Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 5/12/1989

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Sitzung ist eröffnet. Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 9 auf: Aktuelle Stunde Haltung der Bundesregierung zum § 218 StGB nach dem Memminger Urteil Meine Damen und Herren, die Fraktion DIE GRÜNEN hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema verlangt. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Kollegen und Kolleginnen! Liebe Frau Süssmuth! In Memmingen ist ein politischer Schauprozeß zu Ende gegangen. ({0}) Die Existenz eines Arztes wurde zerstört, weil er Frauen in einer Notlage geholfen hat, statt den staatlichen Anspruch an ihrem Körper an ihnen durchzusetzen. ({1}) Dr. Theissen hat als Arzt gehandelt und wurde als Staatsfeind bestraft. Die Soll-Stärke der Bundeswehr kennt keine Notlage, und Abtreibung ist Beihilfe zur Fahnenflucht. ({2}) In Memmingen sollte ein Exempel statuiert werden. Zu diesem Zweck setzte sich das Gericht selbst noch über die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes hinweg, nach der es dem Arzt allein obliegt, eine soziale Indikation festzustellen. Als ob diese Rechtsprechung an sich nicht schon frauenfeindlich genug wäre! ({3}) In Memmingen haben sich Richter angemaßt, darüber zu entscheiden, wann sich eine Frau in einer Notlage befindet und wann nicht. Wie sie das gemacht haben, kann nur als schändlich bezeichnet werden. Das Ziel heißt Einschüchterung. Ärzte und Ärztinnen sollen, das Schicksal von Dr. Theissen vor Augen, dazu erpreßt werden, künftig noch mehr Frauen ärztliche Hilfe zu verweigern. ({4}) Eingeschüchtert werden sollen aber auch die Frauen. Sie sollen - dazu diente die Inszenierung von Memmingen - durch die öffentliche Bekanntmachung ihrer Namen und durch die infame Art und Weise der Befragung eingeschüchtert und moralisch diffamiert werden. ({5}) Abtreibung ist aber nicht unmoralisch. Sie ist oft der einzige Ausweg aus einer Situation, in der die Lebensplanung und das persönliche Glück von Frauen auf dem Spiel stehen. ({6}) Jede Frau hat das Recht abzutreiben, wenn eine Notlage sie dazu zwingt ({7}) oder wenn sie aus anderen Gründen eine Schwangerschaft nicht fortsetzen will. Jede Frau hat das Recht dazu! ({8}) Der Vorgang der Abtreibung ist für jede Frau scheußlich genug. Niemand, gar niemand hat das Recht dazu, sie dafür auch noch zu bestrafen. ({9}) Es ist richtig, Dr. Theissen hat auch Rechtsbrüche begangen. Er hat Frauen den demütigenden Instanzenweg erspart. Er hat vermieden, sie der gesellschaftlichen Ächtung auszusetzen, indem er die Abtreibungen ambulant in seiner Praxis durchgeführt hat. ({10}) Gerade dafür verdient er aber unsere Solidarität: moralisch, politisch und angesichts des durch den Prozeß entstandenen wirtschaftlichen Ruins natürlich auch finanziell. Ein Gesetz, das die strafrechtliche Verfolgung eines Verhaltens wie das des Dr. Theissen ermöglicht, ist selber unmoralisch und muß deshalb abgeschafft werden. ({11}) Denn eines darf bei aller Empörung über den speziellen Prozeß in Memmingen nicht vergessen werden: Ermöglicht wurde den bayerischen Richtern ihr elendes Treiben durch den immer noch bestehenden § 218. Wer den § 218 nicht angreifen will, der sollte sich über Memmingen nicht aufregen. Das sage ich an Ihre Adresse, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD. ({12}) In Memmingen wurde ein Urteil gesprochen, das viel Leid und viel Unglück verursachen wird. Gleichzeitig wächst aber der gesellschaftliche Widerstand. Die Selbstbezichtigungskampagne im „Stern" war ein guter Anfang dafür. ({13}) Aber sie reicht nicht aus. Der Statistik zufolge hat bereits jede dritte Frau abgetrieben. Abtreibung ist Realität. Es ist zwar keine schöne Realität, aber wir müssen uns mit dieser Realität auseinandersetzen. ({14}) Deswegen müssen noch viel mehr Selbstbezichtigungsanzeigen erscheinen, nicht nur in einer überregionalen Zeitung, ({15}) sondern auch auf regionaler und lokaler Ebene. Frauen, die vor dem Problem stehen, muß mitgeteilt werden, daß sie nicht alleine sind und daß es nicht verwerflich ist, sich für eine Abtreibung zu entscheiden. Nur so kann die gesellschaftliche Kraft entfaltet werden, um die konservativen Heuchler zum Teufel zu jagen, ({16}) die nichts dabei finden, Frauen im Namen des ungeborenen Lebens dazu zu zwingen, ihr Leben Kurpfuschern und Engelmachern auszuliefern. ({17}) Der § 218 muß endlich abgeschafft werden. Das ist der einzige Ausweg aus dieser Misere. ({18})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin, den Ausdruck „Schauprozeß" weise ich nachdrücklich zurück, denn dies ist nicht mit einer rechtsstaatlich verfaßten Rechtsordnung in Einklang zu bringen. ({0}) Es ist eine ganz andere Frage, wie wir dem Problem des Abbruchs menschlichen Lebens gerecht werden. Ich denke, das ist hier heute morgen ein Ort der Auseinandersetzung. ({1}) - Ich rufe Sie zur Ordnung, Frau Abgeordnete Unruh. ({2}) Das Wort hat Abgeordneter Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Prozeß von Memmingen hat die Gemüter erregt. Den Schlachtruf vom „Hexenprozeß" haben wir schon während des Verfahrens und vor allen Dingen nach dem Urteil vernommen. Dieser Schlachtruf trifft in einer paradoxen Weise den Kern der Sache, denn wir erleben eine noch nie dagewesene, eine geradezu exemplarische Hexenverfolgung eines freien deutschen Gerichts. ({0}) Staatsanwälten und Richtern wird vorgeworfen, sie würden gegen Gesetz und Recht, nur nach eigenem Gutdünken oder nach politischer Anweisung handeln. ({1}) Dabei besteht überhaupt kein Zweifel daran, daß Ausgangspunkt die Steuerbehörden waren, die einen Steuerbetrug aufgedeckt haben und dabei auch aufgedeckt haben, daß weitere strafbare Handlungen vorliegen. ({2}) Es besteht auch kein Zweifel daran, daß die Steuerbehörden verpflichtet waren, diese weiteren strafbaren Handlungen der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. ({3}) Die Staatsanwaltschaft war auf Grund des Legalitätsprinzips - eines Verfassungsprinzips, das nicht nur in Bayern Geltung hat, sondern in der gesamten Bundesrepublik Deutschland Geltung haben muß ({4}) verpflichtet, wollte sie sich nicht wegen Strafvereitelung im Amt selbst strafbar machen, ({5}) diesem Hinweis nachzugehen und Ermittlungen aufzunehmen. ({6}) Es blieb ihr keine andere Wahl. Das ist die Wirklichkeit. ({7}) Deshalb wurden nach den Regeln der Strafprozeßordnung 1 400 Karteikarten beschlagnahmt. Aber in über 1 000 Fällen hat die Staatsanwaltschaft von vornherein gar kein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Herr Theissen wurde in 156 Fällen wegen einer Tötungshandlung gemäß § 218 des Strafgesetzbuchs angeklagt. Das Gericht hat das Verfahren im Laufe des Prozesses in 76 Fällen eingestellt, und es hat in 79 Fällen verurteilt, und zwar in 36 Fällen wegen einer Tötungshandlung gemäß § 218, in vier Fällen wegen einer versuchten Tötungshandlung gemäß § 218 und in den weiteren Fällen wegen eines Verstoßes gegen § 218b und § 219. Das ist zunächst einmal das Faktum. Nun haben die Richter und die Staatsanwälte doch zweifellos nach Bundesrecht gehandelt, und zwar nach Bundesrecht, das in der Zeit der sozialliberalen Koalition unter Führung der SPD geschaffen wurde. Es ist mehr als bedauerlich, daß sich heute weite Kreise der SPD von diesem Gesetz distanzieren wollen. ({8}) Die Staatsanwälte und die Richter haben sich nach Bundesrecht gerichtet. ({9}) Wie der Prozeß nun tatsächlich ausgehen wird, ob das Urteil Bestand haben wird, vermögen wir heute noch nicht zu sagen. ({10}) Niemand von uns kann das sagen. Uns liegt nicht einmal die schriftliche Urteilsausfertigung vor. Gegen das Urteil ist Revision eingelegt worden. Wir sollten soviel Achtung vor unserer Verfassung, die in diesen Tagen ihr 40jähriges Jubiläum feiert, haben, daß wir dem Revisionsgericht nicht Vorschriften machen, wie es das Urteil von Memmingen zu werten hat. ({11}) Diese Mahnung geht auch an die Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages. ({12}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, die These der Verteidigung, der sich der Oppositionsführer angeschlossen hat, kann aber nicht richtig sein, ({13}) nämlich daß das Gericht gar nicht in der Lage gewesen sei, nachzuprüfen, ob ein Fall der sozialen Indikation, der schweren Notlage, vorliegt. Wäre das richtig, dann hätten wir de facto einen rechtsfreien Raum, dann hätten wir de facto die Fristenlösung, die das Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt hat. Unsere Rechtsordnung kann es sich gar nicht erlauben, das Recht auf Leben zu privatisieren. ({14}) Unsere Rechtsordnung muß, will sie sich nicht selbst aushebeln, auch das Recht des noch nicht geborenen Kindes auf Leben schützen. ({15}) Unsere Rechtsordnung ist verpflichtet, es dem Arzt und der Schwangeren nicht allein zu überlassen, ob ein Kind ein Recht auf Leben hat. ({16}) Für das Kind, das sich noch nicht selbst wehren kann, das noch nicht selbst um sein Leben kämpfen kann, muß die Rechtsordnung eintreten. ({17}) Das Recht ist für den Schwachen da, und es ist für den Schwächsten da. ({18}) Es ist auch für das noch nicht geborene Leben da; dazu ist das Recht da. ({19}) Das zeichnet ein humanes Recht aus: daß es für den Schwachen, für den Schwächsten der Gesellschaft da ist. ({20}) Meine sehr verehrten Damen und Herren, deswegen muß sich jede Schwangere und muß sich der Arzt, der das noch nicht geborene Kind tötet, vor der Rechtsordnung verantworten, und diese Verantwortung muß nachprüfbar sein, sonst hätten wir keinen Rechtsschutz mehr. ({21}) Deswegen ist die These „Helfen statt strafen" genauso falsch wie gedankenlos. In einer humanen Gesellschaft mit einer humanen Rechtsordnung hat beides zu gelten: Hilfe und Schutz. Der Staat muß helfen, wo er kann, und er muß sich schützend vor das Leben stellen.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter Geis, Ihre Redezeit ist abgelaufen. ({0})

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt.

Renate Schmidt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002016, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Die bisherige Diskussion ist eine Diskussion, die dem Thema nicht angemessen ist, weil es eines der sensibelsten Themen ist, die wir kennen. Dieses Thema verträgt keine schrillen Töne, und dieses Thema verträgt keine Auseinandersetzungen, wie Sie, Herr Geis, sie hier zu führen beabsichtigen. ({0}) Dennoch sage ich: Der Memminger Prozeß ist zu einem Synonym für Anmaßung, für Heuchelei und für Ignoranz geworden, ({1}) Ignoranz deshalb, weil Staatsanwälte und Richter die Einmaligkeit eines Schwangerschaftskonfliktes, die Tatsache der untrennbaren Verbundenheit von zwei Leben und die daraus resultierende Konfliktsituation nicht zur Kenntnis nehmen wollten, Ignoranz deshalb, weil sich Staatsanwälte und Richter über alle Gutachter und Gutachterinnen von „Pro Familia" bis zum Sozialdienst katholischer Frauen hinweggesetzt haben. ({2}) - Ich sage „die Gutachter", Herr Hoffacker. Hören Sie mir bitte zu! ({3}) Diese haben alle gesagt, daß sich keine Frau gewissenlos und leichtherzig zu einem Abbruch entschließt. ({4}) Sie haben alle gesagt, daß eine Notlage in einem Schwangerschaftskonflikt nicht mit der Elle nachmeßbar ist, ({5}) sondern subjektiv als unlösbar empfunden wird. Sie haben alle gesagt, daß nur ein kleiner Prozentsatz der Notlagen materielle Notlagen und von außen vielleicht lösbar sind, der weitaus größere Teil aber im psychosozialen Bereich liegt und vielfältige Gründe hat. Zuversicht, Lebensoptimismus, Zuneigung und Liebe des Partners, Vertrauen in die eigene Kraft, ein Kind vielleicht großziehen zu können, und zwar alleine, und dies vielleicht auch noch in einer bigotten Umwelt - all das ist nicht zu verordnen, auch nicht von Memminger Richtern. ({6}) Deshalb ist dieser Prozeß auch ein Prozeß der Heuchelei gewesen, ({7}) indem z. B. unterstellt wurde, daß die Abschaffung eines Autos und die Anschaffung eines Kindes - ich zitiere jetzt - eine Alternative sei. Menschen, die solche Fragen stellen und darin Konfliktlösungsmöglichkeiten sehen, Menschen, die darauf Urteile aufbauen, kennen entweder das Leben nicht und verstehen nicht, was es bedeutet, Mutter zu sein, oder wollen es nicht verstehen oder benutzen diesen Prozeß zu persönlichen Vergangenheitsbewältigungen - wie dieser unsägliche, sich als Großinquisitor aufspielende Richter Ott. ({8}) An dieser Stelle ist übrigens zu fragen, Herr Geis, ob auch hier mit gleichem Maßstab gemessen worden ist und ob gegen diesen Herrn ebenfalls - wie gegen einige Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus - Ermittlungen eingeleitet worden sind. ({9}) Es war ein Prozeß der männlichen Anmaßung, der Anmaßung, in das sensible Verhältnis zwischen Arzt und Patientin einfach eindringen zu dürfen, der Anmaßung, intimste persönliche Angelegenheiten, angefangen von Partnerschaftskonflikten bis zu Krankheitsgeschichten, in die Öffentlichkeit zerren zu dürfen, ({10}) der Anmaßung, Jahre danach feststellen zu können, ob eine individuelle soziale Notlage gegeben war, und sich an die Stelle des Arztes zu setzen, um die Indikation festzustellen, die Anmaßung, zu glauben, mit diesem Urteil den Willen des Gesetzgebers korrigieren zu können. Wir alle hier wollten Hilfe statt Strafe. In Memmingen hieß es: Strafe statt Hilfe. Wir alle wußten: Wir können keinen Katalog von Wechselfällen des menschlichen Lebens aufstellen. Dort wurde ein Katalog aufgestellt. Das Urteil geht in die Revision. Bliebe es bestehen, führte es zu einem Bruch des Vertrauens zwischen Arzt und Patientinnen, zwischen Beraterinnen und Frauen in Schwangerschaftskonflikten; Frauen und Ärzte würden in die Illegalität getrieben. ({11}) Es geht denen, die das so wollen, nicht darum, Leben zu schützen, sondern darum, eigene Moralvorstellungen durchzusetzen. ({12}) Frau Schmidt ({13}) Ich weiß von mir, daß für mich ein Schwangerschaftsabbruch nicht in Frage kommt. Genauso weiß ich, daß dies kein Maßstab für andere Menschen ist. ({14}) Das Strafgesetz darf nicht dazu dienen, persönliche Moralvorstellungen durchzusetzen. Wir gehen davon aus, daß dieses Urteil nicht haltbar sein wird. Wir fordern Sie auf, endlich Klarheit zu schaffen, ob und, wenn ja, welches Beratungsgesetz kommen soll. Das nun eineinhalb Jahre währende Gezerre zwischen allen Beteiligten schafft genauso Rechtsunsicherheit wie das Memminger Urteil. ({15}) Der in Ihrer Schublade befindliche Entwurf, Frau Professor Lehr, gehört in den Papierkorb. ({16}) Wir wollen zurückkehren. Wir fordern Sie auf: Kehren Sie mit uns zu dem Konzept „Hilfe statt Strafe" zurück! ({17})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Zeichen stehen auf Sturm nach dem Prozeß in Memmingen, und jeder verarbeitet das Gehörte auf seine Weise. Die Gefühle der Ohnmacht, der Hilflosigkeit, der Trauer und des Unverständnisses, ja, der Ratlosigkeit haben ihren Ausdruck in Kommentaren zum Verlauf des Prozesses gefunden. Mich bewegen in diesem Zusammenhang folgende Überlegungen. Was hat das Bundesverfassungsgericht 1975 gewollt, als es die Fristenregelung verworfen hat? Ich gehe davon aus, daß sich die Verfassungsrichter 1975 des Themas „Schwangerschaftsabbruch" mit großer Sensibilität angenommen haben. Deshalb ist es bedeutsam, was in den Begründungen des Minderheitsvotums und des Mehrheitsvotums an Überlegungen zu finden ist. So kam die Mehrheit der Verfassungsrichter bei der Beurteilung der Frage, inwieweit das ungeborene Leben durch Strafandrohung geschützt werden könne, zu dem Schluß, daß Strafe niemals Selbstzweck sein könne und daß der Gesetzgeber nur im äußersten Falle verpflichtet sei, zum Schutz des sich entwickelnden Lebens das Mittel des Strafrechts einzusetzen. Somit stelle die Strafnorm gewissermaßen die Ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers dar, und nach dem rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit dürfe der Gesetzgeber von diesem Mittel nur - wörtlich - behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen. Wurde in diesem Sinne in Memmingen bei den Frauen verfahren? Hat sich das Gericht eines behutsamen und zurückhaltenden Vorgehens bedient? Ich habe mich in den vergangenen Jahren intensiv mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil befaßt. Meiner Meinung nach hatten die Verfassungsrichter sehr wohl erkannt, in welchem Dilemma sie sich bei der Abwägung zwischen Beibehalten der Strafbewehrung, Verwerfen der Fristenlösung und Einführung der Indikationsregelung mit vorgeschalteter Zwangsberatung befanden, und sie haben deshalb meines Erachtens absichtlich keine Kriterien zur Bestimmung einer sozialen Notlage festgelegt, sondern dies in die Beurteilungsfähigkeit von Ärztinnen und Ärzten und Beraterinnen und Beratern gelegt. ({0}) Nachdem jedoch das Gericht in Memmingen festgestellt hat, daß vom Gesetzgeber eine Abtreibung „zwar der ärztlichen Erkenntnis anheimgestellt sei, daß dies aber nicht eine Ermächtigung für eigenständiges Handeln darstelle" , sondern nur als ein gewisser Spielraum zu gelten habe und daß es darüber hinaus - so die Auffassung des Gerichts - eine große Grauzone gebe, die ein Einfallstor für mißbräuchliche Schwangerschaftsabbrüche bilden könnte, sind unsere Ärzte in der Bundesrepublik in einem unvorstellbaren Maße verunsichert. ({1}) Ich frage mich: Haben die Richter des Bundesverfassungsgerichts 1975 das Eintreffen einer solchen Situation für möglich gehalten? ({2}) Sie werden es nicht glauben, sie haben es. In der Tat finden Sie in der Begründung der Minderheitenmeinung, daß ein wesentlicher Nachteil bei der Indikationenlösung darin gesehen werde, daß es - so wörtlich - als schwierig, wenn nicht gar unmöglich erscheinen könnte, objektivierbare, einheitliche Abgrenzungsmerkmale für die soziale Indikation zu finden. Es heißt weiter, daß voraussichtlich die behördliche Beurteilung darüber, wann die Gefahr einer schwerwiegenden sozialen Notlage vorliege und welche anderen Maßnahmen zur Abwendung dieser Gefahr von der Schwangeren persönlich hinzunehmen seien, regional und nach der persönlichen Einstellung der Gutachter und Richter weit auseinandergehen könnte und daß das Ergebnis - man höre und staune! - eine schwer erträgliche Rechtsunsicherheit und Rechtsungleichheit für die betroffenen Frauen und beteiligten Ärzte darstellen könnte und daß dies als Folge ein Ausweichen in die Illegalität bedeuten würde. - Und so haben wir den Salat heute. ({3}) Diese Unsicherheit für die betroffenen Frauen und die beteiligten Ärzte wurde - Originalton! - für rechtsstaatlich höchst bedenklich gehalten; denn eine Entscheidungsfreiheit für Frauen und Ärzte gibt es doch nur, meine Damen und Herren, wenn die Entscheidung zum Abbruch einer Schwangerschaft auf Grund einer klaren, sicheren und kalkulierbaren Rechtsgrundlage gefällt werden kann. Ich ging bislang davon aus, daß die beiden Ärzte, denen sich eine Frau im Schwangerschaftskonflikt nach unserer bisherigen Rechtslage stellen muß, bereits vom Gesetzgeber installierte Gutachter sind. Wenn diese verantwortungsbewußten Ärzte zu einem Urteil nach Prüfung dieser psychosozialen Konfliktsituation einer schwangeren Frau kommen, dann nehmen sie einen subjektiv psychischen Zustand der schwangeren Frau als Tatbestandsmerkmal für die Erstellung eines Gutachtens. Jetzt stellt sich doch wirklich die Frage, ob es dann angemessen ist, nach Feststellung eines Tatbestandes auf Grund subjektiver Merkmale diese subjektiven Merkmale nach angeblich objektiven Kriterien nachprüfen zu lassen, und ob dann dieses ärztliche Gutachten durch juristischen Sachverstand, durch ein Gericht, nachgeprüft werden kann. Ich denke, daß die Revision zeigen wird, wie wir in Zukunft eine Antwort auf die von mir gestellten Fragen werden finden können und was wir dann hier von seiten des Gesetzgebers zu tun haben. ({4})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Bundesminister der Justiz Engelhard.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Aktuelle Stunde sollte zunächst unter der Überschrift „Auswirkungen des Memminger Urteils auf betroffene Frauen und Ärzte" stehen. Die Bundesregierung sollte gezwungen werden, über das Urteil des Landgerichts Memmingen zu Gericht zu sitzen - ein undenkbarer Vorgang, der erneut das verquere Verfassungsverständnis der GRÜNEN belegt. ({0}) Nunmehr heißt es: „Haltung der Bundesregierung zum § 218 StGB nach dem Memminger Urteil" . Diese verbale Verschleierung kann aber überhaupt nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bundesregierung nach wie vor veranlaßt werden soll, ein laufendes Strafverfahren zu kommentieren ({1}) und, ginge es nach den GRÜNEN, von der Regierungsbank aus zu schelten. ({2}) Dazu kann und darf sich die Bundesregierung und speziell der Bundesminister der Justiz nicht hergeben. ({3}) Das Urteil des Landgerichts Memmingen ist noch nicht rechtskräftig. Die Verteidiger haben angekündigt, Revision einzulegen. Nicht einmal die schriftliche Urteilsbegründung liegt uns zur Zeit vor. ({4}) Keiner der beteiligten Richter wird sich in seinem unbedingten Willen zu einer gerechten Urteilsfindung beeinflussen lassen, wenn das Verfahren fortgesetzt wird. ({5}) Aber als Bundesminister der Justiz muß ich bereits jeden Anschein der Beeinflussung vermeiden. ({6}) Ein Strafverfahren gehört zu den gravierendsten Vorgängen im Rechtsbereich, die einen Bürger treffen können. ({7}) Hier müssen wir an alle Beteiligten des Verfahrens denken. ({8}) Sie haben einen Anspruch auf unsere Zurückhaltung. ({9}) Damit wir uns recht verstehen: Zurückhaltung bedeutet nicht Indifferenz gegenüber den Urteilen, die bei uns gesprochen werden. Die kritische Auseinandersetzung mit einer abgeschlossenen Rechtsprechung gehört durchaus zu den Aufgaben auch der Bundesregierung. Die Bundesregierung hat nach Art. 76 des Grundgesetzes das Recht zur Gesetzesinitiative. ({10}) Dieses Recht kann sie nur dann sachgerecht, sinnvoll, verantwortungsbewußt wahrnehmen, wenn die Auseinandersetzung mit einer in Rechtskraft erwachsenen Rechtsprechung nach gewissenhafter Abwägung die Notwendigkeit einer neuen gesetzlichen Regelung ergeben hat. ({11}) Ich meine dies, was eine Binsenweisheit ist, hier einmal gegenüber Kolleginnen und Kollegen aussprechen zu sollen, die die Vorstellung hatten: Kaum war das Urteil gesprochen, kaum war das, was man in Zeitungen lesen konnte, zur Kenntnis genommen, da bereits sollte man sich in den zuständigen Ministerien darüber Gedanken machen, wie ein neues Gesetz aussehen sollte. Das ist jene Art, Politik zu betreiben, die in sich unseriös ist und sich bei rechter Betrachtung selber richtet. ({12}) Aus dieser grundgesetzlichen Aufgabenzuweisung folgt aber auch, daß jede Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung zur rechten Zeit und in der rechten Form zu erfolgen hat. So wie wir es uns ja als Exekutive, aber speziell auch als Parlament verbitten würden, wenn beispielsweise der Bundesgerichtshof ganz amtlich verlauten ließe, ein im Bundestag zur Beratung anstehender Gesetzentwurf sei höchst bedenklich, ({13}) so hat natürlich die Rechtspflege einen Anspruch auf Wahrung ihrer Autonomie in einem laufenden Verfahren. ({14}) Schwebende, noch nicht rechtskräftig abgeschlossene Verfahren sind jedenfalls für die Bundesregierung kein Gegenstand der rechtspolitischen Diskussion. Die Achtung vor dem Instanzenzug und vor der Rechtsprechung der Obergerichte gebietet größte Zurückhaltung. ({15}) Was nun den Ton der Diskussion angeht, haben die Bundesregierung und auch das Parlament als Ganzes, als Parlament jene lauten Worte zu unterlassen, ({16}) die andere kraft ihrer verbrieften Meinungsäußerungsfreiheit durchaus gebrauchen können. Ich werde jedenfalls, soweit es an mir liegt, ob es Ihnen gefällt oder nicht, ({17}) nicht zulassen, daß über Aktuelle Stunden wie die heutige dieses wohl definierte Verhältnis der Staatsgewalten untergraben wird. ({18}) Auch die GRÜNEN müssen lernen, daß die in Art. 97 des Grundgesetzes verbürgte Unabhängigkeit der Gerichte ({19}) zu den wertvollsten Gütern unseres Rechtstaats gehört. ({20})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Skarpelis-Sperk.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor einer Woche erging „im Namen des Volkes" ein Urteil in Memmingen, dessen Härte die deutsche Öffentlichkeit und Millionen von Frauen geschockt hat. „Im Namen des Volkes" führten Richter Barner und seine Kollegen aber nicht einen üblichen Prozeß gegen Dr. Theissen. Es ging um mehr. Die bayerische Justiz wollte mit der Eröffnung der Anklagen und jetzt mit diesem Urteil ein politisches Signal setzen. Sie wollte in einem in der Justizgeschichte der Bundesrepublik einmaligen Verfahren Frauen einschüchtern und Ärzte abschrekken, ({0}) wenn sie sich in einer schwierigen Konfliktsituation nicht so verhielten, wie es den Wertvorstellungen der Justizministerin entsprach. ({1}) Warum ist es denn dann in anderen Bundesländern zehn Jahre lang anders als jetzt in Memmingen gelaufen? Können Sie mir das erklären? ({2}) Aber schon heute sind die Vorerhebungen und erst recht die Durchführung dieses Prozesses, in denen mehr als 200 Frauen vor Gericht gezerrt wurden, ein Schandfleck in der Geschichte der bayerischen Justiz. ({3}) Wie die Frauen behandelt wurden, wie ihr Intimleben in einer unglaublichen und völlig unnötigen Weise von Staatsanwälten und Richtern an den Pranger gestellt wurde, zeigt, wie sehr der erste Verfassungsartikel: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." ({4}) für die Richtenden zu einer belanglosen Floskel verkommen ist. ({5}) Und das Schlimme ist: Den Richtern und Staatsanwälten sind ihre fehlende Menschlichkeit, die Doppelmoral, ihr inquisitorisches Vorgehen, ihr konservatives Macho-Gehabe gegenüber Frauen noch nicht einmal durch die massive öffentliche Kritik bewußt geworden. ({6}) Wie anders wäre zu erklären, daß sich der Vorsitzende Richter selbst in seiner Urteilsbegründung zu Ausführungen hinreißen ließ, die in ihrem Zynismus und in ihrer Frauenverachtung ein patriarchalisches Weltbild, ({7}) eine Angst vor emanzipierten, selbstbewußten Frauen erkennen lassen, die Jüngere fassungslos machen. ({8}) Im Gerichtssaal, in dem doch über den „Schutz des Lebens im weiblichen Schoß" verhandelt wurde, ertönte: „Wer hat da ein Radio oder Kind dabei? Gehen Sie raus! " ({9}) Mit zuerst Unglauben, dann Entsetzen und zuletzt mit Tränen haben Zuschauerinnen und auch Zuschauer reagiert, ({10}) als systematisch Frauen als „armes Luder" , als „biedere Hausfrau mit geringem Intelligenzgrad", ({11}) als „Unschuld vom Lande, die nicht bis 3 zählen kann", abqualifiziert wurden. ({12}) Junge Staatsanwälte wollten 156 Frauen „antanzen lassen" und entdecken „orientalischen Redeschwall" bei ausländischen Frauen. Ersichtlich wird jedenfalls, daß die Richter an die Stelle der gesetzlich vorgesehenen medizinischen Gutachten ihre Wertvorstellungen setzten. ({13}) Weil Einfühlungsvermögen, Verständnis und Bereitschaft zur persönlichen Zurückhaltung bei der Beurteilung gravierender Konflikte anderer Menschen, insbesondere von Frauen, fehlten, ({14}) wurde die äußere Erscheinungsform der Frauen zum Maßstab. Wirkte die Frau auf Richter Barner und das Kollegium „als zierliches Geschöpf, als hilflos, aufgelöst, fein und sensibel", dann waren die Richter gnädig. Waren die Frauen von Geburt an von gröberem Knochenbau, großgewachsen, vielleicht auch noch „aktiv und vital" ({15}) oder - welch verräterische Wortwahl - „Herr der Lage", so war die Notlage für die Richter einfach nicht glaubhaft. ({16}) Richter Barner hat von einem „erschreckenden Mangel an Unrechtsbewußtsein bei Dr. Theissen, bei den Frauen und bei vielen Politikern" gesprochen. Ihm mißfallen die gegenwärtige Gesetzeslage des § 218 und die Konfliktentscheidungen so vieler Frauen. Persönlich ist das sein gutes Recht. Aber als Richter, meine ich, steht ihm eine moralische Beurteilung dort nicht zu, ({17}) wo selbst nach dem rigiden Urteil des Bundesverfassungsgerichts „keine eindeutige moralische Beurteilung zulässig" ist. ({18}) Richter Barner versuchte nach eigener Aussage mit den Mitteln des Strafrechts das werdende Leben zu schützen, was nicht nur Wissenschaft und Praxis, sondern auch die Gesetzgeber der meisten Länder der Welt für ziemlich aussichtslos halten. Hierin liegt das eigentliche politische Problem dieses Prozesses. Deswegen darf es bei dem Urteil gegen Dr. Theissen nicht bleiben. ({19}) Es geht nicht nur darum, daß ein Arzt, der seinen Patientinnen in schwierigen Notlagen half, nicht zum politischen Sündenbock für die fehlenden Mehrheiten der CSU und Minderheiten der CDU gemacht werden darf. ({20})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Frau Abgeordnete Skarpelis-Sperk, Sie müssen zum Ende kommen.

Dr. Sigrid Skarpelis-Sperk (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002183, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Es geht auch darum, daß die Moral- und Wertvorstellungen einer kleinen Minderheit nicht „im Namen des Volkes" einer überwältigenden Mehrheit aufgezwungen werden dürfen, ({0}) daß die bescheidene Reform des § 218 nicht gegen die Minderheit dieses Hauses über die Hintertür von Richtersprüchen abgeschafft werden darf. ({1})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Darf ich nochmals von hier oben sagen: Bei aller Betroffenheit, achten wir darauf, daß wir die Gewaltenteilung beachten, damit wir uns nicht von hier aus ins Unrecht setzen! ({0}) Frau Abgeordnete Limbach hat das Wort.

Editha Limbach (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001342, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin eigentlich ein wenig erschrocken, wie in dieser Diskussion um die Achtung vor dem menschlichen Leben von Anfang an - denn darum geht es ja - leichtfertig, unsensibel, Frau Schmidt, wenn auch mit sanfter Stimme, ({0}) mit dieser so wichtigen Frage umgegangen wird. ({1}) Sie unterscheiden nämlich - und das ist Ihr Fehler; das habe ich Ihnen leider schon in einer anderen Diskussion sagen müssen - zwischen verschiedener Qualität von Leben. ({2}) - Doch. Sie sagen: Das Leben der Mutter hat immer Vorrang. Wir sagen: Das Leben der Mutter kann vor dem Leben des Kindes keinen Vorrang haben, es sei denn, es gibt` solche Konflikte, die nicht mehr lösbar sind. ({3}) - Doch, Sie sagen das. Sie sprechen immer nur davon, daß die Mutter darüber entscheiden muß, ob sie ein Kind bekommt oder nicht. ({4}) - Doch. Sie sprechen pausenlos für die Fristenlösung, Herr Jahn. ({5}) Was anderes ist denn die Fristenlösung als die alleinige Entscheidung der Mutter über das Leben? Ich gebe Ihnen ja zu: Niemand anders als eine schwangere Frau kommt in diesen Konflikt. Aber es gibt kein sozial weniger wertvolles Leben, weil es noch nicht geboren ist. ({6}) - Ich lehne die eugenische Indikation ab, wenn Sie das wissen wollen. Ich lehne sie ab. ({7}) Wenn wir sagen, das werdende Kind, das Leben, das noch nicht geboren ist, muß dem Leben der Mutter weichen, warum sagen wir dann nicht auch, die Pflege eines unerträglich schwer belasteten Menschen muß weichen für das Leben desjenigen, der pflegt? Das ist in letzter Konsequenz das, was Sie gesagt haben. ({8}) Sie haben davon abgelenkt, daß es bei den Gerichtsverfahren immerhin darum ging, die notwendige Verfolgung einer strafbaren Handlung vorzunehmen. Sie lenken davon ab, daß bei der Abtreibung menschliches Leben vernichtet wird. Was das Allerschlimmste ist: Sie lenken davon ab, wie unmenschlich es ist, einer schwangeren Frau als einzigen Ausweg aus einem Konflikt die Abtreibung zu weisen. Das halte ich für das Allerschlimmste. ({9}) Auch die Mutter in einer schwierigen Lage weiß doch, daß menschliches Leben grundsätzlich nicht zur Disposition steht. Nur dann, wenn alle anderen Möglichkeiten ausscheiden, wenn es keine andere zumutbare Lösung gibt, wird die Entscheidung zu einer achtenswerten Gewissensentscheidung, wie das Verf assungsgericht es formuliert hat. Wenn das so ist, dann ist es unabdingbar, daß wir bei allem Respekt vor der Gewissensentscheidung der Frau, die ihr auch niemand abnehmen kann - das ist richtig - , alle Möglichkeiten anbieten und auch ausschöpfen müssen, um durch Aufklärung, Beratung, alle Hilfen - ({10}) - Frau Unruh, wissen Sie, wenn Ihre Bemerkungen nicht so albern wären, könnte man darauf ja eingehen. Ich finde es ausgesprochen unangemessen, wenn man über den Schutz des Lebens und die schwere Konfliktlage von Frauen redet, daß Sie solche - ich hätte fast etwas gesagt, was ich nicht sagen darf - Bemerkungen machen. ({11}) Bei allem Respekt vor der Gewissensentscheidung der Frau müssen wir ihr helfen. Wir müssen alle Möglichkeiten anbieten - Aufklärung, Beratung, konkrete Hilfen - , um ihr zu helfen, die verletzlichste Form menschlichen Lebens, nämlich das ungeborene Leben, zu schützen. ({12}) Ich bin schon der Meinung, daß es auf die Hilfe ankommt. Die Hilfe darf aber nicht darin bestehen, daß wir sagen: Treibt doch ab! Bei manchen bin ich der Meinung, daß das die einfachste Hilfe ist, die aber in Wirklichkeit keine Hilfe ist. ({13}) Ich möchte noch eine andere Bemerkung machen. Ich glaube, daß durch die fast schon zur Polemik verkommene Überbetonung der Schwierigkeiten und Einschränkungen, die die Geburt eines Kindes für eine Frau bedeuten kann, ganz übersehen wird, daß die Geburt eines Kindes auch Freude und Glück bedeutet. ({14}) Leben mit Kindern ist sicher oft schwierig und manchmal auch sehr anstrengend, aber immer auch ein Gewinn und eine Freude. Unsere Haltung zu § 218 kann nur sein: Abtreibung verhindern, Leben schützen, in Konflikten helfen, und zwar dauerhaft, und gemeinsam weiterarbeiten für eine Gemeinschaft, in der Kinder willkommen sind. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin, ich bestehe darauf, daß es ein Schauprozeß war, dessen Funktion es war zu diffamieren und einzuschüchtern. Darauf bestehe ich. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Dann muß ich Sie bei dieser Redeweise erneut zur Ordnung rufen.

Jutta Oesterle-Schwerin (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001637, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Okay. Ich mache weiter. Nicht die Abtreibungsgegner, sondern die Frauen sind es, die Leben schaffen und Leben schützen. Frauen haben die Verantwortung für Kinder zu tragen, mehr als 18 Jahre lang für jedes Kind. Deswegen können auch nur Frauen darüber entscheiden, ob sie die Verantwortung übernehmen können oder nicht. ({0}) Die Sorge der konservativen Lebensschützer hört schlagartig in dem Moment auf, in dem ein Kind das Licht der Welt erblickt. ({1}) Die Tatsache, daß es vielen Kindern am Platz zum Spielen fehlt, daß es vielen Kindern an gesunder Ernährung und an sauberer Luft fehlt, macht Ihnen überhaupt keine schlaflosen Nächte. ({2}) Kein Aufschrei geht durch Ihre Reihen darüber, daß Kinder an Pseudokrupp erkranken oder sogar sterben. Das beunruhigt Sie überhaupt nicht. ({3}) Ihnen geht es nicht darum, Herr Werner, was für ein Leben Sie den Kindern bieten, ({4}) deren Geburt Sie erzwingen. ({5}) Ihnen geht es nur um die Masse, Ihnen geht es darum, daß es möglichst viele deutsche Babys gibt. ({6}) Das macht Ihre Politik so frauenfeindlich und so kinderfeindlich. ({7}) Gestern hat mich ein Arzt aus Hessen angerufen und mir erzählt, daß sich die Ärzte bereits jetzt überlegen, nach Holland zu ziehen. ({8}) Wissen Sie, was das für die Frauen bedeutet, die nicht in der Lage sein werden, diesen Ärzten nachzureisen? ({9}) Jetzt überlegen Sie sich doch einmal, was Sie mit diesem Paragraphen, mit diesem Urteil und mit dieser Politik anrichten! ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Es fällt doch etwas schwer, zu glauben, daß Sie sowohl um die Frauen als auch um die Kinder in so großer Sorge sind, wie Sie es betonen, wenn Sie sich bei Ihrem Kampf solcher Mittel bedienen, von denen hier soeben wieder zu hören war. ({0}) Sie machen es dadurch ausdrücklich schwer, in dieser wichtigen Sache zu der Gemeinsamkeit zu kommen, die wir doch immer wieder zu erreichen versucht haben. ({1}) Ich bedaure zutiefst, daß die vom Bundesjustizminister dargestellten Grundsätze - die ich teile, die wohl die Mehrheit von uns teilt - es uns verbieten, zu einer Reihe von höchst seltsamen Begleiterscheinungen ausgerechnet des Verfahrens in Memmingen hier mit der nötigen Klarheit und Deutlichkeit Stellung zu nehmen. ({2}) Nach Rechtskraft dieses Urteils werden wir auch die Art und Weise dieses Verfahrens in die Überlegungen im einzelnen mit einzubeziehen und zu überlegen haben, welche Herausforderungen sich der Gesetzgebung unter Umständen erneut stellen. ({3}) Nun ist es ja nicht so, daß wir mit den Problemen erst seit gestern und vorgestern befaßt wären, nicht etwa, weil wir geglaubt haben, daß die Frauen - noch dazu willkürlich - über das werdende Leben verfügen sollten, sondern weil wir davon ausgehen, daß jede Frau ganz schwere Gewissensentscheidungen mit sich auszumachen hat. Darum, wegen der erkennbaren Schwierigkeit, solche Entscheidungen von dritter Kleinert ({4}) Seite aus nachzuvollziehen, sind wir seinerzeit in der sozialliberalen Koalition zur Fristenlösung gekommen - nicht um Willkür zu ermöglichen, sondern wegen der vorhersehbaren Schwierigkeiten, diesen Entscheidungsvorgang nachzuvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht ist uns in der bekannten Entscheidung auf diesem Wege nicht gefolgt. Deshalb haben wir die Rechtslage, die nun einmal bekannt ist. Bei dieser Rechtslage muß man allerdings - das sage ich ganz abstrakt - davon ausgehen dürfen, daß natürlich - es ist schon gesagt worden - mit äußerster Behutsamkeit vorgegangen wird, daß natürlich auf alle Verfahrensbeteiligten, in erster Linie aber auf die, die am schwersten getroffen sind, die in dieser Sache viel mehr Opfer als Täter sind, nämlich die Frauen, ({5}) Rücksicht genommen wird. ({6}) Dies ist aber auch ein sehr allgemeiner Grundsatz. Wir haben vor nicht allzu langer Zeit hier ein Opferschutzgesetz verabschiedet. Wir haben versucht, ausdrücklich zusätzliche gesetzgeberische Hinweise zu geben, wie wir wünschen, daß unsere Gerichte mit Opfern und Zeugen umgehen, obwohl sich dies schon von allein verstehen sollte und obwohl sich - das muß man ja auch sagen - die allermeisten Richter auch entsprechend verhalten und dabei sehr viel Mühe und Sorgfalt aufwenden. Bloß scheint es so zu sein, als ob einzelne doch noch etwas deutlichere Hinweise in unseren Verfahrensgesetzen benötigen, so wie wir sie teilweise schon gegeben haben. Darüber wird weiter zu sprechen sein. ({7}) Es ist im übrigen ein großer Jammer, daß die bayerischen Wähler die Verdienste unserer bayerischen Parteifreunde nicht richtig einzuschätzen wußten und wir deshalb nicht im Bayerischen Landtag vertreten sind, ({8}) denn der Bayerische Landtag wäre zweifellos der Ort, um ebenfalls nach Rechtskraft des hier in Rede stehenden Verfahrens sehr sorgfältig eine Reihe von Zusammenhängen im Hinblick auf den Gebrauch von etwaigen Weisungsrechten, ({9}) im Hinblick auf die Art und Weise, wie ein solches Verfahren auch von seiten der Staatsanwaltschaft betrieben werden sollte oder nicht, um nichts anderem als der behutsamen Anwendung, allerdings auch respektvollen Anwendung des geltenden Rechts zu dienen, um dieses etwas genauer aufzuklären. Aber vielleicht finden sich auch noch andere, bevor wir wieder in den Bayerischen Landtag einziehen werden. Danke schön. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit, Frau Professor Lehr.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Viele der Reaktionen auf das Urteil von Memmingen in der Öffentlichkeit zeigen, daß eine weit verbreitete Unkenntnis des geltenden Rechts besteht, ({0}) welches während der Regierungszeit der SPD Mitte der 70er Jahre entstanden ist. Die Bundesregierung will, daß das geltende Recht eingehalten wird. Die Bundesregierung hält zugleich an der von den Regierungsparteien in ihren Koalitionsvereinbarungen für die 11. Legislaturperiode getroffenen Absprache fest, daß die strafrechtlichen Abtreibungsregelungen unverändert bleiben sollen. Die Bundesregierung ist jedoch der Auffassung, daß das Strafrecht allein keine Lösung des Problems der Schwangerschaftsabbrüche ermöglichen kann. ({1}) Eines der zentralen Vorhaben in diesem Zusammenhang ist das Beratungsgesetz. ({2}) - Einen Moment bitte! In einem Entschließungsantrag von SPD und FDP aus dem Jahre 1974 heißt es - ich zitiere -: In vielen Fällen, in denen die Fortsetzung der Schwangerschaft durch eine persönliche oder soziale Notlage der Schwangeren bedroht ist, wird das Leben des Ungeborenen durch eine einfühlsame und helfende Beratung erhalten werden können. Damit rückt die Beratung in den Mittelpunkt der insgesamt auf Lebensschutz gerichteten Maßnahmen. ({3}) Dies kann ich nur unterstreichen. ({4}) Es muß den Frauen geholfen werden, zumal viele Frauen nach einem Abbruch zum Teil unter sehr schweren psychischen Folgen leiden. Nach einer Befragung der Universitätsfrauenklinik Würzburg sind es etwa 80 %. ({5}) Den Frauen in einem Schwangerschaftskonflikt müssen alle für sie und ihr Kind bestehenden Hilfen aufgezeigt werden. Einige Verbesserungen für die Situation von Familien, aber auch gerade für Alleinerziehende mit Kindern haben wir gestern in erster Lesung behandelt, die Verlängerung von Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub sowie eine Erhöhung des Kindergelds für das zweite Kind. ({6}) Eine Reihe weiterer Maßnahmen, und die Verbesserung mannigfacher Rahmenbedingungen, sind notwendig. An dieser Stelle kann ich nicht alle im einzelnen aufzählen. ({7}) Ich möchte jedoch besonders darauf hinweisen, daß eine verbesserte Sexualaufklärung erfolgen muß, ({8}) damit ungewollte Schwangerschaften erst gar nicht entstehen. Dazu wurden bereits Maßnahmen durch die Bundesregierung ergriffen. Gerade in den letzten Tagen wurde z. B. ein Begleitbuch zur Filmreihe „Der Liebe auf der Spur" in die Buchhandlungen ausgeliefert. ({9}) Es ist für Jugendliche, für ihre Eltern, für die außerschulische Jugendarbeit und für Lehrer gedacht. ({10}) Ich meine, daß wir, die wir Kinder in diesem Alter haben oder hatten, eine besondere Verantwortung besitzen, die leider allzu häufig nicht wahrgenommen wird. Wir müssen auch dafür Sorge tragen, daß neben den vielen von dieser Bundesregierung stark ausgebauten familienpolitischen Leistungen unsere Gesellschaft insgesamt zu einer kinderfreundlichen Gesellschaft wird. ({11}) Denn eine kinderfreundliche Gesellschaft ist auch eine frauenfreundliche Gesellschaft, und eine solche ist eine humane Gesellschaft. ({12}) Wir müssen uns klar machen: Tatsache ist doch, daß trotz aller Probleme Kinder Freude machen und Kinder unser Leben bereichern. ({13}) Ich fordere uns alle auf, uns für eine kinderfreundliche Gesellschaft einzusetzen, und ich appelliere besonders an die Männer und ihr Verantwortungsgefühl. Denn es darf auch nicht sein, daß eine Debatte über Schwangerschaft und Abtreibung eine reine Frauendebatte ist. Männer sind nämlich - das wissen wir - an der Schwangerschaft beteiligt. ({14}) Sie dürfen deshalb nicht die Verantwortung allein auf die Frauen abschieben. Männer und Frauen müssen vielmehr die Verantwortung in echter Partnerschaft gemeinsam tragen. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Singer.

Johannes Singer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002181, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auf dem Deutschen Anwaltstag, der in der vergangenen Woche zu Ende gegangen ist, hat der Präsident des Bundesverwaltungsgerichts, Professor Dr. Sendler, erklärt, es gebe einen allgemeinen Werteverfall in unserem Land. Er hat die Schuld hierfür den Politikern gegeben. Nach dem, was in Memmingen in der vergangenen Woche zu Ende gegangen ist, frage ich mich allerdings, wie weit gerade durch solche Strafverfahren ({0}) und gerade von denen, die zur Durchsetzung von Recht und Gesetz berufen sind, die Akzeptanz unserer Rechtsordnung in Frage gestellt wird. ({1}) In Memmingen, meine Damen und Herren, hat sich die deutsche Justiz von einer ausgesprochen häßlichen Seite gezeigt. Ob das Urteil gegen den Frauenarzt Dr. Theissen dem materiellen Recht entspricht und ohne gravierenden Verfahrensfehler zustande gekommen ist, wird der Bundesgerichtshof zu entscheiden haben. Jeder, der diese Verhandlung nicht von Anfang bis Ende miterlebt hat und der die Akten nicht kennt, wird sich mit einem fundierten Urteil schwertun. Kritik jedoch verdienen die geradezu abstoßenden Begleitumstände und die Art und Weise, in der das Verfahren betrieben worden ist. ({2}) Was soll man denn davon halten, wenn eine Zeugin von einer medizinischen Indikation, einer Indikation, die also auch schon vor der Reform des § 218 zum Schwangerschaftsabbruch berechtigte, im Prozeß berichtet und dabei erklärt, daß die Ärztin im Krankenhaus nach der dritten Geburt, die durch Kaiserschnitt erfolgt war, ihr, der Zeugin, erklärt hat, sie müsse bei einer erneuten Schwangerschaft damit rechnen, daß sie sterben könnte. Das wird dann von dem Staatsanwalt hämisch-zynisch kommentiert, indem er die Worte „könnte, könnte" wiederholt. Ich muß sagen, der Kollege muß das Gemüt eines Fleischerhundes haben. ({3}) Ich halte es auch für bezeichnend, daß im Plädoyer der Staatsanwaltschaft ständig der Begriff der Zeugin mit dem Begriff der Angeklagten verwechselt worden ist. ({4}) Auch das ist mehr als nur ein Versprecher. Mich hat die eifernde und geifernde Art, in der das Urteil begründet worden ist, abgestoßen. Das war unnötig. ({5}) Juristen, gerade als Richter und Staatsanwälte, müssen es ertragen, daß sie kritisiert werden. Die dritte Gewalt hat da keine andere Rolle zu spielen als die erste und die zweite. ({6}) Ich würde hier jeden Kollegen vor ungerechtfertigter Kritik in Schutz nehmen. Aber die Strafprozeßordnung schreibt dem Staatsanwalt vor, daß er dem Gericht bei der Wahrheitsfindung behilflich zu sein hat. Sie schreibt ihm nicht vor, daß er hämisch und zynisch Zeuginnen und Angeklagte herabwürdigen und verspotten darf. ({7}) Nach der Reform des § 218 ist es doch über Jahre hinweg recht ruhig um den § 218 gewesen. Es hat kaum Verfahen gegeben, und spektakuläre schon gar nicht. Deswegen kann es doch kein Zufall sein, wenn jetzt, nach so langer Zeit, plötzlich in Bayern ein so spektakulärer Prozeß angefangen wird, wobei die Justiz die vielen Gestaltungsmöglichkeiten, so etwas auch taktvoll und sensibel und ohne übertriebenes Öffentlichkeitsspektakel abzuwickeln, offenbar nicht genutzt hat. Wie soll denn einer verstehen, daß der Begriff der ärztlichen Erkenntnis von den Gutachtern so beantwortet wird, daß sie dazu nichts sagen können, sondern sagen: Das ist eine subjektive Entscheidung, da muß man die Entscheidung des Arztes weitgehend respektieren, die kann man richterlich nicht so einfach nachvollziehen? Die Gutachter haben da dem Gericht recht wenig geholfen. Anstatt den Satz „Im Zweifel für den Angeklagten" zu nutzen und bei der Auslegung und bei der Beurteilung an die für den Angeklagten günstigste Entscheidung zu denken, wird genau das Gegenteil getan. Es wird so getan, als könne man als Mann hier eine Notlage einer Frau voll verstehen und nachvollziehen. Ich halte das und viele andere Umstände für schwer erträglich. ({8}) Ich kann auch nicht verstehen, daß ein Richter - der zwar während des Prozesses ausgeschieden ist, weil man festgestellt hat, daß er selber an einer Abtreibung beteiligt war ({9}) als Staatsanwalt - das ist etwas in der Berichterstattung untergegangen - selber einen Abtreibungsfall bearbeitet hat, der in engem Zusammenhang mit dem Memminger Verfahren stand. Wieso war eigentlich dieser Richter nicht schon nach § 22 Nr. 4 StPO von Gesetzes wegen ausgeschlossen? Wieso ist der Prozeß nicht von Anfang an wiederholt worden, ({10}) als man das gemerkt hat? Wieso hat man eigentlich alle Fälle, in denen Zeuginnen im jugendlichen Alter waren, abgetrennt? Man hat es getan, um die Zuständigkeit der Jugendkammer wegzukriegen, um gerade die Zuständigkeit dieser Kammer des Landgerichts Memmingen zu begründen. Wieso ist dies eigentlich geschehen? Das sind doch Fragen, die von großem Interesse sind. Ich meine, wir werden uns - da schließe ich mich Herrn Kleinert an - nach der Rechtskraft des Verfahrens sehr intensiv mit dem Urteil und mit der Rechtslage hierzu zu befassen haben. Vielen Dank. ({11})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hüsch.

Dr. Heinz Günther Hüsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000977, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! In einer so gewichtigen Debatte wird man erneut daran erinnern dürfen, daß an Gottes Schöpfung teilzunehmen und als Mann und Frau Leben zu schaffen zum höchsten Lebensglück gehört. Dieses Leben zu schützen - und dazu gehört auch das ungeborene Leben - ist Primat der Ethik und - das sage ich hier erneut - unverbrüchlicher politischer Wille von CDU und CSU. ({0}) Das deutsche Volk hat vor etwa 40 Jahren bei seinem Ja zum Grundgesetz dieser Republik den Schutz des geborenen und des ungeborenen Lebens mit Verfassungsrang ausgestattet. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Schutz gegen alle Angriffe, insbesondere aus den Reihen der SPD bei der Freigabe der Abtreibung in den ersten drei Monaten der Schwangerschaft, rückhaltlos bestätigt. Das bedeutet: Die Tötung ungeborenen Lebens ist ein Verstoß gegen die Rechtsordnung. Sie ist rechtswidrig und strafbar, sofern nicht im Einzelfall und unter engen gesetzlichen Voraussetzungen Ausnahmen bestehen. ({1}) Mit gutem Grund hat der Gesetzgeber bei der Abtreibung aus sozialer Notlage die Beratung als Voraussetzung für die Nichtstrafbarkeit der Tötung festgesetzt. Diese Gesetze gelten für jedermann. Sie gelten auch für den Arzt in Memmingen. ({2}) Die Durchsetzung des Gesetzes sicherzustellen ist Aufgabe der Bundesregierung und der Landesregierungen. Sie liegt aus guten Verfassungsgründen in der Hand der unabhängigen Rechtsprechung. ({3}) In Memmingen haben fünf unabhängige deutsche Richter den angeklagten Arzt in 79 Fällen für schuldig befunden. Man mag zum Verfahren stehen, wie man will: Die Überprüfung dieses Verfahrens ist ebenfalls ausschließlich Sache der unabhängigen Rechtsprechung. Die maßlose Kritik, die namentlich SPD-Abgeordnete und auch GRÜNE gegen das Urteil geäußert haben, ist in dieser Form unbegründet. ({4}) Das gilt auch für das Verfahren. Es ist Verfassungsrecht, daß Strafverfahren öffentlich sind. Es ist ein in vielen Jahren und Jahrhunderten erkämpftes Recht eines jeden Staatsbürgers, daß er nur dann für schuldig befunden wird, wenn seine Schuld bewiesen ist. Das setzt aber Beweisaufnahme und auch Zeugenvernehmungen voraus. Ich will einräumen: Aus den Lehren des Verfahrens von Memmingen wird man, wenn das Urteil rechtskräftig ist, abwägen müssen, ob das Prinzip der Öffentlichkeit bei vergleichbarer ernsthafter Situation vor dem Schutz der Persönlichkeit und der Intimsphäre zurücktreten sollte. ({5}) Wenn sich Richter und Staatsanwälte durch Wortäußerungen unangemessen verhalten haben, ist das keine Frage des Gesetzes; ({6}) das Gesetz kann das nie erlauben. Es ist eine Frage des Taktes und der Bildung; daran darf erinnert werden. ({7}) Was aber zu ändern sein wird, muß mit kühlem Kopf und engagiertem Herzen und nicht mit wirren Gedanken und lautem Geschrei in diesem Hause erörtert werden. ({8}) Es ist aber unerträglich, was die SPD-Abgeordnete Schmidt in einer Pressemeldung zu dem Urteil sagte, ({9}) daß es nämlich an die Rechtsprechung vor mehr als 40 Jahren erinnere. ({10}) Damit sucht sie das Urteil von Memmingen mit nationalsozialistischem Unrecht gleichzusetzen. ({11}) Diese Abgeordnete kennt den Nationalsozialismus und die deutsche Justiz nicht. Was noch schlimmer ist: Wer so kritisiert, rüttelt an den Grundfesten des deutschen Rechtes. ({12}) Er rüttelt daran, daß der Schutz des Lebens für die Gesetzgebung und die Rechtsprechung oberstes Gebot ist. Thema der Aktuellen Stunde ist die Frage, wie die Bundesregierung dazu steht. Die Bundesregierung sollte nach meiner Auffassung besonnen handeln. ({13}) Sie muß sich bewußt bleiben, daß es ihre Aufgabe ist, das Recht und das Leben zu schützen, und daß es ebenso ihre Aufgabe ist, sensibel für Notlagen und Zwangslagen und für die Notwendigkeit zu sein, solche Notlagen nach Möglichkeit vorbeugend unmöglich zu machen. Aber sie muß sich mit dem gleichen Nachdruck vor die Unabhängigkeit der deutschen Rechtsprechung stellen; sie muß deshalb die Angriffe darauf abwehren. Verehrte Kollegen, wer vordergründig das Urteil kritisiert, in Wirklichkeit aber die Abtreibung einer anderen gesetzlichen Regelung zuführen will, dem will ich sagen: Kehren Sie zurück in den Kreis derer, die das ungeborene Leben rückhaltlos schützen wollen. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Eingangs möchte ich doch noch auf die Bemerkung von Justizminister Engelhard eingehen, der in seiner Eigenschaft als Spitze der Exekutive das Parlament auffordert, sich zurückzuhalten. Ich bin froh, daß sich daran kaum jemand gehalten hat, auch nicht die Redner der FDP-Fraktion. Ich denke, daß wir uns gerade hier keine Meinungsfreiheitsbeschränkung aufdrücken lassen sollten. Auch ein Gericht unterliegt der öffentlichen Meinungsbildung und natürlich der Kritik. Bei allem Respekt vor einer unabhängigen Justiz geht es hier wirklich nicht um unabhängige Rechtsprechung. Hier geht es nicht um Klassenjustiz - das würde sofort gerügt werden -, sondern hier wurde klassische Männerjustiz vollzogen, weil die Frage, ob Frauen abtreiben dürfen oder nicht, keine Frage ethisch-moralischer Grundsätze, wie eben mein Vorredner mit seinem vielbeklatschten Beitrag ausgeführt hat, sondern eine Frage der wirtschaftlichen Situation in der Bundesrepublik ist. Davon wird ständig abhängig gemacht, wie der § 218 ausgelegt wird. Die Verfügbarkeit der Frau steht im Vordergrund, nichts anderes. ({0}) Das haben die Richter in Memmingen überdeutlich werden lassen. Frau Limbach und Frau Lehr, die Ministerin für Familie, Jugend und Gesundheit ({1}) - Verzeihung - , Muttertag haben wir übermorgen, und Ihre Redebeiträge haben mehr den Charakter von Reden für einen Muttertag gehabt als für das Problem, das wir heute diskutiert haben. ({2}) Ein ganz anderer Aspekt in dieser Diskussion ist folgender: Die Schweigepflicht zwischen Patientinnen und Ärzten wird zur Farce gemacht, sie ist zur Farce gemacht worden. Ich verstehe nicht meine Vorrednerin, auch Sie, Frau Würfel, nicht, weshalb wir warten müssen, bis das Urteil Rechtskraft hat. Der politische Flurschaden für die Frauen in der Bundesrepublik Deutschland ist immens, auch wenn das Urteil aus Memmingen noch keine Rechtskraft hat. Wenn es möglich ist, auf Grund der bestehenden Rechtslage mit Frauen, auch mit Ärzten wie Herrn Theissen so umzugehen, dann ist der Gesetzgeber gefordert. Dann müssen wir Korrekturen durchführen. ({3}) An dieser Stelle ist auch sehr merkwürdig, wie sich die Ärzte und die Standesorganisation verhalten haben. In Hamburg werden 200 Menschen zu Krüppeln operiert, und es schallt dem Arzt größte Solidarität aus den eigenen Reihen entgegen. Herr Theissen wird alleine gelassen. Herr Theissen wird für eine Indikationsregelung verurteilt, die lege artis ist, ({4}) die tatsächlich ständig so praktiziert wird. Kommen Sie mir nicht mit Ihrem Finanzamt; das ist so absurd. Wenn Sie die Situation draußen kennen, wissen Sie, daß praktisch jeder niedergelassene Arzt, der ambulant operiert, solche Operationen durchführt, auch solche Interruptionen durchführt. Ich bin diesen Ärzten wirklich ausdrücklich dankbar, daß sie so sensibel und verantwortungsvoll die problematische Situation für ihre Patientinnen umsetzen. ({5}) Es geht also nicht um diesen Herrn Dr. Theissen, sondern es geht um ganz grundsätzliche Fragen, nämlich um die Fragen der Herrschaft von Männern über Frauen. Die offizielle Politik, die Wendepolitik, der Wendegeist, schlägt hier voll zu. Wir wissen doch, was Sie als CDU/CSU-Fraktion familienpolitisch erreichen möchten, nämlich ein Zurück ins Heim und an den Herd. Die Vorbereitung für das Bundesberatungsgesetz ist, denke ich, offenkundig durch dieses Urteil herbeigeführt. Die Kirchen haben ihre Meinung inzwischen mehrfach geändert. Wenn ich höre, wie Sie zu der Frage des ungeborenen Lebens Stellung nehmen und gleichzeitig politische Verantwortung dafür mitzeichnen, daß täglich 50 000 Menschen, im wesentlichen Kinder, in der Welt an Hunger sterben, dann meine ich, daß das nicht ethisch-moralisch zu begründen ist, was Sie hier mit diesem Urteil verteidigen. ({6}) Vielmehr geht es um die Frage des Patriarchats in der Gesellschaft.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ihre Redezeit ist beendet, Herr Abgeordneter.

Thomas Wüppesahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002568, Fraktion: Fraktionslos (Fraktionslos)

Der Schlußsatz: Ich denke, daß in der Tat politische Folgerungen aus diesem Urteil - auch wenn es noch keine Rechtskraft gewonnen hat - im Sinne einer Fristenlösung, wie sie ursprünglich Gesetzeslage gewesen ist, schnellstens gezogen werden müssen. ({0})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dempwolf.

Gertrud Dempwolf (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000371, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Wüppesahl, bei Ihrer Rede kam mir der Gedanke: Wie selbstverständlich hat Ihre Mutter gehandelt, als sie erfuhr, daß sie schwanger war! ({0}) Was ist geschehen? - Ein Arzt wird für schuldig befunden, gegen den § 218b und den § 219 des Strafgesetzbuches verstoßen zu haben. Das Gericht kommt zu dem Ergebnis, daß er in zahlreichen Fällen Schwangerschaften ohne sozi ale Notlage unterbrochen hat. Außerdem hat er die Frau nicht auf die im Gesetz vorgeschriebene soziale Beratung hingewiesen. Es wurde ungeborenes Leben getötet, ohne daß die schwierige Güterabwägung zwischen dem Selbstbestimmungsrecht der Frau und dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes ernsthaft vorgenommen wurde. ({1}) Lassen Sie mich auf die betroffenen Frauen eingehen. Hat der Memminger Arzt diesen Frauen durch seine Entscheidung tatsächlich aus der Not geholfen? ({2}) Die Frauen mögen das für den Augenblick so empfunden haben. Ich meine entschieden, daß es keine Hilfe ist, den Frauen nur den Ausweg der Tötung des ungeborenen Lebens zu weisen. ({3}) Wir müssen vielmehr alles tun, um den Frauen eine sorgfältige und verantwortungsvolle Abwägung zu ermöglichen, und hierin besteht unsere Hilfe. ({4}) Richter haben Recht gesprochen. Wir respektieren dies. Wir fühlen uns darin bestärkt, wie sinnvoll es ist, unsere Bemühungen um das geplante Beratungsgesetz fortzusetzen und zu verbindlichen bundeseinheitlichen Regelungen zu kommen. Hier sind Sie alle gefordert mitzuwirken. Was wir vor allem brauchen, ist nicht eine Änderung der geltenden Strafvorschriften - in dieser Hinsicht sind wir ganz Ihrer Meinung, meine Damen und Herren von der SPD - , sondern wir brauchen einen Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft zugunsten des ungeborenen Kindes. ({5}) Eine Gesellschaft mit immer weniger Kindern ist eine Gesellschaft ohne Lebensfreude, ohne Wärme, ohne Zukunft und auch ohne Ausstrahlung. ({6}) Obwohl unsere Verfassung denselben Schutz für das noch nicht geborene Leben wie für das geborene Leben grundsätzlich bejaht, klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander. Das beweisen die 200 000 Abtreibungen allein im Bereich der sozialen Indikation. Das Beratungsgesetz ist darum längst überfällig, ({7}) zumal die SPD weder während ihrer Regierungszeit in Bonn noch in den von ihr regierten Ländern dafür gesorgt hat, daß in den Beratungsstellen der Verfassungsauftrag auch nur annähernd erfüllt werden kann; ({8}) sind es doch gerade die Beratungsstellen in den SPD-regierten Ländern, die Klage führen, daß sie wegen fehlender Zeit und unzureichender Mittel betroffenen Frauen nicht die erforderlichen Hilfen zukommen lassen können. ({9}) Ein wesentliches Ziel des Beratungsgesetzes ist es deshalb, in allen Bundesländern gleich gute Voraussetzungen für die Beratungsarbeit zu schaffen. Die Beratung muß insbesondere über die Hilfsangebote unterrichten, die die Fortsetzung der Schwangerschaft und die Entscheidung der Mutter erleichtern können. In Fällen wirtschaftlicher Not sollen die Beratungsstellen gesetzliche Hilfen und Stiftungsmittel, z. B. aus der Stiftung „Mutter und Kind", vermitteln. ({10}) Wir haben deshalb die Mittel für diese Stiftung im Haushalt 1989 auf 130 Millionen DM aufgestockt. An 200 000 Frauen in besonderen Notlagen konnten seit 1984 Mittel aus dieser Stiftung vergeben werden. Allein 80 000 erhielten 1988 Unterstützung. ({11}) Hier findet konkrete Hilfe statt, und zwar durch eine Stiftung, die Sie, meine Damen und Herren von der SPD, immer noch ablehnen. Ich kann aus Zeitmangel nicht mehr ausführen, wie unsere familienpolitischen Maßnahmen aussehen. Ich denke an das Erziehungsgeld und den Erziehungsurlaub. Eine große Verantwortung liegt auch noch in den Händen des Arztes, der verpflichtet ist, menschliches Leben zu schützen. Wir alle in diesem Hause, meine sehr verehrten Damen und Herren, sollten es zu unserer Pflicht machen, eine Politik zu gestalten, die an oberster Stelle der Erhaltung des Lebens dient. Ich danke Ihnen. ({12})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Conrad.

Margit Conrad (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000334, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe der Debatte bisher ziemlich genau zugehört. Ich bin schon erstaunt darüber, daß ich von seiten der CDU und der CSU nicht einen einzigen Redner und nicht eine einzige Rednerin gehört habe, die wirklich sensibel mit dem Thema Memmingen, mit der Frage der Frauen und mit der Rolle der Ärzte umgegangen sind. Sie haben sich alle hinter dem Strafgesetzbuch versteckt. ({0}) Am meisten hat mich erstaunt und auch betroffen gemacht die Rede von Frau Limbach. Frau Limbach, Sie haben mal wieder versucht, einen Gegensatz herzustellen zwischen denen, die für Schwangerschaftsabbrüche und für das Recht eintreten, dies in einer menschenwürdigen Form in dieser Gesellschaft zu tun, und denen, die angeblich kinderfreundlich sind. ({1}) Ich bekomme in zirka fünf Wochen mein Kind. Aber ich vergesse bei all meiner Freude darauf nicht eine einzige Sekunde, daß es in dieser Gesellschaft sehr wohl Frauen gibt, für die die Tatsache, daß sie schwanger sind, nach wie vor eine enorme Konfliktsituation und Belastungssituation bedeutet. ({2}) In dieser Konflikt- und Belastungssituation brauchen sie Hilfe und mehr Verständnis als das, was Sie heute hier an den Tag gelegt haben. ({3}) Dieser Prozeß hat schon Wirkung gezeigt - das wurde schon angeführt - , nämlich eine sehr fatale Wirkung. Ich weiß aus der eigenen Erfahrung aus dem Saarland sehr genau, daß Ärztinnen und Ärzte, denen der Gesetzgeber bei dem Verfahren des legalen Schwangerschaftsabbruchs in einer Notlage eine entFrau Conrad scheidende Rolle zugemessen hat, heute verunsichert sind. Sie sind zunehmend nicht mehr bereit, mit ihrer Unterschrift Frauen das Vorliegen einer Notlage zu bescheinigen - Sie mögen das vielleicht begrüßen -, nicht weil diese Ärzte der Meinung sind, daß eine Notlage nicht vorliegt, sondern weil sie Angst haben, daß sie durch einen dummen Zufall oder auch infolge des Mißbrauchs ärztlicher Unterlagen wie in Memmingen strafrechtlich verfolgt werden. Lieber verweisen sie heute Frauen weiter an die Pro Familia oder an Kolleginnen. Ich weiß das, weil ich mittlerweile wieder die Anrufe bekomme: „Du bist ja bekannt, du kannst das ja machen", heißt es dann. Es kann einfach nicht sein, daß nach Memmingen in Zukunft - das ist die Konsequenz - Richter und Staatsanwälte die Funktion übernehmen, die der Gesetzgeber in diesem Verfahren den Ärzten zugestanden hat. ({4}) Ich bin zutiefst davon überzeugt, daß ungeachtet der Details des Verfahrens gegen Dr. Theissen dieser Prozeß und das Urteil Ergebnis der verlogenen Haltung einer militant auftretenden politischen Minderheit gegenüber Frauen und ungewollten Schwangerschaften ist. Gleichzeitig sind die Vorgänge von Memmingen für mich ein Resultat der Tatsache, daß Bayern wie im übrigen auch andere CDU-Bundesländer eine Gesetzespraxis gestaltet hat, die nie die Möglichkeiten des 1976 reformierten § 218 StGB den Frauen, den Paaren und den beteiligten Ärztinnen und Ärzten weitergegeben hat. Ambulante Schwangerschaftsabbrüche sind verboten. Vor drei Instanzen müssen sich Frauen rechtfertigen. Es gibt keine Krankenhäuser, in denen man einen stationären Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen kann. Hinzu kommt ein öffentliches Klima der Diskriminierung und des Mißtrauens, das nicht ungewollt ist. Was in Bayern Rechtspraxis ist, macht einen Schwangerschaftsabbruch nach einer Notlagenindikation fast unmöglich. Ich sage es ganz deutlich: Wer eine solche Rechtspraxis schafft, muß sich gefallen lassen, daß Ärzte und Ärztinnen in dem Konflikt, gegenüber dem Staat loyal oder menschlich gegenüber der Frau zu entscheiden, sich auch einmal für die Patientin entscheiden. ({5}) Frau Lehr, Sie verweisen wieder auf das geltende Recht. Sie hätten sich besser überlegen sollen, wieso gerade Bayern einen solchen Schauprozeß; Entschuldigung, ich weiß es mittlerweile: einen solchen Prozeß gestaltet hat. Das wäre wichtiger gewesen, als daß Sie sich hinter geltendem Recht verschanzen. Von Ihnen als Bundesministerin nicht von Herrn Geis und nicht von Herrn Hoffacker, hätten z. B. Ärzte ein klärendes Wort in dieser verunsichernden Situation erwarten können. Oder wo waren Sie als Frauenministerin mit einem klärenden Wort gegenüber den in diesem Prozeß so gedemütigten Frauen? ({6}) Es ist eben nicht richtig, daß Schwangerschaftsabbrüche heute illegal sind, ({7}) auch nicht nach Memmingen. Es gibt 100 000 legale Schwangerschaftsabbrüche in der Bundesrepublik nach einer Notlagenindikation, ob es Ihnen paßt oder nicht, auch Ihnen, Herr Hoffacker. ({8}) Ich fordere alle Ärzte und Ärztinnen in der Bundesrepublik auf, auch unter dem Eindruck von Bayern weiterhin den Frauen zu helfen, ({9}) in einer menschlichen Praxis Frauen in dieser Konfliktsituation weiterhin zu helfen, damit sie, wenn sie es entschieden haben, eine Schwangerschaft auch legal abbrechen können. Vielen Dank. ({10})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Die Frau Abgeordnete Dr. Conrad hat von legalen Abbrüchen gesprochen. Dies ist keine Mordaufforderung. ({0}) Das Wort hat der Abgeordnete Werner. ({1})

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube, gerade der letzte Beitrag hat wie auch die übrigen Beiträge aus den Reihen der Oppositionsparteien deutlich gemacht, daß das Zuhören hier manchen offensichtlich schwerfällt. Frau Conrad, ich habe keinerlei Verständnis dafür, daß Sie hier mit billiger Polemik gegen uns, die CDU/CSU, argumentieren und sagen, wir seien auf die Nöte der betroffenen Frauen nicht eingegangen. ({0}) Das Gegenteil ist der Fall. Frau Limbach hat ausführlich auf die Probleme, die sich in den verschiedensten Konfliktlagen ergeben können, hingewiesen. ({1}) Ich muß auch anfügen, daß sich das Memminger Gericht, zumindest wenn die ausführlichen Berichte über die mündliche Begründung des Urteils zutreffen, äußerst eingehend und umfassend mit den völlig unterschiedlichen Konfliktlagen der Frauen befaßt hat. ({2}) Werner ({3}) Hier in Bausch und Bogen deswegen Richterschelte zu begehen ist geradezu abenteuerlich und töricht! ({4}) Meine Damen und Herren, es muß einfach immer wieder gesagt werden: Wer die geltende Verfahrensordnung - und die beginnt mit der Beratung - nicht berücksichtigt, stellt sich außerhalb des geltenden Rechts und muß sich des entsprechenden Vorwurfs auch bewußt sein. ({5}) Meine Damen und Herren, Sie können sich doch auch nicht darum herumdrücken, daß zutrifft, was die Kollegen Hüsch und Geis gesagt haben, daß der Staat vor dem Hintergrund der auch von Ihnen so häufig beschworenen Würde des Menschen die Pflicht zum Schutz eines jeden, auch des ungeborenen Kindes hat! Deswegen muß ich noch einmal nachdrücklich sagen, daß der Staat auch hier seine umfassende Schutzpflicht gegenüber den Schwächsten, den Ungeborenen, wahrzunehmen hat. Daher war es die Pflicht auch des Memminger Gerichts, umfassend und gründlich zu ermitteln! ({6}) Es ging doch gerade darum, festzustellen, ({7}) ob der Arzt im Einklang mit dem Gesetz seine Entscheidungen getroffen und die Schwangerschaftsabbrüche - dies sind Tötungshandlungen, meine Damen und Herren - durchgeführt hat. ({8}) Deswegen warten Sie im Hinblick auf weitere Forderungen doch einmal die näheren Begründungen im Urteilstext ab. Sie kennen den Urteilsspruch doch noch gar nicht im einzelnen ({9}) und werfen schon heute dem Gericht Willkür vor. Sie verurteilen damit gerade jene, denen die Wahrung der Rechtsordnung aufgegeben ist. Deswegen sollten Sie von den Oppositionsparteien alle miteinander klipp und klar darlegen, ob Sie die bestehende gesetzliche Regelung des § 218 StGB überhaupt noch wollen oder nicht, ({10}) denn die gründet sich auf die Vergleichbarkeit der dort angegebenen Indikationen insgesamt vor dem Hintergrund der medizinischen Indikation. Sie, meine Damen und Herren von den Oppositionsparteien, haben die entscheidende Frage des grundsätzlichen Schutzes der Ungeborenen und die Frage der kriminellen Handlungsweise einfach zur Seite schieben wollen. Sie sprechen hier kaum von den getöteten Kindern! ({11}) Sie haben für mich damit deutlich gemacht, daß Sie den Kreis derer, denen der uneingeschränkte Schutz des Menschen von Anfang an am Herzen liegt, verlassen haben. Sie wollen mit Recht - ich betone: mit Recht - die Vernichtung von Embryonen im Reagenzglas verbieten - wir auch! Sie kämpfen mit Recht für die Menschen in Südafrika - wir auch! Warum kämpfen Sie dann aber nicht auch energisch gegen die Tötung von über 200 000 ungeborenen Kindern in diesem Land? ({12}) Warum bestehen Sie nicht einmal auf der Einhaltung des bestehenden Gesetzes, das unter Ihrer Verantwortung zustande kam, meine Damen und Herren? ({13}) Deswegen muß ich Sie alle auffordern, wieder zu dem uneingeschränkten Schutz der Menschenrechte und auch zur uneingeschränkten Achtung unseres Rechtsstaates zurückzukehren. Wenn Sie, Herr Conradi, hier „Heuchler" sagen, ({14}) dann darf ich zumindest für mich in Anspruch nehmen, daß mir und dem allergrößten Teil meiner Parteifreunde ein derart unwürdiger Zickzackkurs in Sachen des Schutzes des ungeborenen Lebens, den Ihre Partei in den vergangenen Jahren gegangen ist, völlig fremd ist. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Meine Damen und Herren, die Aktuelle Stunde ist beendet. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf: Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Dr. de With, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Frau Schmidt ({0}), Frau Adler, Bachmaier, Frau Becker-Inglau, Frau Blunck, Frau Bulmahn, Catenhusen, Frau Conrad, Egert, Frau Faße, Frau Fuchs ({1}), Frau Fuchs ({2}), Frau Ganseforth, Frau Dr. Götte, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Klein ({3}), Kuhlwein, Lambinus, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny, Frau Matthäus-Maier, Müller ({4}), Frau Dr. Niehuis, Frau Odendahl, Peter ({5}), Dr. Pick, Frau Renger, Schmidt ({6}), Dr. Schöfberger, Schütz, Frau Seuster, Frau Simonis, Singer, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Stiegler, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Traupe, Frau Weiler, Frau Weyel, Frau Wieczorek-Zeul, Wiefelspütz, Frau Zutt, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Strafbarkeit der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und des sexuellen Mißbrauchs in der Ehe - Drucksache 11/474 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({7}) - Drucksache 11/3873

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Eylmann Dr. de With ({0}) Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4532 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 75 Minuten vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. - Das Wort hat der Abgeordnete Dr. de With.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Geschichte der Versuche, auch die Vergewaltigung in der Ehe zu bestrafen, ist ein einziges Trauerspiel, zwar voller Irrtümer, Winkelzüge und Hinhaltemanöver, aber eben doch eine Tragödie - für die Frauen und für unsere Gesellschaft. In der Sitzung des Strafrechtsonderausschusses am 1. März 1972, also vor nunmehr 17 Jahren, habe ich den Antrag gestellt, das Wörtchen „außerehelichen" in § 177 des Strafgesetzbuches zu streichen. Damit sollte erstmals die Vergewaltigung in der Ehe - bisher straflos - ebenso bestraft werden, wie sie außerhalb der Ehe seit eh und je geahndet wird. Der damalige Obmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der von mir sehr geschätzte Heinz Eyrich, heute Justizminister in Baden-Württemberg, hatte zuvor erklärt, er sei - ich zitiere wörtlich - „dafür, das Wort ,außerehelichen' zu streichen" . Die Vertreterin der FDP, Frau Diemer-Nicolaus, erklärte damals, sie habe wegen etwaiger Beweisschwierigkeiten Bedenken, aber - und zitiere wiederum - „anders sei die Situation jedoch, wenn die Eheleute getrennt lebten". Bei der Abstimmung am folgenden Tag, am 2. März 1972, unterlag ich gegen nur eine Stimme Mehrheit. Herr Eyrich hatte erklärt, angesichts der Schwierigkeiten, in die man komme, wenn man in die Intimsphäre der Ehe in dieser Frage hineinleuchte, wolle man von einer Streichung des Wortes „außerehelichen" absehen und die Vergewaltigung nur dann mit Strafe bedrohen, wenn es sich um den erzwungenen außerehelichen Beischlaf handele. Als die SPD-Bundestagsfraktion 1983 einen zweiten Anlauf im Bundestag unternahm - die GRÜNEN hatten einen ähnlichen Antrag eingebracht - , sprachen sich Union, FDP und Justizminister Engelhard schon in erster Lesung dagegen aus. Es war ja die Zeit der „geistig-moralischen Wende". Nachdem 1986 ein Anhörungsverfahren mit wirklich übergroßer Mehrheit ergeben hatte, daß das Recht der Frau auf sexuelle Selbstbestimmung auch innerhalb der Ehe gelte und deshalb die Vergewaltigung in der Ehe bestraft werden müsse, wagten es CDU, CSU und FDP nicht mehr, diesen Antrag offen abzulehnen. Mit ihrer Mehrheit verzögerten sie Beratungen im Rechtsausschuß so lange, bis der Antrag durch die Beendigung der Legislaturperiode seine Erledigung fand. Als wir Sozialdemokraten schließlich den Antrag auf Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe in dieser Legislaturperiode erneut unverändert im Bundestag einbrachten, erklärten am 7. November 1987 der Minister Engelhard und damals auch die Ministerin Frau Süssmuth ebenso wie die Vertreter der Regierungsparteien, daß auch sie nunmehr mit dem Zweiklassenrecht, Vergewaltigung in der Ehe straflos, Vergewaltigung außerhalb der Ehe strafbar, Schluß machen wollten. ({0}) Wer nun geglaubt hätte, die Beratungen würden jetzt endlich zügig vorangehen, hatte sich geirrt. Das wissen Sie genau, Herr Marschewski. Mal hieß es, die Einigung über eine Vorlage zwischen Justizministerium und - ich nenne es so, Frau Lehr - Frauenministerium stehe kurz bevor, mal hieß es, man wolle eine größere, umfassendere Lösung, und zu guter Letzt wurde uns erklärt, es gebe neue, zusätzliche Probleme wegen des § 218. Denn durch eine Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe steige die Zahl der Vergewaltigungsindikationen und damit die Zahl der Abtreibungen. So hieß es. Am 12. Oktober 1988 schließlich ließen CDU/CSU und FDP - ich nenne es so - den schwarzen Vorhang fallen. ({1}) Sie stimmten im Rechtsausschuß einmütig dagegen. Bis heute hatten Sie mehr als ein halbes Jahr Zeit, das Versprechen von 1987 doch noch einzulösen. Und nichts geschah, jedenfalls nichts Greifbares. Damit haben Sie die Hoffnungen der Frauen und die Erwartungen vieler Einsichtiger zunichte gemacht. ({2}) Ja, ich füge hinzu: Sie werden Ihr Wort gebrochen haben, wenn Sie bis zum Ende dieser Legislaturperiode nichts ändern. ({3}) Ich sage das so dezidiert, weil ich aus der „taz" gestern, nicht etwa der „FAZ", der „Frankfurter Allgemeine Zeitung", entnehmen mußte, daß Sie, Herr Kollege Eylmann, wieder einen Versuch unternehmen, doch noch zu einer Regelung zu kommen. Ich glaube Ihrem guten Willen. Nur bin ich nach den 17 Jahren trotz all Ihrer Beteuerungen wirklich ein gebranntes Kind. ({4}) Ich füge hinzu: Bisher sind nicht nur alle Vorhaben gescheitert, auch Ihr Versuch, eine Leerstelle im Gesetzbuch, den § 172, zu nutzen, um für Ihre Fraktion um den § 218 herumzukommen, ist ein sehr zweifelhaftes Unterfangen, ({5}) eine für uns absolut hinkende Regelung. Dennoch sage ich: Tun Sie etwas in dieser Richtung, und Sie werden alle unsere Unterstützung haben. Nur füge ich abschließend hinzu: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Auch der Zickzackkurs der GRÜNEN ist kein Ruhmesblatt, Frau Nickels. Noch 1983 hatten sie einen ähnlichen Antrag eingebracht und in dieser Legislaturperiode erneut. Nur, sie haben ihn nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen, weil sie über die Mindeststrafe zerstritten waren. Als ob das die Hauptsache dieses Vorhabens wäre! ({6}) Im Rechtsausschuß haben Sie sich dann bei unserem Antrag der Stimme enthalten. ({7}) Heute, am letzten Tag, bringen Sie in zweiter und dritter Lesung überraschend einen Änderungsantrag zu unserer Vorlage ein. Frau Nickels, ich muß es sagen: Diese Methode muß als das bezeichnet werden, was sie ist, eine Beruhigungspille für eine Klientel und zugleich, wie ich es empfinde, eine Täuschung der Öffentlichkeit; denn sachgemäß beraten werden kann diese Vorlage nicht mehr. In all den vergangenen Jahren wäre genügend Zeit gewesen. ({8}) Auf die groben Ungereimtheiten will ich gar nicht eingehen. Mit ihrer Uneinigkeit und auch mit ihrer Taktiererei sind die GRÜNEN dabei, sich aus ihrer selbst gegebenen Verpflichtung davonzustehlen. Das alles macht uns betroffen. Wir jubeln nicht ob der Zerrissenheit und des mangelnden Durchsetzungsvermögens der Einsichtigen in den Reihen der Regierungsfraktionen. Im Grund haben Sie einen Scherbenhaufen hinterlassen, einen Scherbenhaufen aber, der an die Glaubwürdigkeit des gesamten Parlaments rührt. Denn unendlich viele draußen warten, daß nun endlich etwas geschieht. Dabei liegen alle Voraussetzungen vor, die zu einer positiven Entscheidung des ganzen Hauses führen könnten. Was wir nämlich vor 17 Jahren mehr oder weniger nur erahnen konnten, ist heute durch viele Berichte aus den Frauenhäusern und durch vorliegende wissenschaftliche gesicherte Erkenntnisse traurige Gewißheit geworden: Gewalt in der Ehe ist weder ein Einzelfall noch auf spezifische Schichten beschränkt. Täglich werden Ehefrauen vergewaltigt. Nach einer EMNID-Umfrage von 1986 müssen wir davon ausgehen, daß 16 % der Befragten annehmen, daß der Mann im Fall der Vergewaltigung in der Ehe nicht bestraft werden kann; und 25 % sind sich über die Strafbarkeit im unklaren. Das heißt, daß der auf diese Fälle auch heute schon anwendbare § 240, die Nötigungsvorschrift, viel zu wenig bekannt ist und damit überhaupt nicht greift. Außerdem trifft die Vorschrift der Nötigung schon rein begrifflich nicht das schwere Delikt der Vergewaltigung. Wer dann immer noch sagt, man könne den ehelichen Intimbereich dem Strafrecht nicht öffnen, den frage ich: Soll nach allem, was wir wissen, die Frau mit dem Ja-Wort auf dem Standesamt noch immer ihren Strafrechtsschutz auf dem Altar der Vorurteile ablegen? Im übrigen: Hat sich derart Furchtbares ereignet, ist die Ehe ohnehin fast immer kaputt. Der Staatsanwalt kann sie nicht mehr zerstören, aber vielleicht hier und da noch den Glauben an die Gerechtigkeit stärken und damit manches verhindern. ({9}) Gibt es jedoch Fälle, in denen die Ehe wiederhergestellt werden könnte, sieht der SPD-Entwurf vor, daß der Richter in diesem Fall die Strafe mildern oder ganz von ihr absehen kann. Auch auf Beweisschwierigkeiten wird noch immer hingewiesen. Aber die gibt es nicht mehr und nicht weniger auch bei der Vergewaltigung außerhalb der Ehe. Das kann kein Argument sein. Letztlich wird eingewandt, die Bestrafung von Vergewaltigungen in der Ehe steigere - falls dabei ein Kind gezeugt werde - die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche durch Ausweitung der Vergewaltigungsindikation. Dabei wird zum einen verschwiegen, daß schon bisher die Vergewaltigungsindikation in der Statistik der Schwangerschaftsabbrüche völlig ohne Belang ist und damit die erwähnte Ausdehnung der Strafbarkeit in der Abbruchstatistik praktisch überhaupt nicht meßbar wäre. Vor allem aber ist dem entgegenzuhalten: Die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe läßt ein Absinken von Gewalthandlungen gegenüber Ehefrauen erwarten. Das aber bedeutet weniger ungewollte Schwangerschaften und damit auch weniger Abbrüche. Wer sich deshalb unserem Antrag versagt, versagt sich einer Möglichkeit, die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche zu senken. Das ist die Wahrheit. Nun war im Rechtsausschuß aus den Reihen der Union - entschuldigend, muß man sagen - zu hören, bei Fragen des § 218, und der sei hier im Spiel, müsse die persönliche Meinung als Gewissensentscheidung respektiert werden. Gut, sagen wir. Dann geben Sie die Abstimmung frei! Dann wird niemand gedrängt, unseren Antrag wegen der Bedenken zu § 218 abzulehnen. Ebenso wird aber auch keiner davon abgehalten, unserem Antrag zuzustimmen. Es wäre ehrlich, sich an diese alte Regel im Parlament zu halten. Mein Appell an Sie, für unseren Antrag zu votieren, beruht letztlich auf einem umfassenderen Grund. Noch immer gibt es nicht zuwenig Meinungen, die davon ausgehen, in der Ehe sei die geschlechtliche Selbstbestimmung zumindest Beschränkungen unterworfen. Da wird süffisant ein Dichterwort zitiert, das da heißt: ... so halt doch stille, verfluchtes Weib, mir hörst du, mir gehört dein Leib. „Die Frau gehört mir" , ein früherer Filmtitel; dieses Wort wird nach wie vor im Munde geführt. Und im meistverbreiteten Praktiker-Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, dem Palandt-Diederichsen, aus dem Jahr 1989, steht zur Erläuterung der ehelichen Lebensgemeinschaft zu lesen: Die Ehe ist Geschlechtsgemeinschaft und verpflichtet zum ehelichen Verkehr in Zuneigung, nicht in Gleichgültigkeit oder indem Widerwillen zur Schau getragen wird. Es steht nicht etwa abmildernd dahinter, „in Partnerschaft" oder „keineswegs immer und zu jeder Zeit". Nein, kommentarlos wird auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs - man höre und staune - aus dem Jahre 1967, also vor der Eherechtsreform, hingewiesen, in der das Gericht von einer empfindungslosen Frau gefordert hatte, daß sie den Beischlaf nicht teilnahmslos hinzunehmen habe und Gleichgültigkeit und Widerwillen nicht zur Schau tragen dürfe. ({10}) Hieraus, meine sehr verehrten Damen und Herren - das muß ich in aller Deutlichkeit sagen - lugt noch immer die Auffassung von der selbstverständlichen Verfügbarkeit der Ehefrau. Damit muß Schluß sein. ({11}) Damit muß auch deshalb Schluß sein, weil über das Ansinnen der Verfügbarkeit der Weg zur Unterwerfung und zum Mißbrauch ehelicher Sexualität führt. Für das Zusammensein in Partnerschaft und das freiwillige Aufeinanderzuordnen der Sexualität haben wir uns bei der Eherechtsreform 1976 entschieden und für nichts anderes. Die Bestrafung der Vergewaltigung in der Ehe wird hier und dort Frauen in ihrem Intimsten schützen, ihnen bitterstes Leid ersparen helfen. Sie wäre jedoch Wegmarke auch in unserem Wollen, Bastionen männlich geprägter uralter Vorurteile abzubauen. Vielen Dank. ({12})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Herr Eylmann.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Frage, ob die Vergewaltigung in der Ehe strafbar sein soll, ist ein Reizthema, das stark emotional besetzt ist. Wir sollten uns deshalb bemühen, sehr sachbezogen zu argumentieren. Herr de With hat es getan. Ich will es ebenfalls tun. Lassen Sie mich zu Beginn nicht nur als meine eigene Überzeugung, sondern auch als Meinung meiner Fraktion feststellen: Die Vergewaltigung sollte innerhalb wie außerhalb der Ehe in gleicher Weise strafbar sein. ({0}) Es gibt keinen Grund, die Vergewaltigung durch einen Ehemann nicht als Vergewaltigung zu bestrafen oder mit einer milderen Strafe zu belegen. Ich will mich nur mit zwei der gängigsten Gegenargumente kurz auseinandersetzen. Es wird zum einen gern gesagt, man könne einen Ehemann, der seine Frau etwas hart angefaßt habe, nicht mit dem Verbrecher vergleichen, der hinter dem Busch einer fremden Frau auflauere. Dabei wird über sehen, daß die Vergewaltigung in der Mehrzahl der Fälle eine Beziehungstat ist, sich Täter und Opfer also mehr oder weniger intensiv kennen. ({1}) Der Unbekannte hinter dem Busch ist nur ein Tätertyp und nicht der häufigste. Zum anderen: Seit wann ist es eigentlich milder zu beurteilen, wenn der Täter mit seinem Opfer eng verbunden ist? ({2}) Man könnte im Gegenteil sagen, der gewalttätige Ehemann sei besonders zu verurteilen, weil sich seine Tat gegen seine eigene Ehefrau, die sich ihm anvertraut hat, richtet. ({3}) Wer kommt denn eigentlich auf die Idee, meine Damen und Herren, zu sagen, daß ein Mann, der seine Frau ohne sexuellen Hintergrund krankenhausreif prügele, milder zu beurteilen sei, wenn es sich dabei um seine eigene Frau handele? Dieses Beispiel zeigt eigentlich, was von dieser Argumentation zu halten ist. Der zweite Einwand ist gewichtiger. Er lautet, eine Ehefrau sei zur ehelichen Lebensgemeinschaft und damit auch zur Geschlechtsgemeinschaft verpflichtet. Damit habe sie - zumindest teilweise - ihr sexuelles Selbstbestimmungsrecht aufgegeben. Dieses Argument verkennt, daß sich nach heutigem Eheverständnis die eheliche Lebensgemeinschaft partnerschaftlich zu vollziehen hat. Das heißt, die Ehefrau ist mitnichten immer dann, wenn dem Mann der Sinn danach steht, zum Geschlechtsverkehr verpflichtet. Es gibt kein sexuelles Fremdbestimmungsrecht des Mannes. ({4}) Deshalb hat ein Mann keinerlei Recht, mit Gewalt eine Frau zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, ganz gleich, ob sich es dabei um seine eigene oder um eine fremde Frau handelt. Wenn das aber so ist, meine Damen und Herren, entfällt jeder Grund für eine Privilegierung der Vergewaltigung in der Ehe. Wir sind deshalb der Meinung, daß in das Strafgesetzbuch ein neuer § 172 eingefügt werden sollte, dessen Tatbestand und Strafandrohung § 177 StGB entsprechen. Die Einordnung dieser neuen Vorschrift unter die Straftaten gegen Familie und Ehe wird im übrigen deutlich machen, daß eine Vergewaltigung in der Ehe immer auch ein Angriff auf die grundgesetzlich geschützte eheliche Lebensgemeinschaft ist. ({5}) Es hat sich, im übrigen, meine Damen und Herren, nichts an unserer Absicht geändert, die Frage, ob ein Ehemann, der seine Ehefrau vergewaltigt hat, ins Gefängnis kommen soll, letztlich in die Hand seiner Frau zu legen. Sie soll einer Strafverfolgung widersprechen können. Wir verkennen nicht, daß dies ein Ansatzpunkt für Pressionen sein kann. In einer engen Lebensgemeinschaft gibt es aber - jeder Scheidungsanwalt weiß davon ein Lied zu singen - vielerlei Gründe und Möglichkeiten für gegenseitige Pressionen. Diese Möglichkeiten dürfen nicht dazu führen, zwar einerseits das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau nachdrücklich zu unterstreichen, sie andererseits aber staatlich bevormunden zu wollen, wenn es um die Strafverfolgung geht.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Gern, wenn es nicht angerechnet wird.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Eylmann, können Sie mir sagen, warum Sie erst jetzt diese Ankündigung machen und nicht schon längst eine entsprechende Vorlage eingebracht haben, nachdem wir im Rechtsausschuß jahrelang darüber debattiert haben und immer wieder bereit waren, die Sache hinauszuschieben in der Erwartung, es käme doch etwas?

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege de With, ich komme darauf zu sprechen, wenn ich auf die Hinderungsgründe eingehe, die bisher einer Einigung in der Koalition entgegengestanden haben. Ich werde offen darlegen, woran es gelegen hat.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Eylmann, gestatten Sie eine weitere Zischenfrage der Abgeordneten Frau Schoppe?

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, gern.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Eylmann, Sie haben eben berichtet, daß die Vergewaltigung in der Ehe und die Vergewaltigung außerhalb der Ehe eigentlich gleichbehandelt werden müßten, daß im Grunde genommen die eheliche Vergewaltigung noch viel schlimmer anzusetzen ist. In Ihren Ausführungen ist mir nicht klargeworden, warum Sie dann einen neuen § 172 StGB einfügen wollen.

Horst Eylmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000508, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Weil wir bei der Frage, ob die Strafverfolgung vom Willen der Ehefrau abhängen soll, durchaus einen Unterschied sehen. Da liegt der Unterschied: Wir räumen der Ehefrau das Recht ein, einer Strafverfolgung zu widersprechen. Wir meinen, daß Versöhnung möglich sein muß. Wir nehmen auch hier das Selbstbestimmungsrecht der Ehefrau ernst. Dann ist es durchaus konsequent, dafür einen eigenen Tatbestand zu wählen. ({0}) Nun hat - damit komme ich auch auf das zu sprechen, was Herr Kollege de With erwähnt hat - die Einordnung der ehelichen Vergewaltigung in einen neuen § 172 StGB zur Folge, daß sich die kriminologische Indikation nicht automatisch auf die eheliche Vergewaltigung bezieht. Damit spreche ich den Streitpunkt an, der bisher eine Einigung innerhalb der Koalition verhindert hat. Wir haben trotzdem immer nach einem Weg gesucht, Herr de With, einer Lösung näherzukommen. Die einen sagen: Wenn die Vergewaltigung innerhalb der Ehe und außerhalb der Ehe gleichgestellt wird, muß das auch für die kriminologische Indikation gelten. Die anderen machen geltend, eine Erweiterung der Abtreibungsgründe komme nicht in Betracht, zumal einer Ehefrau eher die Austragung einer Schwangerschaft zugemutet werden könne, wenn der Täter und Vater der eigene Ehemann sei. Ich mache keinen Hehl daraus, meine Damen und Herren, daß ich der ersten Meinung zuneige. Dennoch mache ich diese Gleichbehandlung nicht zu einer Bedingung für die gesetzliche Regelung, weil ich nämlich keinerlei praktische Auswirkungen sehe. Die Verfechter beider Meinungen bitte ich mit einigem Nachdruck, folgendes zu berücksichtigen. Die auf Grund der kriminologischen Indikation vorgenommenen Abtreibungen spielen in der Praxis eine völlig untergeordnete Rolle. ({1}) Sie machen noch nicht einmal 0,1 % der in der Bundesrepublik jährlich vorgenommenen Schwangerschaftsabbrüche aus. ({2}) Die Zahlen schwanken zwischen 50 und 100 und zeigen keine zunehmende Tendenz. Befürchtungen, diese Zahlen könnten sich sprunghaft erhöhen, sind völlig unbegründet. Als der Abtreibungsgrund der kriminologischen Indikation vor vielen Jahren geschaffen wurde, ist schon damals die Vermutung geäußert worden, diese Vorschrift könne mißbraucht werden. Die von mir genannten Zahlen haben diese Sorge eindeutig widerlegt. ({3}) Aber selbst wenn man die Auffassung vertritt, die Erweiterung des Vergewaltigungs-Paragraphen dürfe nicht dazu führen, daß auch nur fünf oder zehn Abtreibungen mehr geschehen, gebe ich zu bedenken, daß mir auch das ausgeschlossen oder zumindest völlig unwahrscheinlich erscheint, weil diese wenigen Fälle ohnehin über die allgemeine Notlagenindikation gelöst werden können. ({4}) Meine Damen und Herren, ich bin der Auffassung, daß der Tatbestand der sozialen Indikation bei uns mißbraucht wird ({5}) und daß es in einem der reichsten Länder der Erde nicht hingenommen werden kann, daß wirtschaftliche Gründe zum Schwangerschaftsabbruch führen. Aber lassen Sie uns diese Fälle der sozialen, der wirtschaftlichen Indikation ({6}) um Gottes willen nicht mit den wenigen Fällen vermengen, in denen Frauen gewaltsam geschwängert worden sind und in denen an ihrer ungeheuren psychischen Belastung doch kein ernsthafter Zweifel bestehen kann! ({7}) Ich respektiere jeden anderen Standpunkt, insbesondere wenn er religiös motiviert ist. Aber ich bitte, kritisch zu prüfen, ob man das, was man für sich selbst für richtig hält, auch so ohne weiteres zur Richtschnur für eine allgemeine Gesetzgebung machen kann. ({8}) Wir Abgeordnete haben uns, um die Unterscheidung von Max Weber aufzugreifen, hier im Parlament nicht als Gesinnungsethiker, sondern als Verantwortungsethiker zu bewähren. ({9}) Wir stehen, meine Damen und Herren, vor einem völlig unbefriedigenden Ergebnis; da gebe ich Herrn Kollegen de With recht. Alle Fraktionen wollen eine strafrechtliche Gleichstellung der ehelichen und der außerehelichen Vergewaltigung. Wir bringen aber kein Gesetz zustande, weil wir uns hinter zweit- und drittrangigen Fragen verstecken und uns gegenseitig blockieren. ({10}) Gewiß, die Frage, ob die Ehefrau ein Widerspruchsrecht haben soll, hat Gewicht, auch für mich. Sie hindert uns, Ihrem Gesetzentwurf zuzustimmen. Aber auch Sie müßten doch einsehen, daß wir Versöhnung möglich machen müssen und daß wir eine Versöhnung nicht dadurch konterkarieren dürfen, daß wir den Mann, dem die Ehefrau verziehen hat, doch ins Gefängnis schicken. ({11}) Und was die kriminologische Indikation angeht, so habe ich meine Meinung dazu gesagt. Ihre praktische Bedeutung tendiert gegen Null. Ich respektiere Gewissensgründe, aber in die Gewissensentscheidung muß auch einbezogen werden, ob es denn noch länger zu verantworten ist, zu versäumen, in Ausübung der präventiven Funktion des Strafrechts durch Schaffung eines entsprechenden Straftatbestandes das Unrechtsbewußtsein dafür zu schärfen, daß die Vergewaltigung in der Ehe kein Kavaliersdelikt ist. In einer Zeit, in der die Aggressionen mir zuzunehmen scheinen, sind die Bekämpfung und die Zurückdrängung der Gewalt - wo immer sie sich zeigt: auf unseren Straßen oder in den eigenen vier Wänden - eine elementare Aufgabe des Parlaments. ({12}) Meine Herren - und ich wende mich jetzt speziell an meine Kollegen; leider sind viel zu wenig hier -, ich wage es vorherzusagen: Wenn wir es nicht alsbald schaffen, hier zu einer Lösung zu kommen, werden die Frauen dieses Hauses die Geduld verlieren ({13}) und uns einen eigenen Gesetzentwurf vorlegen. ({14}) Sorgen wir dafür, daß es dazu nicht zu kommen braucht! Vielen Dank. ({15})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte über den vorliegenden Gesetzentwurf hatte in der parlamentarischen Beratung ja sehr viele unerfreuliche Seiten. Aber ich möchte doch auch das sagen, was daran sehr ermutigend ist: Diese Debatte wäre nie möglich geworden, wenn es nicht - über Jahre - den großen Aufbruch von Frauen gegeben hätte, die es sich erkämpft haben - entgegen dem, was in den Parlamenten vertreten wurde -, daß das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen hier angesprochen und sichtbar gemacht werden kann. Und, Herr de With: Der Stand der frauenpolitischen Erkenntnisse und des frauenpolitischen Wissens umfaßt viel mehr als das, was Sie in Ihrem Gesetzentwurf vorlegen. ({0}) Das Ausmaß der Gewalt gegen Frauen und auch der rechtlichen Ungleichstellung der Frauen ist erheblich größer. Ihr Gesetzentwurf beinhaltet einen Aspekt, den wir begrüßen: die Gleichstellung der ehelichen mit der nichtehelichen Vergewaltigung. Aber es fehlen einige andere Komponenten. ({1}) - Wir waren aber dafür, daß man hier nicht einen einzigen Aspekt herausgreift, sondern die gesamte Debatte, die hier geführt werden muß, auch führt. ({2}) Der Stand der frauenpolitischen Diskussion ist zur Zeit, daß erstens eine Gleichstellung der ehelichen mit der nichtehelichen Vergewaltigung kommen muß, zweitens ist klar, daß der Vergewaltigungsbegriff geändert werden muß. Nicht nur die erzwungene vaginale Vergewaltigung ist als solche zu bezeichnen, sondern auch andere erzwungene Formen der Penetration müssen dazu. ({3}) Der Gewaltbegriff, der heute im Gesetz ist, muß auch geändert werden; das haben Sie auch nicht drin. Da war Frau Süssmuth in dem Entwurf, den sie im Kabinett eingebracht hat, fortschrittlicher als der SPD-Entwurf, wo quasi davon abgesehen wurde, daß eine Vergewaltigung nur vorlag, wenn akute Gefahr für Leib und Leben bestand. Im Süssmuth-Entwurf war die Formel „Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben der Frau" durch „gegen ihren Willen" ersetzt. Das muß rein. ({4}) Das sind alles Punkte, die im SPD-Entwurf fehlen, und aus dem Grund haben wir GRÜNEN gesagt - und uns im Rechtsausschuß auch entsprechend ver10704 halten - : Wir stimmen der Gleichstellung der ehelichen und nichtehelichen Vergewaltigung zu. Dagegen haben wir der in Ihrem Entwurf vorhandenen Milderungsmöglichkeit nicht zugestimmt, weil wir der Meinung sind: Das ist eine Konstruktion, die es sonst im ganzen Strafrecht nicht gibt, und das dient nicht dem Schutz der Frauen, sondern dem Schutz der Ehemänner. ({5}) Wenn die Frau den Mann nicht verurteilt sehen will - sie ist meistens die einzige Zeugin -, dann kann sie die Aussage verweigern. Sie brauchen diese Abmilderungsklausel nicht; es ist im Endeffekt ein Zugeständnis an den alten Rechtszustand. Darum sahen wir uns leider genötigt, uns in der Gesamtabstimmung zu enthalten, und das ist, glaube ich, begründenswert. Dann haben Sie uns vorgeworfen, Herr de With, wir hätten ja unseren eigenen Entwurf nicht eingebracht. Aber es war in den Rechtsausschußberatungen doch so, daß alle Modelle, die - auch informell - vorlagen, z. B. das Modell des Bundesjustizministers, das Modell von Frau Süssmuth, das für die CDU/CSU erstaunlich fortschrittlich war - das muß ich sagen -, und auch unsere Vorstellungen, immer mit diskutiert worden sind. Ich sage Ihnen, Herr de With - das habe ich auch im Rechtsausschuß gesagt - : Wenn absehbar gewesen wäre, daß hier eine Mehrheit für eine Reform des Sexualstrafrechts im Interesse der Frauen zustande kommt, hätten wir unseren Entwurf auch wieder eingebracht. Aber das war überhaupt nicht absehbar. Wir finden es besser, jetzt, wo Ihr Ansatz hier voraussichtlich niedergestimmt wird, unseren Entwurf einzubringen. Damit haben wir eine erneute Beratungsgrundlage für eine erneute Diskussion hier im Bundestag. Das finden wir wichtig. ({6}) Jetzt möchte ich gern auf dieses Trauerspiel in mehreren Akten im Rechtsausschuß und hier im Parlament zu sprechen kommen. Herr de With, Sie haben mir viel abgenommen. Sie haben gesagt, es ist eine über Jahre und fast Jahrzehnte gehende Debatte, ({7}) wozu auch die Strafrechtler schon gesagt haben: Es ist im Endeffekt eine Deklassierung der Ehefrauen zu Bürgerinnen zweiter Klasse vom rechtlichen Standpunkt aus. Es hat Anhörungen genug gegeben, früher und heute. Was die CDU/CSU-Abgeordneten im Rechtsausschuß geboten haben, war ungeheuerlich. Ich war die meiste Zeit als einzige Frau dabei, und ich kann sagen: Ich habe manchmal gar nicht ausgehalten, was da wirklich vorgeschoben worden ist. ({8}) - Von seiten der CDU/CSU, also nicht von der SPD. Wir haben etliche Beratungen gehabt. In den Rechtsausschußsitzungen wurde erst einmal deutlich, daß es hier offensichtlich Unklarheiten hinsichtlich der Haltung der Regierung gegeben hat. Wir sind da widersprüchlich informiert worden. Ich muß sagen: Ausdrückliches Kompliment an Herrn Lenz, der das BMJFFG vertreten hat; er war wenigstens sehr ehrlich. Dagegen erklärte das BMJ im Sommer letzten Jahres, lange nachdem es schon auf Chefebene eine Einigung gegeben hatte, nämlich im Januar letzten Jahres, im Rechtsausschuß, es habe diese Einigung noch nicht gegeben. Wir mußten einen Geschäftsordnungsantrag zur Herbeizitierung des Ministers stellen, um diese Unstimmigkeiten zu klären. Wohlgemerkt, wir wollten beide Ressortminister haben, die Ministerin und den Minister. Das ist von seiten der CDU/CSU-Mehrheit mit dem Argument abgelehnt worden, federführend sei der Justizminister und nicht die Frauenministerin. Daraufhin haben wir als GRÜNE beantragt, Frau Süssmuth zu einer nächsten Sitzung zu laden, und zwar deshalb, weil Sie, Frau Süssmuth - ich nehme an, auch die neue Frauenministerin - in der Kabinettsitzung vom 7. Juli 1987 bereits besondere Kompetenzen erhalten haben. Diese sind sehr gerühmt worden, und es wurde festgestellt: Die Frauenministerin hat die Mitfederführung in frauenpolitisch relevanten Angelegenheiten. Wir haben den Begriff „Mitfederführung" von Anfang an als sehr problematisch empfunden. Was ist denn eine „Mitfederführung"? Im juristischen Sinne gibt es so etwas nicht. Leider Gottes haben sich diese Befürchtungen bestätigt, daß das eigentlich nur ein Etikettenschwindel war, denn der Justizminister hat erklärt, selbstverständlich habe er die Hauptfederführung, und von daher seien die Positionen der Frauenministerin nicht so maßgeblich. In den Chefgesprächen hat Frau Süssmuth eine Niederlage nach der anderen einstecken müssen. Die fortschrittlichen Ansätze, die da waren und die auch über das hinausgingen, was im SPD-Entwurf enthalten ist, sind fast samt und sonders der Kabinettsdisziplin oder anderen Interessen geopfert worden. Es gab dann eine Einigung auf den BMJ-Entwurf, den ich in vielen Punkten als rückschrittlich bezeichnen muß. Das habe ich sehr bedauert. Sie haben auch, Frau Süssmuth - ich nehme an, die neue Frauenministerin ebenfalls -, in dieser Kabinettssitzung vom 7. Juli 1987 das Recht erhalten, zu allen frauenpolitisch relevanten Angelegenheiten in den Ausschüssen zu reden. Ich habe Ihnen damals einen Brief geschrieben und Sie gebeten, in unseren Ausschuß zu kommen. Herr Lenz hat Sie dann vertreten. Er war auch, wie gesagt, immer sehr offen und hat sich da nicht irgendwie herumlaviert. Aber ich hätte es richtig gefunden, Frau Süssmuth, wenn Sie persönlich gekommen wären, wenn Sie die Sachen offengelegt und sich hier, protestierend gegen das, was im Kabinett und in den Reihen Ihrer Fraktion abgelaufen ist, den Rückhalt der Frauen geholt hätten. Daß Sie das nicht getan haben, habe ich sehr bedauert. ({9}) Dann komme ich zu dem Allerschlimmsten; ich komme zu diesen Argumenten dieser Herren der CDU/CSU. ({10}) - Ja, Herr Eylmann, Sie sind vielleicht ein aufrichtiger Mann. Aber Sie sind kein Herr in diesem etwas negativen Sinne; das muß ich wirklich sagen. ({11}) Die Herren hatten gegen den BMJ-Entwurf, der nun wirklich schon bis zum „geht nicht mehr" abgespeckt war und teils rückschrittliche Punkte beinhaltete, folgendes zu monieren: Erstens haben sie befürchtet, daß durch die Gleichstellung der ehelichen mit der nichtehelichen Vergewaltigung die Anwendungsmöglichkeiten der kriminologischen Indikation ausgeweitet werden würden. Zweitens sahen sie den Intimbereich der Ehe und den besonderen Schutz der Familie gefährdet. Was ich besonders abgeschmackt fand: Einer der Herren sah die Koalitionsfrage gestellt. Ich sage Ihnen, das ist so etwas von blödsinnig; Entschuldigung. Da hätte man wirklich nur den Fraktionszwang bei Ihnen aufheben müssen, dann wären diese Patriarchen als - was weiß ich, wieviel - 20 Reaktionäre übriggeblieben, und es hätten hier vielleicht Mehrheiten für eine Verbesserung der Rechtsstellung von Frauen gegeben. Das verstehe ich überhaupt nicht. ({12}) Ich sage Ihnen: Sie schätzen Ehe und Familie und auch den Intimbereich so hoch. Auch ich schätze Ehe, Familie und den Intimbereich der Ehe. Aber welchen Begriff haben Sie eigentlich von Würde und Intimbereich von Ehe und Familie - das frage ich Sie -, wenn Sie das gleichzeitig als Argument benutzen, um Gewalt in der Ehe nicht als solche zu brandmarken und nicht als solche rechtlich zu behandeln? ({13}) Dann haben Sie ein Verständnis von Ehe und Familie, bei dem die Institution und die Ehemänner wichtiger sind als die Würde der Frauen, die in Ehe und Familie sind. Das finde ich zutiefst unmenschlich, unwürdig und mit der Verfassung unvereinbar. ({14}) Ich bitte Sie zum Schluß, Frau Frauenministerin: Lassen Sie die berechtigten Interessen von Frauen, die hier für Gerechtigkeit und Würde berechtigte Forderungen geltend machen, nicht in der Kabinettsküche von irgendwelchen Männern zerschwatzen. Das ist unwürdig. Es müßte endlich Schluß damit sein. Hier muß im Interesse der Frauen gehandelt werden. Danke schön. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert ({0}).

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die sehr schwierige Entstehungsgeschichte verschiedener Überlegungen, die teils offiziell, teils inoffiziell zu diesem Bereich vorliegen, ist hier schon ausführlich dargestellt worden. ({0}) Auch die Freien Demokraten haben es sich hier keineswegs leichtgemacht. Wir haben uns über Jahre hinweg auf Parteitagen mit dem Thema der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe befaßt und uns erst nach einer Reihe von Jahren darauf verständigt, einen Entwurf, nämlich den, der hier auch als Entwurf des Bundesjustizministers bezeichnet wird, zu unterstützen. Eine Einigung über einen solchen Entwurf hat weder in der Koalition noch mit anderen Fraktionen bisher stattfinden können. Daß aus naheliegenden Gründen, lieber Herr de With, zunächst einmal Einigung in der Koalition erzielt werden muß, ist Ihnen so bekannt wie mir. Daß wir es vielleicht leichter gehabt hätten, will ich nicht ohne weiteres ausschließen. Aber wir stehen zu dieser Koalition und müssen uns auch über die Fragen, in denen unsere Ansichten nun tatsächlich aus sehr grundsätzlichen und einleuchtenden Gründen auseinandergehen, verständigen, um auch in diesen Fragen, und dann möglichst mit Ihnen allen zusammen, gemeinsam zu handeln. Die Gründe, die hier über ablehnende Stellungnahmen früherer Zeit oder auch bis heute dargelegt worden sind, möchte ich noch einmal in einigen Punkten streifen. Es hat für Liberale nun wirklich noch nie den geringsten Gedanken dahin gegeben, daß etwa mit dem Trauschein auch nur die Spur einer Einwilligung in Gewaltanwendung in der Ehe gegeben sein könnte. Der Gedanke ist geradezu abwegig. Genauso teile ich die Auffassung von Herrn Eylmann, daß hier eher erhöhte Rücksichtnahme selbstverständlich ist, - um andere Wörter, die mir hier in dem Zusammenhang vielleicht zu anspruchsvoll wären, zu vermeiden. Das Ergebnis ist jedenfalls ganz klar: Hier sehen wir keine Hinderungsgründe für eine Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, sondern wir halten das unter diesen Gesichtspunkten geradezu für notwendig und selbstverständlich. Unsere Bedenken - davon ist erstaunlicherweise heute noch nicht sehr viel die Rede gewesen - gründen sich auf den rechtspolitischen Bereich im engeren Sinne, auf den verfahrenspolitischen Bereich. Wir sind der Meinung, daß hier in der Praxis einer Hauptverhandlung eine Fülle von äußersten Schwierigkeiten auftreten wird, in der die Beweislage so verzweifelt schwierig ist, wie sonst nur in wenigen anderen Fällen, einfach aus der Natur der Sache heraus. Deshalb sind Fehlurteile zu befürchten, die dem Anliegen, das einer Strafbarkeit zugrunde liegt, dann nur schaden würde. Diese Bedenken haben - soweit ich sehen kann - die Gegner einer solchen Regelung bei uns längere Zeit in erster Linie bestimmt. ({1}) Kleinert ({2}) - Also „haltlos" möchte ich zu Dingen, die wir doch mit einigem Ernst betrachtet und diskutiert haben, nicht so ohne weiteres sagen. ({3}) Ich bin allerdings der Meinung - Sie werden es ja hören, wenn Sie mich weiter sprechen lassen - , daß diese mehr technischen Gesichtspunkte - nachdem wir sie lange genug erwogen haben - hinter der grundsätzlichen Erwägung zurücktreten müssen, zu der wir nun Beschluß gefaßt haben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Geis? - Bitte schön, Herr Geis.

Norbert Geis (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000651, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, würden Sie mir zustimmen, daß sich die Zeugeneinvernahme in einer Hauptverhandlung in einem solchen Fall mindestens so schwierig in bezug auf die Zeugen gestalten würde, wie die Zeugeneinvernahme, die wir heute morgen - gerade vor einer Stunde - im Memminger Prozeß gegeißelt haben?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich möchte hier, Herr Geis, aus verschiedenen Gründen nicht die geringste Verbindung herstellen. ({0}) Ich weigere mich, die beiden Vorgänge miteinander in Verbindung zu bringen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Wiefelspütz.

Dr. Dieter Wiefelspütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002506, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kleinert, es ist sicherlich für die Justiz geläufig, schwierige Beweisaufnahmen zu haben. Wir haben ja die Strafbarkeit der Vergewaltigung, und da gibt es sicherlich schwierige Beweisfragen in den Hauptverhandlungen. Wo sehen Sie denn dann den Unterschied zu den zu erwartenden Schwierigkeiten, wenn wir einen Straftatbestand haben werden, der die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellt? Wo ist der qualitative Unterschied?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Ich habe den Unterschied früher darin gesehen, daß sich hier in aller Regel nur ein Zeuge findet, und das ist der Verletzte. Das ist bei anderen Vergewaltigungen in einer Vielzahl von Fällen - man kann vielleicht sogar sagen: leider - nicht so der Fall. Außerdem ist das, was sich in der geschlossenen Wohnung ereignet, viel seltener weiteren zusätzlichen Beweisen durch Kenntnisnahme anderer Personen zugänglich, als das bei anderen Fallgestaltungen der Fall zu sein pflegt. Da wir uns aber nun einmal über diese Bedenken hinweggesetzt haben, möchte ich nun nicht zu lange darauf beharren. Wir haben ja eingesehen, daß wir dennoch tätig werden wollen. Es folgt allerdings aus meiner Einschätzung der prozessualen Situation, daß wir hier wohl sehenden Auges - in allererster Linie wegen der präventiven Wirkung und wegen der bewußtseinsbildenden Wirkung - tätig werden. Und das ist nun einmal ein recht bedenkliches, mindestens ein schwieriges Argument in der rechtspolitischen Diskussion. Die bewußtseinsbildende Wirkung von Straftatbeständen ist in vielen Fällen von der früheren Koalition nicht als ausreichender Grund angesehen worden, einen Straftatbestand aufrechtzuerhalten. Darüber hat es damals in anderer Rollenverteilung im Parlament eine Reihe von Auseinandersetzungen gegeben. Dennoch sind wir der Meinung, daß wir uns auch über dieses Bedenken in diesem Zusammenhang hinwegsetzen sollten. Dann kommt allerdings die Frage, wie wir nun zu einem Ergebnis kommen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sind Sie bereit, eine weitere Zwischenfrage zu beantworten?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Bitte schön.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr de With, bitte schön.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kleinert, nachdem wir von Herrn Kollegen Eylmann von der CDU/CSU-Bundestagsfraktion gehört haben, daß eine neue Initiative komme, lautet meine Frage: Ist mit Ihnen insoweit schon Kontakt aufgenommen worden, sind Sie sich einig, und wann kommt es zu einer entsprechenden neuen Vorlage?

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wir haben, wie Sie sicher erahnen, ständig eine Fülle von Kontakten. Aber das Ergebnis solcher Kontakte sollte man, damit sie nützlich bleiben, erst am Schluß bekanntmachen. ({0}) - Das ist so beabsichtigt, Herr de With. ({1}) - So gerne ich Zwischenfragen beantworte, zeigt sich tatsächlich zum wiederholten Male, daß sich die Dinge genauso erledigen ließen, wenn man in dem, was man sich zu reden vorgenommen hatte, einfach fortfährt. Ich wollte ihnen nämlich sagen, daß der entscheidende Punkt, das Problem, zwischen den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP schon angesprochen worden ist. Dabei handelt es sich um die sich unserer Auffassung nach zwangsläufig ergebende kriminologische Indikation im Bereich von § 218 StGB. Ich sehe nicht, wie wir in der Lage sein sollen, einer Ausnahmeregelung zuzustimmen, die sowohl systematisch wie auch vom Anlaß her nicht zu begründen sein würde. ({2}) - Wahrscheinlich auch das. Da liegt ein Problem. Wir müssen sehen, wie wir in unserer Bewußtseinsbildung Kleinert ({3}) dort so bald wie möglich weiterkommen. Dann steht im übrigen, soweit ich das sehen kann, der Verabschiedung eines Gesetzes nichts mehr im Wege, das der eine gerne als § 172, der andere als § 178 oder § 179 einfügen möchte. Über solche Dinge werden wir mit Sicherheit - ich glaube auch, durch alle Fraktionen - schnell einig werden. Das gilt auch für die Ausgestaltung der Tatbestände im einzelnen. Dazu sage ich allerdings noch - das ist auch der Grund, warum wir heute ihren Entwurf zunächst noch einmal wieder ablehnen müssen - ({4}) - Ich bemühe mich, die Gemeinsamkeiten freundlich anzusprechen, solange sich das machen läßt. Wir wollen also ablehnen, weil wir zum einen in § 177b Ziffer 4 die Idee, daß das Gericht - und zwar in vager Form geregelt - die Strafe mildern oder von Strafe absehen kann, nicht haben wollen. Wenn wir uns schon entschließen, eine derartige Bestimmung zu machen, muß sie auch so klar sein, daß man weiß, daß es in den verhandelten Fällen schließlich zu einer Bestrafung kommt und daß nicht einfach mit einer mir noch nicht ganz klaren Begründung mal gemildert und mal von Strafe abgesehen wird. Das widerspräche doch dem Charakter der Bestimmung, wie wir ihn bisher herauszuarbeiten versucht haben. Deshalb geht das unserer Auffassung nach so nicht. Zum anderen legen wir allerdings auch Wert darauf - das ist für einige unserer Freunde ein ganz wichtiger Gesichtspunkt - , daß die Verletzte die Möglichkeit haben muß, von sich aus Einfluß geltend zu machen und einen Widerspruch gegen die weitere Verfolgung einzulegen. Insofern muß man das, was hier Grundlage unserer Überlegungen im Ganzen ist, nämlich die Achtung vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau, wohl konsequenterweise in diesem Verfahren mit durchführen. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, Sie haben keine Zeit mehr, Sie haben nur noch 17 Sekunden.

Detlef Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001121, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Da die Zeit abgelaufen ist, bedaure ich, keine Zwischenfrage mehr beantworten zu können. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Es tut mir leid. Ich war schon großzügig im Unterbrechen, und wir wissen, daß wir heute noch sehr lange zu tagen haben. Herr Bundesminister Engelhard hat das Wort. ({0})

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die vertieften Überlegungen und speziell die Beratungen im Rechtsausschuß haben gezeigt, daß die gewünschte Einbeziehung des ehelichen Bereichs in die Straftatbestände der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung eine wirkliche Neuregelung dieser Vorschriften verlangt und daß es eben nicht genügt, jeweils das Tatbestandsmerkmal „außerehelich" zu streichen. Mit dieser so einfach anmutenden Lösung läßt sich der dem Gesetzgeber aufgetragene besondere Schutz von Ehe und Familie nicht verwirklichen. Gerade im ehelichen Bereich dürfen staatliche Eingriffe nur mit größter Zurückhaltung erfolgen. Holzschnittartige, nicht genügend differenzierte Lösungen wie die des SPD-Entwurfs tragen nicht dazu bei, die Konfliktlösungsfähigkeit der Partner und damit die Ehe zu erhalten. Solche einfachen Lösungen bringen vielmehr die Gefahr mit sich, gerade durch die Folgen des staatlichen Eingriffs die Ehe zu zerstören. Gegen seinen Willen darf der verletzte Ehegatte, der auch an die in der Familie lebenden Kinder denken mag, auf diese Weise nicht selber zum Opfer werden. ({0}) Die künftige Regelung muß vielmehr, so meine ich, aus den vier Vorgaben entwickelt werden, die ich dem Rechtsausschuß bereits unterbreitet habe: erstens Gleichbehandlung von ehelichen und außerehelichen sexuellen Gewalthandlungen, zweitens Gleichbehandlung der verschiedenen Penetrations-formen, drittens gleicher Schutz von Frauen und Männern durch eine geschlechtsneutrale Tatbestandsfassung und schließlich viertens Widerspruchsrecht des verletzten Ehegatten bei grundsätzlicher Geltung des Offizialprinzips. Nun haben Sie, Frau Nickels, vorhin sehr engagiert anzumerken gewußt, daß dies eine äußerst rückschrittliche Einstellung sei, die hier bei den Beratungen des Rechtsausschusses in dem Konzept des Bundesministeriums der Justiz zutage getreten sei. ({1}) Ich weiß nicht, wie man dies begründen will. Vielmehr meine ich, daß wir gerade nach den übrigens von gutem Willen und auch von Erfolg getragenen Gesprächen mit Frau Prof. Süssmuth auf der Grundlage jenes Konzeptes volle Einigung erzielt haben, das als etwas rückständig zu bezeichnen Sie für notwendig gehalten haben. Meine Damen und Herren, einen auf diesen Prämissen beruhenden Gesetzentwurf der Bundesregierung vermag ich derzeit - ich sage dies ganz offen, wie es jedermann auch klar ist - noch nicht vorzulegen. Die Erstreckung der §§ 133 ff. des Strafgesetzbuchs auf den ehelichen Bereich hat hinsichtlich der Vergewaltigung die Anwendbarkeit der Indikationsregelung des § 218a StGB zur Folge. Es gibt Kollegen aus den Reihen der CDU/CSU, die mit dieser Konsequenz ihre Schwierigkeiten haben.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten de With?

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Ja, bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön.

Dr. Hans With (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002536, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, Hand aufs Herz: Verschleiern Ihre Ausführungen nicht die Tatsache, daß die Koalition nur deswegen nicht in der Lage war, einen Entwurf vorzulegen, weil einige Hardliner es nicht wollten, und daß das Fehlen eines Entwurfs keineswegs daran lag, daß Sie etwa gegenüber unserem holzschnittartigen - wie Sie ihn zu belieben nennen - einen fein ziselierten Entwurf vorlegen wollen? Wir wollen einen Entwurf und wettern nicht gegen einige Bestimmungen hier und dort.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Herr Kollege de With, von Verschleiern kann hier nicht die Rede sein. Mir ist sehr wohl bewußt, daß es hier eine ganze Fülle von Auffassungen gibt, daß es hier auch Leute gibt, die jegliche Regelung in diesem Bereich ablehnen. Aber die kriminologische Indikation ist ganz sicherlich ein völlig neuer und nun schon über die Zeiten diskutierter Punkt - den ich soeben mitgeteilt habe - , der hier Schwierigkeiten bereitet. Ich kann nur wiedergegeben, was mir gesagt wird, und darf fortfahren.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Minister, es besteht aber noch ein Wunsch nach einer Zwischenfrage, und zwar von der Abgeordneten Frau Nickels.

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Ja, bitte.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön.

Christa Nickels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001601, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ich möchte die Frage von Herrn de With gern noch einmal zuspitzen. Ist im Grunde genommen nicht doch richtig, was Herr Eylmann in der Sitzung des Rechtsausschusses am 12. Oktober 1988 gesagt hat - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis - : „ ... so daß man, wie Frau Minister Süssmuth ihm gegenüber unlängst bestätigt habe, ohne Schwierigkeiten zu einer Einigung gelangen könne. Voraussetzung dafür sei jedoch, daß innerhalb seiner Fraktion ein Kompromiß gefunden werde."? - Daraus ergibt sich, daß es offensichtlich weder an „holzschnittartigen Entwürfen" der SPD oder an fehlenden Vorlagen von uns, sondern ausschließlich, einzig und allein an der Fraktion der CDU/CSU lag. ({0})

Hans A. Engelhard (Minister:in)

Politiker ID: 11000472

Wir sind im Moment beim heutigen Tatbestand. Insofern nutzt Ihr Schürfen in der Vergangenheit jetzt gar nichts. Ich muß hier aufnehmen, was mir gesagt wird. Ich bin nicht in der Lage, eine umfassende Politanalyse vorzunehmen, die im einzelnen herauszufinden sucht, wann, zu welchem Zeitpunkt an welcher Ecke wer welchen Beitrag dazu geleistet hat, daß wir nicht zu einem gemeinsamen Ergebnis kamen. ({0}) Ich habe soeben - wie auch schon Herr Kollege Eylmann - mitgeteilt, daß es innerhalb der CDU/CSU-Fraktion Schwierigkeiten in dem betreffenden Punkt gibt. Nun sage ich dazu: Diesen Bedenken begegne ich mit der gebotenen Achtung, aber ich teile diese Bedenken nicht. Ich meine folgendes - ich möchte das einmal ausdrücklich ansprechen - : Wer es etwa für notwendig hält, beim Bundesverfassungsgericht die Voraussetzungen der Notlagenindikation überprüfen zu lassen, der ist doch ganz offensichtlich der Meinung, daß damit in der Praxis viel zu großzügig umgegangen werde. Wenn er aber dieser Auffassung ist, dann wird er doch wohl nicht behaupten wollen, daß es nur eine einzige Ehefrau gäbe, die später einmal wahrheitswidrig auf den Plan treten und eine Vergewaltigung durch ihren Ehemann behaupten würde, um sich qua kriminologischer Indikation einen Schwangerschaftsabbruch zu besorgen, ({1}) wenn man diese Worte in diesem Zusammenhang hier überhaupt so verwenden kann. Aber genau dies ist ja, wie ich aus Argumentationen her weiß, gesagt worden. Es ist gesagt worden, hier lauere die Gefahr. ({2}) Nun haben Sie, Herr Kollege Eylmann, ja heute darauf hingewiesen, daß sich 0,1 % der Frauen, die sich auf eine Indikation berufen, auf die kriminologische Indikation berufen. Das ist ein ganz verschwindend geringer Teil, so daß Sie dem, was ich soeben gesagt habe, auf einer anderen Argumentationslinie ja auch zustimmen. Ich jedenfalls, meine Damen und Herren, werde mich weiter bemühen und nicht nachlassen, die von mir favorisierte Regelung zu vertreten. Für heute sage ich, daß - ungeachtet der Schwierigkeiten, mit denen wir uns hier beschäftigt haben - wir als die Koalition und nicht die SPD bei dem Gesamtkonzept auf dem besseren und richtigen Wege sind. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Becker-Inglau.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es steht mir nicht an, in der Mottenkiste der letzten 16 Jahre zu kramen, da ich erst zwei Jahre hier bin. Aber als ich mir die Diskussion um das leidige Thema unseres Gesetzentwurfes heute und ganz besonders bei den Worten des Ministers anhörte, habe ich den Eindruck gewonnen, daß hier im Hohen Hause einerseits Kräfte am Werk sind, die einfach nicht wahrhaben wollen, daß Frauen das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung auch dann für sich sollen beanspruchen können, wenn sie den Trauschein in der Tasche haben. Auf der anderen Seite haben wir hier sehr moderate Töne wie bereits bei der Einbringung unseres Gesetzentwurfes im November 1987 gehört. Meine Damen und Herren der Koalitionsfraktionen, Sie verpassen eine der wenigen Chancen, die Sie in dieser Legislaturperiode wahrnehmen könnten, nämlich einen von der Bundesregierung seit fast zwei Jahren angekündigten Gesetzentwurf zu realisieren. Sie bleiben bei Ankündigungen. Was Sie tun wollen, steht, jedenfalls in Ansätzen, schon in unserem Gesetzentwurf. Aber bleiben Sie bei Ihren Ankündigungen! Handeln tun Sie jedenfalls nicht. Sie hätten die Chance, Frauen ein mögliches Leiden schon jetzt zu ersparen. Sie gäben damit den Frauen ein Stück mehr die Chance, in ihrer Ehe und Familie als gleichwertige Partnerin wie in einer eheähnlichen Partnerschaft zu leben; denn in einer eheähnlichen Gemeinschaft wird die Vergewaltigung einer Partnerin immer noch höher bestraft. ({0}) Wenn Ihnen, meine Damen und Herren von der Koalition, soviel an dem Erhalt der Ehe und der Familie liegt, wie Sie es immer vorgeben, dann handeln Sie doch auch danach! Ich kann bei Ihrer augenblicklichen Situation verstehen, daß Sie unseren frauen- und familienpolitischen Vorstellungen, die Geld kosten, z. B. einer wirklich angemessenen Erhöhung des Kindergeldes oder einer Ausweitung des Erziehungsgeldes, nicht folgen; aber dieser Gesetzentwurf kostet gar nichts. Das Geld ist also gar nicht der Grund. Man muß fragen, was Sie dann treibt, die Vergewaltigung z. B. an der Nachbarin anders als die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau zu bewerten. Ich bin immer davon ausgegangen, daß die Ehe und die Familie für Sie nicht nur nach außen schützens- und unterstützenswert seien, sondern auch für die Mitglieder einer Familie einen besonderen Schutz bieten sollten. Für mich gilt dies jedenfalls. Ihre ablehnende Haltung gegenüber unserem Gesetzentwurf konnte ich zwar schon vor sechs Jahren nicht verstehen, da Sie bereits zu dem damaligen Zeitpunkt nicht erst von der Tatsache aufgeschreckt wurden, daß es Vergewaltigungen in der Ehe gibt. Sie haben in Ihren Wortbeiträgen damals eingestanden, daß es den Tatbestand der Vergewaltigung in der Ehe wohl gebe. Aber Sie blieben dabei, ihn als ein minder schweres Delikt anzusehen und ihn weiterhin nicht nach § 177 StGB, sondern nach § 240 oder § 223 StGB zu beurteilen. Heute, nach Anhörungen im Rechtsausschuß, nach der Emnid-Studie, nach authentischen Berichten von Frauenhäusern, aus gynäkologischen Arztpraxen und aus Beratungsstellen, können Sie sich nicht mehr auf Ihre damalige Beurteilung zurückziehen. Sie haben Erkenntnisse gewonnen, die in der Debatte anläßlich der Einbringung unseres Gesetzentwurfs im November 1987 hoffen ließen, daß es zu einem für die Frauen positiven Konsens in dieser Legislaturperiode kommen könnte. Da stellte beispielsweise der Kollege Eylmann, wie er es auch heute wieder getan hat, fest, daß Ehefrauen in der Bundesrepublik täglich von ihren Ehemännern vergewaltigt werden. Er ist mit uns auch einig, daß der Tatbestand der Vergewaltigung das sexuelle Selbstbestimmungsrecht der Frau schützt, daß dieses Recht unteilbar ist und - ich zitiere jetzt wörtlich - nicht ein Gramm seines Gewichts verliert, wenn eine Frau heiratet. Der Kollege Lüder erklärte sogar, daß sich die Freien Demokraten auf ihrem Bundesparteitag in Kiel für die Strafbarkeit sexueller Gewalt auch in bestehenden Ehen ausgesprochen haben ({1}) und daß damit die gesetzespolitische Zielsetzung unseres Gesetzentwurfs zu bejahen sei. Dies wird von Ihnen dann auch in mehreren Punkten begründet. Ich hatte eigentlich gedacht, daß Sie, da Sie in der Koalition sind, auch in der Lage wären, uns jetzt schon, vielleicht parallel zu unserem Gesetzentwurf, einen Entwurf zu präsentieren, den wir ja vielleicht unterstützt hätten. Genauso positiv äußerte sich in dieser Debatte der Justizminister. Dem allerdings ging unser Gesetzentwurf ja nicht weit genug. Er hatte die Strafgleichheit erreichen und darüber hinaus den Straftatbestand der Vergewaltigung nicht nur beispielsweise bei der vaginalen Penetration enden lassen, sondern auch die anderen Penetrationsformen in eine neue Regelung einbeziehen wollen. Bei einem solchen Gesetzesänderungsvorhaben hätte er uns sicherlich auf seiner Seite, aber er kündigte eben nur an, ebenso wie Frau Süssmuth. Es bleibt nach wie vor bei der jetzigen Regelung, wenn heute nicht in der Weise abgestimmt wird, wie wir es uns bei unserem Antrag heute vorstellen. In den Ausschußberatungen im Rechtsausschuß und im Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit hatten wir eigentlich erwartet, daß wir auf Grund der in der Plenumsdebatte erfolgten positiven Beurteilungen zu einer konsensfähigen Regelung kommen könnten. Aber es ist bei diesen großspurigen Ankündigungen geblieben, und eine Verbesserung für die Frauen ist noch nicht in Sicht. Statt dessen konstruierte der Kollege Dr. Hoffacker in unserem Ausschuß eine nahezu abenteuerliche Begründung für die Ablehnung unseres Gesetzentwurfs, die durch den Kollegen Eylmann heute Gott sei Dank wieder entkräftet worden ist, daß nämlich die kriminologischen Indikationen vermehrt würden, wenn wir denn die Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe stellten. Andere Zahlen sind Gott sei Dank in die andere Richtung gegangen. Daß dann Union und FDP dem Antrag aus Gewissensgründen nicht zustimmen konnten, fanden wir schon sehr eigenartig. Eigenartig finde ich auch, daß Sie bisher nicht berücksichtigt haben, daß uns die Steigerung von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung viel mehr schrecken sollte. In der Kriminalstatistik, die im „Bulletin" vom 28. April dieses Jahres veröffentlicht wurde, ist zu lesen, daß allein die Straftaten dieses Straftatbestandes eine Steigerungsrate von 7,5 % aufgewiesen haben. Ich gehe davon aus, daß durch unseren Gesetzentwurf wenigstens ein kleiner Beitrag geleistet würde, die Zahl der Vergewaltigungen in der Ehe sinken zu lassen und damit auch die von Ihnen befürchteten Folgen zu mindern. Meine Damen und Herren, ich hoffe nicht, daß Sie durch Beharren auf dem Status quo die ausdrückliche Vermeidung der Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe manifestieren wollen, den Status Quo der Frau in der Familie weiterhin drücken wollen, daß die Ehefrau weiterhin vergewaltigt werden soll und dem Ehemann sozusagen das sexuelle Nutzungsrecht erhalten bleibt, wie es den Äußerungen des Kollegen Sauter in einem Interview in der Zeitschrift „Brigitte" im September letzten Jahres noch zu entnehmen war. Ich hätte es sehr viel mehr begrüßt, Sie wären mit uns so fortschrittlich gewesen wie unsere österreichischen Nachbarn; die haben inzwischen die Gleichstellung der Vergewaltigung in und außerhalb der Ehe im Nationalrat beschlossen. Die Neuregelung tritt bereits am 1. Juli 1989 in Kraft. Nutzen Sie die Chance, stimmen Sie doch noch unserem Antrag zu. Es wäre ein guter Anfang gemacht, und vielen Frauen wäre vielleicht ein wirkliches Geschenk mit auf den Weg gegeben. - Vielen Dank. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Männle.

Prof. Ursula Männle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001405, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! „Wer wie der Ehemann auf den Beischlaf ein vollkommenes Recht hat, macht sich durch die Erzwingung desselben keiner Notzucht schuldig. " Diese eben zitierte Rechtsauffassung stammt aus dem 19. Jahrhundert. Sie beschreibt ein Eheleitbild, das durch patriarchalisches Herrschaftsdenken über Frauen gekennzeichnet ist. Zwar haben sich glücklicherweise in den vergangenen Jahrzehnten die Vorstellungen über die Ehe und das Verhältnis der Geschlechter grundlegend gewandelt. Auch heute noch präsent und, wie eine im Auftrag des Bundesministeriums der Justiz im Jahre 1986 durchgeführte Emnid-Untersuchung betätigte - Herr de With hat heute auch schon daraus zitiert, und ich darf einige andere Zahlen nennen - , sogar weit verbreitet ist die Anschauung, daß die eheliche Lebensgemeinschaft die Pflicht des Ehepartners beinhalte, jederzeit sexuell verfügbar zu sein. Nur 58 % der Befragten war bekannt, daß Ehemänner vor Gericht verurteilt werden können, wenn sie ihre Ehefrau gegen deren Willen durch Gewalt oder mittels Drohung zum Geschlechtsverkehr gezwungen haben. Ich bin überzeugt, daß die lebhaften und kontrovers, häufig jedoch leider zu emotional geführten Diskussionen und Beratungen über den heute in zweiter und dritter Lesung zu behandelnden Gesetzentwurf Problembewußtsein geschaffen sowie Umdenkungsprozesse eingeleitet haben. Dennoch lehnen wir - es ist bereits gesagt worden - diesen Gesetzentwurf ab, da er durch seine schematische Anpassung der besonderen Situation in der Ehe nicht gerecht wird. Ich freue mich aber, daß durch die langjährigen Appelle der Frauengruppe der Unionsfraktion innerhalb der Fraktion ein Umdenkungsprozeß eingesetzt hat. Wir wollen diese Diskussionen und diese Schwierigkeiten, Frau Nickels, nicht unter den Teppich kehren. Wir wollen offen darüber sprechen. ({0}) Aber es ist nicht nur die Unionsfraktion, die hier Schwierigkeiten hatte, sondern auch die FDP. Als Ergebnis des zähen Ringens um die geeignete strafrechtliche Lösung wird nun, wie Herr Kollege Eylmann dargelegt hat, ein Gesetzentwurf zur Ergänzung des Strafgesetzbuches vorbereitet. Wir Frauen tragen diesen Gesetzentwurf mit; denn er trägt dazu bei, dem Wesen der Ehe als engster Lebensgemeinschaft, die unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung steht, Rechnung zu tragen. Erzwungene sexuelle Handlungen in der Ehe - darüber dürfte zwischen Kollegen und Kolleginnen aller Fraktionen Konsens bestehen - sind nicht nur für das Opfer zutiefst entwürdigend, demütigend und verletzend, sie bedeuten auch einen Mißbrauch der ehelichen Lebensgemeinschaft, die auf Liebe, gemeinsame Verantwortung, Respekt, Toleranz und gegenseitige Rücksichtnahme der Partner aufgebaut ist. Die Ausnützung physischer Überlegenheit, um sexuelle Gefügigkeit zu erreichen, ist kein Kavaliersdelikt, sondern strafwürdiges Unrecht. Eine Sanktionierung derartigen Verhaltens dient dem verfassungsrechtlich gebotenen Schutz der Ehe. Allerdings - und das betone ich ausdrücklich - muß der staatliche Strafanspruch vor dem ernsthaften gemeinschaftlichen Willen der Ehepartner, sich zu versöhnen, zurücktreten. Das Selbstbestimmungsrecht des Opfers, das durch die neue Strafvorschrift geschützt werden soll, würde nämlich gerade mißachtet, wenn gegen dessen ausdrücklich erklärten Willen ein Strafverfahren durchgeführt oder fortgesetzt werden könnte. Persönliche Motive, der Wunsch, dem Partner in einer langjährigen menschlichen Verbindung zu verzeihen, sind zu respektieren. Ein Widerspruchsrecht des verletzten Ehepartners wird daher sicherstellen, daß der Charakter der Straftat als Offizialdelikt unberührt, das Opfer dennoch Herr oder Herrin des Verfahrens bleibt. Wir sind der Meinung, daß die bestehende Gesetzeslücke geschlossen werden muß. Der bisher praktizierte hilfsweise Rückgriff der Rechtsprechung auf den Auffangtatbestand des allgemeinen Nötigungsparagraphen wird dem Unrechtsgehalt einer ehelichen Vergewaltigungshandlung in keiner Weise gerecht. Wir Frauen werden deshalb gemeinsam mit zahlreichen Männern in unserer Fraktion dafür kämpfen, daß der Gesetzentwurf bald vorgelegt und in dieser Legislaturperiode letztlich auch verabschiedet werden kann. Wir setzen auf Zusammenarbeit. Wie wir gesehen haben, hat die Beschwörungsformel von Herrn Eylmann, es könnte eine Frauenkoalition geben, doch einiges bewirkt. Aber wir wollen auf die Einsicht der noch nicht überzeugten Männer hoffen. ({1}) Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich muß leider zum Schluß kommen: Im Zivilrecht ist das partnerschaftliche Eheverständnis mit dem Gleichberechtigungsgesetz von 1957 und dem Familienrechtsänderungsgesetz von 1961 umgesetzt worden.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin - Frau Männle ({0}): Noch einen letzten Satz. Demgegenüber blieb das Sexualstrafrecht trotz veränderter gesellschaftlicher Anschauungen und gewandelter Lebensverhältnisse von Reformen unberührt. Ich verspreche mir von der Verankerung einer entsprechenden Strafnorm, die den bisher bedenklich verkürzten Schutz der Ehepartner sicherstellt, eine wichtige generalpräventive Wirkung.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin!

Prof. Ursula Männle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001405, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Die Orientierung an einem partnerschaftlichen christlichen Ehebild muß Allgemeingut werden. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Kollegin, Sie hatten mir die Hälfte der letzten Seite versprochen. ({0}) Das Wort hat die Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe mir für die heutige Debatte einen Verlauf erhofft und gewünscht, auf Grund dessen die Berichterstattung darüber von der Schlagzeile beherrscht wird: Alle Fraktionen des Deutschen Bundestages und die Bundesregierung sind sich einig darin, daß sexuelle Gewalt in der Ehe verabscheuungswürdig und strafwürdiges Unrecht ist. Wenn dies erreicht wird - und es müßte bei der heute zutage getretenen grundsätzlichen Einstellung aller Fraktionen erreichbar sein ({0}) - ich kann nicht 16 Jahre zurückschauen -, ({1}) dann hätten wir alle einen wichtigen Beitrag zur Schaffung eines Bewußtseins geleistet, auf das es in diesem Bereich mehr als auf alles andere ankommt. Es wäre schade, wenn diese grundlegende Übereinstimmung durch den heute noch nicht ausgestandenen Streit darüber verdeckt würde, wie im einzelnen die entsprechende Strafvorschrift zu formulieren ist. Über alle Vorschläge hierzu muß noch weiter diskutiert werden. Es gibt zu einzelnen Punkten unterschiedliche Auffassungen, die noch eingehender Beratung bedürfen. Aber für mich ist eines klar: Ich setze mich mit Nachdruck für eine solche Strafvorschrift ein und wäre sehr dankbar, wenn wir alle und die Öffentlichkeit aus der Debatte den Eindruck mitnehmen könnten, daß der Weg bis dahin nicht mehr weit ist. Ich möchte mich Herrn Eylmann voll anschließen und wie er drängen, daß es aber nun wirklich bald zu einer Lösung kommt. Das Thema „Vergewaltigung in der Ehe" ist nicht irgendein Thema. Gesetze greifen hier in die intimsten Bereiche von Menschen ein. Hier entstehen Leid und Verbitterung. Es werden Weichen für das Schicksal von Frauen, Männern, aber auch von Kindern gestellt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Minister, ich darf Sie unterbrechen. Sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Schmude zu beantworten?

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Bitte schön.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Abgeordneter Schmude.

Dr. Jürgen Schmude (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Minister, indem ich Ihrer Hoffnung und Erwartung voll zustimme, frage ich Sie, was ich schon Frau Männle fragen wollte: Ist denn nun in der CDU/CSU-Fraktion sichergestellt, daß dort ein Entwurf zustande kommt, oder muß man noch lange darum kämpfen, diskutieren, klären, so daß es letztlich doch unsicher ist?

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

„Sichergestellt" wäre etwas zuviel gesagt. Aber wir sind auf dem Wege dorthin. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, und zwar von Frau Schoppe?

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Bitte.

Waltraud Schoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002065, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Ministerin, Sie haben soeben das Problem beschrieben und gesagt, Sie wollen sich dafür einsetzen, daß es da eine Regelung gibt. Jetzt bin ich natürlich neugierig. Was heißt denn eigentlich „sich einsetzen"? Das ist ja ein sehr dehnbarer Begriff. Könnten Sie als Vertreterin der Regierung das hier noch einmal erklären? Heißt das: Reden dazu halten? Oder etwas mehr?

Prof. Dr. Dr. h. c. Ursula Maria Lehr (Minister:in)

Politiker ID: 11001305

Es heißt nicht: Reden dazu halten. Es heißt: Entsprechende Gespräche führen. Und die sind auf dem Wege. ({0}) Auch wenn wir uns keine Illusionen über die unmittelbaren Auswirkungen der notwendigen strafrechtlichen Änderungen auf die alltägliche Gewalt in der Familie machen, ist die Gleichbehandlung von außerehelicher und ehelicher Vergewaltigung für das Verhältnis der Ehepartner zueinander wie auch für das Selbstverständnis der Frauen nicht hoch genug einzuschätzen. Aus der Bundestagsdebatte von Ende 1987, die an Aktualität offenbar bis heute nichts verloren hat, greife ich den Begriff von der Leitbildfunktion des Strafrechts auf. Sie wird mit Unterstützung einer intensiven Öffentlichkeitsarbeit sicher dazu beitragen, Frauen wie Männern die Rechtslage in bezug auf die sexuelle Selbstbestimmung der Frau in der Ehe ins Bewußtsein zu rufen; denn bisher ist die Unkenntnis erschreckend. Die Leitbildfunktion des Strafrechts dürfte zunehmend auch die generelle Einstellung vieler Männer zum Thema „eheliche Gewalt" verändern. ({1}) Bei der Debatte über strafrechtliche Maßnahmen gegen sexuelle Gewalt in der Familie sollten wir uns immer auch vor Augen führen, in welchem Ausmaß solche schwerwiegende Verletzungen der Menschenwürde verbreitet sind. Nach Schätzungen des Allensbacher Meinungsforschungs-Instituts ist in jeder fünften Ehe eine Vergewaltigung schon mindestens einmal vorgekommen. Leider ist das erste Mal häufig nur der Beginn von sich immer wiederholenden Mißhand10712 Lungen über Jahre hin. In den Frauenhäusern berichten 50 % der mißhandelten Frauen von sexueller Gewalt ihrer Ehemänner und Partner. Die jüngst veröffentlichte Polizeistatistik für 1988 gibt lediglich 5 251 offiziell angezeigte Vergewaltigungen zu Protokoll; die Zahl ist zudem rückläufig. Dabei handelt es sich nur um außereheliche Fälle; sexuelle Gewalt in der Ehe wird ja bisher nicht als Vergewaltigung anerkannt und dementsprechend statistisch nicht registriert. Die auffällig niedrigen Zahlen sprechen für eine hohe Dunkelziffer der Vergewaltigungen insgesamt und besonders in der Ehe; es handelt sich hier zweifellos um ein gesellschaftliches Tabuthema. Das führt dazu, daß wir über die psychosomatischen Schädigungen durch Vergewaltigung, die therapeutischen Hilfsmöglichkeiten und die tatsächlichen Hilfsangebote viel zu wenig wissen. Wenn es in den letzten Jahren überhaupt Fortschritte gegeben hat, so verdanken wir das hauptsächlich dem Engagement zahlreicher Fraueninitiativen, die in vielen Städten Notruf- und Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen aufgebaut haben. ({2}) Eine der ersten hat das Bundesfamilienministerium Anfang der 80er Jahre als Modell in Mainz gefördert. Die Defizite im Hilfsangebot sind trotzdem beträchtlich und wahrscheinlich noch größer als bei der Versorgung mit Frauenhäusern. So ist zur Zeit nicht klar, ob es in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt eine einzige stationäre Facheinrichtung zur Behandlung von Langzeit-Traumata von Vergewaltigungsopfern gibt. Wir wollen deshalb die strafrechtliche Gleichbehandlung der ehelichen und außerehelichen Vergewaltigung ergänzen durch verstärkte flankierende Maßnahmen im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Das Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit wird im nächsten Jahr eine öffentliche Kampagne gegen Gewalt in der Familie durchführen. Unser Ministerium hat schon bisher zahlreiche Projekte zur Gewaltthematik gefördert, die seit langem ein Schwerpunkt der Frauenpolitik ist. Dabei haben wir in erster Linie eine Verbesserung der Hilfen für die Opfer angestrebt. Den vergewaltigten Frauen muß weiterhin geholfen werden. Es muß hier noch mehr getan werden. Gewalt in Ehe und Familie ist eines der sensibelsten Themen, mit denen sich Politiker und Politikerinnen befassen können. Die Gestaltung der sexuellen Beziehung entzieht sich weitgehend dem Einfluß des Staates und des Gesetzgebers, und das ist gut so. Trotzdem dürfen wir unsere Augen vor dem Leid nicht verschließen, das durch Gewalt in Familien entsteht. Es gilt, Gewalt in der Ehe mit Nachdruck zu ahnden. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Einzelberatung und Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes der Fraktion der SPD über die Strafbarkeit der Vergewaltigung, der sexuellen Nötigung und des sexuellen Mißbrauchs in der Ehe auf der Drucksache 11/474. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3873 die Ablehnung des Gesetzentwurfs der Fraktion der SPD. Auch in diesem Fall ist nach ständiger Praxis über die Ursprungsvorlage abzustimmen. Auf Drucksache 11/4532 liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN vor, der sich auf Art. 1 bezieht. Mit den Antragstellern ist geklärt, daß wir über diesen Änderungsantrag vor Aufruf der Einzelvorschriften abstimmen. Wer also für den Änderungsantrag der Fraktion der GRÜNEN auf Drucksache 11/4532 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Änderungsantrag mit großer Mehrheit abgelehnt worden. Wir kommen nunmehr zu der Abstimmung über die Einzelvorschriften, und zwar zuerst über Art. 1. Meine Damen und Herren, die Fraktion der GRÜNEN verlangt hierzu getrennte Abstimmung. Wir stimmen also zuerst über Nr. 1 Buchstabe a ab. Wer stimmt dafür? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung ist diese Vorschrift mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Wer für die Nr. 1 Buchstabe b stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Vorschrift mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der GRÜNEN abgelehnt worden. Wer für die Nr. 2 und 3 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Vorschriften sind mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Damit ist Art, 1 insgesamt abgelehnt. Ich rufe Art. 2 und 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dafür stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion der GRÜNEN sind die Art. 2 und 3, Einleitung und Überschrift mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen abgelehnt. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung abgelehnt. Damit unterbleibt nach § 83 Abs. 2 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Ich rufe nun Punkt 19 der Tagesordnung auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit - Drucksache 11/4268 -Überweisungsvorschlag des Altestenrates: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Wartenberg ({1}), Dr. Penner, Bernrath, Dr. Emmerlich, Graf, Hämmerle, Jansen, Lambinus, Lutz, Dr. Nöbel, Paterna, Schröer ({2}), Tietjen, Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein ({3}), Dr. Pick, Schmidt Vizepräsident Westphal ({4}), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Schmidt ({5}), Dreßler, Steinhauer, Andres, Dr. Böhme ({6}), Peter ({7}), Weiermann, Zeitler, Würtz, Gilges, Becker-Inglau, Kretkowski, Westphal, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit - Drucksachen 11/2214, 11/2795 Meine Damen und Herren, im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunktes 75 Minuten vereinbart worden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute über die Große Anfrage der SPD zur Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit und zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Regelung von Fragen der Staatsangehörigkeit beschäftigen, möchte ich das im Zusammenhang mit einigen Fragen des Ausländerrechts stellen. Seit diese Bundesregierung im Amt ist, ist über Ausländer und Ausländerintegration, über Abschrekkungsmaßnahmen gegen Ausländer mit viel Emotion gestritten worden. Die Sensibilität in der Öffentlichkeit hat durch diese emotionale und teilweise aggressive Diskussion auch aus den Reihen der CDU abgenommen. Das Steigen des Anteils der Rechtsradikalen an den Wählerstimmen macht dies besonders deutlich; ein Ansteigen, für das auch die CDU in Haftung genommen werden muß. ({0}) Trotz der vielen Diskussionen im Lager der Regierung und trotz der markigen Worte des bisherigen Innenministers Zimmermann ist eine paradoxe Situation eingetreten: daß nicht eine einzige Regelung im Ausländerrecht seit 1982 in Kraft gesetzt worden ist. ({1}) Gleichwohl ist allein durch die negative Diskussion die Lage der Ausländer in der Bundesrepublik nicht gerade leichter geworden. Vor zwei Wochen hat sich nun die Koalition auf Eckwerte zum Ausländerrecht geeinigt. Soweit uns die Ergebnisse zur Verfügung stehen, meine ich, daß das eine Grundlage ist, zumindest die härteste Polemik aus der Diskussion herauszunehmen. Wir sind bereit, dieses Thema Ausländerintegration und Rechte für Ausländer in der Bundesrepublik auf eine sachliche Ebene zurückzuführen, und hoffen, daß damit die Polarisierung in der Gesellschaft aufhört. Das ändert nichts daran, daß wir diese Eckwerte natürlich nicht für ausreichend halten, daß wir auch in dieses Haus Gesetzentwürfe mit weitergehenden Vorstellungen in allen Bereichen des Ausländerrechts eingebracht haben. Wir haben ein weiteres Element der Ausländerpolitik durch einen Gesetzentwurf zu regeln versucht. Die Einbürgerung ist nur ein Aspekt im Gesamtkontext einer liberalen und humanitären Ausländerpolitik. Einbürgerungsmöglichkeiten sollen den Ausländern, die hier geboren sind, die hier schon lange leben, zu Bedingungen angeboten werden, die leicht erfüllbar sind, ohne bürokratische Hürden. Ja, die Bundesrepublik muß bestimmten Gruppen von Ausländern, insbesondere denen, die hier geboren sind, automatisch die Staatsangehörigkeit gewähren. Die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage bestätigt eindrucksvoll, daß nur ein äußerst geringer Teil der Ausländer, die sich in der Bundesrepublik Deutschland einbürgern lassen könnten, den Einbürgerungsantrag auch wirklich stellen. Seit zehn Jahren stagniert die Zahl der Einbürgerungen im Ermessenswege, während die Zahl derjenigen steigt, die die zeitlichen Voraussetzungen für eine Einbürgerung erfüllen. Während mehr als 60 % der in der Bundesrepublik lebenden Ausländer die in den Einbürgerungsrichtlinien geforderte Mindestaufenthaltsdauer von zehn Jahren vorweisen können und 69 % der unter 16 Jahre alten Kinder und Jugendlichen bereits hier geboren sind, stagniert die Einbürgerungsquote seit 1977 bei etwa 0,3 %. Die Einbürgerungsquote hat sich, bezogen auf den Personenkreis, der die zeitlichen Einbürgerungsvoraussetzungen erfüllt, zwischen 1977 und 1986 sogar um zwei Drittel verringert. Die geringe und partiell sogar gesunkene Bereitschaft von Ausländern, sich einbürgern zu lassen, hängt mit der Vielzahl und Art der geforderten Voraussetzungen zusammen. Es ist natürlich nicht leicht, nachzuweisen, in welchem Umfang die vorgeschlagenen Verbesserungen die Akzeptanz steigern könnten. Eine im März 1986 abgeschlossene Repräsentativuntersuchung der Friedrich-Ebert-Stiftung für den Fall einer Anerkennung von Mehrstaatigkeit hat eine Erhöhung der Einbürgerungsbereitschaft von etwa 6 % auf nahezu 20 % bei den Angehörigen der ehemaligen Anwerbestaaten ergeben. Eine im August/September 1988 unter 800 türkischen und jugoslawischen Jugendlichen in Berlin durchgeführte Umfrage hat eine Akzeptanzquote von 61 % bei Türken und von 72 % bei Jugoslawen ergeben. Das heißt also, daß die Hemmnisse, die in der Verweigerung von Mehrstaatigkeit liegen, offensichtlich ein ganz wesentlicher Faktor sind, um die Einbürgerungszahlen so extrem niedrig zu halten. Ein weiteres Hindernis sind die hohen Gebühren bei Einbürgerungen. Diese Frage wird sei längerem zwischen Bund und Ländern diskutiert, was jedoch nicht zu einer befriedigenden Lösung geführt hat. Derzeit ist durch das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz bundeseinheitlich die Erhebung einer Gebühr von bis zu 5 000 DM vorgesehen. Für uns ergibt sich daraus die Forderung, daß Einbürgerungen gebührenfrei vorgenommen werden müssen. Eine weitere Forderung der Sozialdemokraten ist der Anspruch auf Einbürgerung für hier aufgewachsene und geborene Kinder. Auch hier äußert sich die Bundesregierung in der Beantwortung der Großen Anfrage ausweichend oder teilweise gar nicht. Das Wartenberg ({2}) Problem der Integration der Kinder von ausländischen Arbeitnehmern, die in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen sind, ist seit längerem im Blickpunkt des öffentlichen Interesses. In Zukunft wird sich die Zahl derjenigen Kinder erhöhen, von denen mindestens ein Elternteil ebenfalls schon in der Bundesrepublik geboren ist, ohne daß die deutsche Staatsangehörigkeit erworben wurde. Soziale und humanitäre Gründe erfordern, diesem Personenkreis eine angemessene gesellschaftliche Eingliederung zu ermöglichen. Diese liegt aber auch im deutschen staatlichen Interesse. Es besteht nämlich ein öffentliches Interesse an der Zuerkennung der deutschen Staatsangehörigkeit an diesen Personenkreis, weil es für keinen Staat auf Dauer vernünftig ist, wenn ein zahlenmäßig bedeutender Teil der Bevölkerung über Generationen nicht voll eingegliedert wird. Auch der dauernde Ausschluß dieser Minderheit von der gleichberechtigten Teilhabe an der staatlichen Willensbildung kann nicht im deutschen Interesse liegen. Die bisherigen Versuche, den Angehörigen der zweiten Ausländergeneration einen gesetzlichen Anspruch auf Einbürgerung zu verschaffen, sind fehlgeschlagen. Ein entsprechender Gesetzesantrag des Landes Nordrhein-Westfalen vom Jahre 1980 ist vom Bundesrat nicht an den Bundestag weitergeleitet worden. Der Gesetzentwurf der sozialliberalen Bundesregierung von 1982 ist infolge der vorzeitigen Auflösung des Deutschen Bundestages damals gegenstandslos geworden. Weitere Gesetzesinitiativen der SPD-regierten Länder von 1986 und 1988 haben keine Mehrheit gefunden. Deswegen fordern wir hier noch einmal, daß den hier geborenen Angehörigen der dritten Generation die deutsche Staatsangehörigkeit kraft Gesetzes dann zuzuerkennen ist, wenn ein Elternteil bereits ebenfalls in der Bundesrepublik geboren ist. Bei den Angehörigen der dritten und der folgenden Ausländergeneration kann davon ausgegangen werden, daß die Verbindungen zu dem Heimatland ihrer Groß- und Urgroßeltern weitgehend abgerissen sind und sich die Betroffenen nicht mehr als Angehörige der Herkunftsnation ihrer Vorfahren fühlen. Die ausländische Staatsangehörigkeit wird daher nur noch formal bestehen und in aller Regel ineffektiv bleiben. Aus diesem Grunde kann hier auch das Entstehen von Mehrstaatigkeit hingenommen werden. Den Eltern soll jedoch das Recht eingeräumt werden, den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit für das Kind auszuschlagen. In den meisten westeuropäischen Ländern bestehen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Ausländerkinder besondere gesetzliche Vorschriften. So sind in Belgien und in den Niederlanden 1985 neue Staatsangehörigkeitsgesetze in Kraft getreten, die eine Erleichterung für den Erwerb der Staatsangehörigkeit durch Ausländerkinder beinhalten. Dies sind - ebenso wie in unseren anderen Nachbarländern - Zeichen dafür, daß die Bundesrepublik im Vergleich zu den Nachbarländern auch in dieser Frage das Schlußlicht ist. Ich glaube, dies kann sich die Bundesrepublik Deutschland angesichts ihres sehr hohen Anteils an Ausländern, ({3}) die schon sehr lange in der Bundesrepublik leben, nicht mehr lange leisten. ({4}) Lassen Sie mich noch einige Gedanken zur Problematik der Mehrstaatigkeit anführen. Die Mehrstaatigkeit wurde in der Vergangenheit immer wieder mit dem seltsamen Hinweis auf den Kriegsfall oder den Militärdienst in Friedenszeiten diskutiert, da die Staatsangehörigkeit als Treueverhältnis begriffen wurde, das eine Parzellierung verbiete. Die Bundesrepublik sieht sich zur Vermeidung der Mehrstaatigkeit durch das Übereinkommen des Europarats zur Verringerung der Mehrstaatigkeit und über die Wehrpflicht von Mehrstaatlern auch völkerrechtlich verpflichtet. Die hier aufgestellten Grundsätze werden von der Bundesrepublik jedoch nicht nur gegenüber Angehörigen der Signatarstaaten angewendet, sondern gegenüber allen Ausländern, die einen Antrag auf Einbürgerung stellen. Allerdings hat sich das Ministerkomitee im Rahmen des Europarates im Herbst 1988 darauf geeinigt, die Konvention unter zwei Aspekten zu überprüfen: ob die doppelte Staatsangehörigkeit bei gemischt-nationalen Ehen und den daraus hervorgegangenen Kindern zugelassen werden kann und ob den Ausländern der zweiten Generation der Erwerb der Staatsangehörigkeit des Aufenthaltsstaates gestattet werden kann, ohne daß die bisherige Staatsangehörigkeit verlorengeht. Ausgangspunkt für die Überarbeitung der Konvention war die Feststellung, daß die Anwendung des Übereinkommens Probleme im Bereich der Mehrstaatigkeit nicht reduziert, sondern zunehmend selbst geschaffen hat. Allein im Jahr 1985 waren 11,7 % der in der Bundesrepublik geschlossenen Ehen binational. Das heißt: Jede zehnte Ehe war nicht eine Ehe nur zwischen deutschen Partnern. Diese Zahl wird in Zukunft wachsen. In einem Gutachten für die Europäische Kommission wurde festgestellt, daß die aktuelle Zahl von Doppelstaatlern zwar nicht bekannt ist, weil exakte Statistiken nicht vorhanden sind. Die verfügbaren Daten weisen jedoch darauf hin, daß heute in Europa vielleicht sogar mehr als drei Millionen Doppelstaatler leben und daß diese Zahl ständig zunimmt. Unter diesem Aspekt der Realität, die sich in Europa und auch in der Bundesrepublik entwickelt hat, vernünftige Regelungen zu finden, muß eine Novellierung des Einbürgerungs- und Staatsangehörigkeitsrechts gesehen werden. ({5}) Diese Fragen sind bisher von der Bundesregierung völlig unzureichend diskutiert worden, und auch die Vorschläge, die jetzt im Koalitionsbeschluß der Öffentlichkeit vorgestellt worden sind, sind offensichtlich nicht zureichend. Trotz alledem hoffe ich, daß in den nächsten Wochen und Monaten eine Diskussion Wartenberg ({6}) über die Ausländerpolitik und damit auch über die Erleichterung der Einbürgerung in der Bundesrepublik Deutschland auf der Basis eines breiteren Grundkonsenses stattfinden kann. Gerade die Frage der Einbürgerung und auch die Gestattung von Mehrstaatigkeit müssen deswegen in der Bundesrepublik ernsthaft diskutiert werden, weil die Realität in Europa und die Schaffung eines Europa ohne Binnengrenzen eine andere Haltung verbieten. Deswegen bitten wir als Sozialdemokraten Sie, daß Sie diese Fragestellung auf der Grundlage unseres Vorschlages offensiv in Angriff nehmen. Vielen Dank. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Gerster ({0}).

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Ausländerrecht von 1965 ist dringend novellierungsbedürftig. Herr Wartenberg, da stimme ich Ihnen voll zu. ({0}) Wenn Sie allerdings hier Vorhaltungen an diese Koalition machen, sollten Sie der Wahrheit gemäß auch sagen, daß das auch in den 70er Jahren längst novellierungsbedürftig war. Wir haben es in sieben Jahren nicht geschafft, Sie in 13 Jahren nicht; wir werden es in dieser Wahlperiode noch machen und dann, wenn wir das innerhalb von neun Jahren novelliert haben, noch besser sein, als Sie es damals waren. Das nur zur Klarstellung. ({1}) Diese Ausländerpolitik muß nach Auffassung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion an einem humanen, christlichen Menschenbild sowie an dem berechtigten Interesse der deutschen Bevölkerung ausgerichtet werden. Lassen Sie mich auf dieser Basis einige Vorbemerkungen machen. Die Regelung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit für die zum Teil seit vielen Jahren hier lebenden Ausländer darf nicht zusammenhanglos ohne Blick auf übrige ausländerrechtliche Regelungen betrachtet werden. Die heutige Debatte zur Staatsangehörigkeit gibt daher Veranlassung, zunächst einige grundsätzliche Bemerkungen über unser Verhältnis zu den hier lebenden Ausländern zu machen. Eine Novellierung des Ausländergesetzes - ich sagte das bereits - ist vorgesehen. Dies hat auch der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung angekündigt. Wir wollen damit Rechtssicherheit schaffen und zu einer guten Nachbarschaft zwischen Deutschen und den hier lebenden Ausländern beitragen. Es kommt darauf an, die hier lebenden Ausländer mit ihren Familien in Gesellschaft, Staat, Arbeitsleben und Kultur zu integrieren. Daneben sind Maßnahmen zur sozialen Integration, zur Verfestigung ihrer Rechtsstellung sowie zur Erleichterung der Einbürgerung erforderlich. Gleichzeitig soll die neue Regelung des Ausländerrechtes aber deutlich machen, daß keine schrankenlose Einwanderung stattfinden darf. Entsprechend diesen Vorgaben ist es einer Koalitionsarbeitsgruppe gelungen, sich über Eckwerte für ein neues Ausländerrecht zu verständigen. Es nahmen die Kollegen Fellner für die CDU/CSU und Dr. Hirsch für die FDP sowie die Staatssekretäre Neusel und Kinkel teil. Ich darf diesen Herren für eine wirklich konstruktive Zusammenarbeit im Interesse eines neuen Ausländerrechts herzlich danken. Ich bin sicher, daß wir in diesem Geiste auch mit diesem Gesetz in dieser Wahlperiode zu Rande kommen werden. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Penner?

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Dr. Willfried Penner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001688, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Gerster, im Zusammenhang mit Ihren sicherlich wichtigen Bemühungen um eine Neuregelung des Ausländerrechts frage ich Sie: Werden Sie denn die Anregungen des Landesinnenministers Stoiber aufnehmen, der ja gesagt hat, ein neues Ausländerrecht könne es nicht ohne ein neues Asylrecht geben?

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Daß beide Fragen im Zusammenhang stehen, ist selbstverständlich; natürlich ist auch der Abbau des Mißbrauchs des Asylrechts Schwerpunkt unserer Politik und auch der Politik dieser Koalition. Bundesinnenminister Dr. Schäuble hat im übrigen angekündigt, auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeitsgruppe, über die ich kurz berichtet habe, einen Gesetzentwurf zu formulieren und noch in dieser Legislaturperiode dem Deutschen Bundestag vorzulegen. Wir werden ihn dabei maßgeblich unterstützen. Die gefundene Verständigung innerhalb der Innenpolitiker der Koalition enthält u. a. eindeutige Aussagen zum Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Es wurde festgehalten: Die Einbürgerung soll erleichtert werden. Durch konkrete Tatbestandsmerkmale sollen die Rahmen für Ermessensentscheidungen bis auf Null reduziert werden. Es soll jedoch keine automatische Einbürgerung geben. Für jugendliche Ausländer der zweiten und folgenden Generation wird eine berechenbare Einbürgerungsaussicht gewährt. Diese besteht innerhalb enger zeitlicher Grenzen bei einer Antragstellung vom 16. bis 21. Lebensjahr, wenn sich der jugendliche Ausländer vorher acht Jahre im Bundesgebiet aufgehalten hat und bestimmte Merkmale sozialer Integration erfüllt. Abgelehnt wurden Einbürgerungsansprüche, die allein an den Ablauf von Fristen geknüpft sind. Für das Merkmal „soziale Integration" wurden von dieser Arbeitsgruppe die Voraussetzungen in bezug auf die Schulzeit, die Straffreiheit und den gesicherten Lebensunterhalt konkret beschrieben. Gerster ({0}) Ebenso wurde festgelegt, daß unter klar umschriebenen Voraussetzungen eine Doppelstaatsangehörigkeit ausnahmsweise hingenommen werden kann. Dies kommt in Betracht, wenn der Ausländer aus objektiven Gründen seine bisherige Staatsangehörigkeit nicht bzw. nur unter schikanösen, besonders schwierigen Bedingungen aufgeben kann. Alle diese Vorschläge sind bei uns allerdings in einen Gesamtrahmen eingebettet. Die Neuregelung des Ausländerrechts soll in einem Gesetz erfolgen. Der seit 1973 wirksame Anwerbestopp wird gesetzlich normiert. Eine Wiederkehroption für Ausländer der zweiten Generation soll beim Vorliegen fest umschriebener Voraussetzungen möglich sein. Der Ehegattennachzug soll grundsätzlich möglich sein. Die dazu erforderlichen Voraussetzungen wurden klar beschrieben. Die Voraussetzungen für ein eigenes Aufenthaltsrecht der nachgezogenen Ehegatten wurde festgelegt. Es wurde Klarheit über einen möglichst frühen Kindernachzug erzielt. Der Nachzug zu beiden Elternteilen bis zum 16. Lebensjahr mit der Möglichkeit von Ermessensentscheidungen in weiteren Härtefällen ist vorgesehen. Die Voraussetzungen für die Verfestigung des Aufenthaltsstatus wurden vereinbart. ({1}) Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für nachgezogene Kinder soll möglich sein. Schließlich: Bei Fällen von Schwerkriminalität muß und bei sonstigen Kriminalitätsfällen soll ausgewiesen werden. Natürlich konnte ich in dieser Debatte nur einige Grundzüge deutlich machen. Aber diese zeigen ja wohl, daß eine ausgewogene Grundlösung gefunden wurde. Die SPD sollte sich überlegen, ob sie diesen eingeschlagenen Weg nicht im Interesse des von ihr selber immer wieder reklamierten gesellschaftlichen Konsenses in der Ausländerpolitik mitgehen will. Herr Kollege Penner, wenn Sie sagen: „Thema verfehlt" ({2}) - dann der Kollege Nöbel; ich freue mich, daß Sie sich als stellvertretender Fraktionsvorsitzender von ihm distanzieren - , beweisen Sie damit, daß Sie die Schwierigkeit in den Zusammenhängen der Ausländerpolitik offenbar zu leicht nehmen und nicht sehen, daß die Fragen natürlich miteinander in engem Kontext stehen. ({3}) Die von der SPD-Fraktion bisher vorgelegten Vorstellungen zur Integration der hier lebenden Ausländer sind dagegen widersprüchlich und weniger geeignet, Klarheit in der Ausländerpolitik zu gewinnen. Dies gilt sowohl für die hier unterbreiteten staatsangehörigkeitsrechtlichen Einzelvorschläge als auch - und das in besonderem Maße - für das widersprüchliche und in sich unausgewogene Gesamtverhalten der SPD zum Komplex Ausländerrecht. Im Interesse der Integration ist es nicht möglich, wie die SPD ohne ein Geamtkonzept punktuell und isoliert allein Verbesserungen beim Status der hier lebenden und der hierhin strebenden Ausländer und ihrer Familienangehörigen zu regeln. Ausländerintegration und Zuzugsbegrenzung gehören nämlich zusammen. Die soziale und kulturelle Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft ist nicht unbeschränkt. Es gibt Grenzen der Aufnahmefähigkeit etwa unseres Arbeitsmarktes; es gibt Grenzen der Belastung der öffentlichen und sozialen Haushalte sowie auch des Wohnungsmarktes. Damit verbietet sich ein unbegrenzter Zuzug. Ein unbeschränktes Recht auf Einreise oder Einwanderung für jedermann gibt es im übrigen nirgendswo in der Welt. Es besteht daher bei aller Pluralität und Weltoffenheit kein Anlaß, sich in der Bundesrepublik auf einen Vielvölkerstaat zuzubewegen. Solche Versuche sind - wie die Geschichte zeigt - in den seltensten Fällen geglückt. Ebenso ist es inkonsequent, wenn die Sozialdemokraten erklären, den Erwerb der Staatsangehörigkeit erleichtern zu wollen, wenn gleichzeitig von der SPD in den Länder- und Kommunalparlamenten die Einführung eines kommunalen Ausländerwahlrechts gefordert wird. Abgesehen von den verfassungsrechtlichen Bedenken, über die das Bundesverfassungsgericht ja noch befinden wird, sind diese Vorstöße auch in bezug auf das Ziel der Ausländerintegration völlig kontraproduktiv. Würde das Wahlrecht als einzelnes Staatsbürgerrecht ohne Einbürgerung an Ausländer verliehen, dann würde der ohnehin geringe Wille zur Einbürgerung und zur Vollintegration noch weiter vermindert. Wer die Einbürgerung der hier lebenden Ausländer wirklich will, kann nicht durch eine Einzelvergabe des wichtigsten staatsbürgerlichen Rechts den Anreiz zur Einbürgerung nehmen. Daß die Bereitschaft zur Einbürgerung gering ist, haben Umfragen unterschiedlichster Art des Bundesinnenministers, der Ausländerbeauftragten Frau John in Berlin, der Friedrich-Ebert-Stiftung und anderer immer wieder bestätigt. ({4}) - Es hat sich, Herr Penner, seit 1980 - die Zahlen scheinen Ihnen unbekannt zu sein - die Bereitschaft zur Einbürgerung praktisch nicht verändert. Nur 6 der Ausländer erklären sich zu einer Einbürgerung bereit. Die Zahl der Einbürgerungen liegt seit Jahren etwa bei 13 000 bis 14 000 jährlich. Bereits 1986 haben über 2,6 Millionen Ausländer das Erfordernis eines mindestens zehnjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet erfüllt. Es wurden also lediglich 0,5 % derjenigen, die in Betracht kommen könnten, tatsächlich eingebürgert. Insgesamt gesehen sind die hier lebenden Ausländer von einer Integration in unserer Gesellschaft - trotz durchaus vorhandener wenn auch bescheidener Fortschritte - noch recht weit entfernt. Daher wird es in den nächsten Jahren entscheidend darauf ankommen, gerade die jungen Ausländer, also die sogenannte zweite und dritte Ausländergeneration, in möglichst engem Kontakt mit ihren deutschen Mitbürgern hier weiter zu integrieren. Ein Endpunkt oder Gerster ({5}) Eckpunkt dieses Integrationsprozesses ist dann der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit. Es müßte doch eine Einigung darüber möglich sein, daß die Politik der Integration bei allen Integrationsfähigen und Integrationswilligen zur Einbürgerung führen sollte. Zur vollen Integration in die Bundesrepublik Deutschland gehört auch die Herausbildung und Übernahme staatsbürgerlicher Verantwortung. Die Ausländer, die hier eine volle rechtliche Gleichstellung anstreben, sollten auch bereit sein, die deutsche Staatsbürgerschaft mit allen ihren Rechten und Pflichten zu erwerben. Nun noch einige Bemerkungen zu den im Gesetzentwurf der SPD enthaltenen Einzelvorschlägen; ich beginne mit dem Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit durch Geburt. Eine solche Art des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit würde zunächst einmal das historisch gewachsene System unseres Staatsangehörigkeitsrechts sprengen. ({6}) Es würde sich letztlich eine solche Regelung auch als Bumerang erweisen, wenn dadurch Menschen, die im Grunde ihres Herzens nicht deutsche Staatsbürger werden wollen, durch rechtlichen Zwang vereinnahmt würden. Solch eine Regelung wäre eher geeignet, die Ablehnung gegenüber dem Staat zu erhöhen, als daß sie die Integration fördern könnte. Die Einbürgerung sollte auf diejenigen beschränkt bleiben, die integrationswillig sind. Diese Integrationswilligkeit sollten wir fördern, nicht jedoch in Richtung auf Einbürgerung staatlichen Druck ausüben. Zweites Thema: Doppelstaatsangehörigkeit. Daß eine Doppelstaatsangehörigkeit in Ausnahmefällen hingenommen werden kann, ist unbestritten. Genauso klar muß aber bleiben, daß an dem Grundsatz der Vermeidung der Mehrstaatigkeit aus vielen guten Gründen festgehalten werden muß. ({7}) Der Vorschlag der SPD, Doppelstaatsangehörigkeit z. B. immer zuzulassen, wenn die Entlassung aus der Staatsangehörigkeit vom Heimatstaat von der Wehrdienstleistung abhängig gemacht wird, würde bei seiner Realisierung zu einer beträchtlichen Ausweitung führen und in vielen Fällen die Ausnahme zur Regel machen. Eine im wesentlichen vom Ablauf von Fristen abhängige „automatische Einbürgerung" würde dem Wert einer für den Lebensweg zentralen Entscheidung nicht gerecht. Ohne eine soziale Integration des Ausländers in das Gemeinwesen sollte eine Einbürgerung nicht in Betracht kommen. Die Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an Ausländer - auch das sollte noch einmal gesagt werden - begründet Rechte und Pflichten, sie gewährt ein Heimatrecht und ist Voraussetzung für das aktive und passive Wahlrecht. Sie entfaltet Dauerwirkung und kann nicht wie das Hemd gewechselt werden. Eine eingehende Prüfung und Würdigung der Gesamtverhältnisse ist und bleibt daher unumgänglich. Die CDU/CSU-Fraktion wird die anstehenden Fragen in der Ausländerpolitik gemeinsam mit Bundesinnenminister Dr. Schäuble einer Lösung zuführen. Dabei setzen wir auf eine konstruktive Zusammenarbeit mit der FDP. ({8}) Sie muß den Abbau von offensichtlichen Mißbrauchsfällen im Asylbereich, aber auch die Beschleunigung der Asylverfahren sowie einen konsequenten Abschluß unberechtigter Aufenthalte ebenso umfassen wie die Verabschiedung eines neuen Ausländerrechtes in dieser Wahlperiode. Letzteres ist keine Drohung gegenüber der FDP. Offenbar haben die Zeiten der Drohung 1982 geendet, wenn Sie dieses Modell als praktikables Modell einer Koalition ansehen. Ich kann nur sagen, daß wir gerade in der Ausländerpolitik auch mit den Kollegen der FDP eine sehr gute Zusammenarbeit pflegen und deswegen auch zu Erfolgen kommen werden. ({9}) Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Trenz.

Erika Trenz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002342, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der Bundesrepublik haben Ausländerinnen und Ausländer weniger Rechte als die deutsche Bevölkerung. Das Rechtsgefälle ist enorm. Wer mit Deutschen gleichgestellt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen will, könne sich ja, so hören wir seit Jahr und Tag von Ihnen allen, einbürgern lassen; das liege doch im beiderseitigen Interesse: dem der Immigranten und Flüchtlinge einerseits und dem des bundesdeutschen Staates andererseits. Mit unserem Einbürgerungsgesetz, das Ihnen mittlerweile vorliegt, nehmen wir Sie beim Wort: Ich nenne kurz die wichtigsten Bestimmungen: Es besteht ein Rechtsanspruch auf Einbürgerung nach fünfjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik. Doppelte Staatsbürgerschaft ist für uns kein Problem: ({0}) Die Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft soll ohne Zwang zur Aufgabe der ursprünglichen Staatsangehörigkeit möglich sein. ({1}) Die Einbürgerung erfolgt auf einfachen Antrag ohne Kosten und sonstige Auflagen. Vielleicht trägt ja die heutige Debatte dazu bei, daß wir von den derzeit herrschenden restriktiven Einbürgerungsbestimmungen endlich Abschied nehmen. Ehrlich gesagt, viele Anzeichen dafür sehe ich allerdings nicht. Rund 2,8 Millionen Menschen ausländischer Staatsangehörigkeit hielten sich am 31. Dezember 1987 zehn und mehr Jahre im Bundesgebiet auf. Sie erfüllen damit die jetzt noch geltenden zeitlichen Voraus10718 setzungen für eine Einbürgerung. Aber nur ein verschwindend geringer Teil von ihnen - 0,3 % -scheint von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen. Mehr noch: Die Bundesrepublik weist im europäischen Vergleich die niedrigste Einbürgerungsquote auf. Es könnte glatt der Eindruck entstehen, als würde da ein großzügiges Angebot von den Betroffenen einfach nicht genutzt. Dieser Eindruck verfliegt allerdings im Nu, wenn wir uns die Richtlinien zum Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 ansehen, die auch die Einbürgerspraxis in der Bundesrepublik regeln. Da muß ausreichender Unterhalt nachgewiesen werden; Sozialhilfebezug bedeutet das Aus beim „Deutschwerden" ; das ist ganz unabhängig davon, wie lange ein Mensch bereits in der Bundesrepublik gelebt hat. Da wird „Unbescholtenheit" vorausgesetzt. Was aber diese sogenannte „einwandfreie Lebensführung" ist, darüber entscheiden allein die Behörden. Da muß sich gleich die ganze Familie einbürgern lassen; individuelle Entscheidungen gibt es nicht. Wie immer spielt auch das Geld eine große Rolle: Es ist sicher kein Zufall, daß die Bundesregierung keine genauen Angaben darüber macht, wie viele Einbürgerungsanträge an der Frage des Geldes scheitern. Immerhin stellt die Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage fest, daß mehr Anträge zurückgezogen als von den Behörden abgelehnt werden. Sie „erledigen sich", heißt es dort lapidar, „dadurch, daß die Bewerber, bei denen Hinderungsgründe vorliegen, auf Grund eingehender Beratungsgespräche zur Vermeidung von Verfahrenskosten ihre Einbürgersanträge zurückstellen". Vorausgesetzt sind schließlich auch die Aufgabe der bisherigen Staatsbürgerschaft und „eine freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland". Meine Damen und Herren, einmal ganz abgesehen davon, daß wir seit 1945 nur über die Bundesrepublik zu entscheiden haben, nicht über ein Großdeutsches Reich, macht diese Bestimmung auch recht anschaulich klar, worum es in dieser Debatte um die deutsche Staatsbürgerschaft letztlich geht: Mit der Einbürgerung, so will es die Bundesregierung, soll - ich zitiere die Integration der Ausländer in das gesellschaftliche Leben der Bundesrepublik Deutschland .. . zum Abschluß gebracht werden. Daran besteht aus der Sicht der Bundesregierung „ein besonderes öffentliches Interesse", und es ergeben sich - ich zitiere weiter zunächst einmal Erwartungen an die Adresse derjenigen Ausländer, die sich für immer bei uns niedergelassen haben ... Die Bundesregierung appelliert an ihre Einsicht, sich voll für das Land zu entscheiden, in dem sie ihren Lebensmittelpunkt haben und das sie politisch mitgestalten wollen. Sie sollen sich, so heißt es, „freiwillig und dauerhaft" hinwenden zu Deutschland. So will es die Einbürgerungsrichtlinie Nr. 3,1, und die Behörde wacht darüber. Dies ist gängige Praxis, hat aber mit dem Gesetz selbst nichts zu tun. Bei der Verabschiedung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes waren im Osten, Norden und Westen des damaligen Reiches ethnische Minderheiten ansässig, die ebenso deutsche Reichs- und Staatsangehörige waren wie die deutsche Bevölkerungsmehrheit. Bei der damaligen Zusammensetzung der Wohnbevölkerung erscheint die Annahme, das Gesetz habe den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit an die „freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland" binden wollen, absurd. Auch in der Weimarer Republik vollzog sich der Erwerb der Staatsangehörigkeit ohne nationale Komponente. Von Einbürgerungsbewerbern und -bewerberinnen wurde Loyalität gegenüber dem Staat verlangt, aber nicht die Aufgabe von Sprache, Sitte, eigener Geschichte und der daraus gewachsenen kulturellen Identität. Das änderte sich grundlegend im Dritten Reich. Seine „Volksgemeinschaft" bestand aus „deutschen Volksgenossen" , das waren Menschen „deutschen Blutes". Zugang zur deutschen Volksgemeinschaft fanden nur Volksdeutsche. „Fremdvölkische" wurden als Arbeitssklaven ins Reich geholt oder verschleppt, Juden wurden ausgebürgert und vergast. „Rassenschande" galt als Staatsverbrechen, die „Reinerhaltung deutschen Blutes" war vorrangiger Staatszweck. An diese völkische Tradition wird angeknüpft beim Erfordernis der „Hinwendung zu Deutschland" . Die „Vollintegration" läuft im Endergebnis darauf hinaus, die ausländische Bevölkerung von sprachlichen, kulturellen, ethnischen und nationalen Bindungen zu „säubern" . Sie werden gezwungen, diese Bindungen abzubrechen oder zu verleugnen. Diese „freiwillige und dauernde Hinwendung zu Deutschland" , die aus - ich zitiere - „der grundsätzlichen Einstellung zum deutschen Kulturkreis geschlossen werden soll" , entbehrt jeder Rechtsgrundlage und auch jeglicher Spur von freiheitlichem und demokratischem Denken. Hier kommt ein völkischnationaler Geist zum Ausdruck, der juristisch unhaltbar und politisch bekämpfenswert ist. Um so schlimmer, daß er nicht nur die Vorlagen der Bundesregierung durchzieht, sondern auch in Ihren Köpfen verankert ist, meine Damen und Herren von der SPD; denn auch Sie fordern in ihrem Gesetzentwurf eine Einbürgerung als „Abschluß der Integration", und die eigentlichen Erleichterungen wollen Sie nur denjenigen, nämlich nur der dritten Generation, zukommen lassen, bei denen Sie voraussetzen, daß ihre Bindungen an ein anderes Land - ich zitiere - „weitgehend abgerissen sind". Auch Sie wollen die doppelte Staatsbürgerschaft für die erste und zweite Generation verhindern und treten weiter dafür ein, daß die Integration im Einbürgerungsverfahren nachgewiesen wird. Immer noch soll die Behörde feststellen, ob sich einer hier - Zitat - „schon als Deutscher heimisch fühlt". Ich wiederhole: Ob ein Mensch hierzulande eingebürgert wird oder nicht, das soll nach Ihren Vorstellungen nicht davon abhängen, daß er sich in der Bundesrepublik niedergelassen hat, hier lebt, liebt, arbeitet und damit schlichtweg zur Bevölkerung gehört, d. h. nicht davon, ob jemand sich hier zu Hause fühlt. Nein, er soll sich hier „als Deutscher heimisch" fühlen! Wann werden Sie endlich aufhören, meine Damen und Herren von der Bundesregierung und von der SPD, diffuse deutsch-nationale Gefühle als Preis für soziale und politische Rechte zu fordern? ({2}) Wann werden Sie endlich begreifen, daß sich ein lebendiges und demokratisches Zusammenleben in unserer Gesellschaft niemals auf völkisch-nationalem Bewußtsein gründen kann, sondern einzig und allein darauf, daß alle, die in diesem Land auf Dauer leben, gleiche Rechte haben und sich auf dieser Grundlage über ihre verschiedenen politischen, kulturellen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen auseinandersetzen? Danke. ({3})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich frage mich, warum eigentlich jede Debatte in eine Art moralische Überheblichkeit dem jeweils anderen gegenüber ausarten muß. Ich verstehe das nicht. Ich habe den Eindruck, Frau Trenz, daß Sie in einem großen Teil Ihrer Rede Assimilierungen und Integrierungen miteinander verwechselt haben. Das Assimilieren in der Bundesrepublik oder in Deutschland ist schon deswegen ein sehr schwieriger Vorgang, weil sich dieses Deutschland im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern eigentlich aus ganz unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen oder - wenn ich die Begriffe des 19. Jahrhunderts wählen sollte - Volksstämmen, zusammensetzt. Ich glaube, daß das Bild, das Sie gezeichnet haben, nicht stimmt. Aber es ist richtig, daß unser Ausländerrecht traditionell ein Fremdenrecht ist, in dem wir den Ausländern exakte Pflichten auferlegen und uns ein außerordentlich freies Ermessen erhalten. Das muß geändert werden. Deshalb sind wir in der Koalition uns darüber einig - das hat Herr Gerster vorgetragen - , daß wir das Ausländerrecht noch in dieser Legislaturperiode verändern wollen. Die Eckwerte sind: drastische Erleichterung des Erwerbs der deutschen Staatsangehörigkeit; eine sogenannte Wiederkehroption für die Ausländer der zweiten Generation; eine Familienzusammenführung, die dem Begriff der Familie gerecht wird; ein eigenes Aufenthaltsrecht auch des nachgezogenen Ehegatten; Rechtsicherheit für die Erteilung von Aufenthaltserlaubnis und Aufenthaltsberechtigung, aber auch eine entschiedene Regelung der Ausweisung bei nachgewiesener schwerer Kriminalität. Das sind die wesentlichen Elemente. Bei diesem Gesetzentwurf betreffend die Frage der Einbürgerung, über den wir hier reden, begegne ich alten Bekannten. Ich selber habe Ende der 70er Jahre unter großen Schwierigkeiten einen entsprechenden Gesetzentwurf durch das nordrhein-westfälische Landeskabinett gebracht. Herr Baum hat - als damaliger Bundesinnenminister - einen entsprechenden Gesetzentwurf hier in den Bundestag eingebracht. Wir begegnen hier wieder denselben Fragen. Beim Erwerb der Staatsangehörigkeit geht es eigentlich um eine Frage an uns selbst, nämlich wann und unter welchen Bedingungen wir bereit sind, Ausländern die gleichen Rechte zu gewähren und die gleichen Pflichten aufzuerlegen wie uns selbst. Das ist eine Frage, die nicht nur für die Ausländer wichtig ist, sondern auch für uns selber, weil es auf Dauer nicht gut sein kann, wenn Millionen von Menschen unter uns leben, die auf Dauer keine rechtlich wirklich gesicherte Lebenssituation haben. Aber wir müssen uns bei allem, was wir gesetzgeberisch machen, Rechenschaft darüber ablegen, daß wir die Integrationslasten in unserer Gesellschaft unterschiedlich verteilt haben. Sie konzentrieren sich auf die Bereiche Wohnen, Schule und Arbeit, und sie werden in unterschiedlicher Weise empfunden, je nach der Lebenssituation des Deutschen und je nachdem, wo der einzelne wohnt, ob er einen Ausländer persönlich kennt oder nicht und ob ihm dieser Ausländer als Konkurrent auf dem Lebensweg oder als eine menschliche Bereicherung begegnet. Uns interessiert insbesondere das Schicksal der Ausländer der zweiten Generation und der folgenden Generationen, also derjenigen, die nicht selber haben wählen können, in welche Gesellschaft sie hineingeboren werden, in welcher Gesellschaft sie aufwachsen, in welcher Gesellschaft sie bleiben wollen. Mindestens denen müssen wir eine gesicherte Lebensperspektive schaffen. Sie müssen ja mit 16 Jahren, wenn sie die Schule verlassen, entscheiden, was sie tun wollen. Dann darf ihre Entscheidung nicht von dem späteren, nicht mehr berechenbaren Ermessen eines Beamten abhängen, sondern sie müssen klare Werte haben, an denen sie erkennen können, ob sie auf Dauer mit den gleichen Rechten und Pflichten in der Bundesrepublik leben können oder nicht. Das ist der Grund, warum wir für die Ausländer der zweiten Generation und der folgenden Generationen eine Einbürgerungsoption haben wollen. Als Voraussetzung können der achtjährige Aufenthalt in der Bundesrepulbik, eine Schulzeit von sechs Jahren im Bundesgebiet, die Straffreiheit - ähnlich wie in dem Gesetzentwurf der SPD - und ein gesicherter Lebensunterhalt, soweit man das in diesem Alter belegen kann, gelten. Wir sind uns auch klar darüber, daß eine Doppelstaatsangehörigkeit unter bestimmten Umständen hingenommen werden muß, aber auch hingenommen werden kann, insbesondere dann, wenn der Heimatstaat des Ausländers seine Ausbürgerung ohne vernünftigen Grund erschwert. Die Verwirklichung dieser Ziele wird Widerständen begegnen. Es gibt kaum ein Thema, das in unserer Bevölkerung so polarisiert ist wie dieses. ({0}) - Ja. Darum ist es wichtig, daß wir versuchen, eine möglichst breite Übereinstimmung zu erzielen. Sie haben verschiedentlich Gespräche angeboten. Wir sind der Meinung, daß diese Gespräche spätestens dann geführt werden sollten und müssen, wenn der von uns angekündigte Gesetzentwurf, der ja ein breiteres Gebiet erfaßt, vorgelegt werden wird; wir wollen das tun. Sie können sicher sein, daß sich diese Koalition nicht ihrer Aufgaben entziehen wird, ihre Vorstellungen zu formulieren, sie einzubringen und für ihre Lösung zu werben. In diesem Sinne werden wir der Überweisung des vorliegenden Gesetzentwurfes an die Ausschüsse zustimmen. Wir hoffen, daß wir ihn gemeinsam mit dem angekündigten Gesetzentwurf beraten und mit einer möglichst breiten Mehrheit eine gemeinsame Lösung finden können. Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium des Innern, Herr Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesregierung begrüßt die hier von den Kollegen Gerster und Hirsch vorgetragenen Absichten der Koalitionsfraktionen zur Neufassung des Ausländerrechts. Die Bundesregierung selbst setzt sich nach wie vor für eine Integration der Ausländer ein. Sie befürwortet eine Erleichterung der Einbürgerung vor allem derjenigen Ausländer, die hier geboren und aufgewachsen sind und die sich selbst um eine Aufnahme in den deutschen Staatsverband bewerben. Wir sind der Auffassung, daß ihnen unter der Voraussetzung eines mindestens achtjährigen Inlandsaufenthalts, sozialer Integration und gesicherten Lebensunterhalts die Einbürgerung gewährleistet werden soll. Ich will ganz bewußt auch die Einbürgerungsgebühren ansprechen. In der Debatte sind oft hohe Gebühren ins Gespräch gekommen. Wir haben seitens der Bundesregierung mit den Ländern, die die Empfänger dieser Gebühren sind, darüber gesprochen. Wir haben in diesem Punkt schon eine weitgehende Einigung erzielt. Die Zielvorstellung könnte sein, daß man die unterste Grenze, nämlich 100 DM, nimmt und nicht mehr von Beträgen von mehreren tausend Mark sprechen muß. Mehrstaatigkeit soll hingenommen werden, wenn eine Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit entweder nicht möglich oder nicht zumutbar ist. Wir finden, daß diese Regelungen sachgerecht sind. Sie können im übrigen im Einvernehmen mit den Ländern im wesentlichen durch eine Änderung der Einbürgerungsrichtlinien kurzfristig herbeigeführt werden. Soweit die Ausländer auf Dauer hierbleiben wollen, ist - das ist hier von mehreren Sprechern mit Nachdruck und zu Recht betont worden - ihre möglichst vollständige Integration in Staat und Gesellschaft im allseitigen Interesse erwünscht. Aber wir sollten auch deutlich machen: Die Einbürgerung läßt sich nicht dekretieren. Ich will hier aus der Erfahrung zahlreicher Diskussionen auch mit Ausländern sagen, daß die Ausländer darüber schon selbst entscheiden wollen. Es bedarf schon der Einsicht der unmittelbar Betroffenen sowie der entsprechenden Bemühungen. Die Ausländer müssen den abschließenden Schritt selbst tun und ihre Einbürgerung beantragen. Eine automatische Verleihung der deutschen Staatsangehörigkeit an hier geborene Ausländerkinder, wenn bereits ein Elternteil im Bundesgebiet geboren worden ist, würde trotz der Möglichkeit der Ausschlagung wahrscheinlich- meine Damen und Herren, wir sol-ten auf diesem Gebiet ein wenig sensibel sein - als ein Akt der Fremdbestimmung empfunden werden. Ich will einen dritten Aspekt ansprechen. Auch die vorgesehene Einräumung eines Einbürgerungsanspruchs an hier aufgewachsene Ausländer, die diskutiert wird, begegnet Bedenken. Sie läßt im Grunde keinen realen rechtspolitischen Mehrwert erwarten, da ein Einbürgerungsanspruch eine fehlende Einbürgerungsbereitschaft letztlich nicht ersetzen kann. Andererseits muß ich hier gerade auch für das Innenministerium sagen: Es ist rechtssystematisch ein Stück weit fragwürdig, ob man einen Einbürgerungsanspruch überhaupt in der Weise, wie er in den Vorlagen diskutiert wird, einführen sollte, da in dem, was wir als gesicherte Rechtsgrundlage unserer heutigen Einbürgerungspraxis haben, und auch in dem, was international vorhanden ist, Anspruchstatbestände kaum gegeben sind. ({0}) - Lieber Kollege Penner, lassen Sie mich das, was ich sagte, in einigen Grundsätzen zusammenfassen. Die Bundesrepublik Deutschland ist und bleibt - wir schließen da an das an, was schon frühere Bundesregierungen festgelegt haben, was auch das Kabinett Schmidt beschlossen hat ({1}) - auch Genscher/Schmidt, Schmidt/Genscher, genauso wie Helmut Kohl mit seiner heutigen Koalition ({2}) - Penner hat damals in der Regierung mitgewirkt, allerdings nicht in diesem Bereich -, ({3}) die Bundesrepublik Deutschland also war schon nach der Erkenntnis jener Bundesregierungen und ist auch für die heutige Bundesregierung kein Einwanderungsland und kann es auch nicht sein. Wir sind kein Einwanderungsland, und wir können es nicht werden! Aber alle Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen sowie in den gesellschaftlichen Gruppen haben - das sage ich deutlich - eine Mitverantwortung für die Ausländer, die wir einmal eingeladen haben, bei uns zu leben und zu arbeiten, ({4}) und für die Ausländer, die hier geboren sind, Herr Kollege Bernrath. Wir haben Mitverantwortung. DesParl. Staatssekretär Dr. Waffenschmidt halb haben wir deutlich auszusprechen: Ausländerfeindlichkeit darf bei uns keinen Raum haben. ({5}) Wir sollten dies deutlich sagen, weil es da ja manche Irreführung in der Öffentlichkeit gibt. ({6}) - Es ist interessant, zu sehen, wer hier geklatscht hat. Ich freue mich über die nachdrückliche Zustimmung bei den Koalitionsparteien. Meine Damen und Herren, die dauerhafte Eingliederung bei uns lebender Ausländer kann nur im Zusammenwirken der einheimischen Bevölkerung und der Ausländer selbst Erfolg haben. ({7}) Ich sage für die Bundesregierung mit Nachdruck, daß wir uns um die Integration dieser Ausländer weiterhin verantwortungsvoll und unter Berücksichtigung der Orientierungspunkte, die ich vorgetragen habe und die auch in dem deutlich werden, was die Koalitionsparteien vorgelegt haben, bemühen wollen. Wir werden nicht nachlassen. Ich bin der Meinung, wir können und werden gemeinsam Erfolg haben. Herzlichen Dank. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Schröer.

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bin sehr froh, daß diese Debatte am Freitag vor Pfingsten stattfindet, weil ich daran die Hoffnung knüpfen darf, daß über die Pfingsttage der Geist der Wahrhaftigkeit auch über Herrn Gerster kommt. ({0}) - Immer, aber für ihn speziell. Denn er hat so gut wie alles vergessen, was die SPD an Anträgen im Deutschen Bundestag zum Thema „Ausländer und Ausländerpolitik" in der letzten Zeit eingebracht hat. ({1}) - Besser ein Sammelsurium als nichts. ({2}) Es gibt in unserem Lande eine breite Koalition der Vernunft. Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände, Parteien und vor allem zahllose Bürgerinitiativen fordern, daß wir den unter uns lebenden Ausländerinnen und Ausländern mehr Rechtssicherheit geben. ({3}) Sie fordern Gesetze, die der Tatsache Rechnung tragen, daß es 4,1 Millionen Ausländer in unserem Lande gibt, die hier zu Hause sind. ({4}) Wir haben sechs Jahre lang, nämlich seit 1983, auf entsprechende Initiativen der Koalitionsfraktionen gewartet, leider vergebens. Nun wollen wir nicht länger warten, weil die Betroffenen nicht länger warten können. ({5}) Wir waren über mehr als ein Jahrzehnt, und zwar mit Zustimmung aller politischen Kräfte, was Sie heute nicht mehr wissen wollen, ein Einwanderungsland. ({6}) - Sie haben das gewollt; das war zu Konrad Adenauers Zeit. ({7}) Ausländerinnen und Ausländer sind aus unserer Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Wer „Deutschland den Deutschen" propagiert, hat nichts begriffen, hat nichts davon begriffen, was unsere Nation Ausländern, die bei uns eine Heimat fanden, über Jahrhunderte hinweg zu verdanken hat. Wir sind stolz darauf, eine multikulturelle Gesellschaft zu sein. ({8}) - Auch Sie sollten mir zuhören. - Kulturelle Vielfalt bedroht uns nicht, sie bereichert uns; dazu können natürlich auch Zwischenrufe gehören. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Christdemokratischen/Christlich-Sozialen Union, was mich bedrückt, ist, daß sich manche auch aus Ihren Reihen aus opportunistischen Gründen dieser Tatsache verweigern. Realitätssinn und guter Wille - mehr nicht - sind gefordert, um Partner im „Bündnis der Vernunft" zu sein, von dem ich gesprochen habe. Ihr Beitritt ist herzlich erwünscht. ({9}) Nur, Ihre Beitrittsformulare gilben leider inzwischen vor sich hin. Meine Damen und Herren, wer über Einbürgerungserleichterung spricht, dem wird sofort vorgehalten, er denke an niemanden anders als an Türken und Marokkaner, was ja an sich nicht schlecht ist; denn man kann nicht oft genug über diese Menschen reden, denen wir viel zu verdanken haben. Aber ich will zwei Fälle anführen, mit denen ich in den letzten Wochen selbst befaßt war. Fall Nummer eins: Ein Oberarzt im Essener Klinikum, iranischer Staatsangehöriger, sollte nach dem Willen seines Arbeitgebers, des Landschaftsverbandes Rheinland, eine freigewordene Chefarztstelle übernehmen. Voraussetzung hierfür ist allerdings die deutsche Staatsangehörigkeit, weil man auch dem deutschen Beamtenrecht Genüge tun muß. Der Mann beantragt die Einbürgerung. „Leider" ist er mit einer britischen Staatsangehörigen verheiratet, die als freiberufliche Dolmetscherin tätig ist. Diese Ehefrau will ihre Staatsangehörigkeit nicht aufgeben, weil sie für ihren Beruf von Vorteil ist. Sie dolmetscht nämlich Schröer ({10}) deutsch/englisch, und da ist es besser, wenn man Britin ist statt Deutsche. Der Regierungspräsident lehnt den Einbürgerungsantrag nach einem halben Jahr ab. Begründung: die Einheitlichkeit der Staatsangehörigkeit innerhalb der Familie sei nicht gegeben. Der Oberarzt wurde nicht Chefarzt. Aber dafür erhielt er einen Gebührenbescheid über 3 700 DM. Hätte der Mann sich rechtzeitig scheiden lassen, wäre ihm die Gnade der deutschen Staatsbürgerschaft zuteil geworden, und zwar ohne jedes Problem. ({11}) Ich frage, ob das die Alternative sein soll. ({12}) Fall Nummer zwei: Eine junge italienische Frau, deren Eltern 1951 in die BRD gekommen sind ({13}) - in die Bundesrepublik Deutschland; entschuldigen Sie diese kleine terminologische Schwierigkeit -, 1962 in Mülheim ({14}) geboren, seit 1984 mit einem Deutschen verheiratet, Abitur, führende Position in einem Industriebetrieb, kennt ihre Heimat Italien nur aus zwei Urlaubswochen am Gardasee. Sie beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft. Der Regierungspräsident bittet um Überweisung von 1 500 DM, damit der Antrag bearbeitet werden könne. Antwort der jungen Dame: Nein, danke, dafür lieber noch einmal zwei Wochen Gardasee. ({15}) - Eben. Meine Damen und Herren, es geht mir nicht um die Gebühren, obwohl sie tatsächlich ein Skandal sind. Die französische Staatsbürgerschaft kostet 100 Francs, die deutsche bis zu 5 000 DM. ({16}) - Das ist ein chauvinistischer Satz, den Sie da gerade von sich gegeben haben. - Dies macht die Absurdität unseres Staatsbürgerschaftsgesetzes deutlich. Man ist fast versucht zu sagen: „Es war schon immer etwas teurer, ein Deutscher zu sein. " Meine Damen und Herren, unsere Regelungen für die Erlangung der Staatsbürgerschaft tradieren den Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts. Er hat sich überlebt, mehr noch - und das meine ich sehr ernsthaft - : Dieser Nationalstaatsgedanke hat uns an die Grenze zur kollektiven Selbstvernichtung geführt. Wer nach vorne schaut und möchte, daß das „Europäische Haus" für viele bewohnbar ist und zum Einzug einlädt, der weiß: „Heimat" ist kein geographischer, sondern ein sozialer Begriff; soll sagen, es geht nicht um den Raum, sondern um die Geborgenheit im vertrauten Sozialgefüge. Viele der Menschen, über die wir reden, leben in sozialen Verflechtungen hier und dort. Deshalb ist es notwendig, ihnen hier wie dort Heimatrecht zu geben; im Juristendeutsch heißt das Doppelstaatsangehörigkeit. ({17}) Ich vergesse nicht, daß ein hochqualifizierter türkischer Diplomingenieur, bei Siemens tätig, mir gesagt hat: Ich würde sofort die deutsche Staatsangehörigkeit annehmen, aber dann darf ich mich nicht mehr bei meinen Tanten und Onkeln in der Türkei sehen lassen; die hielten mich für einen Verräter. ({18}) - Es gibt Zwischenrufe, auf die man besser nicht antwortet. ({19}) - Da würde ich mich nicht schwertun; aber ({20}) ich würde wahrscheinlich die Höflichkeit des Hauses verletzen. ({21}) Ich sage: Es gibt kulturelle Hemmschwellen. Diese haben wir zu beachten und vor allen Dingen zu achten, ({22}) und wir haben daraus Konsequenzen für unser eigenes Handeln zu ziehen. ({23}) Deshalb ist es infam, wenn Sprecher der Bundesregierung seit vielen Jahren die angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft - ({24}) - Jetzt seien Sie mal ruhig, Herr Fellner; jetzt reicht es aber wirklich! ({25})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Fellner, bitte!

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe noch drei Minuten; die will ich für intelligente Worte nutzen und nicht auf Ihr dummes Geschwätz verwenden! ({0}) Die Bundesregierung will die angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft unserer ausländischen Bürgerinnen und Bürger mit der Einbürgerungsstatistik belegen. Vertraut ist dem Menschen das, was er als Kind vorgefunden hat, was ihm in früher Jugend vertraut war. Hunderttausende von ausländischen Kindern sind hier geboren, sind hier aufgewachsen, haben hier ihren Lebensmittelpunkt. Wollen wir ihnen verwehren, was uns selbstverständlich ist, nämlich hier zu Hause zu sein? Wenn ich es richtig sehe, denkt auch - jetzt werde ich wieder versöhnlich, Herr Fellner - die Regierungskoalition hierüber nach. Im Februar hat sich der Schröer ({1}) Bundesjustizminister, offenbar als Spitze der Bewegung, was ansonsten nicht unbedingt seiner Art entspricht ({2}) - eine ungewöhnliche Rolle, aber immerhin eine Rolle - , für eine - ich zitiere - „erleichterte Einbürgerung von Ausländern, zumindest in der zweiten Generation" ausgesprochen. Leider gehört auch Herr Dr. Engelhard zu den Ankündigungsministern. ({3}) - Ich dachte, Sie wüßten das. ({4}) - Das können wir vielleicht intern klären. ({5}) Bislang jedenfalls gibt es keinen Gesetzentwurf der Bundesregierung oder der Koalitionsfraktionen für einen Rechtsanspruch auf Einbürgerung, wie wir ihn in unserem Antrag fordern. Dieser Rechtsanspruch aber ist unabdingbar, um Rechtssicherheit zu garantieren. Unser Antrag trägt dem Rechnung. Ich möchte zum Schluß eine kluge Frau zitieren, Liselotte Funcke, die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, der man nicht oft genug für ihre Arbeit danken kann, auch wenn sie nicht immer gebührend gewürdigt wird. ({6}) Frau Funcke hat gesagt: Die deutsche Kultur ist durch die Mittellage Deutschlands in Europa immer beeinflußt und mitgeprägt worden von den Anregungen, die von außen gekommen sind, ({7}) von Nord, Ost, Süd und West. Diese Eindrücke haben immer wieder zur Fortentwicklung, zum Überdenken der eigenen Werte und zum Vergleich geführt. Nur so kann ich verstehen, was man mit der Bewahrung auch der kulturellen Identität meint, nämlich Bewahrung in den Wurzeln und Bereicherung darüber hinaus, her und hin. Dann hat sie hinzugefügt: Daraus wird sicherlich das eine oder andere Neue entstehen. ({8}) Meine Damen und Herren, im europäischen Haus sind viele Wohnungen. In der deutschen Etage leben Menschen miteinander, die sich zunächst fremd waren, die sich aber zunehmend mögen. ({9}) Ich plädiere für Mieterschutz. ({10})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Lüder.

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Schröer, Sie können zuversichtlich sein, ({0}) daß wir das Ausländergesetz so, wie es sich aus den Erklärungen der Bundesregierung nach der Einigung, auf die Herr Kollege Gerster und Herr Kollege Hirsch hingewiesen haben, ergeben hat, in dieser Wahlperiode verabschieden wollen. Wir wollen uns hier an die Zeit halten. Da brauchen wir nicht zu drängen. Sie sollten die Vorwürfe nicht an der falschen Stelle bringen, etwa wenn Sie aus Mülheim berichten, daß der Regierungspräsident zu hohe Gebühren genommen hat. Theoretisch hätte ja das Land NordrheinWestfalen auf Grund seines Gesetzesinitiativrechts im Bundesrat dieses Thema aufbringen können. Das brauchen Sie heute nicht aus der Sicht der Opposition vorzutragen. ({1}) Mit dem Thema, das jetzt Gegenstand unserer Beratungen ist, sind nicht nur die Fragen der Staatsangehörigkeit aufgeworfen, sondern generell die Fragen der Ausländerpolitik. Ich glaube, die Frage der Staatsangehörigkeit hat sehr damit zu tun, was für eine Einstellung wir eigentlich zum Ausländer haben. ({2}) Ich habe neulich in einem Buch von Alfred Grosser gelesen, daß es einmal diese Programmdefinition gab: „Wer nicht Staatsbürger ist, soll nur als Gast in Deutschland leben können und muß unter fremder Gesetzgebung stehen." Das ist für mich das Warnplakat. Denn dieses Zitat stammt aus dem Programm der NSDAP vom 24. Februar 1920. Davon müssen wir Abstand halten, wenn wir uns um Ausländer bemühen wollen. Ich meine auch, daß wir für die Ausländer mehr Verständnis und auch mehr Integrationswillen haben müssen. Ich fand es - lassen Sie mich das deutlich sagen - erschreckend, daß in dieser Woche im Deutschen Bundestag mein Berliner Kollege Straßmeir meinen Berliner Mitbürger Meneses Vogl wegen seiner Staatsangehörigkeitsfrage hier kritisiert hat. ({3}) Wenn wir den deutschen Mitbürger Meneses Vogl, noch nicht als Berliner akzeptieren, sind wir verdammt weit von dem entfernt, was wir als Ziel unseres Weges haben müssen. ({4}) - Nein, nein, lieber Kollege Fellner. Ich kenne den Günter Straßmeir schon eine ganze Weile. ({5}) Ich weiß, zu welchen Äußerungen er fairerweise fähig ist, und ich weiß auch, zu welchen Ausrutschern er fähig ist. Und das war ein Ausrutscher, ({6}) zu dem er hier noch nicht Stellung genommen hat. ({7}) Deswegen habe ich in aller Toleranz diesen Punkt noch einmal aufgeführt. Wir sollten vielleicht alle miteinander die Ausführungen der Bundesregierung in der Antwort auf die Große Anfrage noch einmal gründlich lesen. Was die Bundesregierung hier dargelegt hat, ist nämlich eine ganze Menge Material auch für die Notwendigkeit der Ermöglichung doppelter Staatsbürgerschaft. Da steht eben nicht nur drin, daß 60 % die alte Staatsbürgerschaft behalten wollen, sondern darin steht z. B. - ich zitiere wegen des Zeitablaufs nur diesen Punkt - , daß 52,5 % derer, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht haben wollen, diese akzeptieren würden, wenn sie nicht die eigene Staatsangehörigkeit aufgeben müßten oder wenn sie nicht dazu gedrängt würden, 52,5 % ! Das heißt, mehr als die Hälfte derer, die die deutsche Staatsangehörigkeit nicht beantragen, beantragen sie deswegen nicht, weil sie bleiben wollen, was sie sind, und zusätzlich die doppelte Staatsangehörigkeit haben wollen. Wir sollten auch einmal an die Tausende und Abertausende von Mitbürgern denken, die Doppelstaatsangehörige sind, auch bei einem - leider nur bei einem - Mitglied in diesem Haus, ohne daß uns das stört. Wir sollten zum Ausländerbereich auch einmal daran denken, ob wir nicht vielleicht mehr auf die Gleichberechtigung der Bürger achten sollten. Ich habe zum Beispiel nie verstanden, daß die Unbescholtenheit zum staatsbürgerlichen Jungfernkranz werden soll, während Deutsche straffällig werden dürfen. Da gibt es so viele Punkte, daß wir uns im Ausschuß noch viel damit beschäftigen müssen, wenn der Entwurf so, wie er jetzt ist, überwiesen wurde und wenn wir das einbringen, was sich die Koalition vorgenommen hat. Danke schön. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4268 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Die Überweisung ist so beschlossen. Ich rufe den Zusatzpunkt 10 zur Tagesordnung auf: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Steuerreformgesetzes 1990 sowie zur Förderung des Mietwohnungsbaus und von Arbeitsplätzen in Privathaushalten - Drucksache 11/4507 -Überweisungsvorschlag: Finanzausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO Meine Damen und Herren, zu einer anderen Stunde hat der Ältestenrat interfraktionell vereinbart, für diese Beratung 90 Minuten vorzusehen. - Ich sehe leider keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich hoffe immer noch, daß der eine oder andere mit seiner Redezeit vorsichtig umgeht. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat - Sie wollen als Minister sprechen, obwohl es ein Fraktionsentwurf ist - der Bundesminister der Finanzen.

Dr. Theodor Waigel (Minister:in)

Politiker ID: 11002412

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bedanke mich bei allen, die zur Beratung dieses wichtigen Gesetzentwurfs noch da sind und werde mir jeden persönlich dankbar im Herzen vermerken. ({0}) Der Deutsche Bundestag berät heute in erster Lesung über zwei Änderungen des Steuerreformgesetzes 1990 sowie über zwei Gesetzesinitiativen zur verbesserten steuerlichen Förderung des Mietwohnungsbaus und von Arbeitsplätzen in Privathaushalten. Die Vorschläge zur Korrektur des Steuerreformgesetzes 1990 sind das Ergebnis intensiver Diskussionen und Beratungen, die wir in den letzten Wochen hier bereits geführt haben. Wir wollen die kleine Kapitalertragsteuer zum 1. Juli 1989 abschafffen. Bereits gezahlte Steuern auch auf die Zinserträge aus Lebensversicherungen werden erstattet oder bei der nächsten Einkommensteuerveranlagung bzw. beim nächsten Lohnsteuerjahresausgleich verrechnet. Mit der Einführung der kleinen Kapitalertragsteuer sollte mehr Steuergerechtigkeit durch die gleichmäßigere Erfassung aller Einkommensarten erreicht werden. Im Ergebnis wurden jedoch viele Sparer zu Unrecht belastet, weil sie vor dem bürokratischen Nichtveranlagungs- oder Erstattungsverfahren zurückschreckten. Kritik und Verärgerung gab es vor allem auch bei denjenigen, die bisher schon ihre Zinseinkünfte ordnungsgemäß angegeben hatten. Im Zusammenhang mit der Ankündigung und Einführung der kleinen Kapitalertragsteuer hat sich auch der Kapitalexport in einem nicht vorhersehbaren Umfang verstärkt. Zugleich gingen die Kapitalanlagen von Ausländern in der Bundesrepublik spürbar zurück. Auf die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf das deutsche Zinsniveau und die Stabilität der Deutschen Mark hat vor allem die Deutsche Bundesbank wiederholt hingewiesen. Entsprechend der schon bisher geltenden gesetzlichen Regelung bleiben Zinseinkommen grundsätzlich steuerpflichtig. Wir werden das in der Öffentlichkeit immer wieder deutlich machen. Darüber hinaus werden die Kreditinstitute auch in Zukunft ihre Kunden auf die Steuerpflicht der Kapitalerträge hinweisen. Jeder Steuerpflichtige muß bei Steuererklärungen und Anträgen auf Lohnsteuerjahresausgleich die ordnungsgemäße Angabe der Kapitalerträge durch seine Unterschrift bestätigen. Schließlich besteht durch das Gesetz über strafbefreiende Erklärungen weiterhin ein Anreiz, den Weg in die Steuerehrlichkeit zu gehen. Zinseinkünfte werden durch diese Maßnahmen trotz des Verzichts auf die kleine Kapitalertragsteuer künftig besser als bisher erfaßt werden. Der Einnahmeverlust für die öffentlichen Haushalte wird sich damit in Grenzen halten. Im übrigen können wir bei deutlich verstärktem Wachstum mit Steuermehreinnahmen der öffentlichen Haushalte rechnen. Nach der jüngsten Steuerschätzung werden die bisherigen Erwartungen 1989 insgesamt um 6,1 Milliarden DM und 1990 um 17,8 Milliarden DM übertroffen. Zu diesen günstigen Ergebnissen hat die Finanz- und Steuerpolitik der Bundesregierung erheblich beigetragen. ({1}) In der Europäischen Gemeinschaft werden wir mit unseren Partnern in den jetzt beginnenden Konsultationen darüber beraten, wie die steuerliche Behandlung von Zinseinkünften im künftig gemeinsamen europäischen Kapitalmarkt geregelt werden kann. Die Prüfung alternativer Lösungen muß der zunehmenden Internationalisierung der Kapitalmärkte Rechnung tragen. Für die Einführung einer Quellensteuer auf europäischer Ebene ist die erforderliche Einstimmigkeit nicht gegeben. Auch wir wollen keine für alle Staaten verbindliche europäische Quellensteuer. Eine solche Abgabe würde mit großer Wahrscheinlichkeit zu erheblichen Kapitalverlagerungen in Drittstaaten führen. Unsere eigenen Erfahrungen lassen kaum eine andere Prognose zu. Auf diese Konsequenzen haben Präsident Pöhl und Vizepräsident Schlesinger von der Deutschen Bundesbank deutlich hingewiesen. Ein Kontrollmitteilungsverfahren kommt für uns als Alternative nicht in Frage. ({2}) Der jetzt gesetzlich verankerte Bankenerlaß, der Schutz der Vertrauensverhältnisse zwischen den Banken und ihren Kunden, bleibt in Kraft. Die Einführung von Kontrollmitteilungen würde darüber hinaus die Kapitalmärkte erneut belasten und noch mehr bürokratischen Aufwand verursachen als die kleine Kapitalertragsteuer. ({3}) Über andere Möglichkeiten einer Gemeinschaftsregelung wird zur Zeit auf europäischer Ebene gesprochen. Ausgangspunkt einer Lösung müssen die bestehenden nationalen Bestimmungen sein. Die notwendige Zustimmung aller Mitgliedstaaten wird nur zu erreichen sein, wenn ausreichender Spielraum für unterschiedliche nationale Systeme gewährleistet wird. Ich möchte hier auf eines eingehen, was ich heute in einer Meldung als Aussage von Frau Matthäus-Maier von der SPD gelesen habe. Ich weiß nicht, ob sie es gesagt hat, aber in der Überschrift stand es so. ({4}) - Ich will es auch sagen, wenn sie nicht kommt, weil ich nicht so lange warten kann. Dort ist vom Wählerbetrug die Rede. Ich weise diese Unterstellung, diesen Vorwurf in aller Schärfe und Klarheit zurück. Frau Matthäus-Maier gehört der SPD noch nicht allzu lange an. Wenn sie sich an 1976 und 1980 erinnert, sollte sie mit dem Wort Wählerbetrug im Auftrag der SPD sehr vorsichtig umgehen. ({5}) Wir betreiben keinen Wählerbetrug. Sie soll sich das, was ich hier gesagt habe, genau durchlesen. Ich hoffe, daß sie dann den politischen Anstand besitzt, einen solchen Vorwurf nicht zu wiederholen. ({6}) Wir verdoppeln den Sparerfreibetrag, der seit 1975 nicht mehr verändert worden ist. Die von der Opposition geforderte Verzehnfachung des Sparerfreibetrags ist haushaltspolitisch völlig unseriös. Wenn man sich an die sonstige Neidkampagne der SPD erinnert, bei der immer wieder auf die Hoch- und Höchstverdienenden hingewiesen wird, frage ich mich eigentlich, mit welcher moralischen Legitimation die SPD ihre Neidkampagne bei anderen Fragen noch fortsetzen möchte. ({7}) Die nun gefundene Regelung zur Begünstigung von Veräußerungsgewinnen nach § 34 des Einkommensteuergesetzes entspricht unserer mittelstandspolitischen Philosophie und ist sachgerecht. Die verbesserten Abschreibungsbedingungen für den Mietwohnungsbau führen dazu, daß wir regionale Engpässe beseitigen können und daß wir vor allem zusätzliches privates Kapital mobilisieren und auch im sozialen Wohnungsbau den neuen Herausforderungen gerecht werden. Durch die vorgesehene steuerliche Begünstigung der Beschäftigung von Familien- und Pflegehilfen sollen zusätzliche Arbeitsplätze in Privathaushalten gefördert werden. Löhne und Sozialversicherungsbeiträge für Haushaltshilfen sollen künftig bis zur Höhe von 12 000 DM im Jahr steuerlich berücksichtigt werden, wenn zum Haushalt zwei Kinder unter zehn Jahren, bei Alleinstehenden ein Kind, oder ein Pflegebedürftiger gehören. Meine Damen und Herren, die vorgeschlagenen steuerlichen Maßnahmen sollten so rasch wie möglich in Kraft treten. Ich bitte Sie deshalb um Ihre Mitwirkung, damit das Gesetzgebungsverfahren bis zum 1. Juli dieses Jahres abgeschlossen werden kann und damit Klarheit für alle Betroffenen und Beteiligten hergestellt wird. ({8}) Diese Maßnahmen sind Teil unserer Politik für mehr Wachstum, Beschäftigung und sozialen Ausgleich. Auf der Grundlage zusammenhängender finanzpolitischer, wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Entscheidungen haben wir in den letzten Jahren erhebliche Erfolge erzielt. Mehr als 1 Million zusätzlicher Arbeitsplätze sind seit 1983 geschaffen worden, und die Arbeitslosigkeit wird in diesem Jahr erstmals wieder unter die 2-Millionen-Grenze sinken. Jahr für Jahr nehmen die verfügbaren Realeinkommen deutlich zu. Auf der Grundlage der sichtbar werdenden und gewordenen Erfolge werden wir die Bürger unseres Landes von der Notwendigkeit und Richtigkeit unserer Entscheidungen noch besser überzeugen können. Ich danke Ihnen. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Poß.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dem neuen Bundesfinanzminister Dr. Waigel kann ich eigentlich nur empfehlen, aus der Geschichte seines Vorgängers Stoltenberg zu lernen und die Rechthaberattitüde, die er hier stellenweise an den Tag gelegt hat, für die nächsten Wochen oder Monate abzulegen. ({0}) Das Beispiel Stoltenberg sollte Sie warnen, Herr Dr. Waigel, anderen nicht die moralische Legitimation abzusprechen, angesichts der Steuergeschichte des letzten Jahres, speziell bei der Quellensteuer. Heute geht's in die nächste Runde dieses steuerpolitischen Zickzackkurses mit dem Namen „Quellensteuer". Den bisherigen Verlauf kann man wirklich nur als chaotische Gesetzgebung bezeichnen, die dem deutschen Volk viele Opfer abverlangt hat. Die Konzeptions- und Verantwortungslosigkeit der Regierung Kohl verursachten volkswirtschaftliche Verluste und Kosten in der Finanzverwaltung sowie in der Kredit- und Versicherungswirtschaft in Milliardenhöhe. Die Kosten sollten von der Bundesregierung möglichst bald in einer Schadensbilanz im einzelnen dargestellt werden. Einige der Betroffenen prüfen bereits, ob sie Schadenersatzansprüche geltend machen können. Nicht bezifferbar, meine Damen und Herren, sind der Streß, der Ärger und der Frust, die Minderung an Lebensqualität, die sich in unserem Lande breitgemacht hat, aber auch die schlaflosen Nächte unserer älteren Mitbürger, die vielfach überfordert waren, den Formularkrieg mit den Finanzämtern zu führen, ({1}) und die deshalb vor der Konsequenz standen, auf die Rückerstattung der ihnen zustehenden Quellensteuer zu verzichten. Der Lohnsteuer-Jahresausgleich verzögert sich. Wir denken an die vielen Menschen in den Wohn- und Amtsstuben, an den Schaltstellen in der Wirtschaft und der Verwaltung und an den Bankschaltern. Alle mußten sich mit unendlicher Geduld bemühen, des bürokratischen Monstrums Herr zu werden. ({2}) Wir denken auch an die Beschäftigten des Quellensteueramtes in Trier und deren Familien, die ihre Lebensplanung nach wenigen Monaten nun schon wieder verändern müssen. ({3}) Der Bundesfinanzminister versucht, die negativen Wirkungen der Einführung und der Wiederabschaffung der Quellensteuer mit dem Nachweis zu verniedlichen, die knapp 4 Milliarden DM Steuerausfall jährlich, die damit verbunden seien, würden durch die - nach der neuen Steuerschätzung - konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen mehr als ausgeglichen. Aber was hat die neue Steuerschätzung ergeben? Erstens. In den höher geschätzten Steuereinnahmen schlagen sich die stärker werdenden Preissteigerungen nieder. Zweitens. Die Steuerschätzung weist nicht etwa - wie zu erwarten - für die Jahre ab 1990 NettoSteuersenkungen von rd. 11 Milliarden DM jährlich aus. Die jetzt errechneten Steuereinnahmen liegen 1990 um 18 Milliarden DM und 1991 um 23 Milliarden DM gewaltig darüber. Das heißt: Die Steuermehreinnahmen sind erheblich höher als die von Ihnen angekündigten Steuersenkungen. ({4}) - Das ergibt keinen Sinn! Sie haben den Menschen Steuersenkungen versprochen, und diese Wirkung verpufft. ({5}) Sie haben nicht auf uns gehört. Wir haben vor dieser Quellensteuer gewarnt. ({6}) Jetzt heben Sie die Quellensteuer auf, aber die Steueramnestie soll bleiben. Wer sich amnestieren läßt, bleibt nicht nur straffrei, sondern braucht seine vor 1986 hinterzogenen Steuern nicht mehr nachzuzahlen. ({7}) Ein wirklich billiges Ruhekissen für Steuersünder, über dessen Zulässigkeit das Bundesverfassungsgericht allerdings erst noch entscheiden muß. ({8}) Die Amnestie ist auch unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nach Wegfall der Quellensteuer noch viel problematischer, da sie mit einer gewollten Verbesserung des Rechtszustandes nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Auch der Bankenerlaß soll Pon im Gesetz weiter verankert bleiben, damit die großen Vermögen geschont werden können. ({9}) Wie wollen Sie, Herr Dr. Waigel, angesichts dieser Regelung den gegenseitigen Beistand der nationalen Steuerverwaltungen in Europa eigentlich noch möglich machen? Nun soll die ungeliebte Quellensteuer, wie der Kollege Glos formuliert hat, „mit Stumpf und Stiel" ausgerottet werden. ({10}) Warum also jetzt noch trauern, wenn dieses Ungetüm nunmehr beerdigt werden soll? Die Antwort heißt: Die Hydra ist nicht tot, sie ist nicht einmal scheintot. Zunächst wollte der Bundesfinanzminister die Quellensteuer aussetzen, dann wollte er sie abschaffen, und nun soll sie für zwei bis drei Jahre bis zu der notwendigen europäischen Lösung ausgesetzt werden. So glänzend war Ihr Einstand nicht, Herr Dr. Waigel! ({11}) Die Problematik hat der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vom 27. April 1989 angesprochen, als er sagte: Wir werden uns in der Europäischen Gemeinschaft im Gespräch mit unseren Partnern dafür einsetzen, daß eine tragfähige Regelung der Besteuerung von Kapitalerträgen möglich wird, die zwingend notwendig ist, um den gemeinsamen Binnenmarkt zu erreichen. Der vorbereitete Redetext, der diese Wahrheit zu kaschieren versuchte, lautete bekanntlich anders. Und nach seiner Regierungserklärung hat der Bundeskanzler die Stenographen des Bundestages angewiesen, den Satz der Wahrheit im Protokoll zu korrigieren. ({12}) Noch abenteuerlicher ist die Interpretation des Kanzleramtsministers Stavenhagen, der hier im Bundestag vorgestern vergeblich versucht hat, den Bundeskanzler zu rechtfertigen. Nach dieser Interpretation gibt der klare Text der Regierungserklärung nicht etwa wieder, was die Auffassung der Bundesregierung ist, sondern was die französische Regierung gern möchte. Das ist eine beschämende Erklärung zur Aussage des Bundeskanzlers. ({13}) Aber ob man nun davon ausgeht, daß eine Besteuerung der Zinsen rechtlich oder politisch zwingend notwendig ist, oder nur davon, daß sich die Bundesregierung um eine tragfähige Regelung der Besteuerung von Kapitalerträgen bemühen wird, fest steht, daß CDU/CSU und FDP in wenigen Jahren, d. h. nach den nächsten Bundestagswahlen, die Quellensteuer wieder einführen werden, wenn sie dann tatsächlich noch Regierungsverantwortung tragen sollten. ({14}) Das hat der neue Bundesfinanzminister am Mittwoch in der Pressekonferenz ausdrücklich bestätigt. Er rechnet mit einer europäisch harmonisierten Quellensteuer in zwei bis drei Jahren. ({15}) Damit wird auch klar, was der Bundesfinanzminister gemeint hat, als er zunächst die Formulierung von der zeitweisen Aussetzung der Quellensteuer benutzte. ({16}) - Ich habe gelesen, was er gesagt hat. Was er jetzt mit der Wiedereinführung der Quellensteuer in wenigen Jahren ankündigt, ist doch nichts anderes als eine differenzierte Ausdrucksform für seine frühere Ankündigung von der zeitweisen Aussetzung der Quellensteuer. ({17}) Ich habe seine Aussagen genau nachgelesen; von daher ist das hier gedeckt. ({18}) Wie soll die Liberalisierung und Harmonisierung des europäischen Kapitalmarktes nun weitergehen, welche Vorschläge will die Bundesregierung den anderen EG-Partnern dazu machen, oder will sie die Bestrebungen um den europäischen Kapital- und Binnenmarkt verzögern? Ich fordere den Bundesfinanzminister auf, klarzustellen, wie es aus deutscher Sicht mit dem europäischen Kapitalmarkt weitergehen soll. Heute haben Sie hierzu in der Substanz nichts gesagt, Herr Dr. Waigel, ohne daß man sich mit anderen Mitgliedsländern herausredet. Was sich mit der nur scheinbaren Beerdigung der Quellensteuer anbahnt, kann sich zum größten Wählerbetrug der Bundestagswahl 1990 ausweiten, und dieses Wort ist richtig. ({19}) Schon bei der letzten Bundestagswahl hatten CDU/ CSU und FDP den Bürgern die Fata Morgana einer großen Steuerreform vorgegaukelt, ohne zu sagen, daß sie eine Quellensteuer einführen und den Weihnachtsfreibetrag und den Arbeitnehmerfreibetrag abschaffen werden. Auch vor den Landtagswahlen in verschiedenen Bundesländern wurde den Wählern nur die Speckseite der Steuersenkung gezeigt. Die beabsichtigten Belastungen, die Verbrauchsteuererhöhungen und die Einführung der Quellensteuer, haben die Koalitionsparteien erst nach den Landtagswahlen beschlossen. Die Spekulation auf das kurze Gedächtnis des Wählers ist inzwischen zum Markenzeichen dieser Bundesregierung geworden, und daran ist Herr Stoltenberg gescheitert, und sein Nachfolger wird auch daran scheitern, wenn er, Herr Dr. Waigel, in diesem Stil Holzkopfpopulismus betreiben sollte. ({20}) Damit werden Sie nicht das Vertrauen erwerben ({21}) - das ist doch Zimmermann - , um geflüchtetes Kapital zur Rückkehr zu bewegen. Ihnen geht es offen10728 sichtlich nur noch um das politische Überleben, und das wollen Sie durch Reparaturen steuerlicher Mißbildungen erreichen. Das erste Reparaturgesetz, an das ich hier denke, war die teilweise Rückgängigmachung beim Flugbenzin. Auch da war Herr Waigel kräftig mit dabei. Die Lust an steuerlich ungerechten Regelungen ist Ihnen aber offensichtlich noch nicht vergangen; das zeigen Ihre Vorstellungen zur Einführung eines sogenannten Dienstmädchenprivilegs. Meine Damen und Herren, in der Begründung zum Gesetzentwurf, mit dem die Quellensteuer eingeführt wurde, konnte man folgendes lesen: Die verbesserte steuerliche Erfassung von Zinseinkünften dient nicht nur der Steuergerechtigkeit, sondern ist auch wirtschafts- und beschäftigungspolitisch geboten. Sie mildert eine steuerliche Benachteiligung von Anlagen in arbeitsplatzschaffendem Unternehmenskapital im Vergleich zu reinen Finanzanlagen. Die Maßnahme soll damit zugleich zur Belebung des Risikokapitalmarktes und zur Stärkung des unternehmerischen Eigenkapitals beitragen. Diese Erkenntnis war damals richtig und ist es auch heute noch. Ihre Quellensteuer war der falsche Weg, ihre Abschaffung ist richtig. Aber das ändert nichts daran, daß die Besteuerung von Kapitalerträgen nach Recht und Gesetz sichergestellt werden muß. ({22}) Dafür tun Sie aber nichts. Im Gegenteil, Sie verhindern sogar noch durch Gesetz, daß die Finanzbeamten Steuerhinterziehung bei hohen Kapitalerträgen aufdecken können. ({23}) Die SPD hat einen Vorschlag auf den Tisch gelegt, wie das Problem gelöst werden kann. Wir Sozialdemokraten wollen durch eine Verzehnfachung der Sparerfreibeträge dafür sorgen, daß die Zinsen für Ersparnisse bis etwa 100 000 DM steuerfrei gestellt werden. Damit aber für hohe Kapitalerträge die Besteuerung nach Recht und Gesetz sichergestellt wird, wollen wir ein bürgerfreundliches und unbürokratisches Mitteilungsverfahren mit Stichproben. Das wird auch in anderen EG-Ländern und in den USA ohne Probleme praktiziert. Ich fasse zusammen, meine Damen und Herren. Die Abschaffung dieser Quellensteuer ist richtig. Sie war von Anfang ein bürokratisches und bürgerfeindliches Monstrum. Wenn Sie sich aber nicht der politischen Kumpanei mit großen Steuerhinterziehern schuldig machen wollen, dann müssen Sie sicherstellen, daß hohe Kapitalerträge tatsächlich nach Recht und Gesetz versteuert werden. ({24}) Den großen Steuerhinterziehern, die jedes Jahr Milliarden am Finanzamt vorbeischleusen, muß das Handwerk gelegt werden. Die Millionen Normalsparer dagegen müssen für die Zinsen auf ihre Ersparnisse völlig steuerfrei gestellt werden, wie wir das seit langem fordern. Das lehnt die Bundesregierung aber ab. Der Bundesfinanzminister hat vielmehr selbst deutlich zu erkennen gegeben, daß er daran denkt, nach der nächsten Bundestagswahl im EG-Rahmen die Quellensteuer wieder einzuführen. Deshalb ist der Gesetzentwurf, den Sie dem Deutschen Bundestag hier vorgelegt haben, nichts anderes als der Versuch einer großangelegten Wählertäuschung. Ich bin sicher, unsere Bürger lassen sich das nicht bieten. Sie haben Ihre unredliche Steuerpolitik schon lange satt. ({25})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich eine Bemerkung machen. Die Menge der parlamentarisch problematischen Worte und Begriffe auf allen Seiten des Hauses in dieser Debatte ist nach meinem Eindruck umgekehrt proportional zu der sachlichen Notwendigkeit. Es wäre ganz schön, wenn wir uns in der nächsten Runde danach richten würden. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Solms.

Dr. Hermann Otto Solms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002190, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich bedanke mich beim Kollegen Glos, daß er mir den Vortritt gelassen hat, weil ich von Terminen gedrängt bin. Es ist das Zeichen einer starken Regierung, wenn sie bereit ist, einen Fehler anzuerkennen und Korrekturen vorzunehmen. Das ist kein Zeichen von Schwäche. Meine Damen und Herren, die FDP akzeptiert die Abschaffung der Quellensteuer. Schon wenige Monate nach ihrer Einführung zeigt es sich nämlich, daß wir mit der Kapitalertragsteuer auf Zinseinkünfte nicht das erreichen können, was wir uns davon versprochen haben, eine gerechtere steuerliche Erfassung der Einkünfte aus Kapitalvermögen. ({0}) Die Quellensteuer führt zu einem steuerlichen Ausweichverhalten in einer nicht mehr vertretbaren Größenordnung. Das war in dieser Weise nicht vorherzusehen. ({1}) Es ist müßig, die Gründe dafür zu erforschen. Wir können an den Fakten nicht vorbeigehen. Ich will ganz deutlich sagen: Ich bekenne mich zu meiner persönlichen Verantwortung für die Einführung der Quellensteuer. Aber ich sehe mich auch durch das Verhalten der Bürger getäuscht. Wir wollten durch eine maßvolle zehnprozentige Quellensteuer in Verbindung mit der Amnestieregelung eine goldene Brücke zu mehr Steuerehrlichkeit bauen. Das war die Absicht. ({2}) Wir stellen nun fest: Die Steuerpflichtigen haben dies als Brücke nach Luxemburg mißbraucht und nicht als Brücke zur Steuerehrlichkeit gebraucht. Zu Beginn dieses Jahres sind 85 % - das muß man sich merken - der Geldvermögensanlagen ins Ausland gewandert. Die Bundesbank hat SOS gefunkt. Wir müssen handeln. Die Quellensteuer wird zum 1. Juli abgeschafft. Ich halte es auch für ausgesprochen unwahrscheinlich, daß wir jemals in Europa zu einem einheitlichen Verfahren der Kapitalertragsbesteuerung kommen werden. Dazu sind die Positionen der einzelnen Länder zu unterschiedlich. Im übrigen - das will ich auch Herrn Poß sagen - , die Vertragslage in Europa erzwingt es nicht. Es muß kein einheitliches Verfahren der Kapitalertragsbesteuerung geben. ({3}) Um jeder weiteren Verunsicherung vorzubeugen, stelle ich für die FDP auch noch einmal ganz eindeutig klar: Ein Kontrollmitteilungssystem zwischen Kreditinstituten und Finanzverwaltung, wie es die Opposition fordert, werden wir nicht mitmachen. ({4}) Die FDP ist gegen jede Schnüffelei des Staates in den Bankkonten der Bürger. Die dann eintretende Kapitalflucht würde alles in den Schatten stellen, was wir heute hier haben. Das kann sich doch jeder bei dem, was wir jetzt an Erfahrung gesammelt haben, ausmalen. Die FDP begrüßt, daß die Koalition die Kraft aufgebracht hat, die steuerliche Behandlung von betrieblichen Veräußerungsgewinnen nach § 34 EStG gegenüber dem Steuerreformgesetz 1990 zu verbessern. Die jetzt vorgesehene Regelung ist geeignet, dem Ausverkauf bester deutscher Unternehmen und der damit einhergehenden Verunsicherung der Arbeitnehmer in diesen Betrieben Einhalt zu gebieten. Es besteht nun kein Anlaß mehr, aus steuerlichen Gründen betriebswirtschaftlich unsinnige Unternehmensverkäufe zu tätigen. Die FDP bekennt sich - und darauf will ich etwas ausführlicher eingehen - zu der Autorenschaft der Familien- und Pflegehilfen, die jetzt im Steuerrecht eingeführt werden. Wer diese Maßnahmen als Dienstmädchenprivileg diffamiert wie eben der Kollege Poß und vor zwei Tagen die Kollegin Frau Matthäus-Maier, beweist damit nur, daß er nicht willens und nicht fähig ist, die verkrusteten Strukturen auf dem Arbeitsmarkt mit aufbrechen zu helfen. ({5}) Es ist schon ein starkes Stück, die Arbeit von Frauen, die sich für Familie und Haushalt entscheiden, als Dienstmädchenarbeit abzuqualifizieren. ({6}) Die steuerliche Berücksichtigung von Familien- und Pflegehilfen sieht die FDP als eine große Chance für den Arbeitsmarkt, für die Familien und für die Frauen an: ({7}) - Ich komme gleich darauf zurück, Frau Matthäus-Maier. Erstens. Es wird ein neuer Dienstleistungsmarkt mit Beschäftigungsmöglichkeiten insbesondere für Frauen mit geringer oder ohne berufliche Qualifikation geschaffen. Für solche Personen ist heute der Arbeitsmarkt - das wissen wir doch aus vielen Diskussionen - mit den viel zu hohen Sockellöhnen verschlossen. Sie können heute auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Beschäftigung finden. Das Ifo-Institut schätzt, daß hier bis zu 250 000 Arbeitsplätze geschaffen werden können. ({8}) Zweitens. Bereits heute gibt es in privaten Haushalten mehrere 100 000 Schwarzarbeitsverhältnisse ohne jede soziale Absicherung. Diese Arbeitsverhältnisse wollen wir legalisieren und den dort Beschäftigten vollen sozialen Schutz zukommen lassen. Drittens. Beruf und Familie lassen sich besser miteinander vereinbaren. Der Eintritt oder die Rückkehr von Frauen in den Beruf wird erleichtert, wenn sie auf diese Weise dafür Sorge tragen können, daß eine Betreuung ihrer Kinder zu Hause stattfinden kann. Viertens. Die steuerliche Berücksichtigung der Pflegehilfen unterstützt den notwendigen Ausbau der ambulanten Pflegeleistungen. Sie wissen, daß die Pflege zu Hause ein humaneres Mittel ist als das Abschieben von Pflegebedürftigen in Pflegeheime. ({9}) Fünftens. Die erleichterte Aufnahme eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses verbessert die Alterssicherung sowohl der Frauen, die einen Arbeitsplatz in Privathaushalten finden, wie auch jener Frauen, die in ihre bisherige Berufstätigkeit zurückkehren können, weil sie sich die Hilfe bei der Betreuung ihrer Kinder wieder leisten können. Sechstens. Die Familien- und Pflegehilfe ist ein sinnvoller Beitrag zum Abbau der Arbeitslosigkeit und führt zu Entlastungen bei der Arbeitslosen- und Sozialhilfe. Siebtens. Auch weniger gut verdienende Familien sollten sich die Anstellung einer Familienhilfe leisten können, wenn sie sich mit Gleichgesinnten zusammentun und einen Beschäftigungspool bilden. Wer von einem Privileg für die Reichen in diesem Zusammenhang spricht, will bewußt diffamieren; ({10}) denn auch drei Familien mit geringerem Einkommen, die sich zusammentun und eine Familienhilfe zur Betreuung ihrer Kinder anstellen, können sich das dann leisten. ({11}) Die Kritik der SPD ist nicht nur unüberlegt und gedankenlos; was in meinen Augen viel schlimmer ist, ist, daß diese Kritik herzlos ist, weil sie die Nöte der betroffenen Familien einfach ignoriert. Dies zeigen viele Briefe, die mir auf Grund von Presseveröffentlichungen in diesem Zusammenhang zugegangen sind. Ich will aus zwei Briefen zitieren. Erstes Zitat: Letztes Jahr ist meine Frau plötzlich verstorben und hat mich mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen. Gegenwärtig betreut meine nahezu 80jährige Mutter die Kinder. Sie wird es nicht mehr lange können. Mein Netto-Einkommen ist bisher nicht so hoch, daß ich mir eine Hausangestellte zur Kinderbetreuung leisten könnte. Mit Ihrem Vorschlag, die Bezahlung einer Haushaltshilfe von der Steuer absetzen zu können, würde mir ganz entscheidend geholfen. Zweites Zitat aus einem anderen Brief, einer Frau und Mutter: Hoffentlich wird Ihr Vorschlag verwirklicht, daß ich eine Haushaltshilfe zur Betreuung meiner Kinder anstellen kann und ihre Bezahlung von der Steuer absetzen kann. Dann könnte ich mir den Wunsch erfüllen, wieder ins Berufsleben zurückzukehren. Ich habe unter großen Anstrengungen auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur nachgemacht und anschließend studiert. Nach zwei Berufsjahren habe ich geheiratet und drei Kinder bekommen. Aus dem Gehalt meines Mannes läßt sich eine Hilfe zur Betreuung der Kinder nicht bezahlen. Das aber ist die Voraussetzung, daß ich wieder beruflich tätig werden kann. Ihr Vorschlag würde sicher vielen Frauen, die in der gleichen Situation sind, helfen. Empört bin ich über die abwertenden und unwürdigen Äußerungen zu diesem Vorschlag, die gerade von Mitgliedern meiner eigenen Partei, der SPD, zu hören sind. ({12})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Hüser.

Uwe Hüser (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000978, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habe den Eindruck, daß die Bundesregierung die Last des Regierens doch als sehr erheblich empfindet und daß sie alles tut, um diese Last abzugeben. Es wäre der einfachere Weg, wenn Sie den Weg zu Neuwahlen freimachten. Ich habe aber den Eindruck, daß Sie einen sehr dornenreichen Weg gewählt haben, indem Sie uns solche Gesetzentwürfe vorlegen, die sehr deutlich klarmachen, daß spätestens 1990 eine andere Regierung notwendig ist. Das kann uns eigentlich nur recht sein. ({0}) Als einziger Redner muß ich in der mir verbleibenden Zeit alle vier Bereiche sehr kurz durchgehen. Ich komme zum ersten Thema, der Quellensteuer. Natürlich hat auch diese Bundesregierung das Recht, dazuzulernen. Diese Bundesregierung hat einen sehr großen Bedarf, dazuzulernen. Allerdings wundert es mich schon, in welcher Art und Weise Sie die Kritik der Opposition, der Fachverbände und Wissenschaftler bei der Diskussion und in der Anhörung vor einem Jahr in den Ausschüssen zurückgewiesen haben. Besonders deutlich ist dies noch einmal in der Antwort auf die Große Anfrage der GRÜNEN nachzulesen. Ich glaube auch nicht, daß Sie dazugelernt haben, sondern daß einzig und allein die Angst vor Stimmenverlust Sie dazu bewogen hat, eine andere Marschrichtung einzuschlagen. Ein Hauptargument der Bundesregierung bei der Einführung der Quellensteuer war, daß damit Steuergerechtigkeit eingeführt werden solle. Der Hinweis auf die Steuerpflicht von Zinseinkünften, den Sie jetzt noch beibehalten, reicht bei weitem nicht aus, diese Steuergerechtigkeit zu schaffen. Sie selber glauben auch nicht daran, daß es zur Steuergerechtigkeit kommt. Wie sonst ist denn zu erklären, daß Sie in Ihrer Finanzierungsübersicht davon ausgehen, daß es zu Steuerhinterziehungen in einer Größenordnung von 4 Milliarden DM mit steigender Tendenz kommt? Das Geld, das dann nicht mehr eingenommen wird, ist - das ist Ihre Lesart und auch richtig so - steuerpflichtig. Aber wenn es durch die Abschaffung der Quellensteuer nicht mehr hereinkommt, handelt es sich um Steuerhinterziehung, die Sie durch den Bankenerlaß und durch die dadurch gewährleistete Anonymität garantieren. Hier ist Handlung notwendig. Das einzige, was wirklich zu Steuerehrlichkeit und -gerechtigkeit führen kann, ist eine Einführung von Kontrollmitteilungen und in diesem Zusammenhang natürlich eine Anhebung der Freibeträge, damit die vielen kleinen Sparer, die sich mühsam etwas abgespart haben, nicht auch noch zusätzlich belastet werden. Aber zu diesem Weg sind Sie nicht bereit, weil Sie diese Steuerehrlichkeit grundsätzlich gar nicht wollen. Zum zweiten Thema, das vorhin Herr Solms angesprochen hat, zur Haushaltshilfe, zu dem sogenannten Dienstmädchen- oder Dienstjungenprivileg. Ich habe auch hier den Eindruck, daß Sie aus dem Flugbenzinskandal überhaupt nicht dazugelernt haben. Denn dieser Gesetzentwurf ist von genau demselben Kaliber wie die damalige unsägliche Ungerechtigkeit, die durch die Freistellung des Flugbenzins von der Besteuerung eingeführt werden sollte. ({1}) Ich bin allerdings ziemlich sicher, daß Sie es in den Ihnen verbleibenden anderthalb Jahren schaffen, diese Ungerechtigkeit noch weiter auf die Spitze zu treiben. Wir werden Ihre nächsten Entwürfe ganz gespannt abwarten. Eine Begründung in diesem Entwurf ist, daß Sie u. a. die Mehrfachbelastung durch Beruf sowie durch Betreuung und Alleinerziehung von Kindern mindern wollen. Dieses Angebot ist - das werden die Betroffenen am ehesten beurteilen können - ein purer Hohn. Wissen Sie denn nicht, daß ein Drittel dieser Frauen - es sind hauptsächlich Frauen - von der Sozialhilfe lebt und daß 50 % dieser Personengruppen ein Einkommen von unter 2 000 DM im Monat haben? Wie wollen Sie denn ernsthaft glauben, daß sich diese Personengruppen eine Haushaltshilfe leisten können? Diese Personengruppen brauchen Hilfe; das ist unbestritten. Sie brauchen Kinderkrippen und ausreichende Kindergartenplätze; sie sind froh, wenn sie das bezahlen können. Aber das einzige, was passiert, ist, daß die Kindergartenbeiträge landauf, landab steigen. Hier ist Handlungsbedarf; aber hier tut die BunHüser desregierung nichts. Dies ist ein Skandal ersten Ranges. ({2}) Ein weiteres Argument ist, daß Sie hier die Betreuung fördern wollen. Aber wenn Sie auf die Straße gukken, können Sie genau sehen, wo es an Betreuung fehlt: Die ÖTV und die Beschäftigten im Pflegepersonal demonstrieren momentan für angemessene Arbeitsbedingungen und Löhne. Das ist kein Wunder, wenn man weiß, daß diese Personengruppen nach der Ausbildung und nach fünfjähriger Beschäftigung mit einem Nettoeinkommen von 1 300 DM nach Hause kommen. Ich habe den Eindruck, Sie spekulieren darauf, daß diese dann in ihrer Freizeit das bißchen an Lohn, was sie haben, noch durch die Haushaltshilfe oder Pflege aufbessern sollen. Herr Waigel, Sie haben in der Befragung der Bundesregierung - auch in dem Gesetzentwurf ist das als Hauptargument nachzulesen - noch angeführt, daß mit diesem Gesetzentwurf Arbeitsplätze geschaffen werden sollen; Sie sprechen von einer Größenordnung von 100 000. Abgesehen davon, daß ich das für unsinnig halte, zeigt dies auch, welche Art und Weise von Arbeitsmarktpolitik Sie hier betreiben. Durch die neunte Novelle zum Arbeitsförderungsgesetz haben Sie weit mehr als 100 000 Arbeitsplätze abgeschafft, qualifizierte Arbeitsplätze im sozialen Bereich, in Initiativen, bei karitativen Verbänden und vor allem in der Weiterbildung, und hier schaffen Sie durch Steuergeschenke an Wohlhabende unqualifizierte und auch arbeitsrechtlich nicht abgesicherte, sehr problematische Arbeitsverhältnisse. Diese Leute, die hier diese Arbeitsplätze wahrnehmen müssen, weil sie keine andere Wahl haben, werden wahrscheinlich auch überhaupt keine Chance haben, wieder auf den regulären Arbeitsmarkt zurückzukehren, zumal Sie viele Möglichkeiten der Weiterbildung gestrichen haben. ({3}) - Wenn Sie sich Ihre Berechnungen anschauen, werden Sie selber sehen, daß es sich hier um Arbeitsplätze handelt, die sehr gering bezahlt werden, und daß hier überhaupt nicht von regulären Vollzeitarbeitsplätzen gesprochen werden kann; denn diese kann sich wirklich keiner leisten. Das ist keine Arbeitsmarktpolitik, wie wir sie wollen. Diese Arbeitsmarktpolitik muß schleunigst abgesetzt werden. Zum nächsten Punkt, zu § 34, Veräußerungsgewinne: Wahrscheinlich werden die meisten bei dem Paket, das Sie uns vorlegen, hauptsächlich von der Quellensteuer und dem sogenannten Dienstmädchenprivileg sprechen. Keiner wird bemerken, welche Steuergeschenke Sie für die Millionäre bei der erneuten Novellierung des § 34, der erst vor kurzem geändert worden ist, eingebracht haben. Zur Begründung der Steuerreform, wo Sie damals den halben Steuersatz auf Gewinne bis 2 Millionen DM begrenzt haben, haben Sie erklärt: Damit wurde ein Kompromiß zwischen den Interessen des Mittelstandes an einer weiteren großzügigen Tarifgestaltung zusammengeballter, außerordentlicher Einkünfte, insbesondere bei Veräußerungs- und Aufgabengewinnen, und eine einschränkende Regelung für Veräußerungen - das ist jetzt maßgebend ab einer Größenordnung erreicht, bei der eine Tarifermäßigung nicht mehr zu rechtfertigen ist. Ich frage Sie ernsthaft: Was hat Sie dazu bewogen, jetzt von dieser nicht mehr zu rechtfertigenden Tarifermäßigung von 2 Millionen DM auf 30 Millionen DM, also das 15fache, heraufzugehen? Das bedeutet im Extremfall einen Gewinn von ca. 7 Millionen DM. Ihre Gründe sind nicht stichhaltig. Wenn Sie die letzte Ausgabe der „Wirtschaftswoche" gelesen haben, wissen Sie auch, warum diese Betriebsaufgaben stattfinden, nämlich weil die meisten ihre Nachfolge nicht geregelt haben und weil momentan sehr viel Kapital auf dem Markt ist. Denjenigen, die ihren Betrieb nicht verkaufen wollen, weil sie darin noch arbeiten wollen oder ihn an einen Nachfolger weitergeben wollen, ist es sowieso egal, welcher Steuersatz momentan gilt. Noch ein Grund, der das überhaupt nicht rechtfertigt: Angenommen, diese stillen Reserven hätten sich, wie Sie in Ihrer Begründung angeben, in den letzten vierzig Jahren seit Bestehen der Bundesrepublik angesammelt, dann wäre es, auch wenn man die Inflation berücksichtigt, pro Jahr immer noch ein so hoher Gewinn, daß man jederzeit noch beim Spitzensteuersatz läge. Es gibt überhaupt keine Begründung, dies von 2 Millionen auf 30 Millionen heraufzusetzen, ({4}) außer, wie ich schon sagte, daß dies hier wieder ein Extremfall oder eines Ihrer Steuergeschenke an Wohlhabende und Millionäre ist. Es gibt noch einen dritten Punkt in diesem Gesetz, der hier noch nicht angesprochen worden ist, die Verkürzung der Abschreibungsfristen für den Mietwohnungsbau. Dies soll - das ist auch in der Begründung nachzulesen - in den ersten zehn Jahren einen Steuerausfall von 15 Milliarden DM bringen, vorausgesetzt, es werden wirklich 300 000 Wohnungen gebaut. Mit diesem Geld könnten Sie 150 000 Sozialmietwohnungen bauen. In dem Bereich sind Sie jetzt dabei, sehr kräftig abzuspecken. Hier wäre ein wirklich am Bedarf orientierter Wohnungsbau notwendig. Durch die von Ihnen geschaffenen Abschreibungsmöglichkeiten für Modernisierungsmaßnahmen wird Wohnraum geschaffen, den sich die sozial Schwachen mit Sicherheit nicht leisten können. Ich komme zum Schluß. Wenn Sie, wie ich den Eindruck habe, des Regierens wirklich müde sind, dann machen Sie ruhig weiter so: Verabschieden Sie noch mehr solcher Gesetze. Alles andere kommt dann von selbst. ({5}) Auch wenn es nicht einfach sein wird, den Schutt wegzuräumen, den Sie uns hinterlassen, so werden wir doch bereit dazu sein.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Glos.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will nicht um den heißen Brei herumreden. Wir waren nach den Erfahrungen, die wir mit dem Steuerreformgesetz 1990 in den letzten Monaten gemacht haben, gezwungen, ein paar Korrekturen einzuleiten. Das gilt in erster Linie für die sogenannte kleine Kapitalertragsteuer. Sie wissen, da ist ein Zielkonflikt entstanden, der bei der Beschlußfassung des Parlaments vor knapp einem Jahr so nicht absehbar war. ({0}) Auf der einen Seite gebietet die Steuerehrlichkeit eine möglichst gleichmäßige steuerliche Erfassung der Einkünfte aus allen Einkunftsarten, ob es sich um gewerbliche Einkünfte, um Lohneinkünfte oder eben um Zinseinkünfte handelt. Andererseits sind die Auswirkungen auf den Kapitalmarkt, den Kapitalverkehr über die Grenzen hinaus zu berücksichtigen. Nach sorgfältiger Abwägung über das Für und Wider hat der Gesetzgeber damals diese 10%ige kleine Kapitalertragsteuer auf Zinserträge eingeführt. Wir hatten diese Vorerhebungsform einer ohnedies fälligen Steuer nur als eindringliche Mahnung zur Steuerehrlichkeit angesehen. Heute wissen wir, daß wir die volkswirtschaftlich schädlichen Auswirkungen auf den Kapitalmarkt unterschätzt hatten. Der Herr Bundesfinanzminister hat vorhin die Zahlen der Bundesbank genannt. Ich kann es mir ersparen, sie zu wiederholen. Wir haben aber auch nicht damit gerechnet, daß sich die Opposition dermaßen destruktiv verhält, die Leute aufhetzt ({1}) und hier - zusammen mit Teilen des Geldgewerbes - eine Desinformationsstrategie verfolgt. ({2}) Die Entwicklung ist auch dadurch verstärkt worden, daß sich, wie gesagt, Teile des deutschen Geldgewerbes unserem Staat gegenüber - ähnlich wie Sie, Herr Poß - ausgesprochen destruktiv verhalten haben. Es gab Banken und Sparkassen, die stark damit geworben haben, Kapital - auch bei kleinen Beträgen - im Ausland anzulegen, ohne die Bürger gleichzeitig darüber aufzuklären, daß selbstverständlich auch Kapitalanlagen im Ausland der deutschen Steuerpflicht unterliegen. ({3}) Unser Nachbarland Luxemburg hat ein Übriges getan: Es hat nicht nur die Vorerhebungsform kleine Kapitalertragsteuer abgelehnt, sondern es hat auch in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das Bankgeheimnis im Gesetz festgeschrieben, sich damit als Steueroase dargestellt und dadurch Steuerflüchtlinge oder potentielle Steuerhinterzieher eingeladen, nach dort zu kommen. Damit kein Irrtum entsteht - ich sage es hier noch einmal - : Die Abschaffung der kleinen Kapitalertragsteuer ändert nichts an der seit je gegebenen Einkommensteuerpflicht der Zinserträge. Zur gleichmäßigeren steuerlichen Erfassung der Zinsen werden deshalb folgende Maßnahmen beibehalten: ({4}) Erstens. Die Kreditinstitute weisen ihre Kunden auf die Steuerpflicht bei Zinsen hin. Zweitens. Bei den Einkommensteuererklärungen und den Anträgen auf Lohnsteuer-Jahresausgleich muß stets bestätigt werden, daß die Kapitalerträge zutreffend erklärt worden sind. Drittens. Durch das Gesetz über die strafbefreiende Erklärung wird ein Anreiz geschaffen, künftig die Einkünfte aus Kapitalvermögen richtig und vollständig anzugeben. Dieser Weg in die Steuerehrlichkeit bleibt nach wie vor erhalten. Außerdem - und das ist ein wichtiger Punkt, der nicht untergehen darf - werden wir Kleinsparer von der Einkommensteuer befreien. ({5}) Wir wollen den Sparer-Freibetrag von bisher 300 DM bzw. 600 DM für Verheiratete auf 600 bzw. 1 200 DM rückwirkend zum 1. Januar dieses Jahres verdoppeln. ({6}) - Darauf komme ich noch zu sprechen. - Zusammen mit dem Werbungskosten-Pauschbetrag von 200 DM sind also künftig bei einem Ehepaar mindestens 1 400 DM jährlich an Kapitalerträgen steuerfrei. Bei einem Zinssatz von z. B. 4 % beläuft sich das einkommensteuerfreie Sparkapital damit auf ca. 35 000 DM. Bei Rentnern und bei Arbeitnehmern mit niedrigem Einkommen greift die Steuerpflicht wegen der besonderen einkommensteuerrechtlichen Vorschriften regelmäßig erst bei weit höheren Beträgen. Wenn die Frau Kollegin Matthäus-Maier nun eine Verzehnfachung des Sparerfreibetrages propagiert, wie sie es in ihrer Presseerklärung getan hat, verstößt dies eklatant gegen die Grundprinzipien der Steuergerechtigkeit und der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit. Mit Sparerfreibeträgen in dieser Höhe würde man Arbeitseinkommen weiter zusätzlich diskriminieren. ({7}) Dafür gibt es die Freibeträge in dieser Höhe nicht. Das ist unerträglich. ({8}) - Herr Huonker, vielleicht beantworten Sie die Frage, die Herr Poß nicht beantwortet hat, nämlich wie man den Vorschlag mit den Kontrollmitteilungen und den Stichproben praktizieren will. Welche Bürger sollen denn in das Stichprobenverfahren einbezogen werden? Diejenigen, deren Nase oder deren Parteibuch den jeweiligen Finanzbeamten nicht gefällt? ({9}) Soll dies ausgelost werden? Geben Sie dann Vorgaben? Oder der, der sich zufällig ein neues Auto geGlos kauft hat? - Sie öffnen damit doch der Denunziation Tür und Tor.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Poß?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kenne die Regelung mit der Redezeit. Herr Präsident, Sie werden dies beachten. - Bitte.

Joachim Poß (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001740, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Glos, wollen Sie denn bestreiten, daß ein solches Mitteilungsverfahren in einigen europäischen Ländern, z. B. in Norwegen, stichprobenweise praktiziert wird - in den USA ist die Sache natürlich noch etwas anders gelagert - und daß ein solches Verfahren offenbar mit Erfolg durchgeführt werden kann?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Jedenfalls sind dort wahrscheinlich keine Banken vorhanden, in denen schon beim Eintritt in das Bankgebäude ein grünes Schild auf den Weg nach Luxemburg hinweist. ({0}) - Herr Huonker, wenn Sie bitte zuhören würden! -Wir wollen selbstverständlich keine Kontrollmitteilungen, auch nicht in Europa. Wir wollen auch künftig nicht Geld aus der EG hinaustreiben. Wir wissen, daß es immer wieder Steueroasen geben wird. Wir müssen uns selbstverständlich Gedanken darüber machen, wie man die Besteuerung von Kapitalerträgen künftig in den Griff bekommt. Ich mache einmal einen ganz privaten Vorschlag: Wir müssen darüber nachdenken, ob es nicht vernünftig ist, von seiten des Staates für bestimmte Förderungszwecke niedrigerverzinsliche Staatspapiere auszugeben, für die von vornherein keine Steuerpflicht besteht. Damit könnten wir Millionen Leuten, die sich scheuen, Formulare auszufüllen, die sich scheuen, zum Finanzamt zu gehen, um wieder etwas von den Steuern zurückzubekommen, ein Angebot unterbreiten, mit dem sie ihre Steuerpflicht trotzdem erfüllt hätten. ({1}) Ich möchte hier noch ein paar Sätze auf das antworten, was an Agitation gegen die vernünftige Regelung vorgebracht worden ist, in Zukunft auch Steuerfreibeträge für die Beschäftigung bestimmter Familienhilfen einzuführen. Sie diskreditieren dies als Dienstmädchenprivileg. Es war nicht unser Wunsch, es ist nicht unsere Erfindung, aber gute Gründe sprechen dafür, jetzt vollwertige Arbeitsverhältnisse mit allen Rechten und Pflichten zu fördern und damit der illegalen Beschäftigung im hauswirtschaftlichen Bereich einen Riegel vorzuschieben. Sie haben ein sehr gebrochenes Verhältnis zur Dienstleistung in unserer Gesellschaft. ({2}) - Ja, ich bin der Meinung, die Dienstleistung in der Berufswelt, die Dienstleistung an der Maschine oder im Büro wird von Ihnen höher geschätzt als die Hilfe, die Menschen, vor allen Dingen Frauen, in Krankenhäusern, Pflegeheimen, Kinderheimen und natürlich auch in der Familie mit Kindern oder Behinderten ausführen. ({3}) Ich meine, das ist eine unerträgliche Diskriminierung des Dienstes am Menschen. ({4}) Außerdem verhilft diese Regelung sehr vielen einkommenschwächeren Frauen zu einem eigenen Rentenanspruch für das Alter. ({5}) Wer wirklich Emanzipation und nicht Agitation will, dem müßte bei dieser Regelung eigentlich das Herz höher schlagen. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage?

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Meine Redezeit gibt es nicht mehr her. Außerdem wollen die Leute zu Pfingsten rechtzeitig bei ihrer Familie sein. Deswegen sollten wir jetzt zum Schluß kommen. Die CDU/CSU-Fraktion und insbesondere die Arbeitsgruppe Finanzen wird auch den neuen Finanzminister auf seinem Weg und in seiner Arbeit zum Wohle unseres Landes unterstützen. ({0}) Wir sind der Meinung, sinnvolle Korrekturen sind besser als ein trotziges Festhalten an Maßnahmen, die offensichtlich von einer Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, nicht zuletzt, weil die Opposition aus allen Rohren dagegen geschossen hat. ({1}) Wir erreichen mit den jetzt vorliegenden Gesetzentwürfen auch, daß sich der Nebel um die Vorzüge der großen Steuersenkung, die sich schon jetzt konjunkturbelebend und arbeitsplatzschaffend auswirkt, lichtet. Ich bitte die Opposition, bei den jetzt anstehenden Gesetzesberatungen keinen Sand ins Getriebe zu streuen und konstruktiv mitzuwirken, die zeitliche Vorgabe des Gesetzgebungswerks zu erfüllen. Ich danke Ihnen. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Huonker.

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kenne die parlamentarischen Usancen nicht so genau und will keinen Ordnungsruf. Deswegen sage ich an Ihre Adresse, Herr Dr. Waigel, nein, an die Adresse der Bundesregierung, es gibt ein Sprichwort, das lautet: „..., dem glaubt man nicht." Ich komme zu Ihren Aussagen zur Quellensteuer. In welchem Land leben Sie denn eigentlich? Da fragen Sie, warum unsere Tatsachenfeststellungen in bezug auf die Quellensteuer und deren Verwaltung bei den Bürgern so rasch verstanden worden sind. Einfach deswegen, weil das richtig war, und Sie haben die Richtigkeit jetzt durch diesen Gesetzentwurf bestätigt. ({0}) Wenn Sie aber sagen, die SPD - Herr Glos, ich zitiere Sie fast wörtlich - hetzt gegen die Quellensteuer, dann muß ich allerdings folgendes sagen. Ihr Problem ist nicht so sehr, was wir sagen, sondern Ihr Problem ist, daß Sie an diesem Punkt von Anfang an völlig unglaubwürdig waren. ({1}) Wer hat denn jahrelang die Kampagne unter dem Stichwort Sparbuchsteuer gegen die SPD geführt? Wer hat gesagt, es gibt an diesem Punkt überhaupt kein Problem mit der Steuerhinterziehung? Wer hat noch - nämlich Sie im Finanzausschuß - wenige Tage, ehe Stoltenberg den Kabinettsbeschluß zur Einführung der Quellensteuer eingebracht hat, in dem Gespräch mit dem Bundesrechnungshof bestritten, daß es ein Problem gibt? ({2}) Dann kam die Wahl in Schleswig-Holstein und dann kam die Quellensteuer. Ihnen kann man doch gar nicht glauben, weil Ihr Verhalten Sie total unglaubwürdig macht. ({3}) Herr Dr. Waigel, Sie sagten auf der Pressekonferenz am 10. Mai wörtlich: Ich sehe im Zeitraum der nächsten zwei, drei Jahre kaum eine Möglichkeit, - jetzt hören Sie einmal schön zu eine gemeinsame Quellensteuer einführen zu können. Wir sind aber konstruktiv bemüht, hier mitzuwirken. ({4}) Ich frage Sie: Lassen Sie mit dieser Äußerung jetzt offen, daß Sie eine Quellensteuer in zwei, drei Jahren in Erwägung ziehen, oder schließen Sie dies verbindlich aus? Wenn Worte einen Sinn machen, Herr Waigel, dann lassen Sie das offen, und ich werfe Ihnen das nicht vor. Wer dann noch erlebt hat, daß der Herr Stavenhagen hier in der Fragestunde am Mittwoch eine klare Aussage des Bundeskanzlers, der davon sprach, daß eine Regelung zwingend notwendig sei, mir gegenüber dann folgendermaßen deutet: Wenn der Bundeskanzler sagt, wir sind der Meinung, daß etwas zwingend notwendig sei, bedeutet das, wir sind nicht der Meinung, sondern wir meinen die Franzosen, so ist das eine Verhaltensweise, die zwingend dazu führen muß, daß man Ihnen auf diesem Gebiet nichts, aber auch gar nichts glaubt. ({5}) Wir werden dafür sorgen, daß dem so bleibt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Glos?

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Glos, bitte schön.

Michael Glos (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000691, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Huonker, hätten Sie die Güte, doch auch einmal Aussagen von Politikern auf Ihrer Seite zu zitieren. Ich erinnere nur an den damaligen Finanzminister Lahnstein und seine Forderungen. ({0})

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Wir haben das Thema, Herr Glos, doch lange gedreht und gewendet. Ich wiederhole noch einmal: Die SPD-Position ist seit langem - wir haben Parteitagsbeschlüsse - : massive Erhöhungen der Sparerfreibeträge. ({0}) Ich bitte Sie - das wird mir bitte nicht angerechnet - , eines zu bedenken. Daß es die Möglichkeit gibt, die Sparerfreibeträge relativ stark zu erhöhen, könnte ja wohl unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten auch damit zusammenhängen, daß wir Jahr für Jahr Milliarden aufwenden und aufgewendet haben, um eben diese Geldvermögensbildung zu fördern, und daß vielleicht jetzt, wo diese gemeinsame Politik Erfolge hat, die Sparerfreibeträge unter diesem Aspekt bemessen werden könnten. Das wäre eine Sache, über die wir alle mal gemeinsam nachdenken sollten. ({1}) Ich erinnere an die Äußerung des Bundesbankpräsidenten Dr. Pöhl im Finanzausschuß. ({2}) Ich komme zu dem zurück, was ich sagen will. Wir haben natürlich genauso wie Sie auch, nur nicht heimlich und geschielt auf Wahltage, sondern öffentlich darüber nachgedacht, wie man dem Unwesen beikommen kann, daß auch die Zinsen auf große Vermögen steuerlich nicht so berücksichtigt werden, wie es das Gesetz befiehlt. Darüber haben wir nachgedacht. Da gibt es zwei, drei Möglichkeiten. Das haben wir alles hundertmal diskutiert. Herr Dr. Waigel, ich glaube, diese Steuergesetzgebung wird für Sie kein Befreiungsschlag, sondern ein Rohrkrepierer. Jetzt wollen Sie im Windschatten der Quellensteuerdiskussion im Eilverfahren den § 34 des Einkommensteuergesetzes erneut ändern: Steuergeschenke, 40 Millionen wert, für einige Unternehmer. Herr Flick läßt grüßen. Vor vier Jahren, als Herr Flick ({3}) seinen Konzern verkauft und über den § 34 Milliarden Steuern gespart hat, waren wir und Sie - Koalition und SPD - einig: § 34 muß geändert werden. Und das haben wir in diesem Punkt gemeinsam getan. Jetzt frage ich Sie: Haben Sie denn überhaupt einen einzigen Sachgrund für die erneute Änderung vorgetragen? In rund 99 % der Veräußerungsfälle - und das sind die typischen Fälle im Mittelstand und bei den kleinen Selbständigen - ändert sich gegenüber dem geltenden Recht nichts. Das heißt: durch den § 34, wie er im Steuerreformgesetz beschlossen worden ist, gegenüber dem alten § 34. Es sind nicht die Mittelständler und die kleinen Leute, die durch diese Neuregelung daran gehindert werden sollen, unverdient große Steuervorteile zu erhalten. Das sind nun wirklich große Vermögens- und Einkommenbesitzer. ({4}) Die letzten drei Sätze, Herr Bundesfinanzminister, stammen nicht von mir, sie wurden wörtlich gesprochen von Ihrem Amtsvorgänger in der ersten Lesung zum Steuerreformgesetz am 21. April 1988. ({5}) Und er fügte hinzu: „Dieses Beispiel zeigt schon, daß wir ungerechtfertigte Privilegien abbauen und Schlupflöcher schließen wollen, vor allem auch bei denen, die über sehr große Einkommen und Vermögen verfügen." Herr Glos, das Bundestagsprotokoll verzeichnet hier Beifall bei der CDU und der FDP. ({6}) Es hat sich in der Sache nichts geändert, und wer nicht gewußt hat, daß es im Hinblick auf die Steuerrechtsänderung Vorziehungseffekte gibt, der ist dumm, und das unterstelle ich niemandem, weder der Bundesregierung noch einem Kollegen hier im Hause. Es hat sich also gegenüber damals nichts geändert. Dennoch wollen Sie im Einzelfall Steuergeschenke in Höhe von 7 Millionen DM geben. Glauben Sie wirklich den wenigen Lobbyisten, die ihr Geld als Makler mit Unternehmen verdienen? Reden Sie doch einmal mit Handwerkern, mit Steuerberatern! Es gibt keinen plausiblen Grund. Da wird immer wieder das Thema der Altersversorgung des Mittelstandes vorgebracht. Der Steuervorteil beträgt nach dem heute geltenden § 34 1 Million DM. Jetzt soll er bei 5 Millionen DM Veräußerungsgewinn um über eine Viertelmillion erhöht werden. Bei 30 Millionen DM Veräußerungsgewinn soll er bei rund 8 Millionen DM liegen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter Huonker, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Uldall?

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich habe ein bißchen Sorge, weil das die Debatte insgesamt verlängert; aber, bitte sehr.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Also bitte schön, Herr Abgeordneter.

Gunnar Uldall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002353, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, können Sie sich erinnern, unter wessen politischer Verantwortung damals der Flick-Skandal passierte?

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ist das billig! ({0}) Ich frage Sie: Wer hat denn seit Jahren in bezug auf Flick, §§ 6 b und 34, für Änderungen gekämpft und keine Mehrheiten gefunden, schon nicht in der Koalition? Die SPD-Fraktion! ({1}) Bescheiden, wie ich bin, nenne ich hier an erster Stelle drei Namen: Dr. Rolf Böhme, Obmann der SPD im Finanzausschuß, Dr. Dieter Spöri, Obmann der SPD im Finanzausschuß, und meine Wenigkeit, in derselben Funktion. Deswegen geht Ihre Frage völlig ins Leere, Rohrkrepierer wie die gesamte Gesetzgebung. ({2}) - Sie brauchen doch Mehrheiten, schon in der Koalition. Wer weiß denn das besser als Sie? ({3}) Jetzt will ich Ihnen zum Stichwort Altersversorgung und § 34 noch folgendes sagen: Wenn das, was Dr. Waigel zum Einstieg als Bundesfinanzminister in Sachen § 34 vorgelegt hat, Gesetz wird, bedeutet dies bei einem Veräußerungsgewinn von 30 Millionen DM oder mehr, daß einige Unternehmer, legt man den Steuervorteil auch nur zu 7 % an, jährlich eine Zusatzrente von 483 000 DM bekommen. Das sind 40 000 Mark Rente pro Monat nur aus den Zinsen auf den Steuervorteil. Hier wird Klientel-Politik zugunsten einer Handvoll Multimillionäre betrieben. ({4}) - Das ist der Vergleich mit der Steuerreform 1990.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Vom Abgeordneten Uldall wird noch eine Zwischenfrage gewünscht.

Gunter Huonker (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000981, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, jetzt will ich keine Frage mehr zulassen. Sonst gibt es Ärger, weil wir die Zeit überziehen. ({0}) Steuergeschenke für eine Handvoll Multimillionäre werden garniert mit Steuererleichterungen für ArbeitHuonker geber von Personen, die im Privathaushalt beschäftigt sind. Meine Damen und Herren, bei genauer Betrachtung - und jetzt spreche ich Sie, Herr Scharrenbroich, und die christlich demokratischen Arbeitnehmer an - wird, wenn man rechnen kann, deutlich, daß diese Bestimmung für die große Mehrzahl aller Eltern ins Leere läuft. Sie ist ein bodenloser Verstoß gegen das Prinzip der Steuergerechtigkeit. Sie ist arbeitsmarktpolitisch, Herr Dr. Waigel - eigentlich müßte ich mich an Herrn Blüm wenden - , wirkungslos. Und sie ist - und das finde ich schlimm - offenkundig verfassungswidrig. ({1}) Einer Regierung, die nicht merkt, was ein Student im ersten Semester kapiert: daß eine Regelung verfassungswidrig ist, die besagt, daß ein zunächst unverheiratetes Paar, das zusammen unter einem Dach wohnt, ein Kind hat und nach Ihrem Entwurf den Sonderausgabenabzug bei einem Kind bekommt, wenn es heiratet diesen Abzugsbetrag verliert, d. h. als Sanktion für die Eheschließung den Wegfall einer Begünstigung hinnehmen muß, ist wirklich nicht mehr zu helfen. ({2}) Ich sage Ihnen, Sie können nicht Alleinerziehenden den Sonderausgabenabzug bei einem Kind gewähren und bei Ehepaaren zwei Kinder verlangen. Dies ist ein Verstoß gegen das Verfassungsgebot des Schutzes der Ehe. ({3}) Jetzt will ich Ihnen mal vorrechnen, warum die Geschichte auf dem Arbeitsmarkt nicht funktioniert. Die Sache rechnet sich nicht. Ich bitte Sie, Herr Dr. Waigel: Vollziehen Sie diese Rechnung nach. Legen Sie sie uns im Finanzausschuß auf den Tisch. Dann können wir miteinander sinnvoll reden. Nehmen wir an, eine inoffiziell arbeitende Haushaltshilfe verdient heute 550 DM im Monat, also 6 600 DM im Jahr. Für sie und ihren Arbeitgeber ist brutto gleich netto. Wird der Lohn auf Grund der geplanten Regelung als Sonderausgabe geltend gemacht, so müssen Sozialversicherungsabgaben und Steuern bezahlt werden. Wer nicht will, daß die Haushaltshilfe geht, muß ihr auch künftig netto so viel wie vorher zahlen. Das weiß jeder. Um die Netto-Position der Haushaltshilfe in diesem Fall zu halten, muß der Lohn von 6 600 auf über 10 000 DM erhöht werden. Da fallen nämlich Sozialabgaben an, da fallen Steuern an, und da fällt der Arbeitgeberanteil an. Kurzum, der Aufwand des Arbeitgebers steigt um 5 400 DM auf 12 000 DM. Die Steuervergünstigung ist aber von der Höhe des Grenzsteuersatzes abhängig. Wenn die Sache sich rechnen soll, dann muß in meinem Beispiel das Ehepaar 190 000 DM zu versteuerndes Jahreseinkommen haben - Ledige 95 000 DM. Jeder Privathaushalt mit einem geringeren Einkommen muß draufzahlen. ({4}) Wer das weiß - und das hat doch nichts mit der Diskriminierung von Beschäftigungsverhältnissen in Privathaushalten zu tun - , der weiß auch, warum das Ifo-Institut, das im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft eine Untersuchung gemacht hat, klipp und klar zu dem Ergebnis kommt: Wenn man diese Steuervergünstigung von der Sozialversicherungspflichtigkeit des Arbeitsverhältnisses abhängig macht -wofür ja vieles spricht -, wird der Beschäftigungseffekt der Operation ({5}) Null sein. ({6}) Das ist ein Gutachten, das die Regierung in Auftrag gegeben hat. Unsere Aussage ist richtig. Darüber können auch die Briefe von Herrn Solms nicht hinwegtäuschen. Die armen Frauen, die das schreiben, wissen gar nicht, wie der Mechanismus Ihrer gesetzlichen Regelung wirkt. ({7}) Wenn das hier Gesetz wird, beschließen Sie - auch nach einer etwaigen Korrektur in Sachen Verfassungsmäßigkeit in diesem Punkt - nichts anderes als eine Steuerbegünstigung für wohlhabende Leute, die sich Butler, Hausdamen oder Dienstmädchen leisten können. ({8}) Das ist die Wahrheit. Das läßt sich leicht nachrechnen. Deswegen sage ich Ihnen: Wir freuen uns auf die Beratungen in den Ausschüssen, was die Verfassungsfragen und was den Beschäftigungseffekt angeht. Ich befürchte, da wird von Ihrem Vorschlag nichts, aber auch gar nichts übrigbleiben. Für den Fall, daß Sie ihn dennoch verwirklichen, prognostiziere ich Ihnen: Karlsruhe spätestens wird ihn aufheben. Wer das Urteil zum Ehegattensplitting aus dem Jahr 1982 kennt - ich habe damals die Bundesregierung in Karlsruhe vertreten - , der weiß: Diese Regelung, wie sie hier vorliegt, ist verfassungswidrig und durch keine noch so schönen Wortschöpfungen zu heilen. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels ({0}).

Dr. Hans Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000352, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es hat schon eine gewisse Tradition, daß der Abgeordnete des Wahlkreises Bonn als letzter Redner vor hohen Feiertagen oder auch den Parlamentsferien hier das Wort ergreift, weil er den kürzesten Heimweg hat. ({0}) Dr. Daniels ({1}) - Das ist ja nun wirklich nicht meine Schuld, verehrte Frau Schulte. ({2}) Ich bedanke mich jedenfalls ausdrücklich bei all den Kolleginnen und Kollegen, die einen weiteren Heimweg haben und noch hier sind, und auch bei den Mitarbeitern, die davon betroffen sind. ({3}) Die Förderung des Mietwohnungsbaus ist ein besonders wichtiger Bestandteil des Gesetzentwurfs, den wir heute beraten. Deshalb möchten wir diesem Gegenstand wenigstens noch fünf Minuten der heutigen Debatte widmen. Obwohl es vor wenigen Jahren noch viele leerstehende Wohnungen gegeben hat, herrscht inzwischen wieder Wohnungsmangel. Die Wohnansprüche der großen Mehrheit der Bevölkerung sind erheblich gestiegen. Höhere Realeinkommen haben das möglich gemacht. Auch der Zustrom von deutschen Aus- und Übersiedlern, aber auch von asylsuchenden Ausländern ist in dieser Höhe von niemandem erwartet worden. Den Wohnungsmangel gibt es, obwohl die Wohnversorgung der großen Mehrheit der Bevölkerung ausgezeichnet ist. Nichts macht das deutlicher als die Tatsache, daß die Wohnfläche seit 1970 um 50 % gestiegen ist und nunmehr im Durchschnitt 35 Quadratmeter pro Einwohner beträgt. Das ist beispiellos in unserer eigenen Geschichte und wahrscheinlich beispiellos in der ganzen Welt. Trotzdem müssen wir denen helfen, die heute wieder Mangel oder sogar Not leiden. Die wirksamste und schnellste Hilfe schaffen dabei private Investitionen. Denn etwa 80 % bis 90 % des gesamten Wohnungsbaus werden von privatem Kapital finanziert. Die Privatwirtschaft reagiert zudem in der Regel sehr viel schneller auf eine Mangelsituation, als es die öffentliche Hand kann. Das beweist die neueste Entwicklung bei den Baugenehmigungen. Sie sind im ersten Quartal dieses Jahres gegenüber 1988 um 26 und bei Mehrfamilienhäusern sogar um 55 % angestiegen. Entscheidend für eine schnelle Beseitigung des Mangels sind deshalb vor allem bessere Rahmenbedingungen für private Investitionen. Wir wollen sie durch kürzere und günstigere Abschreibungsmöglichkeiten schaffen. Soziale Marktwirtschaft bedeutet jedoch auch staatliche Hilfen für diejenigen, die dieser Hilfe besonders bedürfen, damit das, was Sie, Herr Kollege, eben an die Wand gemalt haben, nicht Wirklichkeit wird. Dazu dient vor allem das Wohngeld. Deshalb wollen wir eine sechste Wohngeldstufe für die Städte und Gemeinden einführen, in denen das Mietniveau besonders hoch ist, z. B. in München, und auch die Höherstufung von Städten und Gemeinden ermöglichen, in denen das Mietniveau überdurchschnittlich gestiegen ist. So wird sichergestellt, daß insbesondere die Belastungen für Kinderreiche und Einkommensschwache auch bei gestiegenem Mietniveau zumutbar bleiben. Auch der Sozialwohnungsbau soll verstärkt gefördert werden. Die Mittel dafür werden fast verdreifacht. Meine Damen und Herren, Wohnungen zu bauen kostet Zeit. Das geht nicht von heute auf morgen. Niemand konnte die jetzige Mangelsituation zu der Zeit voraussehen, als man hätte zu bauen beginnen müssen, ({4}) damit die Wohnungen jetzt fertig werden. ({5}) - Vor wenigen Jahren forderte der nordrhein-westfälische sozialdemokratische Wohnungsbauminister noch den Abriß von Wohnungen. ({6}) Es wird - das sagen wir ganz offen - deshalb einige Zeit dauern, bis die Wohnungen fertig sind, die durch die heute von der Koalition beschlossenen Maßnahmen gefördert werden sollen. Aber diejenigen, die jetzt Not oder Mangel leiden, können sich darauf verlassen, daß ihnen geholfen wird. Die Soziale Marktwirtschaft steht hier sicher vor einer neuen Bewährungsprobe. Alle Erfahrung lehrt, daß gerade das Zusammenwirken von privaten Investitionen und staatlicher Hilfe für die Bedürftigen auch diese Bewährungsprobe bestehen wird. ({7})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, daß wir am Ende unserer heutigen Rednerliste sind. Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/4507 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Wir sind damit am Schluß unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Mittwoch, den 31. Mai 1989, 13 Uhr ein. Ich wünsche Ihnen angenehme Pfingsttage. Die Sitzung ist geschlossen.