die Abstimmung, um die es geht, wozu sich jeder einzeln bekennen muß. Hier kann man sich auch nicht hinter Fraktionen drücken. Vielen Dank. ({22})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Schorlemer.

Reinhard Schorlemer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Oostergetelo, mit der Anrede „liebe Kollegen" hier mit ziemlich starken Worten dieses Gesetz als Verrat an den Bauern zu bezeichnen ({0}) ist in der Tat eine Unverfrorenheit. ({1}) Ich füge auch hinzu: Diese Doppelzüngigkeit und diese Unverfrorenheit wird ja in Ihren eigenen Reihen deutlich. Sie stellen sich hier hin, begrüßen bei diesem Gesetz, daß nun der Weg einer Einkommensübertragung gegangen sei - das sind ja keine guten Worte, das bedeutet Geld -, und auf der anderen Seite schreibt Frau Matthäus-Maier, die sich heute schon zu einem Agrarprodukt, nämlich Käse, geäußert hat, unter der Überschrift „Subventionswahnsinn im Agrarbereich muß gestoppt werden" in ihrem letzten Absatz: Diese unerträgliche Subventionspolitik der Bundesregierung ist den deutschen Steuerzahlern nicht länger zuzumuten, der Subventionswahnsinn im Agrarbereich muß gestoppt werden. Es ist allerdings zu bezweifeln, daß diese Bundesregierung die Kraft hat. Dies ist die Doppelzüngigkeit, und dies ist der eigentliche Verrat an den Bauern. ({2})) - Nein. ({3}) Ich gebe die Antwort gleich schon. Auch wir wissen, daß dieses Gesetz im agrarpolitischen Raum derzeit hart diskutiert wird. Die „Süddeutsche Zeitung" schreibt z. B. in einer Überschrift: „Ein Agrargesetz mit Schlupflöchern". ({4}) Die „Frankfurter Allgemeine" schrieb 1988: „Eine Agrarpolitik zum Fürchten". ({5}) - Das „sehr richtig" werde ich gleich noch herausfordern, verehrter Kollege Oostergetelo. Dann werden Sie wahrscheinlich ein wenig kleiner werden. In einem Schreiben der Landesarbeitsgemeinschaft junger Landwirte in Niedersachsen an die Mitglieder des Bundestagsausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten heißt es: Die Landwirtschaft in der Bundesrepublik ist durch die bestehenden kleinen Strukturen im EG-Wettbewerb benachteiligt. Das geplante Gesetz versetzt uns nicht in die Lage, dieses Defizit auszugleichen, im Gegenteil: Durch einseitige Festschreibung von Bestandsobergrenzen wird der deutschen Landwirtschaft ein Hemmschuh angezogen, der es ihr erschwert, mittelfristig EG-konforme Strukturen zu erreichen. ({6}) Das waren nur ganz wenige Zitate. Ich glaube - das hat auch der Minister schon zum Ausdruck gebracht - , dieses Gesetz ist ein Kompromiß auf Grund der unterschiedlichen Strukturen und der unterschiedlichen Meinungen innerhalb der Bundesrepublik. Genauso wie wir in der Europäischen Gemeinschaft unterschiedliche Strukturen in Griechenland und Spanien auf der einen Seite und Großbritannien und Dänemark auf der anderen Seite oder auch national in Baden-Württemberg und Bayern einerseits oder Schleswig-Holstein und Niedersachsen im Norden andererseits haben, müssen wir auf Grund dieser vorhandenen unterschiedlichen Strukturen auch bei der Gesetzesregelung dies mitbeachten. Ziel dieses Gesetzentwurfes ist es, die Wettbewerbsstellung der bäuerlichen Landwirtschaft zu verbessern, indem staatliche einkommensstützende Förderungsmaßnahmen zugunsten der Landwirtschaft noch stärker als bisher gezielt auf bäuerliche Betriebe mit ihren vielfältigen Funktionen ausgerichtet und Betriebe mit gewerblicher Tierhaltung, mit großen Tierbeständen und mit nicht an die Fläche gebundener Tierhaltung von bestimmten staatlichen Maßnahmen ausgeschlossen werden. Bei dem vorliegenden Gesetz waren daher zwei Dinge, zu beachten. Erstens. Die bäuerliche Landwirtschaft mußte tatsächlich gefördert werden. Denn sie ist am ehesten in der Lage, ein breit gestreutes Eigentum, die Erhaltung der Landschaft und eine umwelt- und standortgerechte Produktion zu gewährleisten. Zweitens. Wir dürfen dabei die Struktur unserer Mitbewerber in der EG nicht außer acht lassen. Hierzu einige Vergleiche. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, wenn ich einmal fragen darf: Bleiben Sie grundsätzlich dabei, keine Zwischenfragen zuzulassen?

Reinhard Schorlemer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bleibe dabei, auch um der Anregung des amtierenden Präsidenten zu folgen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Die Anregung lautete, sich möglichst kurz zu fassen. Also, es ist sein gutes Recht, und damit ist es gut.

Reinhard Schorlemer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002066, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich wollte zu den unterschiedlichen Betriebsgrößen noch folgendes sagen. In der Bundesrepublik beträgt die Betriebsgröße 16 Hektar, in Frankreich 27 Hektar, in Dänemark 31 Hektar und in Großbritannien 65. ({0}) - In Portugal liegt sie sehr viel niedriger. Aber das sind doch nicht diejenigen, mit denen wir uns am Markt auseinandersetzen müssen; das müssen wir endlich einmal zur Kenntnis nehmen. ({1}) Der Anteil von Betrieben mit mehr als 400 Mastschweinen beträgt in der Bundesrepublik rund 3 %, in Frankreich 3,5 % , in Dänemark 15 %, in den Niederlanden 28 % und in Großbritannien 20 %. So, verehrter Kollege Oostergetelo, und nun erwarte ich jedesmal Ihr „sehr richtig". Denn zur Beurteilung dieses Gesetzentwurfes gehört ein bedenkenswerter Brief des schleswig-holsteinischen Landwirtschaftsminsters Hans Wiesen an die Bundestagskollegen seines Landes. Der SPD-Minister Wiesen schreibt folgendes: Die Vollendung des Binnenmarktes erfordert eine EG-weite Harmonsierung der Produktionsbedingungen. Wenn in der Bundesrepublik einseitig betriebliche Bestandsobergrenzen festgesetzt werden, ohne zugleich Grenzen auch in den anderen EG-Mitgliedstaaten einzuführen, verschlechtert sich die Wettbewerbskraft unserer Landwirtschaft. Wo ist Ihr „Sehr richtig"? ({2}) - Ich zitiere Herrn Wiesen. Sie können die SPD fragen. Der bäuerliche Betrieb ist zu eng definiert. Die Entwicklung moderner Unternehmensformen, wie sie auch in anderen EG-Ländern, z. B. Frankreich, bestehen, wird behindert. Wo ist Ihr „Sehr richtig"? Die durchschnittlichen Betriebs- und Bestandsgrößen in der deutschen Landwirtschaft liegen deutlich niedriger als in anderen EG-Ländern, mit denen unsere Landwirtschaft konkurrieren muß. Dies ist nicht zuletzt die wesentliche Ursache für unbefriedigende Einkommen. ({3}) Wo ist Ihr „Sehr richtig"? Betriebe mit übergroßen Beständen sind von diesem Einkommensausgleich ausgeschlossen. Sie können aber ihre Viehbestände verringern. Es ist jedoch irrig anzunehmen, daß die mit diesem Ziel verringerten Erzeugungsmengen dann von den anderen kleinen Betrieben in der Bundesrepublik produziert werden können. Vielmehr ist davon auszugehen, daß diese Erzeugungsmengen die Landwirtschaft in anderen Mitgliedstaaten ohne Bestandsobergrenzen produziert. Wenn Sie jetzt berücksichtigen, daß wir im Jahre 1970 bei Schweinen einen Selbstversorgungsgrad von 92,0 % und 1988 von 85,3 % und bei Eiern im Jahre 1970 von 85,6 % und im Jahre 1988 von 71,2 % hatten, sehen Sie genau, wie die Richtung in diesem Fall ist. ({4}) Das lange Zitat des SPD-Landwirtschaftsministers Wiesen aus Schleswig-Holstein ist für mich und, ich glaube, auch für meine Kollegen die sachkundige und ausführliche Antwort - und zwar eine sozialdemokratische Antwort - auf die sozialdemokratischen Vorschläge, die im Landwirtschaftsausschuß vorgelegt worden sind. ({5}) Sachkundiger kann das nicht gesagt werden. Das steht auch im Widerspruch zu den Ausführungen der Frau Kollegin Adler, die in der letzten Agrardebatte noch forderte: absolute Bestandsobergrenzen und nicht mehr als 1,5 Dungeinheiten. Im Mittelpunkt des Strukturgesetzes steht die Einführung eines soziostrukturellen Einkommensausgleichs für bäuerliche Betriebe. Er entspricht dem Volumen nach den 2 %, die wir bekanntlich im Jahre 1984 den Landwirten neben den 3 To wegen der Einkommenseinbuße infolge der Aufwertung gewährt haben. Der Minister hat zu Recht darauf hingewiesen: 90 DM je Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche, Mindestsatz 1 000 DM, maximal 8 000 DM pro Betrieb. In ihrem Entschließungsantrag bekennen sich die Sozialdemokraten zur Obergrenze von 330 Großvieheinheiten. Noch vor fünf Jahren haben die gleichen Sozialdemokraten mit Vehemenz gegen diese Obergrenzen votiert. Diese Erkenntnis der SPD, d. h. ihr Weg zur Vernunft gibt mir die Hoffnung, daß mit einer gewissen Zeitverschiebung die neuen Obergrenzen für Tierbestände akzeptiert werden. Nehmen Sie da ruhig den Rat, vor allem die Argumentationskette von Herrn Minister Wiesen ernst und auch an! ({6}) Jeder Fachkundige weiß, daß die Tierarten Schweine und Geflügel beim bisherigen Schlüssel im Verhältnis zu den anderen Rauhfutter fressenden Großvieheinheiten falsch bewertet worden sind. Das ist auch der Grund dafür, daß wir z. B. im Bereich der Zuchtsauen eine Erhöhung der Obergrenze auf 250 Großvieheinheiten eingeführt haben; ({7}) auch um sicherzustellen, verehrte Kollegin, daß in Zukunft die einzelnen Zuchtbetriebe als Vermehrungsbetriebe noch wirtschaften können. Denn hätten wir hier die Vorschläge von Ihnen und von der SPD angenommen, dann wären alle bäuerlichen Vermehrer durch dieses Gesetz benachteiligt gewesen. ({8}) Ich will mich etwas kürzer fassen, um mit der Zeit auszukommen: Ich glaube, ein ganz entscheidender Punkt - hierfür haben wir jahrelang gekämpft - war die Halbierung der Zuschläge wegen verstärkter Tierhaltung im Rahmen der Einheitsbewertung land-und forstwirtschaftlichen Vermögens. Ich möchte in diesem Zusammenhang, weil das eine finanzielle Entlastung für die Betriebe darstellt, natürlich unserem Landwirtschaftsminister, der dieses Anliegen immer vertreten hat, aber besonders unserem neuen Finanzminister Waigel sowie dem Bundesminister Seiters und dem Parlamentarischen Staatssektretär Manfred Carstens danken. ({9}) Durch den Mindestbetrag von 1 000 DM je landwirtschaftlichen Betrieb werden gezielt flächenarme Betriebe gefördert mit dem Ergebnis, daß z. B. die Landwirte in Schleswig-Holstein rund 20 Millionen DM und die Landwirte in Niedersachsen rund 50 Millionen DM weniger als nach der alten Regelung erhalten. Da der Gesamtbetrag aber derselbe geblieben ist, heißt das auch, daß Millionenbeträge aus dem besser strukturierten Norden in die schwächer strukturierten Gebiete des süddeutschen Raumes fließen. Das ist richtig, und das ist auch gewollt. ({10}) Ich kann nur noch das unterstreichen, was der Minister zum Düngemittelgesetz gesagt hat. Wir haben von vielen Seiten - besonders auch von den Bundesländern - in der Vorberatung und Ausschußberatung wichtige und hervorragende Vorschläge erhalten. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang - das sei mir als jemand erlaubt, der aus dem Bereich Osnabrück/Emsland kommt - ausdrücklich bei Bernhard Wulkotte, einem ständigen Dränger in Sachen Strukturgesetz aus dem Emsland, für so manche Anregung bedanken. ({11}) Dieses Gesetz konnte nur ein Kompromiß sein. Die Strukturen bei uns sind zu unterschiedlich. Gleichsam auf zwei Standbeinen mußten wir zu einem Kompromiß kommen: einmal die Sicherung unserer bäuerlichen Landwirtschaft, auf der anderen Seite der Erhalt unserer Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den EG-Partnern. Durch dieses Gesetz wird die Zukunft der bäuerlichen und leistungsfähigen Landwirtschaft nicht eingeengt, sondern es wird ihr eine faire Chance gegeben. Daher bitte ich Sie für die CDU/CSU-Fraktion, dem Gesetzentwurf zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft in zweiter und dritter Lesung zuzustimmen. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Flinner.

Dora Flinner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000562, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zuerst möchte ich feststellen, daß ich heute hier zwei Gesichter gesehen habe, die ich während der ganzen Beratung dieses Gesetzentwurfs im Ausschuß nicht einmal gesehen habe. Ich meine Herrn Kiechle und Herrn von Heereman. ({0}) - Sie waren bei der Beratung nicht anwesend. Im Ausschuß habe ich sie nicht gesehen. ({1}) - In einer Sitzung, wo ich nicht dabei war? Das kann nicht stimmen. Es ist ganz selten, daß ich einmal in einer Ausschußsitzung fehle. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, darf ich darauf aufmerksam machen, daß zur Zeit nicht Sie das Wort haben, sondern die Abgeordnete Frau Flinner. ({0}) Frau Flinner ({1}): Danke schön. Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß die Entwicklung der deutschen Landwirtschaft katastrophal ist. Die Agrarpolitik in Bonn und Brüssel beschert den Bäuerinnen und Bauern rapide sinkende Einkommen. Sie sorgt dafür, daß immer mehr Agrarchemie eingesetzt wurde und wird, mit der Folge, daß die Landwirte als Verursacher gravierender Umweltschäden angeklagt sind. In dieser Woche habe ich erlebt, daß man denjenigen Bauern, die rauhfutterfressende Tiere halten, auch noch das Ozonloch in die Schuhe schiebt. Das ist eine Ungeheuerlichkeit. ({2}) - Ihre Lobby tut das. Sie wissen doch, Herr Eigen, wo wir waren. ({3}) Das Strukturgesetz, das angeblich diesen Problemen entgegenwirken soll, wird sie im Gegenteil noch verschärfen. Nach den Änderungen, die die Regierungsfraktionen im Ausschuß durchgesetzt haben - jetzt passen Sie gut auf - , ist der Gesetzentwurf nun ganz und gar zu einem Förderungsprogramm für die industrielle Landwirtschaft geworden. Ich möchte hier noch einmal an das beschämende Verfahren im Ausschuß erinnern, als die Koalitionsfraktionen kurzerhand eine Abstimmung, deren Ergebnis nicht ihren Erwartungen entsprach, am Folgetag wiederholen ließen. Dies, meine Damen und Herren, ist ein übles Beispiel dafür, wie Demokratie und Fairneß mißachtet wurden. ({4}) Solche Vorkommnisse erschüttern zu Recht das Vertrauen unserer Bürgerinnen und Bürger in unser Parlament. ({5}) Das Ergebnis dieser Manipulation kann sich sehen lassen. Die großen Betriebe werden nun noch mehr wachsen können, die kleinen noch schneller aufgeben müssen. Der Titel „Gesetz zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft" war schon vor der Änderung völlig unzutreffend. Jetzt ist er gänzlich irreführend. Ich empfinde es als einen Skandal, hiermit eine industrielle Agrarproduktion, die umwelt-, verbraucher- und tierschutzfeindlich ist, als bäuerlich und förderungswürdig hinzustellen. ({6}) Die Förderung von Massentierhaltung, Umweltverschmutzung, Großstrukturen, die dieses Gesetz legalisieren soll, können wir nicht hinnehmen. Die Umweltschutzverbände fordern Sie, meine Damen und Herren, dringend auf, dem Gesetzentwurf nicht zuzustimmen. Die Wissenschaftler und Fachleute warnen einmütig vor der Verabschiedung. ({7}) Lassen Sie sich nicht von der Lobby der Agrarindustrie einwickeln. ({8}) Wer sagt, der Verzicht auf dieses Gesetz bedeute wegen des Ausfalls der Ausgleichszahlungen Nachteile für die Bäuerinnen und Bauern, wer meint, dieses Gesetz sei besser als gar keines, der verkennt, daß diese Zahlungen nichts anderes sind als eine Sterbehilfe für die bäuerliche Landwirtschaft. Die nochmals erweiterten Förderschwellen werden nicht einmal von 0,1 To der Milchviehbetriebe und Masthühnerbetriebe überschritten; das hat Herr Oostergetelo schon gesagt. Bei den Mastschweinebetrieben liegt der Prozentsatz noch niedriger. Sie wissen das sehr genau. In Wirklichkeit gibt es hier gar keine Einschränkungen. Das Gesetz lädt zur Intensivierung und Massentierhaltung geradezu ein. Genauso verlockt die Förderschwelle von drei Dungvieheinheiten geradewegs zu unverantwortlichen Belastungen der Böden. Die Nitrateinträge in Boden und Wasser, die viele unserer Trinkwasserbrunnen belasten, werden hier noch belohnt. Wer soll denn die Folgekosten für diesen ökologischen Unsinn tragen? Wer ist zuständig dafür, daß wir heute schon die Auswirkungen dieser umweltschädlichen Agrarpolitik ertragen müssen? Die von Regierung, Wissenschaft und Industrie gelobte und geförderte sogenannte gute fachliche Praxis im konventionellen Landbau hat uns in dieses Dilemma gebracht. Sie hat bewirkt, daß die Umweltprobleme rapide anstiegen und die Bauerneinkommen ebenso rapide sanken. Nun soll diese „gute fachliche Praxis" auch noch Bestandteil der Vorschriften für die Anwendung von Düngemitteln im Gesetz werden. Damit wird jede Initiative zur Rettung des Grundwassers und der Nordsee von vornherein lächerlich. ({9}) Ich möchte daran erinnern, was Herr Gallus beim parlamentarischen Abend in dieser Woche gesagt hat. Er sagte, er lasse sich nicht mehr gefallen, was Wissenschaft und Industrie 30 Jahre lang in dieser Richtung getan haben. Ich muß Herrn Gallus unterstützen, wenn er sich das nicht mehr gefallen lassen will, denn angesichts der Tatsache, daß das Grundwasser Pestizide und Nitrate enthält, geht es nicht mehr an, wie bisher von einer guten fachlichen Praxis zu sprechen. ({10}) Die Auswirkungen dieses Gesetzes auf Europa sind unverantwortlich. Hiervon geht eine unheilvolle Signalwirkung für die Industrialisierung der Landwirtschaft aus. EG-weit wird ein Zerrbild der Landwirtschaft propagiert, das jede noch so große Intensivproduktion noch als „bäuerlich" deklariert. Unter Umgehung der erforderlichen landwirtschaftspolitischen und umweltpolitischen Diskussion werden Fakten geschaffen. Mit diesen Festlegungen kommt der deutschen Landwirtschaft eine unheilvolle Vorbildfunktion zu. Mit unserem Änderungsantrag haben wir eine Alternative aufgezeigt, wie ein Gesetz tatsächlich den Erfordernissen bäuerlicher Landwirtschaft genügen kann. Meine Damen und Herren, Sie müssen bei der Abstimmung nach Ihrem Gewissen entscheiden. ({11}) Sie müssen Ihre Entscheidung verantworten. Was wir brauchen, ist eine bäuerlich-ökologische Landwirtschaft. Dazu gehören flächengebundene und absolute Bestandsobergrenzen in der Tierhaltung. Wir brauchen wieder eine in Kreisläufen wirtschaftende, die natürlichen Gegebenheiten berücksichtigende Landwirtschaft. Das sind wir unseren Nachkommen schuldig, und dazu verpflichtet uns die Achtung vor der Schöpfung. Der Regierungsentwurf wird dieser Verantwortung nicht gerecht. Wir müssen ihn daher ablehnen. Wir haben wegen der Bedeutung dieser Entscheidung namentliche Abstimmung beantragt. Danke schön. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Paintner.

Johann Paintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001672, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Flinner, wenn Sie meinen, daß wir eine gute bäuerliche Landwirtschaft brauchen, dann gebe ich Ihnen recht. Aber wir brauchen auch eine moderne bäuerliche Landwirtschaft, die in erster Linie der Umwelt gerecht wird. Wir wollen eine fortschrittliche Umweltpolitik. Wir wollen auch Fortschritte in der Tierernährung erreichen, und wir wollen nicht wieder die „gute alte Zeit", von der Sie immer meinen, sie sei gut gewesen. Es war eine geschundene Zeit; das sage ich Ihnen immer wieder. ({0}) Ich meine, daß gerade der bäuerliche Familienbetrieb in diesem Gesetz berücksichtigt wird. Zu Herrn Oostergetelo möchte ich sagen, daß der erste Teil seiner Rede sicherlich nicht schlecht war, aber über eines hat er sich sicherlich getäuscht. Er hat nämlich gesagt, Mengen und Preise gingen zurück. Sie alle wissen, wie hoch die Mengen sind; Sie wissen, daß sie rickläufig sind. Sie wissen z. B. auch, daß der Milchpreis nicht schlecht ist und daß der Schweinepreis im Steigen begriffen ist. Was den Rinderpreis angeht, so bitte ich heute meinen Minister, dafür zu sorgen, daß er sich nicht weiter rückläufig entwickelt, denn vorhin hat mich einer meiner besten Freunde angerufen und 'gesagt, daß die Interventionspreise wieder rückläufig seien. Ich sage aus ganz besonderer Veranlassung: Tu Gutes und rede darüber. - Dies, meine ich, müssen wir uns in der Koalition noch mehr als bisher zu eigen machen. ({1}) Ich behaupte, daß es für unsere Landwirte gut ist, wenn von diesem Jahr an bis 1992 jährlich 1,1 Milliarden DM ausgezahlt werden, wenn jeder Landwirt grundsätzlich 90 DM pro Hektar, mindestens 1 000 DM und maximal 8 000 DM bekommt. Ein Einkommensausgleich, der bei einem 10-Hektar-Betrieb 1 000 DM, bei 20 Hektar 1 800 DM und bei 30 Hektar 2 700 DM ausmacht, kann sich sehen lassen.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Oostergetelo möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. - Lassen Sie sie grundsätzlich nicht zu?

Johann Paintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001672, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Jawohl.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Gut, danke schön.

Johann Paintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001672, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich bin der Meinung, daß mein Freund Oostergetelo sonst so viel redet. Es tut mir beinahe wohl, wenn ich sagen kann: Heute muß er das Maul halten. ({0}) - Nein, auch nicht. Die Landwirte können dieses Geld in der jetzigen schwierigen Situation dringend gebrauchen. Das Strukturgesetz soll heute verabschiedet werden. Die FDP trägt dieses Gesetz mit. Es ist wichtig, daß der Flächenausgleich umgehend vorgenommen wird. Für die Zukunft gesehen ist jedoch für die Landwirte der Schritt hin zu stabilen Wechselkursen wichtig, weil dann endlich auf Hilfsstrukturen wie den Agrarwährungsausgleich oder andere Ersatzmaßnahmen wie z. B. den Flächenausgleich verzichtet werden kann. Diese bringen auf die Dauer nur Unfrieden in die Reihen der Bauern. Ein gemeinsames Europa heißt nicht nur, einen gemeinsamen Binnenmarkt zu schaffen, sondern auch eine Währungsunion herzustellen. ({1}) Die FDP hat sich bemüht, dafür zu sorgen, daß die deutsche Landwirtschaft in bezug auf den europäiPaintner schen Wettbewerb mit diesem Strukturgesetz leben kann. Sie hat aus ihrer Sicht den Gesetzentwurf so gut wie möglich verbessert, und zwar in folgenden Detailregelungen. Erstens. Schon frühzeitig haben wir bekanntgegeben, daß uns die Halbierung der Viehzuschläge so wichtig ist, daß wir ohne sie das Gesetz nicht verabschiedet hätten. ({2}) Ich bedanke mich bei meinem Kollegen Heinrich, daß er alles getan hat, damit der Finanzminister Dr. Waigel dies als Gesetzesbestandteil gelten läßt. Die Halbierung der Viehzuschläge entlastet besonders diejenigen Betriebe, die auf relativ kleiner Fläche eine starke Veredelung betreiben. Zirka 69 000 Familien werden davon profitieren. Zweitens. Die umstrittenen Förderausschlußgrenzen können wenigstens für Zuchtsauen von 200 auf 250 angehoben werden. Diese Regelung, die besonders im Süden unverständlicherweise auf Widerstand stößt, weil sie manchmal auch nicht richtig gesehen wird, wirkt sich günstig auf diejenigen Veredelungsbetriebe aus, die sowohl Ferkel aufziehen als auch Schweine mästen. Drittens. Schließlich war es uns wichtig, daß die Landwirte, die ihre Viehhaltung oder einen Teil davon gewerblich betreiben und auch die Fördergrenzen nicht erreichen, vom Flächenausgleich nicht ausgeschlossen werden. Hier sage ich mit besonderer Betonung: Auch das sind bäuerliche Betriebe. ({3}) Viertens. Von Anfang an waren wir mit dem schwammigen Abgrenzungskriterium „Hofställe", das eine bäuerliche Landwirtschaft u. a. kennzeichnen soll, unzufrieden. Dies ist nun durch den klaren Begriff der Wirtschaftsgebäude ersetzt worden. Fünftens. Die Flächenbindung für Wirtschaftsdünger tierischer Herkunft, die bei drei Dungeinheiten liegen wird, bietet den bäuerlichen Betrieben genügend Freiraum, eine intensive Tierhaltung zu betreiben. Andererseits sollten die drei Dungeinheiten vom Einzelbetrieb meines Erachtens nicht als Zielgröße angesehen werden, da beispielsweise auf leichtem Boden die Umweltverträglichkeit der Gülleausbringung geringer ist als auf Ton- und Lehmböden. Sechstens. Bei den monatelang dauernden Diskussionen über dieses Gesetz hat sich der Berufsstand am meisten über die Regeln zur Düngemittelanwendung empört. Aus der Sicht der FDP sollte ein verantwortungsbewußt wirtschaftender Landwirt seine Düngung sowieso nach den allgemeinen Grundsätzen ausrichten, die jetzt im Gesetz verankert sind. Ich verstehe eigentlich überhaupt nicht die große Aufregung der bayerischen SPD - seit Oostergetelo gesprochen hat, verstehe ich sie ein bißchen besser -, die in einem Dringlichkeitsantrag im Bayerischen Landtag die Staatsregierung aufgefordert hat, dieses Gesetz zu Fall zu bringen. Dabei vergißt man, daß dies bedeutete, daß unsere Landwirte keine 90 DM pro Hektar bekämen und daß es keine Halbierung der Viehzuschläge gäbe. Ich verstehe auch nicht die Auffassung meiner bayerischen Freunde in der CSU über angeblich zu hoch angesetzte Förderausschlußgrenzen. Es tut mir leid, wenn ich dies als Bayer sagen muß; aber das muß auch einmal gesagt werden. Diese Grenzen sind für die klein- und mittelbäuerlichen Betriebe Bayerns ohne jegliche Relevanz, behindern sie nicht und geben ihnen einen entsprechenden bäuerlichen Bewirtschaftungsfreiraum. Allerdings sollte der Einzelbetrieb sie auch nicht als Zielgröße verstehen. Wenn unser Landesminister Nüssel sagt, Bayern habe mit Nachdruck für niedrigere Bestandsobergrenzen gekämpft, so ist es, wie ich meine, eine Wohltat, daß die Bundesregierung den bayerischen Vorstellungen nicht gefolgt ist. Das hätte sonst ein Aus für viele Landwirte im norddeutschen Raum und auch für viele bayerische Landwirte bedeutet. Auch die Bayerische Staatsregierung muß endlich verstehen, daß die klein- und mittelbäuerliche Struktur keine Vorgabe für die gesamte bundesdeutsche Agrarpolitik sein kann. ({4}) Wenn dieses Gesetz zwangsläufig nicht alle Wünsche erfüllt, so kann die FDP-Fraktion doch mit Befriedigung feststellen, daß mit diesem Gesetz der Weg für eine wettbewerbsfähige deutsche Landwirtschaft unter gleichzeitiger Einbindung in die ökologischen Zusammenhänge gewiesen wird. Unsere Kraft müssen wir nun darauf verwenden, bis zum 1. Januar 1993 die Wettbewerbsverzerrungen in der EG abzubauen. Wir stimmen diesem Gesetz gerne zu ({5}) und fordern Sie auf, die Anträge der SPD abzulehnen. ({6})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, das Wort hat der Abgeordnete Kalb. - Ich möchte Sie bitten, diesem letzten Redner die notwendige Ruhe zu gewähren, damit er seine Ausführungen relativ schnell beenden kann. Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.

Bartholomäus Kalb (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001055, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident, ich habe den Hinweis mit dem „relativ schnell" gut verstanden und werde es hoffentlich sehr kurz machen können. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Entstehungsgeschichte und der Verlauf der Beratung dieses Gesetzes haben wieder einmal mehr als deutlich gezeigt, wie ungeheuer groß die Struktur- und demzufolge auch die Interessenunterschiede in der Landwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland sind. ({0}) Weder innerhalb des Berufsstandes noch innerhalb der Politik ist es praktisch möglich, einen gemeinsamen Nenner in der Frage zu finden: Was ist bäuerliche Landwirtschaft, und wie müssen die Rahmenbedingungen für sie gesetzt bzw. gefunden werden? Dennoch wird die CSU diesem Gesetz zustimmen. Hierfür gibt es zwei gute Gründe. Erstens wird mit diesem Gesetz erstmals bundesweit der Einstieg in ein flächenbezogenes Bewirtschaftungsentgelt geschafft und somit ein Stück des sogenannten Jahrhundert- bzw. Solidaritätsvertrags in Angriff genommen. ({1}) Wir müssen diese Maßnahmen - ich denke hierbei insbesondere auch an den ins Haus stehenden Wegfall der noch verbleibenden 3 %igen Vorsteuerpauschale - weiter ausbauen und fortführen. Zweitens. Es wäre nicht zu verantworten, wenn durch ein noch längeres Tauziehen um dieses Gesetz die im Bundeshaushalt und in den Landeshaushalten bereitgestellten Finanzmittel - immerhin ca. 1,1 Milliarden DM - nicht rechtzeitig an die Landwirtschaft ausgereicht werden könnten. Dennoch will ich nicht verschweigen, daß einige Bestimmungen dieses Gesetzes, wie sie in der Ausschußberatung gefaßt wurden, meinen Vorstellungen und wohl auch den Vorstellungen der CSU und des Landes Bayern nicht in vollem Umfang entsprechen können. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren Kollegen, entspricht der Grad meiner inneren Zustimmung in etwa der Länge bzw. Kürze meines Redebeitrags. Herzlichen Dank. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ohne die Bewertung zu bewerten, bedanke ich mich für Ihr Entgegenkommen, Herr Abgeordneter. Bevor Sie nun zu der von Ihnen offensichtlich erwarteten namentlichen Abstimmung kommen, müssen Sie noch allerhand Abstimmungen über sich ergehen lassen. Ich bitte daher um Geduld. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den von der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft, und zwar in der Ausschußfassung. Es handelt sich um die Drucksachen 11/4087, 11/4729 und 11/4730. Ich rufe zunächst den § 1 auf. Wer § 1 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist § 1 in der vorgeschlagenen Fassung angenommen. Ich rufe § 2 auf. Hierzu liegt Ihnen auf Drucksache 11/4764 unter Ziffer 1 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Ich lasse zunächst über den Änderungsantrag abstimmen. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt worden. Wir stimmen nunmehr über § 2 in der Ausschußfassung ab. Wer § 2 zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist § 2 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen angenommen. Ich rufe § 3 auf. Auch hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4764 unter Ziffer 2 vor. Wer stimmt dem Änderungsantrag der GRÜNEN zu? - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD, CDU/CSU und FDP abgelehnt. Ich lasse nunmehr über § 3 in der Ausschußfassung abstimmen. Wer § 3 seine Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Damit ist § 3 gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN angenommen worden. Ich rufe nunmehr die §§ 4 bis 8 auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen. Ich rufe nunmehr § 9 auf. Auch hierzu liegt Ihnen ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4764 unter Ziffer 3 vor. Wer diesem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Damit ist der Änderungsantrag mit den Stimmen der SPD-, CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt worden. Ich rufe nunmehr den § 9 in der Ausschußfassung auf. Wer § 9 in der Ausschußfassung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Damit ist § 9 gegen die Stimmen der SPD und die Stimmen der GRÜNEN angenommen worden. Ich rufe nunmehr die §§ 10 bis 15 auf. Wer diesen aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Damit sind die §§ 10 bis 15 gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN bei Enthaltung der SPD-Fraktion mit den Stimmen der CDU/CSU- und der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe nun die Anlage 1 ({0}) auf. Hierzu liegt Ihnen auf der eben erwähnten Drucksache 11/4764 unter Ziffer 4 ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer diesem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Somit ist der Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN mit den Stimmen der SPD-Fraktion, CDU/CSU-Fraktion und FDP-Fraktion abgelehnt. Wer stimmt nunmehr für die Anlage 1 ({1}) in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist die Anlage 1 zu § 8 in der Ausschußfassung gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der Fraktion DIE GRÜNEN mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion angenommen. Ich rufe nun die Anlage 2 ({2}) auf. Auch hierzu liegt Ihnen ein Änderungsantrag auf Drucksache 11/4764 unter Ziffer 5 vor. Wer diesem Änderungsantrag der GRÜNEN zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN mit den Stimmen der SPD-, CDU/CSU- und FDP-Fraktion abgelehnt worden. Wer stimmt nun für die Anlage 2 ({3}) in der Ausschußfassung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? ({4}) Vizepräsident Cronenberg Ich kann - mit Verlaub gesagt - nicht genau feststellen, wie das Abstimmungsverhalten der SPD-Fraktion ist. - Herr Abgeordneter Oostergetelo!

Jan Oostergetelo (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001650, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident, dies ist nur eine mathematische Umrechnung der Tiere. Sie ist nach heutigem Recht korrekt, und deshalb haben wir zugestimmt.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Dann darf ich feststellen, daß die SPD-Fraktion der Anlage 2 ({0}) zuzustimmen wünscht. Wenn Sie dies noch einmal durch Handzeichen dokumentieren, ist die Angelegenheit korrekt. ({1}) Somit kann ich das feststellen. Nun bleibt noch die Abstimmung über Einleitung und Überschrift. Wer Einleitung und Überschrift zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann darf ich feststellen, daß Einleitung und Überschrift angenommen sind, und zwar gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN und bei unterschiedlichem Stimmverhalten der SPD-Fraktion, teils Ablehnung, teils Enthaltung. Damit sind wir am Ende der zweiten Beratung. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wie bekannt ist, hat die Fraktion der GRÜNEN namentliche Abstimmung verlangt. Ich frage: Sind die Urnen ordnungsgemäß besetzt? - Das ist offensichtlich der Fall. Dann kann ich die Abstimmung nach dem bekannten Verfahren eröffnen. Die Abstimmung ist eröffnet. Zur Information teile ich noch mit, daß im Anschluß an die namentliche Abstimmung noch über einen Entschließungsantrag der SPD-Fraktion abzustimmen ist. Sie müssen also weiter hierbleiben. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich frage, ob alle Stimmkarten abgegeben worden sind. - Ich frage noch einmal: Sind alle Stimmkarten abgegeben? - Ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung. - *) Meine Damen und Herren, ich bitte Platz zu nehmen, damit wir in den Beratungen fortfahren können. Das wäre sehr liebenswürdig. Wir haben zum Punkt 31 der Tagesordnung noch eine Abstimmung vorzunehmen. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4754 ab. Wer wünscht diesem Entschließungsantrag zuzustimmen? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN ist dieser Antrag abgelehnt. Ich rufe nun Punkt 32 der Tagesordnung auf: Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines *) Ergebnis Seite 11245 C Gesetzes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz - Drucksache 11/4086 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({0}) - Drucksache 11/4777 - Berichterstatter: Abgeordnete Harries Schütz Frau Garbe Baum b) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/4781 Berichterstatter: Abgeordnete Waltemathe Schmitz ({2}) Dr. Weng ({3}) Frau Vennegerts ({4}) Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Harries.

Klaus Harries (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000814, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir kommen von aktuellen Fragen der Landwirtschaft zu ganz aktuellen Fragen der Kernenergie. Wir haben über das Gesetz über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz zu beraten und zu beschließen. Dieses Gesetz enthält drei wichtige Aussagen, auch Änderungen des Atomgesetzes. Aussage Nummer 1 ist, wie der Name des Gesetzes sagt, die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz. Es soll in Salzgitter in Niedersachsen errichtet werden. Einige bestehende Einrichtungen in der Bundesrepublik sollen als Außenstellen übernommen werden. Zweite Aussage: Das Gesetz ändert das Atomgesetz, und zwar in § 6. Diese Änderung dient der Rechtssicherheit und dient der Beteiligung der Bevölkerung. Dritte Aussage in diesem Gesetz ist die Einführung der Durchführung einer Zuverlässigkeitsprüfung für die Personen, die mit radioaktiven Stoffen arbeiten und umgehen, verbunden mit Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen für die beruflich in Kernkraftwerken oder ähnlichen Institutionen arbeitenden Personen, die einer möglicherweise nicht auszuschließenden Strahlenbelastung ausgesetzt sind. Meine Damen und Herren, dieses Gesetz begrüßen wir. Wir halten es für dringend erforderlich und werden ihm zustimmen. Es ist schon verwunderlich, daß die Opposition in diesem Hohen Hause, die ja nicht nur kurz nach Tschernobyl, sondern bei jeder Debatte über die Kernenergie dafür eintritt, die Sicherheit für die Be11244 völkerung zu verbessern, Verwaltungsvorsorge, politische Vorsorge und technische Vorsorge einzuführen bzw. auszubauen, zu meiner Überraschung sagt: Dieses Bundesamt brauchen wir nicht - ({0}) - Moment! - Sie sagen durchaus: Dieses Bundesamt brauchen wir nicht. Sie befürchten nämlich - wir haben uns im Umweltausschuß mit Ihrem Argument ausführlich befaßt - eine Vermischung von Zuständigkeiten und einen Abbau von Zuständigkeiten der Länder. Davon kann keine Rede sein. Ich komme darauf zurück. Meine Damen und Herren, vor diesem Hause und vor der Öffentlichkeit will ich ganz bewußt darstellen, welche Aufgaben und welche Zuständigkeiten das neue Bundesamt erhalten wird. Die Aufgabenfelder Strahlenschutz, kerntechnische Sicherheit und Entsorgung sind schon heute eng miteinander verflochten und sollen künftig in einem fachlichen und organisatorischen Zusammenhang stehen. In diesem Bundesamt sollen Vollzugsaufgaben des Bundes nach dem Atomgesetz und dem Strahlenschutzvorsorgegesetz zusammengefaßt werden. Das Amt soll die Bundesregierung fachlich, wissenschaftlich und administrativ beraten und wird aus diesem Grunde in die Fachaufsicht und in die Dienstaufsicht des Bundesumweltministers überführt. Hierin sehen wir - gerade auf dem Hintergrund der Argumente, die die Opposition hier ständig wieder vorträgt - eine absolute Verbesserung im Interesse der Strahlenschutzvorsorge. Wir sehen in diesem Amt keineswegs eine Aushöhlung der Bundesauftragsverwaltung und sind uns bei dieser Bewertung mit der ganz überwiegenden Mehrzahl der Sachverständigen einig, berufen von CDU/ CSU, SPD und FDP, die überwiegend gesagt haben: Dieses Bundesamt hilft, dieses Bundesamt ist nützlich, dieses Bundesamt strafft die bisher verteilten Zuständigkeiten im Interesse der dargelegten Zielvorgaben, und es höhlt die Zuständigkeiten der Länder nicht aus. Meine Damen und Herren, ich komme zum zweiten Punkt: Änderung des § 6 des Atomgesetzes. Dies ist zugegebenermaßen schwierig zu lesen, schwierig zu diskutieren. Es handelt sich hier um eine Debatte aber nicht nur für diejenigen, die juristisches Verständnis haben oder haben sollten, es geht nicht nur um höhere Juristerei, sondern es geht hier auch um die Grundlagen der Entsorgung und damit um ganz praktische und notwendige und anstehende Fragen. Die Opposition behauptet an dieser Stelle, daß § 9 a des Atomgesetzes durch die vorgesehene Einführung des § 6 Abs. 3 des Atomgesetzes überflüssig und ausgehöhlt werde. ({1}) Es werde damit das Entsorgungskonzept der Bundesregierung ausgehöhlt. Um Ihnen darzustellen, um Sie davon zu überzeugen, daß dieses Argument nicht richtig ist, kurz einige Bemerkungen zu diesen beiden Paragraphen. Meine Damen und Herren, ich werde Sie sicher nicht überfordern; ich werde es sehr vereinfacht sagen. § 9 a des jetzt geltenden Atomgesetzes geht davon aus, daß die Länder und der Bund Sammelstellen für hochradioaktive Stoffe, schwachradioaktive Stoffe, Zwischenlager und Endlager vorzuhalten haben. Das ist im Grunde die große Richtung, die auch gilt und vom Prinzip her weiterhin gelten wird. § 6, um den es hier geht und der in einem Punkt geändert wird, macht eine Aussage über die Verwahrung von Kernbrennstoffen. Ich darf jetzt die neue Fassung des Gesetzes in § 6 Abs. 3 des Atomgesetzes kurz vorlesen: Sollen außerhalb der staatlichen Verwahrung Kernbrennstoffe in Form von bestrahlten Kernbrennstoffen oder verfestigten hochradioaktiven Spaltproduktlösungen aus der Aufarbeitung bestrahlter Kernbrennstoffe aufbewahrt werden, ist ... ein Anhörungsverfahren durchzuführen... Hierzu wird behauptet, mit § 6 Abs. 3 des Atomgesetzes werde, weil das Zwischenlager in Gorleben faktisch vorhanden sei, bereits für schwachradioaktive Stoffe benutzt werde, nicht in staatlicher Hand und damit keine staatliche Verwahrungsstelle sei, § 9 des Atomgesetzes umgangen und ausgehöhlt. ({2}) Das ist nicht der Fall. Es ist deswegen nicht der Fall, weil der zitierte § 9 erstens eine Ausnahme und zweitens die Betreibung durch Dritte zuläßt. ({3}) Das Gesetz, mit dem wir uns heute zu befassen haben, beruht auf den beiden gesetzlichen Möglichkeiten der Betreibung durch einen Dritten und auf der Ausnahme und ist von daher zulässig. Wir brauchten und wir sollten uns nicht lange darüber kontrovers unterhalten, daß jetzt im § 6 Abs. 3 die Kriterien eines Planfeststellungsverfahrens mit Öffentlichkeitsbeteiligung, mit Erörterungstermin und mit Auslegungsfristen eingeführt werden. Das ist ein Beitrag zur Rechtssicherheit ({4}) und ein Beitrag zur Aufklärung der Bevölkerung, an der uns allen liegt. Meine Damen und Herren, ich komme zum dritten und letzten Komplex dieses, wie wir meinen, ganz wichtigen Gesetzes. Der letzte Komplex befaßt sich mit der Zuverlässigkeitsprüfung der Arbeitnehmer in Kernkraftwerken und entsprechenden Einrichtungen. Ich sage an dieser Stelle zunächst, daß der Betriebsrat der Kernforschungsanlage Jülich sehr massiv, aber zulässig und absolut korrekt, nicht nur mich, sondern auch Kollegen im Umweltausschuß angesprochen ({5}) und darauf hingewiesen hat, daß die vorgesehene Zuverlässigkeitsprüfung dem Arbeitnehmerethos und dem Selbstverständnis der Arbeitnehmer einer solchen Anlage widerspreche und daher abgelehnt werde. Ich verschweige diesen Vorstoß des Betriebsrats einer wichtigen Einrichtung in unserem Lande also überhaupt nicht. Wir haben uns mit diesem Argument beschäftigt und sind nach Abwägung des Für und Wider zu dem Ergebnis gekommen, daß die Sicherheit, auf die unsere Bevölkerung einen Anspruch hat, auf jeden Fall Vorrang haben muß. ({6}) Hier wird keine Sicherheitsprüfung, sondern eine Zuverlässigkeitsprüfung eingeführt. Wir sind aber im Interesse der Arbeitnehmer auch dem Vorschlag des Bundesdatenschutzbeauftragten gefolgt und haben diese Zuverlässigkeitsüberprüfung in das Gesetz übernommen und ausdrücklich von der Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer abhängig gemacht. Das gilt, meine Damen und Herren, auch für die letzte, sachlich neue Aussage in diesem Gesetz, wonach ein Strahlenschutzregister, zu führen bei dem neuen Bundesamt, mit dem dazugehörenden Verfahren eingeführt wird. Es sollen alle die Personen, die strahlengefährdet sind, dieser Gesundheitsprüfung, dieser Vorsorgemaßnahme, unterzogen werden. Daten sollen gesammelt und auch ausgetauscht werden. Das Nähere ist im Gesetz zum Ausdruck gekommen. Aber auch diese wichtige Maßnahme, meine Damen und Herren, wird von der Zustimmung der betroffenen Arbeitnehmer abhängig gemacht. ({7}) Wir haben uns, meine Damen und Herren, im 2. Untersuchungsausschuß auf Grund des Auftrags, den wir vom Bundestag haben - Aufklärung des Hanauer Skandals - ausgiebig mit dem Sicherheitskomplex befaßt. Gerade da war es die Meinung der Opposition, daß alles getan werden muß, um auch in Nuklearbetrieben und in Kernkraftwerken kriminelle und terroristische Handlungen zu verhindern, die Gefahren für die Bevölkerung bedeuten könnten. Wir tun das jetzt: Das Atomgesetz wird im Sinne der geäußerten Mahnungen und Warnungen erweitert. Und schon ist es wieder nicht richtig. Es ist, meine Damen und Herren, nicht einzusehen, daß die Opposition gerade auf Grund ihres Standpunktes, der hier immer wieder vertreten wird, nein sagt zu diesem Gesetz, nein sagt zum Bundesamt und nein sagt zur Änderung des Atomgesetzes. Meine Damen und Herren, wir sind von dem überzeugt, was hier vorgelegt worden ist, was wir mit den Sachverständigen ausführlich diskutiert und erarbeitet haben und was wir im Umweltausschuß ergänzt und geändert haben und Ihnen jetzt zur Annahme vorlegen. Meine Damen und Herren, wir begrüßen das Gesetz. Die CDU/CSU wird zustimmen. ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen zwischendurch das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Förderung der bäuerlichen Landwirtschaft bekanntgeben. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 330 ihre Stimme abgegeben; keine ungültigen Stimmen. Mit Ja haben 200 Mitglieder des Hauses, mit Nein haben 130 Mitglieder des Hauses gestimmt. 14 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben zehn Mitglieder und mit Nein haben vier Mitglieder gestimmt. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 330 und 14 Berliner Abgeordnete; davon ja: 200 und 10 Berliner Abgeordnete nein: 130 und 4 Berliner Abgeordnete Ja CDU/CSU Bauer Bayha Dr. Becker ({0}) Dr. Biedenkopf Biehle Dr. Blens Böhm ({1}) Börnsen ({2}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Borchert Breuer Bühler ({3}) Carstens ({4}) Carstensen ({5}) Clemens Dr. Czaja Dr. Daniels ({6}) Frau Dempwolf Deres Dörflinger Dr. Dollinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehrbar Eigen Engelsberger Eylmann Dr. Fell Fellner Frau Fischer Fischer ({7}) Dr. Friedmann Dr. Friedrich Fuchtel Funk ({8}) Ganz ({9}) Geis Gerster ({10}) Glos Dr. Göhner Dr. Götz Gröbl Dr. Grünewald Günther Dr. Häfele Hames Frau Hasselfeldt Haungs Hauser ({11}) Hauser ({12}) Hedrich Freiherr Heereman von Zuydtwyck Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker Dr. Hornhues Frau Hürland-Büning Dr. Hüsch Graf Huyn Jäger Dr. Jenninger Dr. Jobst Jung ({13}) Dr.-Ing. Kansy Dr. Kappes Frau Karwatzki Klein ({14}) Dr. Köhler ({15}) Kolb Kraus Krey Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({16}) Lamers Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Frau Limbach Link ({17}) Link ({18}) Linsmeier Louven Lowack Maaß Magin Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Müller ({19}) Nelle Neumann ({20}) Dr. Olderog Oswald Pfeffermann Vizepräsidentin Renger Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Repnik Frau Roitzsch ({21}) Rossmanith Roth ({22}) Rühe Dr. Rüttgers Ruf Sauer ({23}) Sauer ({24}) Dr. Schäuble Scharrenbroich Schemken Scheu Schmidbauer Schmitz ({25}) Freiherr von Schorlemer Dr. Schroeder ({26}) Schulhoff Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Seesing Seiters Spilker Dr. Sprung Dr. Stark ({27}) Dr. Stercken Strube Susset Tillmann Dr. Uelhoff Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({28}) Vogt ({29}) Dr. Voigt ({30}) Dr. Warrikoff Dr. von Wartenberg Weirich Weiß ({31}) Werner ({32}) Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wimmer ({33}) Windelen Dr. Wittmann Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zink Berliner Abgeordnete Buschbom Feilcke Kalisch Kittelmann Lummer Dr. Mahlo Dr. Pfennig Schulze ({34}) Straßmeir FDP Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum Beckmann Bredehorn Cronenberg ({35}) Eimer ({36}) Funke Gattermann Genscher Frau Dr. Hamm-Brücher Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer Irmer Kleinert ({37}) Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Mischnick Nolting Paintner Richter Rind Ronneburger Frau Dr. Segall Dr. Sohns Dr. Thomae Timm Dr. Weng ({38}) Wolfgramm ({39}) Frau Würfel Zywietz Berliner Abgeordneter Hoppe Nein SPD Bamberg Becker ({40}) Frau Becker-Inglau Bernrath Bindig Dr. Böhme ({41}) Büchler ({42}) Frau Bulmahn Buschfort Catenhusen Conradi Diller Dreßler Duve Dr. Emmerlich Erler Ewen Frau Faße Fischer ({43}) Frau Ganseforth Gansel Dr. Gautier Gilges Frau Dr. Götte Großmann Grunenberg Dr. Haack Haack ({44}) Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Heistermann Heyenn Horn Jahn ({45}) Frau Kastner Kastning Kiehm Kißlinger Koltzsch Koschnick Dr. Kübler Kühbacher Leidinger Leonhart Frau Matthäus-Maier Menzel Müller ({46}) Müller ({47}) Nagel Nehm Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Oesinghaus Oostergetelo Dr. Osswald Paterna Pauli Dr. Penner Dr. Pick Porzner Poß Reimann Frau Renger Reschke Reuter Rixe Schäfer ({48}) Schanz Dr. Schöfberger Schreiner Frau Schulte ({49}) Seidenthal Frau Seuster Singer Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling Stahl ({50}) Steiner Stiegler Dr. Struck Vahlberg Voigt ({51}) Waltemathe Walther Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Westphal Frau Weyel Wiefelspütz von der Wiesche Wimmer ({52}) Wischnewski Dr. de With Wittich Zeitler Zumkley Berliner Abgeordnete Frau Luuk Wartenberg ({53}) DIE GRÜNEN Brauer Dr. Daniels ({54}) Eich Frau Eid Frau Garbe Hoss Kleinert ({55}) Kreuzeder Dr. Lippelt ({56}) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels Frau Oesterle-Schwerin Frau Saibold Schily Frau Schmidt ({57}) Frau Schoppe Stratmann Such Frau Teubner Frau Trenz Frau Unruh Frau Vennegerts Volmer Wetzel Frau Wilms-Kegel Berliner Abgeordnete Frau Frieß Meneses Vogl Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist damit in dritter Lesung angenommen. Ich erteile jetzt in Fortführung des aufgerufenen Tagesordnungspunktes dem Herrn Abgeordneten Schütz das Wort.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die bisherige Behandlung des Gesetzes zur Errichtung des Strahlenschutzamtes und der weitgehenden Änderungen des Atomgesetzes hat eigentlich jede seriöse Beratung vermissen lassen. ({0}) - Ich war jedesmal dabei. - Faktisch jeder Verfahrensschritt wurde in Kampfabstimmungen mit den Stimmen der Koalitionsparteien durchgesetzt. ({1}) Unsere Bitten, etwas mehr Zeit für die Formulierung der Fragen und auch für die Gutachterauswahl zu erhalten, wurden niedergestimmt. Dabei ging es lediglich um eineinhalb Wochen. Das Ergebnis war z. B., daß die Absage zweier von uns gewählter Sachverständiger nicht aufgefangen werden konnte. Die erste Beratung im Ausschuß war vorvorige Woche. Heute sollen wir eine endgültige Entscheidung treffen. ({2}) - Vorvorige Woche, meine Damen und Herren! - Es scheint den Koalitionsfraktionen völlig egal zu sein, wie seriös die Beratung ist, welche Akzeptanz etwa zu den Betriebsräten in den Kernkraftwerken - Herr Harries hat darauf hingewiesen - hergestellt wird. ({3}) Dieses Gesetz soll bis zum 1. Juli unter allen Umständen über die Bühne gebracht werden; deswegen die Eile. Was treibt Sie denn so zur Eile? ({4}) Steht die Regierung in der Frage der atomaren Entsorgung mit dem Rücken zur Wand, daß sie eine Änderung des Atomgesetzes so durchbringen will? Will sie mit der Errichtung des Strahlenschutzamtes verlorene Kompetenz bei der Aufsicht und Kontrolle wiedergewinnen? Die Errichtung des Strahlenschutzamtes allein kann diese überhastete Eile unserer Meinung nach jedenfalls nicht rechtfertigen. Wir fühlen uns von den Oppositionsparteien überrannt. ({5}) - Ja, Sie rennen ja, wir sind die Überrannten. ({6}) Dieses Artikelgesetz, meine Damen und Herren, hat u. a. die Errichtung des Strahlenschutzamtes zum Gegenstand. Man kann nicht mehr darüber streiten, ob dies auch der wichtigste Regelungsgegenstand ist. Er ist es nicht. Die wichtigste und problematischste Regelung in diesem Gesetz ist die Novellierung des § 6 Atomgesetz. Diese Regelung ist politisch höchst bedenklich, weil sie teilweise einen völlig anderen, nämlich einen durch private Betreiber zu verantwortenden atomaren Entsorgungsweg endgültig legalisieren will. Sie ist auch juristisch bedenklich, weil sie gleichzeitig die rechtlichen Schranken für einen derartigen anderen Entsorgungsweg niedriger hält, als es bei den bestehenden Planfeststellungsverfahren der Fall wäre. ({7}) Der Gesetzestext zu § 6 Abs. 3 Atomgesetz, oberflächlich gelesen - und soweit haben Sie ihn gelesen, Herr Harries - , kann uns dazu verleiten, zu sagen, es würden eher Verfahrensverbesserungen, insbesondere nämlich die bei der Öffentlichkeitsbeteiligung, eingeführt. Diesen Eindruck wollen Sie auch hier noch einmal verstärken. Warum aber schlagen wir an dieser Stelle Alarm? Der bisherige Weg der Entsorgung war folgender: Die abgebrannten Brennelemente werden eine gewisse Zeit nach der Entladung aus den Reaktoren in der Reaktoranlage zum Abklingen zwischengelagert. Diese Lagerung im sogenannten Kompaktlager unterliegt als Maßnahme des Betriebes noch der atomrechtlichen Genehmigung, also der nach § 7 Atomgesetz. Sobald die abgebrannten Brennelemente aus der engeren Reaktoranlage herauskommen, sind sie, soweit sie nach der leider noch vorherrschenden Entsorgungsphilosophie wiederaufgearbeitet werden sollen, als Kernbrennstoffe, die nicht Abfall sind, zu bezeichnen. Für sie kann dann - da stimme ich Ihnen auch noch zu - nach § 6 Atomgesetz eine Genehmigung zur Aufbewahrung im Zwischenlager bis zum Abtransport und bis zur Wiederaufarbeitung erteilt werden. ({8}) Bis hier sind wir uns, glaube ich, einig, Herr Baum. ({9}) Hier macht § 6 Atomgesetz auch Sinn. Für unser Interesse aber einzig relevant sind insbesondere zwei, möglicherweise aber drei andere Fälle, die ich aufzählen will. Wir interessieren uns für die abgebrannten Brennelemente, deren Verwertung nicht mehr möglich und wirtschaftlich nicht mehr vertretbar erscheint. Das sind eindeutig radioaktive Abfälle im Sinne des § 9 a Atomgesetz. Zweitens. Auch die aus der Wiederaufarbeitung zurückkehrenden radioaktiven Abfälle, die noch Kernbrennstoffe enthalten, sind eindeutig Abfälle. Zu dieser Kategorie kann man möglicherweise dann noch die abgebrannten Brennelemente hinzurechnen, wenn wir den Entsorgungsweg der direkten Endlagerung wählen. Dann wären sie per definitionem auch Abfälle. In all diesen Fällen sind die abgebrannten Brennelemente und die zurückkehrenden Kokillen als Abfall zu bezeichnen. Ich will mich auf diese - für uns hoffentlich unstreitigen - atomaren Abfälle konzentrieren. ({10}) Ich konzentriere mich also auf die aus der Wiederaufarbeitung zurückkehrenden Abfälle und die abgebrannten Brennelemente, die aus wirtschaftlichen und Verwaltungsgründen nicht aufarbeitbar sind. Für diese Abfälle - Herr Harries, jetzt müssen wir das herausarbeiten - besteht als Regel eine Ablieferungspflicht an die staatlichen Einrichtungen zur Zwischenlagerung, Sicherstellung oder auch zur Endlagerung. Dies findet sich in jedem Kommentar als unstreitige Meinung, und dabei sollten wir bleiben. Diese als Regel bestehende Ablieferungspflicht an staatliche Stellen soll nach § 9 a Abs. 2 dann nicht gelten, wenn Abweichendes durch Rechtsverordnung oder Gesetz bestimmt wird. Nun wird durch die Formulierung des neuen Absatzes 3 des § 6, den wir jetzt behandeln, erstmalig die private Verwahrung ausdrücklich durch die Neuformulierung auch auf eindeutig als Abfall zu bezeichnende Stoffe, nämlich auf die verfestigten hochradioaktiven Spaltproduktlösungen aus der Wiederaufarbeitung ausgedehnt. Diese Formulierung finden wir an dieser Stelle zum erstenmal; sonst steht immer nur das Wort „Kernbrennstoffe". Hier finden wir zum erstenmal eindeutig das Wort „Abfall" . Das ist das wahrlich Neue. ({11}) Dies tut man offensichtlich, weil sich die bisherigen - für die Betreiber erfolgreichen - Urteile zu den externen Zwischenlagern in Gorleben und Ahaus nur auf abgebrannte Brennelemente, nicht aber auf die aus den Wiederaufarbeitungsanlagen zurückkehrenden Abfälle bezogen. Die bisher genehmigten externen Zwischenlager, die im Anschluß an die betriebszugehörige Lagerung nach § 6 des Atomgesetzes möglich sein sollten, sollten eben nur abgebrannte Brennelemente aufnehmen. ({12}) Das Neue an der uns vorliegenden Regelung - Herr Baum, hören Sie zu! - ist also, daß auch für die aus der Wiederaufarbeitung zurückkehrenden Abfälle ein Genehmigungsteppich für eine Lagerung außerhalb der staatlichen Verwahrung untergezogen werden soll. ({13}) Dies aber bedeutet im politischen Klartext: § 6 Abs. 3 ({14}) muß als Anfang des gesetzgeberischen Ausstiegs aus der unmittelbaren staatlichen Verantwortung für die atomare Entsorgung verstanden werden. Das ist das Neue. ({15}) Es wird keine staatliche Verantwortung für Zwischenlager mehr geben. Der sogenannte Entsorgungsdruck, der dann eintreten wird, wenn die Abfälle aus La Hague und Sellafield zurückkehre, besteht nicht mehr für den Staat, sondern für die zahlreichen privaten Betreiber, die allerdings dann bei den KKW oder in externen Zwischenlagern jeden atomaren Abfall nach § 6 Abs. 3 ({16}) aufnehmen können. ({17}) - Herr Baum, zu der Frage, was ich daran schlimm finde, komme ich noch. Rechtlich wird mit dieser Regelung die Ausnahme zur Regel. ({18}) Der in § 9 folgende aufgezeigte Entsorgungsweg wird faktisch - nicht rechtlich - obsolet. Diese Regelung stellt einen nicht mehr vertretbaren Einbruch in den Grundsatz der staatlichen Entsorgungspflicht und des staatlichen Entsorgungsmonopols dar. Herr Harries, Herr Baum, wir gehen dann nicht mehr über § 9 a, sondern über § 6. ({19}) Faktisch und praktisch haben wir diese Situation schon, weil bisher von staatlichen Organen keine ablesbaren Anstrengungen unternommen worden sind, um Planfeststellungsverfahren nach § 9 a einzuleiten. Faktisch haben wir nur den Weg über private Zwischenlager, aber keine einzige Anstrengung des Staates, über § 9 a zu gehen. Das ist die Situation. ({20}) Diese faktische Situation wollen Sie rechtlich weiter verfestigen, so daß dies der Regelweg wird. Das ist genau Ihre Absicht. Diese Regelung stößt für mich auch auf rechtliche Bedenken, weil diese Verfahren in bezug auf die erforderliche Erörterungstiefe und auch auf die Schutzschranken für die Zwischenlager viel geringer ausfallen, als das durch Planfeststellungsverfahren nach § 9 erforderlich wäre. Ich will die Kritikpunkte zusammenfassen: Erstens. Ein Planfeststellungsverfahren, wie es § 9 des Atomgesetzes für derartige Lager vorsieht, hat anders, als im Genehmigungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung, ein intensiveres und konzentrierteres Verfahren mit mehr Bürgerrechten zum Gegenstand. ({21}) Zweitens. Die Genehmigung nach § 6 ist keine Anlagengenehmigung. Es wird lediglich die Verwahrung der Kernbrennstoffe genehmigt, nicht aber die Errichtung der Anlage. Die Anlage - das Zwischenlager also - wird nach baurechtlichen Normen genehmigt. Es besteht an dieser Stelle ein Unterschied zwischen Anlagen und Umgangsgenehmigungen. Drittens. Für das Genehmigungsverfahren nach § 6 Atomgesetz selber gelten nicht die atomrechtlichen Verfahrensvorschriften mit den weitergehenden Bürgerrechten, sondern die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsverfahrensrechts. Das sind die drei wesentlichen rechtlichen Schranken auch für die Bürger, Herr Harries, was Sie jetzt hier fordern. Die Aufzählung macht deutlich, daß diese Novelle praktisch bedeutet: Es werden in Zukunft Zwischenlager bei verminderten Rechten der Bürger ausgebaut. ({22}) Das machen wir nicht mit. Die Novellierung dieses Teils findet unsere entschiedene Ablehnung. ({23}) Dazu gibt es von uns keinen einzigen Verbesserungsvorschlag. Wir haben schon jetzt die vom Kabinett sanktionierte Anstrengung erlebt, die Wiederaufarbeitung aus Wackersdorf auszuflaggen, um zu den Billig- und Niedrigstandards in La Hague weiterzumachen, statt aus der Wiederaufarbeitung auszusteigen. ({24}) Wir erleben jetzt die weitere Deformierung des ursprünglichen Entsorgungswegs mit dem Rückzug des Staates aus der Verantwortung für die atomare Entsorgung. Dazu sagen wir nein. ({25}) - Von mir haben Sie nie etwas anderes gelesen, als daß ich gesagt habe: Das ist noch schlimmer als das, was in Wackersdorf passiert. ({26}) - Wir haben begrüßt, daß aus der Wiederaufarbeitung ausgestiegen wird. Aber wir haben nicht begrüßt, daß das zu anderen Standards anderswo weitergemacht wird, und zwar zu niedrigen Standards. Das müssen Sie wissen. ({27}) - Nein; ich nicht. Ich sage etwas zu dem zweiten streitigen Begehren der Regierung, nämlich eine Zuverlässigkeitsüberprüfung der in den Kernkraftwerken und Nebeneinrichtungen Beschäftigten in § 12 Atomgesetz zu regeln. Wir sagen zu diesem Zeitpunkt und zu dem Regelungsvorschlag selber ebenfalls nein. Auch hier haben wir kein Verständnis dafür, daß die Regelung der Zuverlässigkeitsüberprüfung zu einem Zeitpunkt vorgenommen wird, in dem die Debatte im federführenden Innenausschuß zu einem bereits angekündigten Gesetz über Sicherheitsüberprüfung noch nicht erfolgt ist. Es ist uns unverständlich, daß in diesem Artikelgesetz quasi en passant und im Vorgriff auf das Gesetz über Sicherheitsüberprüfungen die dargestellten Regelungen durchgesetzt werden sollen. Die Diskussion über diesen Komplex ist überhaupt noch nicht abgeschlossen. Ich will zwar nicht verkennen, daß die ursprüngliche Regelung durch den Vorschlag des Bundesbeauftragten für den Datenschutz verbessert wurde. Aber es bleiben Bedenken, die gründlich und seriös vor allem in den Gremien hätten behandelt werden müssen, die für den Datenschutz federführend sind. ({28}) Der richtige Weg wäre es gewesen, eine Gesamtdiskussion in den Fachausschuß - ich weiß nicht, ob Sie ihm noch angehören, Herr Baum - unter Beteiligung der Betroffenen, vor allem der Gewerkschaften, Herr Harries, zu führen. Erst vor dem Hintergrund dieser Diskussion hätten wir eine Diskussion im Fachausschuß für richtig gehalten. All das haben Sie nicht gemacht. ({29}) Die jetzt vorgenommene Formulierungsänderung von Sicherheitsüberprüfung zu Zuverlässigkeitsüberprüfung ist für mich ein semantisches Problem. Die Trennlinien leuchten mir nicht unmittelbar ein, wenn weiterhin bei der Polizei u n d den Verfassungsschutzorganen abgefragt wird. Warum fragen Sie weiterhin bei den Verfassungsschutzorganen ab? ({30}) - Es wäre einer. Nur, den haben Sie gar nicht aufgezeigt. Er ist nicht ablesbar. ({31}) Vor Verabschiedung eines derartigen Gesetzes hätte geklärt werden müssen, ob und welche Grundrechtseingriffe bei Arbeitnehmern vorgenommen werden und welche Bereiche genau sowohl vom räumlichen Geltungsbereich im Betrieb als auch von den notwendigerweise einzugrenzenden Beschäftigungsgruppen erfaßt werden müssen. Daraus hätte sich wahrscheinlich eine gebotene Differenzierung der Schutz- und Angriffsintensität ergeben. All das haben Sie nicht gemacht. Die Abfrage der Daten bei den Polizeibehörden u n d den Verfassungsschutzorganen wirft wieder die Frage nach dem Gebot der Trennung von Polizei und Nachrichtendiensten auf. ({32}) - Es findet auf jeden Fall eine Vermischung statt. Wir haben, Herr Harries, jetzt auch den abwiegelnden Begriff des Einverständnisses wieder in den Gesetzestext bekommen. Dieser - vom Bundesrat an der Stelle zu Recht abgelehnte - Begriff vernebelt nur die Konfliktlinie. Welcher Betriebsangehörige wird sich denn weigern, eine derartige Überprüfung vornehmen zu lassen? Was ist, wenn er sich weigert? Dann wird er auf jeden Fall in fast allen Bereichen seines Betriebs nicht mehr eingestellt. Es ist doch kein freiwilliges Einverständnis, sondern eine erzwungene Einverständniserklärung. ({33}) - Dann soll man sagen: Die Zuverlässigkeit wird überprüft. Aber das Einverständnis macht bei der Sache den Kohl nicht fett. Wir sind als Gesetzgeber nach dem Merkmal der Erforderlichkeit und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehalten, die mildesten Mittel der Grundrechtsbeeinträchtigung zu wählen. Ich hätte es aus diesem Grundsatz für geboten gehalten, im Rahmen der Gesetzesdiskussion auch die verfahrensmäßige Umsetzung zu diskutieren, um die Regelungsdichte und die Tiefe abschätzen zu können. Soll etwa eine rechnerunterstützte Personenüberwachung geschehen? ({34}) Wahrscheinlich nicht, hoffe ich. Werden auch im Rahmen der Zuverlässigkeitsüberprüfung von den Beschäftigten lückenlose Verhaltens- und Bewegungsbilder abgefragt? Ich hoffe nicht, aber ich weiß es nicht. Die gesamte Diskussion haben wir nicht geführt. Wir haben keine Ausführungsbestimmung diskutiert, obwohl wir das in anderen Zusammenhängen immer machen. Wir diskutieren auch die Ausführungsbestimmungen von Gesetzesänderungen. Unsere Kollegen, die sich wegen ihrer Mitgliedschaft im Innenausschuß viel besser auskennen als wir, haben wir nicht fragen können. Das Ergebnis der Befragung ist zumindest in unseren Ausschuß überhaupt nicht mehr hereingekommen. Ich habe nachgelesen: Nachdem wir darüber geredet haben, hat der Innenausschuß sich damit beschäftigt. Das ist gestern praktisch noch aufs Tablett geliefert worden, damit wir heute darüber reden können. Ich frage: Wie seriös ist eine solche Beratung? ({35}) Ich will an dieser Stelle betonen, daß wir Sozialdemokraten bereit sind und auch waren, notwendige Regelungen zur Prüfung der Zuverlässigkeit zu normieren. Herr Baum, dazu sind wir bereit. Das wollen wir aber in einem ruhigen, zeitlich akzeptablen Verfahren unter Beteiligung aller Betroffenen machen. Wir wollen nicht so durchhasten, wie das hier passiert ist. ({36}) - Natürlich, es gibt Richtlinien darüber. Meine Damen und Herren, konsequenterweise haben wir in den Ausschüssen die Novellierung des Atomgesetzes - sowohl dieses Paragraphen als auch des § 6 - von den Regelungen zur Errichtung des Strahlenschutzamtes abtrennen wollen. Wir haben einen solchen Antrag gestellt und haben gesagt: Laßt uns das hiervon wegnehmen und es in einem anderen Zusammenhang in Ruhe beraten. Sie haben das abgelehnt. Warum nehmen Sie diesen Artikel 2 nicht heraus und regeln und erörtern das mit uns geruhsam weiter? Was treibt und was hetzt Sie dazu? ({37}) - Nein, nicht die Rechtsstaatlichkeit, sondern irgendwelche anderen Sachen. Wir hätten mit dem Bundesrat zusammen - der uns ja auch noch Hausaufgaben zum Atomgesetz aufgegeben hat - dieses alles gründlich beraten können. Das haben wir nicht getan. Nun haben wir ein mit heißer Nadel genähtes Kleid einer Atomrechtsnovelle, das keinem mehr gut zu Gesichte steht, erst recht nicht mehr dem Gesetzgeber, der heute hier zustimmen soll und das sind wir. ({38}) Möglicherweise zur Mehrheit. Meine Damen und Herren, ich komme zu dem dritten Punkt. Das plakative Ziel dieses Gesetzes ist die Errichtung des Bundesamtes für Strahlenschutz. Ich will dazu, Herr Harries, auch einige Anmerkungen machen. Dieses Bundesamt soll die Organisation für die Wahrnehmung von Vollzugsaufgaben straffen. Vor allem aber soll es dem Bundesumweltminister Kontrollinstrumente zur Verfügung stellen um solche Debakel wie in NUKEM und in ALKEM nicht mehr zu erleben. Die vorgenommene Aufgabenbündelung mag an vielen Stellen sinnvoll sein. Es besteht die Gefahr, daß teilweise die unmittelbare Zuarbeit für den Minister auf einem wichtigen Feld der Aufsicht ausgelagert und in einer eigenen Vollzugsbehörde verselbständigt wird. Aufsicht und Vollzug werden in eine Gemengelage gebracht, die durchaus konfliktträchtige Situationen nicht ausschließt. Es ist ebenfalls fraglich, ob die Regelung, daß das Bundesamt zur Erfüllung seiner Aufgaben eigene Forschung betreibt, sinnvoll ist. Die Übertragung von Forschungsaufgaben auf inhaltlich weisungsgebundene Bedienstete fördert nicht das Vertrauen in die Unabhängigkeit von Wissenschaft und auch nicht das Vertrauen in diese Ergebnisse. Es ist nicht ersichtlich, warum diese Forschung nicht außerhalb, z. B. an den Universitäten, durchgeführt werden kann. Für eine kritische Bewertung der Organisation des Bundesamtes ist auch entscheidend, daß dieses Amt offensichtlich die Errichtung und den Betrieb von Anlagen des Bundes zur Sicherstellung und Endlagerung radioaktiver Abfälle betreibt - das ist die jetzige PTB-Abteilung, die eingegliedert wird - und gleichzeitig im Wege der Bundesauftragsverwaltung die Aufsicht darüber ausübt. ({39}) - Ich habe meine eigene Meinung, Herr Baum. Die sage ich hier auch. Bedenken bestehen zumindest auch wegen der Optik und auch bei der Integration der Strahlenschutzkommission und der Reaktorsicherheitskommission in das Bundesamt. Sie sollen dorthin, so weit sie in diesem Bereich nicht als unabhängige Gutachter tätig sind. Auch hier findet eine Vermischung von weisungsabhängiger Arbeit im Bundesamt und Gutachtertätigkeit - wenn auch nur über die Geschäftsstelle, das muß ich zugeben - unter einem Dache statt. Diese Konstruktionen bergen alle den Keim einer Nichtakzeptanz in kritischen Verfahren in sich. Aus diesen Gründen hätten wir eine gründliche Beratung des Bundesamtes auch für sinnvoll gehalten. Ein so geschnittenes Bundesamt, Herr Harries, wollen wir nicht. Aus diesen Gründen - die Atomrechtsnovellen finden unseren entschiedenen Widerstand, hier wollen wir weiter diskutieren - lehnen wir dieses Gesetz zur Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz ab. Mit uns machen Sie das nicht. Danke sehr. ({40})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Herr Dr. Töpfer.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf stellt die Grundlage für die Schaffung des Bundesamtes für Strahlenschutz dar. Mit dem neuen Bundesamt wird das Instrumentarium der Bundesregierung für eine vorsorgende Politik in diesem wichtigen Feld verbessert. Die Organisation der Aufgabenwahrnehmung des Bundes wird gestrafft und gebündelt, die Schwerpunkte der Aufgaben des neuen Bundesamtes liegen im Bereich der Endlagerung, des Strahlenschutzes und in der Unterstützung meines Ministeriums bei der Wahrnehmung der Bundesaufsicht, insbesondere im Hinblick auf die Sicherheit kerntechnischer Anlagen. Ich möchte sehr nachdrücklich sagen: Die Errichtung dieser wichtigen Einrichtung ist der entscheidende Punkt dieses Gesetzes. Ich möchte deutlich machen, daß die Errichtung des Bundesamtes für Strahlenschutz ein Eckpfeiler bei den Bemühungen um mehr Sicherheit und Kontrolle im Umgang mit der Kernenergie ist, und ich kann mir schon vorstellen, daß der eine oder andere in der Opposition nicht geglaubt hat, daß wir dieses Bundesamt zustande bekommen und daß wir damit eine ganz wichtige Grundlage für die Verbesserung unserer bundesaufsichtlichen Tätigkeit schaffen. ({0}) Am 9. März 1989 haben wir in diesem Hohen Hause den Ihnen heute zur abschließenden Beschlußfassung vorliegenden Gesetzentwurf ausführlich, sicherlich auch damals bereits kontrovers, diskutiert. ({1}) Ich bedanke mich sehr für die intensive, die außerordentlich zügige Beratung im federführenden Umweltausschuß sowie auch in den mitberatenden Ausschüssen, so daß ein baldiges Inkrafttreten des Gesetzes nach abschließender Beratung auch im Bundesrat ermöglicht wird. Es zeichnet sich ab, daß das Bundesamt für Strahlenschutz kurzfristig nach der parlamentarischen Sommerpause seine Tätigkeit aufnehmen kann. ({2}) Die vorbereitenden organisatorischen Arbeiten sind so weit fortgeschritten, daß auch die Exekutive mit der Geschwindigkeit der Legislative Schritt halten kann. Ich freue mich, daß gestern zwischen dem Kollegen Waigel und mir die Entscheidung auch dahin gehend gefallen ist, daß in Salzgitter ein neues Gebäude für dieses Amt gebaut wird, so daß auch hiermit eine Integration in die Stadt möglich wird. Der Umweltausschuß hat am 8. Mai 1989 eine Sachverständigenanhörung durchgeführt. Diese Anhörung hat den von der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurf im Ganzen und in seinen Eckpunkten bestätigt. Der Umweltausschuß hat die Ergebnisse der Anhörung sorgfältig, wie ich meine, ausgewertet und in seiner Beschlußfassung berücksichtigt. Die Anhörung hat gezeigt, daß der Bund mit dem neuen Bundesamt seine Aufgaben im Bereich des Strahlenschutzes und der kerntechnischen Sicherheit effektiver wahrnehmen kann. Es ist, meine Damen und Herren, eine völlige Verkennung der Tatsachen, wenn hier die Meinung vertreten wird, durch das Bundesamt werde die Bundesauftragsverwaltung ausgehöhlt. Eine Stärkung der Bundesaufsicht liegt auch, wie ich meine, im wohlverstandenen Interesse der Bundesländer. Die Beratung im Bundesrat hat dieses sehr deutlich gezeigt, und ich möchte zumindest in Erinnerung rufen, daß auch SPD-regierte Bundesländer im Bundesrat zugestimmt haben. ({3}) - Ich habe gesagt „auch". Es geht eben nicht an, dem Bundesumweltminister die politische Verantwortung auch noch für die letzte Schraube eines Kernkraftwerkes im Zweifel zuzuweisen, wie das etwa bei den Zentnerstiften des Kollegen Jansen in Schleswig-Holstein der Fall gewesen ist, gleichzeitig aber den fachlichen Unterbau zur Wahrnehmung dieser politischen Verantwortung nicht mit aufzubauen. Dies ist der schlichte Zusammenhang. ({4}) Ich bin ganz sicher, jeder, der wirklich einigermaßen qualifiziert diese Aufgabe wahrnehmen will, muß sich eine derartige Behörde, muß sich ein derartiges Amt auch schaffen. Weil dies häufig zumindest mißverständlich dargestellt wird, möchte ich deswegen hier auch noch einmal klarstellen: Das Errichtungsgesetz weist dem Bundesamt für Strahlenschutz die Aufgaben der fachlichen Unterstützung des Bundesumweltministers zu. Es überträgt gerade nicht bundesaufsichtliche Befugnisse gegenüber den Ländern, die nach Art. 85 des Grundgesetzes ausschließlich der obersten Bundesbehörde zustehen. Sie sind nicht eine Vollzugsorganisation, Herr Abgeordneter Schütz, sondern sie beraten die Bundesaufsicht. Dies ist ein ganz wesentlicher, zentraler Unterschied. Von seiten der Opposition ist gefordert worden, auch jetzt gerade wieder, daß der materiell-rechtliche Teil des Gesetzentwurfes vom organisationsrechtlichen Teil abgetrennt und zurückgestellt wird. Ich begrüße es sehr, daß dies nicht geschehen ist, weil in den anstehenden Fragen aktueller Regelungsbedarf besteht. Der Bundesrat hat dies ausdrücklich bestätigt. Er hat darüber hinaus noch gesagt -- ich zitiere die Stellungnahme - : Der Bundesrat ist der Auffassung, daß außerhalb dieses Gesetzgebungsverfahrens weitere Änderungen des Atomgesetzes erforderlich sind. Dieser weitergehende Änderungsbedarf wird derzeit von meinem Hause gemeinsam mit den Ländern geprüft. Wir sehen das ebenfalls. ({5}) Ergebnisse sind für den Beginn der nächsten Legislaturperiode zu erwarten, ({6}) weil wir, Herr Abgeordneter Schäfer, genau das tun, was Sie uns gerade angeraten haben, nämlich mit Sorgfalt und in enger Abstimmung mit den Bundesländern zu überprüfen, was geändert werden soll. Das werden wir dann ohne Hast auch machen. ({7}) Nun noch einige Worte zu den materiell-rechtlichen Regelungen, die vom Abgeordneten Schütz hier so in den Vordergrund gestellt worden sind. Zunächst zur Einführung einer Öffentlichkeitsbeteiligung für Genehmigungsverfahren zur Aufbewahrung abgebrannter Brennelemente und dabei z. B. von Glaskokillen aus der Wiederaufarbeitung durch den neu einzufügenden § 6 Abs. 3. Er ist in der Anhörung sicher bestätigt worden. Ich möchte an erster Stelle einmal festhalten, daß wir hier nicht ein Minus an Information der Öffentlichkeit, sondern ein Plus vornehmen. Denn bisher sieht der § 6 des Atomgesetzes eine Beteiligung der Öffentlichkeit nicht vor, und nun sieht er sie vor. ({8}) Dies ist kein Minus, sondern das ist ein Plus. Meine Damen und Herren, ich hatte Gelegenheit, bei der Einbringungsdebatte dieses Gesetzes hier schon zu verdeutlichen, daß wir natürlich der Oberzeugung sind, daß der § 6 dies bereits gegenwärtig mit abdeckt, daß es aber notwendig ist, weil der § 9 a - Sie haben es selbst gesagt - den Ausnahmetatbestand ja formuliert. ({9}) Also sind wir der Überzeugung, daß er es jetzt schon abdeckt. Aber aus Respekt gegenüber der Rechtssicherheit und aus Respekt gegenüber den Bürgern, die sich damit beschäftigen, war es für unsere Begriffe absolut richtig, dies auch in diesem Gesetzgebungsverfahren klarzustellen. Sie wissen selbst, Herr Abgeordneter Schütz, daß diese Diskussion vornehmlich durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts in Münster ausgelöst worden ist. Dies hatte mit der Wiederaufarbeitung - auch das wissen Sie - nun überhaupt nichts zu tun, sondern es hatte etwas mit den Brennelementkugeln aus dem Hochtemperaturreaktor zu tun, und nur dies war der Ausgangspunkt. Alle anderen Unterstellungen und Verdächtigungen, im Entsorgungskonzept sei etwas zu korrigieren, entbehren nun wirklich jeglicher Grundlage. Wer die Dinge mit verfolgt hat, weiß es und kann hier nicht anders sprechen. ({10})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schütz, Herr Minister?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ja, bitte.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, wie beurteilen Sie denn die Situation, daß wir bisher noch keine einzige ablesbare Arbeit in Richtung eines Planfeststellungsverfahrens für Zwischenlager in staatlicher Verwahrung haben, obwohl wir uns doch zu vergegenwärtigen haben, daß die Wiederaufarbeitungsanlagen nach unseren Verträgen 1992/1993 die Kokillen zurückschicken? Das ist nach meiner Vorstellung der Regelfall der Verwahrung bis zur Endlagerung.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Abgeordneter Schütz, ich hatte gerade versucht, Ihnen zu verdeutlichen, daß wir schon bis zur Stunde der Überzeugung sind, daß der § 6 auch diese Fälle abdeckt, daß wir aber durch die Aussagen des Oberverwaltungsgerichts in Münster dazu gekommen sind, dies noch einmal selbst ganz eindeutig und klar zu fixieren. ({0}) Ich muß ganz ehrlicherweise noch eines hinzufügen. Sehen Sie, wenn man sich denn so wie Sie - ich habe mit großem Interesse zugehört, was Sie im Zusammenhang mit der Entsorgungsfrage gesagt haben - auf die direkte Endlagerung bezieht, dann wird doch sicherlich davor eine Zwischenlagerung erforderlich werden. ({1}) Es wird sicherlich eine Zwischenlagerung erforderlich werden, die langfristig notwendig ist, ohne daß man vorher sagen kann, ob diese so zwischengelagerten abgebrannten Brennelemente hinterher einer Wiederaufarbeitung oder einer indirekten Endlagerung zugeführt werden können. ({2}) Dann haben wir später die Situation, daß wir in dem gleichen Lager einen Teilbereich haben, in dem eine Wiederaufarbeitung stattfindet, und einen Bereich, in dem eine direkte Endlagerung vorgesehen wird. ({3}) Alleine dies, meine Damen und Herren, zeigt bereits, daß die Klärung, die wir vorgenommen haben, richtig war und daß sie ohne jeden Hintergedanken und ohne jede Gefährdung von Informationsrechten der Bürger - ganz im Gegenteil: mit einer Verbesserung der Informationsrechte der Bürger - auch aufgegriffen worden ist. Ich begrüße ausdrücklich, daß als Ergebnis der Anhörung die im Regierungsentwurf enthaltenen Rechtsgrundlagen zur Überprüfung der ZuverlässigBundesminister Dr. Töpfer keit von in kerntechnischen Einrichtungen beim Umgang mit radioaktiven Stoffen tätigen Personen unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten verbessert und konkretisiert worden sind. Auch hier sei noch einmal gesagt: Wir haben hier vollinhaltlich das übernommen, was uns der Datenschutzbeauftragte gesagt hat. Wir haben das gegenüber dem Entwurf entsprechend geändert und verbessert. ({4}) Hier ist nicht eine Verminderung von datenschutzrechtlichen - ({5}) - Manchmal, Herr Abgeordneter Schäfer, kann ich ja verstehen, daß Sie nicht in das Wir der Regierung einbezogen werden wollen. So soll es auch noch eine ganze Zeit lang bleiben. Dann hätten wir das Wir auf der richtigen Seite. Das ist in Ordnung. Gleiches gilt für das Strahlenschutzregister des Bundesamts für Strahlenschutz. Diese Verbesserungen gehen auf die Formulierungshilfe - ich sage es noch einmal - des Bundesbeauftragten für den Datenschutz, Herrn Einwag, zurück, dem ich - ich möchte das an dieser Stelle deutlich sagen - sehr herzlich dafür danke, daß er uns in dieser Form konstruktive Hilfe angeboten hat. Datenschutzrechtliche Bedenken gegen die Zuverlässigkeitsprüfung des Strahlenschutzregisters, die in der ersten Lesung zum Teil geltend gemacht wurden, sind nicht begründet. Sie ist ganz im Gegenteil eine Verbesserung des gegenwärtigen Zustands, die gerade die Gewerkschaften herbeigebeten haben. Wir haben bisher Richtlinien - wie Sie auch wissen -, die nicht auf einer so klaren rechtlichen Grundlage stehen, wie das jetzt der Fall ist. Gerade deswegen steht das im Einklang mit dem, was die Gewerkschaften von uns erwartet haben, d. h. es steht nicht im Widerspruch zu diesen Erwartungen. Auch das wissen Sie, Herr Abgeordneter Schütz. Sie sollten das deswegen auch nicht anders beurteilen. Diese Bedenken - wenn sie überhaupt angebracht waren - sind durch die jetzt vom Umweltausschuß vorgeschlagene Fassung der §§ 12b und 12c des Atomgesetzes ausgeräumt. Ich halte es für einen bemerkenswerten Fortschritt, wenn wir jetzt unter Berücksichtigung des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts eine detaillierte, bereichsspezifische Regelung der Zuverlässigkeitsprüfung vornehmen. Das gilt auch für das Dosisregister. Wir können nicht auf der einen Seite eine Lebenszeitdosis festlegen - und das wohl offenbar auch unter dem Gesichtspunkt dessen, was die Opposition erwartet - und auf der anderen Seite hinterher nicht die Voraussetzungen dafür schaffen, daß sie auch bei denen, die mit diesen Dingen zu tun haben, überprüft und eingehalten wird. Dieses Gesetz ist alles andere als der Versuch, Informationen in Frage zu stellen. Angesichts der Breite dessen, was mit diesem Gesetz geregelt werden soll, ist festzustellen, daß mit Augenmaß vorgegangen worden ist. Es ist Sorge dafür getragen worden, daß der Umgang mit der Kernenergie noch sicherer wird. Ich danke allen, die an dieser Beratung konstruktiv teilgenommen haben. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Wollny. Frau Kollegin, könnten Sie Ihren Antrag auf Rücküberweisung in Ihrem Diskussionsbeitrag gleich mit begründen? Das wäre hinsichtlich der Zeit sehr schön.

Lieselotte Wollny (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002560, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das kann ich nicht in sieben Minuten. Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Die sind mit Damen und Herren auch gemeint. Was wir in den letzten Wochen im Zuge der Beratungen dieses Gesetzes an Rechtsverdrehungen und Ignoranz - auch heute noch - von seiten der Regierung und der Regierungsparteien erlebt haben ({1}) - Rechtsverdrehung! - , läßt bei mir Zweifel aufkommen, ob das noch etwas mit Demokratie zu tun hat und ob man sich den Luxus von über 500 bezahlten Politprofis nicht einfach ersparen sollte. ({2}) Meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, Sie setzen auf fast diktatorische Art und Weise ein Gesetz durch ({3}) und scheinen für die Sicherung des Fortbestandes der Atomindustrie zu jeder Schandtat bereit zu sein. ({4}) Es ist ja nicht nur so, daß mit diesem Gesetz eine Bundesatombehörde geschaffen wird; das haben wir alles gehört. Vielmehr wird das Atomgesetz in seiner Substanz auch wesentlich verändert. Wir haben von Anfang an gesagt, daß wir die materiellen Änderungen der §§ 6 und 12 entschieden ablehnen, weil sie nach unserer Auffassung verfassungsrechtlich nicht haltbar sind. Die Tatsache, daß den mitberatenden Ausschüssen kaum Gelegenheit zur Mitsprache gegeben wurde und der Rechtsausschuß zu den so wesentlichen Änderungen des Atomgesetzes gar nicht erst gefragt wurde, unterstreicht die Absurdität dieses Gesetzgebungsverfahrens. ({5}) Warum haben Sie von der Regierung es bloß so eilig mit diesem Gesetz? Der Name „Bundesamt für Strah11254 lenschutz " ist ohnehin nur Etikettenschwindel. Ein zentrales Dosisregister für strahlenexponierte Personen soll dort errichtet werden, um mit diesen Daten dann, wenn ich Herrn Oberhausen von der SSK in der Anhörung vom 8. Mai richtig verstanden habe, die unbequeme Diskussion über die Wirkung niedriger Strahlendosen endlich aus der Welt zu schaffen. Das ist auch eine Auffassung von Strahlenschutz. Eigentlich geht es bei dem Amt jedoch um eine zentrale Behörde zur Durchsetzung der Endlagerung. Herr Merz von der KFA Jülich hat in aller Offenheit gesagt, daß man von dem Amt eine bessere Durchsetzungskraft erwarte, um die Endlagerprojekte endlich zu realisieren. ({6}) Verschwiegen wird allerdings, daß die Endlager bisher nicht an den Behörden gescheitert sind, sondern an den untauglichen Konzepten. Ein Bundesamt wird die Endlager Gorleben und Konrad nicht sicherer machen. Ein zentrales Amt kann sich allerdings über alle Sicherheitsbedenken besser hinwegsetzen. Als Betreiberin, Antragstellerin und betraut mit der gutachterlichen Tätigkeit und den Forschungsaufgaben dürfte dieses erst recht möglich sein. Wenn dann die Endlager für europäische Abfälle geöffnet werden, wird dieses Amt mit seiner Machtkompetenz auch dieses zu legitimieren wissen. Ihre bisherigen Beteuerungen, daß die Endlagerung nationale Aufgabe bleibe, ist von gleichem Wert wie Ihre jahrelangen Beteuerungen, daß es notwendigerweise eine nationale Wiederaufarbeitungsanlage geben müsse. Oder sind Sie bereit, eine juristisch verbindliche Regelung zu finden, die die Lagerung von ausländischem Müll in der Bundesrepublik definitiv für immer ausschließt? Mit der Änderung des § 6 des Atomgesetzes versuchen Sie nun auf abenteuerliche Art und Weise, Ihre Flickschusterei in Sachen Entsorgung auf die Spitze zu treiben. ({7}) Wenn die Angelegenheit nicht von so ernster und weitreichender Bedeutung wäre, könnte man sich darüber amüsieren, wie hier mit einer wahren Argumentationsakrobatik versucht wird, aus definitiv atomaren Abfällen Kernbrennstoffe zu machen. Ich hoffe sehr und bin eigentlich davon überzeugt, daß sich Ihre Sichtweise juristisch nicht halten lassen wird. Aber was steckt dahinter? Weil Sie ein Planfeststellungsverfahren scheuen, weil Sie sich aus der Verantwortung für die Entsorgung stehlen wollen, überlassen Sie die hochaktiven Abfälle der privaten Lagerung. ({8}) Sie berufen sich auf die Ausnahmeregelung des § 9 a Abs. 2 des Atomgesetzes und machen die Ausnahme zur Regel. Niemand hat bisher unsere Frage beantwortet, welche Abfälle in Zukunft eigentlich noch in staatliche Verwahrung genommen werden sollen. In den Beratungen haben Sie sich beharrlich ausgeschwiegen. Ist es nicht so, daß ab 1993 die Abfälle aus der Wiederaufarbeitungsanlage in Frankreich zurückkommen und Sie zeitlich ein ordentliches Planfeststellungsverfahren für ein staatliches Zwischenlager nicht mehr realisieren können und deshalb auf die Rechtsverbiegung in dem neuen § 6 des Atomgesetzes verfallen sind? ({9}) Man sollte an dieser Stelle auch festhalten, daß mit § 6 in dieser Fassung die Zwischenlager zu Endlagern werden; dieses erst recht, wenn Sie mit der Realisierung der Endlagerprojekte scheitern werden, was bei objektiver Betrachtung außer Zweifel stehen dürfte. Doch was interessieren diese Regierung Fakten, Sicherheit und Schutz der Bevölkerung und der Umwelt vor den Folgen der Atomenergie, vor allem wenn es um die ökonomischen Interessen der Atomlobby geht? Der neue § 6 des Atomgesetzes bedeutet Narrenfreiheit für die Bundesregierung und die Atomindustrie im Umgang mit den sich auftürmenden atomaren Abfallbergen. ({10}) In der Logik Ihrer Argumentation in bezug auf die angebliche Rechtmäßigkeit des § 6 sollten Sie dann auch soviel Konsequenz aufbringen und den § 9 des Atomgesetzes gleich ganz abschaffen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Wolfgramm.

Torsten Wolfgramm (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002557, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Es war seit jeher Position der Freien Demokraten, sich für die Stärkung und die Konzentration der Bundesaufsicht im kernenergetischen Bereich einzusetzen. Wir brauchen noch mehr Sicherheit bei der Kernenergie. Insbesondere der Transnuklear-Skandal hat uns darauf hingewiesen, daß es notwendig ist, ein Amt für Strahlenschutz zu fordern. Wir begrüßen sehr, daß wir heute einen entsprechenden Entwurf in zweiter und dritter Lesung behandeln können, und wir, die FDP, werden ihm auch zustimmen. Ich begrüße übrigens auch den Standort Salzgitter in Niedersachsen. ({0}) Ich will hier noch einmal feststellen, daß sich die Freien Demokraten ausdrücklich für eine Endlagerung einsetzen; auch die niedersächsischen Freien Demokraten. Wir brauchen das. Deswegen brauchen wir es auch vor Ort in Salzgitter. Mit dem Bundesamt wird der Bund in die Lage versetzt, die Grundlagen seiner bundesaufsichtlichen Tätigkeit zu stärken, die Endlagervorhaben stärker zu beschleunigen und den Strahlenschutz fortzuentwikkeln. Übrigens, Frau Kollegin Wollny, gestatten Sie mir, daß ich eine Anmerkung zu Ihren Ausführungen maWolfgramm ({1}) che. Bevor Sie sprachen und nachdem ich Ihre Presseerklärung gelesen hatte, hatte ich Zweifel, ob Sie den Gesetzentwurf überhaupt verstanden haben. ({2}) Nach Ihrer Rede allerdings sind diese Zweifel völlig beseitigt: Sie haben ihn leider nicht verstanden. ({3}) Sie haben eine fixe Vorstellung, Sie haben ein fixes Bild von Kernenergie, und da malen Sie alles hinein. Was da nicht hineinpaßt, findet nicht statt. (Dr. Daniels [Regensburg] [GRÜNE]: Und wie ist das bei Ihnen? - Wenn Sie meiner Rede noch zuhören, werden Sie noch darauf kommen. Das wird vielleicht das erste Mal sein, daß Sie in der Lage sind, von den Verbesserungen dieses Gesetzes Kenntnis zu nehmen. Wir haben diese Dinge übrigens zweimal sorgfältig im Innenausschuß beraten. Wir haben eine ganztägige Anhörung darüber durchgeführt. Es hat in der Vergangenheit eine ganze Menge von Gesetzen gegeben, die sich einer solch umfassenden Behandlung nicht erfreuen konnten. Ich meine, auch die Lesung am 9. März - das war schon vor einiger Zeit - und die Behandlung im Bundesrat haben das sehr deutlich gemacht. Herr Kollege Schütz, ich habe mit Interesse gehört, daß Sie, nachdem Sie am 9. März bestritten haben, daß das Land Nordrhein-Westfalen diesen Gesetzentwurf im Bundesrat voll mitträgt, heute sagen, die Länder hätten eine andere Meinung und Sie hätten Ihre Meinung dazu. Sie haben damals behauptet, NRW habe das so nicht getan. Ich freue mich, daß Sie das noch einmal nachgelesen haben. NRW hat allerdings gesagt - das unterstreichen wir sehr deutlich - , daß ein weiterer Novellierungsbedarf beim Atomgesetz festzustellen sei. Dem werden wir entsprechen. Das werden wir sorgfältig bedenken und beraten. Wir bitten den Umweltminister, sich dafür besonders zu engagieren, denn in dem dritten Bereich seiner Amtsbeschreibung ist dies ja besonders festgelegt. Wir haben mit den hier vorgelegten Änderungen einen wesentlichen Fortschritt erzielt. Es ist nämlich die Einführung der Öffentlichkeitsbeteiligung für besondere Verfahren der Zwischenlagerung vorgesehen. Das haben wir bisher nicht gehabt. - Sie negieren das; Sie haben das überhaupt nicht betrachtet. ({4}) Das ist ein Gewinn für den interessierten Bürger. Das haben wir noch nicht gehabt. ({5}) - Also ich werde in Zukunft keine Zweifel mehr im vorhinein haben, sondern ich werde in Zukunft gleich wissen, wie Sie argumentieren werden. ({6}) Wir haben uns bei dem von uns eingebrachten Gesetzentwurf ganz besonders auf die Vorschläge des Datenschutzbeauftragten konzentriert. Es hat, glaube ich, keinen Fall gegeben, in dem die Vorschläge des Bundesdatenschutzbeauftragten so optimal und so genau übernommen worden sind wie bei diesem Gesetz. Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat gesagt, er möchte nicht, daß wir auf das Gesetz zur Sicherheitsüberprüfung warten; vielmehr sollten wir jetzt bereits handeln. Es ist auch keine Überwachung vorgesehen - wie das vorhin vorgetragen worden ist - , es ist vielmehr eine reine Zuverlässigkeitsprüfung. Das ist etwas ganz anderes als eine Überwachung. Wir haben im übrigen nicht nur dem Volkszählungsgesetz voll Rechnung getragen, wir haben sogar einen Modellcharakter für bereichsspezifische Datenschutzvorhaben in der Zukunft festgelegt. Wir werden uns darauf beziehen können und es auch in ähnlich gelagerten Positionen übernehmen können. Die Regelungsbedürftigkeit - wenn ich das noch einmal im Hinblick auf die Anmerkung der SPD festhalten darf - hat der Bundesrat voll bejaht. Es ist auch nicht so, wie Sie das in Ihrer Presseerklärung dargestellt haben - Sie haben das eben nicht besonders vertiefen können - , daß die Länderkompetenzen ausgehöhlt werden. Die Länder wollen dieses Gesetz, und sie wollen das geregelt haben. Sie haben das ganz anders dargestellt. Jedenfalls wollen wir diese Novellierung des Bundesatomgesetzes und den Katalog - das ist besonders die Vorstellung der FDP - sorgfältig behandeln. Wir werden also mehr Sicherheit für den Bereich des Strahlenschutzes und für die Kernenergie haben. Eine Rücküberweisung des Gesetzes kommt für die Freien Demokraten nicht in Frage. Ich darf hier den Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung, Ludwig Uhland, einmal zitieren. Er hat in der Nationalversammlung, als eine ähnliche Verzögerungstaktik betrieben wurde, gesagt: Es ist genug nun unterhandelt es ist gesprochen fort und fort. Es ist geschrieben und gesandelt. So sagt nun Euer letztes Wort. Und wir sagen ja zu diesem Strahlenschutzgesetz. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort zur Geschäftsordnung nach § 82 hat der Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gemäß § 82 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung beantragt die Fraktion DIE GRÜNEN, den Art. 2 des Gesetzentwurfes über die Errichtung eines Bundesamtes für Strahlenschutz an die Ausschüsse und insbesondere an den Rechtsausschuß zurückzuverweisen. ({0}) In der Debatte ist überdeutlich geworden, daß der Art. 2 des Gesetzentwurfes weitreichende Änderungen des Atomgesetzes enthält, vor allem in den §§ 6 und 12. Diese Änderungen des Atomgesetzes sind von so wesentlicher Natur, daß eine Beratung durch den Rechtsausschuß unerläßlich ist, dies um so mehr, als gegen diese Änderungen erhebliche rechtliche, sogar gravierende verfassungsrechtliche Bedenken erhoben werden. Dies hat sich auch in der Anhörung am 8. Mai 1989 gezeigt. Art. 2 des Gesetzentwurfes hat mit der Richtung des Bundesamtes für Strahlenschutz nichts, aber auch gar nichts zu tun. Meine Fraktion hat trotz der im Schnelldurchgang durchgeführten Beratungen im Umweltausschuß wiederholt auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Wir haben auch deutlich gemacht, daß eine Mitberatung durch den Rechtsausschuß unbedingt notwendig ist. Dies können Sie auch dem vorliegenden Bericht entnehmen. Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN lehnt den vorliegenden Entwurf ab. Als kleine Oppositionspartei müssen wir allerdings hinnehmen, daß die Mehrheit dieses Hauses anderer Meinung ist. Unser Geschäftsordnungsantrag bezieht sich deshalb auch nicht auf die gesamte Vorlage, sondern nur auf einen Teil, bei dem das Mitspracherecht des Rechtsausschusses nicht gewährleistet worden ist. Hier sehen wir demokratische Gepflogenheiten aufs schärfste verletzt. ({1}) Meine Damen und Herren, aus reinem politischem Opportunismus wird eine ordnungsgemäße Beratung wesentlicher Änderungen des Atomgesetzes verhindert. Ich darf darauf hinweisen, daß die Voten der mitberatenden Ausschüsse erst nach der abschließenden Beratung im Umweltausschuß vorgelegen haben und somit eigentlich bedeutungslos sind. Abschließend möchte ich darauf verweisen, daß die Forderung der GRÜNEN nach einer Mitberatung von Art. 2 des Gesetzentwurfes im Rechtsausschuß im Bericht, der Ihnen vorliegt, enthalten ist und dieser Forderung, ausweislich des Berichts nicht widersprochen wurde. Ich möchte denjenigen sehen, der hier, im Plenum, wirklich allen Ernstes behaupten will, daß eine wesentliche Änderung des Atomgesetzes keine Angelegenheit des Rechtsausschusses sei. Im Interesse der Würde dieses Hauses bitte ich um Zustimmung zu unserem Antrag. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Schütz, Sie haben das Wort.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Meine Damen und Herren, wir stimmen dem Antrag zu. Ich habe schon vorhin darauf hingewiesen, daß wir den Art. 2 nicht seriös beraten haben. Wir haben den Rechtsausschuß nicht beteiligt, und wir haben insbesondere auch die Betroffenen nicht beteiligt. Ich meine, wir müssen das nachholen. Deswegen sind wir mit diesem Antrag einverstanden. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nach § 31 der Geschäftsordnung hat der Kollege Stahl das Wort zur Abstimmung.

Erwin Stahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002212, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zur Abstimmung möchte ich folgende Erklärung abgeben: Erstens. Ich bin der Meinung, daß es drei Jahre nach Tschernobyl eigentlich gut ist, daß der Deutsche Bundestag heute ein Gesetz verabschiedet, das insgesamt - wenn wir uns der damaligen Zeit erinnern - mehr an Rechtssicherheit und mehr an Sicherheit und Information für die Mitbürgerinnen und Mitbürger bringt; ({0}) denn unbestritten ist, daß damals in den Bundesländern und zwischen einzelnen Behörden durchaus Unterschiedliches dem Bürger dargelegt wurde, was sehr stark zur Verunsicherung der Bevölkerung beigetragen hat. Deshalb, so meine ich, ist es durchaus sinnvoll, dieses Bundesamt für Strahlenschutz einzurichten und die Aufgaben und Aufsicht insgesamt in diesem Bereich zu bündeln. Ich selbst habe Erfahrungen im Bergbau unter Tage mit der Bergbehörde gemacht. Wir haben ja nicht umsonst vor Jahren hier im Bundestag auch ein Bundesgesetz beschlossen, weil man damit eine Vereinheitlichung auch der Sicherheits-, der Prüfungs- und der Genehmigungsauflagen erreichen wollte. Ohne auf die hier heute in der Diskussion dargelegten juristischen Feinheiten und auf die verschiedenen Meinungen einzugehen, meine ich, es ist unbestritten, daß die Lösung der Entsorgungsfrage notwendig ist. Dies Gesetz trägt dazu bei und kann hilfreich sein. Ich würde mir wünschen, daß in dem einen oder anderen Punkt der Betrachtung und der Durchführung der Kernenergie-Entsorgung in diesem Hause nicht nur ein Gegeneinander bestünde, sondern auch das Miteinander etwas verstärkt zum Tragen käme. ({1}) Richtig ist, was mein Fraktionskollege Schütz unter anderem auch gesagt hat - dies ist auch Kritik an der Bundesregierung - , nämlich daß die Frage der Sicherheitsüberprüfung des Personals eine umstrittene Sache ist - das ist auch meine Meinung - und daß es hier notwendig gewesen wäre, Herr Bundesminister Töpfer, und Kollegen der CDU/CSU/FDP, ein Mehr an Beratungszeit einzuplanen. Diese Kritik richtet sich insbesondere an die Regierungsfraktionen. Aber meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, nach eingehender und sachlicher Abwägung des Für und Wider haben wir in der SPD-Fraktion beschlossen, dem Gesetz nicht zuzustimmen. Ich bin aber der Meinung, daß das Für der Regelung durch das Gesetz überwiegt. Deshalb werde ich nicht dagegen stimStahl ({2}) men, sondern mich der Stimme enthalten. - Schönen Dank. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich stelle jetzt zuerst den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Rücküberweisung an den Rechtsausschuß zur Abstimmung. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um ein Handzeichen. - Die Gegenprobe! - Enthaltungen? - Eine Enthaltung. Der Antrag ist abgelehnt. Ich schließe damit jetzt die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Errichtung eines Bundesamts für Strahlenschutz. Ich rufe die Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer dem zuzustimen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung sind diese Artikel, die Einleitung und die Überschrift angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat hier namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung. - Sind alle Stimmkarten abgegeben worden? Ich schließe die Abstimmung und bitte um Auszählung.*) Meine Damen und Herren, ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Zwölften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes - Drucksachen 11/4508, 11/4686, 11/4709 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({0}) - Drucksache 11/4765 - Berichterstatter: Abgeordnete Frau Dr. Götte b) Bericht des Haushaltsausschusses ({1}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/4780 Berichterstatter: Abgeordnete Frau Dr. Wegner Frau Rust Zywietz ({2}) Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4770 vor. s) Ergebnis Seite 11263 A Außerdem liegt ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 11/4768 vor, der sich sowohl auf diesen Tagesordnungspunkt als auch auf den Tagesordnungspunkt 34 - Bundeserziehungsgeldgesetz - bezieht. Damit Sie Ihre Zeit einteilen können, teile ich Ihnen mit, daß wir hierüber nach der Schlußabstimmung zu Tagesordnungspunkt 34 abstimmen werden. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Abgeordneter Werner.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetz machen wir einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung auf einen angemessenen Familienlastenausgleich. Das zweite Kind soll 30 DM Kindergeld mehr erhalten, und in Zukunft sollen Kindergeld auch junge Mütter erhalten, die sich in Ausbildung befinden oder wegen der Erziehung und Betreuung ihres Kleinkindes die Ausbildung nicht antreten können oder unterbrechen müssen. Ähnlich wie bei vergleichbaren Regelungen im Erziehungsgeldgesetz sollen damit insbesondere junge Mütter unterstützt und Schwangerschaftsabbrüche verhindert werden. Erwähnenswert ist auch, daß Ausbildungsvergütungen, vermögensbildende Leistungen und Einkünfte aus Vermietung in Verbindung mit steuerlichen Maßnahmen zur Förderung von Wohneigentum bei der Einkommensberechnung für das Kindergeld in einem höheren Umfang als bisher unschädlich gestellt werden. Diese Maßnahmen werden den Bund 1991 840 Millionen DM zusätzlich kosten. Die Koalition hat daneben einen Prüfungsauftrag an die Bundesregierung erteilt, nämlich zu überdenken, wie Kindergeld an deutsche Frauen von NATO-Angehörigen in unserem Lande geleistet werden könnte und ob bei Wehrpflichtigen bzw. Zivildienstleistenden das Kindergeld auch weiter nach Ordnungszahl gezahlt werden kann. Die Opposition hat es da leichter gehabt, meine Damen und Herren, denn sie hat nicht ganz unbegründet generell die Zahlung nach Ordnungszahl gefordert, was immerhin 500 Millionen DM kosten würde. Gleichwohl hat die SPD im Ausschuß in anerkennenswerter Weise dem Gesetzentwurf zugestimmt. Ich will im folgenden einige allgemeine Anmerkungen zum Familienlastenausgleich machen. Der Familienlastenausgleich insgesamt, meine Damen und Herren, wird seinem Namen noch bei weitem nicht gerecht. ({0}) Die kinderbezogenen Leistungen werden den Eltern noch nicht einmal zu einem Drittel vom Staat ausgeglichen. Die öffentliche Tendenz, die den Eltern durch Kinder entstehenden Belastungen und Nachteile zu privatisieren, die Vorteile aus der Kindererziehung jedoch zu kollektivieren oder zu vergesellschaften, ist eine beklagenswerte Tatsache, die wir nur langsam, wenn überhaupt jemals, werden beseitigen können. Werner ({1}) Doch in der Politik geht es auch darum, Prioritäten zu setzen, meine Damen und Herren, und deswegen sage ich: Es wäre auch uns seitens der Union lieber gewesen, wir hätten das Kindergeld generell um 30 DM anheben können, ({2}) hätte uns der Bundesfinanzminister nicht glaubhaft vorgerechnet, daß im Augenblick das Geld dafür einfach nicht vorhanden ist. ({3}) So haben wir uns dem Rechenstift beugen müssen, obwohl das Kindergeld für das erste Kind seit 1975 bei 50 DM stehengeblieben ist. In Anbetracht des Finanzrahmens trafen wir die Entscheidung für das Erziehungsgeld für alle Mütter und für die Familie mit zwei und mehr Kindern, die heute gerade noch 39 % aller Familien - kinderlose Ehepaare und Alleinerziehende mit Kindern eingeschlossen - ausmachen. Max Wingen hat ja, wie Sie wissen, aufgezeigt, daß ein Ehepaar mit drei Kindern nur noch über 40 % des pro Kopf verfügbaren Einkommens eines vergleichbaren Ehepaares ohne Kinder verfügt. Das heißt: Transferleistungen und Kinderrabatte im Steuerrecht können diese Diskrepanz nicht ausgleichen. Diese Diskrepanz würde für die Familien mit drei und mehr Kindern auch durch den SPD-Vorschlag eines einheitlichen Kindergeldes nicht geringer; denn die SPD würde dieses Kindergeld ja durch die Beseitigung des Ehegattensplitting und des Kinderfreibetrages finanzieren. Konkret würde die SPD damit insbesondere die Kleinfamilie fördern. Wir wollen primär die kinderreiche Familie besonders fördern, da sie für die Entwicklung und Sozialisation der Kinder und für die Stabilität einer jeden Gesellschaft von herausragender Bedeutung ist. In Verbindung damit sind die bestehenden Einkommensgrenzen und Steuerfreibeträge zu sehen, deren problematische Wirkung in den jeweiligen Grenzbereichen allerdings auch wir sehen. Ich erinnere nur an die Sockelbeträge. Zunehmend problematisch wird für viele Familien im unteren Einkommensbereich auch, daß die realen Verfügungseinkommen aus Sozialhilfe - ich sage es ganz deutlich - rascher gestiegen sind als die aus Erwerbstätigkeit. Ich füge bewußt die Frage an, ob sich eigentlich eine Tarifpolitik, die der Arbeitszeitverkürzung Vorrang vor dem Realeinkommen einräumt, zugunsten der Familien auswirkt. Hat das nicht auch etwas damit zu tun, daß Familien im unteren Einkommensbereich dann in steigendem Maße in die Nähe der Sozialhilfe geraten? Und selbstverständlich - das sage ich auch bewußt - sehen wir insbesondere die großen Schwierigkeiten der Familien, die von Dauerarbeitslosigkeit betroffen sind. Die CDU/CSU, meine Damen und Herren, kennt die Schwierigkeiten, denen sich die Familien heute gegenübersehen. Sie handelt Schritt um Schritt, um den Familien zu helfen. ({4}) Alle Reformen haben familienfreundliche Komponenten. Wir werden auch in der nächsten Legislaturperiode - da bin ich der Signalsetzung seitens des Bundesfinanzministers dankbar - diese Politik für die Stärkung der Familie systematisch fortsetzen. Ein Element dieser Politik ist das heutige Gesetz, dem die CDU/CSU zustimmt. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Seuster.

Lisa Seuster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002167, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Heute ist nun endlich der große Tag gekommen, auf den wir Familienpolitiker schon so lange warten. ({0}) Der Kanzler hat es in seiner Regierungserklärung angekündigt. Zwei Familienministerinnen haben jeweils, wenn sie sich in unserem Ausschuß vorgestellt haben, angekündigt, daß das der Schwerpunkt ihrer Arbeit im Bereich des Familienministeriums sein würde. Ein ganzer Parteitag der CDU hat sich damit beschäftigt. Worum geht es? Es geht darum, den Familienlastenausgleich nun endlich zu verbessern. Um es noch einmal zu verdeutlichen: Wir sprechen vom Herzstück der Politik dieser Koalition. Und wie sieht dieses Herzstück aus? 30 DM mehr Kindergeld, nicht für alle, nein, nur für das zweite Kind. Der weitaus größte Teil der Kinder geht leer aus. Lediglich 2,3 Millionen von 12 Millionen Kindern bekommen dieses Kindergeld. Man kann sich also überlegen, daß 10 Millionen davon nicht betroffen sind. ({1}) - Ja, wir werden auch heute hier zustimmen, und zwar deshalb, weil wir glauben, besser als gar nichts sind diese 30 DM für 2,3 Millionen Kinder. Nur halten wir diese Erhöhung für völlig unzureichend. ({2}) Nach den lautstarken Ankündigungen der Regierung und insbesondere auch der Familienpolitiker muß man sagen: Es ist ein Armutszeugnis, was wir heute hier beschließen müssen. ({3}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns an den März dieses Jahres erinnern, als dieser Beschluß nach massivem Aufstand aus den Reihen der CDU/CSU-Fraktion gegen den eigenen Kanzler erkämpft werden mußte. Dieser Kanzler, der mit dem Anspruch antrat, die Familie werde zum Dreh- und Angelpunkt der Gesellschaftspolitik gemacht, hatte nämlich in der Koalitionsrunde ein noch schlechteres Ergebnis ausgehandelt. Danach sollten die Leistungen für die Familie erst in der nächsten Legislaturperiode wirksam werden und die Kindergelderhöhung für das zweite Kind durch Kürzungen beim Kindergeld für das erste Kind finanziert werden. Man wollte das seit 1975 nicht erhöhte Kindergeld einkommensabhängig machen, um damit Finanzmittel für die Erhöhung zu bekommen. Das muß man sich einmal verdeutlichen. Diese Vorstellungen zeigen eigentlich sehr eingehend, daß hier etwas geändert werden muß, daß der Familienlastenausgleich anders gestaltet werden muß. Es zeigt aber auch deutlich, wie sehr Anspruch und Wirklichkeit dieser Regierung auseinanderklaffen. ({4}) Noch schlimmer wird die ganze Angelegenheit angesichts der Tatsache, daß heute eine steuerliche Absetzbarkeit von Haushaltshilfen, wovon eindeutig nur die Höchstverdiener in dieser Gesellschaft profitieren können, beschlossen wurde. ({5}) Im Grunde wird für diesen Bereich mehr Geld als für die 2,6 Millionen Kinder aufgewandt. ({6}) - Doch, diese Rechnung stimmt. Vielleicht rechnen Sie es einmal nach. Niemand wird ernsthaft bestreiten, daß wir also dazu kommen müssen, den Familienlastenausgleich zu ändern. ({7}) Deshalb fordern wir die Bundesregierung auf, dem Deutschen Bundestag alsbald einen Gesetzentwurf vorzulegen, nach dem mit Wirkung vom 1. Juli 1990 für jedes Kind ein monatliches Kindergeld von mindestens 200 DM gewährt wird. Das Kindergeld in dieser Höhe soll die ungerechten steuerlichen Freibeträge, die einkommensabhängige Gewährung des Kindergeldes und den Kindergeldzuschlag ersetzen. Die Finanzierung kann durch die Umgestaltung der steuerlichen Kinderfreibeträge und eine sozial ausgewogene Begrenzung des Ehegatten-Splittings sichergestellt werden. Es ist finanzierbar, wenn man nur will. ({8}) Damit hätten wir einige Schwierigkeiten behoben. Das Erstkindergeld wäre erheblich erhöht worden, nämlich auf 200 DM; es bleibt jetzt immer noch bei 50 DM. ({9}) Wir hätten das Durcheinander beim Familienlastenausgleich abgeschafft, und selbst für die Mehrkinderfamilie wäre dann eine immer noch zumindest gleich gute Lösung gefunden worden. Wenn man will, kann man über den Grundfreibetrag auch da noch etwas draufsatteln. Übrigens befinden wir uns mit diesem Antrag, den wir heute zur Beschlußfassung stellen, in guter Gesellschaft. Ihre Kollegin Frau Pack hat in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates eine Rede zur Familienpolitik gehalten. In dieser Versammlung sind uns als Parlamente Empfehlungen an die Hand gegeben, die genau unsere Vorstellungen unterstützen: Erstens: Abschaffung von Gesetzen und Vorschriften im Hinblick auf die Zusammenveranlagung von Ehegatten und Anerkennung des Grundsatzes der getrennten Besteuerung von Ehegatten - also selbst in Europa sieht man das so, nur wir meinen, wir müßten bei dem alten System bleiben - , Einführung eines allgemeinen Kindergelds für alle Kinder anstelle steuerlicher Freibeträge. In der ganzen Rede von Frau Pack ist nicht einmal darauf hingewiesen worden, daß sie das anders sehe. Im Gegenteil, sie bezieht sich auf die steuerlichen Empfehlungen, ohne sie abzulehnen. Die SPD-Fraktion kann diesen Forderungen nur zustimmen, denn das sind unsere Forderungen seit langem. ({10}) Ich möchte Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsfraktion, auffordern, hier heute das zu tun, was Sie auch in Europa tun, nämlich dem zuzustimmen, und nicht mit zwei Stimmen zu sprechen, einmal Ja in Europa, Nein in Bonn. Deshalb: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Ich glaube, wir hätten den Familien viel geholfen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Eimer.

Norbert Eimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000458, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Am 11. Mai haben wir, d. h. die Koalition, in der ersten Lesung zugesagt, daß wir das Zweitkindergeld um 30 DM auf 130 DM monatlich erhöhen werden. Diese Zusage wird heute vollzogen. Einige Klarstellungen, die bei der Ausschußberatung ergänzt wurden, ändern am materiellen Recht nichts. Im Rahmen der finanziellen Möglichkeiten und unter Berücksichtigung einer soliden Haushaltspolitik ist dies eine gute Lösung und verbessert den Familienlastenausgleich deutlich. ({0}) Damit könnte man die Begründung zu diesem Gesetz auch schon beenden. Die Opposition hat aber in der ersten Lesung und auch heute wieder darauf hingewiesen, daß ihr das alles viel zu wenig sei. Das ist die übliche Tour einer Opposition, die sich für die Solidität des Haushalts nicht verantwortlich fühlt. ({1}) Ich wünsche mir als Familienpolitiker auch mehr als das, was wir heute geben können. ({2}) Aber man muß sich nach der Decke strecken. Wohltaten auf Pump, Herr Kollege, gibt es nicht mit Liberalen. Die Opposition hat auch einige systematische Änderungen und Ausweitungen vorgeschlagen. Die Koalition hatte diese schon vorher ins Auge gefaßt. Es handelt sich zum einen darum, ob deutschen Ehepartnern von NATO-Angehörigen, die nicht dem deutschen Sozial- und Steuerrecht unterliegen, Kindergeld gewährt werden kann, und zum zweiten darum, Eimer ({3}) ob beim Ausscheiden von Kindern aus der Kindergeldleistung wegen Ableistung des Wehrdienstes oder Ersatzdienstes die Ordnungszahl der anderen Geschwister beibehalten werden kann. Dieser etwas schwierig darzustellende Sachverhalt würde für die Betroffenen eine Erhöhung des Kindergeldes gegenüber dem jetzigen Stand bringen, denn dieser bedeutet im Klartext: Geht der älteste Sohn zur Bundeswehr, so wird das zweite Kind nach dem Kindergeldgesetz Erstkind, das dritte Kind Zweitkind, und das wesentlich höhere Drittkindergeld entfällt. Gezahlt wird dafür das wesentlich geringere Erstkindergeld. Ich könnte mich mit einer Änderung der derzeitigen Lösung sehr befreunden, d. h., die Ordnungszahl der Kinder bliebe erhalten. Allerdings habe ich Zweifel, wenn man diese Regelung nur auf diejenigen bezieht, die wehrpflichtig sind. Deswegen ist es notwendig, daß hier eine Überprüfung stattfindet, ob dies mit der Verfassung in Einklang zu bringen ist. Dieses Problem wäre aber wesentlich entschärft, wenn man den Forderungen der FDP gefolgt wäre, die sich seit jeher für eine Erhöhung des Erstkindergeldes einsetzt, das bekanntlich seit langem nur 50 DM beträgt. Wir müssen bei allen zukünftigen Überlegungen um die Erhöhung des Kindergeldes zuerst an die Erhöhung des Erstkindergeldes denken, auch wenn dies wegen der großen Zahl der Erstkinder nur kleinere Beträge sein können. Je mehr die Leistungen für Erst-, Zweit-, Dritt- und Viertkinder aneinander angeglichen werden, desto weniger stellt sich das vorher beschriebene Problem und desto unbürokratischer wird die Auszahlung des Kindergeldes. Diese Überlegungen sind aber in der Vergangenheit leider immer wieder gescheitert, auch an der SPD. Weil die Begründung dieses Gesetzentwurfes nur weniger Worte bedarf, will ich die Gelegenheit dieser Verabschiedung aber nutzen, um darauf hinzuweisen, daß wir uns der Mühe unterziehen müssen, das gesamte System des Kindergeldes zu überprüfen und zu verändern. Insbesondere bedarf das System der Einkommensgrenzen beim Kindergeld und darüber hinaus auch bei anderen Transferleistungen der Überprüfung. Wenn die Einkommensgrenze z. B. nur um 1 DM überschritten wird, so verringert sich das Kindergeld, wenn man drei Kinder hat, um 1 680 DM im Jahr. Ich glaube, daß es nicht genügt, daß wir in Zukunft nur die Finanzen für den Familienlastenausgleich erhöhen, sondern es sind neue Überlegungen für eine bessere Systematik notwendig. Auf den Vorschlag der SPD, eine Erhöhung des Kindergeldes durch eine Kappung des Familiensplittings zu finanzieren, will ich kurz noch eingehen. Ich bin aus zwei Gründen dagegen. Der erste Grund: Diejenigen, die ihr Einkommen nicht aus lohnabhängiger Arbeit beziehen, sondern durch selbständige Arbeit oder Kapitalbesitz, können durch die Verlagerung des Einkommens diese Kappung umgehen. Damit gibt es ein Schlupfloch für diejenigen, die besser verdienen. Aber genau das sollte die SPD eigentlich nicht wollen. Der zweite Grund ist für mich aber sehr viel wesentlicher: Für mich ist die Ehe eine Gemeinschaft, in der das gemeinsam verdiente Geld auch gemeinsam ausgegeben und damit auch gemeinsam bewertet werden muß. Dieses Prinzip der vollkommenen Partnerschaft bedeutet, daß jeder Partner die Hälfte des gemeinsamen Einkommens zur Verfügung hat. Wenn man das konsequent zu Ende denkt, dann bedeutet das, daß diejenigen Partner, die verheiratet sind und das gleiche Einkommen beziehen, so wie es nach unseren Vorstellungen der Partnerschaft in einer Ehe sein sollte, einen finanziellen Vorteil gegenüber denen hätten, die verheiratet sind und zusammen ein gleich hohes, aber auf die Ehepartner unterschiedlich verteiltes Einkommen haben. Dies widerspricht unseren Vorstellungen von Ehe und Familie, aber auch dem Geist des Grundgesetzes. ({4}) Es muß in einer Ehe gleichgültig sein, ob das gemeinsame Geld nur ein Ehepartner verdient, beide gemeinsam in unterschiedlicher Höhe dazu beitragen oder ob beide genau die gleiche Einkommenshöhe haben. Der SPD-Vorschlag setzt sich über diese Selbstverständlichkeit hinweg. Damit bricht aber auch der angegebene Finanzierungsvorschlag der SPD für ihre Kindergeldvorstellungen in sich zusammen. Ich fasse zusammen: Die Erhöhung des Kindergeldes um 30 DM beim Zweitkind ist nicht das Optimum dessen, was ich mir vorstellen konnte; ({5}) aber es verbessert den Familienlastenausgleich deutlich und ist finanzpolitisch und haushaltspolitisch seriös. Ich bitte Sie: Stimmen Sie diesem Gesetz zu. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe fast das Gefühl, daß man das Gesetz erst jetzt diskutiert, weil es eigentlich peinlich ist, es zu einer Zeit zu diskutieren, wo man mehr Aufmerksamkeit hat. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und habe, weil ich es wichtig finde, zu sehen, wie sich Gesetze wirklich auf die Menschen auswirken, auch einmal eine Rechnung aufgestellt. Ich habe etwas anders gerechnet als Frau Seuster: Wir haben so ungefähr 10 Millionen Kinder. 5,2 Millionen leben in Familien, in denen sie Einzelkind sind. Also, das heißt: Diese 5,2 Millionen sind von der Kindergelderhöhung überhaupt nicht betroffen. Dann habe ich weiter gerechnet: Was hat es, wenn für das zweite Kind 30 DM bezahlt werden, für Auswirkungen auf die Familie mit zwei Kindern? Da habe ich gesehen, daß die dann 7,50 DM in der Woche mehr hat. Da es zwei Kinder sind und wir das auf die Kinder aufteilen, haben wir dann pro Kind pro Woche 3,75 DM mehr. Wenn wir eine Familie mit drei Kindern haben - denn die Familien sind ja auch betroffen - , dann hat die pro Kind 2,54 DM in der Woche mehr. Und wenn das eine Familie mit vier Kindern ist - und die Großfamilie wollten Sie ja ausdrücklich förFrau Schoppe dern, habe ich soeben gehört, Herr Werner - , dann hat diese Familie 1,90 DM in der Woche mehr; so. ({0}) - Na, das ist ein Ding. Jetzt frage ich mich: Wie sind andere davon betroffen? Wir haben eine halbe Million Kinder in unserer Gesellschaft, die von der Sozialhilfe betroffen sind, weil sie in Familien leben, die Sozialhilfe beziehen. Diese halbe Million Kinder profitiert von der Kindergelderhöhung überhaupt nicht, weil ja das Kindergeld auf die Sozialhilfe angerechnet wird. ({1}) Wir haben weiterhin 1 Million Kinder, die in einer Familie, in Haushalten leben, in denen mindestens ein Elternteil von Arbeitslosigkeit betroffen ist. Und wir wissen: Wenn auch nur ein Elternteil von Arbeitslosigkeit betroffen ist, dann ist das Geld in einer solchen Familie knapp. Und wenn eine solche Familie, da sie mindestens zwei Kinder hat, 30 DM mehr kriegt, dann können wir auch nicht in Jubel ausbrechen. Wir haben weiterhin die Gruppe der Alleinerziehenden. Wie profitieren jetzt die Alleinerziehenden von 30 DM Kindergelderhöhung für das zweite Kind? Sie profitieren auch nicht besonders davon. Denn drei Viertel der Familien mit nur einem Elternteil sind gleichzeitig Einkindfamilien. Das heißt also: Drei Viertel der Alleinerziehenden profitiert von dieser Erhöhung, die Sie sich hier ausgedacht haben, überhaupt nicht. Und ich finde, man muß der Sache einmal so auf den Grund gehen. ({2}) Ich möchte noch eine weitere Gruppe anführen: In unserer Gesellschaft haben wir 26 700 Witwen, die unter 35 sind. 70 % von diesen jungen Witwen haben Kinder. Knapp die Hälfte dieser Witwen mit Kindern lebt von weniger als 1 400 DM im Monat. Daß die nun 30 DM im Monat dazukriegen, ist ja nun auch nicht besonders viel. Ich möchte zum Schluß kommen und sagen: Was Sie sich da ausgedacht haben, ist völlig danebengegangen. ({3}) Das ist überhaupt keine familienpolitische Leistung. Was Sie sich hier erlaubt haben, hat allemal nur einen symbolischen Wert, weiter ist es nichts. Es hilft unseren Familien nicht. Sie wissen, wir sind dafür, daß man ein bedarfsgerechtes Kindergeld zahlt. Da sind wir uns übrigens mit den evangelischen, mit den katholischen Familienverbänden einig. Ich hoffe, daß Sie so weit kommen und sich das einmal ein bißchen zu Herzen nehmen - auch diese Rechnung, die ich hier aufgemacht habe -, so daß das nächste Mal ein bißchen mehr herauskommt. Ich hoffe weiter, daß das Ministerium, das Sozialministerium, unser Ministerium um soziale Leistungen ein bißchen mehr kämpft und sich nicht immer abhängen läßt. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer. ({0})

Anton Pfeifer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001703

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat in den zurückliegenden Jahren in der Familienpolitik - das möchte ich eingangs einmal feststellen - insgesamt bedeutsame Schritte nach vorne gemacht. ({0}) Niemand kann bestreiten - das möchte ich gerade einmal nach Ihrem Beitrag sagen, Frau Kollegin Seuster - , daß wir im Familienlastenausgleich 1982 eine Phase der Stagnation hatten. ({1}) Und wahr ist auch, daß Familien mit Kindern zu dieser Zeit z. B. durch die Kürzungen des Kindergeldes für das zweite und für das dritte Kind sogar schlechter behandelt worden sind. ({2}) Das ist eine unbestreitbare Tatsache. ({3}) Sicher und unbestreitbar ist ebenso, daß wir im Gegensatz dazu den Familienlastenausgleich in den letzten Jahren Schritt für Schritt verbessert haben. ({4}) Dieses Gesetz - Frau Kollegin Schoppe, das möchte ich in bezug auf Ihre Rechnungen sagen - ist ein weiterer Schritt auf einer Linie, mit der wir den Familienlastenausgleich kontinuierlich verbessern wollen. ({5}) Das ist das eine. ({6}) Zum zweiten: Eine unserer Grundentscheidungen war, daß wir im Familienlastenausgleich zum dualen System zurückgekehrt sind. Ich habe mir das angeschaut, was die SPD in den Ausschüssen vorgetragen hat, nämlich die Abschaffung des dualen Systems und die Bezahlung eines gleichen höheren Kindergeldes für jedes Kind. Meine Damen und Herren, so neu sind diese Vorschläge nicht. ({7}) Wir hatten das auch in den 70er Jahren einmal. Sie haben in Ihrer Regierungszeit die Kinderfreibeträge abgeschafft, und Sie haben gesagt, daß Sie das, was Sie dadurch an Steuermehreinnahmen erzielen werden, über das Kindergeld in vollem Umfange den Familien mit Kindern zukommen lassen wollen. ({8}) Dieses Versprechen haben Sie zu keiner Zeit in Ihrer Regierungszeit in vollem Umfange eingehalten. Im Gegenteil! Als 1981 dann die Schwierigkeiten beim Haushaltsausgleich aufgetreten sind, haben Sie beim Kindergeld gekürzt. ({9}) - Sie haben beim Kindergeld gekürzt, das ist die Realität! Ich kann nur sagen: Ich kenne die Geschichte des Familienlastenausgleichs aus Ihrer Zeit und habe deshalb kein Vertrauen, daß Sie tatsächlich so verfahren, wie Sie es sagen. ({10}) Da ist die Rückkehr zum dualen System im Familienlastenausgleich allemal die bessere und richtige Entscheidung gewesen. ({11}) Wir sind deswegen dazu zurückgekehrt, weil wir Grundfreibeträge und Haushaltsfreibeträge für Alleinerziehende ebenso brauchen wie Kinderfreibeträge und Kindergeld. ({12}) Beim Wohngeld müssen die Kinder ebenso berücksichtigt werden wie das Zusammenleben mit älteren und pflegebedürftigen Familienangehörigen. Kinder müssen in der Sozialhilfe bedarfsgerecht berücksichtigt werden, die Erziehung von Kindern muß als eigenständige Leistung in der Alterssicherung anerkannt werden. Meine Damen und Herren, in allen diesen Punkten haben wir in den letzten Jahren und auch in dieser Legislaturperiode Verbesserungen erreicht. Ich erinnere nur an die Erhöhung der Kinderfreibeträge und des Haushaltsfreibetrages, ich denke an die Verbesserung des Erziehungsgeldes, das wir gleich anschließend beschließen werden. Natürlich gehört dazu auch die Verbesserung des Kindergeldes, die wir heute nicht für 2,4 Millionen Kinder allein, sondern für 2,4 Millionen Familien mit Kindern beschließen werden. Ich denke, das macht doch deutlich, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Eine letzte Bemerkung in diesem Zusammenhang: Ich begrüße es nachdrücklich, daß der finanzpolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Herr Glos, kürzlich zum Ausdruck gebracht hat, daß auch nach 1990 weitere Erhöhungen der Kinderfreibeträge geboten sind, ({13}) und zwar bis die Kinderfreibeträge die existentiell tatsächlich notwendigen Ausgaben für den Lebensunterhalt von Kindern erreichen. Meine Damen und Herren, das macht deutlich, daß wir auch in der nächsten Legislaturperiode weitere Verbesserungen des Familienlastenausgleichs erreichen wollen. ({14}) Selbstverständlich gehört für mich in diesen Zusammenhang auch, daß Familien, die wegen eines geringeren Einkommens und wegen mehrerer Kinder kein ausreichendes Familieneinkommen über Erwerbstätigkeit erwirtschaften können, beispielsweise über Kindergeldzuschlag und über weitere Verbesserungen des Kindergeldes ebenfalls einen gerechten Anteil an solchen Verbesserungen des Familienlastenausgleichs erhalten. ({15}) Meine Damen und Herren, wir sind mit diesem Gesetzentwurf einen Schritt weitergekommen. Ich darf Sie bitten, ihm zuzustimmen. ({16})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes. Ich rufe auf die Art. 1 bis 6, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Einstimmig angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Der Gesetzentwurf ist angenommen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4765 unter II, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/4686 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalition ist diese Beschlußempfehlung angenommen. ({0}) - Wenn ich es vorhin richtig verstanden habe, soll über die Entschließungsanträge erst nachher beim Tagesordnungspunkt 34 abgestimmt werden. Wenn es Ihnen recht ist, machen wir es so. ({1}) - Herzlichen Dank. Wir kommen also dann auf den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/4770 zurück. Bevor ich den nächsten Tagesordnungspunkt aufrufe, gebe ich Ihnen das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bei der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Errichtung eines Bundesamtes Vizepräsidentin Renger far Strahlenschutz bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 306 ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben 189 Mitglieder des Hauses gestimmt, mit Nein 112; 5 Mitglieder des Hauses haben sich der Stimme enthalten. 13 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Mit Ja haben 9 Abgeordnete gestimmt, mit Nein 4. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 306 und 13 Berliner Abgeordnete; davon ja: 189 und 9 Berliner Abgeordnete nein: 112 und 4 Berliner Abgeordnete enthalten: 5 Ja CDU/CSU Bauer Dr. Becker ({2}) Dr. Biedenkopf Biehle Dr. Blank Dr. Blens Böhm ({3}) Börnsen ({4}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Borchert Bühler ({5}) Carstens ({6}) Carstensen ({7}) Clemens Dr. Czaja Dr. Daniels ({8}) Frau Dempwolf Deres Dörflinger Dr. Dollinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehrbar Eigen Engelsberger Dr. Fell Fellner Frau Fischer Fischer ({9}) Dr. Friedmann Dr. Friedrich Fuchtel Funk ({10}) Ganz ({11}) Geis Gerster ({12}) Dr. Göhner Dr. Götz Gröbl Günther Dr. Häfele Hames Frau Hasselfeldt Hauser ({13}) Hauser ({14}) Hedrich Helmrich Herkenrath Hinrichs Hinsken Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker Dr. Hornhues Frau Hürland-Büning Dr. Hüsch Jäger Dr. Jenninger Dr. Jobst Jung ({15}) Kalb Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Kiechle Klein ({16}) Dr. Köhler ({17}) Kolb Kraus Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({18}) Lamers Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Frau Limbach Link ({19}) Link ({20}) Linsmeier Louven Lowack Maaß Frau Männle Magin Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Müller ({21}) Nelle Neumann ({22}) Dr. Olderog Pfeffermann Pfeifer Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Repnik Frau Roitzsch ({23}) Rossmanith Roth ({24}) Rühe Dr. Rüttgers Ruf Sauer ({25}) Sauer ({26}) Dr. Schäuble Scharrenbroich Schemken Scheu Schmidbauer Schmitz ({27}) Freiherr von Schorlemer Dr. Schroeder ({28}) Schulhoff Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Seesing Seiters Spilker Dr. Sprung Dr. Stark ({29}) Dr. Stercken Strube Susset Tillmann Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({30}) Vogt ({31}) Dr. Voigt ({32}) Dr. Warrikoff Dr. von Wartenberg Weirich Weiß ({33}) Werner ({34}) Frau Will-Feld Frau Dr. Wilms Wimmer ({35}) Windelen Dr. Wittmann Dr. Wulff Zeitlmann Zink Berliner Abgeordnete Buschbom Feilcke Kalisch Kittelmann Dr. Mahlo Dr. Pfennig Schulze ({36}) Straßmeir FDP Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum Beckmann Bredehorn Cronenberg ({37}) Eimer ({38}) Engelhard Funke Gattermann Genscher Frau Dr. Hamm-Brücher Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer Irmer Kleinert ({39}) Dr.-Ing. Laermann Dr. Graf Lambsdorff Mischnick Nolting Richter Rind Ronneburger Schäfer ({40}) Frau Dr. Segall Dr. Solms Dr. Thomae Timm Dr. Weng ({41}) Wolfgramm ({42}) Frau Würfel Zywietz Berliner Abgeordneter Hoppe DIE GRÜNEN Frau Eid Nein SPD Bamberg Becker ({43}) Frau Becker-Inglau Bernrath Bindig Dr. Böhme ({44}) Büchler ({45}) Buschfort Catenhusen Diller Dreßler Duve Dr. Emmerlich Erler Ewen Frau Faße Fischer ({46}) Frau Ganseforth Gilges Großmann Haack ({47}) Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Heistermann Heyenn Huonker Jahn ({48}) Frau Kastner Kastning Kiehm Kißlinger Koltzsch Koschnick Dr. Kübler Leidinger Lennartz Leonhart Frau Matthäus-Maier Müller ({49}) Nehm Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Oesinghaus Dr. Osswald Paterna Pauli Dr. Penner Dr. Pick Porzner Reimann Frau Renger Reschke Reuter Rixe Schäfer ({50}) Vizepräsidentin Renger Schanz Dr. Schöfberger Schreiner Frau Schulte ({51}) Seidenthal Frau Seuster Singer Frau Dr. Sonntag-Wolgast Steiner Stiegler Dr. Struck Voigt ({52}) Walther Frau Dr. Wegner Weiermann Frau Weiler Westphal Wiefelspütz von der Wiesche Wimmer ({53}) Wischnewski Dr. de With Zeitler Zumkley Berliner Abgeordnete Frau Luuk Wartenberg ({54}) DIE GRÜNEN Brauer Dr. Daniels ({55}) Eich Frau Garbe Hoss Kleinert ({56}) Kreuzeder Dr. Lippelt ({57}) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels Frau Oesterle-Schwerin Frau Saibold Frau Schilling Schily Frau Schmidt ({58}) Frau Schoppe Stratmann Such Frau Teubner Frau Trenz Frau Unruh Frau Vennegerts Volmer Wetzel Frau Wilms-Kegel Berliner Abgeordnete Frau Frieß Meneses Vogl Enthalten SPD Dr. Gautier Grunenberg Kühbacher Nagel Stahl ({59}) Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist angenommen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 34 auf: Zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften - Drucksachen 11/4509, 11/4687, 11/4708 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({60}) - Drucksachen 11/4767, 11/4776 - Berichterstatter: Abgeordnete Frau Schoppe b) Bericht des Haushaltsausschusses ({61}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/4779 Berichterstatter: Abgeordnete Frau Dr. Wegner Frau Rust Zywietz ({62}) Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP und ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf den Drucksachen 11/4768 und 11/4769 vor. Ich füge hinzu, daß wir dabei auch über den Entschließungsantrag auf Drucksache 11/4770 abstimmen. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 30 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Männle.

Prof. Ursula Männle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001405, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einem Monat begann ich meine Rede zum Bundeserziehungsgeldgesetz mit den Worten: „Wir halten Wort." Ich kann diesen Satz heute nur wiederholen. ({0}) Getreu unserem politischen Terminkalender verabschieden wir heute den Gesetzentwurf zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes. Dieser Gesetzentwurf, liebe Frau Seuster, muß durchaus im Zusammenhang auch mit dem Bundeskindergeldgesetz gesehen werden. Wir betrachten unsere familienpolitischen Leistungen als eine Einheit. Die breite Akzeptanz des Erziehungsgelds - immerhin nehmen 97 % der berechtigten Eltern diese familienpolitische Leistung in Anspruch - signalisiert uns sehr deutlich: Wir sind auf dem richtigen Weg. Ich freue mich, daß auch die SPD dies inzwischen einsieht. Im Ausschuß hat die SPD immerhin unserem Gesetzentwurf zugestimmt. Erziehungsgeld für Väter und Mütter, die sich vorwiegend oder ganz der Erziehung ihrer Kinder widmen, und Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie sind die Ecksteine unserer Familienpolitik. Umfragen bestätigen immer wieder, daß Frauen heute beides wollen - Familie und Beruf -, daß sie aber im Interesse der Kinder für eine befristete Zeitspanne ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen wollen, ohne sich von ihrem erlernten Beruf für immer verabschieden zu müssen. Diese befristete Zeitspanne wird nun um ein halbes Jahr erweitert. Die vorgesehene Stufenplanregelung, d. h. dreimonatige bzw. sechsmonatige Verlängerung des bisher einjährigen Erziehungsurlaubs für Eltern, deren Kinder nach dem 30. Juni 1989 bzw. nach dem 30. Juni 1990 geboren werden, bietet Frauen und Männern eine wesentliche Erleichterung für die Erfüllung ihrer Erziehungsaufgaben. Sie können ihre Kinder während der ersten Lebensphase, die für deren Persönlichkeitsentwicklung von entscheidender Bedeutung ist, selbst betreuen. Zweifellos wäre ein längerer Erziehungsurlaub wünschenswert. Daher appelliere ich an alle Bundesländer und vor allen Dingen auch an die SPD-regierten Länder, das Vorbild Bayern nachzuahmen und das familienpolitische Leistungsangebot der Bundesregierung durch ein Landeserziehungsgeldgesetz zu ergänzen. Insbesondere fordere ich das Land Berlin auf, durch die Aufstockung der Leistungen des BunFrau Männle des, die bisherigen eigenen Leistungen nicht einzuschränken. Meine Damen und Herren, in den Ausschußberatungen zum vorliegenden Entwurf einer Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes wurden wichtige Verbesserungen vorgenommen. Wir haben sie vor kurzem angekündigt und tatsächlich in die Tat umgesetzt. Dazu zählt z. B. die Gewährung von Erziehungsgeld für jedes Kind bei Mehrlingsgeburten, die Anhebung der Altersgrenze von Adoptivkindern, für die Erziehungsgeld gewährt wird und die Zahlung von Erziehungsgeld an Auszubildende, die ihre Ausbildung fortsetzen möchten. Noch nicht abschließend geregelt ist die Frage der Einbeziehung der Soldaten und derjenigen, die Zivildienst leisten sowie die Frage der Ehegatten von NATO-Angehörigen. Wir haben hierzu einen Entschließungsantrag eingebracht, der klären soll, welche Regelungen erfüllt sein müssen, um diesen Personenkreis entsprechend im Soldatengesetz einzubeziehen. Bis zum 1. Oktober 1989 soll ein entsprechender Bericht der Bundesregierung vorliegen. Ich hoffe, daß dieser Bericht der Bundesregierung dazu führen wird, daß wir im Herbst endlich diese überfällige Entscheidung fällen können. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein eindrucksvolles Dokument zukunftsgestaltender Gesellschaftspolitik. ({1}) - Meinen Sie? ({2}) - Erziehungsgeld macht erstmals deutlich, lieber Herr Gilges, daß neben Erwerbstätigkeit auch andere Formen von Arbeit bewertet und berücksichtigt werden. Gerade Sie müßten diese Fortentwicklung des Arbeitsbegriffes durchaus positiv werten. ({3}) Ich wiederhole es deshalb noch einmal. Ich meine, es ist tatsächlich ein eindrucksvolles Dokument zukunftsgestaltender Gesellschaftspolitik. Es zeigt unsere praktische Toleranz gegenüber der Pluralität von Arbeits- sowie Lebensformen. Er ist, wie ich ausdrückte, eine wichtige Bedingung für die gesellschaftliche Anerkennung der Gleichwertigkeit von Familienarbeit und Erwerbstätigkeit. Ich bitte Sie, nachher in der Schlußabstimmung um Zustimmung zu diesem Gesetzentwurf und zum Entschließungsantrag. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Dr. Götte.

Dr. Rose Götte (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000701, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Verlängerung des Erziehungsgelds und der Bezugsdauer von Erziehungsgeld wird von uns Sozialdemokraten ausdrücklich begrüßt. Wir gönnen es den künftigen Müttern und Vätern, daß sie so die Chance bekommen, drei Monate länger - in späterer Zukunft sechs Monate länger - sich voll ihrem Kind widmen zu können. Wir gönnen es auch den Familienpolitikern der CDU, daß sie nun endlich nach dieser Niederlage beim Kindergeld auch einmal eine Erfolgsmeldung nach all diesen vorausgegangenen Mißerfolgen haben. Was mußten Sie seit der Wende nicht alles schlukken: die Kürzung des Mutterschaftsgeldes 1984 von 750 auf 510 DM, die Streichung des Schüler-BAföG, die Kürzung des Kindergeldes, die Streichung des Kinderzuschlages für Rentner und vieles mehr. Bis 1987, lieber Herr Staatssekretär, hat es gedauert, bis die familienpolitischen Ausgaben in absoluten Zahlen wieder das Niveau erreicht haben, das sie unter der Schmidt-Regierung einmal hatten. Das war für die Familienpolitiker in der CDU - das kann ich verstehen - auch deshalb um so schwerer zu verkraften, als sich die Regierung Kohl stets in fast gebetsmühlenhafter Wiederholung als besonders familienfreundliche Regierung empfohlen hat. ({0}) So enttäuschend, wenn nicht gar peinlich, die Verhandlungen über ein erhöhtes Kindergeld ausgegangen sind, die Verlängerung des Erziehungsgeldes war ein Erfolg, und wir freuen uns mit. Alle Fraktionen waren sich schnell einig, daß wir bei der Novellierung dieses Gesetzes auch einige bestehende Ungerechtigkeiten beseitigen wollten. Einigkeit bestand darüber, daß auszubildende junge Mütter oder Väter nicht mehr zwischen Erziehungsgeld und Ausbildung wählen müssen, sondern daß sie beides bekommen können. Einigkeit bestand auch darüber, daß bei Mehrlingsgeburten das Erziehungsgeld mehrfach gezahlt wird. Einigkeit bestand auch darüber, daß Adoptiveltern in ähnlicher Weise berücksichtigt werden sollten wie die natürlichen Eltern. Allerdings hielten wir einen Zeitraum von zwölf Jahren für angemessen. In diesem Zeitraum von zwölf Jahren sollten die Adoptiveltern das Erziehungsgeld in der vorgesehenen Länge beziehen können. Wir meinten, da es normalerweise so ist, daß Adoptiveltern das Kind nicht unmittelbar nach der Geburt bekommen, daß dieser Zeitraum notwendig sei und daß auch früher bezahltes Erziehungsgeld nicht angerechnet werden sollte. Das wollten Sie so nicht haben, und deswegen werden wir nachher über ihre Empfehlungen artikelweise abstimmen. Von den Anträgen, die wir Sozialdemokraten außerdem noch eingereicht haben, die leider keine Zustimmung gefunden haben, möchte ich die wichtigsten vier kurz erläutern. Erstens. Wir waren der Meinung, daß Alleinerziehende ein höheres Erziehungsgeld, nämlich 750 DM, bekommen sollten, weil sie sich in der Regel auch finanziell in einer besonders schwierigen Lage befinden. Die Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP konnten sich dieser Meinung nicht anschließen, obwohl doch auch Sie immer betonen, man müsse gerade den alleinerziehenden Müttern helfen, damit sie Schwangerschaft und Kind adoptieren können. Es ist eben zwischen Ihren Ankündigungen und verbalen Beteuerungen bei Debatten über Beratungs11266 Besetz und Memminger Prozesse und dem ein Unterschied, was Sie nachher in die Tat umsetzen. Frau Minister Lehr fand übrigens unseren Vorschlag auch nicht besonders gut. Mit ihrem Kommentar dazu setzt sie die Reihe ihrer berühmten goldenen Worte fort. Sie sagte nämlich: Ein erhöhtes Erziehungsgeld für Alleinerziehende könnte die Menschen davon abhalten, zu heiraten. Vielleicht ist jemand aus dem Familienministerium mal so nett und erklärt der Frau Minister mal die Sache mit dem Ehegattensplitting. Wir wollten - zweitens - , daß auch Soldaten das Recht haben, Erziehungsurlaub zu nehmen. Warum sollen eigentlich ausgerechnet die Soldaten, die es ohnehin schwerer haben als andere, Kontakt mit ihrem Kind aufzunehmen, weil sie so selten zu Hause sind, nicht die Chance haben, ihr Baby einige Monate zu betreuen. ({1}) Frau Männle hat sich in erster Lesung ebenfalls dafür ausgesprochen; ({2}) leider konnte sie sich bei Ihnen, meine Herren, nicht durchsetzen. ({3}) Die CDU/CSU war lediglich bereit, die Angelegenheit prüfen zu lassen. Lieber Herr Hoffacker, Sie hätten längst Zeit gehabt, dies prüfen zu lassen, wenn Sie dies wirklich wollen, oder Sie hätten mit der Verabschiedung dieses Gesetzes noch ein bißchen warten können, denn so eilig ist es gar nicht. ({4}) Es soll zwar am 1. Juli 1989 in Kraft treten, aber das bezieht sich nur auf die Verlängerung des Urlaubs. Die Kinder, die nach dem 1. Juli 1989 geboren werden, müssen erstmal 12 Monate gelebt haben, ehe sie bzw. ihre Eltern in den Genuß dieser neuen Vergünstigung kommen. Wir hätten also schon noch ein paar Monate Zeit gehabt, wenn Sie es wirklich gewollt hätten. Wir halten das für eine Ausrede, ein Auf-dielange-Bank-Schieben, weil Sie nicht den Mut haben, klar zu sagen, daß Sie das nicht wollen. ({5}) Auch unseren Antrag, deutsche Ehepartner von Mitgliedern der NATO-Streitkräfte ebenfalls in die Erziehungsgeldregelung einzubeziehen, wollen Sie nur prüfen. Hier, Frau Lehr, hätten Sie eher Anlaß, über gesetzliche Erschwernisse von Eheschließungen nachzudenken. - Leider ist Frau Lehr gar nicht da, wie ich gerade sehe. Wenn nämlich eine deutsche nicht berufstätige Frau ein Kind bekommt, hat sie Anspruch auf Erziehungsgeld. Dieser Anspruch erlischt aber, wenn sie einen amerikanischen Soldaten heiratet. Das ist ungerecht und hat gerade in meinem Wahlkreis, wo sehr viele deutsch-amerikanische Ehen existieren, zu zahlreichen Beschwerden geführt. Auch diesem Antrag wollen Sie zunächst nicht zustimmen. Hier schieben Sie ebenfalls die Entscheidung auf die lange Bank. Das heißt, es bleibt vorerst dabei: Deutsche Frauen, die einen NATO-Angehörigen heiraten, sind hier Bürgerinnen zweiter Klasse. Das darf so nicht bleiben. ({6}) Schließlich haben wir beantragt, jungen berufstätigen Müttern bzw. Vätern nach dem Erziehungsurlaub den Arbeitsplatz bis zum Ende des dritten Lebensjahres des Kindes zu garantieren. Es ist nicht zu verstehen, weshalb Sie von der Koalition sich auch diesem Antrag widersetzt haben. Sie reden doch dauernd davon, daß Sie den Erziehungsurlaub eigentlich auf drei Jahre ausdehnen wollen, ({7}) bis die Kinder alt genug sind, in den Kindergarten zu gehen. Wenn Sie das ernst meinen - wir stimmen Ihnen da ja zu -, aber zur Zeit die Mittel nicht haben, sollten Sie doch wenigstens vorbereitende Maßnahmen treffen, die dann diese Verlängerung des Erziehungsurlaubs auf drei Jahre um so einfacher machen. Eine Verlängerung der Arbeitsplatzgarantie ebenfalls auf drei Jahre wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung. ({8}) Ich habe meine Rede mit einem Lob begonnen und finde es schade, daß die Mängel, die dieses Gesetz nach wie vor hat, nicht rechtzeitig ausgeräumt werden konnten. Deswegen werden wir dem Gesetz ingesamt zwar zustimmen, Ihren Vorschlägen, die im Ausschuß beschlossen worden sind, aber zum Teil nicht. Wir bitten, Herr Präsident, über Art. 1 Nrn. 1 bis 3 der Ausschußempfehlungen einzeln abstimmen zu lassen. ({9})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Ich werde mich bemühen, das hinzubekommen. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Walz.

Ingrid Walz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002426, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Ich finde es eigentlich sehr bedauerlich, daß die Kollegin von der SPD angekündigt hat, daß die SPD gerade den Regelungen, die doch eigentlich ausschließlich den Interessen von Kindern und Eltern dienen, nicht zustimmen wird. Sie hätten eigentlich ohne Häme zustimmen können und Sie haben damit die weitgehende Zustimmung zu diesem wichtigen Gesetz entwertet. Meine Damen und Herren, eines der wichtigsten familienpolitischen Ziele dieser Legislaturperiode ist für uns die Verlängerung des Erziehungsurlaubs und der Bezugsdauer des Erziehungsgeldes. Frau Kollegin, eine alte Vorstellung der SPD, aber auch eine uralte Vorstellung der FDP ist damit erfüllt worden. Desalb ist nicht nur für die CDU heute Weihnachten, sondern auch für uns. ({0}) - Ich hoffe, Sie freuen sich darüber, daß dieses Gesetz heute verabschiedet wird. Mit den vorliegenden Regelungen, meine Damen und Herren, können wir etwas aufgreifen, was in der Vergangenheit in allen familienpolitischen Debatten eine Rolle gespielt hat, nämlich das Bestreben Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen. Mit der Einführung des Erziehungsurlaubs und des Erziehungsgeldes sind wir diesem Ziel ein erhebliches Stück nähergekommen. Wir meinen auch, daß sich die bisherigen Regelungen, also u. a. der Erziehungsurlaub für die Dauer von einem Jahr, positiv ausgewirkt haben. Die hohe Akzeptanz spricht dafür. Wir sind der Auffassung, daß wir auf diesem Weg weitergehen müssen. Besonders erfreulich ist - das wurde bisher noch nicht erwähnt - , daß die Arbeitgeber bewiesen haben, daß sie mit einem solchen familienpolitischen Gesetz, das auch einen gewissen Schutzcharakter hat, durchaus leben können. Es ist sogar so, daß die Diskussion um das Erziehungsgeldgesetz und seine Einführung die Unternehmen dazu gebracht hat, über mehr Flexibilisierung und über eine andere Arbeitszeitgestaltung nachzudenken. Unternehmen haben also unsere Ideen nicht nur als von oben verordnet empfunden und umgesetzt, sondern durch zahlreiche Betriebsvereinbarungen bewiesen, wie Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld weiter ausgebaut werden können. Einen Nutzen haben nämlich alle davon: Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Frauen und Männer und nicht zuletzt die Kinder. Ich darf in Erinnerung rufen - das ist auch noch nicht erwähnt worden - , daß Großunternehmen wie Bayer, IBM oder Messerschmitt-Bölkow gezeigt haben, wie über freiwillige Ausgestaltungen dieser Instrumente die Vereinbarkeit von Beruf und Familie betriebsintern erleichtert werden kann. ({1}) Bei weiteren Überlegungen müssen jedoch in Zukunft die Belange der mittelständischen Unternehmen berücksichtigt werden. Auch das ist heute in dieser Diskussion leider vergessen worden. ({2}) Denn dort und nicht in den Großunternehmen sind die meisten Männer und Frauen beschäftigt. Mittelständische Unternehmen sind heute und in Zukunft nicht ohne weiteres in der Lage, zusätzliche soziale Aufgaben, aber auch Ausgaben in die laufenden Geschäfte zu integrieren. Viele Unternehmen in diesem Bereich sind wirtschaftlich nicht stark genug, diese Belastungen zu tragen. Jährlich strömen 320 000 Frauen in das Erwerbsleben, mehr als jemals zuvor, viele nach einer Familienphase. Diese Frauen sind bereit und fähig, sich neuen Aufgaben zu stellen. Doch dazu brauchen sie auch die hilfreiche öffentliche Hand; denn nach dem Erziehungsurlaub tut sich für viele Frauen ein Nichts auf, weil geeignete Kinderbetreuungsmöglichkeiten fehlen. Abenteuerliche Lösungen - häufig zum Schaden der Kinder - sind die Folge. Wir meinen, daß ehrlicherweise darüber diskutiert werden muß, daß die Vereinbarkeit von Beruf und Familie nur dann gegeben ist, wenn Eltern, wenn Mütter kein schlechtes Gewissen haben müssen, was die Betreuung ihrer Kinder betrifft. ({3}) In allen Ländern wurden die Eltern in vielen Gemeinden insoweit häufig im Stich gelassen. Es mangelt ganz einfach an geeigneten Betreuungsmöglichkeiten, an Ganztagsbetreuung. Das gilt aber auch hinsichtlich der flexiblen Öffnungszeiten der Kindergärten. ({4}) Wir werden diesem Gesetz zustimmen. Wir sind froh, daß dieses Gesetz so formuliert wurde. Wir werden uns auch der Hausaufgaben, die übriggeblieben sind - sie wurden beschrieben - , ernsthaft annehmen. Ich danke Ihnen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schoppe.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß gar nicht, warum Sie vorhin so gelacht haben, als wir den 30 DM zugestimmt haben. Man kann doch der Meinung sein, daß das zuwenig ist, und doch kann niemand im Ernst dagegen sein, daß es wenigstens dieses Wenige gibt. Von dem Erziehungsgeldgesetz wird ja in sehr hohem Maße Gebrauch gemacht. 97 % derjenigen, die Kinder haben, nehmen es in Anspruch. Das ist eine erfreuliche Zahl. Aber es gibt eine andere Zahl, die mir zu denken gibt. Von diesen 97 % nehmen nämlich nur 1,3 % Männer Erziehungsurlaub. ({0}) Offensichtlich schließen sich in der Vorstellung vieler Männer heute noch Maskulinität und Pflege der Kinder aus. Denn nicht immer gilt das Argument, daß die Familie zuwenig Geld hat, wenn der Mann aus dem Berufsleben ausscheidet. Manchmal verdienen die Partner gleich viel. Die Männer wollen einfach nicht. Ich sage ja immer: Die Männer sind dermaßen konservativ, daß mit ihnen bisher nicht viel anzufangen ist. Ich möchte auf eines aufmerksam machen, was wir - ich glaube, wir alle - im Ausschuß vergessen haben. Ich kann von mir jedenfalls sagen, daß ich das völlig vergessen habe, obwohl es etwas ganz Wichtiges ist. Ich wollte eigentlich noch den Antrag stellen, daß auch nichteheliche Väter Erziehungsurlaub nehmen können. Wir wissen doch alle, wie sich die Verhältnisse ändern und daß nicht mehr alle, die mit Kindern zusammen leben, auch heiraten. Es muß daher eine Selbstverständlichkeit sein, daß auch nichteheliche Väter Erziehungsurlaub nehmen können. ({1}) Diesen Antrag können wir ja noch nachträglich stellen. Ich möchte noch auf folgenden Punkt eingehen. Bei den Adoptiveltern ist ja eine Änderung eingetreten. Die Adoptiveltern haben nach dem neuen Gesetz die Möglichkeit, in einem Zeitraum von drei Jahren Erziehungsurlaub zu nehmen. SPD und GRÜNE hatten den Antrag gestellt, daß die Adoptiveltern den Erziehungsurlaub nehmen können, bis die Kinder 12 Jahre alt sind; denn wenn Adoptivkinder in die Familie kommen, ist das natürlich für alle Beteiligten eine aufregende Geschichte. Da braucht man in der ersten Zeit eine besondere Betreuung und eine besondere Fürsorge. Deswegen wollen wir, daß sie es bekommen, bis die Kinder 12 Jahre alt sind. Ich habe mir einmal die Mühe gemacht und die relevanten Zahlen herausgesucht. 1987 gab es insgesamt 7 694 Adoptionen. In 2 969 Fällen waren die Kinder bis zu drei Jahre alt; 4 725 adoptierte Kinder waren älter. Mit den in Rede stehenden Regelungen werden also ca. 39 % der Adoptivkinder und Adoptiveltern betroffen. Aber 61 % derjenigen, die ein Kind adoptieren, können den Erziehungsurlaub nicht in Anspruch nehmen. Das finde ich weiterhin falsch. Deshalb ist es richtig zu sagen: Wir müssen das bis zum 12. Lebensjahr ausdehnen. Zum Schluß komme ich zu meinem Lieblingsthema zurück. Ich habe vorhin gesagt: Nur 1,3 % der Männer nehmen das in Anspruch. Diese Quote kann sich natürlich erhöhen, wenn wir die nichtehelichen Väter mit hereinnehmen. Die Quote kann sich auch erhöhen, wenn wir die Soldaten und die Wehrpflichtigen einbeziehen. Der berühmte Prüfauftrag von Herrn Hoffacker muß irgendwo in Ihrem Ministerium herumgeistern. Herr Hoffacker hat ja gesagt: Der Prüfauftrag läuft. Ich bitte, das noch einmal sehr ernsthaft zu prüfen. Hier besteht eine Ungleichheit, die nicht zu vertreten ist, wenn man aus der Gruppe derjenigen, die Erziehungsurlaub in Anspruch nehmen können, die Soldaten und die Wehrpflichtigen herausnimmt. Warum denn? ({2}) Für die Kinder der Soldaten und für die Kinder der Wehrpflichtigen ist es auch eine wunderschöne Erfahrung, wenn die Väter Erziehungsurlaub nehmen und bei ihnen sind. Den Männern, die Soldaten sind, und den Männern, die wehrpflichtig sind, wird es auch gut bekommen, wenn sie einmal sehen, wie sich das Leben mit Kindern wirklich darstellt. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat Herr Parlamentarischer Staatssekretär Pfeifer. ({0})

Anton Pfeifer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001703

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Kollege Gilges, nachdem Sie es zum zweitenmal ansprechen, möchte ich hier sagen: Frau Bundesministerin Professor Dr. Lehr befindet sich zur Zeit bei einer Veranstaltung der Akademie der Wissenschaft in Berlin. Sie war und ist für diese Akademie der Wissenschaft in hohem Maße engagiert. Wenn der neue Berliner Senat in bezug auf diese Akademie keine wissenschaftsfeindliche Position eingenommen hätte, wäre sie heute hier. ({0}) Aber bei dieser Situation ist es wohl richtig, daß sie ihrer Verantwortung für diese Akademie gerecht wird. ({1}) - Sie haben danach gefragt, und ich habe Ihre Frage beantwortet. Nun aber zu diesem Gesetz: Meine Damen und Herren, 1985 war das Gesetz über Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub ein umstrittenes Gesetz. Heute besteht über dieses Gesetz weithin Konsens. Ich finde, dies ist doch ein erheblicher Erfolg (Dr. Laufs [CDU/CSU]: Ja, bei 97 ({2}) und zeigt, daß wir in der Familienpolitik auch hier ein Stück vorangekommen sind. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sind ein Kernbestandteil unserer Familienpolitik geworden. Sie sind deswegen ein Kernbestandteil unserer Familienpolitik, weil sie vor allem vielen jungen Familien und vielen jungen Frauen helfen, Beruf und Familie miteinander zu verbinden. ({3}) Wenn sich heute 97 % der Eltern nach der Geburt eines Kindes dafür entscheiden, daß ein Elternteil - in der Regel die Mutter - vorübergehend, ganz oder überwiegend auf Erwerbstätigkeit verzichtet, dafür Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in Anspruch nimmt und diese Zeit dem Kind schenkt, meine Damen und Herren, dann ist das von einer familienpolitischen Tragweite, die wir heute vielleicht noch gar nicht im einzelnen ermessen können. ({4}) Vor diesem Hintergrund begrüße ich es sehr, daß es uns in dieser Legislaturperiode gelingt, Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub in zwei Stufen um ein weiteres halbes Jahr zu verlängern. Meine Damen und Herren, ich begrüße es darüber hinaus, daß im Rahmen dieses Gesetzes einige Verbesserungen erreicht werden, die hier geschildert worden sind. Ich begrüße es vor allem, daß einige Bundesländer erklärt haben, daß sie zusätzlich zu dem Erziehungsgeld des Bundes Erziehungsgeld auf Grund landesgesetzlicher Regelungen über eineinhalb Jahre hinaus zahlen werden. Baden-Württemberg hat beschlossen, daß ein weiteres Jahr Erziehungsgeld auf Grund einer landesrechtlichen Regelung gezahlt wird. Rheinland-Pfalz wird auf Grund einer landesrechtlichen Regelung weiter ErziehungsParl. Staatssekretär Pfeifer geld zahlen. Bayern wird ein auf landesrechtlicher Regelung beruhendes Erziehungsgeld neu einführen. Das heißt: In einer ganzen Reihe von Ländern sind wir heute auf dem Weg, zu drei Jahren Erziehungsgeld zu kommen. ({5}) Damit sind wir ein erhebliches Stück vorangekommen. Ich würde es nun wirklich begrüßen, wenn endlich auch die SPD-regierten Länder dem folgen würden. ({6}) Ich sage Ihnen eines: Wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, werden dieses Thema immer wieder auf greifen, und zwar so lange, bis auch SPD-regierte Länder begreifen, daß hier der richtige Weg eingeschlagen worden ist. ({7}) Meine Damen und Herren, ich bin dankbar für den Entschließungsantrag. Wir werden die Punkte, deren Überprüfung uns auferlegt worden ist, sehr sorgfältig prüfen. Ich bin auch dankbar dafür, daß wir Zeit bekommen, um eine sorgfältige Prüfung vorzunehmen, ohne daß dies die Verabschiedung des Gesetzes heute behindert. Denn wir brauchen das Gesetz, wenn z. B. der verlängerte Erziehungsurlaub am 1. Juli 1989 in Kraft treten soll. Aus diesem Grunde versichere ich: Wir werden sorgfältig prüfen und dem Parlament die Ergebnisse vorlegen. Aber heute bitten wir Sie darum, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen. ({8})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Abstimmung. Ich möchte mich jetzt noch einmal vergewissern, daß ich dem Petitum der SPD-Fraktion folge, wenn ich über Art. 1 ziffernweise abstimmen lasse. Das heißt im Umkehrschluß: Über die Art. 2 bis 7 kann ich dann wieder insgesamt abstimmen lassen. ({0}) - Gut, das reicht schon. Dann lasse ich jetzt über Art. 1 Nr. 1 abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Art. 1 Nr. 1 mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD und der GRÜNEN angenommen worden. Wir kommen dann zu Art. 1 Nr. 2. Wer für Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Dann ist Nr. 2 einstimmig angenommen. Ich lasse jetzt über Art. 1 Nr. 2 a abstimmen. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist auch dies einstimmig angenommen. Wir kommen dann zu Nr. 3 a. Wer für Art. 1 Nr. 3 a ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist Nr. 3 a mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Wer für Nr. 3 b ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Enthaltungen? - Gegenstimmen? - Einstimmig angenommen. Dann lasse ich über die Nrn. 4 bis 11 abstimmen. Wer für Art. 1 Nrn. 4 bis 11 ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dies ist einstimmig angenommen. Ich rufe nunmehr die Art. 2 bis 7 auf. Wer dafür ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist das angenommen worden. Wir haben noch eine Beschlußempfehlung, die sich unter dem Art. 1 a versteckt. Ich muß über diese Beschlußempfehlung gesondert abstimmen lassen. Wer für diese Beschlußempfehlung ist, den bitte ich also um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen mit Ausnahme der des Abgeordneten Hinsken, der zu diesem Tagesordnungspunkt - das kann ich bei der Gelegenheit sagen - eine persönliche Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung abgegeben und damit zu Protokoll gegeben hat *), gegen die Stimmen der Fraktion der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Meine Damen und Herren, dann treten wir in die dritte Beratung ein, kommen also zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich? - Gegen die Stimme des Abgeordneten Hinsken ist dieses Gesetz angenommen. Meine Damen und Herren, wir müssen jetzt noch über Entschließungsanträge abstimmen. Zunächst einmal empfiehlt Ihnen der Ausschuß auf Drucksache 11/4767 unter der Ziffer II, den Gesetzentwurf auf den Drucksachen 11/4687 und 11/4708 für erledigt zu erklären. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Ausschußempfehlung stattgegeben worden. Ich muß Sie jetzt, meine Damen und Herren, darauf aufmerksam machen, daß es bei dem Tagesordnungspunkt 33 übersehen worden ist, über einen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD abzustimmen. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/4770 vor. ({1}) - Ach so, dann habe ich das also nicht ganz richtig übermittelt bekommen. Dann lasse ich jetzt über den Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 11/4770 abstimmen. Wer für diesen Entschließungsantrag der Fraktion der SPD ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag abgelehnt worden, und zwar mit den *) Anlage 3a Vizepräsident Cronenberg Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der Fraktion der FDP bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN. Nun kommen wir zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes sowie zur Änderung des Bundeserziehungsgeldgesetzes und anderer Vorschriften. Er liegt auf Drucksache 11/4768 vor. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen. Wir stimmen nunmehr über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4769 ab. Wer stimmt diesem Entschließungsantrag der SPD-Fraktion zu? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Entschließungsantrag mit den Stimmen der CDU/CSU und der FDP gegen die Stimmen der SPD und DIE GRÜNEN abgelehnt. Meine Damen und Herren, damit haben wir alle Entschließungsanträge zu den beiden Tagesordnungspunkten erledigt. Ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 35 auf : Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Milchgesetzes - Drucksache 11/4467 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({2}) - Drucksache 11/4752 Berichterstatter: Abgeordneter Koltzsch ({3}) Verehrte Damen und Herren, der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Beratungszeit von 30 Minuten vor. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist der Fall. Dann können wir mit der Debatte beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Bayha.

Richard Bayha (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000120, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Mai dieses Jahres gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Vertragsverletzung durch den § 36 Milchgesetz öffnet den deutschen Markt für den Import von Imitationsprodukten aus den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft. Um es einmal anders und deutlich zu sagen: In der Bundesrepublik dürfen künftig bisher nicht zugelassene Kunstmilcherzeugnisse wie z. B. Sojakäse, Kaffeeweißer oder Butterimitate verkauft werden. Dies entschied der Europäische Gerichtshof in Luxemburg in einem Rechtsstreit zwischen der EG-Kommission und der Bundesrepublik Deutschland. Das seit dem 31. Juli 1930 geltende deutsche Reinheitsgebot für Milchprodukte verstößt damit gegen die Bestimmungen des freien Warenverkehrs in der Europäischen Gemeinschaft. Auch bei früheren Urteilen hatte der Europäische Gerichtshof bei uns geltende Reinheitsgebote z. B. für Bier und für Wurst, die zum Schutz der Verbraucher gemacht waren, nicht anerkannt. Leider entfällt mit dieser Entscheidung nunmehr auch ein seit 59 Jahren in Deutschland geltendes Reinheitsgebot, das mit gutem Grund einmal ausgesprochen worden ist, weil nämlich damals Schindluder mit Milchprodukten getrieben wurde. In der Urteilsbegründung bestreitet das höchste europäische Gericht den Mitgliedstaaten aber nicht das Recht, eigene Vorschriften zu erlassen, die die Produktion, die Zusammensetzung und die Vermarktung dieser Erzeugnisse regeln. Auch der Rat der Europäischen Gemeinschaften hat bereits am 2. Juli 1987 eine Verordnung über den Schutz der Bezeichnungen von Milch und Milcherzeugnissen bei ihrer Vermarktung erlassen. Danach ist es bei Nichtmilcherzeugnissen untersagt, durch Etiketten, Handelsdokumente, Werbematerialien, Werbungen irgendwelcher Art oder Aufmachungen irgendwelcher Art zu behaupten oder den Eindruck zu erwecken, es handele sich dabei um Milcherzeugnisse. Diese Verordnung ist in all ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft. Sie muß daher von den Herstellern bei der Kennzeichnung unmittelbar beachtet werden. Verstöße gegen diese EG-Bezeichnungsschutzverordnung selbst sind jedoch nicht mit Sanktionen bewehrt, d. h. das EG-Recht sieht hier keine Strafe vor. Aus diesem Grunde bedarf es zur Ahndung von Verstößen gegen diese Bezeichnungsschutzverordnung einer besonderen gesetzlichen Regelung im nationalen Milchgesetz. Im Klartext heißt dies: Wer ein Nichtmilcherzeugnis durch Etikett, Werbung oder Aufmachungen irgendwelcher Art als Milcherzeugnis ausgibt oder den Eindruck zu erwecken versucht, es handele sich um ein solches, der soll in Zukunft mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder einer Geldstrafe bis zu 50 000 DM bestraft werden können. Diese Neuerung sieht die Änderung des Milchgesetzes vor, das wir heute in zweiter und dritter Lesung verabschieden und das vom Bundesrat bereits im ersten Durchgang gebilligt worden ist. Meine Damen und Herren, Milchimitate sind Lebensmittel, die sich nach ihren Inhaltsstoffen und ihrer Beschaffenheit von naturreiner Milch und ihren Produkten unterscheiden, aber auf Grund ihres Aussehens mit echten Milchprodukten verwechselt werden können. Deshalb müssen unsere Verbraucher vor Täuschungen und unlauterem Wettbewerb geschützt werden. Eine strenge Kennzeichnungspflicht wird in Zukunft dazu beitragen. Folgende Regeln sollen gelten: Durch konkrete Kennzeichnung muß der Verbraucher das Milchimitat klar erkennen und von naturreinen Milchprodukten unterscheiden können. Zusatzstoffe bei der Herstellung von Milchnachahmungsprodukten müssen in der Bundesrepublik Deutschland zugelassen sein. Bezeichnungen wie „Sojamilch", „Pflanzenmilch", „Sojaquark", „Schlagcreme", „Imitationskäse" oder „Soja-Joghurt" usw. - das alles werden wir in Zukunft bekommen -, sind nicht erlaubt. Auch ein Käseimitat darf beispielsweise nicht als „Gouda", „Tilsiter" oder „Parmesankäse" bezeichnet werden. Dies und noch eine ganze Menge mehr ist notwendig, damit der Verbraucherschutz infolge des EuGH-Urteils nicht auf der Strecke bleibt. Für den Käufer wird es in Zukunft noch wichtiger als bisher sein, sich die entsprechenden Packungen und vor allem auch die Zutatenlisten genau anzusehen. Durch die gleichgelagerte Problematik beim Reinheitsgebot des deutschen Bieres und der deutschen Wurst sind unsere Verbraucher allerdings schon entsprechend sensibilisiert. Es wird sehr stark von ihrem Marktverhalten abhängen, ob die deutsche Milchindustrie in der Lage sein wird, an der Herstellung naturreiner Produkte festzuhalten. Bei dieser Gesetzesnovellierung haben wir eine Änderung des § 36 des Milchgesetzes nicht vorgesehen, weil dadurch auch in der Bundesrepublik der Erzeugung von Milchimitaten Tür und Tor geöffnet würden. Wir werden aber in den nächsten Wochen den Markt sehr genau beobachten müssen, damit aus dem Versuch, das Reinheitsgebot auf dem deutschen Milchmarkt zu erhalten, nicht ein Nachteil für die deutsche Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie wird. Es ist nicht die Absicht der deutschen Milchwirtschaft, naturreine Produkte durch Imitate zu ersetzen. Für den Fall allerdings, daß der Wettbewerb aus der EG dazu zwingt, müssen ganz schnell die rechtlichen Voraussetzungen geschaffen werden, daß auch deutsche Unternehmen die dann dringend notwendige Bewegungsfreiheit haben. Für die CDU/CSU-Fraktion kann ich erklären, daß wir diesem Gesetzentwurf zustimmen. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Koltzsch.

Rolf Koltzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Das Änderungsgesetz, über das wir heute hier in zweiter und dritter Lesung beraten, behebt ein Versäumnis auf europäischer Ebene. Im Juli 1987 hat der Rat der Europäischen Gemeinschaft die Bezeichnungsschutzverordnung für Milch und Milchprodukte beschlossen. Leider enthält diese aber keine Sanktionsregelung für Verstöße. Ziel dieser Verordnung ist der Schutz der natürlichen Zusammensetzung der Milcherzeugnisse. Die traditionellen Bezeichnungen der Milchproduktpalette sollen ausschließlich den reinen Milcherzeugnissen vorbehalten bleiben. Es darf nicht mit Symbolen wie grasenden Kühen, Milchkannen oder ähnlichen für Nichtmilchprodukte geworben werden. Der Verbraucher hat aber nach unserem Dafürhalten ein Recht darauf, sofort und unmißverständlich zu erkennen, ob es sich um ein reines Milchprodukt handelt oder nicht. ({0}) Nach unserem Dafürhalten darf dazu nicht erst ein langwieriges Studium der kleingedruckten Zutatenlisten erforderlich sein. Die konkurrierenden Nichtmilchprodukte oder Mischerzeugnisse haben hinsichtlich ihrer Gestehungskosten einen klaren Konkurrenzvorteil: Sie werden zum großen Teil aus pflanzlichen Rohstoffen hergestellt, die der Weltmarkt wesentlich billiger liefern kann, als es europäischen Milchbauern jemals möglich sein wird. Der größte ökonomische Anreiz besteht ohne Frage beim Ersatz des Milchfettes durch pflanzliche Fette, deren Erzeugungskosten um ein Mehrfaches niedriger sind. Daher sollten diese Produkte nicht noch obendrein unter falscher Flagge segeln und sich an das traditionell gute Image der Milch und der Milchprodukte anhängen dürfen. Diese Bezeichnungsschutzverordnung schiebt dem einen Riegel vor. Leider enthält diese Verordnung keine Strafbewehrung. Mit dieser Gesetzesänderung wird das hier und heute nachgeholt. Eine Vorschrift ohne Sanktion wird, so glauben wir, wahrscheinlich niemand befolgen. ({1}) Diese Lehre muß man aus den vergangenen zwei Jahren ziehen; denn in Großbritannien z. B. sind entgegen der Bezeichnungsschutzverordnung Produkte auf dem Markt, deren Verpackung der von Butter ähnlich ist oder die Milchkanne oder Melkschemel oder grasende Kühe zeigt. Wir sind der Auffassung, daß solchen Verbrauchertäuschungen ein Riegel vorgeschoben werden müßte. ({2}) Aus diesen, von mir hier aufgezeigten Gründen ist unsere Fraktion der Auffassung, daß wir dieser Vorlage unsere Zustimmung geben sollten. Zu fragen ist allerdings, warum erst heute gehandelt wird. Die Antwort lautet: Die Bundesregierung hat so lange gewartet, bis sie vor dem Europäischen Gerichtshof in Sachen Milchimitationsverbot gescheitert ist, gescheitert, wie das nach unserem Dafürhalten schon vorher beim Reinheitsgebot für Bier und beim Reinheitsgebot für Wurst der Fall war. Jetzt, nachdem das Kind im Brunnen liegt, bequemen Sie sich endlich, wenigstens ein bißchen zu handeln. Lange Zeit haben Sie nutzlos, so glauben wir, Energien in einen von vornherein aussichtslosen Prozeß gesteckt. ({3}) Als wir Sie in der Vergangenheit aufgefordert haben, die deutsche Milchwirtschaft mit geeigneten Maßnahmen auf den allgemein erwarteten Wegfall des Milchimitationsverbotes vorzubereiten, mußten wir uns von Ihnen als Kapitulanten oder Defätisten hinstellen lassen. Bis heute, so glaube ich, hat die Bundesregierung keine umfassende Bestandsaufnahme über die zu erwartende Marktentwicklung nach Zulassung der Imitate vorgelegt. Eine mehrfach versprochene Studie liegt immer noch nicht vor. Jedoch zeigt ein Blick über die Grenzen in andere EG-Länder, daß Imitate oder Mischprodukte, beispielsweise im Bereich der Streichfette, erhebliche Marktanteile erobern können. So haben die Mischfette in Großbritannien inzwischen 25 To des englischen Butterabsatzes erreicht. Erreicht wurde dieser Marktanteil - auch das muß bedacht werden, meine Damen, meine Herren - durch einen sehr hohen Werbeaufwand, der nach Schätzung von Experten bis zu einem Fünftel des Umsatzes beträgt. ({4}) Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11. Mai dieses Jahres sind Milchimitate auch bei uns keine theoretische Frage mehr. Dieses Urteil hebt das Importverbot für Milchimitationsprodukte auf, das sich aus dem § 36 des deutschen Milchgesetzes von 1930 ableitet. Danach dürfen Hersteller aus EG-Ländern solche Produkte jetzt hier vermarkten. Unserer heimischen Milchwirtschaft dagegen ist das nach wie vor untersagt. Aus meiner Sicht ist dies eine unhaltbare Situation. ({5}) Wenn es Importprodukte gibt, die sich zum Teil aus pflanzlichen und zum Teil aus tierischen Rohstoffen zusammensetzen und gegen diese keine gesundheitlichen Bedenken bestehen, dann muß auch die deutsche Milchwirtschaft diese Produkte herstellen dürfen. Vernünftiger Wettbewerb ist nur unter gleichen Wettbewerbsbedingungen möglich. ({6}) - Eine vornehme Zurückhaltung, Herr Eigen, halte ich für unangebracht. Das wird im übrigen auch von seiten der Milchwirtschaft so gesehen. In einer ihrer Zeitschriften heißt es: Bei Marktanteilen der Importware von 70 % im Schnittkäsebereich, 55 % im Weichkäsesektor und von über 20 % im deutschen Buttermarkt ist es undenkbar, das Imitationsfeld allein den EG-Wettbewerbern zu überlassen. ({7}) - Sie können sich darauf verlassen, daß das geschehen wird, Herr Eigen. ({8}) Bleibt der § 36 des Milchgesetzes dagegen unverändert bestehen, werden letztendlich die deutschen Milcherzeuger und die Beschäftigten der Milchwirtschaft die Fehler, die von der Bundesregierung begangen werden, ausbaden müssen. Für die Ausarbeitung einer Anpassung des § 36 besteht auch nicht unbegrenzt Zeit. Wir werden in der nächsten Zeit wohl wahre Werbeschlachten für die neuen Produkte auf unserem Markt erleben. Einmal verlorene Märkte wiederzugewinnen, das wird sehr schwer und nur unter finanziellen Opfern möglich sein. Es ist im übrigen erfreulich, daß die Bundesregierung jetzt neben der Bezeichnungsschutzregelung auch Vorschriften über die Kennzeichnung von Mischprodukten für erforderlich hält. Sie ist damit unserem Anliegen gefolgt, das sie vor einem Jahr im Ausschuß noch abgelehnt hat. Im Ausschuß hieß es damals wörtlich: Eine nationale Kennzeichnungsregelung ist über die Bezeichnungsschutzverordnung hinaus nicht erforderlich. Sie können das nachprüfen. Das war damals die Feststellung Ihrerseits. Durch diese Kennzeichnungsregelung sollen z. B. die genaue Verkehrsbezeichnung sowie Angaben über Gesamtfettgehalt und Milchfettanteil vorgeschrieben werden.

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche, aber Sie überschreiten Ihre vorgesehene Redezeit sehr, sehr deutlich. Ich möchte mit Verlaub sagen: Das Haus ist ohnehin schon überbelastet. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie zum Schluß kommen könnten.

Rolf Koltzsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001176, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme zum Schluß. Wir sind der Auffassung, daß die Kennzeichnungspflicht im Interesse der Verbraucher unumgänglich ist. Wir sind froh, daß Sie in dieser Angelegenheit - sollte das in die Beratung kommen - unseren Vorstellungen folgen werden. Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn. ({0})

Günther Bredehorn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000256, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Änderung des Milchgesetzes wird auch von der FDP-Fraktion befürwortet und unterstützt. Sie ist notwendig, um die EG-Bezeichnungsschutzverordnung für Milchprodukte bei uns national umzusetzen. Es geht um die Strafbewehrung bei Verstößen gegen diese EG-Bezeichnungsschutzverordnung, die wir bisher nicht haben. Die besondere Notwendigkeit einer Gesetzesänderung ergibt sich aber auch aus den Folgen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs zu § 36 unseres Milchgesetzes. Bisher war es nicht gestattet, Milchimitationsprodukte oder Milchmischprodukte in die Bundesrepublik zu importieren oder in der Bundesrepublik auf den Markt zu bringen. Nunmehr können Milchersatzerzeugnisse aus den Mitgliedstaaten der EG in die Bundesrepublik eingeführt und auf den Märkten bei uns verkauft werden. Zur Klarstellung: Milchimitate sind Ersatzprodukte für Milch oder Milchmischprodukte, bei denen Milch teilweise oder völlig durch Nichtmilchbestandteile ersetzt wurde. Um unsere Verbraucher vor Täuschung und die Produzenten vor unlauterem Wettbewerb zu schützen, brauchen wir für echte Milchprodukte und Milchimitationsprodukte klare und strenge Kennzeichnungsvorschriften. ({0}) Der Verbraucher muß echte Milcherzeugnisse von Imitationserzeugnissen auf den ersten Blick unterBredehorn scheiden können und nicht erst nach intensivem Studieren der Zutatenliste. Bundesregierung und Milchwirtschaftsverbände fordere ich hier auf, in Verhandlungen gemeinschaftliche Produktstandards für Milchprodukte in der EG zu schaffen. Nur so ist ein einheitlich strenger Bezeichnungsschutz zu verwirklichen. Dabei sollten u. a. folgende Punkte berücksichtigt werden: Erstens. Milchimitate müssen korrekt gekennzeichnet sein. Zweitens. Milchimitate mit Zusatzstoffen dürfen nur vermarktet werden, wenn die verwendeten Zusatzstoffe allgemein zugelassen sind. Drittens. Die Namen „Milch" und „Butter" sind nur echten Milcherzeugnissen vorzubehalten. Für Milchimitate sind Bezeichnungen wie z. B. „Sojamilch", „Pflanzenmilch", „Sojaquark", „Sojaghurt", „Sojachreme", „Butterine" verboten. Ein Käse-Imitat darf nicht als „Gouda", „Tilsiter", „Parmesan" usw. bezeichnet werden. Viertens. Milchimitate dürfen nicht durch Etikett, Aufmachung oder Werbung den Eindruck entstehen lassen, daß es sich um echte Milchprodukte handelt. Hierzu gehören milchbezogene Abbildungen wie das Butterfaß, die weidenden Kühe auf der grünen Wiese, die Milchkanne, Kuhglocke oder milchbezogene Verpakkungsformen. Meine Damen und Herren, als Folge des EuGH-Urteils müssen wir nun aber baldmöglichst und schnell auch § 36 des Milchgesetzes ändern bzw. ergänzen. Bisher ist es den deutschen Unternehmen nicht gestattet, Milchmischprodukte für den deutschen Markt herzustellen. Wir dürfen aber Entwicklungen nicht verschlafen und müssen uns den neuen Herausforderungen stellen. Es wäre eine eindeutige Diskriminierung deutscher Unternehmen, wenn sie den Importen von Milchmischprodukten aus anderen EG-Ländern keine eigenen Erzeugnisse entgegensetzen dürften. Wir sollten also über die Novellierung des Milchgesetzes nicht noch ein Jahr reden, denn dann ist der deutsche Markt von anderen besetzt. Lassen Sie mich abschließend feststellen: Auch nach dem Urteil des EuGH besteht für Pessimismus auf dem Milchmarkt meines Erachtens kein Anlaß. Echte, unverfälschte Milchprodukte haben ein noch nie gekanntes hohes positives Image. Der deutsche Verbraucher verzehrte im letzten Jahr - das ist Rekord - 17,4 kg Käse und 8,2 kg Butter pro Kopf. Milch ist als reines Naturprodukt einmalig und für die Herstellung echter Milchprodukte durch nichts zu ersetzen. Auch in Zukunft können sich die Verbraucher in der Bundesrepublik darauf verlassen, daß ihnen echte und reine Milchprodukte in hoher Qualität angeboten werden. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun hat die Abgeordnete Frau Saibold das Wort.

Hannelore Saibold (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001915, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In den Ausschußberatungen zur Änderung des Milchgesetzes haben sich die GRÜNEN der Stimme enthalten, und dies aus gutem Grund. Wie Sie wissen, sind wir GRÜNE grundsätzlich gegen die Aufhebung des Imitationsverbots für Milch und Milcherzeugnisse. Da kann auch eine noch so eindeutige Kennzeichnung und die Ahndung von Verstößen gegen die Kennzeichnungsvorschriften, um die es heute geht, nichts ändern. ({0}) Die Ahndungen von Verstößen sind zwar notwendig, aber die Beträge, die Sie angeben, werden aus der Portokasse bezahlt werden. ({1}) Gegen Soja als Nahrungsmittel ist prinzipiell nichts einzuwenden. Soja ist unbestritten eine wertvolle Nahrungspflanze. ({2}) Doch ebenso unbestritten ist auch, daß der Sojaanbau und die Sojaernte stark chemisiert sind und die Verarbeitung in der Regel hochtechnisiert und denaturierend erfolgt. ({3}) Will man Ernährungsfragen nicht nur auf die Nährstoffaufnahme beschränken, sondern in ein Gesamtkonzept einbetten, so müssen diese ökologischen und gesundheitlichen Faktoren unbedingt mitberücksichtigt werden. Wir können uns auch nicht der Begeisterung der AgV anschließen, die die Milchimitate wegen angeblicher gesundheitlicher Vorteile bejubelt. ({4}) Denn Ernährungsprobleme, wie z. B. erhöhter Cholesterinspiegel und eine übermäßige Eiweißzufuhr, sind nicht durch Sojaprodukte zu lösen; notwendig ist vielmehr eine Umstellung der Ernährung in ihrer Gesamtheit. ({5}) - Passen Sie auf, Herr Eigen! Es geht nicht nur um Milchimitate auf Sojabasis. Nahrungsmittelmultis und Chemiekonzerne haben schon vor einigen Jahren Verfahren zum Patent angemeldet, nach denen sich buchstäblich aus Dreck noch sogenannte Nahrungsmittel herstellen lassen. Nach diesen Patenten kann z. B. Milchersatz auch aus Schlacht-, Leder- und Kartoffelabfällen oder künstlich gezüchteten Einzellern erzeugt werden. Die Hoechst AG kann uns in Zukunft schon am Frühstückstisch mit ihren Produkten beglücken: mit künstlichem Schmelzkäse und Kaffeesahne aus entfetteten Bakterien, versehen mit den verschiedenen synthetischen Zusätzen. Für Abmagerungswillige verfügt Procter & Gamble gar über ein Patent für Milchshakes aus unverdaulichem Polyolpolyester - das ist ein Kunstfett - , denen vorsorglich gleich ein Antidurchfallmittel beigemischt ist. Das ist doch äußerst praktisch. Diese Beispiele genügen wohl, um zu verdeutlichen, welch haarsträubende Entwicklungen im Nahrungsmittelsektor im Gange sind ({6}) und was den ahnungslosen Konsumenten in Zukunft noch alles aufgetischt wird. ({7}) Die Säuerimitate sind nur ein Zwischenschritt zu der Pseudonahrung der Chemieindustrie. Machen Sie sich doch nichts vor: Die Bestrebungen, sich von den landwirtschaftlichen Rohstoffen und von der Marktlage unabhängig zu machen, laufen auf Hochtouren. Bio- und Gentechnologen basteln an künstlicher Kakaobutter, an aus einer Zelle gezüchteten Orangen oder auch an Enzymen aus gentechnisch optimierten Bakterien. ({8}) Zur Kennzeichnung, weil Sie so sehr auf die Kennzeichnung setzen: Sie allein kann eben keinen ausreichenden Verbraucherschutz gewährleisten. Vielmehr verkommt die Kennzeichnung immer mehr zum Alibi für das Gepansche der Produzenten. Tatsache ist doch - das beklagt auch der Verband der Deutschen Milchwirtschaft - , daß wir weit von einer eindeutigen und nicht irreführenden Kennzeichnung entfernt sind und daß bei den Milchimitaten Konflikte vorprogrammiert sind. ({9}) Zudem zeigt das Beispiel der USA, daß der Markt für Imitate vor allem im Bereich der Gemeinschaftsverpflegung, einschließlich Schulspeisungsprogrammen, sowie der Gastronomie und Fastfood liegen wird, wo die Konsumenten keine Kontrolle über die Qualität und auch keinen Einfluß auf das Angebot haben. In Frankreich sind bereits bis zu 80 % des Pizzakäses Kunstkäse. ({10}) Selbst die genaueste Produktkennzeichnung samt Zutatenliste sagt nichts über die tatsächliche Qualität der Erzeugnisse aus. So sagt z. B. die Angabe des Eiweisses nichts darüber aus, ob das Eiweiß aus Fleisch, aus Pflanzen, aus Schlachtabfällen, aus Einzellern oder eventuell sogar aus Erdöl gewonnen ist, was es ja auch schon gibt. Angesichts des hohen Verarbeitungsgrades der Nahrung und der gewinnsteigernden Verwendung billiger, oft minderwertiger Rohstoffe, ({11}) - passen Sie doch auf, Herr Eigen, helfen Sie uns doch! - ist es heute mehr denn je notwendig, EG-weit einen Qualitätsstandard für Lebensmittel zu sichern, der der Erwartung der Verbraucher entspricht. Daher müßten verbindliche Kriterien für die Mindestqualität von Lebensmitteln festgelegt werden, die eine gesunde Ernährung für alle gewährleisten; denn sonst stehen wir über kurz oder lang vor der Situation, daß sich die Betuchten das tatsächlich natürlich erzeugte Lebensmittel leisten können und die sozial Schwachen mit einer wertlosen Attrappe vorlieb nehmen müssen. Das gilt es zu verhindern. Danke. ({12})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Meine Damen und Herren, weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den eingebrachten Gesetzentwurf zur Änderung des Milchgesetzes auf Drucksache 11/4467 und 11/4752. Ich rufe die Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN sind die eingebrachten Vorschriften angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetz als Ganzem zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Abgeordneten Frau Schoppe ist das Gesetz angenommen worden. Ich rufe Tagesordnungspunkt 10 auf: Weitere zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. Miltner, Gerster ({0}), Regenspurger, Fellner, Dr. Blank, Dr. Blens, Clemens, Dr. Hüsch, Kalisch, Dr. Kappes, Krey, Neumann ({1}), Dr. Olderog, Weiß ({2}), Frau Dr. Wisniewski, Zeitlmann und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Hirsch, Richter, Lüder und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes - aus Drucksache 11/1190 Zweite Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({3}) - Drucksache 11/4774 Berichterstatter: Abgeordnete Bernrath Dr. Kappes Such ({4}) ({5}) Eine Aussprache ist erfreulicherweise nicht vorgesehen. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen zur Änderung des Bundespersonalvertretungsgesetzes. Ich rufe Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind gegen die Stimmen der SPD und der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden. Vizepräsident Cronenberg Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf als Ganzem zuzustimmen wünscht, bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist der Gesetzentwurf als Ganzes angenommen worden, und zwar mit den Stimmen der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und der GRÜNEN. Meine Damen und Herren, ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf: Aktuelle Stunde Beschluß des Bundeskabinetts zur Einführung eines Visumzwangs für ausländische Kinder Die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung diese Aktuelle Stunde zu dem vorgenannten Thema beantragt. Ich kann die Aussprache eröffnen. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schoppe. ({6}) - Meine Damen und Herren, insbesondere der verehrte Geschäftsführer der Fraktion der CDU/CSU, ich wäre Ihnen dankbar, wenn die Angelegenheit durch diese höchst überflüssige Diskussion nicht verlängert würde. Meine Herren, bitte, stellen Sie die notwendige Ruhe her! Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schoppe. ({7})

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Pressesprecher des BMI, Roland Bachmeier, sagte vor kurzem über die flüchtenden Kinder, daß sie vorwiegend aus Kriegs- und Hungergebieten kommen. ({0}) Das Bundeskabinett hat nun am 5. April 1989 die Einführung des Visumzwangs für Flüchtlinge unter 16 Jahren beschlossen. In unmenschlicher Berechnung nimmt das Kabinett vielen Eltern die Möglichkeit zu dem letzten verzweifelten Schritt, ihre Kinder vor Verfolgung, Folter, Kriegsdienst und Tod zu retten. Tausende Kinder sind in den Kriegsgebieten der Welt Opfer von Menschenrechtsverletzungen und direkter Verfolgung. Sie wurden willkürlich verhaftet, in Gefängnisse gesperrt, verschleppt, ermordet und hingerichtet. Kinder mußten die Folterungen ihrer Eltern mit ansehen oder werden ihren Eltern weggenommen, um sie zu erpressen. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der UN sind derzeit mehr als 6 Millionen Kinder auf der Flucht. Im letzten Jahr ist es nur einem Bruchteil von ihnen, nämlich 2 236, gelungen, in die Bundesrepublik zu gelangen. ({1}) - Was ist das hier eigentlich für eine Lärmkulisse? ({2}) - Das können Sie mir doch nicht anhängen, verdammt noch mal!

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Herr Abgeordneter Bohl, weder Zurufe noch Fragen sind während der Kurzredebeiträge möglich. - Frau Abgeordnete, fahren Sie fort.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das können Sie mir doch nicht anhängen. Ich bin doch nicht dafür verantwortlich, ob die da sind oder nicht. ({0}) Ich möchte jetzt weitermachen. - Diesen mit knapper Not davongekommenen Kindern mit Zurückweisungen und Zwangsmaßnahmen zu begegnen ist beschämend für unser Land, in dem in der Zeit des Faschismus viele Eltern das Überleben ihrer Kinder nur durch Wegschicken ins nichtbesetzte Ausland sichern konnten. Wer die Visumpflicht für Kinder einführen will, verwehrt den Schwächsten, den am wehrlosesten Ausgelieferten das Grundrecht auf Asyl. ({1}) Wer das durchzusetzen versucht, verletzt die Menschenrechte, die auch Kinderrechte sind. ({2}) Nun hat das Auswärtige Amt im Februar dieses Jahres die deutsche Botschaft in Colombo und an anderen Orten angewiesen, alleinreisende Kinder nur noch mit einer sichtvermerkähnlichen Einreisegenehmigung in die Bundesrepublik reisen zu lassen. ({3}) Das, meine Damen und Herren, ist die Einführung der Visumpflicht für Kinder auf kaltem Wege. Warum, frage ich Sie, kommen derzeit die meisten Kinder, die hier Schutz suchen, aus Sri Lanka? - Weil dort Krieg herrscht und die Eltern diesen letzten verzweifelten Versuch unternehmen, das Leben ihrer Kinder zu retten. Wenn Sie diesen Kindern nicht die Möglichkeit der Flucht gewähren, verweigern Sie ihnen den Schutz, Sie verweigern ihnen das Mitleid, Sie liefern sie einer ungewissen, vielleicht qualvollen, vielleicht tödlichen Zukunft aus. Sie stellen sich hier oft genug hin und preisen Ihre Kinderfreundlichkeit. Aber wie man sieht, bezieht sich Ihr „Herz für Kinder" hauptsächlich auf deutsche Kinder. Ob andere elendig umkommen können, scheint egal zu sein. Ich finde, diese Haltung ist in der Tendenz chauvinistisch. ({4}) Wir fordern, daß Sie Ihr Anliegen, die Visumpflicht für Kinder durchzusetzen, wieder aufgeben, und wir fordern Sie auf, die Anweisung, daß die Kinder einen Sichtvermerk haben müssen, sofort zurückzunehmen. ({5})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Blank.

Prof. Dr. Joseph Theodor Blank (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000192, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die illegale Zuwanderung und organisierte Einschleusung ausländischer Kinder und Jugendlicher unter 16 Jahren hat seit Mai 1987 ein solches Ausmaß angenommen, daß die Einführung einer Aufenthaltserlaubnispflicht zwingend geboten ist. Frau Schoppe, es ist leider wahr: In Rechts- und Linksdiktaturen, infolge von Kriegen und Bürgerkriegen sind in zahlreichen Ländern dieser Erde auch Kinder und Jugendliche Opfer politischer Gewalt. Sie werden gefoltert, inhaftiert, ja sogar ermordet. Es ist aber überhaupt keine Frage, daß diesen Kindern und Jugendlichen auch weiterhin uneingeschränkt Zuflucht und Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gewährt wird. ({0}) Was wir allerdings gerade aus humanitären Gründen nicht weiter dulden dürfen, Frau Schoppe - und diesem Ziel dient der Gesetzentwurf der Bundesregierung -, ist zum einen die zunehmende international organisierte kriminelle Einschleusung von Kindern und Jugendlichen in die Bundesrepublik insbesondere zu Adoptions- und Prostitutionszwecken und zum anderen der Mißbrauch des Privilegs der Sichtvermerksfreiheit in Form von falsch beurkundeten Pässen, um ein Alter unter 16 Jahren vorzutäuschen. Tatsache ist, daß es sich bei den steigenden Zahlen der Einreise unbegleiteter ausländischer Minderjähriger in den meisten Fällen um organisierte Gruppeneinschleusungen handelt. Diesen ganz überwiegend kriminellen Machenschaften, an denen nicht wenige viel Geld verdienen, ist dringend Einhalt zu gebieten. Die Einführung einer Visumpflicht für Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren ist deswegen nicht, wie die GRÜNEN meinen, der Ausfluß einer unmenschlichen oder menschenverachtenden Einreisepolitik der Bundesrepublik Deutschland. Genau das Gegenteil ist richtig. Die Visumpflicht ist gerade im Sinne der UN-Erklärung über die Rechte des Kindes geboten, um ausländischen Kindern und Jugendlichen jenen Schutz zukommen zu lassen, auf den sie Anspruch haben. Aus dieser Erkenntnis heraus haben bis auf eine Ausnahme auch alle Landesregierungen im Bundesrat dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zugestimmt. Auch alle unsere westeuropäischen Nachbarn kennen bis auf eine Ausnahme keine Altersgrenze für die Sichtvermerkspflicht, d. h. sie verlangen ein entsprechendes Visum. Zwei Tage vor der Europawahl darf ich gerade deshalb auch auf folgendes hinweisen: Die zwölf EG-Staaten haben sich das Ziel gesetzt, einen einheitlichen, die gesamte Europäische Gemeinschaft umfassenden Lebensraum zu schaffen und zu diesem Zweck die Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen abzubauen und an die Außengrenzen der Gemeinschaft zu verlagern. Um dieses Ziel zu erreichen, sollen die Visabestimmungen harmonisisert und einheitliche Grundsätze für die Kontrollen an den Außengrenzen entwickelt werden. Es ist deshalb auch aus europapolitischen Gründen zu begrüßen, daß die Bundesregierung mit ihrem Gesetzentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes entsprechend gehandelt hat. Die Diskussion um die Einführung einer Visumpflicht für ausländische Kinder und Jugendliche mag bei manchen hier bei uns lebenden ausländischen Mitbürgern Befürchtungen hinsichtlich des Kindernachzugs hervorgerufen haben. ({1}) Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich die Ankündigung des Bundesministers des Innern, daß mit der Einführung der Visumpflicht keine Einschränkung des derzeit zulässigen Kindernachzugs verbunden ist. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Kindern generell der Nachzug ins Bundesgebiet gestattet werden soll, bleibt einer umfassenden Novellierung des Ausländerrechts vorbehalten. Der Gesetzentwurf zielt auch nicht darauf ab, den Aufenthalt der gegenwärtig im Bundesgebiet lebenden Kinder in Frage zu stellen. Soweit im Einzelfall die in den Ländervorschriften festgelegten Aufenthaltsvoraussetzungen nicht vorliegen, wird auch künftig, wie schon in der bisherigen Praxis der Länder, großzügig und unter Berücksichtigung von Härtegesichtspunkten verfahren werden. Danach kommt insbesondere bei Kindern von Ausländern, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, auch künftig eine Aufenthaltsbeendigung nur ausnahmsweise, nämlich nur dann, wenn sie aus zwingenden Gründen unumgänglich ist, in Betracht. Herr Präsident, meine Damen und Herren, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt daher ausdrücklich den von der Bundesregierung auf Vorschlag des Bundesministers des Innern beschlossenen Gesetzentwurf zur Änderung des Ausländergesetzes, nach dem entgegen der bisherigen Rechtslage auch Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren zukünftig ein Visum zur Einreise in die Bundesrepublik Deutschland benötigen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Sonntag-Wolgast.

Dr. Cornelie Sonntag-Wolgast (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002191, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Problem, über das wir sprechen, betrifft die Frage des Asylrechts eigentlich nur bedingt. Wir sprechen im Grunde genommen über das Schicksal von jugendlichen Flüchtlingen, und wir sprechen gleichzeitig über die allerschwächste Gruppe, die geprägt ist von besonderer Furcht, von Hilf- und Ratlosigkeit. Ihnen gegenüber sollten wir uns so wenig wie möglich auf blanke Regularien des bürokratischen Apparates zurückziehen, sondern uns von Menschlichkeit leiten lassen. Herr Dr. Blank, von diesem Moment habe ich in Ihrer Rede nicht so sehr viel gehört. ({0}) Seit Juli 1988 bis einschließlich Mai dieses Jahres sind vor allem auf dem Frankfurter Flughafen 2 000 solcher jugendlichen Flüchtlinge oder, wie man sie auch nennt, „Kinderasylanten" eingetroffen. Wer sich mit ihrer Lage befaßt, der kann nicht einfach mit einem schnellen und ungerührten Ja zur Visumpflicht zur Tagesordnung übergehen. Es ist ganz richtig: Die Bundesrepublik zählt zu den wenigen Ländern, in die Personen unter 16 Jahren überhaupt ohne Visum einreisen können. Viele wollen hier nicht bleiben, sondern wählen die Bundesrepublik als erste Anlaufstation für Westeuropa, weil es nicht anders geht. So hört man. Aber was heißt bei diesen Kindern schon „wollen" und „wählen"? Sie ahnen ja nur schemenhaft, warum sie von Eltern oder anderen Angehörigen weggeschickt wurden. Sicher, manche erzählen stereotype Geschichten, die man ihnen eingeschärft hat. Wie sonst sollen sie auch erklären, warum sie hier sind? Viele können nicht einmal sagen, was Krieg oder Bedrohung oder Verfolgung bedeuten. Jugendliche aus Sri Lanka etwa berichten, daß ihre Familien mit den rebellischen Tamilen in Verbindung gebracht worden seien. Es trifft auch zu, daß die Eltern in den Heimatländern riesige Geldsummen nicht nur für ein Flugticket aufbringen müssen, sondern auch für Organisationen, die gegen klingende Münze das Einschleusen größerer Gruppen von Kindern übernehmen. Zugegeben, das alles erschwert die Situation und belastet alle Beteiligten. Nur können wir die Lösung des Problems nicht in Bestimmungen suchen, die den Kindern und ihren Angehörigen die Hauptlast, vielleicht sogar ein gefährliches Risiko aufbürden. Auch ausländische Kinder und Jugendliche haben nach dem allgemeinen Menschenrecht Anspruch auf Schutz und Fürsorge. Das umfaßt Betreuung, erzieherische Hilfen und Bildungsangebote. ({1}) Wenn sich Grenzschutzbeamte mit der Tatsache konfrontiert sehen, daß mit einer Maschine 20 bis 30 Minderjährige eintreffen, dann sind sie gewiß überfordert. Da kommt es zuweilen zu solch unhaltbaren Zuständen, wie sie von den Kinderhilfsorganisationen kritisiert werden: z. B. daß Jugendliche stundenlang ohne Ernährung festgehalten werden, bis man sich ihrer annehmen kann. ({2}) - Das weiß ich, Herr Olderog. - Aber Grenzschutzbeamte können eben nicht zugleich die Aufgabe der Kontrolle, eines juristischen und eines seelischen Beistands erfüllen, obwohl es vorkommt, daß einige sich nach Kräften bemühen. ({3}) - Ja. Das sagte ich Ihnen schon, Herr Olderog, daß ich das weiß. ({4}) - Sie waren dafür. - Wenn wir unsere geltenden Bestimmungen nicht verschärfen wollen, dann muß der Bund finanzielle und organisatorische Hilfe leisten. ({5}) Ich weiß, einige Kommunen sind überfordert, die Heime überfüllt. Es wird vor allem dann kompliziert, wenn sich kein Sorgeberechtigter für die allein eingereisten Kinder findet. Allein die Problematik, daß Kinder gegen ihren Willen unter der Obhut der deutschen Jugendämter aufwachsen müssen, plötzlich sozusagen Waisen werden, weil sie nicht weiterkommen, muß uns zur Nachdenklichkeit zwingen. Es gehört auch sozialer und pädagogischer Einfallsreichtum dazu, um in solchen Fällen überhaupt noch Rat und Unterstützung zu finden. Aber genau das brauchen wir. Denn was wäre die Alternative? Wollen wir wirklich das Risiko auf uns nehmen, daß eine vielleicht lebensnotwendige Flucht mangels Möglichkeiten, ein Visum zu bekommen, scheitert? Unser Land - ich muß es noch einmal sagen - hat nach den Erfahrungen mit der eigenen Vergangenheit nun einmal die besondere Pflicht, im Umgang mit Flüchtlingen hohe humanitäre Maßstäbe zu setzen. ({6}) Das gilt unverändert für das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte. Es muß aber auch für Kinder gelten, die allein aus Not, Angst und Panik zu uns kommen. ({7})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir reden über einen Gesetzentwurf - das ist eine Merkwürdigkeit für eine Aktuelle Stunde -, ({0}) der in der nächsten Sitzungswoche dieses Haus erreichen wird und dem der Bundesrat mit allen Ländern, auch mit den SPD-Ländern, ausgenommen Berlin, zugestimmt hat. Es hinterläßt bei mir ein unangenehmes Gefühl, wenn wir hier eine sehr moralisierende Position einnehmen, gleichzeitig aber da, wo die Konsequenzen zu tragen sind, nämlich in den Ländern, eine ganz andere Position einnehmen. Das kann nicht richtig sein. Ich finde zwar, es ist richtig, daß es für einen Rechtsstaat entscheidend ist, daß er nicht nur die Gesetze achtet, sondern welche humanitäre Qualität er besitzt. Es ist leicht, humanitäre Positionen einzunehmen, also die Aufnahme aller Kinder zu fordern, und es ist sehr schwer, aber notwendig, Grenzen zu ziehen und auch zu bekennen, wo man solche Grenzen für möglich hält. Das geltende Recht ist ja viel strikter als das, was Sie sagen. Übrigens, Frau Schoppe, es ist einfach unredlich, daß Sie hier sagen, es gehe um eine Visumpflicht für politische Flüchtlinge. Es geht um eine Visumpflicht für alleinreisende Kinder unter 16 Jahren. Unter ihnen können Flüchtlinge sein. Aber es können auch andere Motive für die Eltern maßgeblich gewesen sein, sie auf die Reise zu schicken. ({1}) - Ja, darüber können wir uns lange unterhalten. Das werden wir in der nächsten Woche machen. Das geltende Recht sieht vor, daß Kinder unter 16 Jahren alleine überhaupt keinen Asylantrag stellen können. Das geltende Ausländerrecht sieht vor, daß jeder Ausländer, der von Anfang an Sozialhilfe in Anspruch nehmen will, zurückgewiesen werden kann. Das heißt, im Grunde genommen könnten nach heute schon geltendem Recht alle diese alleinreisenden Kinder unter 16 Jahren ohne weiteres zurückgewiesen werden. Das wird nicht getan, weil es in der Tat unverantwortlich ist, Kinder einfach wieder ins Ungewisse zurückzuschicken. Das geht nicht. Wir nehmen sie also auf. Jeder von uns weiß, daß wir sie damit auf Dauer aufnehmen. Nun muß man sich die Zahlen ansehen: 1987 waren es 92 Kinder, 1988 waren es 2 236 Kinder und von Januar bis Mai 1989 waren es schon 1 318 Kinder. Das heißt, wir sehen, daß eine gravierende Zunahme in der Tat zu verzeichnen ist. ({2}) Ich bin sehr dafür, daß die Bundesrepublik sich dieselbe Kraft wie vor zehn Jahren bewahrt, als wir 32 000 Boat people aufgenommen haben. Ich bin sehr dafür, daß wir uns überlegen, in welchen humanitären Aktionen wir Kinder in Bedrohungsfällen aufnehmen können, wir und die Europäische Gemeinschaft. Ich bin sehr dafür. Ich bin aber nicht dafür, daß die Frage, welche Kinder wir aufnehmen, allein davon abhängig gemacht wird, welche Eltern ihren Kindern zuerst ein Flugtikket kaufen. Das geht nicht. ({3}) Wir sind bereit - und ich meine, es ist notwendig -, mehr für die Humanität auf dieser Erde zu tun. Davon kann man Kinder, die bedroht sind, nicht ausnehmen. Wir wollen das auch nicht. Aber wir müssen diese Möglichkeit - wie alle anderen Länder auch - steuern. Sie müssen sich auch einmal damit auseinandersetzen, daß auf dieser Erde nur die Bundesrepublik, die Spanier für Kinder unter 14 Jahren und Südafrika für Kinder, die dort im Lande geboren sind, keine Visumpflicht haben, während alle anderen Länder diesen Zuzug steuern, indem sie sagen und sagen müssen: Humanitäre Aktionen ja, aber im Rahmen des Möglichen, im Rahmen des zu Verantwortenden, aber nicht nach dem Windhund-Verfahren für diejenigen, die zuerst ein Ticket kaufen. Vielen Dank. ({4})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Frau Schoppe, Sie haben das Wort. ({0}) - Also, ich kann Frau Schoppe nicht zwingen, aber ich habe keine weitere Wortmeldung außer der Ihren, Frau Schoppe, vorliegen. Bitte sehr, Sie haben das Wort. ({1})

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

- Nein, ich finde, das ist ein Problem, das einem doch auch wirklich nahegehen kann. Das wollte ich hier in der Debatte noch sagen. ({0}) Ich glaube, daß sich im Grunde genommen bei dieser ganzen Diskussion zwei Positionen an manchen Punkten sehr unversöhnlich gegenüberstehen. Das ist auf der einen Seite die Position, die versucht, das Leiden der Kinder, das sie in dem Land erwartet, zu antizipieren und deshalb großzügige humanitäre Hilfe anzubieten. Auf der anderen Seite scheint es mir immer wieder bei denen so zu sein, daß viele Positionen auch einfach von der Angst vor dem Fremden, davon, daß man nicht weiß, was auf uns zukommt, geprägt sind und daß dann einfach humanitäre Gedanken leicht verdrängt werden. Ich finde, dagegen muß man sich wehren. Deswegen haben wir hier heute, auch wenn wir wenig sind, die Aktuelle Stunde gemacht. ({1})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Kollegin Schoppe, was Sie hier vortragen, ist völlig unglaubwürdig. Erstens muß mal festgestellt werden: Sie stellen hier den Antrag auf eine Aktuelle Stunde, und Ihre Fraktion ist überhaupt nicht präsent. Das zeigt, daß Sie offenbar überhaupt kein Anliegen haben, sondern hier nur ein Schaugefecht führen. Inzwischen sind zwei Kollegen da; das ist ein ganz schlechtes Bild. Zweitens muß ich noch einmal auf das zurückkommen, was der Kollege Hirsch hier sagte. Wir haben ein klares Gesetzgebungsverfahren. Jedermann weiß, wir werden die Dinge sachlich diskutieren, weil der Gesetzgebungsweg eingeleitet ist. Es bedurfte also gar nicht dieses Antrags auf die Aktuelle Stunde. Nun noch einen Satz zur Sache: Was Sie vorschlagen und was Sie hier gern erreichen wollen, ist eben nicht der humanitäre Weg. Wir haben tausende unbegleitete Kinder. Ist es human von Eltern, die Kinder mit einem Ticket ins Flugzeug zu setzen und sie einem ungewissen Schicksal entgegenzubringen oder sie organisierten Einschleusungen anheimzugeben? Das finden wir alles nicht human. Ich muß hier für die Bundesregierung sagen, damit nichts anderes im Raume bleibt: Es bleibt weiterhin die Möglichkeit, nach dem Ausländergesetz in einer humanen Weise Kindern zu helfen, die unsere Hilfe brauchen. Was wir nicht wollen, ist die tausendfache organisierte unbegleitete Einschleusung, und dagegen muß man sich auch aus menschlichen Gründen wehren. Aus diesen Gründen werden wir unseren Gesetzentwurf weiter verfolgen, der auch eine große Zustimmung im Bundesrat gefunden hat, und wir denken, daß wir etwas für die Kinder tun, zum Nutzen der Kinder, die Hilfe brauchen. Wer Hilfe braucht, wird in der Bundesrepublik Deutschland Hilfe finden. Vielen Dank. ({0})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Limbach.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hatte mich an sich auf die Vereinbarung verlassen, daß nach einer Runde Schluß sein sollte, auch zur Entlastung der Mitarbeiter in diesem Hause. Nachdem aber die GRÜNEN diese Aktuelle Stunde beantragt haben und dann - Frau Schoppe, das trifft ja nie die, die anwesend sind - hier ganz deutlich wird, daß sich dafür von Ihren Kolleginnen und Kollegen im Grunde nur sehr wenige interessieren, ({0}) finde ich es schon erstaunlich, daß dann mit so viel humanitärem Pathos gesprochen wird, wenn es eigentlich um die ganz sachliche Frage geht: Was nutzt es denn den Kindern, die hierher kommen? Ich glaube, das ist der Punkt, der von Ihnen auch gar nicht gesehen wird, daß es eigentlich eine ganz schwierige und schlimme Situation für Kinder ist, wenn sie ohne Vater, Mutter, Familie und kulturellen Rückhalt hier hingeschickt werden, wo sie weder die Sprache verstehen noch die Nahrung kennen, noch das Klima, noch die Wohnweise, die Lebensweise, die Schule, noch sonst etwas. Es ist viel humaner, auf dem Weg weiterzugehen, den wir versucht haben zu beschreiten, Kriege zu vermeiden, für mehr Menschenrechte einzutreten, für wirtschaftliche Entwicklung Hilfe zu leisten. ({1}) Die Kinder werden zum Teil durch Organisationen hier eingeschleust. Da werden den Eltern Dinge vorgespiegelt, denen wird der letzte Pfennig aus der Tasche gezogen, und dann kommen hier Kinder an, die wirklich in irgend etwas hineingeworfen werden, was sie eigentlich gar nicht ertragen können. Ich halte es für unreflektiert, wenn man sagt: alle aufnehmen, und für viel menschenwürdiger und kindgerechter, wenn wir sagen: Der Zuzug muß gesteuert werden, damit diese Ausbeutung, die teilweise auch in ganz schlimme persönliche Ausbeutung führt, gestoppt wird. Wir kennen doch die minderjährigen Prostituierten, wir wissen doch, wo Kinder auch zur Kriminalität gepreßt und gezwungen werden. Allein in Frankfurt sind 50 Jugendliche, die auf diese Weise ins Land gekommen sind, wie das in dieser schrecklichen Bürokratiesprache heißt, „abgängig", d. h. kein Mensch weiß, wo die eigentlich sind, wer was mit denen tut. Das unter dem Zeichen der Menschlichkeit, dem kann ich nicht folgen. Ich halte einen gesteuerten Zuzug dann für wesentlich menschlicher. Dann können wir auch den Kindern, die hier sind, die ihnen zustehende Hilfe zuteil werden lassen, und wir vermeiden, daß in Erwartung von Hoffnungen, die gar nicht erfüllbar sind, Kinder einfach hierher geschickt werden, manchmal auch in der Hoffnung, man könne dann als Erwachsener hinterherkommen, oder aber nur weil es Geschäftemacher gibt, die damit ihr Geld verdienen wollen. ({2})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg ({0}).

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich finde es etwas schade, daß wir in dieser Atmosphäre zu dieser Stunde so darüber reden mußten. Da kann ich die GRÜNEN nicht ganz von Schuld freischreiben. Wir hätten in der nächsten Woche, wenn das Gesetz eingebracht wird, in Ruhe darüber reden können. ({0}) Es ist schade, daß dieses schwierige Thema hier jetzt so abläuft. Ich sage das auch als jemand, der sich die Zeit genommen hat, in dieses Übergangsheim bei Frankfurt zu gehen, mit vielen Kindern, Sozialarbeitern zu sprechen, sich mit dem Bundesgrenzschutz zusammenzusetzen, die Erstankömmlinge anzugucken, wie ihre Daten und Motive aufgenommen worden sind. Dann kommt man zu einem Ergebnis, das sehr differenziert ist. Man kann nicht nur mit dem abstrakten Begriff der Humanität für liberale Einreisepraxis sein, weil ein Laissez-faire-Liberalismus, der nicht fragt, Wartenberg ({1}) was mit diesen Kindern geschieht, nicht sozial verantwortbar ist. Darüber muß man mit nachdenken. ({2}) Ich will an einem Punkt ganz klar herausstellen, wo die Schwierigkeiten für mich am deutlichsten sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist neben Spanien, wo das aber nicht eine so große Rolle spielt - dort geht es auch nur bis zu 14 Jahren - , das einzige Land, in das diese Kinder einreisen können. Das ist problematisch. Nun kommen sie nach Frankfurt. Wir wissen aus vielen dieser aufgenommenen Geschichten und aus Fragen, wohin sie weiter wollen, daß ein großer Teil gar nicht Asyl in der Bundesrepublik suchen will, sondern zur Familienzusammenführung nach Frankreich, Schweden, Dänemark und anderswohin kommt. Diese Länder lassen diese Kinder nun nicht legal herein. Immer wieder werden die Kinder an der Grenze aus Kofferräumen herausgeholt. Sie verschwinden nachts aus dem Heim in Cronenberg im Taunus und werden in die Bundesrepublik zurückgebracht. Diese Kinder, die eigentlich zum Teil mit ihren Familien in Frankfurt zusammengeführt werden sollten, sind nun zwangsweise Waisen in der Bundesrepublik und wachsen in Jugendheimen und Jugenddörfern auf. Das kann doch nicht der Sinn der Einreise sein. Unter diesem Aspekt muß man, glaube ich, auch schon einmal überlegen, ob diese Einreisepraxis, die wir im Augenblick haben, vertretbar sein kann, wenn diese Ergebnisse dabei herauskommen. Dann kann man nicht mehr unbedingt sagen: Die liberale Einreisepraxis garantiert das Wohl des Kindes automatisch. Ich finde, dies sind schwierige Themen, und ich verkenne durchaus nicht, daß es schwierige Fälle, auch unter Asylgesichtspunkten gibt, die wir unter Asylgesichtspunkten zu lösen versuchen müssen. Aber das, was eigentlich einmal als allgemeine Einreise für Kinder, die noch nicht 16 waren und nichts mit Flucht zu tun hatte, als liberal betrachtet wurde, führt zu einer Situation, die den Kindern nicht nur hilft. Ich habe Fälle gesehen, und ich habe auch mit den Leuten gesprochen. In bestimmten Kulturkreisen werden 14- oder 15jährige Kinder schon fast als Erwachsene behandelt. Die Kinder - es sind nicht immer die ärmsten Familien, die die Kinder schicken - werden hierher geschickt. Am nächsten Tag kommt ein Telefonanruf in dem Heim im Taunus an, und dann wird von den Eltern gefragt: Bekommt mein Kind auch eine Ausbildung? Die Kinder selber stehen unter einem wahnwitzigen Druck, weil sie nämlich nicht versagen dürfen. Die Familie hat ihnen sozusagen die Gnade erwiesen, sie nach Europa zu schicken, und sie stehen unter dem Druck, eine Ausbildung zu bekommen und sozusagen wohlausgebildet irgendwann zurückzukommen. Es gibt Kinder, die todunglücklich darüber sind, daß sie hier sind. In diesem Zusammenhang bitte ich bei aller Schwierigkeit auch der Flüchtlingsproblematik darüber nachzudenken, was man denn in dieser Situation machen kann. Da sind meines Erachtens auch Veränderungen der Aufenthalts- und Einreisebestimmungen legitim. Ob sie ausreichen, um das Problem zu lösen, ist eine andere Frage. Aber daß man darüber nachdenkt, ist meines Erachtens legitim. Zu dieser Erkenntnis bin ich gekommen, nachdem ich mich mit diesem Problem intensiv beschäftigt habe. Wir sollten im Ausschuß die differenzierten und verschiedenen Probleme, die dahinterstehen, genau analysieren und versuchen, dann möglichst zu einer gemeinsamen Linie zu kommen. Vielen Dank. ({3})

Dieter Julius Cronenberg (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11000342

Nun liegen mir wirklich keine Wortmeldungen mehr vor. Ich kann also die Aktuelle Stunde schließen. Wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung. Der Deutsche Bundestag tritt zum Gedenken an den 17. Juni 1953 morgen früh um 11 Uhr zusammen. Die nächste Plenarsitzung berufe ich auf Mittwoch, den 21. Juni um 13 Uhr ein. Meine Damen und Herren, ich möchte es nicht versäumen, mich bei der überarbeiteten Verwaltung - insbesondere beim Stenographischen Dienst -, der wir diese Überbelastung zugemutet haben, zu bedanken. ({0}) Die Sitzung ist geschlossen.