Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben Gäste in unserem Hause. Auf der Tribüne hat der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des bulgarischen Parlaments mit einer Delegation Platz genommen. Die Damen und Herren befinden sich schon einige Tage in der Bundesrepublik Deutschland, und wir haben schon viele Diskussionen gehabt. Wir begrüßen Sie sehr herzlich hier im Deutschen Bundestag.
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Meine Damen und Herren, heute feiert Herr Kollege Vogel ({1}) seinen 60. Geburtstag. Ist er zufällig hier? - Nein? - Dann wird es ihm übermittelt. - Das ganze Haus wünscht ihm alles Gute. Herzliche Glückwünsche!
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Wir treten nun in die Tagesordnung ein. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf:
Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage auf dem Arbeitsmarkt.
Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Die Eingliederung Langzeitarbeitsloser unterstützen: Programm des Bundes, der Länder und Gemeinden insbesondere für Regionen mit besonderen Beschäftigungsproblemen
- Drucksache 11/4640 Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({3}) Ausschuß für Wirtschaft
Zur Regierungserklärung liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4642 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung zwei Stunden vorgesehen. - Das Haus ist damit einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe der Regierungserklärung hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Dr. Blüm.
Dr. Blüm, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung ({4}): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zwei Nachrichten möchte ich an die Spitze dieser Regierungserklärung zur Lage auf dem Arbeitsmarkt stellen:
Erstens. Wir haben im Mai eine Schallmauer durchbrochen: die Arbeitslosigkeit liegt erstmals seit Oktober 1982 wieder unter der 2- Millionen-Grenze.
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Mit weniger als 1,95 Millionen Arbeitslosen wurde, wie der Präsident der Bundesanstalt, Heinrich Franke, bestätigte,
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die 2-Millionen-Marke unterschritten. Das ist ein wichtiges Datum der Zuversicht.
Im letzten Monat hat die Zahl der Arbeitslosen um rund 90 000 abgenommen; das ist also Tag für Tag ein Rückgang um rund 3 000. Das ist noch kein Grund zur Zufriedenheit; denn wir sind noch nicht am Ziel. Aber es ist ein Anlaß für Zuversicht, daß wir die Arbeitslosigkeit Schritt für Schritt zurückdrängen.
Die zweite Nachricht: Zum erstenmal seit langer Zeit haben sich am vergangenen Mittwoch Gewerkschaften, Arbeitgeber, Kirchen, Wohlfahrtsverbände, Bund, Länder und Gemeinden um den runden Tisch der sozialen Verantwortung versammelt. Gemeinsam wollen wir denen helfen, die am weitesten zurückgefallen sind und am stärksten der Hilfe bedürfen: den Langzeitarbeitslosen.
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Wir brauchen ein großes Bündnis der Verantwortung, und wir brauchen eine Bündelung der Initiativen. Gefragt sind jetzt nicht Vorschläge, was andere machen sollten, gefragt ist, was jeder selber machen will.
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Die Bundesregierung ist zu ihrem Beitrag bereit. Wir stocken die Ansätze unserer Arbeitsmarktpolitik mit einem Programm für Langzeitarbeitslose in Höhe von 1,75 Milliarden DM auf. Geld ist nur die eine Seite der Problemlösung, Phantasie und Engagement die andere, noch wichtigere.
Mit Kooperation, nicht mit Klassenkampf haben wir unser Land von Schutt und Asche befreit und wieder10926
aufgebaut. Zusammenarbeit ist auch heute noch die Maxime unserer Politik.
Gemeinsam haben wir den Lehrstellenmangel beseitigt. Gemeinsam können wir auch die Arbeitslosigkeit beseitigen. Keiner schafft es allein. Unternehmer, Betriebsräte, Gewerkschaften, Kirchen, Verbände, Arbeitsämter, Bund, Länder und Gemeinden müssen zusammenwirken. Deshalb genügt ein runder Tisch der sozialen Verantwortung allein in Bonn nicht. Überall, in jedem Bundesland, jeder Stadt, jedem Landkreis muß ein solcher Tisch gebildet werden; denn Patentrezepte gibt es nicht. Ortsnah, der unterschiedlichen Lage der Betroffenen und der unterschiedlichen Lage in Regionen und Sektoren entsprechend muß gehandelt werden. Deshalb sollte der runde Tisch von Bonn auch ein Beispiel für eine neue Gemeinsamkeit sein. Wir brauchen tausend Tische der Kooperation.
Wir kommen voran. Nach Jahren der Talfahrt geht es wieder bergauf mit den Arbeitsplätzen. Seit 1983 haben wir mehr als 1 Million neuer Arbeitsplätze geschaffen. Saisonbereinigt hatten wir im März und April 1989 über 27,5 Millionen Erwerbstätige in der Bundesrepublik. Das ist der höchste Beschäftigungsstand in der 40jährigen Geschichte unserer Republik.
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Die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit weist von September 1983 bis September 1988 einen Zuwachs von 1,2 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus. Vor allem die Frauen haben von diesem Beschäftigungsgewinn profitiert. Über 700 000 Frauen haben seitdem zusätzlich einen Arbeitsplatz neu gefunden.
({10})
Nie zuvor hatten mehr Frauen einen Arbeitsplatz in der Bundesrepublik. Nie zuvor!
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Die Arbeitslosenzahlen sind nicht in gleicher Stärke gesunken, wie sich die Zahl der Arbeitsplätze erhöht hat. Das hängt damit zusammen, daß die Nachfrage nach Arbeit gewachsen ist. Die demographische Entwicklung durch die geburtenstarken Jahrgänge erhöhte das Arbeitskräftepotential bei den Deutschen um 443 000, bei den Ausländern um 294 000. Das gestiegene Erwerbsverhalten vor allem von Frauen erhöhte es um 250 000. Die Zuwanderung von Aussiedlern, Übersiedlern und Ausländern erhöhte es um 278 000.
Am größten sind unsere Erfolge im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit. Der Anteil der Arbeitslosen unter 25 Jahren an allen Arbeitslosen betrug im März 1989 bei uns 16,8 %. In Italien lag er bei 54,2 %, in Spanien bei 42,8 %, in Frankreich bei 29,3 % und in Großbritannien bei 28,8 %. Wir sind im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit das erfolgreichste Land in der EG.
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Die Zahl der Kurzarbeiter, die Ende 1982 auf über 1,1 Millionen Arbeitnehmer gestiegen war - Kurzarbeit ist ja eine Teilarbeitslosigkeit - , lag im April 1989 bei 200 000. Die Zahl der gemeldeten offenen Stellen hat sich seit Ende 1982 vervierfacht.
Meine Damen und Herren, hinter den Zahlen der Statistik verbergen sich menschliche Schicksale.
({13})
Deshalb wird die Arbeitslosigkeit nicht mit der Statistik beseitigt.
({14})
Statistik ist nur ein Ausdruck der Verhältnisse, aber nicht die Realität. Doch wenn sie die Realität widerspiegeln soll, muß die Statistik stimmen. Bereits die vielbekämpfte Volkszählung hat mehr Klarheit geschaffen. Unsere Beschäftigtenzahl ist höher, als wir vor der Volkszählung wußten.
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Die neuen Daten haben bei den regionalen Arbeitslosenquoten zum Teil zu sensationellen Absenkungen geführt. So hat z. B. Leer nach der Neuberechnung eine Arbeitslosenquote nicht von 17 %, sondern realistisch im April von 13,4 %.
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Das ist nicht nur ein Unterschied in der Stelle hinter dem Komma!
Arbeitslos gemeldete Mitbürger, die sich drei Monate nicht mehr bei ihrem Arbeitsamt gemeldet haben, lassen doch zumindest erkennen, daß sie kein elementares Interesse haben, Arbeit zu suchen. Wer nicht Arbeit sucht, ist auch nicht arbeitslos. Es könnte ja sein, daß wir sonst als Arbeitslose jene, die schon längst Arbeit gefunden haben, oder ausländische Mitbürger, die wieder in ihre Heimat zurückgekehrt sind, zählen. Selbst Mitbürger, die verstorben sind, könnten sich noch als Arbeitslose in unserer Statistik befinden.
Wenn 58jährige selbst entscheiden, daß sie bis zu ihrer vorzeitigen Rente mit 60 Jahren keine Arbeit mehr suchen, also auf Vermittlung verzichten, warum sollten wir sie dann zur Vermittlung zwingen? Wenn sie aber darauf verzichten, können wir sie auch nicht in der Statistik führen. Statistische Klarheit ist ein Beitrag zur Arbeitsmarktwahrheit.
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Über die tatsächliche Befindlichkeit der Arbeitslosen gibt keine Statistik Auskunft. Neben der großen Zahl von arbeitslosen Mitbürgern, die fast verzweifelt nach Anschluß an die Arbeitswelt suchen und die mein ganzes Mitgefühl haben, neben traurigen Resignierten, die auch mein Mitgefühl haben, neben denjenigen also, die verzweifelt Anschluß suchen, gibt es auch fröhliche Aussteiger, die arbeitsloses Sozialeinkommen konsumieren und damit ihren Lebensunterhalt bestreiten.
({18})
Das A und O der Vollbeschäftigung sind Arbeitsplätze. Arbeitsplätze entstehen nicht ohne Investitionen. Es wird wieder mehr investiert als in vielen Jahren zuvor. Investitionen und Konsum sind der Motor der Wirtschaft.
1982 betrugen die realen Bruttoanlageinvestitionen der Unternehmen 168 Milliarden DM. 1988 waren es 218,9 Milliarden DM. Das ist ein Plus von mehr als 50 Milliarden DM!
Der Unternehmenssektor kann Investitionen zunehmend aus eigener Kraft finanzieren. 1980 lag die Selbstfinanzierungsquote bei 67,7 %, 1988 bei 96 %.
326 000 Unternehmen wurden im letzten Jahr neu gegründet. Das ist ein Existenzgründungsrekord und der Beweis, daß unternehmerischer Wille nicht ausgestorben ist.
({19})
Meine Damen und Herren, unser bestes Beschäftigungsprogramm - besser als alle Beschäftigungsprogramme mit Formularen - ist die Steuerreform. Sie hat in den Taschen der Bundesbürger 1987 und 1988 eine Nachfrage von zusammen netto 24,6 Milliarden DM geschaffen. 1990 werden es netto rund 40 Milliarden DM sein, die Verbrauchsteuererhöhungen gegengerechnet.
Während der reale private Konsum 1982 um 11,2 Milliarden DM absank - meine Damen und Herren, der private Konsum sank 1982 um 11,2 Milliarden DM ab! -, stieg er 1985 um 11,7 Milliarden DM. Das ist fast der gleiche Betrag, nur einmal mit roten Zahlen - man merke sich: das ist schlecht - und einmal mit schwarzen Zahlen - man merke sich: das ist gut.
({20})
1986 stieg er um 29,4 Milliarden, 1987 um 32,4 Milliarden, 1988 um 23,4 Milliarden.
({21})
Meine Damen und Herren, das ist ein Plus für die Bürger unserer Republik, das ist ein Plus gegenüber 1982 von knapp 100 Milliarden DM. Ich gebe zu, es wurde nicht durch große Verteilungsbürokratien ausgeteilt und deshalb möglicherweise nicht bemerkt. Wir machen eine Politik, die dem Bürger das Geld beläßt; er weiß besser als alle Verteilungspolitiker, was er damit anfangen soll.
({22})
Zudem bleibt in der Umverteilungsbürokratie zuviel hängen.
Wir vertrauen beim Arbeitsplatzgewinn mehr auf die privaten Investitionen als auf die öffentlichen. Es ist nämlich ein alter sozialistischer Irrtum, anzunehmen, der Staat mache alles besser. Es ist im Grunde ein Überbleibsel aus alten, obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen.
({23})
Das hat selbst Gorbatschow, Frau Unruh, begriffen. Er
folgt in seinen Reformbemühungen weniger den Anregungen unseres Landsmanns Karl Marx aus Trier
und mehr den Anstößen unseres Landsmanns Ludwig Erhard aus Fürth.
({24})
Planwirtschaften sind die Ladenhüter des Sozialismus und Wirtschaftsbürokratien ihre Relikte. Soziale Marktwirtschaft hat Zukunft; das ist der Sieg unserer Ideen.
({25})
Dabei haben wir den öffentlichen Sektor nicht zu kurz kommen lassen. Von 1983 bis 1988 hat der Bund allein in den Verkehrsbereich 75 Milliarden DM investiert, davon 13,35 Milliarden 1988. Mit diesen Investitionen - ich nenne sie nur beispielhaft - wurden 235 000 Arbeitsplätze geschaffen bzw. gesichert. Im Haushalt - alles nur beispielhaft - der Bundespost sind 1989 insgesamt 19,7 Milliarden DM für Investitionen, für Arbeitsplätze veranschlagt. Das ist weit mehr als das Doppelte gegenüber 1979, wo 8,2 Milliarden DM veranschlagt waren. Die von Fortschrittsgegnern lange bekämpfte Verkabelung schuf neue Arbeitsplätze, hat also nicht nur die Kommunikation verbessert, sondern auch die Zahl der Arbeitsplätze.
({26})
Wir haben durch den Umweltschutz kräftige Investitionsimpulse gegeben. Mit der Großfeuerungsanlagen-Verordnung und der Novellierung der TA Luft wurde ein Investitionsvolumen von 38 Milliarden DM bewegt. Das sind 38 Milliarden DM mehr als vorher. Die Einführung des schadstoffarmen Pkw hat kaufkräftige Nachfrage in Höhe von 12 bis 14 Milliarden DM geschaffen. Die staatliche, von uns initiierte Umweltpolitik sichert und schafft, wie Fachleute schätzen, 440 000 Arbeitsplätze. Wir geben dem sozialen Wohnungsbau kräftige Impulse. 1,25 Milliarden DM stellen wir dazu im kommenden Jahr zur Verfügung.
Auch die Sozialpolitik, meine Damen und Herren, stand nicht abseits, nicht abseits auch beim Kampf für die Arbeitslosen, gegen die Arbeitslosigkeit. Ihr Beitrag ist es, nicht durch Steigerung der Lohnnebenkosten den Arbeitsplatz unattraktiv zu machen und damit Arbeitslosigkeit zu befördern. Ohne die Gesundheitsreform wären in diesem Jahr 4 Milliarden DM weniger freies Geld in den Taschen der Beitragszahler. Auch das ist ein Beitrag der Gesundheitsreform für die Arbeitslosen.
({27})
Ohne unsere Konsolidierungsmaßnahmen in der Rentenversicherung, hätten wir nichts gemacht, müßten die Beiträge in diesem Jahr um 2 Prozentpunkte höher sein. 17 Milliarden DM müßten die Beitragszahler mehr zahlen, hätten wir die Rentenversicherung nicht konsolidiert.
({28})
Krankenversicherung und Rentenversicherung zusammengezählt, sind, fast unbemerkt, 21 Milliarden
DM dafür, daß die Wirtschaft entlastet und Spielraum für neue Arbeitsplätze geschaffen wird.
Wir unterstützen die Bundesanstalt für Arbeit in diesem Jahr mit 4 Milliarden DM aus der Bundeskasse. Ohne diesen Zuschuß wären die Lohnnebenkosten um einen halben Beitragspunkt höher. Zählen Sie einmal zusammen! 25 Milliarden DM allein als Beitrag der Sozialversicherung auch für die Arbeitslosen.
({29})
- Herr Kollege Friedmann, einen so hohen Stundenlohn habe ich nie erwartet.
({30}) Ich setze auf meine Verdienste im Himmel.
({31})
Zu unserer Politik für mehr Arbeitsplätze gehört nicht zuletzt die aktive Arbeitsförderung, die ein Rekordniveau erreicht hat. Wir haben das Finanzvolumen der aktiven Arbeitsmarktpolitik von 6,9 Milliarden DM - hören Sie gut zu; ich will es ganz langsam zum Mitschreiben sagen - 6,9 Milliarden DM 1982, dem letzten Jahr, in dem die SPD Verantwortung hatte, auf 15 Milliarden DM 1988 mehr als verdoppelt. Und 1989, wo Sie davon sprechen, wir ruinierten die Abeitsmarktpolitik, haben wir immer noch 15 Milliarden DM, immer noch mehr als doppelt so viel wie 1982.
Hinzu kommen die neuen Hilfen des Bundes für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit in Höhe von 1,75 Milliarden DM auf drei Jahre.
Mit unseren arbeitsmarktpolitischen Aktivitäten wurde die Arbeitslosigkeit - so schätzen Fachleute - rechnerisch von 440 000 Arbeitnehmern vermieden.
Die Eintritte in die beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen haben sich von 1982 bis 1988 mehr als verdoppelt. 1982 - wieder das entscheidende Vergleichsjahr - waren es 265 000; 1988 waren es 565 000. Das ist eine Steigerung um 113,4 %. Auch 1989 werden wir ein sehr hohes Niveau haben. Es war notwendig, einen Deckel draufzusetzen, auch deshalb, damit sich nicht immer mehr Unternehmen auf Kosten der Bundesanstalt von ihren Pflichten zur betrieblichen Qualifizierung entlasten.
In Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen werden 1989 rund dreimal so viel arbeitslose Arbeitnehmer beschäftigt sein als zu SPD-Zeiten; rund dreimal so viel!
({32})
Durch die Einführung eines Überbrückungsgeldes nach § 55a AFG konnten von 1986 bis 1989 35 897 ehemals Arbeitslose den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit finden. Meine Damen und Herren, auch das ist ein Ausweg aus der Arbeitslosigkeit: Selbständigkeit der Arbeitnehmer.
Meine Damen und Herren, ich trage diese Zahlen deshalb vor, weil ich glaube, daß wir mit Fakten gegen die Propaganda, wir seien arbeitsmarktpolitisch untätig, ankämpfen müssen.
({33})
Nie war eine Bundesregierung, nie war eine Koalition mit ihren Arbeitsmarktmaßnahmen offensiver, als es die unsrige ist.
Frauen sind die Hauptgewinner unserer Politik: Sie haben mehr Arbeitsplätze. Wir haben im Arbeitsförderungsgesetz die Wiedereingliederung von Frauen ins Erwerbsleben erleichtert. Darüber haben Sie 13 Jahre lang gesprochen; wir haben Wiedereingliederung finanziell gefördert. Wir haben die Rückkehr der Arbeitnehmerinnen ins Erwerbsleben erleichtert, und zwar nicht nur durch Worte. Worte haben Sie genug gemacht, aber Sie haben nichts getan. Wir haben den § 55 geschaffen; das ist für jeden nachzulesen. So kann z. B. eine Mutter heute fünf Jahre für jedes betreute Kind aus dem Erwerbsleben ausscheiden und behält dennoch ihren Anspruch auf Unterhaltsgeld bei beruflicher Qualifizierung.
({34})
Meine Damen und Herren, warum regen Sie sich pausenlos auf? Ich gebe doch nur eine sachliche Information.
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Sie müssen doch daran interessiert sein, daß die Bürger endlich erfahren, welches Angebot wir ihnen machen. Haben Sie kein Interesse, daß die Frauen erfahren, welche Chancen, welches Angebot die Bundesanstalt zur Verfügung stellt? Das einzige Ärgerliche ist, daß es zu Ihrer Zeit nicht so war; das gebe ich zu. Das ist das einzige Ärgerliche.
Das gleiche gilt für Rehabilitations- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen.
Auch die Unterstützung der Arbeitslosen haben wir nicht verkommen lassen. Im Gegenteil: Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes für ältere Arbeitslose haben wir von 12 auf 32 Monate verlängert. Nicht 12, sondern 32 Monate Arbeitslosengeld bewahren viele ältere Arbeitslose davor, daß sie die Arbeitslosenhilfe in Anspruch nehmen müssen.
({36})
Auch das ist wieder eine Politik ohne große Worte, aber mit handfester Hilfe.
Was ist aber weiterführend zu tun? Eine Schlüsselstellung im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit nimmt die Qualifizierung der Arbeitnehmer ein. Die Modernität einer Wirtschaft wird nicht allein am Grad ihrer technischen Ausstattung gemessen. Der menschliche Faktor wird wichtiger als die sachliche Ausstattung. Theoretische und praktische Intelligenz ist unser wichtigster Rohstoff. Der Facharbeitermangel signalisiert Qualifikationsverspätungen. Es geht dabei nicht lediglich um die Erstausbildung, sondern um eine kontinuierliche Weiterbildung. Sie gehört zur Alltagsaufgabe der Unternehmen.
Wir müssen den bequemen Ausweg versperren, daß die Qualifizierung vornehmlich durch die Bundesanstalt für Arbeit vorgenommen wird. Betriebliche Qualifizierung ist anwendungsnäher. Das zeigt sich auch daran, daß der Anteil der Arbeitslosen an den Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit gesunken ist. Der Anteil der Arbeitslosen geht also zurück. Das zeigt aus meiner Sicht eine Fehlentwicklung an. Das zeigt an, daß mehr Betriebe die Bundesanstalt wie eine Hängematte benutzen: Sie übertragen der Bundesanstalt etwas, wofür sie eigentlich vorgesehen sind. Der erste Adressat der Hilfen der Bundesanstalt muß der Arbeitslose sein. Insofern muß ein Deckel auf die Qualifizierung durch die Bundesanstalt gelegt werden, damit wir zur Konzentration auf die Arbeitslosen fähig werden.
Ich denke, daß auch eine zukunftsweisende Tarifpolitik ihren Beitrag zur Qualifizierung leisten kann. Sie wird wachsende Freizeit nicht als Leerzeit - mit Doppele - organisieren, sondern mehr als Lernzeit. Der Gewinn an Produktivität muß auch ein Gewinn an Erkenntnissen und Fertigkeiten werden. Erste Ansätze in der Tarifpolitik sind bereits erkennbar. Ich will ausdrücklich den Tarifvertrag zwischen der IG Chemie und dem Bundesarbeitgeberverband Chemie dabei erwähnen. Tarifpartner bewegen sich auf diesem Gelände und in dieser Aufgabe, Freizeit nicht als passive Zeit zu verstehen, sondern auch zur Qualifizierung der Arbeitnehmer zu nutzen.
Der zweite Punkt ist die Arbeitszeit. Unsere Arbeitszeitgewohnheiten hinken um Jahrzehnte hinter den technischen Möglichkeiten der Individualisierung unserer Arbeitszeit her. Individualisierung bedeutet mehr Selbstbestimmung für die Arbeitnehmer und die Chancen, Lebens- und Arbeitsrhythmus wieder besser in Übereinstimmung zu bringen, als uns das in den letzten hundert Jahren gelungen ist.
({37})
Das ist doch auch ein Teil des Fortschritts. Der Name des Fortschritts heißt Differenzierung. Wir kommen in eine Phase der Arbeitskultur, die nach individueller Gestaltung verlangt und die sich am härtesten an den alten, starren Arbeitszeitmustern stößt.
Meine Damen und Herren, verordnete Arbeitszeit und gewünschte Arbeitszeit verhalten sich zueinander wie der untaugliche Versuch eines Spitzentanzes in mittelalterlichen Ritterrüstungen.
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Die Arbeitszeit ist geradezu das starre Korsett gegenüber den Wünschen der Menschen, ihre Arbeitszeit individueller zu gestalten. Vielleicht hat ein 60jähriger andere Arbeitszeitbedürfnisse als ein 20jähriger. Vielleicht hat ein erziehender Elternteil andere Arbeitszeitbedürfnisse als der alleinstehende. Der Kollektivismus schert sie alle über den gleichen Kamm. Deshalb ist er unfähig, die differenzierten Bedürfnisse der Modernität zu erfüllen.
({39})
Mein Beweisstück der Erstarrung sind die Teilzeitangebote. Während wir hierzulande nur 13 % Teilzeitarbeitsplätze haben, sind es - man höre und staune - in Norwegen 30 %, in Schweden 25 %.
({40})
- Das ist keine Zeitvergeudung, wenn ich Ihnen vorhalte, daß im sozialdemokratischen Musterland Schweden doppelt so viel Teilzeitarbeitsplätze wie hier sind und daß die Sozialdemokraten hier immer noch die Teilzeit madig machen.
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Es ist keine Zeitvergeudung, der deutschen Öffentlichkeit vorzuführen, daß die Sozialdemokraten noch immer in den Schützengräben des 19. Jahrhunderts liegen, während die Aufgaben der Arbeitszeitgestaltung ganz woanders zu finden sind.
In den Niederlanden ist der prozentuale Anteil der Teilzeitarbeitsplätze doppelt so hoch wie bei uns, in Dänemark beträgt er 24 %, in Großbritannien 22 %, in den USA 17 %.
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Die Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen ist auch bei uns vorhanden. Knapp 225 000 arbeitslosen Teilzeitsuchenden standen im April 1989 nur 23 900 offene Stellen zur Verfügung.
Wenn die Bürger Teilzeit wünschen, wieso maßt sich die Politik an, diesen Wunsch als minderwertig zu empfinden? Der Wunsch der Bürger ist uns Befehl.
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Wie kommen Sie eigentlich dazu, sich zum Vormund der Arbeitnehmer zu erklären? Wenn die Arbeitnehmer das wünschen, haben wir die Aufgabe, die Teilzeit gegen Mißbrauch zu schützen, sie als ein modernes Angebot attraktiv zu machen.
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Sie schafft mehr Brücken zwischen Beruf und Familie, sie ermöglicht den Übergang - dafür haben wir die Altersteilzeit geschaffen - vom Erwerbsleben in den Ruhestand. So starr, stur, borniert, verkalkt, wie heute die Übergänge sind, waren sie über Jahrtausende nicht. Das ist eine Erfindung des Industriezeitalters, und von der können wir Abschied nehmen.
({45})
Eine im Auftrag des Bundesministeriums für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit durchgeführte Studie zeigt: Ein Drittel der in Vollzeit beschäftigten Frauen und immerhin 10 % aller vollzeitbeschäftigten Männer würden eine Teilzeitbeschäftigung suchen. Aber nur weniger als 10 % der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die 1980 einen Wechsel zur Teilzeitarbeit vorhatten, ist das bis 1985 auch gelungen. Nur jeder Zehnte, der einen Wunsch nach Teilzeitarbeit hatte, hat ihn erfüllt bekommen. Wie rückständig sind wir in Sachen Arbeitszeit?
Das Prachtexemplar - wir werden ja später noch darüber sprechen - unserer Arbeitszeiterstarrung ist der Ladenschluß. Das ist unser Prachtexemplar.
({46})
So eingeschränkte Ladenschlußzeiten, wie es sie bei uns gibt, gibt es in keinem Land Westeuropas.
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Es gibt blühende Vielfalt überall in Westeuropa, aber bei uns gibt es die Einöde einer Arbeitszeit-Eiszeit.
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Wie ein plumper Dinosaurier steht in dieser Eiszeit unser Ladenschluß. Wir werden in der späteren Debatte darauf zurückkommen. Ein Schritt auf Europa zu heißt auch ein Schritt zu mehr Flexibilität.
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Was ich immer so merkwürdig finde, ist: Da kommen die Leute aus dem Urlaub aus Italien und Spanien zurück
({50})
- das will ich noch einmal erzählen - , feiern und erzählen, wie schön es im Ausland war, und marschieren anschließend zur HBV, um gegen das zu demonstrieren, was wir so machen wollen, was sie im Ausland bewundert haben. Diese Schizophrenie habe ich noch nie verstanden.
({51})
Meine Damen und Herren, wir brauchen auch neue Beschäftigungsfelder. Wir brauchen sie auch für jene, die in der technologischen Welt nicht zurecht kommen und deren Arbeitskraft nicht weniger wertvoll ist als die Arbeitskraft desjenigen, der einen Computer bedient. Der Dienst am Menschen hat hierzulande einen geringen Stellenwert. Die Bedienung von Maschinen hat ein höheres Prestige als der Dienst am Menschen. Die Entlohnung unserer Pflegekräfte - auch im Krankenhaus - beweist das ja. Das Gesundheits-Reformgesetz bietet mit mehr als 5 Milliarden DM das Geld, um neue Möglichkeiten einer Infrastruktur ambulanter Dienste aufzubauen durch Kirchen und Wohlfahrtsverbände. Ich frage: Sind wir darauf vorbereitet? Sind wir - die Kirchen, die Gesellschaft - auf eine solche Notwendigkeit und Chance vorbereitet?
Was mir Sorgen bereitet, das ist das Schicksal der Ungelernten. Ein Teil wird qualifizierungsfähig sein, aber ein Teil nicht, und auch die haben einen Anspruch auf Mitarbeit.
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Was heißt überhaupt ungelernt? Vielleicht erfüllen sie nicht die Erfordernisse unserer herkömmlichen Berufsbilder, vielleicht sind sie für bestimmte Technologien nicht geeignet, aber vielleicht ist die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung mindestens so wichtig wie die Fähigkeit, die Einsteinsche Relativitätstheorie erklären zu können. Ich denke, daß wir auch mehr Phantasie entwickeln müssen, soziale Dienste auszubauen. Im Dienstleistungssektor hat es Zuwächse gegeben. Heute sind rund 3 Millionen Arbeitnehmer im Bereich der humanen Dienste beschäftigt. Das sind 1,5 Millionen mehr als 1960. Zu den Humandiensten zähle ich erzieherische, soziale, pflegerische und medizinische Berufe. Dennoch haben wir einen enormen Rückstand der humanen Dienste im Vergleich zu den westlichen Ländern. Wir sind auch ungenügend vorbereitet, jenes Zwischenfeld zwischen den Profis und
den Amateuren des Sozialstaats sinnvoll zu erfüllen. Die Grenzen sind fließend. Wenn wir dieses Feld nicht sinnvoll besetzen, dann wächst die Gefahr, daß das Soziale als Lebenselement schwindet. Ich weiß, daß es auch hier große Aufgaben für uns, für den Gesetzgeber, gibt, jenes Zwischenfeld, das mit Kleinstarbeitsverhältnissen besetzt wird, nicht als Ausbeutungsverhältnisse zu organisieren. Es gilt, jenes Zwischenfeld neu zu ordnen, damit hier nicht trojanische Pferde entstehen, die den Sozialstaat unterwandern. Aber die Gefahren zurückzudrängen heißt doch nicht, auch die Chancen zurückzudrängen. Es gilt, die Gefahren zurückzudrängen und die Risiken zu mindern, aber die Chancen, die in diesem Zwischenfeld liegen, zu nutzen.
({53})
Nachbarschaftshilfe und freie Wohltätigkeit sind noch immer die Aschenputtel unseres Sozialstaats. Wir brauchen eine neue Infrastruktur für einen subsidiären Sozialstaat. Die großen Sozialapparaturen schaffen keine Geborgenheit. Paragraphen bleiben kalt. Wir halten Ausschau nach einer neuen familiären nachbarschaftlichen Kultur. Der Einsame sich selbst überlassene einzelne, der völlig Verlassene kann nicht die Leitfigur der Solidarität sein. Arbeit bleibt die große Solidaritätsaufgabe und die Bewährung unserer Solidaritätsfähigkeit.
Lassen Sie mich diese Erklärung zur Lage auf dem Arbeitsmarkt mit dem Ausblick auf Europa schließen. Kriege und Katastrophen sind die schlimmen Herausforderungen der Menschheit. Wir wollen und brauchen nicht Gewalt als Bewährungsprobe unserer Innovationsfähigkeit. Die Einigung Europas ist die friedliche Herausforderung unserer Kreativität. Europa, das ist die Bewährungsprobe unserer Zeit. Der europäische Binnenmarkt 1992, davon bin ich überzeugt, wird ein historisches Datum. Schlagbäume und Grenzen verschwinden. Europa findet zur neuen Vitalität. Ein Markt von 320 Millionen Verbrauchern entsteht.
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Kleinstaatlicher Provinzialismus, der alles beim alten läßt, wäre eine reaktionäre Antwort auf amerikanische und fernöstliche Märkte. Eine Renaissance Europas eröffnet neue, nicht nur wirtschaftliche, aber auch wirtschaftliche Chancen. Eine exportorientierte Wirtschaft wie die unsrige bringt dafür die besten Konditionen ein. Bereits heute gehen 54 % unserer Exporte im Wert von über 300 Milliarden DM zu unseren EG-Partnern. 3,8 Millionen Erwerbstätige leben schon jetzt von diesem Export.
Es wird allerdings nicht alles beim alten bleiben können. Auch das ist die Herausforderung an uns. Tausend Zwirnsfäden der Bürokratie werden gekappt werden müssen. Nicht Brüsseler Formulare, sondern ein freier, sozialer, europäischer Markt bestimmt die wirtschaftliche Zukunft Europas. Neue Arbeitsplätze werden entstehen. Der Cecchini-Bericht geht von Arbeitsplatzgewinnen zwischen einer und fünf Millionen aus.
({55})
Vielfalt, meine Damen und Herren, das ist das beste Erbstück abendländischer Tradition, und Arbeitsteilung ist ihr wirtschaftliches Pendant. Handel und Wandel treiben sich wechselseitig vorwärts. Es geht ein Lufthauch von Freiheit und Bewährung durch Europa. Die Arbeitnehmer werden die ersten sein, die davon profitieren. Denn unsere wichtigste Aufgabe im sozialen Europa ist Arbeit für alle.
({56})
Meine Damen und Herren, ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Heyenn.
Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben eigentlich andere Ansprüche an eine Regierungserklärung.
({0})
Ich habe den Eindruck, der Bundesarbeitsminister hat hier unter dem Vorwand, eine Regierungserklärung abzugeben, eine parteipolitische Rede gehalten. Er hat für mich dieses Plenum heute morgen mißbraucht.
({1})
Aber was will man erwarten? Kann man von einer schwachen Regierung eine starke Erklärung erwarten? Ich glaube: kaum.
({2})
Meine Damen und Herren, dies war ein Festakt neuer Bescheidenheit. Vor Jahren hat dieser Bundesarbeitsminister gesagt, er wolle die Zahl der Arbeitslosen um 1 Million reduzieren. Heute gibt es eine Jubelfeier, weil die Zahl von 2 Millionen um einige 10 oder 20 Arbeitslose unterschritten ist. Das sind immer noch 350 000 mehr als im Mai 1982.
({3})
- Ihre Aufgeregtheit, meine Herren, zeigt Ihre Betroffenheit. Was bedeutet es denn, wenn hier von einer Vielzahl neuer Arbeitsplätze gesprochen wird? Es sind nicht einmal 100 000 neue Vollzeitarbeitsplätze. Alles andere ist im Bereich der Teilzeit. Viele sind dadurch entstanden, daß man bisherige sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse in 450-Marks-Verhältnisse geteilt hat.
({4})
Das, meine Damen und Herren, kann man doch wohl nicht feiern.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Kolb?
Im gegenwärtigen Moment noch nicht, Herr Kolb, etwas später bitte.
In dieser Regierungserklärung - offiziell heißt sie ja so - waren wenige Sätze richtig.
({0})
Das waren die Sätze, daß sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen seit der Wende 1982 mehr als verdoppelt hat.
({1})
Mehr als 800 000 Bürger sind inzwischen mehr als ein Jahr arbeitslos, und die Zahl derjenigen, die mehr als zwei Jahre arbeitslos sind, hat sich seit 1982 sogar mehr als vervierfacht.
({2})
Diese Situation verlangt andere Antworten, als sie die Regierung hier gegeben hat. Ich kann auch verstehen, daß die Maßnahmen in Richtung Langzeitarbeitslosigkeit in der Rede des Bundesarbeitsministers keine Rolle gespielt haben.
({3})
Das macht er außerhalb des Parlaments; denn hier hat er Schwierigkeiten, sich der Situation zu stellen, daß er in diesem Jahr 2,2 Milliarden DM bei den Mitteln der Bundesanstalt für Arbeit gekürzt hat,
({4})
um dann mit einem Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit für dieses Jahr ganze 116 Millionen DM zur Verfügung zu stellen; das sind 5 To der Mittel, die er vorher der aktiven Arbeitsmarktpolitik weggenommen hat.
({5})
Dies ist reine Schaumschlägerei, Herr Bundesarbeitsminister.
({6})
Für die Langzeitarbeitslosen ist dies ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich will mich gar nicht gegen diese Maßnahme aussprechen - sie ist in der Tendenz ja richtig ({7})
aber, Herr Feilcke, mir kommt das so vor wie eine mißverstandene Echternacher Springprozession. Dieser Bundesarbeitsminister arbeitet nämlich nach dem Motto: 20 Schritte zurück und einen Schritt nach vorne. Und so demontiert er den Sozialstaat.
({8})
- Herr Kittelmann, kümmern Sie sich ein bißchen um Berlin, sofern man Ihnen da noch die Möglichkeiten gibt.
({9})
Vor eineinhalb Jahren haben wir Sozialdemokraten den Antrag „Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose" hier eingebracht. Wir haben gefordert, daß der Bundestag beschließen möge, die von der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgelegte Denkschrift „Gezielte Hilfen für Langzeitarbeitslose" unverzüglich aufzugreifen und dem Deutschen Bundestag alsbald ein Konzept zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit zuzuleiten.
({10})
Nicht erst mit diesem Antrag wurde darauf aufmerksam gemacht, daß die bisherigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bei weitem nicht ausreichen. Herr Scharrenbroich, Sie sollten hin und wieder in eine Zeitung gucken. Unser Konzept liegt vor. Und es ist sogar von Vertretern Ihrer Fraktion gestern gelobt worden, aus Scham darüber, daß Sie sich nichts einfallen lassen, daß Sie nichts tun zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit.
({11})
Was Sie wollen, zeitlich eng befristete Beschäftigungen, bietet weder den betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern weiterreichende berufliche Perspektiven noch kann dadurch eine kontinuierliche Erfüllung sinnvoller Aufgaben sichergestellt werden.
Ich muß Sie noch einmal daran erinnern, daß der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung am 8. Juni vergangenen Jahres einstimmig erklärt hat: Alle Parteien nehmen sich fest vor, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken. - Aber wenige Tage danach war dieser Vorsatz bei den Vertretern der Koalition zusammengebrochen. Vielmehr kam das genaue Gegenteil. Vielleicht waren die Mitglieder der Koalitionsfraktionen ja im Sommer vergangenen Jahres noch guten Willens. Aber im Bundesarbeitsministerium wurde lange der Abbau der Arbeitsförderung vorbereitet. Das Ergebnis war die neunte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes, der massenhafte Abbau an Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen im Umfang von umgerechnet 1,3 Milliarden DM. Herr Blüm, das ist ein Skandal, den Sie sich dort für diese Regierung geleistet haben.
({12})
Aber das hat ja noch nicht ausgereicht. Wenige Monate später wurde der Bundesanstalt für Arbeit ein Einsparvolumen von einer weiteren halben Milliarde aufgezwungen - ein weiterer Skandal. Nun, ein weiteres halbes Jahr später, stellen die Experten der Arbeitsverwaltung mit Erschrecken fest, daß bei der Reduzierung der Qualifizierungsmaßnahmen eindeutig übersteuert wurde. Die Vorschriften sind so eng gefaßt worden, daß wir dort mit Einsparungen von fast einer weiteren halben Milliarde in diesem Jahr zu rechnen haben.
Das macht insgesamt 2,2 Milliarden DM Einsparungen in diesem Jahr zu Lasten der Arbeitslosen aus. Und Sie rühmen sich dann, daß Sie statt dessen 116 Millionen DM neu zur Verfügung stellen. Das Zwanzigfache wegnehmen, hinterher 5 % der Kürzungen wiedergeben und daraus eine Jubelfeier machen!
({13})
Sie haben sich das ja auch anders vorgestellt. In den ersten Meldungen nach den Wahlen von Berlin und von Frankfurt hieß es, Sie wollten bis zu 500 Millionen DM in diesem Jahr zur Verfügung stellen.
({14})
Das Geld sollte helfen, Langzeitarbeitslose mit Umweltschutzaufgaben und mit sozialen Diensten zu beschäftigen. Aber an dieser Meldung war nur eines richtig: Das Wahldebakel hatte die Regierung aufgeschreckt. - Ich freue mich, daß Ihre Konferenz beendet ist und daß Sie sich wieder der Debatte widmen können, Herr Minister.
({15})
Aber das war auch das einzig Richtige an dieser Meldung. Bei allem, was wir über das neue Programm der Bundesregierung wissen, geht es nicht um Umweltschutzaufgaben, nicht um soziale Dienste, es geht auch nicht um die Größenordnung von 500 Millionen DM, sondern es geht wirklich nur um schlappe 116 Millionen DM, um gerade 5 % der abkassierten Mittel.
Herr Bundesarbeitsminister, Sie kommen der Aufforderung der EKD nicht nach. Lohnkostenzuschüsse und Betreuungsmaßnahmen sind nur ein kleiner Teil dessen, was wirklich nötig ist. Sie täuschen Aktivität vor, aber Sie haben den Umfang und die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit während Ihrer Regierungszeit offensichtlich noch immer nicht wahrgenommen; ja Sie haben noch nicht einmal ein offenes Ohr, wenn die katholische und die evangelische Kirche in dieser Republik mit beredten Worten auf die Probleme dieser Menschen ohne jede Hoffnung hinweisen.
Für diesen Personenkreis - 800 000 Menschen - kommen Sie mit 116 Millionen DM, nachdem Sie vorher 2,2 Milliarden DM gestrichen haben. Ich glaube nicht, daß Sie rot werden können, Herr Bundesarbeitsminister, aber dieses Verhalten müßte Ihnen die Schamröte ins Gesicht treiben.
({16})
Wir haben Ihnen und diesem Deutschen Bundestag ein Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt. Wir sagen nicht, daß wir damit alle Probleme auf einmal bewältigen können. Aber die grundlegende Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit kann nur gelingen, wenn eine Vielzahl von Maßnahmen gleichzeitig zum Einsatz kommen. Dazu ist es notwendig, ein durch öffentliche Zukunftsinvestitionen gestütztes qualitatives Wachstum in den Bereichen Bildung, Nahverkehr, sozialer Wohnungsbau und soziale Dienstleistungen anzuregen. Dazu ist ein
umfassendes Programm „Arbeit und Umwelt" notwendig, um Umweltschäden zu beheben und neue zu verhindern. Dazu ist es nötig, die Verkürzung der Arbeitszeit zu forcieren. Dazu ist es nötig, eine aufkommensneutrale Umstrukturierung der Unternehmensbesteuerung zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für mehr Investitionen und mehr Arbeitsplätze vorzunehmen.
({17})
Wir wollen mit unserem Programm mit der Bewältigung der schwierigsten Probleme beginnen. Wir wollen mit unserem Programm, Herr Scharrenbroich, Beschäftigungs- und Qualifizierungsangebote für Langzeitarbeitslose machen, für einen besonderen Personenkreis ein Anrecht auf Beschäftigung und Qualifizierung schaffen. Dies ist eine Einstellungsgarantie - für die Bundesrepublik ein neuer Ansatz.
In anderen Ländern gibt es dazu längst praktische Erprobungen: in Schweden für jugendliche Arbeitslose, in Dänemark für Langzeitarbeitslose. In einschlägigen Untersuchungen, z. B. des Wissenschaftszentrums Berlin, wird über die Erfolge berichtet.
Wir wollen, daß die positiven Erfahrungen nutzbar gemacht werden. In einem ersten Schritt, meine Damen und Herren, soll das Anrecht auf Beschäftigung bzw. Qualifizierung gelten: für Arbeitslose, die länger als vier Jahre arbeitslos sind, und für junge Arbeitslose bis zum 25. Lebensjahr, sofern sie länger als zwei Jahre arbeitslos sind. Unser Ziel ist es, das Angebot durch den Aufbau der notwendigen Infrastruktur für Arbeitslose auszuweiten, die mehr als zwei Jahre bzw. mehr als ein Jahr ohne Beschäftigung sind.
Nach unserer Auffassung ist es neben dieser Beschäftigungsgarantie für Langzeitarbeitslose notwendig, das bisherige ABM-Konzept weiterzuentwickeln. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen müssen für alle benachteiligten Zielgruppen des Arbeitsmarktes geöffnet werden, also auch für diejenigen, die keinen Leistungsanspruch erwerben oder erhalten konnten, z. B. Berufsanfänger und Sozialhilfeempfänger. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen müssen stärker mit Qualifizierungsmaßnahmen verbunden werden. Der nahtlose Übergang zwischen ABM sowie Fortbildung und Umschulung muß für alle Zielgruppen möglich sein.
Weiter: Die Beschäftigungsdauer in ABM muß auf bis zu fünf Jahre erweitert werden, wenn die regionalen Probleme dies erfordern.
({18})
Eine Qualifizierungsoffensive, von der der Bundesarbeitsminister lange Zeit ohne realen Bezug geredet hat, ist mehr denn je erforderlich. Vor dem Hintergrund des bevorstehenden EG-Binnenmarktes, meine Damen und Herren, waren die Schnitte in die Qualifizierungsmaßnahmen schlicht absurd. Es muß dringend wieder Ausbau geben.
({19})
Unser Programm nennt die Kriterien. Der europäische Binnenmarkt braucht besser und nicht schlechter ausgbildete Arbeitnehmer. Unser Programm geht davon aus, daß zwei Drittel der zu berücksichtigenden
Langzeitarbeitslosen in Beschäftigungsmaßnahmen und ein Drittel in Qualifizierungs- und Betreuungsmaßnahmen eintritt.
Unser Programm ist entsprechend den Vorschlägen der Evangelischen Kirche Deutschlands auf fünf Jahre ausgelegt. Wir halten es für zwingend notwendig, seine Wirksamkeit laufend zu überprüfen. Und niemand ist dafür besser geeignet als die Selbstverwaltung der Bundesanstalt für Arbeit. Wir wollen, daß das Programm entsprechend den Erfahrungswerten gegebenenfalls auch modifiziert wird. Wenn es sich bewährt, wollen wir es aufstocken.
({20})
Pro Jahr wollen wir zunächst 100 000 Stellen schaffen; das kostet Geld. Entsprechend den üblichen Haushaltsansätzen sind dafür für das kommende Jahr 3,6 Milliarden DM brutto erforderlich. Aber davon abzusetzen sind die durch die Maßnahmen entstehenden Einsparungen bei Arbeitslosengeld und bei Arbeitslosenhilfe in Höhe von rd. 1 Milliarde DM. Darüber hinaus werden die durch die zusätzliche Beschäftigung erwarteten Einsparungen und Beitragsmehreinnahmen bei Rentenversicherung und Bundesanstalt für Arbeit in Höhe von knapp 700 Millionen DM berücksichtigt. Die durch die zusätzliche Beschäftigung zu erwartenden höheren Steuereinnahmen bei Lohn- und Einkommensteuer bzw. bei indirekten Steuern sind mit rd. 400 Millionen DM abzusetzen. Daraus ergibt sich unter dem Strich eine Nettoausgabe für den Bund von 1,5 Milliarden DM im kommenden Jahr. Bei diesen Ausgaben sind zu erwartende Minderausgaben bei Wohngeld und der Sozialhilfe sowie die Mehreinnahmen bei der Krankenversicherung nicht berücksichtigt.
Der „Runde Tisch", Herr Bundesarbeitsminister
({21})
- wenn Sie so wollen, auch der „Runde Tisch der sozialen Verantwortung" -, das ist eine Aussage, die man noch einmal kritisch durchleuchten muß. Ich finde, es geht an die Grenze des Mißbrauchs derjenigen, die Sie eingeladen haben, um mit ihnen über die Problematik der Langzeitarbeitslosigkeit zu sprechen, wenn Sie berücksichtigen, daß Sie angesichts dieser Problematik in diesem Jahr um 2,2 Milliarden DM gekürzt, d. h. der aktiven Arbeitsmarktpolitik weggenommen haben und jetzt gerade 100 Millionen DM wieder zur Verfügung stellen.
Wir stimmen Ihren Aussagen zur Entbürokratisierung ja zu. Wir stimmen Ihren Aussagen zu, daß es tausend neue Runde Tische in dieser Republik geben muß. Genau in diese Richtung zielt auch unser Programm. Wir sagen: zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit und zur Umsetzung unseres Programms brauchen wir die örtlichen Selbstverwaltungen der Arbeitsämter und die Kommunen. Nur, wenn Sie etwas bewirken wollen, wenn Sie mehr als Schaumschlägerei betreiben wollen, Herr Bundesarbeitsminister, dann muß, wie wir Schleswig-Holsteiner sagen, Butter bei die Fische. Das können Sie nicht mit
100 Millionen DM machen, nachdem Sie um 2,2 Milliarden DM gekürzt haben.
({22})
Ich sage zu unserem Programm: Dies ist keine Alternative zu Ihren Almosen, sondern es ist das eigentliche Programm, das zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit vorgelegt worden ist.
({23})
Ich fordere Sie auf, meine Damen und Herren von der Koalition, wenn Sie Ihre soziale Verantwortung gegenüber den Langzeitarbeitslosen, die ihre Hoffnung in diese Gesellschaft lange begraben haben, ernst nehmen, im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung mit uns gemeinsam dazu beizutragen, daß ein wirksames Programm auf der Basis unserer Vorschläge zustande kommt. Ihr Programm ist völlig unzureichend. Wir brauchen einen wirksamen Beitrag zugunsten der Langzeitarbeitslosen in der Bundesrepublik, und wir brauchen hier nicht in Form von Regierungserklärungen verpackte Wahlreden.
({24})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Schemken.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Heyenn, nach Ihren Ausführungen komme ich allerdings zu der Erkenntnis, daß Sie kein Verständnis für solch einen „Runden Tisch der sozialen Verantwortung" haben, da Sie nur mit Rundumschlägen arbeiten. Es ist ein Unterschied, ob man sich um Konsens bemüht, an einem Runden Tisch den Problemen abzuhelfen, oder ob man mit Rundumschlägen und Zahlen operiert, die in der Tat an der Wirklichkeit vorbeigehen.
({0})
Ich frage Sie wirklich einmal: in welcher Statistik aus welchem Jahr tauchen diejenigen Arbeitslosen mit 450-DM-Verträgen auf?
Herr Heyenn, ich muß Ihnen sagen: In Ihrer Regierungszeit stieg die Arbeitslosigkeit - innerhalb von sechs Jahren - auf über 1,8 Millionen Arbeitslose an; gleichzeitig verdreifachte sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen, und zwar von 130 000 auf 330 000.
({1})
Damit das klar ist: Sie hätten, nachdem Sie die Arbeitslosigkeit in Ihrer Regierungszeit innerhalb von sechs Jahren auf die Zahl von 1,8 Millionen steigerten, doch allen Grund, dankbar dafür zu sein, daß wir nicht zusätzlich Arbeitsplätze abgebaut haben, sondern daß wir es - gemeinsam mit der Wirtschaft und, so will ich auch hoffen, mit der Arbeitnehmerschaft in den Betrieben - in sechs Jahren unserer Regierung geschafft haben, 1,2 Millionen mehr Arbeitsplätze bereitzustellen.
({2}) Dies ist ein Tatbestand.
Es ist auch nicht in dem Maße in der AFG-Novelle gekürzt worden, Herr Heyenn, wie Sie es dargestellt haben. Das wissen Sie sehr wohl. Nach wie vor stehen 15 Milliarden DM zur Verfügung.
({3})
450 000 Arbeitslose nehmen an Maßnahmen der Bundesanstalt für Arbeit teil; sie sind dabei, Arbeit zu bekommen. Wir stellen mehr und mehr fest, daß es offene Arbeitsplätze gibt. Daher lohnt es sich, an Qualifizierungsmaßnahmen teilzunehmen. Sie können doch hier nicht von Täuschung sprechen.
Wir haben einen Beschäftigungszuwachs. Wir haben mehr offene Stellen. Wir haben rückläufige Arbeitslosigkeit und geringere Kurzarbeit. Wir haben allerdings - das ist etwas, was sicher uns alle bewegen muß - in dieser Zeit auch die Tatsache, daß ein Drittel der Arbeitslosen Langzeitarbeitslose sind. Daß es oft schwer vermittelbare ältere Menschen sind, macht die Lage besonders kritisch. Ich sage das ganz offen. Genau um diesen Teil sollten wir uns gemeinsam kümmern, statt in Rundumschlägen zu versuchen, hier gegenseitig aufzurechnen.
Wir haben das seit 1982 getan. Bei 20 000 Arbeitnehmern wurden über die AFG-Novelle die Beschäftigungsverhältnisse in besonderer Weise mit 280,5 Millionen DM gefördert. 1988 waren es dazu weitere 27 000 über Eingliederungshilfe mit 213 Millionen DM. Natürlich gibt es Regionen, Berufe und spezielle Situationen auch bei Arbeitslosen, die keine Arbeit finden. Es ist kein Zufall - auch das sage ich ganz offen -, daß gerade im Land Nordrhein-Westfalen die Langzeitarbeitslosigkeit so hoch zu Buche schlägt. Das sind die versäumten Strukturmaßnahmen. Das ist versäumte Strukturpolitik.
({4})
Wir beklagen dies mit Ihnen für die Arbeitslosen, weil es in Baden-Württemberg und Bayern eben anders aussieht. Aber das macht uns doch die Sache nicht leichter.
Wir stellen fest, daß die 50- bis 55jährigen mit 103 000 beteiligt sind und daß von den 55- bis 60jährigen 142 000 langzeitarbeitslos sind. Hier müssen wir ansetzen. Wir haben in hervorragender Weise mit der Wirtschaft und dem Handwerk die Jugendarbeitslosigkeit in den Griff bekommen. Es wurden Ausbildungsstellen geschaffen, um mit einer solchen Schlüsselqualifikation der Langzeitarbeitslosigkeit vorzubeugen.
Zu den Maßnahmen, die der Arbeitsminister eingeleitet hat, sage ich für meine Fraktion ausdrücklich: Herzlichen Dank auch für die Runder-Tisch-Veranstaltung der sozialen Verantwortung.
({5})
Es ist sehr entscheidend, ob wir dies alles par ordre du mufti von der Arbeitsverwaltung oder aus der Regierung heraus erwarten oder ob hier endlich einmal die Gesellschaft insgesamt mitwirkt.
Ich sage herzlichen Dank auch einmal denen, die mitwirken. Ich sage das ganz bewußt. Ich gehe davon aus, daß diejenigen, die in diesen Einrichtungen für
Arbeitslose arbeiten, auch bereit sind, einen Anteil zu leisten. Was wir jetzt benötigen, ist nämlich Kreativität. Jeden einzelnen, den wir aus dieser schicksalhaften Gruppe heraus qualifizieren, können wir morgen in eine Arbeit vermitteln. Das ist der entscheidende Unterschied zu vorgestern und zu Ihrer Zeit von der SPD. Insofern herzlichen Dank den Trägern und den Kirchen, herzlichen Dank denen, die bisher Hilfen für die Betroffenen angeboten haben, gerade in den strukturschwachen Regionen.
({6})
Das sage ich ganz deutlich. Herzlichen Dank sage ich auch denen, die dort arbeiten. Ich meine das bis hin zum Sozialarbeiter. Hier wird eine hervorragende Arbeit geleistet. Die sollten wir auch hier ausdrücklich würdigen.
({7})
Vorgestern haben wir den Meister geehrt und uns bei ihm für die Ausbildung der Auszubildenden bedankt. Ich weiß, Frau Hillerich, da tun Sie sich schwer. Sie meinen, das kann die Schule alles leisten. Ich halte mehr von dem Meister, der das tut.
({8})
Nachdem wir uns also bei den Meistern bedankt haben, wollen wir uns jetzt bei denen bedanken, die in diesen Maßnahmen mithelfen.
Aber ich sage ganz offen: Dies ist ein großes Programm. Es geht um 1,5 Milliarden DM. Herr Heyenn, wie kommen Sie zu den 100 Millionen? Das ist mir aufgefallen und hat mich erschrocken gemacht.
({9})
Es sind 1,5 Milliarden in der ersten Abteilung, wo es darum geht, daß wir über die Betriebe den Langzeitarbeitslosen nicht nur Perspektiven, sondern möglicherweise auch einen Arbeitsplatz unmittelbar verschaffen. Es sind 250 Millionen für die Träger, mit denen wir jetzt kreativ ans Werk gehen wollen. Es kommt jetzt darauf an, was uns mit ihnen gemeinsam einfällt. Das sage ich ganz offen. Denn die ausgefahrenen Wege haben uns nicht den Erfolg gebracht. Die Schicksalsfrage am Ende ist, ob ich den, der in einer solchen Maßnahme ist und Hoffnung darauf setzt, daß er über eine solche Maßnahme qualifiziert wird, ins Wasser werfe und ihn schwimmen lasse oder ob ich ihn in Arbeit vermittle. Darauf kommt es an.
({10})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Heyenn, Herr Kollege Schemken?
Herzlichen Dank. Auch ich habe leider nur wenig Zeit zur Verfügung.
Es sind beachtliche Finanzierungsmittel. Wir geben sie - das sage ich ausdrücklich - unter dem humanen Aspekt, daß wir Menschen vor Langzeitarbeitslosigkeit bewahren wollen. Wir wissen sehr wohl, worüber wir hier reden. Denn für uns ist Arbeit immer noch mehr als nur Broterwerb. Ich sage das einmal ganz deutlich.
({0})
Es ist auch sehr wichtig für einen Familienvater, wenn er einer Arbeit nachgehen kann, vor seiner Familie und auch für ihn in seinem Selbstwertgefühl. Das drängen Sie weg; für Sie ist das geregelt, wenn er irgendwo in einer Maßnahme ist.
({1})
- Das sagen wir auch für die Frauen; da haben wir einiges aufgeholt; das muß ich allerdings sagen.
Die Statistik sähe völlig anders aus, hätten wir nicht seit 1980 eine so große Zahl von Frauen, die sich in den Arbeitsmarkt drängten, die sich zur Arbeit verfügbar hielten und die letztlich in einer größeren Zahl vermittelt wurden als Männer. Dies steht außer Frage.
({2})
Wir haben eindeutig weniger langzeitarbeislose Frauen als Männer. Das können Sie aus der Statistik herauslesen.
Wir möchten mit dieser Maßnahme - dazu fordern wir Sie mit auf - einen Weg gehen, der jetzt wirklich an die Betroffenen, an die Langzeitarbeitslosen, ein Angebot bedeutet, ein wirkliches Angebot, weil wir uns nun um diesen Kreis schwerpunktmäßig kümmern können.
Ich meine, ich darf auch einmal einen Dank an die EKD und an die katholische Kirche richten. Es sind von dort entscheidende Anstöße in diese Konzeption eingeflossen. Deshalb sind wir dankbar für dieses Mitwirken.
({3})
Aber wir fordern auch die Wirtschaft auf, sich nicht abseits zu stellen, wenn es um Weiterbildung geht. Auch Weiterbildung ist entscheidend zur Bewältigung von Langzeitarbeitslosigkeit.
Schönen Dank.
({4})
Meine Damen und Herren, ich wollte nur sagen, daß ich jetzt sehr auf die Redezeit achten muß, damit wir die zwei Stunden einhalten. Deswegen muß ich jeweils läuten, wenn die Redezeit zu Ende ist.
Jetzt hat der Herr Abgeordnete Hoss das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Arbeitsminister Blüm hat ein Zahlenwerk abgelassen. Er hat es hin und her gewendet und gedreht. Aber es bleibt die nüchterne Feststellung: Wir haben zum heutigen Zeitpunkt 2 Millionen Arbeitslose,
({0})
und wir haben über 700 000 Langzeitarbeitslose.
({1})
Daran kann nichts etwas ändern, auch nicht das, was Herr Blüm hin und her gewendet hat.
({2})
Es klingt uns noch in den Ohren, wie Herr Blüm und Herr Kohl zur Wende großspurig verkündet haben, daß die Erwerbslosigkeit in wenigen Jahren um eine Million heruntergedrückt wird. Obwohl die Wirtschaftsentwicklung in der Logik der Bundesregierung hervorragend ist, da sie nämlich Wachstumsraten von 2 bis 3 % hat, ist es nicht gelungen, dieses Ziel zu erreichen.
Wenn die Bundesregierung nun das minimale unterschreiten, in der Sommerzeit, in der günstigsten Zeit, schon als einen Erfolg verkaufen muß, so ist dies nicht nur zynisch gegenüber den Hunderttausenden von Menschen, die nach wie vor erwerbslos sind, sondern auch ein deutliches Zeichen dafür, daß die Bundesregierung nicht mehr ernsthaft an der tatsächlichen, spürbaren Reduzierung der Massenarbeitslosigkeit arbeitet.
({3})
Das ist ein Fiasko für die betroffenen Erwerbslosen, ihre Familien und ihr Umfeld und der Abschied der Repräsentanten dieser Regierung von einer Politik, die vorgibt, den Werten der Humanität und der Solidarität verpflichtet zu sein.
Das, was Sie jetzt mit großem propagandistischen Aufwand, Herr Blüm, bezüglich der Langzeitarbeitslosen hier machen, wovon noch nicht einmal 10 % der derzeitigen Langzeitarbeitslosen betroffen werden, muß illusionslos untersucht werden. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, daß Ihre vermeintlichen Erfolge auf tönernen Füßen stehen.
Erstens. Mit statistischen Kunstgriffen wird das wahre Ausmaß der Massenerwerbslosigkeit verschleiert, statt daß das Problem realistisch gesehen wird. Die Statistik unterschlägt seit der neunten Novelle Erwerbslose, die sich nicht alle drei Monate beim Arbeitsamt melden, obwohl sie keinerlei Leistungen mehr von dort beziehen, und solche, die nur geringe Vermittlungsaussichten haben. Erwerbslose, die unter die 58er Regelung fallen, und diejenigen, deren Erwerbslosigkeit nur durch eine kurzzeitige Beschäftigung von z. B. acht Tagen unterbrochen wird, werden in der Statistik nicht mehr als Langzeitsarbeitslose geführt, sondern beginnen wieder als neue Arbeitslose.
({4})
Ohne diese statistischen Tricks wäre die Erwerbslosigkeit um mindestens 150 000 höher. Aber selbst bei Anwendung der regierungsamtlichen Schönwetterstatistik wird das Niveau der Erwerbslosigkeit schon in den nächsten Monaten wieder steigen und saisonbereinigt über der von Ihnen selber so beschriebenen Schallmauer liegen.
Zweitens. Die rein quantitative und im alten Wachstum befangene Beschäftigungspolitik der Bundesregierung trägt nicht auf Dauer, da sie ausschließlich an
Unternehmensprofitinteressen und Profitorientierug gekoppelt ist.
({5})
- Das können Sie jetzt bei dem nächsten Satz sehen: Sie wird ohne Rücksicht auf ökologische Verluste und errungene arbeitsrechtliche Standards durchgeführt. Insofern ist Ihre Politik in gewissem Sinne frühkapitalistisch, und darum ist mein Vokabular auf Ihre Politik durchaus angebracht.
({6})
Statt im Schlepptau des quantitativen, weitgehend exportabhängigen und unökologischen Wachstums der Privatwirtschaft hinterherzuhecheln, ist die Erschließung neuer Tätigkeitsfelder in ökologischen und sozialen Bereichen arbeitsmarkt- und umweltpolitisch geboten.
Wenn Sie sich einmal die heutige Situation ansehen, wenn Sie die Luftbelastungen, die Wasserbelastungen, unser Müllproblem oder das Problem des Ozongases, das wir gestern hier diskutiert haben, betrachten, werden Sie feststellen, daß wahrlich ein Programm aufzulegen ist, das sich mit den ökologischen und sozialen Fragen unserer Gesellschaft beschäftigt. Das ist zu koppeln mit dem Problem des Arbeitsmarktes und der Schaffung von Arbeitsplätzen in diesen Bereichen.
({7})
Solches finden Sie übrigens in dem Antrag, der heute von der Fraktion der GRÜNEN Ihnen hier vorgelegt wird, und wir finden es auch - das freut uns Grüne sehr - im Antrag der SPD, die sich in den letzten Jahren - das ist sehr erfreulich - immer mehr den ökologischen Fragen, auch was den Arbeitsmarkt anbetrifft, angenähert hat.
Drittens. Auch der von der Bundesregierung immer wieder hervorgehobene Beschäftigungszuwachs von 900 000 oder einer Million Arbeitsplätzen kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Massenarbeitslosigkeit selber damit nicht heruntergedrückt wurde. Die Zahl liegt nach wie vor bei zwei Millionen.
Mehr als 50 % dieses Beschäftigungszuwachses sind Arbeitsverhältnisse, die zeitlich befristet sind. Da nur bei einem Viertel der befristeten Arbeitsverhältnisse nach Auffassung der Arbeitgeber Aussicht auf Dauer- bzw. Weiterbeschäftigung besteht und mehr als 16 % der Neuzugänge in Arbeitslosigkeit aus befristeten Arbeitsverhältnissen kommen, wird deutlich, daß es sich hierbei um ein beschäftigungspolitisches Strohfeuer handelt, das um den Preis ausufernder Deregulierung und um den Unternehmern optimale Bedingungen zu schaffen entfacht wurde.
Viertens. Jetzt komme ich zum spezielleren Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Die Bundesregierung hat mit den Kürzungen der neunten Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz der Arbeitsmarktpolitik mindestens 1,8 Milliarden DM entzogen, in erster Linie auf Kosten der Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen.
Das Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit, das jetzt von Ihnen, Herr Blüm, hier vorgetragen wurde, und die dafür veranschlagten 1,7 Milliarden DM kompensieren noch nicht einmal diese durch die neunte Novelle vorgenommenen Kürzungen.
({8})
Was hier im Gewande einer zusätzlichen Maßnahme gegen Arbeitslosigkeit daherkommt, ist in Wahrheit nicht einmal die Rücknahme der im letzten Jahr vollzogenen Kürzungen, die die Langzeitarbeitslosigkeit im übrigen konserviert haben.
({9})
Im Haushaltsausschuß weist die CDU/CSU selber ausdrücklich darauf hin - Zitat - , der Haushalt der Bundesanstalt für Arbeit liege trotz der 1,5 Milliarden DM für das Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit immer noch 100 Millionen DM unter dem Haushaltsansatz von 1988.
Es muß festgehalten werden, daß das jetzt vorgestellte Programm eine deutliche Verschlechterung gegenüber den bisherigen Arbeitsbeschaffungs- und Qualifizierungsmaßnahmen der letzten Jahre darstellt. Der durchschnittliche Höchstsatz dieses Programms liegt 10 % unter dem ABM-Höchstförderungssatz. In der zweiten Stufe macht es nur noch die Hälfte des ABM-Höchstförderungssatzes aus.
Angesichts der schlechten finanziellen Ausstattung des Programms werden die klassischen Maßnahme-träger Kommunen, Kirchen und Wohlfahrtsverbände bei Projekten wohl weiter eher auf die ABM-Förderung zurückgreifen als auf dieses Langzeitarbeitslosenprogramm. Diese Träger haben schon bei der Reduzierung des ABM-Höchstförderungssatzes festgestellt, daß sie diese Förderungen teilweise nicht mehr abrufen können, weil der Eigenanteil, der zu erbringen ist, zu groß ist. Das gilt natürlich noch weit mehr für das schlechter ausgestattete Programm, das Sie, Herr Blüm, als Langzeitarbeitslosenprogramm vorgestellt haben. Das wissen Sie genau, Herr Blüm.
Das einzige Novum dieses Programms, die Ausweitung der Förderung auf die Privatwirtschaft, geht aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls ins Leere. Die Unternehmer haben schon darauf hingewiesen, daß sie auf die Inanspruchnahme wohl gänzlich verzichten werden, da die Lohnsubventionierung die Dequalifizierung und die fehlende Berufspraxis der Langzeitarbeitslosen sowie die daraus resultierenden langen Einarbeitungszeiten und Kosten nicht aufwiegen kann.
Das ganze Programm ist und bleibt eine Mogelpakkung.
({10})
Die mit der neunten AFG-Novelle erzielten Kürzungsgewinne auf Kosten der Arbeitsmarktpolitik und zu Lasten der Arbeitslosen setzen Sie ein, um jetzt - und das ist die Wahrheit, Herr Blüm - , 14 Tage vor den Europawahlen, mit Scheingeschenken trotz Ihrer heruntergekommenen Politik aussichtsreicher dazustehen.
({11})
- Ist es nicht eine heruntergekommene Politik, wenn Sie jahrelang Arbeitsmarktpolitik betreiben und wir immer noch 2 Millionen Arbeitslose haben und Sie das als Erfolge darstellen?
({12})
Damit sind wir bei der Lösung des Problems der Massenarbeitslosigkeit keinen Schritt weiter gekommen.
({13})
Herr Blüm, Sie sind mittlerweile im Lande als einer bekannt, der minderwertige Ware preisend verkaufen kann.
({14})
Aber auch an dieser Aktion werden immer mehr Bürgerinnen und Bürger erkennen, daß es sich um eine Mogelpackung handelt. Für wie dumm halten Sie eigentlich die Bürger in unserem Lande?
({15})
Natürlich sind wir trotzdem froh - das muß man sagen -,
({16})
daß die 1,7 Milliarden DM - oder sind es 1,8 Milliarden DM? - , die Sie mit der neunten AFG-Novelle gekürzt haben - und zwar in der Absicht, für den damals Stoltenbergschen Haushalt Mittel etwa für die WAA oder den Tornado oder den Jäger 90 oder für andere solche Projekte freizumachen - , im Haushalt für Arbeitsmarktpolitik verbleiben und nicht weggeschwemmt werden. Wir sind froh, daß mit diesen 1,7 Milliarden DM jetzt ein Programm aufgelegt wird, um den Langzeitarbeitslosen zu helfen; damit von unserer, der grünen Seite da keine Zweifel bestehen.
Aber eins muß klar sein: Daß das geschieht, ist nicht der Erfolg des Herrn Blüm oder der Erfolg der Bundesregierung, die heute eine Erklärung abgegeben hat. Das ist der Erfolg der Wähler bei den Wahlen in Berlin und in Frankfurt, die gezeigt haben, daß Sie so nicht mehr weitermachen können, Herr Blüm, daß Sie Ihre Politik ändern müssen, daß Sie mehr für die Arbeitslosen tun müssen, daß Sie mehr tun müssen, um die Langzeitarbeitslosigkeit zu bekämpfen.
({17})
Man kann nur hoffen, daß diese Anstöße von seiten der Bürger weitergetrieben werden, die Sie dazu zwingen, wirklich etwas für die Langzeitarbeitslosen zu tun.
Sie haben während Ihrer Rede in unsere Richtung gefragt: Was regen Sie sich denn so auf? Wir regen
uns deshalb auf, weil es nach wie vor noch 2 Millionen Arbeitslose gibt, denen geholfen werden muß,
({18})
in dieser Gesellschaft, die vor Wohlstand aus den Nähten platzt und in der es Unterschiede sozialer Art in einer Größe gibt, daß man sich schämen muß.
({19})
Mit dem vorgelegten Programm läßt sich unter Umständen gerade noch Stimmung - das habe ich bereits gesagt - für die CDU im Europawahlkampf machen und das Problem der Massenarbeitslosigkeit noch einmal kaschieren. Ich denke, daß es darauf ankommt, dem ein Programm gegenüberzustellen. Wir haben einen Antrag gestellt. Auch der Antrag, den die SPD vorgelegt hat, enthält Momente, die uns sagen lassen: Wir sind froh, wenn er in den Ausschuß überwiesen wird. Wir denken, daß es in den Ausschußberatungen nicht nur eine Angelegenheit der SPD und der GRÜNEN bleiben darf, sich damit auseinanderzusetzen.
Wir erwarten, daß die Beratungen, die nach dem 17. Juni 1989, nach den Europawahlen beginnen - ich mache jetzt auch Europawahlkampf, weil es nämlich darauf ankommt, daß Sie Schübe von den Wählern kriegen, daß Ihnen mitgeteilt wird, daß man mit Ihrer Politik nicht mehr einverstanden ist - , unter dem Eindruck eines weiteren Wählerverlustes für die Regierungskoalition in einem positiven Sinne aufgenommen werden.
Danke schön.
({20})
Sehr schön die Redezeit eingehalten! Das Wort hat der Abgeordnete Cronenberg.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Niemand kann bestreiten: Es gibt in den letzten Monaten eine deutliche Abnahme der Arbeitslosigkeit.
({0})
Wir unterschreiten die Zwei-Millionen-Grenze im Wonnemonat Mai. Wir haben eine positive gesamtwirtschaftliche Situation, eine Fortsetzung des wirtschaftlichen Aufwärtstrends. Die Arbeitslosigkeit geht herunter, und die Beschäftigung geht herauf.
({1})
Hohe Auftragsbestände und optimistische Absatzerwartungen sind die Ursache für Neueinstellungen.
Aber auf dem Arbeitsmarkt herrscht nicht nur eitel Sonnenschein. Es gibt widersprüchliche Entwicklungen.
({2})
Wer mit mittelständischen Unternehmern oder Handwerkern redet, bekommt immer wieder zu hören: Wir
bekommen keine Fachkräfte, und es fehlen auch Hilfsarbeiter.
({3})
In Dortmund, Kollege Weiermann, liegt die Arbeitslosigkeit deutlich höher als bei uns in Neheim-Hüsten und in Arnsberg. Es sind aber von Dortmund nach Arnsberg nur 35 Autominuten, nach Neheim-Hüsten sogar nur 25 Autominuten, nur 45 Minuten mit dem Zug. Das ist für viele Arbeitslose offenbar unüberwindbar. Wir finden niemanden, der zu uns ins schöne Sauerland kommt und in ordentlichen mittelständischen Betrieben ordentliche Arbeit annimmt.
({4})
- Die Löhne in Sundern und Neheim sind hoch, mir manchmal sogar zu hoch!
({5})
Entsprechende Wünsche und Klagen kommen aus vielen Branchen und Regionen.
Wenn dann allmonatlich die immer noch viel zu hohe Zahl der Arbeitslosen verkündet wird, hören wir immer häufiger: Wo sind denn die Arbeitslosen? Die Effektivität der Zumutbarkeitsverordnung wird in Frage gestellt, die Richtigkeit der Arbeitsmarktstatistik wird in Zweifel gezogen, ebenso die Effizienz der Arbeitsverwaltung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, dabei werden viele Einzelbeispiele angeführt. Ich sage: Für viele, für sehr viele Arbeitslose treffen sie nicht zu. Oft geht es bei der Beurteilung nur um die Bestätigung von Vorurteilen, nicht um die objektive Bewertung von Sachverhalten.
({6})
Eine richtige Analyse, eine ordentliche Statistik ist hilfreich, um Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Unser statistisches Material ist sicherlich nicht fehlerfrei. Aber ich sage auch: Wer die Statistik richtig liest, stellt fest, daß sie besser ist als ihr Ruf. Mit allem Freimut: Ich halte wenig von der Statistik-Diskussion. Ich halte aber auch nichts davon, die Statistik für sakrosankt zu erklären und sie als wohlfeiles Kampfinstrument in der parteipolitischen Auseinandersetzung zu mißbrauchen.
({7})
Mit Verlaub gesagt, verehrte Kolleginnen und Kollegen: Mir stinkt allmählich die Art, wie diese Auseinandersetzung geführt wird.
({8})
- Warte ab! Das geht nach dem Motto: Die Arbeitslosen von 1980 und 1981 waren unvermeidbar, aber die von 1983 und danach sind schuldhaft verursacht oder werden bewußt in Kauf genommen. So kann doch nicht argumentiert werden!
({9})
Cronenberg ({10})
- Verehrte Kollegen von der SPD, während unserer gemeinsamen Regierungszeit haben Millionen Menschen Arbeit verloren. Das ist nicht vorwiegend die Schuld der sozialliberalen Koalition gewesen.
({11})
Wir haben uns damals nämlich redlich bemüht, den Anstieg der Arbeitslosigkeit so gering wie möglich zu halten.
({12})
Ich bin damals sehr enttäuscht, manchmal geradezu wütend darüber gewesen, daß uns die damalige Opposition den guten Willen abgesprochen hat, daß sie uns Täuschung und Vernebelung vorgeworfen hat.
({13})
Aber ich bin jetzt genauso enttäuscht darüber, daß sich ein Teil der SPD nun der Methoden der früheren Opposition bedient. So können wir miteinander nicht umgehen. Das ist unerträglich.
({14})
Ich habe immer gesagt: Es wird verdammt schwer sein, von dem hohen Sockel der Arbeitslosigkeit herunterzukommen, weil es Problemgruppen und Problemgegenden mit besonders starker Arbeitslosigkeit gibt.
({15})
Herr Kollege Haack, ich lasse Zwischenfragen immer gerne zu. Aber mit Rücksicht auf die Präsidentin, die auf die Zeit zu achten hat, diesmal bitte nicht. Ich muß hinterher dort oben sitzen, das wird schon spät genug.
({16})
Ich bitte um Nachsicht.
Ich möchte deutlich darauf hinweisen, daß es selbst bei einer Verbesserung der Konjunktur - das bedeutet schon fast Überhitzung - auch künftige Regierungen immer schwerer haben, dieses Problem zu lösen. Die Wahrheit ist: Der Bedarf an immer besser qualifizierten Arbeitnehmern steigt, und für diese gibt es Arbeit genug, mehr als genug. Sie werden gesucht.
({17})
- Liebe Frau Kollegin Steinhauer, Sie wissen, daß ich ein leidenschaftlicher Anhänger von Qualifizierungsmaßnahmen bin.
({18})
Der Arbeitsminister weiß, daß ich mich energisch dafür eingesetzt habe, daß Kürzungen in diesem Bereich
so gering wie möglich gehalten werden. Ich stehe
nicht an, in diesem Bereich gern Investitionen vorzunehmen, weil es sehr sinnvoll ist.
({19})
Aber der Bedarf an Hilfskräften sinkt. Die Tarifvertragsparteien sind voll verantwortlich dafür, daß Hilfsarbeiter keinen Job finden, weil die Arbeit zu teuer geworden ist. In diesem Zusammenhang muß man ehrlich sagen: Es gibt auch Menschen, Frau Kollegin Steinhauer, die weder qualifizierungsfähig noch qualifizierungswillig sind.
({20})
Man muß auch vor allen Dingen ehrlich sagen, verehrte Kollegen von der SPD, daß weitere pauschale Arbeitszeitverkürzung die Probleme nicht lösen, sondern erschweren.
({21})
Ich bin sehr damit einverstanden, Kolleginnen und Kollegen, daß die Zumutbarkeitsanordnung konsequent angewandt wird. Zweifel sind erlaubt. Aber ich sage auch: Ohne Mithilfe der Betriebe geht es nicht, und an dieser Hilfe fehlt es sehr häufig. Unternehmer und Handwerker sollten sich nicht über schlappe Anwendung der Zumutbarkeitsanordnung beschweren,
({22})
wenn sie selber nicht bereit sind, arbeitsunwillige Bewerber auch einmal zu melden.
({23})
- Ich züchte keinen Klassenhaß, Frau Kollegin Unruhe, sondern ich verlange von den Menschen das, was erforderlich ist, nämlich auch ein Stück Pflichtbewußtsein.
({24})
Mit großer Sorge sehen wir, daß trotz steigender Beschäftigung die Langzeitarbeitslosigkeit wächst. Auch hier ist eine differenzierte Betrachtungsweise erforderlich. Da gibt es Jugendliche, die haben Lernschwächen, Verhaltensstörungen, und Menschen, die aus diesen Gründen nicht den Weg ins Arbeitsleben finden.
({25})
Da gibt es den arbeitslos gewordenen älteren Buchhalter einer pleite gegangenen kleinen Baufirma ohne Computerkenntnisse, der zu Unrecht Arbeitslosigkeit als Schuld empfindet. Aber es gibt auch denjenigen, der sich mit Hilfe von Arbeitslosenhilfe und Schwarzarbeit gut in den Nischen des sozialen Sicherungssystems eingerichtet hat.
({26})
- Ich habe gesagt, man muß differenzieren. Geben Sie sich die Mühe zu differenzieren! - Fehlende oder mangelnde Ausbildung oder gesundheitliche Beeinträchtigungen sind wesentliche Faktoren dieser Ent10940
Cronenberg ({27})
wicklung. Es stimmt aber auch nachdenklich, daß es 125 000 Langzeitarbeitslose gibt, die keines dieser Handicaps haben.
Kollege Hoss, verehrte Kollegen, 1,5 Milliarden DM für Lohnkostenzuschüsse, individuelle Betreuung, 250 Millionen DM für Projekte, das sind keine Mogelpackungen, das ist der redliche Versuch, mit einem schweren gesellschaftlichen Problem fertig zu werden. Helfen Sie uns, das Programm gescheit zu gestalten, statt herumzumeckern!
({28})
Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit, Einarbeitungszuschüsse und Projektförderung sollen so unbürokratisch und flexibel wie nur möglich gehandhabt werden.
({29})
Ich verleugne auch nicht, daß die österreichischen Erfahrungen Mitnahmeeffekte befürchten lassen. Ich fürchte, daß Rückforderungsansprüche gegenüber den Unternehmen die Einstellungsbereitschaft - Kollege Hoss hat schon darauf hingewiesen - stark mindern werden. Trotzdem sollten wir uns bemühen, daß davon möglichst viel Gebrauch gemacht wird. Ich bin auch nicht sicher, ob es nicht besser wäre, daß kurzfristige Unterbrechungen durch Aushilfsarbeiten die Förderung nicht unterbrechen. Auch darüber muß man sich verständigen.
Ganz entschieden werde ich mich gegen die Vorstellung wehren, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit sei allein und primär eine Staatsaufgabe. Die Tarifvertragsparteien tragen die Hauptverantwortung. Augenmaß bei Tariferhöhungen und Arbeitszeitverkürzung - in diesem Bereich sind wir ja Weltmeister - sind notwendig. Branchen, die sich im Strukturwandel befinden, dürfen nicht Spitzenreiter bei Entlohnung und Arbeitszeitverkürzung sein. Der Widerstand der Tarifvertragsparteien gegen zeitlich befristete Einstiegstarife für Langzeitarbeitslose und auch eine stärkere Differenzierung der Tarife ist nicht zu verstehen. Mehr Flexibilität bei Wochen-, Monats-und Jahresarbeitszeit sowie die viel beschimpfte Teilzeitarbeit bieten neue Beschäftigungsmöglichkeiten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wenn der nordrhein-westfälische Arbeitsminister die Schaffung von 400 Arbeitsplätzen im Aachener Raum blockiert, weil diese Tätigkeiten am Wochenende ausgeübt werden sollen,
({30})
obwohl Betriebsräte und Gewerkschaften zustimmen,
({31})
so ist dies kein Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und zur Sicherung des Standorts Bundesrepublik Deutschland.
({32})
- Die Gewerkschaften kennen die Gewerbeordnung
genauso gut wie Sie. Kollege Jens, wenn Sie recht
haben, dann sollten Sie sofort den Antrag stellen, daß Gewerbeordnung in diesem Punkt schnellstens geändert wird.
Zum Schluß noch eine Feststellung: Auch massive Subventionen werden strukturell unrentable Arbeitsplätze nicht rentabel machen. Zu sozialen Abfederungen beim Strukturwandel, ohnehin für die Großbetriebe reserviert, sage ich ja; zu Dauersubventionen, die letztlich die Schaffung zukunftsträchtiger Arbeitsplätze verhindern, sage ich nein. Mein Rezept: Verbessern Sie die Arbeitsbedingungen und die Rahmenbedingungen für mittlere und kleine Unternehmen.
({33})
Sie schaffen zusätzliche Arbeitsplätze; sie brauchen keine Subventionen. Sie erwirtschaften sogar Steuern, Steuern, von denen ich hoffe, daß sie nicht für Subventionen von Großbetrieben mißbraucht werden.
Herzlichen Dank.
({34})
Das Wort, meine Damen und Herren, hat Frau Abgeordnete Weiler.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Bundesregierung will nach sieben langen Jahren endlich das Problem der Arbeitslosigkeit, konkret: der Langzeitarbeitslosigkeit, anpacken,
({0})
in einer Zeit, in der sich die Langzeitarbeitslosigkeit immerhin auf über 800 000 Arbeitslose verdoppelt hat.
({1})
Wir haben - das werden Sie verstehen - natürlich den Eindruck, daß Sie das auch aus wahltaktischen Gründen machen:
({2})
wegen der Wahlniederlagen in Berlin und in Hessen, kurz vor der Europawahl und im Grunde auch relativ kurz vor den Bundestagswahlen.
({3})
Aus diesem Grund haben Sie auch schon andere Rücknahmen - Quellensteuer, Wehrdienstverlängerung und ähnliches - vorgenommen.
Nun gut: Grundsätzlich begrüßen wir, daß Sie etwas tun; aber ich will hier aufzeigen, wie heuchlerisch dieses Programm im Grunde ist.
({4})
Es ist nicht einmal ein halbes Jahr her, daß Sie mit der 9. Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes genau die Elemente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die wir hier haben, abgebaut haben.
({5})
In der öffentlichen Anhörung unseres Ausschusses ist an der Verschlechterung des ArbeitsförderungsgeFrau Weiler
setzes massive Kritik geübt worden. Ich darf Sie an folgendes erinnern: Die Kürzungen bei Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung wurden als Willkürakt bezeichnet. Die Einschränkung bei der Berufsausbildungsbeihilfe wurde als bildungs-, arbeitsmarkt und strukturpolitisch verfehlt abgelehnt. Die Kürzungen beim Einarbeitungszuschuß und bei der Eingliederungsbeihilfe wurden als Maßnahmen zu Lasten besonders benachteiligter längerfristig arbeitsloser Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bezeichnet. Was Sie damals gemacht haben, ist genau gegen die Zielgruppe gerichtet gewesen, für die Sie heute etwas tun wollen. Der massenhafte Abbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen wurde damals scharf kritisiert.
Die Evangelische Kirche Deutschlands erinnerte an das Ergebnis unserer gemeinsamen Anhörung vom 8. Juni 1988. Sie haben damals versprochen, an der Erschließung von Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose mitzuwirken.
({6})
In diesem Fall muß ich sagen, Herr Cronenberg: Wir haben in der Anhörung gemeinsam überlegt, was wir machen können. Wir haben Ihnen nicht, wie Sie gerade behauptet haben, den guten Willen abgesprochen. Ein paar Monate nach der Anhörung haben Sie aber genau das Gegenteil getan. Insgesamt kassieren Sie über 2,2 Milliarden DM in diesem Jahr über das Arbeitsförderungsgesetz ab. Ganze 116 Millionen DM, also 5 %, geben Sie in diesem Jahr zurück. Das kann man eigentlich nur als Täuschungsversuch und Etikettenschwindel bezeichnen.
Sie haben darüber hinaus das Schwerbehindertengesetz verschlechtert. Sie haben durch die Nichtberücksichtigung der Ausbildungsplätze bei der Berechnung der Beschäftigungspflichtplätze für Schwerbehinderte die Chancen dieser Gruppe stark vermindert. Sie haben durch das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz den Kündigungsschutz Schwerbehinderter unterlaufen, und Sie haben alles, was Sie „Beseitigung beschäftigungs- und ausbildungshemmender Vorschriften" nennen, in den letzten Monaten durchgesetzt. Dennoch ist die Arbeitslosigkeit der Schwerbehinderten nicht gesunken, sondern weiter angestiegen, auf 130 000, trotz hoher Lohnkostenzuschüsse.
Unser Programm sieht eine staatliche Verpflichtung vor, Langzeitarbeitslosen ein Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebot zu machen. Wir halten das für einen sehr wichtigen Schritt. Herr Heyenn hat unser Programm im einzelnen erläutert. Ich denke, es sind Konzepte darin, die eine Weiterentwicklung der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beinhalten, eine Weiterentwicklung der Aufgabenfelder, und genau das brauchen wir für die nächsten Jahrzehnte.
Die Arbeitslosigkeit von Frauen ist insgesamt immer noch überproportional hoch, und für Frauen bringt Ihr neues Programm im Grunde kaum eine Erleichterung.
({7})
In Punkt 5 der uns vorliegenden Vorschläge Ihres Programms heißt es:
Vor allem berufstätige Frauen müssen mehr als bisher die Möglichkeit haben, Teilzeit zu wählen.
Wir Sozialdemokraten wollen nicht die Teilzeitarbeit madig machen, wie heute morgen gesagt wurde. Das wollen wir ganz und gar nicht, wir wollen sozial gesicherte Arbeitsplätze, aber wir wollen eine Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, und diese Arbeitsteilung - das wissen Sie ganz genau - wird mit der Teilzeitbeschäftigung auf unserem Markt nicht praktiziert, denn über 95 % der Teilzeitbeschäftigten sind Frauen.
Ich warte hier auch noch auf die Stellungnahme der sogenannten Frauenministerin.
({8})
Wo ist denn die Initiative aus dem Ministerium Lehr, mit der auch Männern Teilzeitarbeit ermöglicht wird, um sie an Erziehung und Hausarbeit teilhaben zu lassen?
({9})
Wir haben noch im Ohr, wie der Bundesarbeitsminister von der „Qualifizierungsoffensive" geredet hat. Was daraus geworden ist, wissen Sie selber. Die Eintritte in Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung sind inzwischen um 37 % zurückgegangen. Wir unterstreichen: In den Regionen mit besonderen Struktur- und Beschäftigungsproblemen müssen Fortbildung und Umschulung ganz besonders verstärkt werden. Die Kosten für diese Maßnahmen müssen in voller Höhe getragen werden, und das Unterhaltsgeld muß so bemessen werden, daß es einen wirtschaftlichen Anreiz für Langzeitarbeitslose gibt, in Bildungsmaßnahmen einzutreten, und sie auch eine Chance haben, diese Maßnahmen durchzuhalten. Deshalb muß nach unserer Meinung auch ein ausreichendes Mindestunterhaltsgeld eingeführt werden.
Meine Damen und Herren, ich denke, wir sind gerade auch im Hinblick auf den einheitlichen Binnenmarkt der Meinung, daß Weiterbildung, Qualifizierung, Fortbildung, Umschulung eine ganz wichtige Voraussetzung sein werden, um den Standort Bundesrepublik weiterhin so zu halten.
({10})
Bis jetzt haben Sie genau das Gegenteil getan, um das zu unterstützen. Durch die 9. Novelle werden massenhaft auch Trägerstrukturen in der Bundesrepublik zerschlagen, Bildungswillige abgeschreckt, und diejenigen, die trotz aller Beschwernisse in die Maßnahmen gehen, werden auch noch in kleinkarierter Weise zur Kasse gebeten.
Ich will einige Punkte nennen. Der Stundensatz für Lehrgangsgebühren bei zweckmäßiger Förderung ist von 4 auf 2 DM ermäßigt worden. Die Prüfungsgebüh10942
ren wurden früher bis zu 300 DM erstattet, sind heute in der Förderung überhaupt nicht mehr drin.
({11})
Die Unterkünfte wurden früher bis zu 240 DM monatlich bezahlt, heute sind nur noch 210 DM darin. Dies gilt im übrigen auch für alle Qualifizierungsmaßnahmen, für Auftragsmaßnahmen des Arbeitsamtes, für freie Maßnahmen und für zweckmäßige Förderungen.
Ich verstehe sehr gut, Herr Kolb, daß Sie diese ganzen Sachen nicht mehr hören wollen.
({12})
- Ich denke, mit diesem Programm haben Sie doch auch unsere Forderung, daß der Staat eine Verpflichtung hat, aufgenommen. Das tun Sie auch.
({13})
Wir haben hier ja gesagt, daß das ein kleiner Baustein in die richtige Richtung ist. Das habe ich auch schon am Anfang gesagt. Sie müssen auch einmal zuhören. Nur, es ist ein Etikettenschwindel, wenn Sie auf der einen Seite durch das AFG Millionen abkassieren und dann auf der anderen Seite 5 % zurückgeben.
({14})
Ich will zum Schluß kommen. Das Programm, wie gesagt, ist ein winziger Schritt in die richtige Richtung. Aber wir haben uns ein bißchen mehr Gedanken mit unserem Programm gemacht.
({15})
Wir haben ein Konzept vorgelegt, das in vielen Punkten qualitativ weit über Ihre Ideen hinausgeht. Ich möchte Sie bitten, in der Ausschußarbeit unser Programm ernsthaft zu diskutieren und dann die Elemente, die notwendig sind, um eine echte Verbesserung zu erreichen, aus unserem Programm zu übernehmen.
({16})
Ich muß Ihnen wirklich meinen besonderen Dank sagen, Frau Kollegin, denn ganz so einfach war es bei der Unruhe, die von den Herren der Koalition kam, nicht, sich durchzusetzen.
Danke schön.
({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Feilcke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Positivmeldung des Tages ist ja zunächst einmal: Die Arbeitslosenzahlen sind deutlich unter zwei Millionen. Ich finde, das ist eine tolle Meldung, die man gar nicht oft genug wiederholen kann.
({0})
Die zweite Positivmeldung ist, daß wir in der Bewertung des riesigen Problems übereinstimmen, das wir trotz dieser relativ günstigen Arbeitsmarktentwicklung - ich sage es einmal so - vor uns herschieben. Da ist Kreativität gefragt. Ich finde es gut, daß auch Sie durch ein Programm der Bundesregierung in Ihrer Kreativität geweckt worden sind. Das ist unbestreitbar. Warum soll man das nicht auch einmal von dieser Stelle aus als CDU-Abgeordneter sagen?
Es hilft aber überhaupt niemandem, Frau Weiler, wenn wir hier Horrorgemälde zeichnen. Sie haben hier Zahlen in die Welt gesetzt, die einfach nicht stimmen und die von keiner Statistik - was immer man davon halten will - bestätigt werden. Natürlich sind die Zahlen, die real sind, immer noch zu hoch. Nur, sie sollten richtig genannt werden; es sind 684 000. Ich sage Ihnen: Das, was mich am meisten bedrückt, ist, daß davon die Hälfte, nämlich ungefähr 340 000, länger als zwei Jahre arbeitslos sind. Diese Arbeitslosen verdienen unsere Hauptsorge. Ich glaube, darum haben wir uns alle zu bemühen und zu kümmern.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Frau Präsidentin, ich habe Ihre Unterstützung, wenn ich das ablehne.
Das geht nun wieder zu weit.
Ich weiß das. Ich würde diese Frage sehr gern zulassen, nur die Zeit läuft aus, hat die Frau Präsidentin gesagt.
Der Unterschied zwischen Ihrem Programm - natürlich machen Sie sich Gedanken - und unserem Handeln ist der, daß Sie sozusagen immer noch am Reißbrett sitzen, um Ihr Traumhaus zu entwerfen, um Ihre Luftnummer zu feilen. Wir aber haben bereits das solide Haus eröffnet. Das ist der entscheidende Unterschied.
({0})
Jetzt kommt es darauf an, daß wir diejenigen, die es angeht, auch ermutigen, in dieses Haus zu kommen. Ich glaube, da sollte wirklich auch Ihr Einfallsreichtum angespornt werden. Wir werden jedenfalls Ihre Bemühungen entsprechend positiv werten. Nur, es reicht nicht, das Richtige zu denken, sondern man muß auch das Umsetzbare tun.
Die Richtlinien der Bundesregierung haben die Qualität, daß hier zum ersten Mal seit langem - bei diesem schwierigen Personenkreis - eine gezielte Einzelfallhilfe gegeben werden kann. Ich finde, Herr Kollege Hoss, es ist sehr unpassend, hier von einer Mogelpackung zu reden.
({1})
Sie sollten mindestens das gute Bemühen anerkennen, wenn Sie dem Programm schon nicht zustimmen können. Ich glaube, kein Arbeitsloser wird dafür dankbar sein, daß die Bemühungen um seine Existenz und sein Schicksal hier von Ihnen als GRÜNEN-Abgeordneten als Mogelpackung bezeichnet werden.
({2})
Aber, meine Damen und Herren, ein Programm ist natürlich nur so gut, wie seine Umsetzbarkeit in die Praxis. Deshalb sind alle beteiligten Gruppen, die Arbeitslosen selbst, die Arbeitsvermittler, die hoffentlich zahlreichen zukünftigen Arbeitgeber, natürlich auch die Wohlfahrtsverbände und die Kirchen gefordert.
({3})
Von ganz besonderer Wichtigkeit erscheint mir die Nahtstelle zwischen den Arbeitslosen und den Arbeitgebern, nämlich der Arbeitsvermittler, zu sein. Herr Minister Blüm, ich wäre sehr dankbar, wenn wir uns bei der Umsetzung des Programms darauf konzentrieren könnten, daß insbesondere die Hauptvermittler der Arbeitsämter hier spezialisiert werden könnten. Wenn wir heute feststellen, daß von einem Hauptvermittler zwischen 600 und 1 000 Vermittlungsfälle zu bearbeiten sind und er überhaupt nicht die Zeit hat, sich diesem schwierigen Problemkreis gezielt zuzuwenden, wenn wir andererseits wissen, daß es in der Vergangenheit bei dem riesigen Problem der Jugendarbeitslosigkeit möglich war, den Sondervermittler zu schaffen, bei Schwerbehinderten den Sondervermittler zu schaffen, dann muß es bei diesem drängenden Problem auch richtig sein, den Spezialvermittler für Langzeitarbeitslose zu ermöglichen. Ich glaube, daß diese Forderung eine Realisierungschance hat, wenn die Arbeitsämter hier alles versuchen, was an Umorganisation möglich ist. Ich sage für mich ausdrücklich: Wenn Umorganisation alleine nicht hilft, sollten wir mit Unterstützung des Finanzministers bereit sein, an der einen oder anderen Stelle mit Haushaltsmitteln für zusätzliche Stellen zu sorgen. Wenn ein Programm angenommen wird, muß man im Bedarfsfall auch bereit sein, es zu erweitern.
Der Spezialvermittler, den ich mir vorstelle, sollte von unnötiger, von zusätzlicher zeitaufwendiger Verwaltungsarbeit befreit sein. Von einem Arbeitsamt ist mir für diese Debatte ausdrücklich eine Bitte übermittelt worden, Herr Minister: Es wäre sehr sinnvoll, sehr wünschenswert, wenn das Prüfungsverfahren unkompliziert sein könnte,
({4})
wenn sich die Anspruchsberechtigten nicht einer langwierigen Prüfungsprozedur unterziehen müssen, wodurch übrigens nicht nur der Arbeitslose geschädigt wird, sondern auch die Zahl der Vermittlungsfälle gemindert wird. Ein vereinfachtes Prüfungsverfahren ist hier gefragt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind uns darüber im klaren, daß Arbeitgeber, insbesondere Großbetriebe oder starke, leistungsfähige Betriebe, sehr häufig durch staatliche Zuwendungen oder Zuschüsse kaum zu beeindrucken sind. Dennoch ist dieses Programm als Anreiz richtig. Aber es ist auch richtig - auch dafür ist dieser Spezialvermittler sinnvoll - , daß die intensiven Gespräche nicht nur in Richtung Arbeitsloser, sondern auch in Richtung künftiger Arbeitgeber geführt werden. Insofern ist es notwendig, daß wir zusätzlich, möglicherweise der fachlichen Qualifizierung oder Nachqualifizierung sogar vorgeschaltet, für den Wiedereinstieg ins Arbeitsleben eine soziale Stabilisierung anstreben. Der Arbeitsvermittler ist kein Sozialarbeiter. Er sollte aber in Zusammenarbeit mit einer Vertrauensperson, die dem Langzeitarbeitslosen, der bereits zwei, drei oder noch mehr Jahre aus dem Arbeitsmarkt heraus ist, der möglicherweise in Hoffnungslosigkeit gefallen ist, als Tutor zur Seite stehen. Ich glaube, daß hier eine Zusammenarbeit der Wohlfahrtsverbände und der Kirchen mit dem Arbeitsvermittler eine sehr wirksame Hilfe sein kann.
Die SPD hat - das begrüßen wir; ich bin gestern von Ihnen darauf angesprochen worden - Programme mit guten Ideen, ganz ohne jeden Zweifel.
({5})
- Ich sage ausdrücklich noch einmal: Wir sollten in einen Wettbewerb der guten Ideen treten. Insofern finde ich es auch gut, daß Sie zumindest ansatzweise das Regierungsprogramm loben. Die Regierung handelt praxisorientiert. Es ist kein theoretisches Gedankengebäude gefragt, sondern konkrete Hilfe, die von den beteiligten Arbeitslosen und Arbeitgebern auch akzeptiert wird. Der Mut zu unkonventionellem Handeln ist gefragt.
Meine Damen und Herren, Programme, Papiere sind geduldig. Die Arbeitslosen sind ungeduldig.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Hasenfratz.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn man die Reden der Koalitionsfraktionen gehört hat, könnte man den Eindruck gewinnen, die Jubelzeit sei angebrochen. Doch wenn man sich alles näher betrachtet, kommt man sehr schnell dahinter und kommt zu dem Ergebnis: Es ist viel heiße Luft, frei nach dem Motto: tarnen und täuschen.
({0})
Erinnern wir uns: Zu Beginn des Jahres 1989 haben Sie im Bereich der 9. Novelle zum AFG ganz brutal gewildert und Kürzungen von 1,3 Milliarden DM vorgenommen. Zusätzlich muß die Bundesanstalt 1989 500 Millionen DM beim Haushaltsvollzug einsparen. 400 Millionen DM werden bei Fortbildung und Umschulung erwirtschaftet. Gestern haben wir gehört, daß Sie bei der Anrechnung durchsetzbarer Unterhaltsansprüche auf die Arbeitslosenhilfe weitere 400 Millionen DM einsparen wollen. Das macht insgesamt nach Adam Riese, Herr Blüm - weil Sie den so oft zitieren - , 2,6 Milliarden DM.
({1})
Heute verkünden Sie mit großem Trommelwirbel der Öffentlichkeit, daß die Bundesregierung mit 1,75 Milliarden DM die Langzeitarbeitslosigkeit bekämpfen wolle.
({2})
Ich nenne das: Rechte Tasche, linke Tasche. Man könnte das auch in die Kategorie von Taschenspielertricks einordnen.
({3})
Auch auf dem Arbeitsmarkt wird frisiert und manipuliert. Ohne Statistikmanipulation wäre die Arbeitslosenzahl im Mai nicht unter die 2-Millionen-Grenze gesunken.
({4})
180 000 Arbeitslose sind schon aus der Statistik ausgebucht,
({5})
davon rund 65 000 ältere, 45 000 vorübergehend kranke und 70 000 Arbeitslose, die weder Arbeitslosengeld noch Arbeitslosenhilfe beziehen. Das war immer Ihr Wunsch, Herr Kolb.
({6})
Minister Blüm, hieß es in einem internen Vermerk des BMA, wünsche, künftig eine niedrigere Arbeitslosenquote auszuweisen. Dem Wunsch wurde inzwischen Rechnung getragen. Auch das ist ein Nachweis für Ablenkungsmanöver. Aber es gibt noch viel mehr.
Unser einschlägig bekannter CSU-Kollege Rudolf Kraus hat vergangenen Dienstag öffentlich erklärt: Die Brandstifter sind traurig, wenn es der unionsgeführten Bundesregierung allmählich gelingt, den Brand einzudämmen. Das war als Entgegnung zu unserem Vorwurf der Statistikmanipulation gedacht.
Auch falsch ist die Behauptung des Kollegen Kraus, Arbeitskräfte seien massenweise gesucht und könnten nicht vermittelt werden. Das Ifo-Institut hat korrekte Daten erhoben. Anfang des Jahres haben lediglich 4 % der Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes im Bundesgebiet eine Produktionsbehinderung durch Arbeitskräftemangel gemeldet.
({7})
Und es gibt auch Fachkräftemangel. Er wird durch den massiven Abbau von Qualifizierungsmaßnahmen noch wesentlich verstärkt.
({8})
Man kann aber nicht Maßnahmen zur Fortbildung, Umschulung und Weiterbildung abbauen und dann den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zum Vorwurf machen, sie hätten nicht die erforderliche Qualifikation.
({9})
- Diese Frage hätten Sie mal lieber dem Herrn Minister Blüm stellen sollen.
({10})
Sie nähren tagtäglich die Vorurteile gegen Arbeitslose und behaupten immer wieder, da seien Leute gemeldet, die die Gesellschaft ausnutzten und nicht daran dächten zu arbeiten. Die Herren Kohl, Geißler
und Späth haben sich in diesem Sinne ganz besonders hervorgetan.
({11})
Da wird freiweg behauptet, 500 000 suchten nur einen Teilzeitarbeitsplatz. Tatsächlich weist die Statistik der Bundesanstalt für Arbeit weniger als die Hälfte aus. Da wird freiweg behauptet: 300 000 Arbeitslose leisten Schwarzarbeit. Auch Sie, Herr Cronenberg, hatten vorhin noch einmal die Schwarzarbeit angesprochen. Nicht einmal Anhaltspunkte für diese freie Hochrechnung werden gegeben. Da wird einfach behauptet, 300 000 bis 400 00 Arbeitslose seien nicht vermittelbar.
({12})
Peinlich ist allerdings, daß die Arbeitsämter keine Nachweise dafür haben.
Erst vorgestern hat sich eine Industrie- und Handelskammer aus nächster Nähe hier mit einer neuen Berechnung hervorgetan. Von den 2 Millionen Arbeitslosen stünden tatsächlich nur 1,3 Millionen zur Verfügung. Für die „Süddeutsche Zeitung" war dies Anlaß zum „Thema des Tages" mit der Überschrift „Für dumm verkauft". Und genau so ist es. Man rechne nur die Arbeitslosenzahl freiweg runter, füge der Zahl der offenen Stellen, die den Arbeitsämtern freiwillig gemeldet werden, eine runde Million hinzu, und schon ist die Massenarbeitslosigkeit auf wundersame Weise in Überbeschäftigung umgewandelt.
({13})
Das ist zwar billigstes Stammtischniveau, funktioniert aber immer wieder, weil Sie jahrelang gegen die Arbeitslosen polemisiert haben.
Meine Damen und Herren, wenn der Umfang der Arbeitslosigkeit auf das Verhalten der Arbeitslosen zurückzuführen wäre, dürfte es keine gravierenden regionalen Unterschiede geben, es sei denn, in manchen Ecken der Republik wären die Menschen zehnmal so faul bzw. zehnmal so fleißig wie anderswo.
({14})
Herr Minister Blüm, Sie haben sich am Anfang Ihrer Regierungszeit viel vorgenommen. Sie wollten Anfang 1983 die Arbeitslosigkeit um 1 Million drücken. Die Herren Blüm und Geißler haben das damals bundesweit verbreitet. Daraus ist leider nichts geworden. Trotz guter weltweiter Konjunktur mit einer lang andauernden Wachstumsphase blieb die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik unverändert hoch. Sie ist immer noch wesentlich höher als zum Zeitpunkt vor der Wende. Das ist das sichtbarste Zeichen für das Versagen der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik dieser Bundesregierung.
({15})
Meine Damen und Herren, ich muß auch nochmals an die tiefen Schnitte durch die Neunte Novelle des Arbeitsförderungsgesetzes erinnern. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Qualifizierungsmaßnahmen wurden massenweise abgebaut. Die Einschnitte wirken immer noch. Ich wiederhole: Sie geben in diesem
Jahr 5 % des Einsparvolumens zurück und wollen daraus eine große Nummer machen.
({16})
Beschäftigungsfördernde Maßnahmen haben Sie immer als sozialistisches Teufelswerk gebrandmarkt; jetzt greifen Sie in Ihrer Not selber zu diesem Instrument.
Das, was Sie heute als Ihr eigenes Beschäftigungswunder ausweisen, ist zu einem guten Teil von den Gewerkschaften mit der Arbeitszeitverkürzung erkämpft worden, gegen den Widerstand von Bundesregierung, Koalitionsfraktionen und Arbeitgebern. Sie verschweigen, daß die höhere Zahl der Erwerbstätigen auch die Folge des höheren Anteils von Teilzeitarbeit und geringfügig Beschäftigten ist. Ohne Sozialversicherung Beschäftigte können Sie nicht wie normale Erwerbstätige zählen.
Meine Damen und Herren, wir wollen mit unserem Programm zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit neue soziale und ökologische Aufgaben erfüllen. Dafür sind die Eingliederungsmaßnahmen gedacht. Unsere Beschäftigungs- und Qualifizierungsgarantie soll zunächst für Langzeitarbeitslose gelten, die bereits länger als vier Jahre auf Arbeit warten, und für jüngere Arbeitslose unter 25 Jahren, die in derselben Situation sind. Das soll und muß der erste Schritt sein.
Die Eingliederungsbeihilfen kann man dabei nicht auf ein Jahr begrenzen. Bei dem in Frage kommenden Personenkreis wäre das viel zu kurz. Unser Programm sieht deshalb die Unterstützung dieses Personenkreises für bis zu drei Jahren vor. In dieser Zeit sollte der Übergang in eine normale Beschäftigung erreichbar sein.
Wir wollen das bisherige ABM-Konzept modernisieren. Dies ist auch dringend notwendig. Die Beschäftigungsdauer bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen muß auf bis zu fünf Jahre erweitert werden. Bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen müssen in größerem Umfang wieder 100-Prozent-Finanzierungen möglich sein, damit die vergleichsweise armen Träger nicht auf der Strecke bleiben.
Notwendig ist es, Qualifizierungsmaßnahmen wieder auszubauen und zu verstetigen. Das Hin und Her, das Vor und Zurück bei Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung muß endlich ein Ende haben.
Unser Programm kann sicher noch verbessert werden.
({17})
Deshalb wollen wir, daß die Wirksamkeit von der Selbstverwaltung der Arbeitsämter laufend überprüft wird. Wir wollen aber auch eine Beratung im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, eine Beratung mit Experten von Gewerkschaften, Verbänden und Kirchen.
Mit unserem Programm entsprechen wir den Forderungen der Evangelischen Kirche Deutschlands, Beschäftigungsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose zu
erschließen und ihnen eine sichere Zukunftsperspektive zu geben.
Schönen Dank.
({18})
Das Wort hat der Bundesminister für Wirtschaft, Herr Dr. Haussmann.
({0})
Frau Präsident! Verehrte Kollegen! Es ist viel über Arbeitsmarktpolitik, über Sozialpolitik, über Qualifizierungspolitik heute morgen gesprochen worden. Ich halte das für ganz entscheidend. Aber wir sollten auch deutlich machen, daß die jungen Menschen in der Bundesrepublik Deutschland bessere Arbeitsmarktchancen haben als viele andere Europäer. Wir haben in der EG 16 Millionen Arbeitslose. Die OECD-Ministerratssitzung diese Woche in Paris hat gezeigt, daß núr in der Bundesrepublik in den nächsten Jahren mit einem Abbau der Arbeitslosigkeit zu rechnen ist.
({0})
Bei aller Kritik, die die Opposition an Einzelmaßnahmen dieser Bundesregierung haben kann, sollte sie nicht eine Stimmung erzeugen, die jungen Deutschen in der Bundesrepublik eine falsche Perspektive vermittelt.
({1})
Die Perspektiven für die jungen Menschen in der Bundesrepublik sind besser als in anderen Ländern. Dazu hat nicht nur die Regierung beigetragen; dazu haben vor allem hochqualifizierte Arbeitnehmer in der Bundesrepublik beigetragen, eines der besten Ausbildungssysteme der Welt, aber auch kreative mittelständische Unternehmer, meine Damen und Herren.
({2})
Das ist die Stärke der Bundesrepublik.
Es ist eine gute Meldung, wenn erstmalig seit 1982 die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik diese psychologische Schallmauer von 2 Millionen nach unten durchbrochen hat.
({3})
- Man kann sicher viel über Statistik reden, aber es ist dennoch richtig , Herr Kollege Hoss.
({4})
Sie brauchen sich wegen der sozialen Verhältnisse in Deutschland auch nicht zu schämen. Reden Sie einmal mit Europäern über die sozialen Verhältnisse in der Bundesrepublik; dann stellen Sie fest, daß Sie sich nicht zu schämen brauchen. Ich fand den Beifall der Sozialdemokraten an diesem Punkt komisch, meine Damen und Herren; denn wir stehen im internationalen Vergleich vorbildlich da.
({5})
Diese marktwirtschaftliche Politik, die dazu geführt hat, daß es in der Nachkriegsgeschichte der Bun10946
desrepublik Deutschland mehr Arbeitsplätze denn je gibt, nämlich mehr als 27 Millionen, muß jetzt konsequent fortgesetzt werden. Dabei sollten wir auch die Prioritäten richtig setzen: In der marktwirtschaftlichen Politik sind Steuersenkung, mehr Wettbewerb, Deregulierung, Privatisierung die entscheidenden Träger von wirtschaftlichem Wachstum und damit auch von Beschäftigungswachstum.
({6})
Meine Damen und Herren, die Wirtschaftsdynamik in der Bundesrepublik ist gegründet auf Wettbewerbsfähigkeit, auf mehr Investition. Deshalb läßt sich heute sagen: Auch im Jahr 1990, im Jahr 1991 gibt es hervorragende Aussichten auf wachsende Märkte, wenn die Politik und wenn vor allem die Tarifpartner ihrer Verantwortung nachkommen, meine Damen und Herren.
Das war auch die Botschaft der OECD. Die anderen Länder in Europa, die USA erwarten von der Bundesrepublik, daß wir unsere Wachstumsmöglichkeiten mehr als bisher ausschöpfen, damit wir für die Weltwirtschaft einen größeren Beitrag leisten.
Auf der OECD-Ministerratstagung ging es auch um das Thema Ladenschluß, es ging um die Verkrustung der deutschen Arbeitsmärkte.
({7})
Das sind die internationalen Themen. Wir sollten hier von manchem provinziellen Denken Abstand nehmen und das alles internationaler sehen, meine Damen und Herren.
({8})
Die Arbeitszeitregelung hat eine entscheidende Schlüsselfunktion. In allen anderen EG-Ländern werden keine Arbeitszeitverkürzungen stattfinden. Sie wollen nach Möglichkeit ihre Wettbewerbsfähigkeit im Binnenmarkt zunächst einmal ausschöpfen, meine Damen und Herren. Die reiche Schweiz, die sich eher eine Arbeitszeitverkürzung leisten könnte
({9})
als die exportorientierte Bundesrepublik, hat die Einführung der 40-Stunden-Woche in einer Volksabstimmung erneut abgelehnt.
({10})
Dort wird die Arbeitszeitregelung nicht den Tarifpartnern überlassen, sondern es gab eine Volksabstimmung über die Einführung der 40-Stunden-Woche.
({11})
Wir sollten in der Arbeitsmarktpolitik also vernünftig bleiben und qualifizierte Arbeit in der Bundesrepublik in Zukunft nicht „stillegen" , meine Damen und Herren.
({12})
Denn die Erfahrung zeigt: Wenn wir qualifizierten Ingenieuren und Facharbeitern nicht die Möglichkeit geben, einmal länger zu arbeiten, entstehen auch keine einfachen Arbeitsplätze, meine Damen und Herren.
({13})
Ich bin auch persönlich dagegen, daß sich ein Teil unserer Gesellschaft, angeführt vom Programm der Sozialdemokraten, auf dem Weg zur 30-Stunden-Woche befindet und ein anderer Teil in unserer Gesellschaft 50 und 60 Stunden arbeitet.
({14})
Auch das kann, meine Damen und Herren von der Opposition, auf Dauer nicht gutgehen, daß sich ein Teil der Gesellschaft nachmittags um 15 Uhr verabschiedet und ein anderer Teil dann erst seine zweite Schicht beginnt: viele Menschen in selbständigen Berufen, viele Menschen in der Landwirtschaft, viele Hausfrauen und andere Menschen.
({15})
Wenn Herr Lafontaine davon spricht, daß nicht nur die bezahlte Arbeit ein Kriterium unserer Gesellschaft ist, dann muß er sich auch mit den Arbeitszeiten derjenigen Menschen beschäftigen, die nicht das Glück haben, von Tarifverträgen betroffen zu sein, meine Damen und Herren.
Deshalb setze ich mich dafür ein, daß wir die Arbeitszeit in der Bundesrepublik individualisieren, daß wir sie bei Großbetrieben und kleinen und mittleren Betrieben unterschiedlich gestalten können und daß wir sie im Blick auf unterschiedliche Qualifikationen auch unterschiedlich regeln, meine Damen und Herren.
({16})
Das ist mit ein Schlüssel für mehr Arbeitsplätze. Der Entwicklungsingenieur in der Autoindustrie, der länger arbeiten kann, kann auch einen Arbeitsplatz für einen weniger qualifzierten Automobilarbeiter schaffen. Daraus wird aber nichts, wenn wir qualifizierte Arbeit durch Tarifvertrag letztlich „stillegen" . Ich bin sehr dafür zu haben, daß wir in Zukunft nicht mehr passive Freizeit vereinbaren, sondern mehr aktive Qualifikationszeit. Das halte ich für neues Denken in der Tarifpolitik.
({17})
Aber eine pauschale Arbeitszeitverkürzung bei qualifizierten Arbeitnehmern und EntwicklungsingenieuBundesminister Dr. Haussmann
ren halte ich unter Gesichtspunkten des internationalen Wettbewerbs für wirklich falsch.
({18})
- Deshalb haben sie ja anschließend die Gelegenheit, dem Dienstleistungsabend zuzustimmen, Frau Kollegin.
({19})
Der Dienstleistungsabend ist ein kleines Beispiel für eine Verkrustung in der Bundesrepublik Deutschland, die in internationalen Debatten immer ärgerlicher registriert wird. Kein Franzose, kein Schweizer, kein Amerikaner hat mehr Verständnis dafür, daß ein wettbewerbsfähiges, ein marktwirtschaftliches Land wie die Bundesrepublik so stur seine Öffnungszeiten festlegt.
({20})
Wir haben anschließend die Möglichkeit, diesen Zustand zu ändern.
Ich fasse meinen Beitrag wie folgt zusammen: Nur durch mehr Flexibilisierung der Arbeitszeit, durch mehr Wachstumspolitik, durch qualitatives Wachstum schaffen wir mehr Arbeitsplätze. Die Aussichten der jungen Menschen in der Bundesrepublik sind besser als in allen anderen europäischen Staaten. Das sollte bei der heutigen Debatte nicht vergessen werden.
({21})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4640 sowie den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4642 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie zusätzlich an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Zusatzpunkt 11 der Tagesordnung auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Dienstleistungsabends
- Drucksachen 11/2973, 11/3004 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0})
- Drucksache 11/4649 Berichterstatter: Abgeordneter Louven ({1})
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch. So beschlosen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Louven.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir beraten heute ein
Gesetz, bei dem es um einen ganz kleinen Schritt zu mehr Flexibilität bei den Ladenöffnungszeiten geht.
({0})
Ich hätte mir vorher nicht träumen lassen, daß dieses Gesetzchen solch einen Wirbel verursachen könnte. Die Opposition tut so, als wäre die Absicht, einen Dienstleistungsabend einzuführen, sozialpolitisch ein Rückfall ins vorige Jahrhundert.
({1})
Ich werde dabei allerdings den Eindruck nicht los, daß es der Opposition weniger um die Sache als vielmehr um Effekthascherei geht.
({2})
Was von Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der SPD und den GRÜNEN, in diesem Zusammenhang so alles an Argumenten auf den Tisch gebracht wurde, konnte einen nur erstaunen. Sie beklagen, daß die arme Verkäuferin an einem Tag in der Woche länger arbeiten muß,
({3})
wobei dies längst nicht für alle Verkäuferinnen gelten wird. Sie haben aber auf der anderen Seite keine Scheu und keine Hemmnisse, sich von der Kellnerin in der Gastronomie bis weit nach Mitternacht bedienen zu lassen.
In der ersten Lesung dieses Gesetzentwurfes hat die inzwischen zur Berliner Senatorin aufgestiegene Frau Martiny-Glotz hier angekündigt, daß eine Arbeitsgruppe der SPD-Fraktion dieses Thema behandele. Der Kollege Conradi hat in einem Interview in der „Zeit" Ende letzten Jahres erklärt, daß die SPD auch auf Grund der Verhältnisse in anderen europäischen Staaten nachdenklich geworden sei.
({4})
Einen Wegfall sämtlicher Regelungen für den Ladenschluß konnte sich Conradi nicht vorstellen, kündigte aber an, daß man sich in anderen Ländern - insbesondere in Schweden - einmal umsehen wolle.
({5})
- In der Tat nicht.
Nun müssen Sie sich, meine Damen und Herren von der SPD, die Frage stellen lassen, wie weit Sie denn bei Ihren Überlegungen gekommen sind. In der Ausschußberatung haben wir davon nichts gehört.
({6})
Auch Frau Martiny-Glotz und der Kollege Conradi haben sich nicht weiter geäußert. Es liegt doch wohl die Vermutung nahe, daß Sie aus Rücksicht auf die Gewerkschaften gar nicht überlegen wollen.
({7})
Das Problem des Ladenschlusses ist für Sie offenbar ein ideologisches.
({8})
Frau Martiny-Glotz hat sich in der ersten Lesung verächtlich darüber geäußert, daß der Bundesrat aus ethischen Gründen vorgeschlagen habe, am Gründonnerstag den Dienstleistungsabend nicht zuzulassen. An diesem Abend, meinte sie, seien die Bürger auf dem Weg in die Osterferien, um sich von der Regulierungswut des deutschen Gesetzgebers zu erholen.
({9})
Mit der Regulierungswut hat Frau Martiny-Glotz sicher recht. Nur, wenn wir daran gehen, zu deregulieren, ist die SPD in aller Regel nicht mehr dabei.
({10})
Ich habe beim Ladenschlußgesetz lange keinen Handlungsbedarf gesehen und das Gesetz von 1956 als den kleinsten gemeinsamen Nenner verstanden. Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zum Dienstleistungsabend wurde mir jedoch deutlich, daß bei uns viel zuviel reguliert wird.
({11})
Erinnert sei hier beispielhaft nur an den Tankstellenbereich. Flug- und Bahnreisende können auf Flughäfen und Bahnhöfen einkaufen, Autoreisende in Tankstellen jedoch nur im Rahmen des bestehenden Ladenschlußgesetzes. Merkwürdig, meine ich. Weitere Monster ließen sich nennen.
Ich persönlich glaube - und ich weiß, daß eine Reihe von Kollegen meiner Fraktion genauso denkt -, daß beim Ladenschluß noch viel mehr dereguliert werden müßte.
({12})
Es gibt sogar Vorstellungen - und ich schließe mich ihnen an - , die besagen: Wofür ein Ladenschlußgesetz? Überlassen wir diesen Bereich dem Spiel der Kräfte und der Tarifpartner.
({13})
Der Einzelhandel, die Gewerkschaften und die Opposition behaupten immer wieder, angesichts der Tatsache, daß die Arbeitszeit von 1956, als das Ladenschlußgesetz beschlossen worden ist, bis heute um 10 Stunden gesunken sei, gebe es keinen zusätzlichen Bedarf an Öffnungszeiten.
Schauen wir doch einmal ins europäische Ausland.
({14})
Hier sind die tariflichen Arbeitszeiten ähnlich. Dennoch werden in diesen Ländern der lange Verkaufsabend oder die langen Verkaufsabende angenommen. Ich lade alle, die das nicht wahrhaben wollen, gerne einmal nach Venlo, einer holländischen Stadt am Rand meines Wahlkreises Viersen ein
({15})
- ich lade Sie ein, Herr Andres! - , um sich dort einmal anzusehen, wie insbesondere die Deutschen dort am langen Abend einkaufen.
({16}))
Meine Damen und Herren von der Opposition, es muß Ihnen doch zu denken geben, daß in allen europäischen Ländern ein langer Verkaufsabend möglich ist und auch genutzt wird.
({17})
Der Westdeutsche Rundfunk veranstaltete vor einigen Monaten in Krefeld eine Sendung „Pro und Contra" zum Dienstleistungsabend.
({18})
- Eine sehr interessante Sendung, wie Sie zu Recht sagen, Frau Folz-Steinacker. - Man konnte nach einer lebhaften kontroversen Diskussion dort telefonisch ein Votum für oder gegen den Dienstleistungsabend abgeben. 55 000 Anrufer machten davon Gebrauch. 60 % der Anrufer waren für den Dienstleistungsabend.
({19})
Meine Damen und Herren von der Opposition, ob dieser Dienstleistungsabend ein Erfolg wird, ob er angenommen wird, entscheiden nicht wir, sondern die Verbraucher.
({20})
Ihr Votum sollte Leitlinie für künftiges weiteres Handeln sein. Wir sollten dieses Votum in Ruhe abwarten und zu gegebener Zeit mit allen Beteiligten auswerten.
Es muß aber heute auch einmal mit Nachdruck gesagt werden, daß dieser lange Verkaufsabend für den Einzelhandel kein Muß ist. Er wird mit Sicherheit auch nicht überall kommen. Hinzuweisen ist ferner darauf, daß das Verkaufspersonal nicht mehr, sondern nur anders arbeiten muß als bisher.
({21})
Die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen und die DAG boten uns in der Anhörung zu diesem Bereich bzw. zum Bereich der Verkaufszeiten weitere Gespräche an. Wir haben diese Gespräche geführt. In diesen Gesprächen wurde dann auch deutlich, was die Gewerkschaften am bestehenden Ladenschlußgesetz stört.
Wir haben versucht, in einem Kompromiß einige dieser Beschwernisse zu lindern.
({22})
Wir haben deshalb auch eine größere Akzeptanz zu
diesem Gesetzentwurf bei den Gewerkschaften erwartet. Mich persönlich hat es sehr enttäuscht, wie
wenig die Gewerkschaften unsere Kompromißbereitschaft honorierten.
({23})
Es ist halt so, meine Damen und Herren, daß Funktionäre nur schwer von einer vorgefaßten Meinung abzubringen sind. Aus Gesprächen mit Verkaufspersonal weiß ich jedoch, daß die Verkäufer und Verkäuferinnen unser Entgegenkommen bei ihren Beschwernissen durchaus würdigen.
({24})
In Art. 1 des Gesetzentwurfs wird eine Empfehlung zur Einführung des Dienstleistungsabends ausgesprochen. Diese Empfehlung sehen wir als Leitlinie für alle Beteiligten. Auch wenn diese Leitlinie nicht verbindlich ist, wird sie bei Ermessensentscheidungen der betrieblichen Einigungsstellen mit einzubeziehen sein. Das gilt auch für den Bereich des Personalvertretungsrechtes. Es ist aber - dies möchte ich mit Nachdruck betonen - kein Unterlaufen des § 87 des Betriebsverfassungsgesetzes. Die Empfehlung kann Einigungsstellen nicht binden; die Mitbestimmung wird nicht eingeschränkt. Wir begrüßen die dahin gehende Klarstellung durch die Bundesregierung.
Für richtig, meine Damen und Herren, halten wir die Sonderregelungen für Verkaufsstellen des Bäkkereigewerbes.
({25})
Es ist in der Tat nicht einsehbar, daß sie nach geltendem Recht ab 5.45 Uhr ihre Kunden mit Backwaren beliefern können, aber im eigenen Geschäft die gleichen Produkte zu dieser Zeit nicht verkaufen können.
Wir begrüßen es ebenfalls, daß auf die sogenannte Großhandelsklausel im Gesetzentwurf verzichtet werden konnte. Hier haben die dort angesprochenen Beteiligten für meine Begriffe in vorbildlicher Weise gezeigt, daß nicht für alles nach dem Gesetzgeber gerufen werden muß.
({26})
Zu dieser Einigung, meine Damen und Herren, kann man den Beteiligten nur gratulieren.
Beispiele weiterer Art kann man sich nur wünschen. Weniger Staat, weniger Ideologie und mehr Eigeninitiative, das wünsche ich mir auch für den Bereich des Ladenschlusses.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
({27})
Das Wort hat die Abgeordneten Waltraud Steinhauer.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Herren und Damen! Wir beraten heute in zweiter und dritter Lesung das sogenannte Dienstleistungsgesetz. Schon die Bezeichnung Dienstleistungsgesetz ist unzutreffend. Sie ist nur eine Wortschöpfung; sie ist Semantik; sie ist ein Etikettenschwindel.
({0})
In Wirklichkeit geht es nur um die Änderung des Ladenschlußgesetzes. Die Beratungen im Ausschuß haben uns in dieser Auffassung bestätigt.
In Art. 1 wird von einer Empfehlung an die Dienststellen des Bundes gesprochen, donnerstags einen Dienstleistungsabend bis 20.30 Uhr einzurichten.
({1})
Wenn es der Bundesregierung damit ernst wäre, hätte sie einen Dienstleistungsabend längst auf dem sogenannten kleinen Dienstweg in Gang setzen können. Anbieter von Dienstleistungen unterliegen schon heute keiner gesetzlichen Einschränkung hinsichtlich ihrer Öffnungszeiten. Mit dieser Gesetzesempfehlung wird vielmehr der Eindruck erweckt, als würde hier etwas bisher Verbotenes nunmehr erlaubt.
Was ist das übrigens für eine eigenartige Gesetzgebungspraxis, Dinge zu empfehlen, und dann auch noch solche, die man längst hätte anpacken können? All das bestätigt: Hier geht es nur um eine Verbrämung, daß in Wirklichkeit das Ladenschlußgesetz geändert werden soll. Der Behördendienstleistungsabend soll gewissermaßen eine Girlande sein.
({2})
Im übrigen haben viele Behörden bereits jetzt einmal in der Woche einen abendlichen Sprechtag, um den Berufstätigen den Besuch zu ermöglichen.
Es ist ja kein Geheimnis, wer die Ladenschlußzeiten ändern will, und zwar schon seit 1956: Das ist die Mehrheitsbeschaffungsfraktion FDP. Die CDU/CSU läßt sich also aus Koalitionsgründen den bewährten Ladenschluß abkaufen. Sie geht damit offenen Auges das Risiko der Störung des Arbeitsfriedens im Einzelhandel ein. Beschweren Sie sich nicht über die Streiks im Handel; denn Sie, meine Herren und Damen von der Koalition, sind diejenigen, die den Anlaß dazu gegeben haben.
Der Widerstand der Betroffenen gegen eine Ausweitung der Ladenöffnungszeiten und die damit verbundenen weiteren Verschlechterungen der ohnehin nicht guten Arbeitsbedingungen im Einzelhandel ist mehr als verständlich.
Man kann es nicht deutlich genug sagen: Der Vorstoß, den bewährten Ladenschluß zu ändern, belastet das soziale Klima im Handel. Es gibt keinen vernünftigen Grund, den bewährten Kompromiß von 1956 aufzukündigen. Das Gesetz wird nach wie vor allen Beteiligten gerecht.
({3})
Übrigens, 1956 betrug die regelmäßige Wochenarbeitszeit 48 Stunden, heute ist die wöchentliche Arbeitszeit in der Regel zehn Stunden kürzer. Die Verbraucher haben also mehr Zeit für Einkäufe als 1956.
Warum sollen nun die Verkäuferinnen und Verkäufer dazu verurteilt werden, bis in die Nachtstunden auf den Beinen zu bleiben? Was soll eigentlich eine Ladenöffnungszeit am späten Abend? Sehen Sie sich draußen doch einmal um: Schon jetzt wird die Möglichkeit der Ladenöffnung nach dem Ladenschlußgesetz von 1956 mangels Bedarf nicht voll ausgenutzt.
Ich bin außerdem der Auffassung, Kaufabende stehlen Feierabende, nicht nur für die Beschäftigten.
Die Anhörung am 8. März 1989 hat uns im übrigen in eindrucksvoller Weise auch die Belastung gerade des mittelständischen Einzelhandels durch eine Verlängerung der Ladenschlußzeiten am Donnerstagabend deutlich vor Augen geführt.
({4})
Das sogenannte Dienstleistungsgesetz ist also nicht nur arbeitnehmer-, sondern auch mittelstandsfeindlich.
({5})
Nun wird doch von den Befürwortern der Verlängerung der Ladenöffnungszeiten behauptet, der Einzelhandel könne eine Umsatzsteigerung erreichen.
({6})
Das wird durch nichts bewiesen. Eine Umsatzsteigerung würde ja eine erhöhte Kaufkraft voraussetzen. Eine abendliche Öffnung vermehrt aber nicht die Kaufkraft. Also gibt es lediglich Verschiebungen. Ich habe gelernt, man kann eine Mark nur einmal ausgeben.
({7})
Die wenigen Befürworter einer Änderung der Ladenschlußzeiten sind die Verbrauchermärkte auf der sogenannten grünen Wiese. Sie versprechen sich vom Dienstleistungsabend offenbar ein Wegziehen der Verbraucher aus den Städten in ihre Märkte. Es ist also auch nichts Wahres an dem Argument, der Einkaufsabend solle der Verödung der Inennstädte entgegenwirken.
Im Gegenteil: Die Struktur der Innenstädte wird weiter zerstört. Insbesondere die kleineren Läden werden benachteiligt und in ihrer Wettbewerbsfähigkeit eingeschränkt. Sie haben das Nachsehen. Das kann man ebenfalls unter der Überschrift mittelstandsfeindlich sehen. Die wenigen kapitalstarken, preisaggressiven Unternehmen werden rücksichtslos ihre Vorteile nutzen; chancenlos bleiben kleinere und mittlere Unternehmen. Sie bleiben auf der Strecke, bis hin zur drohenden Existenzvernichtung.
Von personalintensiver Fachberatung im Interesse des Verbrauchers kann keine Rede mehr sein. Deshalb: Eine Verlängerung der Ladenöffnungszeit fördert die Konzentrationsentwicklung im Handel.
Nun ein Argument zu der Behauptung, der Verbraucher sei mündiger Bürger, und er sei in seiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt, wenn er daran gehindert würde, zu beliebigen Zeiten einzukaufen. Das ist ein typisches Argument, Arbeitnehmer und Verbraucher gegeneinander auszuspielen. Die Argumente werden so herangezogen, wie es gerade paßt.
Wenn man dafür eintritt, Schicht- und Abendarbeit zu verringern, dann sollte man bei den Ladenöffnungszeiten nicht den umgekehrten Weg gehen. Die Beschäftigten im Einzelhandel arbeiten bereits jetzt
unter erheblichen körperlichen Belastungen und haben nicht immer ein angenehmes Arbeitsumfeld.
Dazu kommt ein niedriges Lohnniveau. Oder soll das etwa bei einem Durchschnittsgehalt von 2 300 DM bestritten werden?
({8})
Gerade der Einzelhandel zeichnet sich übrigens durch zahlreiche ungesicherte geringfügige Arbeitsverhältnisse unter einem Monatsverdienst von 450 DM aus. Die sogenannten Kapovaz-Arbeitsverhältnisse sind auch keine Seltenheit. Um solche handelt es sich nämlich vorrangig. Davon ist z. B. eine Arbeitnehmerin betroffen, die ihre Arbeitszeit nach dem jeweiligen Bedarf einzurichten hat. Sie muß ihre persönliche Freiheit durch ständige Rufbereitschaft einschränken.
Inhaber von kleineren Handelsbetrieben arbeiten nach eigenen Angaben schon heute 70 bis 80 Stunden pro Woche. Eine Erweiterung der Ladenöffnungszeiten käme einer Selbstausbeutung gleich.
({9})
Die bestehenden Arbeitszeitregelungen erfordern schon heute eine Opferbereitschaft der Beschäftigten des Einzelhandels und ihrer Familien. Samstags und abends arbeiten sie schon heute durchschnittlich länger als die übrigen Arbeitnehmer.
({10})
Es ist nicht einzusehen, warum die Beschäftigten des Einzelhandels ein weiteres Sonderopfer bringen sollen.
Keineswegs ernst zu nehmen ist auch das Argument, die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten werde neue Arbeitsplätze schaffen. Es handelt sich hier wohl um das Märchen von der erhofften wundersamen Vermehrung der Arbeitsplätze im Einzelhandel. In der Anhörung wurde verdeutlicht, daß bereits jetzt auf zwei Vollzeitarbeitsplätze etwa 30 bis 35 Teilzeitarbeitsplätze kommen.
({11})
Wenn überhaupt Neueinstellungen durch Änderung der Ladenöffnungszeiten erfolgen würden, dann geschähe das zu Lasten der Vollzeitbeschäftigten und zugunsten von Teilzeitarbeitsplätzen. Diese sind meistens noch ungesichert, d. h. ohne sozialversicherungsrechtlichen Schutz. Aus Unternehmersicht ist das übrigens die logische Konsequenz.
Wenn aber mehr Personal eingestellt würde, dann würde das auch die Kosten erhöhen. Das ginge zu Lasten der Preise. Der Verbraucher zahlt also die Zeche.
Bevor man über eine Änderung der Ladenöffnungszeiten hätte sprechen sollen, wäre es richtig gewesen, die Humanisierung der Arbeitsbedingungen im Einzelhandel konkret voranzutreiben.
({12})
Die körperlichen und psychischen Belastungen der
Beschäftigten im Einzelhandel sind nach den Schilderungen der Betroffenen in der Anhörung am 8. März
1989 so hoch, daß eine Verschiebung der Arbeitszeit in die Abendstunden auch aus diesen Gründen unvertretbar ist. Ich sage dazu nur einige Stichworte:
({13})
schlechte klimatische Bedingungen, künstliche Beleuchtung, körperliche Schwerstarbeit durch Heben und Tragen, langes Stehen usw.
Die längere Öffnungszeit ist darüber hinaus auch absolut familienfeindlich.
({14})
75 % aller Beschäftigten im Einzelhandel sind Frauen, die meistens auch Kinder zu betreuen haben.
({15})
Die ohnehin knapp bemessene Freizeit kann nicht noch weiter eingeschränkt werden. Hinzu kommt, daß z. B. die Kindergartenöffnungszeiten in keiner Weise mit einer Verlängerung der Ladenöffnungszeiten in Übereinstimmung gebracht werden können.
Ich kann nur das unterstreichen, was uns kürzlich aus dem Kreis der Verkäuferinnen geschrieben wurde. Ich zitiere: Wir wollen nicht am Donnerstag erst ab 22 Uhr unseren Familien zur Verfügung stehen.
({16})
Wenn es nicht so bitter ernst wäre, könnte man über das Argument, die Nahverkehrsbetriebe müßten am Donnerstagabend ihr Angebot verstärken, nur amüsiert lächeln.
({17})
Versuchen Sie doch einmal, nicht nur auf dem Lande, sondern auch in Großstädten nach 20 Uhr noch ein öffentliches Verkehrsmittel zu benutzen. Da gibt es manchmal zwar noch Anschlüsse, aber mit sehr langen Unterbrechungen. Die Mitternachtsheimkehr wäre keine Seltenheit.
({18})
Wenn Sie von der Koalition eine familienfreundliche Politik betreiben wollen, dann denken Sie einmal an die Ausführungen von Bundespräsident von Weizsäcker am 24. Mai 1989:
({19})
Noch immer müssen sich Familien dem Arbeitsmarkt anpassen statt umgekehrt.
({20})
Darunter leiden alle. Die Frauen tragen den Löwenanteil der Lasten, die sich daraus ergeben.
({21})
Kommen Sie mir nicht mit dem Argument, die Arbeitnehmerinnen - es sind in diesem Bereiche hauptsächlich Frauen - bräuchten solche Arbeiten nicht anzunehmen. Sie haben oftmals überhaupt keine Wahl, obwohl die Bundesanstalt für Arbeit uns bei der
Anhörung auch bestätigt hat, daß keine Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen am Abend vorhanden ist.
Auf ein weiteres im Augenblick gerade besonders aktuelles Argument, das von der Koalition immer wieder angeführt wird, will ich ebenfalls eingehen. Es ist die Sache mit Europa. Hier wird behauptet - wir haben das eben auch wieder gehört - , ein Blick über die Grenzen zeige, in den meisten europäischen Nachbarländern seien Einkaufsabende selbstverständliche gesellschaftliche Wirklichkeit.
({22})
- Schön, daß Sie diesen Vergleich bringen! Das finde ich sehr gut.
({23})
Abgesehen davon, daß diese Behauptung nicht unumstritten ist, wäre es schlimm, wenn wir in vorauseilendem Gehorsam schlechtere Regelungen unserer Nachbarn übernehmen würden.
({24})
Übrigens werden da als Beispiel immer die Urlaubsgebiete herangezogen. Gerade in diesen Gebieten müssen die Geschäfte meistens innerhalb einiger Monate ihren Umsatz machen. Das sind völlig andere Verhältnisse, mit denen ich einen Vergleich nicht anstellen möchte.
({25})
Auch die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in Europa sind kein Argument. Vielmehr sollte die Bundesrepublik das bestehende Ladenschlußrecht als Vorbild für bessere Regelungen zugunsten der Beschäftigten im Einzelhandel auch im europäischen Rahmen bei der Gestaltung des Binnenmarktes einsetzen. Es ist schon interessant: Europa wird uns immer als Vorbild vorgehalten, wenn es schlechter ist,
({26})
aber umgekehrt wird diese Meinung nicht vertreten. Das sind eigenartige soziale Dimensionen. Soll das eine Harmonisierung nach unten werden?
Die FDP hat immer darauf hingewiesen, daß diese Einführung von Abend- und Nachtarbeit im Einzelhandel nur ein erster kleiner Schritt zur sogenannten Flexibilisierung des Ladenschlusses sein soll.
({27})
- Ab 20 Uhr ist Nachtarbeit! - Sie bestätigt damit nur, daß die Lockerung der Ladenöffnungszeiten ein weiterer Baustein einer politischen Strategie ist, die das Arbeits- und Sozialrecht in der Bundesrepublik Deutschland aushebeln und den Bestand unseres in 40 Jahren mühsam aufgebauten Sozialstaats zerschlagen will.
({28})
- Sie haben ja gesagt: Es ist nur ein Anfang. Ich habe das in der Berichterstatterbesprechung sehr aufmerksam zur Kenntnis genommen.
({29})
Außerdem kann es ja auch Ihr Vorsitzender nicht unterlassen, dauernd in der Richtung Zeitungsinterviews zu geben, daß das ganz frei sein soll.
Arbeitsschutz wird abgebaut. „Flexibilisierung" und „Deregulierung" sind bloße Schlagworte, mit denen immer der Abbau der Arbeitnehmerschutzrechte gemeint ist. Dieses Gesetz paßt als weiterer Mosaikstein lückenlos in eine politische Strategie, in der in der Steuerpolitik der Starke belohnt und der Schwache durch mehr indirekte Steuern zur Kasse gebeten wird.
({30})
Hier geht es um ein weiteres Element der gnadenlosen Strategie der Umverteilung von unten nach oben. Dieses Dienstleistungsgesetz gehört dazu ebenso wie der Abbau des Kündigungsschutzes, die Forderung nach Schaffung von Einstiegslöhnen unterhalb der Tarife, die Selbstbeteiligung an den Leistungen in der Krankenversicherung und die unablässigen Bestrebungen nach einem Abbau der betrieblichen Mitbestimmung.
({31})
Gerade weil dieser Gesetzentwurf in besonderem Maße die Problematik der Mitbestimmung bei der Festlegung der Arbeitszeit berührt, lege ich besonderen Wert auf die im Verlauf der Ausschußberatungen erfolgte Klarstellung durch die Bundesregierung, daß das Recht, Arbeitszeiten durch Betriebsvereinbarungen festzulegen, auch durch dieses Gesetz weder unmittelbar noch mittelbar eingeschränkt werden darf.
({32})
Eine mitbestimmungsrechtliche Präjudizierung der Ermessensentscheidungen der Einigungsstellen in Konfliktfällen muß ausgeschlossen bleiben.
Wenn hier versucht werden sollte, die betriebliche Mitbestimmung durch die Hintertür einzuschränken, würde das bedeuten,
({33})
daß § 87 des Betriebsverfassungsgesetzes unterlaufen wird. Das hat dann über den Einzelhandel hinaus Bedeutung.
({34})
- Jawohl, ich sage das noch einmal, denn dies wurde in Frage gestellt. Deswegen sei hier noch einmal unterstrichen: Dieses Gesetz bindet nicht die Einigungsstellen im Konfliktfall bei der Festlegung der täglichen Arbeitszeiten.
Aus den dargelegten Gründen lehnt die SPD-Bundestagsfraktion diesen Gesetzentwurf zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten des Einzelhandels ab.
({35})
Daran ändert auch nichts, daß nach den letzten Anträgen der Ladenschluß am Donnerstag statt auf 21 Uhr auf 20.30 Uhr und an langen Samstagen im Sommer statt auf 18 Uhr auf 16 Uhr festgelegt werden soll. Ich sage nur: Das ist ein fauler Kompromiß.
({36})
Das angebliche Machtwort des Bundeskanzlers und das Gezerre in der Koalition, bis es zu diesem Änderungsantrag kam, war ohnehin grotesk genug.
({37})
Es ging ja wohl nur darum, das Gesetz nach dem Motto „Augen zu und durch" im Ausschuß und im Bundestag zu verabschieden. Bedenken und Gespräche spielen bei der Koalition überhaupt keine Rolle.
({38})
Namens der SPD-Fraktion beantrage ich auf Grund der Bedeutung dieses Gesetzes namentliche Abstimmung.
({39})
Dabei sind wir sehr gespannt auf die Haltung der Koalitionsabgeordneten, die draußen lauthals verkündet haben, sie würden einer Änderung der Ladenschlußzeiten ihre Zustimmung verweigern.
({40})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Folz-Steinacker.
({0})
Dazu brauche ich bestimmt drei Stunden. Außerdem weiß sie das alles. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! 30 Jahre Ladenschluß sind 30 Jahre politischer Auseinandersetzung um Sinn und Unsinn dieser Regelung. Während die einen darin einen ausgewogenen Kompromiß sehen, ist er für andere, ich denke, zu Recht Ausdruck staatlicher Bevormundung von Verbrauchern und Handel. Weil wir Liberalen das so sehen, plädieren wir seit über 30 Jahren für die Lockerung des Ladenschlusses,
({0})
und zwar im Interesse von Verbrauchern und des mittelständischen Handels. Wenn dieses Gesetz vom HBV-Vorsitzenden als eine „standrechtliche Erschießung" des bisherigen Ladenschlußgesetzes bezeichnet wird, so schießt er damit, wie so oft, weit über das Ziel hinaus.
({1})
Ein weiteres Zitat, aus einer anderen Quelle, sicherlich ist es Ihnen bekannt:
Vielleicht fällt es den Deutschen schwerer als den
Angehörigen anderer Nationen, einer Deregulierung der Arbeitszeit auch positive Seiten abzugeFrau Folz-Steinacker
winnen, weil hierzulande der Hang, nach Regeln zu leben, ausgeprägter als in manchen anderen Ländern ist.
Sicherlich kennen einige dieses Zitat; es ist eine Aussage Oskar Lafontaines, und sie gilt auch treffend für die heutige Situation.
Eine Sozialdemokratie, die sich einstmals als Speerspitze des Fortschritts empfand,
({2})
reiht sich nunmehr nahtlos in eine unheilige Allianz der Verbandsvertreter ein, degeneriert zum Gralshüter des Status quo. Dabei zeigen gerade die Erfahrungen, wie mein verehrter Kollege eben angedeutet hat, in anderen Ländern - ich möchte hier nur Frankreich und Schweden erwähnen -, daß mehr Flexibilität bei den Ladenöffnungszeiten weder einen Abbau von Arbeitnehmerrechten noch eine Gefährdung des Mittelstandes befürchten lassen.
({3})
- Richtig. - Gerade die völlige Freigabe der Ladenöffnungszeiten hat sich in Schweden - das ist Ihnen doch auch bekannt, Frau Steinhauer - für Verbraucher und Handel ganz positiv ausgewirkt.
({4})
- Ach, natürlich. - Es ist ja nicht so selten, daß wir in diesem Hause ermahnt werden, schwedischen Beispielen zu folgen. In diesem Fall, denke ich, sollten Sozialdemokraten doch bereit sein, von den schwedischen Genossen ein bißchen zu lernen.
Das Ladenschlußgesetz in seiner heutigen Gestalt stellt in erster Linie eine Beschränkung der Verbraucherfreiheit dar. Meine Damen und Herren, was ist das eigentlich für ein Gesetz, das sich an verkrusteten Strukturen und nicht an den Wünschen der Verbraucher orientiert? Was ist das für eine Leistung, wie kürzlich eine Zeitung gefragt hat, Geschäfte, Banken, Ämter gerade rechtzeitig zu schließen, bevor der Bürger wirklich Zeit hätte, sie in Anspruch zu nehmen?
({5})
Da muß man auch einmal fragen: Was sind das für Geschäftsleute, die seit über 30 Jahren ein solches Gesetz klaglos hinnehmen? Ich begreife das nicht.
Wenn die Ablehnungsfront argumentiert, die Verbraucher verfügten heute über mehr Freizeit als früher, so ist der Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände nur zuzustimmen, wenn sie darauf hinweist, daß sich seitdem auch die Verhältnisse wesentlich geändert haben. So ist das ausgabefähige Einkommen ganz deutlich gestiegen. Legen Sie einmal 1956 zugrunde: Das Durchschnittsbruttogehalt, das gezahlt wurde, lag bei 500 DM. Ich muß Ihnen ja wohl nicht erzählen, was heute verdient wird.
({6})
Ihre Argumentation, daß man eine Mark nur einmal ausgeben kann, ist damit doch völliger Unfug.
Eine andere Sache: Das Warenangebot z. B. hat erheblich zugenommen. Nicht zuletzt haben sich auch das Freizeit- und das Einkaufsverhalten der Verbraucher ganz wesentlich geändert.
Weiter heißt es in der Stellungnahme der AGV - ich zitiere - :
Doch sollte der Umstand, daß größere Unternehmen wegen entgegenstehender Betriebsvereinbarung nicht öffnen können oder wollen, kein Hinderungsgrund für die Verwirklichung des Dienstleistungsabends sein. Die Dynamik des Marktes läßt vermuten, daß in den Bereichen, in denen eine entsprechend große Nachfrage besteht, über kurz oder lang eine Reaktion bei den bis dahin nicht mitziehenden Anbietern erfolgt.
Meine Damen und Herren, diese fast prophetischen Worte der AGV haben sich schon jetzt Gott sei Dank bewahrheitet; denn der Kölner Kaufhof-Konzern will nach der gesetzlichen Einführung am Dienstleistungsabend teilnehmen. Das möchte ich von dieser Stelle aus ganz ausdrücklich begrüßen.
Mit diesen unvermeidlichen Reaktionen haben aber, denke ich, auch Handel und Gewerkschaften schon seit langem gerechnet. Das beweisen ja schließlich die Abschlüsse über Betriebsvereinbarungen mit Konkurrenzklauseln.
Wer behauptet, es bestehe kein Bedürfnis der Verbraucher nach flexiblen Ladenöffnungszeiten, der sollte, wie das der Kollege hat anklingen lassen,
({7})
- jawohl -, die Stuttgarter Klett-Passage, den Frankfurter Flughafen oder auch nur die Tankstelle um die Ecke einmal besuchen.
({8})
Dann wird er nämlich eines besseren belehrt, Frau Kollegin. Hier ein ganz kurzes Wort zu der Situation der Tankstellen: Nach dem derzeitigen Gesetz befindet sich der Inhaber immer am Rande der Kriminalität, wenn er seinen Kunden nach Ladenschluß eventuell noch Reiseproviant verkauft; denn schon nach zwei Abmahnungen drohen empfindliche Geldbußen.
Meine Damen und Herren, um es jetzt einmal ganz klar und deutlich, auch als Erwiderung, zu sagen:
Erstens. Niemand wird gezwungen, seinen Laden länger offenzuhalten, wenn er es selbst nicht für richtig hält.
Zweitens. Die zulässigen Arbeitszeiten für die Arbeitnehmer werden genauso wenig geändert wie der § 87 des Betriebsverfassungsgesetzes. Es ist Schwindel, wenn Sie immer wieder behaupten, daß die Angestellten im Einzelhandel länger arbeiten müssen.
({9})
Das ist doch eine Unverschämtheit. Sie wissen doch, daß das nicht stimmt. Die Arbeitnehmer arbeiten anders; sie müssen flexibler, aber doch nicht länger arbeiten.
({10})
Drittens. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß das Bundeskartellamt Bedenken dagegen hat, per Tarifvertrag die gesetzlichen Ladenschlußregelungen zu unterlaufen und so die wettbewerbliche Handlungsfreiheit der Unternehmen einzuschränken. Flexiblere Ladenöffnungszeiten, meine Damen und Herren, vielleicht sogar bei Beibehaltung der Gesamtöffnungszeiten und unter Beachtung - hören Sie gut zu, Frau Kollegin - des Arbeitnehmerschutzes - wir sind nämlich sehr dafür - wären heute an sich das Gebot der Stunde. Leider gibt es dafür noch keine Mehrheit in diesem Parlament.
({11})
Schon der eine Dienstleistungsabend pro Woche war deshalb aus liberaler Sicht ein Kompromiß. Daß die jetzt gefundene Kompromißformulierung uns nicht in allen Punkten befriedigt, ist, denke ich, hinreichend bekannt. Die Verkürzung der Öffnungszeiten an den langen Samstagen in den Sommermonaten ist für uns Liberale mehr als nur ein Wermutstropfen. Ich bin immer noch der Auffassung, daß die Kollegen der Union, die diese Änderung durchgesetzt haben, Sirenenklängen erlegen sind, und zwar den gewerkschaftlichen.
Wir halten den jetzt gefundenen Kompromiß nicht für die beste aller Regelungen, aber für vertretbar als ersten Einstieg in eine verbraucherfreundlichere und dem EG-Standard entsprechende Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten.
({12})
Meine Damen und Herren, wer diesen Kompromiß ablehnt, muß sich allerdings darüber im klaren sein, daß eine Flexibilisierung der Ladenöffnungszeiten dann auf den Sankt-Nimmerleins-Tag geschoben wäre.
Der Gesetzentwurf enthält auch die dringende Empfehlung an Bundesbehörden und andere Dienstleistungseinrichtungen, die gebotenen Chancen zu nutzen und durch verbraucherfreundliches Verhalten dazu beizutragen, daß man an einem Abend in der Woche nicht nur in Ruhe einkaufen, sondern auch zur Post und zur Bank gehen kann.
({13})
Auch Landes- und Kommunalbehörden sind aufgefordert mitzuziehen. Die Verbraucher sollen die Freiheit haben, z. B. auch abends ihren Paß, ihren Personalausweis verlängern zu lassen. Warum wollen Sie nicht mal am Abend Ihr Auto anmelden? Sie wissen doch, wie lange das eh dauert.
({14})
Vielleicht noch ein Wort zum Abschluß. So, wie die Fußgängerzonen z. B. bei ihrer Einführung von vielen kritisch aufgenommen wurden - auch das ist ja bekannt -, heute aber aus unseren Städten, Klein- und Kleinststädten, überhaupt nicht mehr wegzudenken sind, so wird auch der Dienstleistungsabend den Verbrauchern - ich denke, hier vor allem den Berufstätigen, und ich glaube, hier sind Frauen wie Männer
gleichermaßen tangiert - , aber auch dem Facheinzelhandel für erweiterte Möglichkeiten individueller und fachgerechter Beratung der Kundschaft zugute kommen.
Mein Abschlußsatz: Insofern sehe ich darin zusätzliche Chancen für den Mittelstand, für die Verbraucher und natürlich für die Schaffung neuer Arbeitsplätze. Daher bitte ich Sie um Zustimmung zu unserem Antrag.
({15})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei diesem Gesetz zur Einführung eines Dienstleistungsabends, wo es eigentlich um den Ladenschluß geht - das ist schon gesagt worden -, handelt es sich wieder um ein Frauengesetz, denn es betrifft natürlich im wesentlichen Frauen. Ausgehandelt worden ist es wieder einmal, wie in dieser Koalition üblich, von Männern, und zwar in einer ihnen sehr angemessenen Weise, nämlich wie in einer Skatrunde, wo gezockt wurde, und zwar wurde um die Zeit gezockt: hier eine halbe Stunde, da eine halbe Stunde.
({0})
Der nun bekannte Kompromiß ist ja nun der Öffentlichkeit bekannt.
Man könnte das ja als Posse betrachten, wenn die Auswirkungen nicht doch sehr schwerwiegend wären, denn die Auswirkungen dieser Zockerei haben Frauen zu tragen, und Sie beeilen sich nun, dieses Gesetz hier in unglaublicher Geschwindigkeit wegzupacken, wohl aus Angst davor, daß Sie dieses Gesetz sonst nicht so glatt über die Bühne kriegen könnten, weil Ihnen Ihre eigenen Leute davonlaufen.
({1})
Ich fand es sehr erstaunlich, daß einer Ihrer Kollegen, der den Mut gehabt hat, dem Ruf der Gewerkschaft zu folgen und sich selbst einen Tag in ein Kaufhaus zu stellen und mal zu sehen, was diese schlecht bezahlte Tätigkeit unter anstrengenden Bedingungen tatsächlich bedeutet, zumindest bekanntgegeben hat
- ob er es dann tut, wird man sehen -, daß er nicht mehr für die Verlängerung der Ladenschlußzeiten stimmen wird.
({2})
- Es waren zwei. In den Veröffentlichungen stand, es sei auch ein CDU-Kollege mit dabei gewesen, und auch er hätte nach dieser Erfahrung nicht mehr davon gesprochen, daß es zumutbar sei, die Verkaufszeiten bis in den Abend hinein zu verlängern.
({3})
Ich möchte hier ein Wort zum Streik der HBV sagen. Sie müssen sich überlegen, daß Streiks nicht aus Jux und Dollerei betrieben werden, und vor allen Dingen
nicht von den Frauen, die nicht mal einen Schutz haben, weil sie zur großen Zahl in ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen stehen. Der Mut dieser Frauen zeigt, daß sie in einer relativ verzweifelten Situation sind und deswegen bereit sind, das Risiko des Streiks in Kauf zu nehmen und sich so mutig, zusammen mit der HBV, gegen diese von Ihnen vorgehabte Gesetzesänderung stellen.
({4})
Nun wird in den Debatten um den Dienstleistungsabend bzw. Ladenschluß immer vorgegeben, es gehe Ihnen um die Frauen, nämlich um die erwerbstätigen Frauen, denn Sie wollten denen den Einkaufsstreß nehmen. Nun kann es nicht darum gehen, daß man das Pfund Butter oder den Liter Milch am Abend in Ruhe einkaufen kann, denn dazu reicht ein Abend in der Woche ja wohl nicht. Es geht um das, was eben von Frau Folz-Steinacker angesprochen worden ist: Es geht darum, daß Sie Freizeit mit Konsum, mit Geldausgeben füllen wollen.
({5})
Das ist Ihr reales Verständnis von Familienpolitik: Statt Romméspielen, statt zusammen zu Hause etwas zu machen oder radzufahren, soll sich Ihre Familie auf den Einkaufswiesen außerhalb der Städte oder in den Städten selbst tummeln.
Wenn es Ihnen wirklich darum ginge, Erleichterungen für die Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Beruf zu schaffen, was in der Tat eine schwierigere Situation gerade für Frauen mit sich bringt, dann müßten ganz andere politische Vorstellungen her. Dann müßten Sie in Arbeitszeitmodelle einsteigen, die für Frauen und auch Männer mit Kindern die Möglichkeit schaffen, ihre Arbeitszeit zu reduzieren; allerdings dann nicht mit dequalifizierten ungeschützten Teilzeitarbeitsverhältnissen, sondern mit vernünftigen Teilzeitarbeitsverhältnissen. Sie müßten dann auch den finanziellen Verlust, der mit Teilzeitarbeit einhergeht, kompensieren. Sie dürfen das nicht zu einem Privatvergnügen von Erziehenden oder Pflegenden machen.
({6})
Die zweite Antwort zur Verhinderung von Streß bei der Vereinbarung von Erwerbsleben mit Kindern, Familie und Pflege liegt bei Ihnen, meine Herren. Erst wenn Männer kapieren, daß Reproduktionsarbeit Arbeit ist und daß es eine Selbstverständlichkeit ist, daß sie einen riesigen Anteil, nämlich genau die Hälfte der Haus-, Pflege- und Familienarbeit, zu leisten haben, wird der Streß in der Familie wirklich beendet sein, vorher nicht. Die Frauen, die die Hoffnung aufgegeben haben, daß Männer das noch lernen, die trennen sich eben von ihnen. Das ist ganz klar.
Was bedeutet nun der Dienstleistungsabend, so wie er jetzt verabschiedet werden soll, in der Realität? Die Verkäuferinnen und Kassiererinnen - es sind, wie gesagt, zu 75 % Frauen - müssen nun, auch wenn sie Kinder haben, in den Abendstunden antreten.
({7})
Was Sie hier vorgaukeln, nämlich daß die Frauen sich das aussuchen könnten, ist ja wohl ein Witz. Das wäre ja das erste Mal, daß in den großen Geschäften und in den Betrieben wirklich die Arbeitnehmerinnen die Arbeitszeitlage bestimmen könnten. Bisher läuft das Diktat immer umgekehrt.
({8})
Sie sagen jetzt mit Ihrer Familienpolitik: Es ist uns vollkommen egal, was die Alleinerziehenden mit ihren Kindern machen. In der „Zeit" wurde nach einer Ausschußdebatte meine Frage, was denn die Frauen mit den Kindern machen sollen, sogar als abenteuerlich hingestellt. Es kann wirklich nur aus Männerhirnen entspringen, daß sie es als abenteuerlich bezeichnen, überhaupt danach zu fragen, was denn bitte schön die Frauen mit ihren Kindern abends machen sollen. Die Männer werden nicht unbedingt da sein, denn für die halten Sie ja reichlich Schichtarbeit bereit. Es ist also nicht nur die Unwilligkeit der Männer, ihren Verpflichtungen nachzukommen, sondern sie können es auch bei den derzeitigen Arbeitszeitstrukturen nicht.
({9})
Das schert Sie eben nicht. Das ist Ihre Familienpolitik. Bitte schön.
Verzicht auf soziales Leben: Einkaufsabend, Einkaufen, das ist keine soziale Veranstaltung. Ihre Flexibilisierungspolitik zielt auf die Zerschneidung gemeinsamer Zeiten im sozialen Leben; ob das Familien, ob das Liebespaare oder ob das Eltern-Kinder-Beziehungen sind. Das ist das, was Sie gesellschaftlich vorhaben. Flexibilisierung ist das, was eigentlich angesagt ist. Es geht um eine Zerstörung sozialer Zusammenhänge. Sie spielen Frauen gegeneinander aus. Sie bemühen Fraueninteressen, indem Sie behaupten, die Frauen wären diejenigen, die abends einkaufen wollten. Ein wahres Wort hat Herr Kollege Louven heute gesagt.
({10})
- Er hat nur einen wahren Satz gesagt. Er sagte: Wir zwingen ja niemanden zum Einkaufsabend; ob er angenommen wird, ist schließlich die Sache der Verbraucher. Sie nennen zwar die Verbraucher, es sind aber eigentlich die Frauen, die einkaufen. Also ist es die Sache der Verbraucherinnen. Deswegen kann ich von hier aus nur alle Menschen aufrufen: Geht abends nicht in die Geschäfte! Überlegt euch, wer hinter dem Tresen stehen muß! Überlegt euch, wer eigentlich des Schutzes bedarf!
({11})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
({0})
Ich möchte aber die jetzt hereinkommenden Kollegen bitten, doch die notwendige Ruhe herzustellen. Es war schon eine Zumutung für die letzte Rednerin, gegen einen solchen Unterhaltungsschwall anreden zu müssen.
Herr Minister, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sind in Sachen Einkaufszeiten/Ladenschluß ein Entwicklungsland.
({0})
Ich sehe nirgendwo in Europa, daß sich auch nur ein Land unseren Starrheiten anpassen oder zu ihnen zurückkehren wollte. Ich sehe nur überall die Bewegung hin zu mehr Flexibilität. Ich nenne Beispiele. In Belgien kann man freitags bis 21 Uhr einkaufen, in Großbritannien im Sommer einmal in der Woche bis 21 Uhr, im Winter bis 19.30 Uhr. Die Iren kaufen donnerstags bis 21 Uhr ein, die Niederländer einmal in der Woche am Donnerstag oder Freitag bis 21 Uhr. Die Italiener können teilweise bis 22 Uhr einkaufen. In Frankreich gibt es überhaupt keine gesetzlichen Bestimmungen, in Schweden auch nicht. Die grünen und die roten Deutschen sind die einzigen Starren in Europa.
({1})
Ich frage mich, ob es hier um mehr als um die Arbeitszeit geht.
({2})
- Ich habe nur fünf Minuten. Nachher machen wir das ausführlich.
({3})
Die GRÜNEN und die Roten, das sage ich noch einmal, sind die einzigen Starren. Ich frage mich auch, ob es nur um die Arbeitszeit geht. Welche Vorstellungen haben Sie eigentlich? Offenbar: Kaufen nur als Ramsch einsammeln, Geld gegen Ware, am besten im Parademarsch. Machen Sie es doch wie einen Schulausflug. Führen Sie die Leute immer an der Hand: einkaufen oder nicht einkaufen. Wie stellen Sie sich eigentlich die Gesellschaft vor?
({4})
Es ist die alte sozialistische Vorstellung: Am besten ordnet man alles in Schubladen: eine Schublade für die Freizeit, eine für die Arbeit, eine für die Bildung, eine für die Familie. Wir wollen mehr Vielfalt. Wir wollen mehr eigene Entscheidung des einzelnen.
({5})
Ich stelle mir den Feierabend nicht so vor, als bestehe er nur aus Passivität, als sitze man nur vor der Glotze. Lassen Sie die Leute doch in die Stadt gehen. Wenn sie außer spazierenzugehen noch einkaufen, kann das doch schön sein. Auch in den Gemeinden kann es schöner sein.
({6})
- Wir versuchen jetzt erst einmal, etwas Bewegung in die Erstarrung zu bringen.
({7})
Lassen Sie mich noch eines sagen, weil das nun wirklich eine Falschmeldung ist. Die Arbeitszeit der Verkäuferin wird überhaupt nicht verlängert.
({8})
Die Verkäuferinnen arbeiten 38,5 Stunden und kämpfen um kürzere Arbeitszeiten. Das steht überhaupt nicht im Widerspruch zu diesem Gesetz.
Auch die Gesamtöffnungszeit wird überhaupt nicht verändert. An langen Samstagen im Sommer wird die Öffnungszeit sogar um zwei Stunden reduziert.
({9})
Herr Minister, ich will noch einmal versuchen, die notwendige Ruhe herzustellen. Ich wäre dankbar, wenn sich die Kolleginnen und Kollegen setzen und die restlichen paar Minuten meinethalben erdulden, aber zumindest schweigend erdulden könnten.
({0})
Herr Präsident, können wir uns nicht darauf einigen, die letzten Minuten zu genießen?
({0}) Warum erdulden?
Wir sind für eine Gesellschaft mit mehr Freiwilligkeit. Niemand wird gezwungen, seinen Laden bis 20.30 Uhr offenzuhalten. Wenn Sie sagen, das würde ein Flop, dann brauchen Sie keine Angst zu haben. Dann wird es nämlich nichts. Warum haben Sie Angst vor der Freiwilligkeit?
Jetzt mache ich eine Wette, meine Damen und Herren. Wenn ich für jeden Sozialdemokraten, der hier und anderswo gegen den Dienstleistungsabend am Donnerstag bis 20.30 Uhr geredet hat und den ich demnächst am Donnerstagabend um 20 Uhr einkaufen sehe, eine Mark erhalte, werde ich Millionär. Da können Sie ganz sicher sein.
({1})
Wenn ich für jeden GRÜNEN eine Mark erhalte, der schon um 6.30 Uhr Brötchen kauft, damit er rechtzeitig zur Demonstration um 8 Uhr kommt, dann habe ich auch einen großen Zugewinn.
({2})
Ich bin ganz sicher: Hier reden viele gegen ihre eigenen Lebenswünsche.
({3}) Hier reden viele gegen ihre eigene Praxis.
Ich bleibe dabei. Mein Appell geht auch an den öffentlichen Arbeitgeber, mit gutem Beispiel voranzugehen, etwas mehr Buntheit, Freiwilligkeit in unsere Gesellschaft zu bringen.
Ich glaube, der Ladenschluß ist der letzte Dinosaurier der Arbeitszeit.
({4})
Wodurch haben sich die Dinosaurier ausgezeichnet?
Wenig Gehirn, viel Masse. Woran sind die Dinosaurier
zugrunde gegangen? An ihrer Unbeweglichkeit. Wir wollen mehr Beweglichkeit.
({5})
Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Bundesregierung zur Einführung eines Dienstleistungsabends in der Ausschußfassung. Die Vorlagen finden Sie auf den Drucksachen 11/2973, 11/3004 und 11/4649.
Ich rufe zunächst Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer diesen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Damit sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen. Damit ist die zweite Beratung abgeschlossen.
Wir treten nunmehr in die
dritte Beratung
ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wie bekannt, hat die Frau Abgeordnete Steinhauer im Namen der SPD-Fraktion gemäß § 52 unserer Geschäftsordnung namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die Abstimmung nach dem bekannten Verfahren, wenn die einzelnen Urnen entsprechend besetzt sind. - Ich bitte, nunmehr mit der Abstimmung zu beginnen. -
Meine Damen und Herren, ich nutze die Zwischenzeit, um Sie darüber zu informieren, daß ich diverse Erklärungen nach § 31 unserer Geschäftsordnung vorliegen habe *), von dem Abgeordneten Claus Jäger und von dem Abgeordneten Wolfgang Hinrichs. Ich habe außerdem eine gemeinsame Erklärung nach § 31 unserer Geschäftsordnung von folgenden Abgeordneten vorliegen: Feilcke, Tillmann, Kolb, Kalisch, Frau Geiger, Haungs, Windelen, Frau Dempwolf, Frau Pack, Dr. Warrikoff, Günter Müller, Dr. Czaja, Lamers. Dieses wird ergänzt durch eine Erklärung - ich nehme an, nach § 31 unserer Geschäftsordnung - der Abgeordneten Ingrid Matthäus-Maier.
Ich frage offiziell: Befindet sich noch jemand im Raum, der nicht an der Abstimmung teilgenommen hat? - Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Damit ist die Abstimmung geschlossen.**) Die Schriftführer können jetzt mit der Auszählung beginnen.
Ich rufe Punkt 19 der Tagesordnung auf:
Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung eines Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 1989 ({0})
- Drucksachen 11/4350, 11/4577 Beschlußempfehlung und Bericht des Haushaltsausschusses ({1})
- Drucksache 11/4651 -
*) siehe Anlage 2
**) Ergebnis Seite 10964 B
Berichterstatter:
Abgeordnete Borchert Dr. Weng ({2}) Wieczorek ({3}) Frau Vennegerts
({4})
Im Ältestenrat ist eine Debattenzeit von zwei Stunden vereinbart worden. Ist das Haus damit einverstanden? - Widerspruch erhebt sich nicht. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster hat der Abgeordnete Dr. Rose das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach zügiger Ausschußberatung haben wir heute die zweite Lesung und die Schlußabstimmung zum Nachtragshaushalt. Da ich das Wort „zügig" erwähnt habe, möchte ich mich auch bedanken, ganz besonders bei der Opposition. Denn wenn man nicht zusammenhält, kommt man zu solchen Ergebnissen zumindest nicht so schnell.
({0})
Bei der Einbringungsdebatte des Nachtragshaushalts hatte die SPD - das war erst am 11. Mai - der Bundesregierung allerdings noch Kurzsichtigkeit vorgeworfen.
({1})
- Ich habe es erwartet, daß Sie das sagen. Aber warum haben Sie dann als SPD-Fraktion bei der gutachtlichen Beratung im Innenausschuß dem Gesetzentwurf zugestimmt? Daran zeigt sich wohl, daß bei Ihnen jetzt nicht Kurzsichtigkeit, sondern Einsichtigkeit eingekehrt ist
({2})
und daß Sie gemerkt haben, daß dieser Nachtragshaushalt doch nicht so falsch ist.
Nochmals zur Begründung dieses Nachtragshaushalts: Er war notwendig geworden, weil die Entwicklung seit dem Inkrafttreten des Haushaltsgesetzes 1989 einige Änderungen brachte. Daß diese Änderungen politisch verarbeitet wurden, kann man der Bundesregierung nicht vorwerfen. Vielmehr gebührt ihr dafür sogar Anerkennung, denn sie bewies Handlungsfähigkeit.
In den Einzelpositionen hat die Opposition auch durchweg Zielübereinstimmung signalisiert. Das Hochschulsonderprogramm wurde notwendig, weil es besonders überlastete Studiengänge gab; die Verschärfung der Exportkontrollen wurde notwendig, weil es zu nicht haltbaren Firmenverbindungen kam; die Eindämmung des Mißbrauchs des Asylrechts wurde notwendig, weil die Zahlen - ähnlich dem Aussiedlerzustrom - sprunghaft in die Höhe schnellten.
Festzuhalten bleibt, daß die Bundesregierung den ordnungsgemäßen Weg eines Nachtragshaushalts ging und das Parlament nicht mit undurchsichtigen überplanmäßigen oder außerplanmäßigen Ausgaben überraschte. Ein Nachtragshaushalt, meine Damen
und Herren, sollte zwar nicht zur Regel werden, aber er ist auch kein Beinbruch.
Der Haushaltsausschuß hat seine Chance genutzt und gegenüber der Regierungsvorlage noch einige Änderungen angebracht. Die zusätzlichen Maßnahmen wegen des Zustroms von Aussiedlern und Obersiedlern sind ein Bereich, auf den mein Kollege Deres in der zweiten Runde schwerpunktmäßig eingehen wird. Ein anderer Bereich sind die Maßnahmen für Langzeitarbeitslose, Maßnahmen, die von der SPD als Schritt in die richtige Richtung begrüßt wurden. Außerdem hat sich ein Mehrbedarf durch die unerwartet hohe Inanspruchnahme des Erziehungsgeldes ergeben.
Alles in allem kann ich feststellen, daß sorgfältig abgewogen und richtig entschieden wurde. Besonders verweise ich darauf, daß der Haushaltsausschuß keine höhere Neuverschuldung verursachte.
({3})
Die Deckung ist durch Steuermehreinnahmen auf Grund der jüngsten Steuerschätzung sowie durch Minderausgaben infolge der günstigeren Arbeitsmarktentwicklung gegeben.
({4})
- Sehr richtig, Herr Kollege Dr. Friedmann. Ich werde nachher noch einige Sätze dazu sagen.
Das Haushaltsvolumen 1989 beträgt nun 291,3 Milliarden DM. Die Nettokreditaufnahme beläuft sich auf 27,8 Milliarden DM und liegt damit um 71 Millionen DM unter dem Ansatz des Regierungsentwurfs.
Der Herr Kollege Borchert hatte in der ersten Lesung angekündigt: Unser Ziel bei der Beratung wird es sein, die Mehrausgaben im Haushaltsvollzug soweit wie möglich aufzufangen. - Ich melde, meine Damen und Herren, hiermit Vollzug dieser Ankündigung.
({5})
Dies alles war und ist aber nur möglich, weil wir in der Bundesrepublik nach wie vor günstige gesamtwirtschaftliche Rahmenbedingungen vorfinden. Das immer wieder ausgebreitete Horrorszenario der Opposition ist immer noch nicht Wahrheit geworden. Das wird es auch nicht, solange wir regieren. Das Thema Arbeitsmarkt, das an diesem Vormittag behandelt wurde, beweist es. Auch die hohe Auslastung der Kapazitäten beweist es. Vor allem die Baukonjunktur entwickelt sich wieder zur Lokomotive. Heute steht in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung":
Die gute Investitionsgüterkonjunktur zeigt sich auch in den Auftragsbüchern der deutschen Maschinenbauer. Im April erhielten sie preisbereinigt um 22 Prozent mehr Bestellungen als im gleichen Vorjahresmonat, . . .
Insgesamt können die Deutschen also recht zufrieden sein. Diese Gesamtlinie wird sich auch durch den Nachtragshaushalt nicht verändern.
Allerdings - das gebe ich gerne zu - ist das seit 1983 inflationsfreie Wachstum beeinträchtigt. Zunehmende Preiserhöhungstendenzen müssen uns warnen. Wir wollen nicht den Fehler eines früheren Bundeskanzlers wiederholen, dem 5 % Inflation lieber waren als 5 % Arbeitslosigkeit.
({6})
Am Schluß trat ja leider beides ein. Der Vergleich war von Haus aus falsch oder unsinnig, wie Kollege Dr. Weng soeben angeführt hat.
Meine Damen und Herren, die Bundesbank bleibt aufgefordert, ihren Stabilitätskurs fortzusetzen. Die Geldmengenzunahme muß am Potentialwachstum orientiert sein.
Diese Ausgangslage zwingt auch die öffentlichen Hände zur Zurückhaltung. Ich bin dem neuen Bundesfinanzminister deshalb auch dankbar, daß er die Ausgabensteigerung 1989 als einmalig betrachtet und für 1990 von rund 3 % ausgeht, wie er auch in der Sitzung des Haushaltsausschusses in dieser Woche nochmals bestätigt hat.
Diese Richtschnur hatten die Koalitionsarbeitsgruppe und die Fraktion schon frühzeitig ausgelegt. Bei den zahlreichen Ressortwünschen dürfte es nicht ganz einfach sein, diese Marge zu halten, vor allen Dingen deshalb, weil wir ein Jahr vor uns haben, das allen als Schicksalsjahr 1990 geläufig ist. Aber unsere Politik kann nicht sein, von der Hand in den Mund zu leben. Wir eröffnen vielmehr längerfristige Perspektiven.
({7})
Bei den Ausschußberatungen gab es Vorwürfe wegen der globalen Minderausgabe. Es gab Vorwürfe wegen eines fehlenden Subventionsabbaus oder wegen der wachstumsbedingten Steuermehreinnahmen. Ich möchte in bezug auf letztere feststellen, daß wir höhere Einnahmen bei der Mehrwertsteuer haben, weil die Endnachfrage auf hohem Niveau weiter zunimmt. Wir haben höhere Einnahmen bei der Lohnsteuer, weil die Beschäftigung zugenommen hat. Wir haben höhere Einnahmen bei der Einkommensteuer, weil die Unternehmen Gewinne machen. Trotzdem haben wir die niedrigste Steuerquote seit der Mitte der 60er Jahre.
({8})
Wir saugen den Steuerzahler nicht aus. Wir senken vielmehr die Steuern
({9})
und stärken den privaten Sektor unserer Wirtschaft. Das ist das Geheimnis unseres Erfolges.
({10})
Natürlich liegen noch ungelöste Probleme vor uns.
({11})
- Der Kollege Helmut Wieczorek kann ja nichts dafür, wenn er solch einen Zwischenruf macht. Er darf ihn ja machen, denn in der Zeit, als seine Regierung dran war, war er noch nicht im Parlament. Darum darf er ruhig schreien. Aber die größten Schuldenmacher,
lieber Kollege Helmut Wieczorek, waren leider Ihre Fraktionskollegen und Ihre Bundesregierung.
({12})
Ich komme zu den noch vor uns liegenden Problemen. Der Subventionsabbau ist in aller Munde, auch die Privatisierung. Es ist unbestreitbar, daß wir Subventionen abbauen, zunächst über den Steuerteil. Es gab ja bekanntlich manchen Aufschrei auf Grund unserer steuerrechtlichen Änderungen. Doch es ist der Gipfel der Unglaubwürdigkeit, wenn SPD-Politiker draußen im Lande neue Wohltaten verlangen, hier aber den Stopp für Subventionen fordern.
Den schlechteren Draht zu ihren Genossen scheint die finanzpolitische Sprecherin der SPD zu haben. In den ländlichen Gebieten versprechen nämlich die Kollegen der SPD den Bauern zusätzliche Hilfe, und hier wettert Frau Matthäus-Maier scharf gegen einen angeblichen Subventionswahnsinn im Agrarbereich.
({13})
Das werden wir unseren Leuten draußen sagen, und ich werde Ihre Kollegen in jeder Versammlung natürlich auch entsprechend auf ihre ganz besonders bauernfreundliche Haltung aufmerksam machen.
({14})
Sie werfen nämlich alles in einen Topf. Die Ausgaben, die für die Bauern gemacht werden, sind für Sie schlicht und einfach nur Subventionen. Aber das ist wohl Ihr Beitrag zur Weitsichtigkeit, die Sie anfangs moniert haben.
({15})
Die erfolgreiche Strategie seit der Wende 1982 muß fortgesetzt werden. Die Staatsquote muß zurückgehen. Die Wachstumsquote der Steuereinnahmen muß mindestens zur Hälfte zur Finanzierung der Steuerreform verwendet werden, nicht für zusätzliche Ausgaben.
({16})
Neue Schwerpunkte sind dann durchaus möglich, was wir zum Beispiel auf dem Feld der Familienpolitik bewiesen haben. Mit diesem Finanzierungskonzept für die dritte Stufe der Steuerreform bleiben Verläßlichkeit und Kontinuität Bestandteile der Haushaltsund Finanzpolitik.
({17})
Dann kann auch die bisherige Finanzplanung für die kommenden Jahre voll eingehalten, ja sogar verbessert werden.
Wir unterstützen die Absicht des Bundesfinanzministers
({18})
- der Parlamentarische Staatssekretär ist anwesend -,
({19})
die Nettokreditaufnahme jährlich um rund 3 Milliarden DM gegenüber der bisherigen Planung zurückzuführen. Dies bringt uns bis 1992 in vernünftige Relationen zum Bruttosozialprodukt. Wenn wir auch unsere bisherige Haltung zur partiellen Verwendung des Bundesbankgewinns zur Altschuldentilgung beibehalten, ist die Finanzpolitik auf einem guten Weg.
Der Nachtragshaushalt 1989 ist in diesem Rahmen. Wir können dem Nachtragshaushalt deshalb zustimmen. Wir sind überzeugt, daß die Beratungen des Haushalts 1990, die bereits in die Schlußphase gehen, uns auf diesem Weg weiterführen.
({20})
Das Wort hat der Abgeordnete Wieczorek ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte eigentlich die Absicht, dem neuen Finanzminister einiges mit auf den Weg zu geben. Wir bedauern sehr, daß er nicht hier ist, so daß wir uns mit unserem Freund Manfred Carstens stellvertretend für den Finanzminister auseinandersetzen müssen.
({0})
Ich muß Ihnen allerdings ehrlich sagen: Ich weiß nicht genau, ob die Aufsichtsratssitzung der Kreditanstalt für Wiederaufbau wichtiger ist als die Beratung des Budgets für das nächste Jahr,
({1})
von dem ja auch die Kreditanstalt für Wiederaufbau betroffen ist. Ich meine, das Parlament und die Gesetzgebung gehen einer solchen Tätigkeit vor.
({2})
Ich wollte dem neuen Finanzminister, der heute ja eigentlich als Team mit dem Herrn Carstens zum ersten Mal eine Debatte hier im Plenum zu führen hat, eigentlich eine bessere Gelegenheit zum Start wünschen als das, was er uns heute vorlegt. Denn dieser Nachtrag zum Bundeshaushalt, den wir in zweiter und dritter Lesung beraten, ist sichtbarer Ausdruck einer Finanzpolitik, der es an Gestaltungskraft, Verläßlichkeit und Perspektive mangelt.
({3})
- Er steht unter dem Zeichen einer Finanzpolitik, Herr Kollege Friedmann, die unter dem Druck selbstverschuldeter Sachzwänge zur Flickschusterei verkommen ist.
({4})
Wieczorek ({5})
Dieser Nachtragshaushalt ist der Schlußpunkt unter eine finanzpolitische Episode des Vorgängers des jetzigen Finanzministers,
({6})
einer Episode des Verschleierns und Durchmogelns,
({7})
die mit dem Namen des einstigen Hoffnungsträgers dieser CDU, nämlich des Herrn Dr. Stoltenberg, verbunden ist.
({8})
Diese Ära geht zu Ende. Darum will ich mich mit der Ära Stoltenberg hier auseinandersetzen
({9})
und es meiner Kollegin überlassen, sich mit dem eigentlichen Nachtragshaushalt zu beschäftigen.
Ich möchte nämlich gemeinsam mit Ihnen prüfen, welche Ziele Sie sich eigentlich gesteckt hatten und wie der Wähler informiert worden ist - oder sollte man besser sagen: desinformiert worden ist? ({10})
und was daraus geworden ist, Herr Kollege Friedmann. Und so sehr Ihnen das mißfällt, an Ihren Versprechungen werden Sie sich messen lassen müssen.
({11})
Dann zeigt sich nämlich sehr schnell, wie seriös eigentlich die Finanzpolitik ist, die diese Regierung uns hier und dem deutschen Volk vorgaukelt. Wo hat denn eigentlich der Schuldenabbau stattgefunden?
({12})
Wo hat der Subventionsabbau stattgefunden, Herr Kollege Weng?
({13})
Wo hat der Abbau der Massenarbeitslosigkeit denn stattgefunden? Wie steht die Bundesregierung eigentlich international wirklich da, wenn man ihre eigenen lautstarken und selbstlobenden Ausführungen beiseite läßt? Wie ist das Verhältnis von Exekutive zu Legislative?
({14})
Wir werden uns darüber unterhalten müssen, wie das in der Vergangenheit gewesen ist und was daraus geworden ist.
Meine Damen und Herren, wie paßt eigentlich die schleichende Aushöhlung des Budgetrechts des Parlaments in die vollmundigen Sonntagsreden, die jetzt gerade aus Anlaß des Verfassungstages gehalten werden?
({15})
Ich will Ihnen die Antwort darauf geben: Die Finanzpolitik dieser Regierung ist schlicht und einfach gescheitert.
({16})
Konsolidierung des Bundeshaushalts und Schuldenabbau wurden den Bürgern unseres Landes versprochen.
({17})
Ich erinnere mich genau an die schlimmen Hetzkampagnen in den Wahlkämpfen, in denen viele Bürger tief verunsichert wurden. Sie haben in schändlicher Weise mit den Emotionen der Menschen gespielt und ihnen eingeredet, ihre Spargroschen seien nicht mehr sicher.
({18})
Sie haben mit dieser Kampagne zugegebenermaßen viele Stimmen bekommen. Aber heute steht fest: Sie waren nicht ehrlich, meine Damen und Herren. Sie haben das Vertrauen der Bürger mißbraucht, und Sie haben Ihre eigenen Versprechen gebrochen.
({19})
Trotz guter Konjunktur und sprudelnder Steuereinnahmen betreibt die Bundesregierung eine Schuldenmacherei ohne Beispiel. Nach ihren eigenen offiziellen Angaben, Herr Kollege Friedmann, steigt die Verschuldung des Bundes in diesem Jahr auf 500 Milliarden DM. Das ist ein Zuwachs von 200 Milliarden DM in sieben Jahren. Aber damit sind wir noch nicht fertig. ({20})
- Bevor Sie dazwischenrufen, warten Sie bitte erst noch den Rest ab: Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom April dieses Jahres ist diese offizielle Schuldenbilanz nämlich noch nicht einmal die richtige. Die Richter haben vielmehr festgestellt, daß bei der Beurteilung der Schuldenpolitik auch die Bundesbankgewinne mit berücksichtigt werden müssen, die seit 1983 zur laufenden Finanzierung des Bundeshaushalts eingesetzt worden sind. Insgesamt sind es 65 Milliarden DM.
({21})
- Ich komme auf 1981 zu sprechen, keine Sorge.
Tatsächlich hat diese Bundesregierung also Haushaltslücken von 265 Milliarden DM zu verantworten.
({22})
Sie selber muß zuallererst den dramatischen Anstieg
der Zinsausgaben verantworten, der sich von 22 Milliarden DM im Jahre 1983 auf 42 Milliarden DM im
Wieczorek ({23})
Jahre 1993 fast verdoppelt haben wird, obwohl sie durch die Kassierung der Bundesbankgewinne 63 Milliarden DM zinslose Verschuldung gehabt haben. - Überlegen Sie erst, bevor Sie wieder dazwischenrufen.
({24})
Das Bundesverfassungsgericht hat Ihnen einige deutliche Worte dazu ins Stammbuch geschrieben. Gehen Sie doch nicht daran vorbei. Die Richter verlangen nachdrücklich, daß die Kreditaufnahme des Bundes in wirtschaftlich normalen Lagen deutlich unterhalb der Schuldengrenze gehalten werden muß, die das Grundgesetz im Art. 115 in Höhe der Investitionen festgeschrieben hat. Dabei müssen im Rahmen der Kreditaufnahme auch die Bundesbankgewinne berücksichtigt werden. Die Richter bestätigen damit die Position, die ich seit vielen Jahren in diesem Hause hier vertrete.
Wenn ich Ihre Politik und insbesondere den Nachtrag für 1989 an dem höchstrichterlichen Urteil messe, dann sage ich Ihnen: Die Politik, die Sie betreiben, steht nicht im Einklang mit der Verfassung.
({25})
Sie selber sagen, daß wir uns heute in einer Situation befinden, die das Bundesverfassungsgericht als wirtschaftliche Normallage bezeichnet. Trotzdem planen Sie für das kommende Jahr eine Kreditaufnahme in der Definition des Bundesverfassungsgerichts von 40 bis 43 Milliarden DM, meine Damen und Herren.
({26})
Wir müssen uns an diese Definition halten und dürfen nicht den abgegriffenen Begriff der Nettokreditaufnahme wählen. Sie haben im nächsten Jahr ein Defizit zwischen 40 und 43 Milliarden DM zu verantworten. Ein solches Defizit hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben.
({27})
Ich sage Ihnen von vornherein auch meinen Standpunkt dazu, damit ich nicht mißverstanden werde. Für mich sind nicht die 43 Milliarden DM insgesamt zu sehen. Ich sage: Von den 43 Milliarden DM sind 13 bis 15 Milliarden DM zu viel; die anderen brauchen wir zweifellos im Augenblick. Ich gehe nicht so weit, daß wir irgendwo in eine volkswirtschaftliche Zwangslage kommen.
({28})
Ich weiß, daß der neue Bundesfinanzminister ein schweres Erbe von seinem Vorgänger übernommen hat.
Trotzdem kann ich den Finanzminister nicht aus der Verantwortung entlassen. Er hat die Fakten und die Zusammenhänge gekannt und trotzdem die verfassungsrechtlich problematische Politik Stoltenbergs mitgetragen.
Es ist jetzt aber die Nagelprobe der Glaubwürdigkeit des neuen Finanzministers gekommen, nämlich ob er die Konsequenzen aus dem Urteil ehrlich zieht
und die Kreditaufnahme im Nachtrag 1989 und vor allem im nächsten Jahr deutlich senkt.
Steuersenkungen auf Pump, wie es das Steuerreformdebakel des Herrn Bundesfinanzministers Stoltenberg gezeigt hat, sind nach dem Karlsruher Urteil in Zukunft ausgeschlossen.
({29})
Das muß auch bereits für die Finanzierung der dritten Stufe der Steuerreform im nächsten Jahr gelten.
Ausgeschlossen ist auch die fortgesetzte Verwendung von Bundesbankgewinnen zur Finanzierung laufender Ausgaben. Der Bundesfinanzminister Stoltenberg hat mit der Neuregelung einen halbherzigen Anfang gemacht. Ich hoffe, daß der neue Bundesfinanzminister konsequenter ist und eine saubere Lösung dazu mitbringt.
Es ist auch ein Gebot der ökonomischen Vernunft, den Bundesbankgewinn in wirtschaftlich guten Zeiten zur Schuldentilgung einzusetzen, damit wir für den Fall eines Konjunktureinbruchs besser gerüstet sind.
Der Kollege Esters hat im Haushaltsausschuß sehr nachdrücklich den Finanzminister gefragt, ob er denn eine Reservekasse habe, um in einer negativen Konjunkturphase gegensteuern zu können. Wir haben keine ausreichende und befriedigende Antwort erhalten. Wir konnten es auch nicht, weil nämlich kein Geld da ist, weil die Kassen überstrapaziert sind, weil wir mehr Schulden gemacht haben, als es jemals zu verantworten gewesen ist.
({30})
- Das Parlament und die die Regierung tragende Mehrheitsfraktion.
Meine Damen und Herren, versprochen war auch der Abbau von Subventionen. Hier wende ich mich einmal an den Kollegen Weng ganz persönlich. Ich erinnere mich noch sehr genau daran: Am 12. Oktober vergangenen Jahres hat der Kollege Weng sehr, sehr vollmundig von einem qualifizierten Subventionsabbau von 1,8 Milliarden DM gesprochen. Vier Wochen später sind von den 1,8 Milliarden DM gerade noch 100 Millionen DM geblieben, also gerade 5,5 % von dem, was er selber gefordert hatte, und auch das nur noch in Form einer globalen Einsparung, die von der Regierung erbracht werden mußte. Nicht etwa diejenigen, die die Subventionen ansprachen und die sie immer geißeln, haben sich in die Lage versetzt gesehen, hier wirklich zu sagen, wo gespart werden sollte; vielmehr überließ man das der Regierung.
Wo endete es? - Es endete damit, daß wir die Mittelstandsprogramme deutlich zurückführen mußten. Dann hat man wieder einen neuen Fallrückzieher ins eigene Tor gemacht, und man hat in der dritten Lesung eine Resolution beschlossen, in der gesagt wurde, daß das nicht zu Lasten des Mittelstandsprogramms gehen sollte. Also, mehr Eiertänze haben wir selten hier im Parlament gehabt.
({31})
Die Freien Demokraten und die Regierung reden immer von Subventionsabbau. Aber was ist denn
Wieczorek ({32})
wirklich passiert? Lassen Sie uns darüber einmal reden.
Die Subventionen des Bundes sind 1989 mit über 33 Milliarden DM auf einen nie gekannten Höchststand gekommen
({33})
- 33 Milliarden DM mit den Stimmen der FDP. Seit 1983 - jetzt hören Sie gut zu, Herr Kollege Weng - sind 200 Milliarden DM an Subventionen in Form von Finanzhilfen oder Steuervergünstigungen gezahlt worden - 200 Milliarden DM für Subventionen auf der einen Seite und 200 Milliarden DM neuer Schulden auf der anderen Seite! Sie haben Ihre Subventionen, die Sie auch ungerechtfertigterweise nachgeworfen haben, mit Schulden finanziert.
({34})
Sie haben die Steuersenkung auf Pump finanziert, und Sie finanzieren die Subventionen auf Pump.
Wie wollen Sie eigentlich die Zukunft unserer Kinder sichern, wenn Sie sogar Schulden machen, um steigende Subventionen und überzogene Steuersenkungen hier zu befriedigen?
({35})
Herr Abgeordneter Wieczorek, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Ich will den Kollegen nicht zumuten, daß die Sitzung noch mehr verlängert wird; wir sind schon so spät dran.
Weil die Subventionen ansteigen, geht die Investitionsquote herunter. Auch über diesen Zusammenhang muß man sich hier einmal klarwerden.
({0})
Mit dem Begriff der „qualitativen Konsolidierung" - das war eine Erfindung des Herrn Staatssekretär Voss - war eine Verbesserung der Haushaltsstruktur vorgegaukelt worden. Was ist denn daraus geworden? Statt weniger Ausgaben für Zinsen und Subventionen geben Sie mehr für Zinsen und Subventionen aus, als es jemals vorher der Fall war. Statt die Investitionen zu verstärken, wurden sie heruntergeführt: von 13,1 % des Bundeshaushaltes im Jahr 1982 - das ist ja immer die vielzitierte Zahl - auf 11,5 % im Jahr 1992.
({1})
Das bedeutet, daß es eine Investitionslücke gibt - die in der Definition Stoltenbergs als Maßstab für die Beurteilung der Struktur des Bundeshaushaltes gilt -, die im Jahre 1992 bis zu 21 Milliarden DM betragen wird.
Ich prophezeie Ihnen jetzt zu Protokoll: Diese 21 Milliarden DM, die Sie der Wirtschaft 1992 entziehen, werden zu einer Arbeitslosenerhöhung führen, die dann in der Größenordnung von 400 000 liegen wird.
({2})
Ich sage es Ihnen hier, damit Sie das später nachlesen können, damit Sie nicht sagen können, darauf habe Sie niemand rechtzeitig aufmerksam gemacht.
({3})
Diese Beispiele zeigen sehr deutlich, wie weit Anspruch und Wirklichkeit bei Ihnen auseinanderliegen.
Herr Stoltenberg war der Finanzminister der gebrochenen Versprechungen. Herrn Waigel wünsche ich mehr Augenmaß, mehr Stetigkeit und mehr Perspektive.
({4})
Der Nachtrag, über den wir heute beraten, ist auf rechtlich zweifelhafte Weise zustande gekommen. Ich erinnere noch einmal daran, daß Bundesbildungsminister Möllemann schon in der zweiten Lesung des Haushalts,
({5})
also noch während der laufenden Beratungen des letzten Jahres, diesen Nachtrag für das Hochschulsonderprogramm angekündigt hat. Herr Stoltenberg war trotz dieser klaren Festlegung seines Kabinettskollegen nicht bereit, ein klar erkennbares Risiko im Haushalt zu berücksichtigen. Das war und ist nicht im Einklang mit der Bundeshaushaltsordnung. Das war und ist ein klarer Verstoß gegen die elementaren Grundsätze von Haushaltswahrheit und Haushaltsklarheit.
({6})
Derselbe Bundesminister, der so gern das Wort von der intellektuellen Redlichkeit in den Mund nahm - in dieser Sitzung übrigens auch noch - , kümmert sich keinen Deut darum, wenn es ihm nicht in den Kram paßt. Es kennzeichnet übrigens die Amtszeit von Herrn Stoltenberg und den vorliegenden Nachtrag, daß das Budgetrecht des Parlaments in seiner Amtszeit zunehmend ausgehöhlt wurde und der Umgang der Regierung mit dem Parlament ruppiger und unverschämter geworden ist.
({7})
Es ist eine Mißachtung parlamentarischer Kontrollrechte, wenn z. B. die finanziellen Auswirkungen des Gesetzentwurfs über die Verschiebung der Wehrdienstverlängerung nicht genannt werden, wenn dem Haushaltsausschuß nicht die Möglichkeit der Mitberatung gegeben wird und man sich durch solche Dinge an einer Beteiligung des Parlaments vorbei-schummelt. Es ist eine Mißachtung der Budgethoheit des Parlaments, wenn Änderungen an der hier beratenen Nachtragsvorlage, die im Umfang viermal so groß sind wie der ursprünglich eingebrachte Regierungsentwurf, nicht in Form von ordentlichen Nachschiebelisten vorlagen, sondern regelmäßig nur in Form von fliegenden Blättern nachgereicht wurden. Es ist nicht damit getan, daß man den Kollegen im
Wieczorek ({8})
Haushaltsausschuß dafür dankt, daß sie bei der Beratung mitgeholfen haben. Es kommt vielmehr darauf an, daß das Verfahren nach Recht und Gesetz abläuft.
Es spricht für den schlampigen Arbeitsstil dieser Bundesregierung, daß sogar zu den gerade erst vorliegenden Korrekturen noch tagelang zahlreiche Berichtigungen nachgereicht werden.
({9})
Geradezu ein Affront der Bundesregierung gegenüber dem Parlament und insbesondere dem Haushaltsausschuß ist die permanente Ausweitung der globalen Minderausgabe. Mit dem Nachtrag 1989 wird die schon vorher unerhört hohe globale Minderausgabe von 1,65 Milliarden DM auf 1,9 Milliarden DM ausgeweitet. Eine hinreichende Kontrolle des Haushaltsvollzugs durch die Parlamentarier, die in der Verfassung und im Haushaltsrecht verankert ist, ist schlichtweg nicht mehr möglich.
Je höher die globale Minderausgabe, desto mehr kann die Regierung festgelegte Ausgabenansätze nach eigenem Belieben verändern, desto mehr kann sie schalten und walten, wie sie will.
({10})
Diese Entwicklung berührt in elementarer Weise die grundgesetzlich vorgeschriebene Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive.
({11})
Ich wünsche dringend, daß der Kollege Waigel diesem schlimmen Mißstand ein Ende bereitet. Ich wünsche mir dringend, daß sich die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen auf ihre parlamentarischen Kontrollrechte und Pflichten besinnen
({12})
und diesem Nachtragshaushalt mit einer globalen Minderausgabe von 1,9 Milliarden DM im ureigenen Interesse ihre Zustimmung verweigern. Wenn Sie diesem Nachtrag Ihre Zustimmung geben, leisten Sie Ihrer eigenen Entmachtung durch die Bundesregierung und den Bundesfinanzminister Vorschub.
({13})
Meine Damen und Herren, wir kennen den Hang der Bundesregierung zur Selbstbeweihräucherung nun schon zur Genüge. Ihre Selbstdarstellung nimmt die Bundesregierung in der Zwischenzeit schon so wichtig, daß sie dafür zum erstenmal in dieser Republik einen gestandenen Minister eingesetzt hat. Sie feiern sich so gerne als die größten Steuersenker, die großartigsten Kabinettsumbilder, die tollsten Wachstumsapostel und die größten Konsolidierer. Ich frage Sie einfach einmal: Wo leben Sie denn eigentlich, und wovon reden Sie denn eigentlich?
Wir haben unbestreitbar seit 1982 weltweit eine kräftige wirtschaftliche Erholung. Davon hat natürlich
auch die Bundesrepublik profitiert. Das ist für die, die Arbeit haben, ja auch spürbar.
({14})
- Aber dieser Aufschwung, Herr Kollege Friedmann,
({15})
war nicht hausgemacht. Daß dieser weltweite Aufschwung das Werk der Bundesregierung ist, gehört in das Reich der regierungsamtlichen Legenden.
({16})
Im Gegenteil, auf das finanz- und wirtschaftspolitische Versagen der Bundesregierung ist es zurückzuführen,
({17})
daß wir in dieser Aufschwungphase deutlich schlechter abgeschnitten haben als unsere wichtigsten Partnerländer in Europa.
Ich will das belegen. Das Ihnen sicherlich nicht unfreundlich gesonnene Institut der Wirtschaft hat einen Vergleich zwischen den wichtigsten Ländern angestellt, zwischen den USA, Großbritannien, Japan und der Bundesrepublik. Die Steigerungsquoten sollten Sie sich einmal auf der Zunge zergehen lassen. In den USA hatten wir von 1982 bis 1988 ein durchschnittliches Wachstum des Bruttosozialprodukts von 4,1 %, in Japan von 4,20/0, in Großbritannien von 3,4 % und in der Bundesrepublik von 2,4 %.
({18})
Die Anlageinvestitionen, die der Bundesminister für Arbeit hier so vollmundig in den Vordergrund gerückt hat, haben in den USA um 6,8 %, in Japan um 6,5 %, in Großbritannien um 5,7 % und in der Bundesrepublik um 2,4 % zugenommen.
Auch über die Zunahme der Zahl der Erwerbstätigen muß man einmal reden: 1,5 % in den USA, 1 % in Japan, 1,3 % in Großbritannien und 0,6 % in Europa.
({19})
Das ist das Ergebnis eines konzeptionslosen Hickhack und eines konzeptionslosen Kurses der Finanzpolitik dieser Regierung. Die Unsicherheit in bezug auf die Verläßlichkeit finanz- und steuerpolitischer Entscheidungen ist an diesem schlechten Ergebnis schuld.
Meine Damen und Herren, Sie haben die Finanzen nicht im Griff. Während nämlich eine Reihe von Ländern, von konservativ regierten Ländern wie Großbritannien bis zum sozialdemokratisch regierten Schweden, in ihren Haushalten inzwischen Überschüsse aufweisen und effektiv Schulden abbauen, produziert diese Bundesregierung Rekorddefizite. Es waren im letzten Jahr 35,5 Milliarden. Im nächsten Jahr sollen es - ich habe es eben gesagt - über 40 Milliarden sein. Selbst Italien will seine Nettokreditaufnahme im Jahre 1992 auf Null gefahren haben. Von einer solchen Projektion ist hier nicht die Rede.
Wieczorek ({20})
Ich hätte gerne noch darüber gesprochen, wie Sie mit der Arbeitslosigkeit umgegangen sind und was Sie daraus gemacht haben. Meine Zeit läuft aber gerade ab. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, Sie nehmen die Ihnen ins Stammbuch geschriebenen Dinge sehr ernst. Ich wünsche mir, daß wir neue Haushaltsberatungen bekommen, die nach Recht und Gesetz ablaufen.
Ich danke Ihnen.
({21})
Meine Damen und Herren, bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, möchte ich, damit hier oben nicht noch weitere Nachfragen landen, erst einmal das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bekanntgeben.
Die Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Einführung eines Dienstleistungsabends auf den Drucksachen 11/2973, 11/3004 und 11/4649 ist wie folgt verlaufen: Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 343 ihre Stimme abgegeben. Ungültige Stimmen: keine. Ja-Stimmen: 200, Nein-Stimmen: 135, Enthaltungen: 8.
11 Berliner Abgeordnete haben ihre Stimme abgegeben. Ungültig war auch hier keine Stimme. JaStimmen: 6, Nein-Stimmen: 5.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen 342 und 11 Berliner Abgeordnete; davon
ja: 200 und 6 Berliner Abgeordnete
nein: 134 und 5 Berliner Abgeordnete
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Bayha
Dr. Becker ({0}) Dr. Blank
Dr. Blens Dr. Blüm
Börnsen ({1}) Dr. Bötsch
Bohl
Bohlsen Borchert
Bühler ({2}) Carstens ({3})
Dr. Czaja
Dr. Daniels ({4}) Frau Dempwolf Deres
Dörflinger Dr. Dregger Echternach
Eigen
Eylmann
Dr. Fell
Fellner
Frau Fischer
Fischer ({5}) Dr. Friedrich
Fuchtel
Funk ({6}) Frau Geiger
Geis
Dr. von Geldern Gerstein
Gerster ({7}) Glos
Dr. Göhner
Dr. Grünewald Dr. Häfele
Hames
Frau Hasselfeldt Haungs
Hauser ({8}) Hauser ({9}) Hedrich
Freiherr Heereman von Zuydtwyck
Frau Dr. Hellwig Helmrich
Dr. Hennig Herkenrath
Höpfinger
Hörster
Dr. Hoffacker
Dr. Hüsch
Graf Huyn
Dr. Jahn ({10}) Dr. Jenninger
Dr. Jobst
Jung ({11})
Jung ({12})
Kalb
Dr.-Ing. Kansy
Dr. Köhler ({13}) Kolb
Kossendey
Kraus
Dr. Kreile
Krey
Dr. Kronenberg
Dr. Kunz ({14}) Lamers
Dr. Lammert
Dr. Langner
Dr. Laufs
Lenzer
Frau Limbach
Link ({15})
Link ({16}) Linsmeier
Lintner
Dr. Lippold ({17}) Louven
Lowack Maaß
Frau Männle
Magin Marschewski
Dr. Meyer zu Bentrup
Dr. Möller
Müller ({18})
Müller ({19})
Nelle
Neumann ({20}) Niegel
Dr. Olderog
Oswald Frau Pack
Pesch Pfeifer Dr. Pinger
Dr. Pohlmeier
Dr. Probst
Rauen Rawe Reddemann
Repnik
Dr. Riesenhuber
Frau Rönsch ({21}) Frau Roitzsch ({22}) Dr. Rose
Rossmanith
Roth ({23})
Rühe
Dr. Rüttgers
Sauer ({24})
Sauer ({25})
Sauter ({26}) Scharrenbroich
Schartz ({27})
Scheu Schmidbauer
Schmitz ({28})
von Schmude
Dr. Schneider ({29}) Freiherr von Schorlemer Schreiber
Schulhoff
Dr. Schulte
({30}) Schwarz
Dr. Schwörer
Seehofer
Seesing Seiters Spilker Spranger
Dr. Stark ({31})
Dr. Stavenhagen
Dr. Stercken
Dr. Stoltenberg
Strube
Susset
Tillmann
Dr. Todenhöfer
Uldall
Frau Verhülsdonk
Vogt ({32})
Dr. Voigt ({33}) Dr. Vondran
Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warrikoff
Dr. von Wartenberg Werner ({34})
Frau Will-Feld
Wilz
Wimmer ({35}) Windelen
Frau Dr. Wisniewski Wissmann
Dr. Wittmann Würzbach
Dr. Wulff Zeitlmann Zink
Berliner Abgeordnete
Feilcke Kalisch Kittelmann
Dr. Mahlo
Dr. Pfennig
FDP
Baum
Beckmann
Cronenberg ({36}) Eimer ({37}) Engelhard
Frau Folz-Steinacker Funke
Gallus
Gries
Grünbeck Grüner
Dr. Haussmann Heinrich
Dr. Hirsch Dr. Hitschler
Irmer
Kleinert ({38}) Kohn
Dr.-Ing. Laermann Mischnick Möllemann Neuhausen Nolting
Paintner Richter
Rind
Ronneburger
Schäfer ({39})
Frau Dr. Segall
Frau Seiler-Albring
Dr. Solms Dr. Thomae Timm
Dr. Weng ({40}) Wolfgramm ({41}) Frau Würfel
Zywietz
Berliner Abgeordnete Lüder
Vizepräsident Cronenberg
Nein
CDU/CSU
Hinrichs Höffkes Jäger
Dr. Kappes
Frau Karwatzki
Dr. Schroeder ({42}) Weiß ({43})
SPD
Andres Bahr
Becker ({44}) Bernrath
Frau Blunck
Dr. Böhme ({45}) Börnsen ({46})
Dr. von Billow
Frau Bulmahn
Catenhusen Daubertshäuser
Diller
Dreßler
Dr. Ehmke ({47})
Dr. Emmerlich
Esters
Ewen
Fischer ({48})
Frau Fuchs ({49})
Frau Ganseforth
Gansel
Dr. Gautier
Gilges
Dr. Glotz
Frau Dr. Götte
Großmann
Haack ({50})
Frau Hämmerle Hasenfratz
Heistermann
Heyenn Horn
Jahn ({51})
Jaunich Dr. Jens
Jung ({52}) Jungmann ({53}) Kastning
Dr. Klejdzinski
Koltzsch Koschnick
Kühbacher
Kuhlwein
Leonhart Lohmann ({54})
Lutz
Frau Matthäus-Maier Menzel
Dr. Mertens ({55}) Nagel
Nehm
Frau Dr. Niehuis
Dr. Niese Niggemeier
Dr. Nöbel Oesinghaus
Opel
Dr. Osswald
Pauli
Dr. Penner
Dr. Pick Porzner Poß
Purps
Reimann Frau Renger
Reuter
Rixe
Roth
Schanz
Dr. Scheer Schluckebier
Frau Schmidt ({56}) Dr. Schmude
Frau Schulte ({57}) Seidenthal
Frau Seuster Sieler ({58})
Singer
Dr. Soell
Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling
Stahl ({59})
Steiner
Stiegler
Dr. Struck Tietjen
Frau Dr. Timm Toetemeyer Urbaniak
Verheugen
Voigt ({60}) Waltemathe Weiermann
Frau Weiler Frau Weyel Dr. Wieczorek
Wieczorek ({61}) Wiefelspütz
von der Wiesche Wischnewski
Dr. de With Wittich
Zander
Zeitler
Zumkley
Berliner Abgeordnete
Egert
Stobbe
Dr. Vogel
Wartenberg ({62})
DIE GRÜNEN
Frau Beer
Brauer
Dr. Briefs
Frau Flinner Frau Garbe Frau Hillerich Hoss
Frau Kelly
Kleinert ({63})
Dr. Knabe
Frau Nickels
Frau Oesterle-Schwerin Frau Schilling
Such
Volmer
Weiss ({64})
Frau Wilms-Kegel
Frau Wollny
Berliner Abgeordneter Meneses Vogl
Enthalten
CDU/CSU
Carstensen ({65}) Clemens
Dr. Friedmann
FDP
Frau Walz
DIE GRÜNEN
Frau Eid
Dr. Mechtersheimer Frau Schoppe
Frau Unruh
Damit darf ich feststellen, daß das Gesetz angenommen worden ist.
({66})
Nunmehr hat der Abgeordnete Dr. Weng das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rede des Kollegen Wieczorek hat, ohne daß man jetzt im Detail drauf eingehen kann, natürlich eines gezeigt: Wer die Augen zumacht, wer die Fakten nicht wahrhaben will, wer das, was draußen los ist, nicht sehen will, der findet immer Gründe, zu nörgeln und mieszumachen, vor allem dann, wenn er die zweite Seite der Medaille völlig vorzutragen vergißt.
({0})
Herr Kollege Wieczorek, nun zu dem Punkt, an dem Sie mich zitiert haben. Ich kann das nicht genau nachvollziehen, weil ich nicht wußte, daß Sie mich in dieser Weise zitieren. Ich vermute, daß Sie mich aus dem Zusammenhang reißen,
({1})
weil das, was ich an Subventionsabbau im vergangenen Jahr betrieben habe und was ein Volumen von 400 Millionen DM Kürzungen bedeutet hätte, dann nicht zustande kam, sondern 100 Millionen DM. Ich nehme die gerne auf mich, das wissen Sie, weil ich sicher bin, daß das ohne mein Betreiben nicht stattgefunden hätte. Ich meine, Subventionen müssen abgebaut werden. Aber die von Ihnen zitierten 1,8 Milliarden DM müssen aus dem Zusammenhang gerissen sein. Ich werde das nachprüfen und es Ihnen in schriftlicher Form mitteilen.
({2})
Die Fraktion der FDP stimmt dem Entwurf eines Nachtragshaushaltsgesetzes der Bundesregierung zu, der eine Reihe wichtiger und unvorhergesehener Ausgaben des laufenden Jahres ordnungsgemäß regelt; ausdrücklich „ordnungsgemäß", Herr Kollege Wieczorek, auch hier haben sie dem Deutschen Bundestag nicht die Wahrheit gesagt.
Erstens. Das Hochschulsonderprogramm mit einer Laufzeit von sieben Jahren, das Jürgen Möllemann verantwortet, wird die Situation besonders belasteter Studiengänge an den Hochschulen wesentlich verbessern. Jetzt ist es ein bißchen schlecht, daß von uns
Dr. Weng ({3})
nicht viele da sind, sonst würde ein donnernder Jubel kommen.
({4})
- Das betrifft nicht die Anwesenden. Das ist so wie in der Kirche; man schimpft nie über die, die da sind. Aber es ist schade, daß hier jetzt kein Jubel für Herrn Möllemann und das Hochschulprogramm ausbricht.
Auch beim zweiten Punkt hätte ich den Jubel gerne wieder auf der FDP-Seite; denn die Diskussion um die Giftgasfabrik in Libyen hat verdeutlicht, daß die Überwachung des Außenwirtschaftsverkehrs - ({5})
- Ich nehme die Unterbrechung gerne auf und trinke erst einmal einen Schluck Wasser, Herr Kollege Esters, leicht prickelnd. ({6})
Wenn ich dann weitermachen dürfte, wäre das nicht schlecht, weil, wie ich gehört habe, alle irgendwann nach Hause wollen, und ein bißchen habe ich schon noch zu sagen.
({7})
Die Diskussion um die Giftgasfabrik in Libyen hat verdeutlicht, daß die Überwachung des Außenwirtschaftsverkehrs verbessert werden muß. Wir müssen einfach vermeiden, daß deutsche Hersteller verbotene Exporte tätigen, die zur Produktion chemischer, biologischer und nuklearer Waffen mißbraucht werden oder mißbraucht werden können. Helmut Haussmann hat hier schnell reagiert. Die gesetzgeberischen Notwendigkeiten anläßlich der Affäre sind auf dem Weg. Personellen Erfordernissen, die auch schon die jetzige Rechtslage möglich macht, wird mit dem vorgelegten Nachtragshaushalt Rechnung getragen.
Nach der ersten Lesung, meine Damen und Herren, hat die Bundesregierung zusätzliche Beschlußvorschläge im Zusammenhang mit Asylbewerbern einerseits, mit Aussiedlern andererseits vorgelegt. Manchmal bieten Personalwechsel auch eine Chance in der Sache. Der neue Innenminister hat ersichtlich erkannt, daß das Grundrecht auf Asyl für politisch, religiös und rassisch Verfolgte aus prinzipiellen liberalen Erwägungen heraus nicht veränderbar ist. Beim Amtsvorgänger waren Jahre der Untätigkeit vergangen. Jetzt hat Herr Dr. Schäuble mit seinem bekannten Blick für die Notwendigkeiten Erforderliches auf den Weg gebracht. Das Recht auf politisches Asyl bleibt uneingeschränkt bestehen, aber die Prüfung der Bewerber soll zukünftig so zügig erfolgen können, daß alle Menschen, die keinen Anspruch haben, dies schnellstmöglichst mitgeteilt bekommen. Dann nämlich besteht eine realistische Chance, sie in ihre Heimatländer tatsächlich zurückzuschicken.
Diese Position der FDP war in der Vergangenheit gegenüber dem Koalitionspartner nicht immer leicht, auch in der öffentlichen Diskussion. Klare Unterstützung von gesellschaftlich wichtigen Gruppen, die unserer Meinung waren und sind, hätte uns Liberalen manches Mal sehr gut getan. Ich denke besonders an die Kirchen, die sich aus der Auseinandersetzung sehr vorsichtig herausgehalten hatten.
({8})
Jetzt kommen die Dinge in der richtigen Richtung in Gang. Wir sind natürlich nicht undankbar, wenn uns wenigstens hierfür jemand lobt.
Weltweit angereiste Asylbewerber einerseits, deutsche und deutschstämmige Aussiedler andererseits haben Anspruch auf menschliche Aufnahme und Behandlung.
({9})
Trotzdem darf man die beiden Gruppen natürlich nicht in einen Topf werfen, denn wir sind weder willens noch in der Lage, die Bundesrepublik für jeden Zuwanderer, der gerne hier herkäme, zu öffnen.
({10})
Wir können einfach kein totales Einwanderungsland werden.
Die Haltung der GRÜNEN auf ihrem Parteitag in dieser Frage zeigt Verantwortungslosigkeit in doppeltem Sinne auf:
({11})
a) Sie sind nicht in der Verantwortung, weil Sie hier in der Opposition sind, und b) Sie sind unfähig, Verantwortung zu übernehmen;
({12})
denn die Konsequenzen aus Ihrer Forderung, die Grenzen total zu öffnen, sind unübersehbar, sie sind unerträglich, sie sind untragbar.
({13})
Ich wundere mich sowieso, meine Damen und Herren, wieso denkende Bürger in unserem Land diese Verantwortungslosigkeit nicht erkennen. Protestgeschrei allein ist doch kein Mittel konstruktiver politischer Gestaltung.
Dies gilt - im Zusammenhang mit Menschen aus anderen Ländern muß das besonders deutlich gesagt werden - um so mehr für die Republikaner, die sich am rechten Rand des politischen Spektrums auftun. Es kennzeichnet schon einen gewaltigen Mangel an historischem und auch an tagespolitischem Verständnis, wenn man in der Wahlkabine sein Kreuzchen bei den Republikanern macht. Meine Damen und Herren, je mehr Bürger Republikaner wählen, die den Satz, stolz darauf zu sein, Deutsche zu sein, ja dauernd im Munde führen - übrigens, ohne ihn zu begreifen -, desto geringer wird mein Stolz.
Das finanziell größere Problem im Zusammenhang mit Menschen aus anderen Ländern, das der Nachtragshaushalt in Angriff nimmt, ist die Frage der angemessenen Eingliederung der Aussiedler. Diese Menschen kommen insbesondere aus Gebieten jenseits von Oder und Neiße und aus früheren deutschen Siedlungsgebieten in Ost- und Südosteuropa zu uns, weil sie dort für sich und ihre Kinder kaum noch Möglichkeiten sehen, als Deutsche ihre Sprache und KulDr. Weng ({14})
tur zu bewahren. Weit über die Hälfte kommt aus den früheren deutschen Ostgebieten; die anderen sind u. a. Nachkommen der Deutschstämmigen, die unter Stalin in den asiatischen Teil der Sowjetunion deportiert worden waren.
({15})
Meine Damen und Herren, erinnern wir uns: Rund 12 Millionen Flüchtlinge hat unser zerstörtes Land nach dem Zweiten Weltkrieg aufgenommen und integriert. Unsere Bürger müssen wissen, daß ihre Sorge unbegründet ist, wir könnten die Aufnahme der jetzt Kommenden nicht leisten oder wir könnten sie uns nicht leisten. Diese Herausforderung werden wir ohne Schaden bestehen.
({16})
Hatten wir bei der Verabschiedung des Haushalts des Jahres 1989 mit 200 000 deutschen und deutschstämmigen Aussiedlern gerechnet, so hat uns hier die Entwicklung überholt. Wir müssen in diesem Jahr von 350 000 bis 400 000 dieser Menschen ausgehen. Rechtlich gesehen müssen wir sie aufnehmen; aber ich sage nochmals ganz deutlich: Wir wollen sie auch aufnehmen, sie haben einen moralischen Anspruch darauf.
Der Zustrom wird irgendwann nachlassen. Dies natürlich um so eher, je eher die derzeitigen Aufenthaltsländer dieser Menschen die Lebensumstände schaffen, die diesen Menschen das Bleiben ermöglichen. Jetzt aber tragen wir der noch steigenden Zahl Rechnung. Wir sind insbesondere allen freien Trägern für ihre Mithilfe und Unterstützung und allen Menschen in unserem Land dankbar, die hier aktiv helfend eingreifen.
({17})
Der Staat und die Institutionen können hier nicht alles leisten, sondern über staatliches Handeln hinaus ist das Engagement vieler Bürger erforderlich und findet draußen statt, meine Damen und Herren.
({18})
Bei einem Haushalt werden Sie erwarten, daß ich auch zur Finanzierung ein paar Worte verliere.
({19})
Hatte die Bundesregierung geplant, die im ursprünglichen Entwurf des Nachtrags benötigten rund 200 Millionen DM aus dem vorhandenen Haushalt zu erwirtschaften - das war das, was wir mitzutragen bereit waren oder von dem uns recht war, daß es so geschehen sollte - , so geht dies bei den enormen zusätzlichen Kosten nicht, die jetzt insbesondere für die genannten Probleme auf uns zukommen.
Wir sind aber - auch das sage ich hier - stolz darauf, daß als Ergebnis unserer Wirtschafts-, unserer Haushalts- und unserer Finanzpolitik die Steuereingänge so steigen, daß wir die Kosten hieraus finanzieren können, ohne zusätzliche Schulden zu machen.
({20})
Wir sind natürlich - hierüber ist ja heute morgen beim ersten Tagesordnungspunkt breit diskutiert worden - stolz darauf, daß unsere Arbeitsmarktpolitik Entlastungen der Bundesanstalt für Arbeit in großem Umfang ermöglicht, meine Damen und Herren. Wir haben über 1,1 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze seit 1983 geschaffen, und die Arbeitslosenzahl ist seit 1983 erstmals unter 2 Millionen. Wenn das keine Leistung der Koalition und ihrer Politik ist, was dann?
({21})
Finanziell gibt es dadurch bei der Bundesanstalt für Arbeit Spielraum, und von diesem Spielraum können rund 1,4 Milliarden DM für die Notwendigkeiten, die ich hier aufgezeigt habe, für die Notwendigkeiten, diesen zu uns kommenden Menschen zu helfen, eingesetzt werden. Ich sage auch: Die öffentliche Diskussion wird dies erleichtern. Stellen Sie sich vor, wir müßten die gleichen Notwendigkeiten in anderer Weise finanzieren, entweder durch höhere Schulden oder durch verstärkte Steuererhöhungen oder ähnliches. Hier werden wir natürlich in der öffentlichen Diskussion leichter bestehen können, da wir sagen können: Diese Dinge sind durch unsere Politik, die diese Steuereingänge ermöglicht, für die Bürger leichter zu bewältigen, und die Angst, die bei manchen Bürgern draußen besteht, sie könnten sich einschränken müssen, wird hierdurch deutlich als irreal dargestellt.
Man könnte über die Ausweitung des Haushalts eine kritische Anmerkung machen. Bei einer derartigen politisch gewünschten und nun wirklich unvorhersehbaren Entwicklung kann niemand behaupten, daß sie in mittelfristigen Finanzplanungen Niederschlag hätte finden können. Insofern, glaube ich, sind wir für diese Ausweitung des Haushalts wirklich entschuldigt.
In der vergangenen Woche kam die Ankündigung des Finanzplanungsrats, die Wachstumsrate des kommenden Jahres wieder um 3 % zu halten. Sie wissen, daß es der Beschluß der Bundesregierung und der Beschluß der Koalitionshaushaltsgruppe ist, die Obergrenze bei 3 % zu haben, was alles nicht ganz einfach sein wird. Diese Ankündigung des Finanzplanungsrats zeigt auf jeden Fall, daß die Dinge im Griff bleiben und daß der neue Finanzminister Theo Waigel in der haushälterischen Konsequenz seines Vorgängers bleiben will. Hierfür hat er die Unterstützung der FDP-Fraktion.
({22})
Dieser Nachtragshaushalt ist vernünftig, er ist auch notwendig. Wenn geheim abgestimmt würde, hätte die Führung der SPD-Fraktion in der Fraktion sicherlich eine Probeabstimmung durchführen müssen, um die Geschlossenheit ihrer Mitglieder nach außen darzustellen.
({23})
Dr. Weng ({24})
Ob Sie dann im Geheimen wirklich auch alle gleich gestimmt hätten, ist - wie auch bei manchen anderen geheimen Abstimmungen - eine offene Frage.
({25})
Der Haushaltsausschuß hat seine Arbeit am Mittwoch dieser Woche jedenfalls abgeschlossen; er hat den Beschluß gefaßt. Die FDP-Fraktion stimmt dieser Beschlußempfehlung in zweiter und dritter Lesung in der festen Überzeugung zu, einem Dokument guter Politik die erforderliche parlamentarische Mehrheit zu sichern.
Vielen Dank.
({26})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Vennegerts.
: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich weiß nicht, woher der Kollege Weng den Mut nimmt, den Stolz, den er über die Finanzpolitik empfindet, hier großartig kundzutun. Gucken Sie doch mal, wieviel Minister da sind! Herr Möllemann kam erst jetzt, nachdem die Debatte ca. eine Stunde läuft.
({0})
Das ist doch lächerlich. Ihre Finanzpolitik wird doch innerhalb des Kabinetts gar nicht mehr ernstgenommen; so sieht es doch aus.
({1})
- Regen Sie sich doch gar nicht auf!
Es ist erst gerade drei Wochen her, da haben wir an dieser Stelle schon einmal den Nachtragshaushalt 1989 beraten. Damals ging es darum, von der Regierung für notwendig gehaltene Mehrausgaben in Höhe von 222 Millionen DM haushaltsrechtlich abzusichern. Die zusätzlichen Ausgaben sollten vollständig durch eine globale Minderausgabe gedeckt werden. Ich habe letztes Mal schon gesagt: Eine globale Minderausgabe von ca. 1,9 Milliarden DM im gesamten Haushalt ist ein Indikator für die heruntergekommene Politik des Finanzministeriums.
({2})
Das sollte sich eine andere Regierung leisten! Die Kommentare des abwesenden Finanzministers Herrn Waigel könnte ich mir dann vorstellen.
Heute reden wir nicht mehr über einen Nachtrag von 220 Millionen DM, sondern von 1,3 Milliarden DM. Innerhalb von nur drei Wochen sind weitere Ausgaben in Höhe von 1,1 Milliarden DM hinzugekommen, diesmal finanziert durch zu erwartende Steuermehreinnahmen in Höhe von 1,13 Milliarden DM.
({3})
- Dazu sage ich etwas, Herr Kollege Friedmann.
Tag für Tag flattern uns neue Änderungsvorlagen der Bundesregierung auf den Tisch. Was muß das für
ein finanzpolitisches Durcheinander sein, wenn eine Bundesregierung einen Nachtragshaushalt zuerst einbringt und keine drei Wochen später feststellt, daß ein zusätzlicher Mehrbedarf in Höhe von über 1 Milliarde DM erforderlich ist?
({4})
Das kann man voraussehen.
({5}) - Ach was, das ist Stümperei.
Liebe Kollegen und Kolleginnen, in der Vorlage des Finanzministers heißt es einfach, daß die zusätzlichen Ausgaben im Nachtrag zum Nachtragshaushalt durch Steuermehreinnahmen in etwa gleicher Höhe gedeckt werden sollen. Interessant ist in diesem Zusammenhang, aus welchen Steuerquellen diese zusätzlichen Einnahmen kommen. Auskunft darüber erteilt die jüngste Prognose des Arbeitskreises Steuerschätzung vom Mai dieses Jahres. Daraus ergibt sich, daß von den geschätzten 1,13 Milliarden DM Steuermehreinnahmen 80 %, das sind rund 900 Millionen DM, nur aus der Lohnsteuer stammen. Das ist einmal sehr interessant. Nur aus der Lohnsteuer, d. h. daß die Arbeiter und Angestellten wieder einmal die Hauptlast der verfehlten Haushalts- und Finanzpolitik der Bundesregierung tragen.
({6})
Statt sinnlose Objekte zu finanzieren, wäre es ein leichtes, diese Mittel für sozial und ökologisch sinnvolle Projekte bereitzustellen.
({7})
Ich will ein aktuelles Beispiel nennen. Vorgestern haben die Stromkonzerne, die Atomkraftwerke betreiben, entschieden, auf den Weiterbau der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf zu verzichten.
({8})
Was wäre in dieser Situation angebrachter als sämtliche Mittel, die für dieses Wahnsinnsprojekt vorgesehen wurden, in diesem Nachtragshaushalt zu streichen und z. B. zur Förderung erneuerbarer Energien zu verwenden? Warum passiert das nicht?
Die Einnahmeseite ist beim Bundeshaushalt jedoch nur die halbe Miete. Mindestens ebenso wichtig ist natürlich die Frage, ob die Haushaltsmittel für sinnvolle Zwecke ausgegeben werden. Was in unserem Sinne sinnvolle Ausgaben sind, das unterscheiden wir nach zwei Kriterien:
Erstens. Tragen die Ausgaben zur Beseitigung bzw. zur Linderung der sozialen Krise - insbesondere zum Abbau der Massenerwerbslosigkeit - bei?
Zweitens. Leisten die Ausgaben einen Beitrag für die Entwicklung einer ökologisch verträglichen Wirtschaftsweise?
Um mit dem letzteren zu beginnen, so ist an keiner Stelle des Nachtragshaushalts auch nur eine müde
Mark für den Schutz von Umwelt und Natur vorgesehen.
({9})
Was könnte deutlicher den Stellenwert zum Ausdruck bringen, den Umweltpolitik bei dieser Regierung hat! Der Nachtragshaushalt hätte der Regierung die Gelegenheit geboten, ihrem angeblichen Wunsch nach einem besseren Umweltschutz Taten folgen zu lassen.
Was die Frage der sozialen Krise bzw. der Bekämpfung der Massenerwerbslosigkeit betrifft, so ist eine differenzierte Betrachtung notwendig. Positiv sind zunächst die zusätzlichen Ausgaben für die Unterbringung von Aussiedlern zu werten. Vom Ansatz her ist auch das Sonderprogramm für Langzeitarbeitslose positiv zu bewerten.
({10})
Damit gibt doch die Bundesregierung zu, daß die von ihr viel beschworenen Marktkräfte und der seit sieben Jahren andauernde Aufschwung der Wirtschaft an dieser Problemgruppe - und nicht nur an dieser - spurlos vorbeigegangen ist. Es war sogar so, daß trotz der guten Konjunkturlage die Zahl der Langzeitarbeitslosen zugenommen hat. In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung zusätzliche Programme für Arbeitslose mit dem Argument abgelehnt, daß diese nur einen zeitlich befristeten Effekt - den sogenannten Strohfeuereffekt - hätten. Es bedurfte erst der vernichtenden Wahlniederlagen in Berlin und Hessen, damit der Bundeskanzler seine Bedenken von heute auf morgen über Bord warf.
Indessen gehört auch dieses Programm wieder einmal in die Rubrik Schwindelunternehmen. Gucken wir es uns einmal genauer an. Minister Blüm und Regierungsposaunist Klein veranstalten einen riesigen Medienwirbel, um in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, Sie betrieben eine aktive, auf Problemgruppen orientierte Arbeitsmarktpolitik.
({11})
Tatsache ist jedoch, Herr Kollege Borchert, daß durch die 9. Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz 300 Millionen DM an Arbeitslosenhilfe eingespart wurden. Für das Langzeitarbeitslosen-Sonderprogramm sind dieses Jahr 116 Millionen DM bereitgestellt worden. Insgesamt spart die Bundesregierung also 184 Millionen DM ein und verkauft dies der Öffentlichkeit als besonders soziale Maßnahme. Ich finde es ungeheuerlich, was Sie da machen.
({12})
Das im Nachtragshaushalt veranschlagte Hochschulsonderprogramm ist im Ansatz - wenn auch unzureichend - positiv. Dieses Sonderprogramm hätte man vermeiden können, wenn die Koalitionsparteien bei den Haushaltsberatungen im letzten Jahr dem Antrag der GRÜNEN gefolgt wären. Bereits damals hatten wir im Zusammenwirken mit den Ländern gefordert, ein Programm zugunsten überlasteter Hochschulen durchzuführen und dafür dieses Jahr 240 Millionen DM bereitzustellen.
({13})
Bereits bei Verabschiedung des von den Regierungschefs von Bund und Ländern beschlossenen Hochschulsonderprogramms im Dezember 1988 hatten wir vorausgesagt, daß dieses Programm auch nicht im Ansatz ausreichen wird, um die Probleme der überlasteten Hochschulen einigermaßen zu bewältigen. Genau das ist nun eingetreten.
Gestern hat Minister Möllemann - der einzige hier anwesende Minister - ein zweites Sonderprogramm angekündigt. Es soll über elf Jahre laufen und mit 6 Milliarden DM ausgestattet sein, die zu 60 % vom Bund und zu 40 % von den Ländern aufgebracht werden sollen. Geplant ist, 10 000 zusätzliche Stellen für Nachwuchswissenschaftler zu schaffen. Auch dieses Programm zielt nur darauf, die Proteste der Studentinnen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftsorganisationen gegen die Hochschulpolitik von Bund und Ländern zu beschwichtigen.
({14})
Ich glaube, Herr Kollege Möllemann hat Angst vor einer neuen Studentenbewegung. Interessant ist jedoch, daß auf meine Frage im Haushaltsausschuß, ob es ein solches Programm gebe und wie dies gegebenenfalls aussehe, am Mittwoch dieser Woche der Bundesfinanzminister antwortete, ihm sei nichts von einem solchen Programm bekannt. Anscheinend hat Minister Möllemann wieder einmal Luftschlösser gebaut, oder wir bekommen einen neuen Nachtragshaushalt.
({15})
Ursprünglich hatte die Bundesregierung für 1989 Ausgaben in Höhe von 288,1 Milliarden DM eingeplant. Das entspricht einer Steigerung von 4,6 %. Jahrelang haben die Minister Stoltenberg und Waigel landauf, landab die Meinung vertreten, daß der Ausgabenzuwachs des Bundes die Steigerung des Bruttosozialprodukts nicht überschreiten dürfte. Mißt man die Regierung an ihrem eigenen Anspruch, so läßt sich unschwer feststellen, daß sie dem nicht gerecht wird.
({16})
- Natürlich. Sie haben eine höhere Ausgabensteigerung als das Bruttosozialprodukt. Das wissen Sie. Das können Sie nicht widerlegen. Es wäre ja noch lächerlicher, daß Sie Ihrem Minister nicht mehr glauben.
Laut Wirtschaftsbericht für dieses Jahr geht die Bundesregierung selbst von einer Steigerungsrate
von 2,5 % beim BSP aus. Realistisch dürften es inzwischen 3 % sein.
({17})
Bezieht man den zur Beratung anstehenden Nachtragshaushalt in die Berechnung ein, so liegt die Steigerungsrate des Bundeshaushalts nicht mehr bei nur 4,6 %, sondern bei 5,8 %. Auch das hat Minister Waigel am Mittwoch im Haushaltsausschuß gesagt. Das kann man nun wirklich nicht dementieren.
({18})
Zu früheren Zeiten haben Minister Waigel und sein Vorgänger Stoltenberg solche Ausgabenzuwächse als Sündenfall sozialistischer Mißwirtschaft verdammt. So ändern sich die Zeiten. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Für uns gibt es kein Dogma, wonach sich der Staat in seinem Ausgabenverhalten zurückhalten müßte oder seine Ausgaben eine gewisse Zuwachsrate des Bruttosozialprodukts nicht überschreiten dürften. Wir orientieren unsere Haushaltspolitik daran, welche ökologischen und gesellschaftlichen Defizite bestehen und wie diese Defizite
- da sind wir natürlich anderer Meinung - durch staatliche Einnahmen- und Ausgabensteuerung abgebaut werden können.
({19})
Das ist Ziel unserer Haushalts- und Finanzpolitik. Wenn die Massenarbeitslosigkeit mit geringeren Ausgabenzuwächsen zu beheben ist, als die Steigerung des Bruttosozialprodukts ausmacht, so soll uns das natürlich recht sein. Auf der anderen Seite darf sich das Ausgabeverhalten der öffentlichen Hand nicht dogmatisch auf die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts fixieren. Entscheidend ist, meine Damen und Herren, daß Probleme wie Massenarbeitslosigkeit oder Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen gelöst werden. Dazu hat die öffentliche Finanzwirtschaft ihren Beitrag zu leisten. Und auf diesem Gebiet versagt der neue Finanzminister Waigel genauso wie sein Vorgänger Stoltenberg.
({20})
- Das stimmt genau, Herr Kollege Rose. Sie brauchen nicht so zu schreien, bloß weil auch Sie von der CSU kommen.
({21})
Ich möchte Sie noch auf einen finanzpolitischen Hammer hinweisen. Da stehen einem wirklich die Haare zu Berge.
({22})
In einer an Dreistigkeit nicht zu überbietenden Überrumpelungsaktion haben die Koalitionsparteien die Mittel für Öffentlichkeitsarbeit - besser sollte es heißen: Regierungspropaganda ({23})
von 4 auf 14 Millionen DM erhöht. Das sind sage und schreibe 250 %.
({24})
- Rechnen können wir auch, besser als Sie. - Dabei handelt es sich nur um Mittel, die zur Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit dienen. 1988 wurden erstmals Mittel für diesen Zweck in den Haushalt eingestellt. Sie sollten in diesem Jahr wegfallen.
({25})
Aber sie sind nicht weggefallen, sondern im Vergleich zum Vorjahr um 7 auf jetzt 14 Millionen DM angewachsen. Das muß man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Das ist wirklich ungeheuerlich.
Das ist aber noch nicht alles: Weitere Ausgaben für die inländische Regierungspropaganda in Höhe von 22 Millionen DM sind im Haushalt des Bundeskanzlers veranschlagt. Auch hier ist festzustellen, daß sich die Ausgaben innerhalb von nur zwei Jahren dramatisch erhöht haben, von 17 auf 22 Millionen DM, was eine Steigerung um 30 % bedeutet - und das innerhalb von nur zwei Jahren.
Also insgesamt sind im Haushalt 1989 36 Millionen DM für die inländische Regierungspropaganda vorgesehen.
({26})
Das ist um so unverständlicher, da die Regierung doch mit Regierungssprecher Klein eine Verkaufskanone für ihre schlechte Politik eingestellt zu haben glaubt.
({27})
Dann frage ich mich: Wozu brauchen Sie noch diese Mittel?
({28})
Ich denke, der Mann ist gut.
({29})
Übrigens konnte uns im Haushaltsausschuß kein Konzept für diese Öffentlichkeitsarbeit vorgelegt werden. Das weiß auch der Kollege Carstens.
({30})
- Sie haben überhaupt keine Geheimnisse. Sie wollen Ihre Wahlkampfbroschürchen über den Bundeshaushalt finanzieren. Das ist die Wahrheit - und nichts anderes.
({31})
Wir lehnen diesen Nachtragshaushalt aus mehreren Gründen ab.
Erstens. Es ist für uns nicht hinnehmbar, daß finanzielle Mittel zur Beschleunigung der Asylverfahren und Abschreckung von Asylbewerbern zur Verfügung gestellt werden.
({32})
Wie sich Minister Schäuble im Haushaltsausschuß äußerte, soll durch Abschiebungen eine abschreckende Wirkung auf andere Asylbewerber erreicht werden. Diese Politik können wir nicht mittragen.
({33})
Zweitens. Die notwendigen sozialen und ökologischen Weichenstellungen werden auch mit diesem Haushalt nicht vorgenommen.
Drittens - meine Damen und Herren, das müßte Ihnen besonders peinlich sein - lehnen wir diesen Haushalt wegen finanztechnischer Stümperei ab.
({34})
Das Wort hat der Abgeordnete Deres.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Kollegin Vennegerts hat von finanzpolitischem Durcheinander, von Hämmern und finanzpolitischen Stümpereien gesprochen.
({0})
Meine Damen und Herren, die Bürger im Lande wissen ganz genau: Wenn wir haushaltstechnisch die Luftschlösser der GRÜNEN angesetzt hätten, hätten wir einen Hammer gehabt, und dann wären die Schulden noch viel, viel größer geworden.
({1})
Da muß man im Haushaltsausschuß schon acht geben, daß man mit dem Vorschlaghammer, ab und zu auch mit dem Gummihammer, die GRÜNEN in der Reihenordnung behält.
Meine Damen und Herren, der Kollege Wieczorek hat hier eben, schon auf dem Kopf stehend, hatte ich den Eindruck, Vergangenheitsbewältigung in der Schuldenpolitik betrieben, und er hat von Flickschusterei gesprochen.
({2})
Meine Damen und Herren, ich möchte hier feststellen: Das, was in den Jahren von 1982 bis heute geleistet worden ist, ist solide und gute Handarbeit.
({3})
Ich weise insbesondere den Vorwurf gegen den bisherigen Bundesfinanzminister Gerhard Stoltenberg zurück. Er hat eine konsequente und in der Welt sehr anerkannte haushaltspolitische Linie gefahren. Das lassen wir uns hier nicht vom Brot nehmen.
({4})
Meine Damen und Herren, ich möchte mich in der Hauptsache noch einmal den Problemen des Haushaltes 06, des Bundesministeriums des Innern und für Sport, zuwenden. Wir haben uns in der vergangenen Woche angesichts 40 Jahren Bundesrepublik Deutschland an der von uns so oft vermißten Kontinuität erfreut. Der Nachtragshaushalt für dieses Jahr führt uns dagegen vor Augen, wie schnell sich gerade auf innenpolitischem Gebiet Szenen und Gegebenheiten ändern können.
Erstens. In Konsequenz aus den Verwicklungen einer deutschen Firma in den Bau der dubiosen Anlage in Rabta müssen möglichst schnell die Voraussetzungen für eine wirksamere Kontrolle grenzüberschreitender Geschäfte mit sensitiver Technologie geschaffen werden.
({5})
- Wer war vorher?
Wir begrüßen es, daß die Bundesregierung unverzüglich eine Novellierung der einschlägigen Vorschriften eingeleitet hat. Wir können es nicht zulassen, daß Bürger unseres Staates im In- und Ausland die Herstellung oder Verbreitung von ABC-Waffen fördern. Wir haben deshalb im Haushaltsausschuß den entsprechenden Stellenforderungen der Bundesregierung zugestimmt und verstehen auch nicht, was das BKA angeht, die ablehnende Haltung der SPD-Kollegen. Was die Strafverfolgung bei derartigen Taten angeht, die zutiefst friedensgefährdend und menschenverachtend sind, genügt mündliche Entrüstung nicht. Wir müssen die zuständigen Ermittlungsbehörden einschließlich des BKA auch zu einer wirksamen Strafverfolgung in den Stand setzen. Wir erwarten allerdings auch, daß sich die genannten Behörden auf Grund der verbesserten Stellenausstattung dieser Aufgabe mit aller Kraft annehmen und die ihnen eröffneten Möglichkeiten einschließlich des Informationsaustauschs mit dem Zoll energisch nutzen.
Zweitens. Der Nachtragshaushalt ist im wesentlichen durch Mehrbedarf in den Bereichen Asyl und Aussiedler notwendig geworden. Der überwiegende Teil der Ausgaben von rund 1,3 Milliarden DM könnten unter die Überschrift „Kosten des Art. 16 des Grundgesetzes" gestellt werden. Ich füge aber auch hier sofort hinzu: Grundrechte entfalten ihre Wirkung nicht nur auf dem Papier oder in Feierstunden, sondern sie müssen auch in die Realität umgesetzt werden. Diesen Nachtragshaushalt verstehen wir u. a. als Bekenntnis zur Asylgewährung unserer Verfassung sowie zum Recht auf Heimat für alle Deutschen.
Ich stelle mit Befriedigung fest, daß nicht nur die Koalitionsfraktionen, sondern auch die SPD-Fraktion den von der Bundesregierung und hier insbesondere dem Bundesinnenminister vorgeschlagenen Ausga10972
ben und Zweckbestimmungen in den Ausschüssen zugestimmt haben und dies wohl auch heute, wie ich erwarten darf, tun werden. Wir begrüßen insbesondere die neuen Anstrengungen der Bundesregierung, durch Personalvermehrung und Dezentralisierung des Bundesamts für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge zu einer fühlbaren Beschleunigung der Asylverfahren zu gelangen. Die dafür insbesondere vorgesehenen neuen 225 Stellen sollen dazu dienen, die vorhandenen acht Außenstellen des Zirndorfer Amts sowie eine Reihe weiterer neuer Außenstellen mit 141 neuen Mitarbeitern auszustatten.
({6})
Dort sollen in unmittelbarer räumlicher Nähe mit den Zentral- und Ausländerbehörden der Länder insbesondere die polnischen, jugoslawischen und türkischen Asylbewerber, die 1988 mehr als die Hälfte der Asylbewerber ausmachten und unter denen ganz überwiegend keine tatsächlich politisch verfolgten Personen sind, in erheblich kürzerer Zeit als bisher beschieden und die abgelehnten Bewerber unverzüglich abgeschoben werden.
Ich appelliere an die Innenminister der Länder, die sich zu diesem Thema treffen, sich dieser Initiative des Bundesinnenministers nicht zu verschließen.
Meine Damen und Herren, wir alle sind von dem vor etwa zwei Jahren einsetzenden Zustrom von deutschen Aussiedlern aus den Gebieten jenseits von Oder und Neisse und insbesondere aus der Sowjetunion überrascht worden. Nach 200 000 Aussiedlern und etwa 35 000 Übersiedlern aus der DDR und Berlin ({7}) im vergangenen Jahr müssen wir uns in diesem Jahr auf bis zu 400 000 Aussiedler und 60 000 Übersiedler einrichten.
Lassen Sie es mich etwas drastischer formulieren: Während wir uns über die Pünktlichkeit im Feriencharterflugverkehr oder die Höhe der Kassenleistungen für Brillengestelle oder über die Batterien im Hörgerät Sorge machten, hat uns auf einmal das Schicksal von Hunderttausenden von Deutschen eingeholt. Diese Deutschen haben auch 40 Jahre nach Kriegsende noch für die Verbrechen des Nationalsozialismus büßen müssen, weil ihnen ein Leben in ihrer Sprache und Kultur und mit ihren kirchlichen Traditionen verwehrt wird.
Für meine Generation, die das Flüchtlingselend der Nachkriegszeit noch in lebendiger Erinnerung hat, aber auch für die jüngeren, in den Wohlstand unserer Bundesrepublik Deutschland hineingeborenen Generationen möchte ich einmal auf die Größenordnung der Aufgabe aufmerksam machen.
In den 50er Jahren bis zum Bau der Berliner Mauer lag die Zahl der Sowjetzonenflüchtlinge pro Jahr zwischen ca. 150 000 und 300 000 Menschen. Uns sind die Aufnahme und Integration dieser Menschen unter sehr viel schwierigeren Umständen und Bedingungen, nämlich bei einer anfangs sogar höheren Arbeitslosenquote als heute und bei einem in keiner Weise vergleichbaren Wohlstand , beispielhaft gelungen.
In den letzten Wochen wurde auf Grund der steigenden Zugangszahlen immer deutlicher, daß das im
diesjährigen Haushalt enthaltene Sonderprogramm der Bundesregierung der Entwicklung der Aussiedlerzahlen angepaßt werden muß. Sowohl im Haushalt des Bundesinnenministeriums als auch von anderen Ressorts werden die stellen- und geldmäßigen Ansätze im Rahmen des Notwendigen erhöht.
Mit den im Nachtragshaushalt vorgesehenen 739 Millionen DM wird das Bundesinnenministerium z. B. in die Lage versetzt, die Aussiedler rasch zu registrieren, sie während des Registrier- und Verteilungsverfahrens - in Ergänzung der Grenzdurchgangslager Friedland und Nürnberg - in Zwischenunterkünften des Bundes menschenwürdig unterzubringen, den Aussiedlern die in den Gesetzen zum Ausgleich von Haft, Kriegsgefangenschaft und Verschleppung vorgesehenen Leistungen zu zahlen und die soziale Beratung und Betreuung der Aussiedler durch die Wohlfahrts- und Vertriebenenverbände zu gewährleisten.
({8})
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, daß die Aussiedler bei manchem auf beträchtliche Vorurteile stoßen. Solche Vorurteile beruhen, wie es bei Vorurteilen eben ist, auf einer falschen Lageeinschätzung. Ich möchte Sie auf den heutigen Artikel von Peter Hilkes in der „FAZ" unter dem Titel „Nicht alle in einen Topf werfen - Über die Unterschiede zwischen den Aussiedlern aus Osteuropa ist wenig bekannt" hinweisen. Am Schluß dieses Artikels resümiert er:
Mangelnde Informationen über die Aussiedler aus Polen, Rumänien und der Sowjetunion sind oft für fehlende Toleranz und Kontaktscheu der „Einheimischen" ihnen gegenüber verantwortlich.
Daher, Frau Vennegerts, haben wir im Ansatz des Einzelplans 06 die Informationsmittel um 7,5 Millionen DM erhöht.
({9})
- Stimmt es eventuell nicht? Doch, es stimmt!
({10})
Gewiß bringen die Aufnahme und Integration - ({11})
- Frau Vennegerts, ich würde Ihnen und Ihren Damen und Herren der Fraktion DIE GRÜNEN empfehlen, zuerst einmal das in der „Stuttgarter Zeitung" berichtete Ansinnen des Herrn Cohn-Bendit zu studieren.
({12})
Der hat nämlich gesagt: Die GRÜNEN verklären die Asylanten, sie verklären die Asylbewerber.
({13})
Nach Cohn-Bendits Worten spielen die Ausländer heute die Rolle, die für die Nachkriegsgeneration die Juden gespielt haben. Auch die Ausländer wolle man heute als Kollektiv schützen. Überdies drückten sich die GRÜNEN permanent um die Diskussion darüber, was mit den Aussiedlern ist. Mit ihnen habe die Partei Schwierigkeiten, weil die Aussiedler aus dem Osten nicht dem Bild der aufrechten und progressiven Flüchtlinge entsprächen. ({14})
Also, ich darf Sie doch dringend ermahnen, das Studium dieser Probleme hier einmal aufzunehmen.
({15})
- In der Tat, die GRÜNEN geben ihr finanzpolitisches Durcheinander auf andere Weise kund.
({16})
Ich möchte fortfahren: Im Ergebnis und auf lange Sicht ist aber jeder einzelne deutsche Aussiedler ein Gewinn für unser Land. Die Ausgaben des Bundes, etwa jetzt im Nachtragshaushalt, und auch die der Länder und Gemeinden für die Aussiedler sind beste Zukunftsinvestitionen. In einer Zeit abnehmender und strukturell immer älter werdender Bevölkerung sind die jungen Aussiedlerfamilien ein belebender Faktor. Denn die Aussiedler sind in ihrer großen Mehrheit junge Menschen, junge Familien mit Kindern. 43 % der Aussiedler, die 1988 zu uns kamen, waren nicht älter als 25 Jahre. Nur 4 % waren über 65 Jahre alt. Und doch besteht eine völlig falsche Vorstellung bei unseren Bürgern im Lande.
({17})
Die Solidargemeinschaft wird auf längere Sicht nicht belastet, sondern die Aussiedler werden dazu beitragen, unsere Renten auch auf Dauer sicher zu gestalten. Sie kommen aus Berufen, die schon heute oder in absehbarer Zeit Mangelberufe sind. Aussiedlerkinder werden in einem Teil der heute offenen Lehrstellen untergebracht werden können. Der Zuzug der Aussiedler wird viele zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Jeder Aussiedler ist - volkswirtschaftlich gesehen - auch ein Nachfrager, auf den unsere Wirtschaft reagieren muß.
Wir betreiben keine Anwerbung von Aussiedlern. Wir bestärken die Bundesregierung, etwa beim bevorstehenden Besuch des sowjetischen Generalsekretärs für bessere Lebensbedingungen der Deutschen in den Aussiedlungsgebieten einzutreten.
Aussiedler sollen nicht besser als die anderen Bürger behandelt werden. Wir bekennen uns daher zu
der in schweren Zeiten 1949 im Grundgesetz verankerten Gewährleistung für jeden Deutschen, bei uns Heimat zu finden.
Wir müssen auch dafür sorgen, daß die Aussiedler, wenn sie aus jahrzehntelanger Isolation, z. B. in Kasachstan, zu uns und damit in eine ganz andere Gesellschaft kommen, ihre religiösen und kulturellen Traditionen weiter pflegen können. Es sind deshalb auf unsere Anregung hin als Initialzündung im Rahmen des Ansatzes für die Bewahrung des kulturellen Heimaterbes, für die kulturelle und gesellschaftliche Integration der Aussiedler zusätzlich eine halbe Million DM veranschlagt worden. Ich hoffe sehr, daß zu diesem Geld und anderen aussiedlerbezogenen Ausgaben das Engagement möglichst vieler Bürger und privater Einrichtungen hinzu kommt.
Lassen Sie mich an das anknüpfen, was unser Bundespräsident vor einer Woche in seiner Rede zum 40jährigen Bestehen unseres Staates gesagt hat, als er an die Sozialpartnerschaft und die gegenseitige solidarische Hilfe in den Nachkriegsjahren erinnerte, die unter anderem zur Aufnahme von 12 Millionen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen beigetragen haben. Ich ergänze: Nächstenliebe, die doch so oft beschworen wird, fängt, wie schon der Name sagt, nicht bei den Fernsten an, sondern sollte doch unseren Aussiedlern, für die wir nach Geschichte und Verfassung Verantwortung tragen, besonders zugute kommen. Erst dann wird dieser Nachtragshaushalt seinen vollen Zweck erfüllen.
({18})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Matthäus-Maier.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Seit sechs Wochen ist Finanzminister Waigel in seinem neuen Amt. Wir haben jetzt zwar einen neuen Finanzminister, aber die Finanzpolitik dieser Bundesregierung ist leider immer noch die alte. Sie ist und bleibt ungerecht, unsolide, orientierungslos und unberechenbar.
({0})
Die schweren Versäumnisse dieser Finanzpolitik haben den Vorgänger von Herrn Waigel das Amt gekostet. Daß nun Herr Waigel zu dem Neuanfang in der deutschen Finanzpolitik in der Lage ist, können wir bis heute leider nicht feststellen, meine Damen und Herren.
Ich nenne sechs Beispiele:
Schon der Nachtragshaushalt, den wir heute debattieren, zeigt: Diese Bundesregierung ist zu vorausschauender Finanzpolitik nicht fähig. Der Nachtragshaushalt 1989 wurde am 21. April eingebracht. Aber bereits nach fünf Wochen kam dann ein Nachtrag zum Nachtrag, und dieser Nachtrag zum Nachtrag hatte gleich das fünffache Volumen, nämlich 1,1 Milliarden DM im Vergleich zu 222 Millionen DM. Daran sieht
man: Ihre haushaltspolitische Weitsicht reicht nicht einmal fünf Wochen weit.
({1})
Ihr Nachtragshaushalt sieht Mittel für die Hochschulen und für die Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit vor. Das ist gut; das begrüßen wir ausdrücklich. Dem stimmen wir ausdrücklich zu. Wir haben es seit langem gefordert. Nur, Herr Bundesfinanzminister - er ist leider nicht anwesend; ich kann das nur noch einmal wiederholen - : Die Kreditanstalt für Wiederaufbau dürfte eigentlich nicht vorgehen. Ich frage: Hätte eine vorausschauende Finanzpolitik dies nicht auch schon im Herbst 1988 bei der Verabschiedung des normalen Bundeshaushalts 1989 merken müssen?
({2})
- Entschuldigen Sie, selbstverständlich haben wir hier im Herbst 1988 Anträge mit dem Ziel der Behebung der Langzeitarbeitslosigkeit und mit dem Ziel, den Hochschulen zusätzliche Mittel zuzuweisen, gestellt. Das werden Sie nicht bestreiten, meine Damen und Herren.
Die Langzeitarbeitslosigkeit ist seit Jahren eine gesellschaftspolitische Herausforderung ersten Ranges, vor der wir nicht die Augen verschließen dürfen. Die Kirchen, die Gewerkschaften, die SPD haben immer wieder auf dieses drängende gesellschaftspolitische Problem hingewiesen und Maßnahmen gefordert. Sie kamen aber offensichtlich erst durch die vernichtenden Wahlniederlagen in Berlin und Hessen auf die Idee, sich überhaupt mit dem Thema zu beschäftigen.
({3})
Die 116 Millionen DM, die Sie dafür vorsehen, kommen nicht nur zu spät. Dieser Beitrag ist leider auch viel zu gering.
({4})
Es geht um 800 000 Langzeitarbeitslose. Das sind nicht nur 800 000 persönliche Schicksale; das ist auch eine ungeheure volkswirtschaftliche Verschwendung. Deswegen sind die von Ihnen vorgeschlagenen Mittel leider nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein.
700 Millionen DM dagegen geben Sie in diesem Jahr für Investitionsruinen und milliardenschwere Fehlinvestitionen aus, z. B. die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und das Kampfflugzeug Jäger 90.
({5})
- Natürlich haben wir das beschlossen, Herr Möllemann.
({6})
Ich gehöre doch im Unterschied zu Ihnen, die Sie Ihre Vergangenheit in der sozialliberalen Koalition verweigern und verneinen,
({7})
nicht zu denen, die die eigene Vergangenheit abstreiten.
({8})
Ich halte es für richtig, Fehler zuzugeben.
({9})
- Herr Möllemann, wenn Sie mich persönlich fragen: Generell - ({10})
- Das ist auch gut so. Denn jeder, der mich kennt, weiß, daß ich persönlich immer gegen die Wiederaufarbeitungsanlage war.
({11})
Die 116 Millionen DM muß man mit diesen 700 Millionen DM vergleichen. Das ist sechsmal soviel. Das zeigt die Schieflage. Die Struktur Ihres Bundeshaushalts stimmt einfach nicht. Die Prioritäten sind falsch gesetzt.
14 Millionen DM geben Sie allein in diesem Nachtragshaushalt für zusätzliche Ausgaben für Propaganda aus,
({12})
4 Millionen bei Herrn Waigel für die Quellensteuer und 10 Millionen für Herr Blüm für die famose Gesundheitsreform. Ich sage Ihnen: Und wenn Sie noch einmal 20 Millionen DM aufstocken,
({13})
werden Sie selbst mit der besten Propaganda das Theater bei der Quellensteuer und die Ungerechtigkeiten bei der Gesundheitsreform nicht wegmanipulieren können.
({14})
Zu den 150 Millionen DM, die in Ihrem Nachtragshaushalt für die Hochschulen vorgesehen sind, muß ich Sie fragen: Gibt es diese unerträgliche Überfüllung der Hochschulen erst seit einigen Wochen? Auch dafür hätte man schon im Herbst 1988 die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellen müssen.
({15})
Eine vorausschauende Finanzpolitik muß doch - wir haben es beantragt ({16})
zur Kenntnis nehmen, daß Investitionen in die Ausbildung unserer Jugend Zukunftsinvestitionen sind. Wer
an dieser Stelle spart, gefährdet unsere WettbewerbsFrau Matthäus-Maier
fähigkeit und riskiert den Wohlstand unseres Landes.
({17})
Wir fordern Sie auf:
Schichten Sie die Mittel um! Befreien Sie den Bundeshaushalt von überholten Subventionen und Milliarden-Investitionsruinen! Dann haben Sie endlich mehr Geld für die Hochschulen und die Langzeitarbeitslosen.
({18})
Zweitens. Mit Ihrem Nachtragshaushalt ziehen Sie auch die haushaltsmäßigen Konsequenzen aus der Abschaffung der Quellensteuer. Die Abschaffung der bürokratischen und ungerechten Quellensteuer ist richtig. Wir haben das immer gefordert.
({19})
Aber die Frage ist: Wie geht es denn nun weiter? In der Anhörung des Finanzausschusses vor wenigen Tagen haben Ihnen die Experten eine Verbeugung vor der Steuerhinterziehung vorgeworfen. Sie weigern sich nicht nur, dafür zu sorgen, daß den großen Steuerhinterziehern endlich das Handwerk gelegt wird. Sie verhindern durch den § 30 a der Abgabenordnung sogar, daß große Steuerhinterzieher mit Millionenvermögen tatsächlich erfaßt werden.
Frau Abgeordnete, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Faltlhauser?
Bitte schön.
Bitte sehr, Herr Abgeordneter.
Frau Kollegin, wenn Sie schon aus der Anhörung vor dem Finanzausschuß hier zitieren, würden Sie dem Plenum, bitte schön, auch zur Kenntnis geben, daß diese von Ihnen hier zitierte Meinung nur die Meinung eines einzigen Professors war und daß insbesondere der Vizepräsident der Deutschen Bundesbank nachdrücklich mit eindrucksvollen Worten und exakten Zahlen die Abschaffung dieser Quellensteuer befürwortet und begrüßt hat?
({0})
Selbstverständlich hat er das getan. Das tut er ja seit langem. Auch wir sind ja gegen die Quellensteuer, Herr Faltlhauser. Ich sage das, damit kein falscher Eindruck entsteht. Aber das war nicht nur ein Professor von den vier anwesenden Professoren. Ich war die ganze Zeit in der Sitzung dabei. An dieser Stelle haben alle vier das, was Sie tun, nämlich die Quellensteuer abzuschaffen und gleichzeitig den § 30 a der Abgabenordnung beizubehalten, scharf kritisiert und schwere verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. Recht haben sie.
({0})
Der Abgeordnete Faltlhauser möchte noch einmal eine Zwischenfrage stellen.
Ich möchte sie gerne zulassen; aber die Kollegen müssen nach Bayern, nach Kiel und überall in die Republik.
({0})
Die deutsche Steuergewerkschaft schätzt, daß der Staat durch die unzureichende steuerliche Erfassung von Kapitalerträgen im Jahr 15 Milliarden DM Steuereinnahmen verliert.
Meine Damen und Herren von der Koalition, wie können Sie eigentlich vertreten, daß die Arbeitnehmer deshalb eine höhere Lohnsteuer zahlen müssen, weil Sie bei den Beziehern hoher Kapitalerträge auf die Besteuerung nach Recht und Gesetz verzichten?
({1})
- Genau das ist wahr. - Es kann nicht so weitergehen, daß Millionen Bürger mehr Lohnsteuer zahlen, weil Sie die Steuerhinterziehung bei Millionenvermögen politisch begünstigen.
({2})
Ich fordere Sie hier erneut auf: Folgen Sie unserem Konzept der Verzehnfachung der Sparerfreibeträge auf 3 000 bzw. 6 000 DM! Damit würden die Zinsen der Millionen Normalsparer je nach Zinssatz bis zu Anlagen von 100 000 DM völlig steuerfrei gestellt, und zwar legal. Damit aber das geltende Recht endlich eingehalten wird, muß ein unbürokratisches und bürgerfreundliches Stichprobenverfahren angewendet werden. Machen Sie sich nicht weiter mitschuldig an dem fortgesetzten Rechtsbruch! Handeln Sie endlich, damit auch der Finanzminister in dieser Frage seinen Amtseid einhält!
({3})
Drittens. Meine Damen und Herren, auch in der Familienpolitik setzt der Finanzminister die Ungerechtigkeiten seines Vorgängers fort. Die Koalitionsbeschlüsse beweisen: CDU, CSU und FDP lassen die Familien mit Kindern zur finanzpolitischen Restgröße verkommen.
({4})
Was Sie beim Kindergeld vorhaben, bedeutet, daß von den insgesamt 12 Millionen Kindern 10 Millionen Kinder völlig leer ausgehen, Herr Möllemann. Angesichts Ihrer Versprechungen vor der Wahl ist das ein glatter Wortbruch. Den Familien mit Kindern verweigern Sie ihr Recht. Statt dessen fördern Sie den Trauschein. Durch Ihre sogenannte Steuerreform bekommen 1990 Spitzenverdiener beim Splitting einen
Steuervorteil von bis zu - meine Damen und Herren, hören Sie gut zu! - 22 842 DM im Jahr,
({5})
und das, ohne daß in dieser Ehe ein Kind vorhanden ist. Dagegen erhält die Familie eines Normalverdieners für ihr Kind im ganzen Jahr nur 1 200 DM. Das sind also 22 842 im Vergleich zu 1 200 DM für ein Kind.
({6})
Für einen Trauschein geben Sie 19mal so viel aus wie für ein Kind. Das ist eine Schande. Deswegen sagen wir Ihnen: Ändern Sie das!
({7})
Wir brauchen einen gerechten und kinderfreundlichen Familienlastenausgleich. Die SPD fordert eine kräftige Erhöhung des Kindergeldes vom ersten Kind an auf mindestens 200 DM, solide finanziert durch Umschichtungen beim Splitting und beim Kinderfreibetrag zugunsten der Familien mit Kindern.
({8})
Viertens. Herr Bundesfinanzminister - der leider nicht da ist; ich sage das immer wieder, weil ich das als wirklich traurig empfinde -,
({9})
mit besonderer Besorgnis erfüllt die SPD, daß auch die unsolide Schuldenpolitik des Herrn Stoltenberg fortgesetzt wird.
Meine Damen und Herren, an dieser Stelle bitte ich doch gerade die Haushaltspolitiker der Union, die ja die Zahlen besser kennen als ihre Kollegen in der Union und in der FDP, nicht einfach dazwischenzurufen, weil sie doch die Probleme kennen. Herr Waigel hat bei der Regierungserklärung im Bundestag gesagt, der Anstieg der Schulden und Zinsausgaben müsse begrenzt werden und der Anteil der Zinsausgaben an den gesamten Bundesausgaben dürfe nicht mehr zunehmen. Ich gebe ihm an dieser Stelle ausdrücklich recht. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit liegen Welten.
Vor wenigen Tagen hat der Finanzminister im Finanzplanungsrat die Zahlen für den Bundeshaushalt bis 1993 vorgelegt. Danach steigen die Zinsausgaben - meine Damen und Herren, die Sie sich nicht jeden Tag damit beschäftigen, das ist das, was der Bundeshaushalt an Zinsen für aufgenommene Kredite zahlt; allein in diesem Jahr sind es 32,5 Milliarden DM - auf 42 Milliarden DM im Jahre 1993. Das ist in vier Jahren eine Steigerung um 10 Milliarden DM.
Wie steht es mit dem Anteil der Zinsausgaben an den gesamten Bundesausgaben, der sogenannten Zinsquote? Diese Zinsquote ist von 9 % im Jahre 1982 auf 11,1 % in diesem Jahr angestiegen, und sie wird nach der Projektion von Herrn Waigel auf 12,8 % im
Jahre 1993 steigen. Das sind 5 Milliarden DM mehr Zinsausgaben.
({10})
- Herr Rose, ich habe Ihnen ausdrücklich gesagt, wie die Steigerungen sind. Sie können das kritisieren. Ich bin anderer Ansicht; denn wir hatten mit zwei Weltwirtschaftskrisen zu kämpfen; das weiß jeder.
({11})
Aber selbst wenn Sie anderer Ansicht sind, Herr Rose, muß Ihnen doch angst und bange werden, wenn Sie sehen, wie die Zinsausgaben, die mittlerweile der drittgrößte Haushaltsfaktor geworden sind, uns im Bundeshaushalt den Hals strangulieren.
({12})
Diese Entwicklung darf so nicht weitergehen. Wenn gestaltende Reformpolitik in Zukunft noch möglich sein soll, dann muß der Anstieg der Zinsverpflichtungen gebremst werden. Auf gestaltende Reformpolitik dürfen wir nicht verzichten, und dafür brauchen wir einen handlungsfähigen Staat und eine solide Finanzpolitik.
({13})
Meine Damen und Herren, das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 115 bedeutet auch für den Herrn Finanzminister persönlich eine schwere Niederlage. Denn er hat 1982 die Klage aktiv mitbetrieben, und jetzt ist die Klage zurückgewiesen worden. Man sieht, manchmal dauert es in der Politik sieben Jahre, bis einen die eigenen Torheiten einholen, aber meistens holen sie einen ein; das sieht man hieran.
({14})
In diesem Urteil hat das Bundesverfassungsgericht unmißverständliche Klarstellungen zur Staatsverschuldung vorgenommen. Nach diesem Urteil stellt sich die berechtigte Frage, ob die Höhe Ihrer Neuverschuldung im Bundeshaushalt überhaupt noch mit der Verfassung vereinbar ist. Warum?
Die Haushaltslücke im Bundeshaushalt 1989, also die Summe aus Neuverschuldung und Bundesbankgewinn, ist praktisch so hoch wie im Jahre 1988. 1988 haben Sie sich bei der Neuverschuldung auf eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts nach Art. 115 berufen. Was aber ist in diesem Jahr? Offensichtlich ist dies 1989 nicht der Fall. Dazu hat das Bundesverfassungsgericht klar gesagt: In einer Situation, in der das gesamtwirtschaftliche Gleichgewicht nicht gestört ist, muß die Neuverschuldung einen ausreichenden Abstand zur Verschuldungsobergrenze nach Art. 115 des Grundgesetzes halten. Dies ergibt sich aus Art. 109 des Grundgesetzes. Danach haben Bund und Länder bei ihrer Haushaltswirtschaft den Erfordernissen des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts Rechnung zu tragen.
Ich frage Sie: Wie begründen Sie die Neuverschuldung in diesem Jahr, und mit welchen gesamtwirtschaftlichen Gründen wollen Sie um Himmels willen begründen, daß die Neuverschuldung im nächsten
Haushalt um weitere 6 Milliarden DM ansteigt? Das ergibt dann eine Haushaltslücke - von Herrn Waigel selber vorgesehen - von über 40 Milliarden DM.
Wie soll denn die Finanzpolitik reagieren, wenn es auch wieder einmal weltwirtschaftlich schwierigere Zeiten gibt? Dann haben wir keine Möglichkeit der Handlungsfähigkeit mehr. Ihrer Haushaltspolitik fehlt für solche Zeiten die notwendige Vorsorge.
({15})
Sechstes Beispiel: Konzeptionslosigkeit und Unseriosität sind auch bei der Unternehmensbesteuerung erkennbar. Herr Waigel hat gestern noch vor dem Institut Finanzen und Steuern eine deutliche Nettosenkung bei den Unternehmenssteuern versprochen.
Nehmen Sie doch zur Kenntnis, was das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums festgestellt hat: Die Steuerbelastung unserer Unternehmen ist im internationalen Vergleich nicht zu hoch. Deshalb besteht in der Bundesrepublik Deutschland bei der Unternehmensbesteuerung kein pauschaler Entlastungsbedarf.
({16})
Begreifen Sie doch endlich: Die hervorragende Qualität unseres Wirtschaftsortes Bundesrepublik Deutschland beruht entscheidend auf den Vorleistungen des Staates für die Wirtschaft. Wir verfügen über eine hervorragend ausgebaute Infrastruktur und über ein leistungsfähiges Bildungssystem.
({17})
Wir haben tragfähige soziale Sicherungssysteme und eine hohe Arbeitsproduktivität.
({18})
- Ja, selbstverständlich. Wer macht denn diesen Standort dauernd madig? Doch nicht wir Sozialdemokraten, sondern Sie, indem Sie immer sagen, er müsse billiger werden.
({19})
Diese Standortvorteile kann die Wirtschaft nicht zum Nulltarif bekommen. Diese Standortvorteile müssen solide finanziert werden. Deswegen kann die Bundesrepublik Deutschland weder unter uns noch unter Ihnen ein Niedrigsteuerland sein. Das wissen auch die Unternehmen.
({20})
Unsere Alternative ist: keine pauschale Entlastung, aber die Einführung einer steuerfreien Investitionsrücklage für kleine und mittlere Unternehmen, gezielte Abschreibungsverbesserungen für Umweltschutz, Energieeinsparung und Energietechnologien. Und: Wir wollen die tatsächliche steuerliche Benachteiligung der Investitionen in Produktivkapital im Vergleich zu den privaten Finanzanlagen beseitigen.
({21})
Übrigens: Dieser konzeptionellen Arbeit an den konkreten Vorschlägen haben Sie nur entgegenzusetzen, daß Sie eine Kommission einberufen wollen. Diese Kommission „Unternehmensteuern" soll ihre Vorschläge 1991, nach der Bundestagswahl vorlegen. Da kann ich Ihnen nur sagen: Mehrere Mitglieder Ihrer Bundesregierung haben mehrfach gesagt: Um das zu finanzieren, wird die Mehrwertsteuer angehoben. Herr Waigel sagt jetzt zwar das Gegenteil.
({22})
Aber nach all dem, was Sie vor Wahlen versprochen und nachher getan haben: Wer kann Ihnen das denn überhaupt noch glauben?
({23})
Ich komme zum Schluß. Die ersten sechs Wochen des neuen Finanzministers haben gezeigt: Die Berufung von Herrn Waigel hat nicht den notwendigen Neuanfang gebracht.
({24})
Durchwursteln und Taktieren reichen nicht aus, um die Herausforderungen der 90er Jahre bestehen zu können. Die Bürgerinnen und Bürger in diesem Lande haben das erkannt. Sie werden Ihnen nicht die Chance geben, Ihre ungerechte und unsolide Finanzpolitik auch noch nach der nächsten Bundestagswahl fortzusetzen.
Ich danke Ihnen.
({25})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Carstens ({0}).
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Ich kann heute für die Bundesregierung einen Nachtragshaushalt vertreten, der weitere Finanzmittel für wichtige und dringende Aufgaben zur Verfügung stellt und keine weiteren Kreditaufnahmen erforderlich macht.
({0})
Von daher verstehe ich die Aufregung bei der SPD überhaupt nicht.
Bundesminister Waigel nimmt als Vorsitzender an einer Sitzung des Verwaltungsrates der Kreditanstalt für Wiederaufbau - er leitet diese Sitzung - teil. Jeder Insider und Experte weiß, wie wichtig diese Sitzungen sind.
({1})
Er bittet seine Abwesenheit zu entschuldigen.
({2})
Er bittet weiterhin, mit mir vorliebzunehmen.
({3})
Dieser Nachtragshaushalt ist so gut, daß ihn auch der Parlamentarische Staatssekretär vertreten kann.
({4})
Theo Waigel hat diesen Entwurf zum Nachtragshaushalt bereits am 11. Mai 1989 im Deutschen Bundestag eingebracht und die wichtigsten Positionen vertreten. Dabei hat er schon darauf hingewiesen, daß es noch zu gewissen zusätzlichen Beschlüssen auf Grund aktueller Veränderungen werde kommen müssen. Ich bin dankbar dafür, daß der Haushaltsausschuß auf Vorschlag der Bundesregierung die entsprechende Vorsorge getroffen hat, so daß durch dieses Verfahren - welches übrigens sehr korrekt ist - die Verabschiedung des Nachtragshaushaltes 1989 noch im ersten Halbjahr 1989 erfolgen kann. Damit wird auch sichergestellt, daß wichtige Aufgaben, die keinen Zeitaufschub zulassen, noch rechtzeitig angepackt werden können.
Sie alle wissen, daß nach aktuellen Schätzungen 1989 350 000 bis 400 000 Aussiedler zu uns kommen werden. Wir wollen alles Notwendige dazu beitragen, unseren neuen Mitbürgern die Eingliederung zu erleichtern. Im Nachtragshaushalt sind zu diesem Zweck zusätzliche Ausgaben veranschlagt. Ich verstehe auch gar nicht, Frau Matthäus-Maier, was in diesem Zusammenhang das Stichwort „vorausschauend" heißen soll. Wer wußte denn Ende letzten Jahres, mit wie vielen Aussiedlern wir zu rechnen haben?
({5})
Wir liefern hier vielmehr den Beweis dafür, daß wir politisch, auch und insbesondere finanzpolitisch, die notwendige Handlungsfähigkeit haben. Wir beweisen es durch diesen Nachtragshaushalt.
({6})
Ich kann mich nur darüber wundern, wie Sie die Argumente verdrehen. Zum einen beklagen Sie das Fehlen einer vorausschauenden Politik, aber dann, wenn wir eine Arbeitsgruppe einsetzen wollen, um rechtzeitig Vorschläge für die Unternehmensbesteuerung zu erarbeiten, beklagen Sie das auch.
({7})
Zur Mehrwertsteuer darf ich Ihnen noch sagen, daß es gerade unser Bundesfinanzminister gewesen ist, der bei den letzten Verhandlungen auf EG-Ebene dafür gesorgt hat, daß der Mindestprozentsatz in Zukunft bei 14 liegen wird
({8})
und nicht, wie die EG und andere es wollten, bei 15.
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Weitere Mittel werden von der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg benötigt. Diese Mittel sollen insbesondere für die Sprachförderung zur Verfügung gestellt werden. Ich kann erfreulicherweise mitteilen, daß der Bundeszuschuß an die Bundesanstalt für Arbeit deswegen nicht angehoben zu werden braucht, da es dort zu erheblichen Einsparungen beim Posten „Arbeitslosengeld" kommt. Diese Einsparungen beim Arbeitslosengeld bei der Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg beweisen überdeutlich, daß es beim Abbau der Arbeitslosigkeit eben nicht, wie die SPD sagt, nur um eine statistische Veränderung geht, sondern daß sich das auch in der Kasse, beim Geld niederschlägt.
({10})
Uns bedrückt die Situation der Langzeitarbeitslosen. Diesem Personenkreis soll der Wiedereintritt in das Erwerbsleben erleichtert werden. Ich meine, daß das ein Nachweis dafür ist, daß wir, gerade wir, imstande sind, eine echte Politik für den sogenannten kleinen Mann zu machen. Ich darf alle gesellschaftlichen Gruppen ganz, ganz herzlich bitten, uns bei diesem Bemühen tatkräftig zu unterstützen.
Es müssen Gelder für weiteres Erziehungsgeld eingestellt werden, sogar 400 Millionen DM für 1989, sowie für Kindererziehungszeiten und ihre Anrechnung in der Rentenversicherung. Es sind erfreuliche Gründe, die zu dieser Notwendigkeit geführt haben. In unserem Lande werden nämlich 1989 - das weisen die ersten Monate aus - mehr Kinder geboren, als wir angenommen haben.
({11})
Für die Arbeitslosenhilfe allerdings ergibt sich - das ist wiederum sehr erfreulich - ein um 350 Millionen DM geringerer Bedarf. Die Ursache hierfür ist wiederum die außergewöhnlich gute wirtschaftliche Entwicklung. Eben war es das Beispiel des Arbeitslosengeldes, hier ist es das Beispiel der Arbeitslosenhilfe. Beide Faktoren weisen nach, daß es bei der Arbeitslosigkeit nicht nur zu statistischen Veränderungen gekommen ist,
({12})
sondern zu einem wirklichen Abbau auf unter 2 Millionen DM im letzten Monat.
({13})
Die Ausgaben des Bundes werden damit in 1989 auf 291,3 Milliarden DM ansteigen. Das ist ein Anstieg von etwa 5,8 %. Das ist deutlich mehr als in den sechs Jahren zuvor, begründet durch mehrere Sonderfaktoren, die ja bekannt sind.
Ich freue mich sehr darüber, daß es - das ist besonders begrüßenswert - gelungen ist, die zusätzlichen Mehranforderungen gegenüber dem Regierungsentwurf in Höhe von über 1 Milliarde DM abzudecken, ohne erneut eine globale Minderausgabe auszubringen - was ja, wenn wir es getan hätten, sicherlich von allen Fraktionen beklagt worden wäre - und auch ohne die Kredite zusätzlich zu erhöhen. Dies verdanken wir im wesentlichen den höheren SteuereinnahParl. Staatssekretär Carstens
men infolge des über alle Erwartungen guten Wirtschaftswachstums. Dabei sind alle Ausfälle in Sachen Quellensteuer schon mit verrechnet. Wir sind in der Lage gewesen, dem Haushaltsausschuß sogar eine leichte Absenkung der Neuverschuldung auf 27,8 Milliarden DM vorzuschlagen. Meine Damen und Herren, insbesondere von der SPD, das ist nicht Flickschusterei, wie der Kollege Wieczorek gesagt hat, sondern das ist echte, solide Finanzpolitik.
({14})
Diese solide Finanzpolitik stimmt selbstverständlich mit der Verfassung überein, und das in jeder Hinsicht. Ich darf darauf aufmerksam machen und die Aussage wagen, daß wir, mit Einbeziehung der zusätzlichen Bundesbankgewinne, die wir gar nicht in vollem Umfang eingestellt haben, bei einem weiteren entsprechenden Verlauf der Konjunktur im Jahre 1989, womit wir rechnen, die Chance haben, bei der Neuverschuldung die niedrigste Kreditaufnahme seit 1974 zu haben. In diesem Zusammenhang von Flickschusterei zu reden, mag verstehen, wer will, ich kann es nicht verstehen und die Bürger unseres Landes sicherlich auch nicht.
({15})
Ich möchte übrigens daran erinnern und darauf hinweisen, daß nicht nur der Bund, sondern auch die anderen Ebenen unseres Staates eine günstige finanzielle Entwicklung aufweisen.
({16})
Entgegen vielen Klagen ist die Finanzentwicklung von Ländern und Gemeinden im vergangenen Jahr, in dem die zweite Stufe der Steuerreform mit einem Nettoentlastungsvolumen von 14 Milliarden DM wirksam wurde, sehr günstig verlaufen. - Wenn Sie soeben den Zwischenruf zu den Gemeinden machen, Herr Kollege von der SPD, dann möchte ich darauf hinweisen, daß die Gemeinden sogar einen Finanzierungsüberschuß von etwa 300 Millionen DM erwirtschaften konnten. Das hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bislang nur zweimal gegeben, und immer zu CDU-Zeiten, 1984 und 1985.
({17})
In SPD-Zeiten ist es den Kommunen noch nie sonderlich gut gegangen, meine Damen und Herren.
({18})
Aber auch die Länderhaushalte haben sich 1988 positiv entwickelt. Ihr Finanzierungsdefizit hat mit 16,5 Milliarden DM den niedrigsten Stand der letzten neun Jahre erreicht. Ich weiß gar nicht, worüber sich die SPD eigentlich beklagen will.
Auch im laufenden Jahr wird die gute Entwicklung
anhalten. Wir erwarten für den öffentlichen Gesamthaushalt 1989 ein Finanzierungsdefizit von nur 1,9
des Bruttosozialprodukts. Wir liegen damit auf einem
Niveau, das zuletzt 1973 unterschritten wurde; und
dann kam ein ganz großer Finanzminister, der zu einem großen Schuldenmachen anhob, und dann ging die Verschuldung los.
({19})
Nun füge ich hinzu - ich betone das und sage es ganz ruhig und langsam, weil man diese Zahl kaum begreifen kann, weil man kaum für möglich hält, daß es stimmt - : Wir müssen im Jahre 1989 leider noch über 20 Milliarden DM Schulden aufnehmen.
({20})
Aber wenn uns die SPD nicht den gewaltigen Schuldenberg mit jährlich zu zahlenden Zinsen in gewaltigem Umfang hinterlassen hätte, dann brauchten wir im Jahr 1989 überhaupt keine neue Schulden aufzunehmen.
({21})
Wir haben durchgerechnet, daß man im Jahre 1989 aus dieser Altlast noch 26,8 Milliarden DM aus dem Bundeshaushalt zu zahlen hat. Wenn man das verrechnete, dann hätten wir überhaupt keine Neuverschuldung nötig.
Die Finanzpolitik der Bundesregierung seit 1983 führt insgesamt zu erheblichen Konsolidierungsfortschritten. Man muß sich schon freuen und andererseits auch wundern, daß die öffentlichen Kassen die gewaltigen Steuerentlastungen, die in drei Schritten rund 50 Milliarden DM ausmachen, offensichtlich verkraften können. Aber wir wundern uns nicht darüber, wir freuen uns darüber. Wir haben diese Wirkungsweisen der Steuerentlastung ja vorausgeschätzt, angenommen. Die Steuerentlastungen schaffen nämlich Raum für zusätzliches Wirtschaftswachstum, und zusätzliche Wachstumsimpulse sind wiederum gute Voraussetzungen für die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Diese günstige Einnahmeperspektive - das sage ich an alle Fraktionen dieses Hauses gerichtet - darf jedoch nicht zu einem höheren Ausgabenpfad führen.
({22})
Die Wachstumsrate des Bundeshaushalts 1990 muß deshalb gegen 1989 deutlich zurückgeführt werden. Die sparsame Ausgabenlinie muß auch in Zukunft beibehalten werden, und ich füge hinzu: Sie wird beibehalten werden!
Im Finanzplanungsrat sind wir mit allen öffentlichen Institutionen übereingekommen, das Ausgabenwachstum der öffentlichen Haushalte weiterhin insgesamt auf rund 3 % zu begrenzen. Das war eine ganz wichtige Beschlußfassung ; Länder und Kommunen haben dieser Beschlußfassung zugestimmt.
Da 1990 die dritte Stufe der Steuerreform mit Nettoentlastungen von über 20 Milliarden DM wirksam wird, wird die Neuverschuldung zwar vorübergehend ansteigen; aber in den Jahren danach werden wir sie deutlich zurückführen. Nach den jüngsten mittelfristigen Vorausschätzungen dürfte das Finanzierungsdefizit des öffentlichen Gesamthaushalts zu Beginn der
90er Jahre, gemessen am Bruttosozialprodukt, sogar wieder auf das Niveau der 60er Jahre zurückgehen. Diese Entwicklung - das Niveau der 60er Jahre nach den bisherigen Vorausplanungen für Anfang der 90er Jahre - ist sehr gut und nachhaltig zu begrüßen.
Die wirtschaftlichen Aussichten, meine Damen und Herren, sind günstig. Wir befinden uns mittlerweile im siebten Jahr des Wirtschaftswachstums und können auch für eine überschaubare Zukunft einen zufriedenstellenden Wachstumsverlauf erwarten. Ich möchte mit besonderem Ernst hinzufügen, daß diese Entwicklung nicht von alleine kommt. Es sieht manchmal so aus, als ob eine solche Entwicklung wie von alleine käme. Sie kann durch falsche Politik sehr schnell gefährdet werden. Meine Damen und Herren, SPD plus GRÜNE müssen mit ihrer Politik derzeit wohl als Gefährdung einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung angesehen werden.
({23})
Ein Ergebnis der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung ist besonders erfreulich: der gewaltige Zugang an Beschäftigen und auch der damit verbundene Rückgang der Arbeitslosen. Wir haben ja gerade heute die Mitteilung bekommen, daß wir im vergangenen Monat bei der Arbeitslosigkeit erstmals seit vielen, vielen Jahren wieder auf unter 2 Millionen gekommen sind. Das ist der sichtbare Beweis dafür, daß auch auf dem Gebiete des Arbeitsmarktes unsere Politik durchschlagende Wirkung hat. Diese Politik, meine Damen und Herren, muß und wird in unserem Lande fortgesetzt werden.
({24})
Die Voraussetzung dafür, daß sich die gute Entwicklung fortsetzen kann, ist allerdings, daß sich die öffentlichen Hände und nicht zuletzt auch die Tarifpartner weiterhin stabilitätskonform verhalten. Das ist sehr, sehr wichtig. Arbeitszeitverkürzungen sind - der Bundeswirtschaftsminister hat es schon heute morgen zum Ausdruck gebracht - nicht das Gebot der Stunde.
({25})
Die Bundesregierung jedenfalls wird ihren Beitrag zur Verstetigung des Wachstums leisten und wird dies nicht nur in diesem Jahr, sondern auch in den nächsten Jahren tun. Wir haben 1988 mit real 3,4 % das beste Wirtschaftswachstum seit zehn Jahren erreicht. Dies ist auch auf die zweite Stufe der Steuerreform zurückzuführen, die 1988 wirksam wurde. Nicht zuletzt die große Breite unseres Volkes hat ihren Anteil an dieser guten Entwicklung,
({26})
was ja manchmal in der Bewertung zu kurz kommt, wenn man von Steuerentlastungen und ihren Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung spricht.
Wir können viele, viele Nachweise dafür bringen, daß die Realeinkommen der Sozialhilfeempfänger, der Rentner und der Arbeitnehmer in den letzten drei, vier Jahren stark angestiegen sind, die gerade 1981 und 1982, zu SPD-Zeiten, real rapide gesunken waren.
({27})
Die dritte Stufe der Steuerreform wird auch nach Auffassung der wissenschaftlichen Forschungsinstitute 1990 wesentlich zur Verstetigung des Wachstums und der Inlandsnachfrage beitragen, wiederum mit entsprechenden positiven Auswirkungen.
Meine Damen und Herren, die Bürger unseres Landes können sich darauf verlassen, daß diese verläßliche und erfolgbringende Finanz- und Haushaltspolitik der Bundesregierung in Kontinuität fortgeführt wird.
Ich danke abschließend insbesondere dem Haushaltsausschuß für die sachkundige und zügige Beratung und bitte nun den Deutschen Bundestag, dem Nachtragshaushalt 1989 zuzustimmen.
({28})
Meine Damen und Herren, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit, damit wir das notwendige Abstimmungsverfahren durchführen können.
Ich rufe zunächst die Nachträge zu den Einzelplänen des Bundeshaushalts 1989 auf. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/4651 unter Nr. 2, die Nachträge zum Gesamtplan und zu den Einzelplänen des Bundeshaushalts 1989 in der Ausschußfassung anzunehmen. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit sind die Nachträge zum Gesamtplan und zu den Einzelplänen des Bundeshaushalts angenommen.
Ich rufe nunmehr den Entwurf des Nachtragshaushaltsgesetzes 1989 mit den Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Die Abstimmung hierüber wird mit der Schlußabstimmung verbunden. Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP haben hierzu namentliche Abstimmung verlangt. Sind die Urnen besetzt? - Danke schön.
Ich eröffne die Abstimmung nach dem bekannten Verfahren. Ich frage in aller Form: Befindet sich ein Mitglied im Hause, das noch nicht abgestimmt hat? - Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung.
Meine Damen und Herren, ich schlage Ihnen vor, daß wir nicht auf das Ergebnis warten; ich nehme auch an, daß ich dann alleine warten müßte. Wir können es dem Stenographischen Bericht entnehmen, der Ihnen so schnell wie immer vorgelegt wird. Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. So ist auch dies beschlossen.
Wir haben noch eine Überweisung vorzunehmen. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den heute morgen bereits überwiesenen Antrag der Fraktion der SPD zur Eingliederung Langzeitarbeitsloser auf Drucksache 11/4640 nachträglich auch dem Haushaltsausschuß zur Mitberatung zu überweisen. Ich nehme an, daß sich dagegen kein Widerspruch erhebt. - Das ist offensichtlich der Fall, so ist auch dies beschlossen.
Vizepräsident Cronenberg
Damit sind wir am Schluß unserer Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages für Mittwoch, den 14. Juni 1989, um 13 Uhr ein und wünsche Ihnen, soweit möglich, ein angenehmes und erholsames Wochenende.
Die Sitzung ist geschlossen.