Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.
Die Sitzung ist eröffnet.
Ich teile zunächst mit: Die Abgeordnete Frau Schmidt-Bott hat am 18. Februar 1989 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als ihre Nachfolgerin hat die Abgeordnete Frau Schmidt ({0}) am 20. Februar 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Der Abgeordnete Ebermann hat ebenfalls am 18. Februar 1989 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Eich am 20. Februar 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Die Abgeordnete Frau Olms hat am 20. Februar 1989 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als ihre Nachfolgerin hat die Abgeordnete Frau Frieß am 21. Februar 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Der Abgeordnete Sellin hat am 20. Februar 1989 ebenfalls auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzichtet. Als sein Nachfolger hat der Abgeordnete Meneses Vogl am 21. Februar 1989 die Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag erworben.
Ich begrüße die neuen Kolleginnen und Kollegen und wünsche gute Zusammenarbeit.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt:
1. Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP: Mordauftrag aus dem Iran
- Drucksache 11/4057 2. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hensel, Frau Vennegerts, Dr. Lippelt ({1}), Frau Oesterle-Schwerin, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN: Mordauftrag des Ayatollah Khomeini
- Drucksache 11/4059 3. Aktuelle Stunde: Auswirkungen der Ruhrgebietskonferenz
4. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Untersuchung der Kontroll- und Genehmigungs-Praxis
der Bundesregierung am Beispiel der Beteiligung bundesdeutscher Unternehmen an der Planung und am Bau von Anlagen zur Herstellung von Chemischen und Biologischen Waffen im Iran, im Irak, in Libyen und in Syrien
- Drucksache 11/4010 5. Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN: Energiewirtschaftsgesetz - Drucksache 11/1271 6. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Förderung des Unabhängigkeitsprozesses in Namibia
- Drucksache 11/4039 7. Aktuelle Stunde: Die Haltung der Bundesregierung zu Behauptungen über das amerikanische NSA-System ({2})
Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. - Dann ist es so beschlossen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 3 auf: Überweisungen im vereinfachten Verfahren
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu der Verwaltungsvereinbarung vom 26. November 1987 zur Durchführung des Übereinkommens vom 30. November 1979 über die Soziale Sicherheit der Rheinschiffer
- Drucksache 11/3815 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
b) Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung bundeseigener Grundstücke in Bonn gemäß § 64 Abs. 2 der Bundeshaushaltsordnung
- Drucksache 11/4003 -
Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß
Eine Debatte findet nicht statt.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, den Gesetzentwurf auf Drucksache 11/3815 an den Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu überweisen. Gibt es
Präsidentin Dr. Süssmuth
dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag auf Drucksache 11/4003 an den Haushaltsausschuß zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Die Fraktion DIE GRÜNEN hat beantragt, diesen Antrag neben dem Überweisungsvorschlag des Ältestenrates an den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau zu überweisen. Da es sich um eine Haushaltsvorlage handelt, die nur an den Haushaltsausschuß überwiesen werden kann, ist dazu eine Abweichung von der Geschäftsordnung erforderlich. Wer stimmt für die Abweichung von der Geschäftsordnung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Abweichung von der Geschäftsordnung ist somit abgelehnt.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Beck-Oberdorf, Frau Beer, Frau Rock, Frau Eid, Frau Flinner, Frau Garbe, Frau Hillerich, Frau Kelly, Frau Krieger, Frau Nickels, Frau Oesterle-Schwerin, Frau Olms, Frau Saibold, Frau Schilling, Frau Schmidt-Bott, Frau Teubner, Frau Trenz, Frau Unruh, Frau Dr. Vollmer, Frau Wilms-Kegel, Frau Wollny, Frau Rust, Frau Schoppe, Frau Hensel, Frau Vennegerts und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung der Benachteiligung von Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen, insbesondere in der Erwerbsarbeit ({3})
- Drucksache 11/3266 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({4})
Innenausschuß
Rechtsausschuß
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Schmidt ({5}), Dr. Däubler-Gmelin, Dreßler, Dr. Ehmke ({6}), Matthäus-Maier, Dr. Penner, Roth, Schäfer ({7}), Adler, Bachmaier, Becker-Inglau, Blunck, Bulmahn, Catenhusen, Conrad, Egert, Faße, Fuchs ({8}), Fuchs ({9}), Ganseforth, Dr. Götte, Hämmerle, Dr. Hartenstein, Kuhlwein, Luuk, Dr. Martiny, Müller ({10}), Dr. Niehuis, Odendahl, Peter ({11}), Dr. Pick, Renger, Seuster, Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell,
Dr. Sonntag-Wolgast, Steinhauer, Stiegler, Terborg, Dr. Timm, Traupe, Dr. Wegner, Weiler, Weyel, Wieczorek-Zeul, Wiefelspütz, Ibrügger, Gilges, Bernrath, Dr. Hauchler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Gleich
Stellung von Frau und Mann im Berufsleben ({12})
- Drucksache 11/3728 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({13})
Innenausschuß Rechtsausschuß Finanzausschuß Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
c) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Schmidt ({14}), Dreßler, Heyenn, Jaunich, Frau Adler, Bachmaier, Frau Becker-Inglau, Bernrath, Frau Blunck, Frau Bulmahn, Catenhusen, Frau Conrad, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Frau Dr. Dobberthien, Egert, Frau Faße, Frau Fuchs ({15}), Frau Fuchs ({16}), Frau Ganseforth, Frau Dr. Götte, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Ibrügger, Kuhlwein, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny, Frau Matthäus-Maier, Müller ({17}), Frau Dr. Niehuis, Frau Odendahl, Peter ({18}), Frau Renger, Frau Seuster, Frau Simonis, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Stiegler, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Traupe, Frau Weiler, Frau Weyel, Frau Wieczorek-Zeul, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Zu den Problemen der beruflichen Eingliederung nach Zeiten der Kindererziehung
- Drucksachen 11/1086, 11/2369 -
d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Schmidt ({19}), Dreßler, Roth, Heyenn, Jaunich, Kuhlwein, Frau Adler, Bachmaier, Frau Becker-Inglau, Bernrath, Frau Blunck, Frau Bulmahn, Catenhusen, Frau Conrad, Frau Dr. Däubler-Gmelin, Frau Dr. Dobberthien, Egert, Frau Faße, Frau Fuchs ({20}), Frau Fuchs ({21}), Frau Ganseforth, Frau Dr. Götte, Frau Hämmerle, Frau Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Ibrügger, Frau Luuk, Frau Dr. Martiny, Frau Matthäus-Maier, Müller ({22}), Frau Dr. Niehuis, Frau Odendahl, Peter ({23}), Frau Renger, Frau Seuster, Frau Simonis, Frau Dr. Skarpelis-Sperk, Dr. Soell, Frau Steinhauer, Stiegler, Frau Terborg, Frau Dr. Timm, Frau Traupe, Frau Weiler, Frau Weyel, Frau Wieczorek-Zeul, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Analyse der und Berichterstattung über Frauenarbeitslosigkeit
- Drucksache 11/1087 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ({24}) Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Saibold, Frau Beck-Oberdorf, Frau Hillerich, Frau Krieger, Frau Nickels, Frau Rust, Frau Schoppe, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Präsidentin Dr. Süssmuth
Einbeziehung der in Haushalt, Familie und sozialem Ehrenamt unentgeltlich geleisteten Arbeit ins Bruttosozialprodukt
- Drucksache 11/2921 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit ({25})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung
Ausschuß für wirtschaftliche Zusammenarbeit
f) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Benennungen von Frauen in Ämter und Funktionen, für die die Bundesregierung ein Vorschlagsrecht hat
- Drucksache 11/3285 Überweisungsvorschlag :
Innenausschuß ({26})
Auswärtiger Ausschuß
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Zu Punkt 4 c liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4051 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieses Tagesordnungspunkts drei Stunden vorgesehen. - Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Krieger.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte auf ein merkwürdiges Mißverhältnis hinweisen: Einerseits waren Frauen noch nie so anspruchsvoll wie heute, und andererseits hat sich die Erwerbssituation von Frauen in den letzten Jahren faktisch dauernd verschlechtert. Einerseits gab es noch nie so viele Frauen, die eine qualifizierte Ausbildung haben, die auch mit kleinen Kindern erwerbstätig und ökonomisch unabhängig sein wollen, und andererseits sind Frauen überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, bekommen immer noch viel miesere Löhne als Männer und werden in zunehmendem Maße in nicht abgesicherte Beschäftigungsverhältnisse abgeschoben.
Über dieses Mißverhältnis, denke ich, möchte die Bundesregierung wohl nicht so gerne reden; denn sie zieht mit den Arbeitgebern kräftig an einem Strick, um die Kluft zwischen den Wünschen der Frauen und der Realität am Arbeitsmarkt immer weiter zu vertiefen.
Zwar hat die CDU oberflächlich von ihrer alten Heimchen-am-Herd-Frauenpolitik Abschied genommen und für eine gewisse Zeitspanne eine Frauenministerin installiert, die die Frauen sogar ein bißchen ermutigte, doch in derselben Zeit wurden alle wichtigen politischen Projekte in das Ressort des Herrn Blüm gesteckt, der dann die knallharten Fakten schaffte.
({0})
Kaum etwas hat den Frauen auf dem Arbeitsmarkt so sehr geschadet wie das Beschäftigungsförderungsgesetz.
({1})
Frauen wollen alles: Beruf, Kinder, Zeit für sich und für ihre Lebensgefährten. Das ist derzeit praktisch unvereinbar.
Die Bundesregierung meint, diesen gordischen Knoten mit einem einzigen Schlag lösen zu können: mit Teilzeitarbeit. Aber Teilzeitarbeit ist ein vergifteter Apfel, in den leider allzu viele Frauen aus reiner Not hineinbeißen müssen.
({2})
Denn Teilzeitarbeit bedeutet, daß frau von ihrer Erwerbsarbeit nicht selbständig leben kann, sondern weiterhin vom Ernährer abhängig ist. Sie bedeutet, daß frau beruflich kaum weiterkommt, daß sie mehr arbeitet für weniger Geld. Wenn sie arbeitslos wird, rutscht sie unter das Sozialhilfeniveau, und wenn sie in Rente geht, ist sie arm wie eine Kirchenmaus.
Teilzeitarbeitende Frauen können auch nicht etwa damit rechnen, daß sich ihre Männer berufen fühlen, ihnen zum Teil die Kinder- und Hausarbeit abzunehmen - ganz im Gegenteil. Die betrachten die Teilerwerbstätigkeit ihrer Frauen erwiesenermaßen sogar noch als Freibrief, sich zu Hause auf die faule Haut zu legen.
({3})
Ein anderes Zauberwort heißt Flexibilisierung. Ganz wunderbar soll das sein, weil durch flexible Arbeitszeiten angeblich endlich mehr Spielraum gegeben sei, Beruf und Kinder unter einen Hut zu bringen. Eine völlig absurde Vorstellung! Wenn eine Frau bei Aldi als Kassiererin auf Abruf arbeitet, dann haben ihre Arbeitszeiten mit dem Rhythmus und den Bedürfnissen ihrer Kinder herzlich wenig zu tun, dafür aber sehr viel mit dem Kundenandrang im Laden und mit der optimierten Ausnutzung ihrer Arbeitskraft.
({4})
Die Teilzeit- und Flexibilisierungsstrategie ist also nicht nur keine Lösung für Frauen, sie ist die schamlose Ausnutzung ihres Dilemmas; sie ist die Nötigung von Frauen, sich immer schlechteren Arbeitsbedingungen zu unterwerfen. Sie ist reine Auftragspolitik im Interesse der Unternehmer.
({5})
So etwas als Lösung anzubieten, heißt auf gut deutsch: den Frauen Scheiße für Gold verkaufen.
Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als wäre die Erwerbsbeteiligung von Frauen in den letzten Jahren gestiegen. Genauer hingesehen ergibt sich ein ganz anderes Bild; denn die gestiegene Erwerbsbeteiligung von Frauen geht allein auf die ungeheure Ausweitung von Teilzeitstellen und ungesicherten Beschäftigungsverhältnissen zurück. Das heißt im Klartext: Es sind zwar immer mehr Frauen erwerbstätig, aber mit immer weniger Stunden und zu immer schlechteren Bedingungen. Selbst von den vollzeiterwerbstätigen Frauen, also denen, die acht Stunden am Tag malochen, können heute über 50 % nicht von ihrer eigenen Arbeit leben.
Wer es mit dem Ziel ernst meint, daß Frauen vollen Zugang zu existenzsichernder und qualifizierter Erwerbsarbeit haben sollen, wer tatsächlich anstrebt, daß sich Frauen und Männer der unbezahlten Arbeit im Haushalt und der Kindererziehung gleichermaßen widmen, muß zuallererst wirksame Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Frauen am Arbeitsplatz ergreifen und die Voraussetzungen dafür schaffen, daß Kinder und Beruf tatsächlich vereinbar sind.
Drei Eckpfeiler sind dann unerläßlich: Das sind die Arbeitszeitverkürzung, die Quotierung und die Schaffung einer bedarfsdeckenden öffentlichen Kinderbetreuung.
({6})
Daß die Regierung Arbeitszeitverkürzung nur in Form von Teilzeitarbeit will, geht eindeutig auf Kosten der Frauen. Daß sie von Quotierung nichts hält und damit das zentrale Instrument zur Sicherung der Gleichberechtigung ablehnt, ist bekannt. Aber auch mit der Kinderbetreuung sieht es leider nicht gut aus. Zwar soll im Jugendhilferecht Kindern der Anspruch auf einen Kindergartenplatz eingeräumt werden, aber Geld gibt es dafür nicht.
Mit unserem Antidiskriminierungsgesetz haben wir GRÜNEN als erste ein Konzept vorgelegt, das Frauen die Chance gibt, sich ihr Recht auf qualifizierte und angemessen bezahlte Erwerbsarbeit zu nehmen. Dazu brauchen wir vor allen Dingen die Quotierung. Da mögen Sie noch so sehr Verfassungsverstöße wittern und vom Leistungsprinzip reden: Im Grunde wissen Sie doch ganz genau, daß die Benachteiligung von Frauen am Arbeitsplatz rein gar nichts mit deren mangelnder Qualifikation zu tun hat.
({7})
Im Zweifelsfall läßt der kleine Unterschied Männer allemal qualifizierter erscheinen als jede noch so qualifizierte Frau.
Unser Quotierungsgesetz ist deshalb in erster Linie ein Gesetz gegen Männerquoten.
({8})
Wir haben ja auch immer mehr juristischen Sachverstand auf unserer Seite. Im Gutachten von CDU-Mitglied Ernst Benda heißt es klipp und klar, daß der Staat im Bereich des öffentlichen Dienstes zu gezielten Frauenfördermaßnahmen bis hin zur Quotierung nicht nur „befugt", sondern sogar „verpflichtet" ist. Mit ihrem Gleichstellungsgesetzentwurf hat nun die SPD die juristische Auffassung von Herrn Benda aufgegriffen. Hätten Sie sich, liebe Sozialdemokratinnen, die Erkenntnisse Ihrer Parteigenossin Heide Pfarr zu eigen gemacht, dann hätte Ihnen dämmern müssen, daß die Gleichberechtigung nicht vor den Werkshallen und Büros der Privatunternehmen halt machen darf, sondern daß auch hier eine Verpflichtung besteht, die skandalöse und systematische Benachteiligung von Frauen aufzuheben.
({9})
Dann wäre Ihnen vielleicht auch aufgefallen, daß Art. 33 des Grundgesetzes, der für den öffentlichen Dienst die Grundsätze von Eignung, Befähigung und Leistung festschreibt, vor dem Grundrecht auf Gleichberechtigung selbstverständlich zu relativieren ist.
Wir führen heute eine Frauendebatte. Dringend nötig wäre etwas hier noch nie Dagewesenes, nämlich eine Männerdebatte.
({10})
Ich wünsche mir eine Debatte, in der Männer sich und ihre Geschlechtsgenossen fragen, warum eigentlich der Anblick und das Anfassen von schmutzigen Windeln, Wischlappen, Kochtöpfen, Putzeimern so schwer ist,
({11})
in der m a n sich fragt, warum die Frau die alte Mutter ihres Mannes pflegt und nicht er selbst, in der sich die männlichen Kollegen hier im Saal einmal ernsthaft fragen, ob sie als Väter in der Beschäftigung mit ihren Kindern tatsächlich über die durchschnittlichen zwölf Minuten pro Kind hinauskommen, die der Club of Rome ermittelt hat. Ich wünsche mir also eine Debatte über die Quotierung der Hausarbeit. Denn nicht wir Frauen, sondern Sie, meine Herren, sind das eigentliche Problem.
({12})
Ich möchte zum Schluß noch eine persönliche Bemerkung zu der Frauenpolitik unserer neuen Ministerin machen. Gestern war in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung" zu lesen, daß sie gesagt hat: „Abtreibung ist Mord."
({13})
Mord ist juristisch klar definiert und bedeutet: Jemand hat aus niederen Beweggründen einen Menschen umgebracht. Wissen Sie eigentlich, Frau Lehr, was Sie da gesagt haben? Alle Frauen, die abgetrieben haben, sind für Sie also Mörderinnen.
Ich selber habe abgetrieben, und ich schäme mich nicht dafür.
Frau Lehr, wenn Sie diese ungeheuerliche Aussage heute hier nicht zurücknehmen, dann bezeichnen Sie nicht nur mich als Mörderin, sondern dann behaupten Sie in Ihrem Amt als Frauenministerin, daß ungefähr jede dritte Frau in der Bundesrepublik Deutschland eine Mörderin ist. Dann müssen Sie sich konsequenterweise auch dafür einsetzen, daß Millionen Frauen ins Gefängnis wandern. Und dann sollte am besten damit angefangen werden, daß hier aus diesem Saal eine große Zahl von Frauen und auch von Männern, und zwar aus allen Fraktionen, umgehend ein Gerichtsverfahren wie in Memmingen an den Hals bekommt.
({14})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Professor Männle.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Krieger, ich muß gestehen, daß Sie mich gerade sehr betroffen gemacht haben. Abtreibung ist nach unserem Gesetz, nach dem Strafgesetzbuch, Tötung ungeborenen Lebens. Abtreibung ist nicht gestattet. Abtreibung wird nur in eng begrenzten Fällen - ich hoffe: in ganz,
ganz eng begrenzten Fällen - straffrei behandelt. Das ist unsere Gesetzgebung.
({0})
- Das ist keine Doppelmoral. ({1})
- Das ist keine Doppelmoral.
({2})
Abtreibung ist Tötung ungeborenen Lebens.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie haben jetzt schon aus den wenigen Worten von Frau Krieger gemerkt, daß die Schlagzeile, die 1979 in den Zeitungen stand: „Frauen einig: Antidiskriminierungsgesetze helfen uns nicht weiter" , heute nur noch antiquarischen Wert besitzt.
Zehn Jahre nach den großen Debatten in der Enquete-Kommission „Frau und Gesellschaft" präsentieren GRÜNE und SPD verstaubte politische Konzepte statt praktikabler und zukunftsorientierter Lösungen für gesellschaftliche Probleme.
({3})
Das Oppositionsangebot, von SPD und GRÜNEN, ähnelt zwar einem verführerisch dekorierten - heute würde man vielleicht sagen: aufgemotzten - Warenkorb aus den letzten Tagen des Schlußverkaufs, attraktiv verpackten Modellen nach Einheitsschnitt aus vergangenen Zeiten. Überraschenderweise hat sich aber nicht nur bei uns, sondern auch bei den grünen Konsumentinnen Unmut eingestellt, wird Überdruß artikuliert,
({4})
lehnen Frauengruppen an der Basis offen das Angebot ab, mahnen zum Umdenken. Grüne Mütter z. B. rebellieren ja nicht ohne Grund.
Unbestritten ist: Frauen werden im Erwerbsleben benachteiligt, sind nur in geringer Zahl in den Chefetagen vertreten, werden schlechter entlohnt als ihre männlichen Kollegen, kämpfen gegen eine Unzahl von Vorurteilen. Unbestritten ist aber auch: Mütter werden oft stiefmütterlich behandelt, aus dem öffentlichen Leben ausgegrenzt, als Frauen zweiter Klasse angesehen.
Das Versprechen des Grundgesetzes „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" klingt auch im Jahr 1989 für viele, für erwerbstätige und nichterwerbstätige Frauen wie ein politischer Glaubenssatz für das nächste Jahrtausend.
Alle berufen sich auf das Grundgesetz, alle wollen das gleiche Ziel, so scheint es. Hinter dem Gleichklang im frauenpolitischen Credo verbergen sich jedoch fundamentale programmatische Unterschiede. Der Streit um die richtige Frauenpolitik ist daher nicht nur eine Strategiediskussion.
Mit ihrem Gleichstellungsgesetz erweist die Sozialdemokratie dem verehrten Parteiahnen Bebel erneut ihre Reverenz, huldigt parteipolitischer Kontinuität und Treue, ignoriert jedoch die Wünsche vieler Frauen. Die vollerwerbstätige Frau ist wie schon immer das Maß all ihrer Politik.
Die Belohnungen der staatlich geförderten Integration der Frauen ins Erwerbsleben werden in verlokkender Weise gepriesen: materielle Unabhängigkeit, Mitgestaltungschancen und Entscheidungsrechte, Neuverteilung gesellschaftlich notwendiger Arbeit in Beruf, Familie und sozialem Leben auf Mann und Frau.
Die Realität jedoch - zumindest für Beobachter ohne ideologische Scheuklappen - sieht anders aus: Mehrfachbelastungen von Frauen. Der von der SPD erhoffte Strukturwandel läßt auf sich warten. Der verheißene Automatismus im Geschichtsprozeß, Befreiung der Frau aus den Zwängen des Familienlebens durch Vollerwerbstätigkeit, erweist sich als Trugbild.
Lafontaine wirkt wie ein einsamer Rufer in der SPD-Wüste.
({5})
Statt seinem Ratschlag zu folgen, endlich Abschied zu nehmen vom überholten Arbeitsbegriff - da finde ich ihn wirklich recht gut -,
({6})
Arbeit nicht ausschließlich als Erwerbsarbeit, als entlohnte Arbeit, zu definieren, wird die traditionelle SPD-Lehrmeinung - nämlich Uniformität - , gepredigt: Gleichheit im Gleichschritt, acht Stunden, sieben, vielleicht sechs Stunden qualifizierte Erwerbsarbeit pro Tag für Mann und Frau, da selbstverständlich nur Erwerbsarbeit emanzipatorisch wirkt, allein das Selbstbewußtsein stärkt und das Gefühl der Unabhängigkeit vermittelt. Am Spätnachmittag oder Abend - ich gebe zu, daß ich jetzt etwas überziehe - treffen sich dann Mann und Frau mit ihren tagsüber dienstleistungsmäßig versorgten Zöglingen zur sogenannten „quality time" in der gemeinsamen Unterkunft.
({7})
Paradiesische Zustände für SPD-Strategen, die schöne neue Welt der Kollektivisten; aber ich möchte hier meine Zweifel anbringen: vielleicht eine Horror-vision für unsere Benjamine.
({8})
Die Sozialdemokraten lassen wie gewohnt diejenigen Frauen, die sich für Familientätigkeit als Beruf entscheiden möchten, im Regen stehen. Sie erkaufen Gleichstellung der Geschlechter durch neue Diskriminierung.
Das Selbstbild der Frauen ist aber keineswegs einseitig. Einige wollen sich für einen kontinuierlichen beruflichen Werdegang entscheiden, ohne auf Familie und Kinder verzichten zu müssen, andere aber für die Möglichkeit, ihre Erwerbstätigkeit wegen familiärer Interessen für kürzere oder längere Zeit zu unter9356
brechen oder ihr Stundenkontingent zu reduzieren, ohne gravierende berufliche Nachteile hinnehmen zu müssen.
Die Genügsamkeit von Frauen bis hin zur Selbstaufgabe ist heute passé. Frauen fordern ein Mehr an Partnerschaft, mehr aktive Mithilfe der Familienmitglieder. Sie fordern von Arbeitgebern mehr Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf für sich selbst und ihre Partner.
Teilzeitarbeit und flexible Arbeitszeitgestaltung sind, wie Frau Krieger uns soeben darzustellen versucht hat und wie SPD-Denker es propagieren, keineswegs für alle Frauen ein Notbehelf, leidige Folge eines unzureichenden Angebots an Kindertagesstätten, Ausdruck von Willkür und Ausbeutung durch die Arbeitgeber. Die Nachfrage nach qualifizierten Teilzeitarbeitsplätzen übersteigt bei weitem das Angebot.
({9})
Wie die neueste „Brigitte"-Studie gezeigt hat, bevorzugen Frauen - trotz gestiegener beruflicher Karrierewünsche - Teilzeitarbeit, um familiäre und berufliche Interessen besser miteinander vereinbaren zu können. Hier müssen Arbeitgeber und insbesondere die Gewerkschaften umdenken; sie müssen sich den veränderten Gegebenheiten anpassen. Die Tarifparteien müssen das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf für Frauen und Männer als wichtigen Tagesordnungspunkt ihrer Verhandlungen erörtern und vernünftige Lösungen erarbeiten.
Die CDU/CSU fordert das Ende des Rollendiktats, das Ende der Arroganz von Politikern und Politikerinnen, die glauben, verbindliche Leitbilder für Frau und Mann verordnen zu dürfen.
({10})
Die gesellschaftliche Wertschätzung, aber auch das Selbstwertgefühl von Frauen läßt sich weder an der Zahl ihrer Kinder noch an dem geleisteten Stundenkontingent in der außerhäuslichen Berufstätigkeit bemessen.
({11})
Abgeordnete mißbrauchen ihr Mandat, wenn sie die Lebensvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger fahrlässig übergehen, ja, selbstherrlich dem Volk den Auftrag erteilen, ihr Leben nach dem Bilde der Bonner Opposition zu formen.
({12})
Es ist - dabei bleibe ich - das ureigenste Recht von Frauen und Männern, sich ohne psychischen Druck aus Bonn für die Arbeit in der Familie, für Familie und Beruf in zeitlichem Neben- oder Nacheinander zu entscheiden.
({13})
Wir Unionsparteien akzeptieren die Wünsche der Frauen. Sie bilden die Grundlage unserer praktischen Politik. Wir setzen uns für staatliche Leistungsangebote ein, die den einzelnen wirkliche Wahlfreiheit ermöglichen. Wahlfreiheit heißt, sich entscheiden zu können zwischen mehreren gleichwertigen Arbeitsbereichen. Familienarbeit und Kindererziehung sind keine Freizeitbeschäftigung, keine Aufgaben, die zwischen mehreren Terminverpflichtungen so nebenbei erledigt werden können. Frauen und Männer berauben sich selbst entscheidender Zukunftschancen, wenn sie Familienarbeit als Anhängsel der Erwerbsarbeit definieren und damit bewußt abwerten.
({14})
Nur durch Aufwertung der Familienarbeit erzielen wir langfristig ein partnerschaftliches Bewußtsein, werden Anreize für die Männer geschaffen, sich stärker als bisher im privaten Sektor, der große gesellschaftliche Relevanz besitzt, zu engagieren.
Meine Damen und Herren, wir haben gehandelt und wichtige Weichenstellungen vorgenommen: Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub für Männer und Frauen, Anerkennung von Kindererziehungszeiten in der Rentenversicherung, Gleichbehandlung von Teilzeit- und Vollzeitarbeitsplätzen, berufliche Wiedereingliederungsprogramme für Frauen, Verbesserung der Arbeitsmarktchancen für Frauen und gezielte Frauenförderung im Erwerbsleben.
Meine Damen und Herren, aber Gleichberechtigung von Frauen durch dirigistische Maßnahmen lehnen wir entschieden ab. Es sprechen nicht nur verfassungsrechtliche Bedenken gegen den von den GRÜNEN eingebrachten Entwurf eines Antidiskriminierungsgesetzes. Selbst die von den GRÜNEN als Kronzeugin für ihre Quotierungswünsche zitierte Heide Pfarr sieht in den Vorschlägen eine starke Beeinträchtigung des Gebots gleicher Behandlung der Geschlechter. Aber gewichtiger als die Argumente der Juristen sind die möglichen langfristigen Folgen für die gesellschaftliche Stellung der Frauen. Das Schlagwort von der „Quotenfrau" - ich mag es nicht - macht heute schon die Runde.
({15})
Ungerechtfertige Skepsis gegenüber den Qualifikationen von Frauen breitet sich aus. Was als frauenfreundliches Instrument verkauft wird, könnte sich als Bumerang für Frauen erweisen.
Zweifel an der Praktikabilität sind gleichfalls angebracht. Was nützt uns das Fifty-fifty-Prinzip z. B. bei der Stellenbesetzung im naturwissenschaftlich-technischen Bereich? Leicht könnte eine - ich empfinde: höhnisch wirkende - Entschuldigung der Personalchefs erklingen: Stellen von Männern besetzt mangels weiblicher Bewerber. Erschließung gewerblich-technischer Berufe für Mädchen und gezielte Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses sind unsere Antwort statt unrealistischer Forderungen.
Oder ich bringe ein anderes Beispiel: Wollen wir wirklich, daß in Berufen, in denen heute vorwiegend Frauen beschäftigt sind - das sind nicht nur die Bereiche einfacher Tätigkeiten - , Frauen zukünftig null Chancen haben, da natürlich erst die Männerquote erfüllt werden muß?
Wir sagen nein zu starren numerischen Vorgaben. Appelle an den guten Willen reichen aber nicht aus. Daher unser deutliches Ja zu bereichsbezogenen Frauenförderrichtlinien mit klaren Zeitplänen und
einem umfassenden Maßnahmenkatalog. Notwendig sind z. B. Erweiterung des Berufsspektrums von Frauen, Durchbrechung des geschlechtsspezifischen geteilten Arbeitsmarktes, stärkere Einbeziehung von Frauen in Weiterbildungsmaßnahmen, Abbau der Einstellungshemmnisse und Effektivierung des EGAnpassungsgesetzes, Aufwertung der Familienarbeit und stärkere Berücksichtigung der Familienarbeit im Erwerbsleben, Verbesserung der sozialen Infrastruktur, Ausbau von Kindertagesstätten und Flexibilisierung der Öffnungszeiten, damit Erwerbstätige und insbesondere Alleinerziehende die für sie notwendige gesellschaftliche Unterstützung erfahren.
({16})
Gleichberechtigung auf dem Verordnungswege führt in die Sackgasse.
({17})
Diktate von oben lösen nicht die frauenspezifischen Probleme, sondern beruhigen nur das schlechte Gewissen einiger Parteitaktiker. Befehlspolitik ist ein schlechter und gefährlicher Ersatz für eine Politik kontinuierlicher und konstruktiver Bewußtseinsveränderung.
({18})
Freiwillige Selbstverpflichtungen von Parteien, von Unternehmen und Betrieben, Frauenförderpläne für den öffentlichen Dienst müssen jedoch strikt eingehalten und konsequent in die Praxis umgesetzt werden.
({19})
Das ist nicht nur ein Gebot der Glaubwürdigkeit und der wirtschaftlichen und politischen Zwänge.
Meine Herren, das Damoklesschwert Quote schwebt drohend über den Verantwortlichen, mahnt sie zum unverzüglichen und angemessenen Handeln. Die Zeit drängt; denn das haben Sie heute gemerkt: Die Geduld der Frauen schwindet.
({20})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Wegner.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das gegenwärtige Jahr 1989 und die heutige Debatte über Gleichstellung von Mann und Frau im Beruf laden durchaus zu einem historischen Rückblick ein. Vor 70 Jahren konnten Frauen zum erstenmal an der Wahl zum deutschen Zentralparlament teilnehmen. Marie Juchacz war die erste Rednerin. Und vor 40 Jahren wurde der Gleichheitsgrundsatz in der Verfassung verankert.
Beide für die Geschichte der Frauenemanzipation bedeutsamen Ereignisse wurden von Sozialdemokraten auf den Weg gebracht. Deshalb stehen wir mit diesem Entwurf zur Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben, den die SPD heute vorlegt, durchaus in einer Tradition fortschrittlicher Frauenpolitik, auf die wir Sozialdemokraten stolz sind.
({0})
Wir alle dürfen uns aber mit dem Erreichten nicht zufriedengeben; denn trotz der Gleichstellung von Mann und Frau im Grundgesetz gibt es vielfältige Benachteiligungen von Frauen im Alltagsleben unserer Gesellschaft, d. h. es gibt eine eklatante Diskrepanz zwischen dem Verfassungsgrundsatz und der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Frauen sind nach wie vor benachteiligt: im familiär-partnerschaftlichen Bereich, im politischen Bereich und vor allem im Arbeitsleben.
Wie hat sich die Situation von Frauen im Beruf historisch entwickelt? Frauen haben natürlich zu allen Zeiten gearbeitet, über Jahrhunderte hinweg, vor allem in der Landwirtschaft und im Haus. Mit der Industrialisierung sind neue Tätigkeitsfelder und Berufe entstanden, vor allem Fabrikarbeit und Heimarbeit für Mädchen aus der Arbeiterschaft, Dienstmädchen und Verkäuferin als Aufstiegsberufe für Frauen aus bäuerlichen und handwerklichen Schichten und Sozial- und Lehrberufe für Frauen aus dem Bürgertum. Die Hausarbeit wurde dabei inhaltlich ausgedünnt. Sie wurde neben der Berufstätigkeit verrichtet, und sie blieb Sache der Frauen. Das heißt, die Doppelbelastung wurde bereits damals vorprogrammiert.
Der folgende, dann über drei Generationen währende zähe Kampf der bürgerlichen und der sozialdemokratischen Frauenbewegung für bessere Arbeitsbedingungen, für Zugang zu allen Berufen und für bessere Bildungschancen war weitgehend erfolgreich. In zwei Weltkriegen haben die Frauen bewiesen, daß sie alle Berufe ausfüllen können, auch die sogenannten Männerberufe, und zwar unter schwierigsten Bedingungen.
Trotz dieser historischen Erfolge sind wir aber heute von einer wirklichen Gleichstellung von Männern und Frauen im Berufsleben noch weit entfernt.
({1})
Immer noch sind zwei Drittel derer, die keine Lehrstelle finden, Mädchen. Immer noch drängen etwa 75 % aller Mädchen in ein schmales Spektrum von Berufen, von denen viele zudem von der Rationalisierung bedroht sind. Nach wie vor werden Frauen wegen der Möglichkeit der Schwangerschaft schwerer eingestellt. Sie tun sich wegen der Doppelbelastung schwerer mit dem beruflichen Aufstieg, und sie haben nach langem Ausscheiden wegen Zeiten der Kindererziehung kaum Chancen zur Wiedereingliederung. Frauen sind stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als Männer. Sie haben immer noch im Schnitt etwa ein Drittel niedrigere Löhne und noch weit niedrigere Renten. Zwei Drittel aller Sozialhilfeempfänger in diesem unserem Lande sind Frauen. Das heißt, Armut ist auch eine Frauensache.
Wir Sozialdemokraten wollen keine feste Rollenzuweisung, verehrte Frau Männle, sondern wir wollen
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, aber eben für beide: für Männer und für Frauen.
({2})
Um dieses Ziel zu erreichen, genügt es nicht, sich auf ein Umdenken in der Gesellschaft zu verlassen, sondern wir brauchen auch gesetzliche Vorgaben.
({3})
Wir werden die volle Gleichstellung von Frauen aber nicht erreichen, wenn wir uns auf den Abbau von Benachteiligungen nur im Berufsleben beschränken. Nach wie vor gehören dazu der familiär-partnerschaftliche und der politische Bereich. Noch immer ist es so, daß Gewalt gegen Frauen und Kinder in unserer Gesellschaft als Privatsache behandelt wird. In Sachen § 218 waren wir schon mal weiter; denn das, was jetzt in Memmingen passiert ist, ist ein Skandal und ein Rückfall in finsterstes Mittelalter.
({4})
In der Politik, meine Damen und Herren, sind Frauen in doppelter Weise unterrepräsentiert: einmal in der Mitgliedschaft in den Parteien und dann noch viel mehr, wenn es um die Besetzung politischer bezahlter Mandate geht. Denken wir nur an die Vertretung von Frauen in diesem Hause! Über 20 Wahlen zum deutschen Zentralparlament, d. h. von 1919 bis 1983, ist es nicht gelungen, den Frauenanteil in diesem Hause auch nur auf 10 % anzuheben. Er hat jetzt das erste Mal 15,4 % erreicht, aber das ist wirklich keine Zahl, auf der man sich ausruhen kann, sondern hier besteht bei allen noch ein erheblicher Nachholbedarf, am meisten aber auf Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der CDU/CSU.
({5})
Meine Damen und Herren, ich glaube, daß sich seit Jahrhunderten eingefahrene patriarchalische Verhaltensweisen mit Sicherheit nicht in zwei Generationen abbauen lassen. Wir brauchen die Bereitschaft zum Umdenken bei den Männern, aber wir brauchen auch Kampfgeist und langen Atem bei den Frauen.
({6})
Die heutige Debatte und die vorliegenden Gesetzentwürfe könnten dazu beitragen, uns dem Ziel der Gleichstellung von Mann und Frau ein Stück näherzubringen. Das wäre mit Sicherheit ein Gewinn für Männer wie für Frauen. Denn Gleichstellung ist nicht nur eine Forderung der Gerechtigkeit; sie ist auch die Voraussetzung wirklicher Partnerschaft.
Vielen Dank.
({7})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich freue mich, daß gerade Sie heute hier präsidieren, während wir diese Frauendebatte haben.
Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kollegen! Albert Einstein hat gesagt, daß Imagination wichtiger sei als Wissen; denn nur sie, die Imagination, vermöge sich die Zukunft vorzustellen. Alles mußte ja erst einmal gedacht werden, bis es in der Entwicklung der Menschheit umgesetzt werden konnte. Es gehört schon eine gehörige Portion Phantasie und Imagination dazu, sich eine Gesellschaft der Zukunft vorzustellen, in der die Frau nicht länger diskriminiert wird und nach denselben Prinzipien der Menschenwürde und des Menschenrechts leben kann, wie sie Männer weltweit für sich beanspruchen, und dies seit Jahrtausenden.
({0})
Ohne Imagination gibt es keine Evolution, und eine Evolution wäre es schon, wenn es uns gelänge, in den nächsten Jahrzehnten wenigstens in Europa dafür zu sorgen, daß die Frauen nicht länger diskriminiert werden.
({1})
Meine Damen und Herren, wir befinden uns im Zeitalter des Aquarius, wie uns die Astrologen sagen. Das Zeitalter des Aquarius ist angeblich das Zeitalter der Erleuchtung. Daß mancher der Erleuchtung bedarf, steht ja wohl außer Frage.
({2})
Viele Frauen, vor allen Dingen die jungen, fragen sich heute, wie es überhaupt dazu hat kommen können, daß wir immer noch diesen Mangel an Menschenwürde, an Menschenrechten, an Gleichberechtigung und Chancengleichheit in unserer Gesellschaft haben und daß sie heute die ihnen vorenthaltenen Menschenrechte von unserer Gesellschaft und hauptsächlich natürlich von unseren Männern einfordern müssen. Ich habe am 26. Januar versucht, in meinem Beitrag über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Würde der Frau herauszustellen, warum ich glaube, daß dies so ist. Ich habe festgestellt, daß es leider den Meinungsführern großer gesellschaftlicher Kräfte über die Jahrtausende gelungen ist, Frauen in ihrem Menschsein abzuwerten und sie entsprechend der ihnen zugewiesenen Randordnung zu unterdrükken. Wenn Hunderte und Tausende von Generationen in diesem Geist und in dieser Bewußtseinshaltung großwerden und erzogen werden, daß die Frau dem Manne untergeordnet zu sein hat, daß es die Vorherrschaft des Mannes über die Frau gibt, ja daß diese gottgegeben und gottgewollt sei und somit ein Naturrecht sei, wie Paulus diese patriarchalisch zu nennende Daseinsbetrachtung ja genannt hat, ist es natürlich kein Wunder, daß unsere heutigen Frauen nun um Rechte kämpfen müssen, die sie eigentlich für selbstverständlich halten.
Thomas von Aquin beispielsweise ging von der ständigen Leibeigenschaft der Frau unter dem Mann aus. Er sagte, daß die Frau ihr Leben lang dem Ehemann, dem Vater oder einem männlichen Verwandten unterzuordnen sei. Er betonte darüber hinaus ihre angebliche Niedrigkeit und Unvollkommenheit im Vergleich zum Mann.
Auch große Denker wie Nietzsche und Schopenhauer waren sich einig in der Beurteilung der Frau. Nachdem 1901 der große Naturwissenschaftler Möbius erkannt hatte, daß „die Frau auf Grund ihres geringeren Gehirngewichts zum Schwachsinn neige", stand Schopenhauer dieser Auffassung nicht nach, indem er sagte, wenn eine Frau gelehrte Neigungen zeige, sei etwas mit ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung; heute würde man sagen: mit ihrer Sexualität. Er sagte darüber hinaus, daß eine Frau durch ein Engagement in der Gesellschaft und in der Wirtschaft ihre Gebärfähigkeit verlöre.
Nietzsche glaubte, der napoleonischen Regel, daß die Frau in der Politik nichts zu sagen habe, noch anfügen zu müssen: „Die Frau schweige über die Frau." Genau das tun wir heute hier nicht. Insofern sind wir schon ein großes Stück weitergekommen.
({3})
Wenn man unsere Rechtsgeschichte betrachtet, so ist dies eher eine Unrechtsgeschichte, wenn wir die Frau und ihre Rechtsgleichheit betrachten.
({4})
Sie ist geprägt, durch die Nichtanerkennung der Frau als Rechtsperson und durch ihre Ausgrenzung aus der Rechtsordnung. Erinnern wir uns - das kann überhaupt nicht schaden - , damit das unsere jungen Menschen, Sie da oben auf der Tribüne, mal mitkriegen: Bis zum Inkrafttreten der Eherechtsreform, also bis zum 1. Juli 1977, fiel das Vermögen der Frau bei Eheschließung an den Mann. Bei Eheauflösung konnte er es voll und ganz behalten. Rechtsgeschäfte, die das gemeinsame Vermögen in der Ehe, auch wenn sie es ganz eingebracht hatte, betrafen, durfte sie nicht tätigen. Er konnte ihr sogar - das haut jeden um, der das erfährt - die Aufnahme einer Berufstätigkeit untersagen,
({5})
und er konnte ein bestehendes Arbeitsverhältnis rechtswirksam kündigen. Man muß sich das mal vorstellen!
Wenn wir uns jetzt fragen: „Ist 1989 die Welt für uns Frauen in Ordnung?", so müssen wir eben leider sagen: Das ist sie nicht. Denn die Frauen erleben diese Defizite an Gleichbehandlung, an Chancengleichheit, an Gerechtigkeit im Grunde genommen jeden Tag. Junge Mütter erleben sehr wohl am eigenen Leib, was es bedeutet, in einer kinderunfreundlichen Gesellschaft Kinder großzuziehen.
Langjährige Hausfrauen und Mütter verlieren ihr Selbstbewußtsein in einer Gesellschaft, die das Muttersein nicht ausreichend achtet, und Mütter meiner Generation werden durch unsere Rentenstruktur - das ist meine persönliche Meinung - um den Ertrag ihrer Kindererziehungsleistung gebracht, und zwar in wirtschaftlicher Hinsicht.
({6})
Viele Frauen meiner Generation und auch der älteren Generation erfahren tagtäglich, was Dienen am Menschen bedeutet - ohne männliche Hilfe selbstverständlich - , wenn sie ältere, geistig verwirrte Angehörige zu Hause rund um die Uhr pflegen. Dienen am Menschen war übrigens meist Frauensache. Junge Frauen, allerdings natürlich auch Männer - das möchte ich hier nicht ausschließen - , die 80 Bewerbungen schreiben und darauf so gut wie keine Antwort bekommen - positive schon gar nicht - , sind verzweifelt. Was das bedeutet, kann nur der ermessen, in dessen persönlichem Umfeld das geschieht oder wo es die eigene Tochter oder Schwester ist.
({7})
Es ist doch kein Wunder, wenn Resignation und Depression dann allmählich bei diesem Personenkreis in Aggression umschlagen. Qualifizierte Frauen mit langjähriger Berufserfahrung halten es heutzutage nicht mehr für selbstverständlich, daß ihre männlichen Kollegen früher befördert werden und zahlreicher. Zu Recht rebellieren sie gegen diese Ungerechtigkeit, und sie wollen sich nicht mehr länger damit abfinden, daß Frausein im Grunde genommen die Formel bedeutet, ein Leben lang benachteiligt zu werden. Die Witwe merkt auch, was es bedeutet, wenn ihr Mann verstorben ist, daß sie mit 60 % ihres vorherigen Einkommens zu leben hat, auch wenn noch Kinder in der Ausbildung sind und es gilt, das Haus noch abzuzahlen.
({8})
Ein Ehemann erlebt auf der anderen Seite erschütternd, was seine Frau bei einem Unfall wert ist, wie hoch in diesem Fall die Versicherungsleistung ist.
Ich möchte auch nicht versäumen, das überaus traurige Kapitel des sexuellen Mißbrauchs von Töchtern, die Vergewaltigungen innerhalb und außerhalb der Ehe und die zunehmende Gewaltanwendung innerhalb des „Schutzraums Familie" hier zu erwähnen. Sie wissen vielleicht nicht, daß unsere Frauenhäuser die Aufnahme weiterer Frauen nicht mehr gewährleisten können, weil sie mit Frauen übervoll sind, die ihre Menschenrechtsverletzungen über die Jahre hin nicht mehr ertragen können und um Aufnahme nachsuchen.
Ich kann mich auch nicht damit abfinden, daß es bislang nicht gelungen ist und uns verwehrt wird, die Vergewaltigung in der Ehe mit demselben Strafmaß zu verfolgen wie die Vergewaltigung außerhalb der Ehe.
({9})
Ich finde diese Haltung ziemlich entlarvend. Es handelt sich meines Erachtens darum, der Frau das sexuelle Selbstbestimmungsrecht zu verwehren, und ich werde weiter darum kämpfen, den Koalitionspartner dahin zu bringen, daß dieses Gesetz auf den Weg gebracht werden kann.
({10})
Ich möchte zu der wieder aufgeflammten Diskussion um den § 218 einige grundsätzliche Anmerkun9360
gen machen, denn auch dieses Kapitel gehört natürlich dazu, wenn wir über die Chancengleichheit von Mann und Frau und über unsere gesellschaftlichen Zustände sprechen. Ich möchte alle, die es nicht mehr wissen wollen, daran erinnern, daß es eine Geschäftsgrundlage gab, um ein bundeseinheitliches Beratungsgesetz zu ermöglichen. Die Geschäftsgrundlage für unsere Verhandlungspartner war, daß die Übernahme der Kosten des Schwangerschaftsabbruchs durch die gesetzliche Krankenversicherung in Zukunft so wie bisher gewährleistet wird.
({11})
Ich erinnere daran, daß Gegenstand der Koalitionsvereinbarungen zur Schaffung eines bundeseinheitlichen Beratungsgesetzes auch war, daß flächendekkend dieselben Bedingungen zu herrschen haben.
({12})
- Ich bitte um Ruhe.
({13})
Bundeseinheitlichkeit ist für uns ganz besonders deshalb wichtig, weil wir im Grundgesetz stehen haben, daß wir die Gleichheit der Lebensbedingungen in allen Bundesländern zu gewährleisten haben. Da auch Frauen Menschen sind, gilt das auch für die Frauen.
({14})
Damit wird die Weitergeltung bayerischen Landesrechts ausgeschlossen. Insofern können wir der überzogenen Forderungen der CSU nach der Weitergeltung bayerischen Landesrechts bei einem bundeseinheitlichen Beratungsgesetz unter keinen Umständen zustimmen.
({15})
Ich finde es außerordentlich bemerkenswert, daß Ministerpräsident Streibl verkündet, er müsse beim Bundesverfassungsgericht deshalb klagen, weil wir, die Freien Demokraten, es an einer aktiven Mitwirkung bei der Gestaltung eines bundeseinheitlich geltenden Beratungsgesetzes hätten fehlen lassen. Es war keineswegs die FDP, sondern es ist die CSU, die es an dieser Mitwirkung fehlen läßt.
({16})
Ich möchte also nicht, daß diese Geschäftsgrundlage weiterhin in Frage gestellt wird und daß der Schwarze Peter uns zugeschoben wird.
({17})
Ich möchte auch nicht, daß Ministerpräsident Streibl
weiterhin wahrheitswidrige Angaben machen kann
wie im „Bayernkurier" von gestern, indem er sagt, wir
befänden uns beim § 218 StGB in einem rechtsfreien Raum.
({18})
Genau dies ist nicht der Fall. Wir befinden uns nicht in einem rechtsfreiem Raum,
({19})
sondern wir haben die §§ 218a, 218b und 219. Ich möchte auch nicht, daß Ministerpräsident Streibl weiterhin verkündet, wir hätten es mit millionenfachen Abtreibungen zu tun, wo doch die Zahlen etwas ganz anderes aussagen.
({20})
Gott sei Dank sind es nicht millionenfache Abtreibungen, sondern die Zahlen weisen aus, daß wir 1982 schlimmerweise = denn auch für mich ist jeder Abbruch ein Abbruch zuviel ({21})
91 000 Abbrüche und 1984 86 000 Abbrüche hatten. Das heißt, die Tendenz ist Gott sei Dank rückläufig.
Was wir auf diesem Gebiet tun müssen - ich bin froh, daß ich die Gelegenheit habe, das hier zu sagen - , ist, die gesellschaftlichen Voraussetzungen zu ändern, unter denen es zu diesen vielen Schwangerschaftsabbrüchen kommt.
({22})
Da kann Herr Ministerpräsident Streibl sehr schnell unter Beweis stellen, wie er es mit dem geborenen Leben hält, wenn es darum geht, das Jugendhilferecht zu verabschieden und im Bundesrat entsprechend zu fördern, so daß andere Bundesländer mitmachen, dieses Jugendhilferecht zu verabschieden.
({23})
Die Gesellschaft der Zukunft wird sich meines Erachtens daran messen lassen müssen, wie sie mit ihren Frauen und Kindern umgeht. Ich könnte mir sehr wohl eine andere Gesellschaft der Zukunft vorstellen, in der es möglich ist, daß Vater und Mutter beispielgebend für ihre Kinder einander partnerschaftlich in der Ehe in gegenseitiger Zuneigung und gegenseitigem Respekt begegnen, indem sie die Leistung des Partners in der Familie wie auch im Beruf als austauschbar werten. Der Vater kann ebenso gut Toiletten schrubben, Betten beziehen, Nachtgeschirr hinaustragen, Essen kochen, Abwasch bewältigen, Kinder trösten, Latein abfragen wie die Mutter. Die Mutter kann im Einvernehmen mit dem Vater ihre Berufstätigkeit wahrnehmen, gesellschaftliche Kontakte pflegen ebenso wie er, sie kann sich ebenso wie er gesellschaftlich und politisch engagieren und selbstverständlich gemeinsam über das Konto verfügen. Tochter und Sohn erfahren in der Familie, daß vor Gott, dem Staat und dem Arbeitgeber alle Menschen gleich sind, daß sie zwar unterschiedliche Fähigkeiten haben, jedoch beim Zusammenwirken aller Kräfte ein befriedigendes Ganzes herauskommt.
Außerfamiliäre Kinderbetreuungseinrichtungen
bester Ausstattung gewährleisten eine Additive zur familiären Erziehung und in all jenen Fällen, in denen Berufstätigkeit unumgänglich ist, die notwendige staatliche Hilfe während der Dauer der Abwesenheit der Erziehenden oder des Erziehenden.
Leider blinkt es vor mir schon, so daß meine Redezeit zu Ende geht. Ich könnte natürlich - und würde das sehr gerne machen - fortfahren, wie ich mir eine Gesellschaft der Zukunft vorstelle, aber die Zeit reicht dazu nicht aus. Sie müßten das also bitte dem schriftlichen Redebeitrag entnehmen.
Die vorliegenden Gesetzentwürfe eignen sich teilweise dazu, diesen Traum von einer Gesellschaft der Zukunft, die frauengerecht und kindergerecht zu sein hat, umzusetzen; wir werden in den Ausschüssen darüber diskutieren. Daß wir das Quotengesetz der GRÜNEN als indiskutabel zurückweisen müssen, ist klar.
({24})
Wir sind nicht damit einverstanden, daß wir eine 50%ige Quote in allen Lebensbereichen vorschreiben sollen.
Zu dem Gleichstellungsgesetz der Sozialdemokraten ist zu sagen, daß es in weiten Teilen unserem Antidiskriminierungsgesetz von 1976 entspricht, daß es natürlich auch eine Reihe von Punkten enthält, über die ich im einzelnen leider jetzt auch nicht mehr sprechen kann, über die wir aber reden müssen und die wir, so wie sie dastehen, erst einmal nicht gutheißen können. Aber es ist an der Zeit, daß wir uns daranmachen, Maßnahmen zu ergreifen, die uns alle weiter voranbringen.
Danke.
({25})
Das Wort hat die Bundesministerin Frau Professor Lehr.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich mit einem Zitat des Bundeskanzlers Helmut Kohl beginnen.
({0})
Er hat am 18. März 1987 in seiner Regierungserklärung ausgeführt - ich darf zitieren - :
Wir werden uns für Gleichberechtigung der Frauen auf allen Gebieten einsetzen. Mit im Vordergrund stehen gerechte Beschäftigungs- und Aufstiegschancen für Frauen. Dafür müssen wir den vielfältigen Lebensentwürfen von Frauen und ihren besonderen Anliegen in verschiedenen
Lebensphasen Rechnung tragen und ihnen günstigere Chancen geben, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren.
({1})
Wir brauchen die berufstätige Frau, und wir brauchen genauso die Leistung jener Frauen, die sich ganz dem Haushalt, der Kindererziehung sowie der Pflege behinderter oder kranker Familienangehöriger widmen.
({2})
Wer als Mutter aus dem Erwerbsleben ausscheidet, muß die Chance erhalten, wieder in den Beruf zurückzukehren.
({3})
Dazu werden wir ... Förderungsprogramme vorlegen.
Zitat Ende.
({4})
In dieser Tradition und Kontinuität stehe ich und will meinen Beitrag leisten. Mit meinem Amtsantritt hat keine neue Ära begonnen. Ich möchte die bereits vorhandenen Ansätze, die durch Rita Süssmuth in die Diskussion gebracht wurden, aufgreifen, verdeutlichen und weiterführen.
({5})
Dazu möchte ich in drei Punkten feststellen:
Erstens. Eine Frauenpolitik sollte Kinder und Heranwachsende in ihren familiären und außerfamiliären sozialen Beziehungen im Auge haben, sollte erwachsene Frauen und auch erwachsene Männer in Familie und Beruf sehen und sollte auch die Situation von Frauen und Männern im hohen Alter bis zu ihrem Lebensende berücksichtigen.
Es gilt, der Rolle der Frau und Mutter in allen Lebensabschnitten und all den jeweiligen sozialen Bezügen gerecht zu werden: den Frauen, die berufstätig sind, den Frauen, die Beruf und Familie miteinander verbinden, ebenso den Frauen, die ihren Lebensinhalt in der Familie und in der Erziehung ihrer Kinder gesehen haben und sehen.
({6})
Es gilt, die Rolle der Frauen als alleinerziehende Mütter - aber hier auch die Rolle des Vaters als alleinerziehenden Vater - zu sehen, die ihren Kindern - oft unter schwierigen Bedingungen - als Alleinerziehende Familie geben wollen. Ebenso gilt es aber auch, die Rolle der Frauen im Auge zu haben, die zu Hause ihre kranken Eltern und Angehörigen pflegen.
Zweitens. Frauenpolitik muß ihrer besonderen Verantwortung für das Kind gerecht werden. Man sollte Frauenpolitik nicht als eine einseitige Ausrichtung bzw. alleinige Zielsetzung in bezug auf die berufstä9362
tige Frau mißverstehen. Da Frauen als Mütter - genauso wie Männer als Väter - eine große Verantwortung für ihre Kinder tragen, sollte eine Frauenpolitik auch dieser Verantwortung für das Kind gerecht werden.
({7})
Drittens. Nur wenn eine Frauen- und Familienpolitik das Wohl des Kindes, aber auch das Wohl von Mutter und Vater zum Ziel hat,
({8})
hilft sie und stärkt sie die Familie und schafft so Voraussetzungen für das Ja zum Kind, eine günstigere Umwelt für das Kind, für dessen Entwicklung und damit auch Voraussetzungen für einen Fortbestand unserer Gesellschaft, denn die Familie ist nun einmal die Keimzelle unserer Gesellschaft und unserer Kultur.
({9})
Meine Damen und Herren, in der Ausstellung „40 Jahre Bundesrepublik Deutschland" ist auch das Bild der vier Frauen zu sehen, die als Mitglied des Parlamentarischen Rates für den Satz im Grundgesetz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" verantwortlich sind. Ich habe die entscheidenden Debatten von damals noch einmal nachgelesen und dabei argumentative Widersprüche gegen diese Feststellung gefunden, etwa in dem Sinne: Wenn man diesen Satz so genau in das Grundgesetz schreibe, dann habe das „unübersehbare Folgen" . Nun ja. Eine solche Einstellung wie damals in den Debatten ist auch heute noch nicht aus der Welt. Die Bekenntnisse zu gleichen Chancen sind manchmal auch heute noch mehr Worte als Taten. Zwei Drittel aller Männer sind bei Umfragen durchaus für bessere Chancen der Frauen im Beruf, in der Politik und in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens. Aber diese Zahlen entsprechen offenbar nicht dem realen Verhalten. Das wird u. a. auch beim Erziehungsurlaub deutlich: Obwohl er von 97 % der Anspruchsberechtigten angenommen wird, so sind bei uns nicht einmal 2 % Männer darunter; in anderen Ländern ist das schon etwas besser.
({10})
Ich sagte schon, Frauenpolitik ist ohne einen engen Bezug zur Familienpolitik nicht denkbar; sie darf nicht nebeneinander hergehen, sondern ist eng miteinander verzahnt zu sehen. Frauenpolitik hat auch nicht nur die Frau im Beruf zum Gegenstand. Sie hat ausdrücklich auch die Arbeit der Frau und Mutter in der Familie mit einzubeziehen. Und Familienarbeit ist Arbeit; Arbeit, für die ich unseren Müttern und Großmüttern, die Zeit ihres Lebens für Kinder, Enkel und manchmal noch für ihre alten Eltern da waren oder sind, wie immer bei meinen Vorträgen auch jetzt von diesem Platz herzlich danken.
({11})
Meine Damen und Herren, an der Erkenntnis, daß die Familie die Grundlage unseres Gemeinwesens ist, hat sich nichts geändert.
({12})
Aber geändert hat sich das Verhältnis der Familienmitglieder zueinander: Nicht mehr Dominanz und Unterordnung, sondern Partnerschaft zeichnet es aus. Wir alle müssen lernen, daß echte Partnerschaft, gelebte und nicht nur gesprochene Partnerschaft, ein äußerst schwieriger Weg ist. Dies gilt nicht nur für das Privatleben, sondern auch für die Berufswelt, auch für die Politik: Wir haben partnerschaftliche Entscheidungen zu begünstigen, zu akzeptieren und durch politische Rahmenbedingungen abzusichern.
Meine Damen und Herren, wie selten in anderen Bereichen der Politik, so findet sich, wie ich bisher dachte, in der Frauenpolitik relativ viel Übereinstimmung und Zusammenarbeit, zwar nicht immer zwischen Männern und Frauen, aber doch zwischen den verschiedenen Frauen untereinander. Wir Frauen waren immer dann erfolgreich, wenn wir solidarisch gehandelt haben. Dies war so bei der Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, bei der Änderung des Ehe- und Familienrechts und u. a. auch bei der EnqueteKommission „Frau und Gesellschaft" des Deutschen Bundestags, deren über hundert Empfehlungen zu über 90 % gemeinsam formuliert und getragen wurden.
Solidarisches Verhalten und weite Übereinstimmung im Interesse der Frauen, im Interesse der Familien und der menschlichen Zukunft unserer Gesellschaft ist eine Herausforderung, der sich Frauen und Männer immer wieder neu stellen müssen.
Frauen- und Familienpolitik hat einen hohen Stellenwert. Dieser Stellenwert ist um so höher, je mehr es uns gelingt, diese Politik möglichst in Konsens zu betreiben, wie dies in den letzten Wochen bei den Verhandlungen über die Rentenstrukturreform geschehen ist, als es gelang, für Frauen entscheidende Verbesserungen durchzusetzen
({13})
wie etwa die Ausweitung der Kindererziehungszeiten auf drei Jahre oder die Ausweitung der Berücksichtigungszeiten auf zehn Jahre. Hoffentlich gelingt es auch, in ähnlich sachlicher Weise derzeit noch nicht ganz gelöste Probleme bezüglich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gerade auch bei jüngeren Menschen lösen zu helfen.
({14})
Die Beschlüsse zur Rentenstrukturreform passen sich nahtlos ein in die Politik zugunsten der Frauen, Männer und Kinder, wie sie von dieser Bundesregierung in den letzten Jahren betrieben wurde: mit dem Erziehungsgeld für Frauen oder Männer, mit dem Erziehungsurlaub mit Beschäftigungsgarantie für Mütter oder Väter; zwei Regelungen, in denen zum erstenmal in der Geschichte Deutschlands nicht nur Frauen in der Familie und Frauen im Beruf gleichbehandelt werden, sondern zugleich die Männer mit den Frauen gleichgestellt werden.
Erinnert sei weiter an die Anerkennung von Erziehungszeiten und an die Verkürzung der Wartezeiten in der Rentenversicherung von 15 auf 5 Jahre, welche Millionen Frauen einen eigenen Rentenanspruch gegeben hat.
({15})
Erinnert sei an die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in der Hinterbliebenenversorgung, an die Einrichtung der Bundesstiftung „Mutter und Kind", die bislang 200 000 Frauen geholfen hat,
({16})
an die entscheidenden steuerlichen Erleichterungen für alleinerziehende Mütter und Väter, an die Verbesserung des Versorgungsausgleichs - ({17})
Ich denke, das Wort hat zur Zeit die Bundesministerin.
Weiter erinnere ich an die verbesserten Rahmenbedingungen für Teilzeitarbeit, an die gesetzliche Verbesserung des Zugangs von Frauen zu beruflichen Qualifizierungsmaßnahmen und schließlich an das Sonderprogramm „Wiedereingliederung in den Beruf". Mit diesen Maßnahmen ist sicher mehr Gerechtigkeit für Frauen und Männer geschaffen worden.
Frauenpolitik kreist um das Problem, wie die Gleichberechtigung in die Realität, in die soziale Wirklichkeit umgesetzt werden kann. Ich sehe hier vor allem folgende Schwerpunkte: eine Neubewertung der Arbeit im familiären und sozialen Bereich, überzeugende Maßnahmen, um Familie und Beruf besser miteinander zu verbinden,
({0})
mehr Gleichberechtigung am Arbeitsplatz und die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am öffentlichen und gesellschaftlichen Leben.
({1})
Die Frauenpolitik der Bundesregierung orientiert sich an den politischen und gesellschaftlichen Notwendigkeiten, die Wahlfreiheit für Frauen und Männer zu erweitern. Die SPD hat den Entwurf eines Gleichstellungsgesetzes, die GRÜNEN haben den eines Antidiskriminierungsgesetzes vorgelegt. Beide Gesetze werden in den Ausschüssen noch eingehend beraten werden, und darum beschränke ich mich hier auf wenige Anmerkungen:
Solche Gesetzentwürfe vermitteln zunächst den Eindruck, als seien alle Schwierigkeiten, die die Gleichberechtigung behindern, mit einem Gesetz zu lösen.
({2})
Davor muß ich warnen.
({3})
Beim Gleichstellungsgesetzentwurf der SPD vermisse ich etwas das Aufzeigen von Lösungsmöglichkeiten, wenn es darum geht, gleiche Chancen auch für diejenigen Frauen und Männer zu schaffen, die sich der Aufgabe in der Familie widmen.
({4})
Ich sehe eine wichtige Aufgabe darin, die Situation derer zu verbessern, die sich auch in den Familien engagieren. Hier gibt es gewiß noch einiges zu tun.
({5})
Der Entwurf der GRÜNEN zum Antidiskriminierungsgesetz würde vor allem zu mehr Bürokratie führen, zu einer rein formalen Gleichberechtigung.
({6})
Im übrigen hätte die geforderte mechanische 50-%Quote vor dem Bundesverfassungsgericht wohl kaum Bestand. Ich sehe daher die Gefahr, daß dieser Weg von der Wahlfreiheit weg und hin zur verordneten Lebensplanung führt.
({7})
Mehr Bürokratie und mehr Überwachung bringen die Gleichberechtigung gewiß nicht weiter.
({8})
Doch notwendig ist sicherlich eine Änderung einzelner Gesetze und Bestimmungen. Ich denke da an das arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz, an die Richtlinie Frauenförderung im öffentlichen Dienst,
({9})
an mehr Teilzeitarbeit und Beurlaubungen im öffentlichen Dienst, an eine wirkungsvolle Frauenförderung, auch dann, wenn es um Gremienbesetzungen geht. In all diesen Bereichen wird bereits gearbeitet. Es ist aber noch manches zu tun. Hierauf sollten wir uns gemeinsam konzentrieren. Trotzdem halte ich die vorgeschlagene Quotierungsregelung im öffentlichen Dienst für den falschen Weg.
({10})
Ich sehe die Vereinbarkeit von Familie und Beruf als die frauen- und familienpolitische Herausforderung der 90er Jahre. Noch vor einer Generation lautete für die meisten jungen Mädchen die Frage: Familie oder Beruf? Heute lautet sie: Wie kann ich Familie und Beruf miteinander vereinbaren?
({11})
Beruf und Familie sind heute sich ergänzende Lebensbereiche.
({12})
Jedes Mädchen erhält heute eine gute Schuldbildung, fast alle eine gute berufliche Ausbildung. Die meisten von ihnen unterbrechen wegen der Geburt der Kinder den Beruf, um später dorthin zurückzukehren.
Aber bei dem Versuch, ins Erwerbsleben zurückzukehren, begegnen sie oft Schwierigkeiten und mannigfachen Benachteiligungen. Fehlende Kontakte zur Arbeitswelt, mangelnde berufliche Erfahrung, eine berufliche Qualifikation, die dann nicht mehr dem neuesten Stand entspricht, ein geringes Angebot an Teilzeitarbeitsplätzen, mangelndes Verständnis bei einigen Arbeitgebern, all dies sind Faktoren, welche Frauen die Rückkehr in den Beruf erschweren. Dies gilt besonders bei längerer Unterbrechung, längerer Familienphase.
88 % der Frauen unter 30 Jahren, die kleine Kinder haben und zur Zeit ihre Berufstätigkeit unterbrochen haben, sind der Meinung, daß Familientätigkeit für sie kein lebenslanger Beruf sei. Sie planen für die Zeit, wenn die Kinder herangewachsen sind, eine Rückkehr. Ein Teil dieser Frauen wird dann bereits in den Vierzigern sein und damit noch die Hälfte ihres Lebens vor sich haben.
Doch wir haben auch an jene Frauen zu denken, die, obwohl sie Kinder haben, aus finanziellen Gründen erwerbstätig sein müssen,
({13})
wie auch an jene, die gerne berufstätig sein wollen. Wir wissen nämlich: Jüngere Frauen unterbrechen ihre Berufstätigkeit seltener und kürzer. Es ist auch Tatsache, daß leider fast jede dritte Ehe, die heute geschlossen wird, scheitert.
({14})
Auch diese Tatsache zeigt die Notwendigkeit, daß jüngere Frauen heutzutage einen Beruf haben müssen, auch wenn sie ihn vorübergehend nicht ausüben.
({15})
Viele der geschiedenen Frauen sind auf unsere Hilfe für einen neuen beruflichen Anfang angewiesen.
Ein anderes Thema, das mich bedrückt, ist die zu hohe Zahl der Schwangerschaftsabbrüche. Schwangerschaftsabbruch ist Tötung ungeborenen Lebens - das habe ich gemeint - und nicht Mord.
({16})
Schätzungen besagen, daß etwa 200 000 Schwangerschaften pro Jahr abgebrochen werden. Die Frauen, oft alleine gelassen, sehen häufig keine Zukunftsperspektive und können sich dann zu einem „Ja zum Kind" nicht durchringen. Auch wenn Erziehungsgeld und die Bundesstifung „Mutter und Kind" ihnen über die erste Zeit hinweghelfen, so bleibt die weitere Zukunft für sie häufig ungewiß, wenn nicht durch eine eigene Berufstätigkeit ihre Lebensgrundlage sichergestellt werden kann.
Dazu bedarf es vieler flankierender Maßnahmen. Hierzu zähle ich: finanzielle Unterstützung, die Erleichterung der Wiedereingliederung in den Beruf durch die Unternehmen, Maßnahmen im Weiterbildungsbereich durch das Arbeitsförderungsgesetz.
Darüber hinaus kommt es entscheidend darauf an, das Angebot an Maßnahmen für jene Kinder, die außerfamiliär betreut werden, so auszubauen, daß nicht nur Betreuung, sondern auch eine optimale Förderung ihrer Entwicklung ermöglicht wird.
({17})
Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Ganztagseinrichtungen wichtig. Es geht nicht darum, ein flächendeckendes Angebot zu schaffen, sondern darum, Angebot und Nachfrage etwas ausgeglichener zu gestalten.
({18})
Doch es sind nicht nur die mangelnden Plätze, die der Fortführung der beruflichen Tätigkeit von Müttern jüngerer Kinder im Wege stehen: Nach den Erkenntnissen führender Kinderpsychologen und Kinderpsychiater ist es keineswegs wissenschaftlich gerechtfertigt, diesen jungen Müttern ein schlechtes Gewissen zu schaffen oder die spätere Fehlentwicklung von Kindern solcher Mütter an die Wand zu malen.
({19})
Jetzt darf ich zitieren:
Wer die internationalen Verhältnisse im Bereich der außerfamiliären Kindererziehung kennt, kann die Diskussion bei uns kaum nachvollziehen:
({20})
Es gibt kein vergleichbares Land mit einem vergleichbar geringen Angebot an außerfamiliärer Kinderbetreuung.
- So Rita Süssmuth 1989.
({21})
Meine Damen und Herren - das rote Licht leuchtet -, in den Komplex der Wiedereingliederung gehören natürlich die Forderungen nach flexiblen Arbeitszeiten und anderes mehr.
Lassen Sie mich schließen: In der Absicherung der Wahlfreiheit von Männern und Frauen und der Schaffung entsprechender Voraussetzungen sehe ich eine Hauptaufgabe meiner Politik in den nächsten Jahren. Als unverzichtbar halte ich auch - das möchte ich hier noch sagen - eine Erhöhung des Kindergelds ab dem zweiten Kind und eine Verlängerung des Erziehungsurlaubs. Über beide Maßnahmen werden wir noch in diesem Frühjahr entscheiden.
Meine Damen und Herren, ich rechne mit Ihrer konstruktiven partnerschaftlichen Mitarbeit und bitte um Ihre Hilfe, damit wir diese Ziele gemeinsam erreichen zum Wohle der Kinder, zum Wohle der Frauen und zum Wohle der Männer.
Danke schön.
({22})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schmidt.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen! Frau Ministerin! Ehrlich gesagt war ich heute ein bißchen aufgeregt, weil ich keine Ahnung hatte, was und wie Sie es sagen werden. Ich stelle fest: Zur Aufregung war kein Anlaß.
({0})
Ich war mir nicht sicher, ob ich jetzt, wie man so schön sagt, draufhauen soll oder nicht. Ich habe mich schon vorher, bevor ich diese Rede hörte, entschieden, nicht draufzuhauen; denn Prügel bekommen Sie von Ihrer eigenen Fraktion derzeit mehr als genug.
({1})
Daß ich keine Vorstellung davon hatte, was Sie sagen werden, liegt an der erstaunlichen Tatsache, daß die Regierung und die Koalitionsfraktionen zu dem Thema Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben trotz Ankündigungen schon seit drei, vier, fünf Jahren nichts, aber auch gar nichts vorzuweisen haben:
({2})
kein Gesetz, keinen Antrag, gar nichts.
({3})
Sie, Frau Ministerin, haben mühsam versucht, das zu kaschieren, und sich in Allgemeinplätze geflüchtet.
Die Zeit der Situationsbeschreibungen, liebe Kollegen, und die Zeit der Fragestellungen ist längst vorbei.
({4})
Die Zeit der Lösungen ist nämlich endlich gekommen. Wenn Ihnen heute die SPD-Fraktion den Gesetzentwurf zur Gleichstellung von Frau und Mann im Beruf vorlegt, sehen Sie, daß wir damit bereits 1989 und nicht, wie vorgesehen, erst 1990 Aufgaben der Regierung übernehmen.
({5})
Wir wollen mit diesem Gesetzentwurf nicht nur Benachteiligungen abschaffen, wie es sie für Frauen immer noch und wieder neu gibt, sondern wir wollen damit dem Gleichstellungsgebot des Grundgesetzes nachkommen und Frauen aktiv fördern. Dieser Gesetzentwurf räumt mit ein paar liebgewordenen Vorstellungen auf, z. B. mit der Vorstellung, Gleichstellung im Beruf sei zum Nulltarif zu haben, die qualifizierten Frauen würden sich schon von selbst durchsetzen und die, die keine Karriere machten, seien nicht qualifiziert, z. B. mit der Vorstellung, Gleichberechtigung sei schon erreicht, wenn keine offensichtliche Benachteiligung vorliege, z. B. mit der Vorstellung, daß Gleichstellung im Beruf bei unveränderten Strukturen des Arbeitslebens möglich sei.
Diese Vorstellungen berücksichtigen die heute vorhandenen unterschiedlichen Lebensumstände von
Frauen und Männern nicht. Sie berücksichtigen nicht, daß jede Frau mit Kindern zusätzlich einen zweiten Beruf hat, ob sie diesen nun gleichzeitig mit ihrem bezahlten Beruf oder nacheinander ausübt. Sie berücksichtigen nicht die Tatsache, daß Männer nach wie vor die gesamte unbezahlte Arbeit in großer Mehrheit den Frauen überlassen.
Wir versuchen mit unserem Gesetzentwurf, diese Tatsachen zu berücksichtigen und sie zu verändern. Wir wollen mit unserem Gesetz zur Gleichstellung von Frau und Mann im Erwerbsleben die Trennung in dieser Gesellschaft - hier die bezahlte Erwerbsarbeit und dort die unbezahlte Arbeit für Familien - ein Stück aufheben.
({6})
Wir sollen konkret erreichen, daß diese unbezahlte Arbeit nicht nur berücksichtigt, sondern daß sie anerkannt wird,
({7})
wenn es um Aufstieg und Karriere im Beruf, wenn es um Berücksichtigung des Dienstalters und bei Einstellungen geht, wenn es um die Betreuung kranker Kinder geht, wenn es um den Wunsch oder die Notwendigkeit geht, Teilzeitarbeit nachzugehen.
Alle reden von Wahlfreiheit zwischen Kindern und Beruf, alle reden von Vereinbarkeit von Kindern und Beruf für Frauen und fügen dann hastig und ein bißchen verlegen hinzu: und für Männer. Auch wir reden von Wahlfreiheit und Vereinbarkeit. Dabei wissen wir aber, daß diese Wahlfreiheit für Frauen und Männer nur möglich ist, wenn es auch eine wirtschaftliche Gleichstellung gibt.
Hier bei uns ist das Gegenteil der Fall. Die Schere zwischen den Einkommen von Frauen und Männern öffnet sich wieder und immer weiter.
({8})
Frauen verdienen durchschnittlich ein Drittel weniger als Männer. So kann es keine wirkliche Wahlfreiheit geben, und so ist von vornherein klar, wer aus dem Erwerbsleben vorübergehend oder ganz ausscheidet.
({9})
Daß dies auch anders geht, das zeigen uns die Schweden. Dort hat eine zehnjährige Kampagne der Gewerkschaften zu annähernd gleichen Durchschnittseinkommen von Frauen und Männern geführt. Damit hat sich auch die Verteilung der bezahlten Arbeit zwischen Männern und Frauen positiv verändert.
Und was haben wir? Unverbindliche Frauenförderpläne in der Zuständigkeit - nein, nicht der Frauenministerin - des Bundesinnenministers. Und was haben wir? Eine gut gemeinte Anzeigenkampagne, zu der Frau Lehr sagt - ich zitiere:
Zum Erreichen von Gleichberechtigung ist mehr nötig als Gesetze.
Richtig, richtig. Das heißt: Gesetze und vieles darüber hinaus sind nötig.
Frau Schmidt ({10})
Sie selbst, die Frauenvereinigung der CDU im Bundestag, hat vor der Wahl 1987 gefordert: Absicherung der Teilzeitarbeit und qualifizierte Teilzeitbeschäftigung für Frauen und Männer - wir haben sie in unserem Gesetzentwurf. Verbindliche Frauenförderung im öffentlichen Dienst - wir haben sie in unserem Gesetzentwurf.
({11})
Verbesserung der Situation Alleinerziehender - wir haben sie in unserem Gesetzentwurf. Wiedereingliederung und rechtliche Rahmenbedingungen dafür - wir haben sie in unserem Antrag. Verschärfung des arbeitsrechtlichen EG-Anpassungsgesetzes, angekündigt vor mehr als drei Jahren - wir haben es in unserem Gesetzentwurf. Sie haben versprochen, wir haben gehalten!
({12})
Wir verschärfen das arbeitsrechtliche EG-Anpassungsgesetz. Wir bevorzugen die Frauen auf allen Funktionsebenen und in allen Laufbahngruppen, in denen sie unterrepräsentiert sind, so lange, bis ihre Unterrepräsentanz abgebaut ist. Dabei ist Bevorzugung der dringend notwendige Abbau von Benachteiligung. Das bedeutet, meine lieben Kollegen: Wir wollen die Quote im öffentlichen Dienst als Vorreiterfunktion. Wir wollen aktive Frauenförderung, wie sie Ernst Benda für nicht nur verfassungsgemäß, sondern sogar für verfassungsrechtlich geboten hält. Das ist verbindliche Frauenförderung, die nicht erst meinen Urenkelinnen die berufliche Gleichstellung bescheren wird, sondern die Chance der Generation unserer Töchter vergrößern wird.
Wir schaffen die Versicherungsfreiheit für 450-DMArbeitsverhältnisse mit diesem Gesetz ab und bereiten damit dem Skandal von 2,3 Millionen derartiger Arbeitsverhältnisse, die Frauen vollkommen ungesichert lassen, ein Ende.
({13})
Der Handlungsbedarf in dieser Frage wird von allen Parteien dieses Bundestags bestätigt. Wir handeln.
Wir verändern das Betriebsverfassungs- und das Personalvertretungsgesetz und verstärken die Mitwirkungsmöglichkeiten in den Betrieben für Frauen. Wir verankern die Gleichstellungsbeauftragten in den Behörden und sichern ihre Kompetenzen und ihre Ausstattung und machen auch dort mit der Unverbindlichkeit ein Ende. Wir schaffen das sogenannte Beschäftigungsförderungsgesetz mit diesem Gesetzentwurf ab,
({14})
das Frauen im gebärfähigen Alter zur disponiblen Masse auf dem Arbeitsmarkt macht.
Wir verbessern die finanzielle Situation für Alleinerziehende. Wir wollen private Arbeitgeber bei der Auftragsvergabe der öffentlichen Hand bevorzugen, wenn sie nachweisbar in ihren Betrieben Frauenförderung betreiben. Damit hier keine Mißverständnisse auftreten: dies natürlich nur, wenn die Angebote ansonsten gleichwertig sind. Frauen zu beschäftigen, Frauen Karrierechance einzuräumen ist nämlich kein zusätzlicher Kostenfaktor, sondern eine Frage der Einsicht, des Nachdenkens und der Phantasie.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, unser Gesetzentwurf macht ebenso klar, daß wir Frauen überhaupt nicht vorschreiben wollen, wie sie leben sollen.
({15})
Lassen Sie mich an dieser Stelle sagen, daß ich mich über die in der Union geführte Diskussion nur wundern kann, wie über Frauenpolitik und den Vorschlag von Frau Ministerin Lehr diskutiert wird, Kinderbetreuungsmöglichkeiten für unter Dreijährige zu schaffen.
({16})
Es ist doch wohl unbestritten, daß bei uns in der Bundesrepublik ein erheblicher Teil der Frauen nach der Inanspruchnahme des Elternurlaubs an den Arbeitsplatz zurückkehrt, weil sie es wollen oder weil sie es müssen. Diese Mütter brauchen eine vernünftige und den Bedürfnissen der Kinder angemessene Betreuung. Wir sind - Sie haben es richtig zitiert - Schlußlicht in ganz Europa.
({17})
Nun versuchen einige Kollegen in der Union, diesen Müttern ein schlechtes Gewissen einzureden - Sie haben es gesagt - oder - und das halte ich für viel schlimmer - ein Leitbild zu geben, wie Mütter zu sein haben. Es wäre vernünftiger, die Väter zu ermuntern, ihre erwerbstätigen Frauen stärker zu entlasten und ihrer Vaterrolle gerechter zu werden.
({18})
Genauso falsch wie die von Ihnen geführte emotionale Diskussion über Möglichkeiten der Betreuung von Kleinstkindern ist es, ein Lebensmodell der durchgängigen Erwerbstätigkeit von Vätern und Müttern zu propagieren und hier z. B. den vielen Müttern, die ihre Erwerbstätigkeit für einen Zeitraum aufgeben, einzureden, sie seien „nur" Hausfrauen und damit etwas Minderwertiges, und den wenigen Vätern, die dies ebenfalls tun, sie stünden unter dem Pantoffel und wären Waschlappen.
({19})
Nein, wir wollen kein Leitbild vorgeben, sondern mit unserem Gesetzentwurf dazu beitragen, daß Frauen ihre Lebensplanung ohne erhebliche Nachteile durchführen können. Wir tun das mit diesem Gesetzentwurf ganz konkret, indem wir Teilzeittätigkeiten absichern, indem wir Arbeitszeitsysteme, die ausschließlich im Interesse der Arbeitgeber liegen, wie KAPOVAZ, Jobsharing und ähnliche, beschränken. Derartige Arbeitszeitsysteme lassen genauso wenig wie Sonntagsarbeit die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf zu.
({20})
Frau Schmidt ({21})
In unserem Gesetzentwurf befürworten wir ausdrücklich die Zeitsouveränität für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die in ihrem Interesse und im Interesse ihrer Familie liegt.
({22})
Wir verbessern deshalb mit unserem Gesetzentwurf z. B. die Möglichkeit, Urlaub zur Betreuung kranker Kinder zu nehmen, und verdoppeln diesen Anspruch für Alleinerziehende. Wo bleiben Ihre Verbesserungen? Wir tun das auch mit unserem Antrag zur Wiedereingliederung ins Erwerbsleben, auf den meine Kollegin Niehuis noch eingehen wird und der von den ewigen Modellversuchen weggeht, wie diese Regierung glaubt Frauen abspeisen zu können, und der Rechtsansprüche auf Qualifizierung und Beratung von Frauen in diesen Lebenssituationen schafft.
({23})
Liebe Kollegen, Frauen wollen heute ein Stück mehr Unabhängigkeit, materielle Unabhängigkeit, sowohl in jungen Jahren als auch durch eine eigenständige Sicherung im Alter. Von beidem sind wir noch ganz weit entfernt. Gerade weil wir Bindungen bejahen, Bindungen an unsere Partner, Bindungen an unsere Kinder, müssen wir in der Politik dafür sorgen, daß wir nicht durch das Predigen von Verzicht für Frauen an ihren berechtigten Wünschen und Forderungen vorbeireden. Unser Gesetzentwurf ist ein Stück mehr Unabhängigkeit für Frauen, ein Stück mehr Gleichheit zwischen Frau und Mann und damit auch ein Stück mehr Chance für Partnerschaft und Liebe.
({24})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Pack.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Schmidt, ich habe immer nur gehört: Wir machen, wir machen.
({0})
Was haben Sie denn zur rechten Zeit, zu der Zeit, als Sie wirklich etwas machen konnten, als Sie an der Regierung waren, in diesem Bereich gemacht? Nichts!
({1})
Ich werde in meiner Rede noch an mehreren Stellen zu den Punkten kommen die Sie heute morgen hier angesprochen haben. Gestatten Sie mir vorweg einige grundsätzliche Anmerkungen zu unserer Frauen- und Familienpolitik:
Frauen zwischen Familien- und Erwerbsarbeit haben heute einen beträchtlichen Anteil an der Realität im gesellschaftlichen Leben, und ihr Anteil wird weiter wachsen. Die Veränderungen in der Lebensplanung von Frauen und der Wandel der Familiensituation in der Bundesrepublik ist ein Faktum, über das seriöse und für die Veränderungen der Gesellschaft aufgeschlossene Zeitgenossen nicht hinwegsehen.
Wir müssen den gesellschaftlichen Wandlungsprozeß ernst nehmen und ihn zu gestalten versuchen. Die nachfolgende Generation hat eine andere Lebensplanung und Lebensvorstellung, als wir das vielleicht noch gehabt haben. Dies ist ihr legitimes Recht. Ich mache hier Politik auch für meine Kinder und deren Freunde, und deren Erfahrungen und unterschiedliche Lebenssituationen muß ich aufnehmen und ihnen politisch Rechnung tragen.
({2})
Bei unserer Frauen- und Familienpolitik gehen wir von folgenden Grundsätzen aus - aus aktuellem Anlaß füge ich einen mir wichtig erscheinenden Punkt als ersten an - :
In der Gesellschaft wirken pluralistische Wertorientierungen, auf deren Basis sich unterschiedliche Lebensentwürfe entwickeln. Wir, die CDU/CSU, sind aber nicht wertneutral. Wir bekennen uns zu unserem christlich geprägten Bild vom Menschen. Unsere Wertgebundenheit bedeutet aber nicht, daß wir unsere Vorstellungen der Lebensgestaltung und Lebensplanung zur allgemein verbindlichen Richtschnur machen dürften. Wir können nicht von allen Menschen erwarten, daß sie unsere Wertvorstellungen teilen; vielmehr müssen wir um Zuspruch zu unseren Positionen werben.
({3})
Daraus folgt: Wir werden den Menschen nicht vorschreiben, was sie zu tun oder zu lassen haben, auch wenn manches nicht unseren persönlichen Wertvorstellungen entspricht.
({4})
Wir wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, daß die Praxis des § 218 nicht der Intention des Gesetzgebers entspricht. Wir wollen das Leben schützen und Frauen in Notsituationen helfen.
({5})
Darum brauchen wir Beratungsmöglichkeiten. Wir hoffen und werden uns weiterhin dafür einsetzen, daß sich die Einstellung in Teilen unserer Bevölkerung zugunsten des ungeborenen Lebens verändern wird. Erste Anzeichen sind erkennbar - natürlich nicht bei Ihnen, Frau Krieger, und auch nicht bei einigen Kolleginnen von SPD und den GRÜNEN, die sich öffentlich der Abtreibung rühmen.
({6})
Ich fürchte, diese Art eines öffentlichen Bekenntnisses soll zur Sozialisierung vorhandener Schuldgefühle beitragen. Damit helfen Sie wirklich betroffenen Frauen nicht.
({7})
Die Männer - darunter auch einige Kollegen der SPD aus diesem Hause - , die sich öffentlich der Beihilfe zur Abtreibung bekennen, hätten sich besser zu einer verantworteten Vaterschaft und Partnerschaft
bekannt und ihrer Partnerin damit geholfen, die Abtreibung nicht vorzunehmen.
({8})
Wir werden daher nicht in unseren Bemühungen nachlassen, aufzuklären, an die eigene Verantwortung zu appellieren und sich der Bedeutung und Tragweite der Notwendigkeit des Schutzes des ungeborenen Lebens bewußt zu werden.
({9})
Wir setzen auf einen positiven Bewußtseinswandel. Ihn zu unterstützen ist unsere vordringliche Aufgabe.
Ich sage aber auch: Das Strafgesetzbuch allein ist ein denkbar schlechter Ansatz, um gesellschaftliche Mißstände zu beseitigen. Paragraphen allein retten kein einziges Leben. Auch entfaltet die Strafverfolgung in bezug auf § 218 keinen nennenswerten Schutz zugunsten des ungeborenen Lebens.
({10})
Dies ist ebenso eine Tatsache wie sich die Behauptung nicht belegen läßt, die Abtreibungspraxis sei ein Reflex des aktuellen Rechtsbewußtseins, das sich mit einer Verschärfung des § 218 wieder ändern werde.
Im katholisch geprägten Italien mit einem Indikationenmodell und in Frankreich, wo Abtreibung grundsätzlich verboten ist, und auch in Spanien, wo die Abtreibung strafrechtlich verboten ist, liegt die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche über den entsprechenden bundesdeutschen Zahlen.
({11})
Dies verdeutlicht, meine Damen und Herren, daß das Mittel des Strafrechts und auch eine Verschärfung des Strafgesetzes nicht geeignet sind, das ungeborene Leben allein ausreichend zu schützen.
({12})
Was wir brauchen - es ist oft gesagt worden - , sind Hilfen für Frauen in Notsituationen. Diese Bundesregierung hat den Frauen mit ihren vielfältigen Maßnahmen bereits sehr geholfen, und sie wird auf diesem Weg fortfahren.
({13})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, geschlechtliche Rollenklischees gehören der Vergangenheit an. Es ist doch wirklich nicht schwierig, dafür Verständnis zu haben, daß viele Frauen heute nicht mehr nur Mutter sein wollen. Frauen haben sich durch die Erweiterung der Bildungs-, Berufs- und Einkommenschancen Lebensperspektiven eröffnet, die sie nicht mehr aufgeben wollen.
({14})
- Frau Unruh, ich kann Ihnen nur sagen: Es ist wirklich blamabel, wie Sie sich hier benehmen.
({15})
- Frau Unruh, ich werbe hier um Verständnis für Frauen. Dieses Verständnis sollten Sie auch aufbringen. Ich werbe auch um Verständnis bei vielen Männern, die sich in ihren Familien einmal umschauen sollten. Ihre Töchter und deren Freundinnen wollen eine gute Berufsausbildung. Viele besuchen die Universität oder erlangen anderweitig eine gute Berufsausbildung. Fragen Sie sie einmal, ob sie diese Ausbildung gemacht haben, um nie berufstätig sein zu können, oder aber ob sie es getan haben, um nach einer eventuellen Familienphase wieder erwerbstätig sein zu können. Frauen wollen beides.
({16})
Wir sollten diesen Wunsch respektieren. Wer dies nicht tut, wird erfahren, daß sich Frauen für den Beruf und gegen Kinder entscheiden.
({17})
Männer und Frauen sollten auch gleichermaßen für die Erziehung ihrer Kinder verantwortlich sein. Wir wollen Wahlfreiheit. Jede Familie soll selbst entscheiden können, wer auch die Kindererziehung übernimmt.
({18})
Hier haben wir niemandem Vorschriften zu machen. Ich füge hinzu: Es ist ein antiquiertes Denken, zu glauben, daß nur die Frauen die Kleinkindererziehung gut bewältigen können. Ich kenne viele Fälle, in denen ein sorgsamer Vater dies genausogut macht.
({19})
Leider erfahren wir allzuoft, daß nur diejenigen Frauen gesellschaftliche Anerkennung finden, die erwerbstätig sind. Ehrenamtliche, karitative und familiale Aufgaben, die überwiegend von Frauen wahrgenommen werden, werden viel zuwenig gewürdigt. Auch hier müssen wir einen Bewußtseinswandel fördern. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich nur noch über den Status der Erwerbsarbeit definieren, verliert ihren humanen Charakter.
Entscheidend ist und bleibt: Wir haben Schluß gemacht mit der rein ideellen Anerkennung der Familie. Wir haben mit der Anerkennung der für die Familie erbrachten Arbeit begonnen. Selbst Herr Lafontaine redet heute von der notwendigen Anerkennung der Familienarbeit. Dann soll er sich doch einmal ansehen, was wir, die CDU/CSU und die FDP, geleistet haben.
({20})
Wir haben den Anfang gemacht mit der Beendigung der Benachteiligung der Frauen in der Rentenversicherung.
({21})
Ihnen wird rentenbegründend und rentensteigernd schon jetzt pro Kind ein Jahr bei der Rente angerechnet.
({22})
Nach der Rentenreform, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD, werden es drei Jahre pro Kind sein für alle diejenigen, die für die Zeit der Kindererziehung aus dem Beruf ausscheiden.
Wir haben Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub für Frauen und Männer eingeführt, alles Dinge, die die SPD, die sich ansonsten ja als so sozial brüstet, nicht zuwege gebracht hat.
({23})
Herr Lafontaine sollte im Saarland auch einmal etwas Konkretes für die Familien und Frauen tun, statt uns durch seine Gleichstellungsbeauftragte mit unverschämter Perfidität zu überziehen,
({24})
indem er sie sagen läßt - hören Sie zu, Herr Vogel; wortwörtlich - ,
({25})
die CDU/CSU betreibe eine schwarz-braune Kumpanei gegen die Frauen. Ich dachte, es wäre jetzt endlich Schluß, den politischen Gegner durch falsche Parallelen zur NS-Gewaltherrschaft zu denunzieren.
({26})
Hilfestellungen bedürfen diejenigen Frauen, die ihre Berufstätigkeit wegen familialer Pflichten unterbrechen und nachher wieder in das Berufsleben zurückkehren möchten. Schon heute unterbricht etwa die Hälfte aller erwerbstätigen Frauen den Beruf wegen der Erziehung und Betreuung von Kindern. Schon seit einigen Jahren kehren jährlich 300 000 Frauen, die sich einige Zeit ausschließlich der Familie gewidmet haben, auf den Arbeitsmarkt zurück. Der Anteil der Frauen, die den Beruf auf Dauer aufgegeben haben, nimmt ständig ab. Der Wiedereinstieg von Frauen ins Berufsleben ist mit vielfältigen Schwierigkeiten verbunden.
Besonders große Schwierigkeiten haben diejenigen Frauen, die auf Grund wirtschaftlicher Notwendigkeiten schnell Arbeit finden müssen. Zumeist sind das jüngere und ledige bzw. alleinerziehende Frauen. Untersuchungen zeigen, daß ca. ein Viertel derjenigen Frauen, die aus unteren Einkommensschichten kommen, zum Lebensunterhalt beitragen bzw. sich den Lebensunterhalt verdienen müssen.
Hauptschwierigkeit bei der Rückkehr von Frauen in das Berufsleben nach der Familienphase sind fehlende Arbeitsplätze. In einer jüngsten Untersuchung der Forschungseinrichtung der Bundesanstalt für Arbeit wird festgestellt, daß sechs von zehn Frauen mit Kindern unter 15 Jahren Probleme hatten wegen fehlender Möglichkeiten zu Teilzeitarbeit, zu geringer Flexibilität bei den Arbeitszeiten und einer nicht ausreichenden Anzahl von Kinderbetreuungsmöglichkeiten.
Besondere Probleme haben diejenigen Frauen, die bei der Wiedereingliederung eine zu geringe Qualifikation aufweisen. Das korrespondiert auch damit, daß Frauen ohne Berufsausbildung häufiger arbeitslos sind als qualifzierte Frauen. Somit stellt die größte Hürde für die Wiedereingliederung dieser Frauen eine fehlende bzw. unzureichende Berufsausbildung dar.
Wie kann geholfen werden? Zunächst einmal ist wichtig, daß während der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit Verbindungen und Kontakte zum Betrieb oder zur Arbeitsstätte beibehalten werden.
({27})
Solche Verbindungen sind für die spätere Wiedereingliederung sehr hilfreich. Das bestätigen Analysen, nach denen denjenigen Frauen, die während der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit Kontakte zur Berufswelt aufrechterhalten hatten, eine Wiedereingliederung leichter fällt. Ich denke da auch an Aushilfsarbeiten oder Urlaubsvertretungen.
Daneben sind Weiterbildungsmaßnahmen für arbeitssuchende Frauen wichtig. Diese wurden von ca. drei Viertel der arbeitssuchenden Frauen als hilfreich betrachtet. Dennoch haben nur 6 % aller Frauen während der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen. Die Diskrepanz rührt daher, daß sich Frauen schwertun, Familienphase und Weiterbildungsmaßnahmen miteinander zu verbinden. Frauen müssen aber erkennen, daß sie zur Verbesserung ihrer beruflichen Qualifizierung auch während der Nichterwerbstätigkeit etwas tun müssen.
Die bisherigen Probleme der Unvereinbarkeit zwischen der Kinderbetreuung und Berufstätigkeit haben sehr oft dazu geführt, daß Frauen eine berufliche Wiedereingliederung nicht gelungen ist. Die Initiative von Frau Süssmuth, hier Abhilfe zu schaffen, hat dazu geführt, daß sich in einigen Ländern bei den Öffnungszeiten der Kindergärten etwas bewegt hat. Nun sind die Betriebe gefordert. Leider zeigt sich, daß auf der Seite der Tarifpartner das Verständnis für die Familien- und Kinderbedürfnisse der Arbeitnehmerinnen noch sehr unzureichend ist.
Dennoch gibt es auch positive Beispiele. Ich nenne BASF und Bayer, die beide einen ähnlich gestalteten Familienurlaub eingeführt haben. Hierbei ist besonders positiv, daß dabei die Möglichkeit zur Annahme von Weiterbildungschancen ebenso wie von Urlaubsvertretungen besteht. Nach einem einjährigen Dienstjahr können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihre Beschäftigung für ca. sieben Jahre unterbrechen und bekommen eine Wiedereinstiegsgarantie für eine Tätigkeit mit vergleichbarem Arbeitsplatz. So etwas sollte nachgeahmt werden.
({28})
Sowohl durch das Beschäftigungsförderungsgesetz als auch durch das Siebte Gesetz zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes hat die Bundesregierung die berufliche Bildung für Frauen verbessert. So hat sich der Anteil von Frauen in beruflichen Bildungs9370
maßnahmen erhöht. Beitragspflichtig beschäftigte Frauen können ihre Berufstätigkeit pro Kind für fünf Jahre unterbrechen, ohne zuvor erworbene Ansprüche auf finanzielle Förderung von beruflichen Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen zu verlieren. Bei Frauen, die eine Teilzeitarbeit anstreben, zahlt das Arbeitsamt ein Teilunterhaltsgeld, wenn sie an Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, die mindestens zwölf Unterrichtsstunden pro Woche umfassen.
Die Bundesregierung fördert in einem Sonderprogramm mit ca. 30 Millionen DM die Wiedereingliederung von Frauen in das Berufsleben. Wir haben eine Teilzeitbeschäftigungsoffensive für den öffentlichen Dienst gestartet. Auf diesem Weg muß weiter vorangeschritten werden. Rechtliche und praktische Benachteiligungen von Teilzeitarbeit müssen weiter abgebaut werden. Wir haben schon ein Stück erreicht, doch es ist noch nicht genug.
Dringender Handlungsbedarf besteht bei nicht sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. In solchen Arbeitsverhältnissen sind überwiegend Frauen tätig. Hier fehlt es nicht nur an der sozialen Absicherung mit all den bekannten Nachteilen; es wird mitunter sogar noch nicht einmal Unfallschutz für die Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte gewährleistet. Wahrscheinlich werden mit der Einführung des Sozialversicherungsausweises Verbesserungen erreicht werden. Ich bin jedoch der Meinung, daß wir Maßnahmen entwickeln müssen, die zu einer drastischen Reduzierung nicht sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse führen.
Immerhin ist positiv zu vermerken, daß der Anteil der sozialversicherungspflichtig beschäftigten Frauen in Teilzeitarbeitsplätzen von 1,5 Millionen im Jahre 1978 auf 1,9 Millionen im Jahre 1986 gestiegen ist.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir kämpfen ohne ideologische Vorurteile für eine Besserstellung der Frauen in Familie, Beruf und Gesellschaft. Ich weiß, daß es da noch viel zu tun gibt. Aber ich habe schon gesagt: Hätten wir nicht die Hausaufgaben anderer zu erledigen, wären wir schon weiter.
({29})
Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD und von den GRÜNEN, reduzieren Frauenpolitik auf den Geschlechterkampf, über den dann Besserstellungen erreicht werden sollen.
({30})
Dies ist ideologisch verblümter Unsinn. Ohne die Mitwirkung der Männer werden wir nichts erreichen.
Ich bedanke mich.
({31})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Diese Debatte heute morgen ist notwendig, ja sie ist überfällig. Ich denke, der Gesetzgeber schuldet den Frauen - auch den Männern - ein Gleichstellungsgesetz. Wir schulden ihnen bei allem Respekt vor dem Gesetzentwurf der GRÜNEN nicht nur ein Antidiskriminierungsgesetz. Eine Gesellschaft, in der Frauen nicht diskriminiert werden, ist noch lange keine Gesellschaft, in der Frauen gleiche Chancen haben, in der eine gleichberechtigte Teilhabe praktiziert wird.
({0})
Im Mittelpunkt des Gesetzentwurfs der SPD-Fraktion steht nicht nur die Korrektur festgeschriebener Benachteiligungen, sondern die positive Veränderung der konkreten Lebens- und Arbeitsbedingungen der Frauen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich will hinzufügen: Mich enttäuscht an der Debatte heute morgen, daß die Rednerinnen der Koalitionsfraktionen einschließlich Frau Ministerin Lehr im Grunde nahezu mit keinem Wort auf die Gesetzentwürfe eingegangen sind, die zwei Fraktionen dieses Hauses hier vorgelegt haben. Ich denke, das Parlament und die Öffentlichkeit haben doch einen Anspruch darauf, daß man sich damit auch einmal kritisch auseinandersetzt.
({1})
Sie, Frau Ministerin, Sie, Frau Würfel, und Sie, Frau Pack, sagen im Grunde das, was Sie wollen, statt sich einmal konkret mit den praktischen Vorschlägen auseinanderzusetzen, die mit großem Ernst hier vorgetragen worden sind.
Der Staatsrechtler Professor Simitis, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat unsere uneingeschränkte Zustimmung, wenn er sagt:
Mit dem Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt" löst die Verfassung die Auseinandersetzung mit der Situation der Frau aus der allgemeinen Diskriminierungsproblematik heraus und macht aus der Pflicht, Diskriminierung abzuwehren, eine positive Verpflichtung, die Gleichstellung zu realisieren.
Gibt es im Deutschen Bundestag schon Mehrheiten für ein Gleichstellungsgesetz? Das werden wir sehen. Vor allem die Frauen in unserem Land und mehr und mehr Männer werden aufmerksam verfolgen, was der Bundestag dazu beiträgt, daß Frauen und Männer in der täglichen Wirklichkeit gleichberechtigt sind.
Lasssen Sie mich in meinem Beitrag schwerpunktmäßig auf den Bereich der Gleichstellung im öffentlichen Dienst eingehen. Die Bundesrepublik Deutschland ist Dienstherr und Arbeitgeber Hunderttausender von Beschäftigten, von Frauen und Männern. Wer hätte mehr Grund als der Bund selber, der beruflichen Benachteiligung von Frauen ein Ende zu bereiten!
({2})
Dabei wird der öffentliche Dienst bis heute seiner Vorbildfunktion nicht hinreichend gerecht. Zwar stieg der Beschäftigtenanteil von Frauen im öffentlichen Dienst von 26 % im Jahre 1960 auf 40 % im Jahre 1986 an. Doch besagt diese Zahl nur wenig. Das Arbeitsvolumen ist nicht im gleichen Umfang gestiegen, da sich hinter diesen Zahlen häufig genug Teilzeitarbeit verbirgt, wie wir noch hören werden.
Deutlich zeigen es die Zahlen für den höheren Dienst: 1986 betrug der Anteil der Frauen im höheren Dienst nur 8,5 %. Bei den Leitungsaufgaben verringert er sich mit jeder Stufe weiter. Von den etwa 2 000 Referaten der Bundesverwaltung werden zur Zeit weniger als 100 von Frauen geleitet. Vier Frauen - sage und schreibe vier Frauen - befanden sich 1986 im Range einer Unterabteilungsleiterin, gegenüber 300 Männern. Unter den 150 Abteilungsleitern gab es nur eine einzige Frau, und zwar die Leiterin der Abteilung Frauenpolitik im Bundesministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit.
Weil dieser Zustand unhaltbar ist, verpflichtet unser Gesetzentwurf in Art. 1 § 8 den Bund als Arbeitgeber, durch personalpolitische und organisatorische Maßnahmen die berufliche Chancengleichheit der Frauen so lange aktiv und gezielt zu fördern, bis die Benachteiligung von Frauen beseitigt ist. Die Dienststellen des Bundes haben jährlich konkrete Frauenförderpläne aufzustellen. Frauen sind in allen Bereichen, in denen sie unterrepräsentiert sind, bei gleichwertiger Eignung, Befähigung und Leistung bevorzugt zu berücksichtigen. Dies erstreckt sich selbstverständlich auch auf Beförderungen.
Auch im öffentlichen Dienst werden Frauen nicht selten mit folgendem Argumentationsmuster benachteiligt: Der männliche Bewerber habe die bessere Qualifikation gegenüber seiner Mitbewerberin, weil er eine längere Berufserfahrung habe, die nicht durch berufliche Ausfallzeiten wie Schwangerschaft und Kindererziehungszeiten unterbrochen sei. Dies ist eine wirksame, aber sehr unredliche Argumentation, durch die Frauen so häufig benachteiligt werden.
Spezifische, durch Familienarbeit erworbene Erfahrungen und Fähigkeiten können sehr wohl eine besondere Qualifikation darstellen, wenn diese Erfahrungen und Fähigkeiten der jeweiligen beruflichen Tätigkeit dienlich sind. Sie werden viele, viele Beispiele dafür finden können, und zwar selbstverständlich nicht nur im öffentlichen Dienst.
({3})
Weil dies so ist, haben wir es in den Gesetzentwurf der SPD-Fraktion hineingeschrieben. Unser Gesetzentwurf sieht vor, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß in allen Behörden und Dienststellen der Bundesverwaltung Frauen als Gleichstellungsbeauftragte zu bestellen sind. Die Erfahrungen mit Gleichstellungsstellen in einigen Bundesländern und vielen Gemeinden belegen, daß die Berufung einer Gleichstellungsbeauftragten als Ansprech-, Kontroll- und Fachaufsichtsstelle auch in den jeweiligen Dienststellen der Bundesverwaltung zweckmäßig und nötig ist.
Die Bundesregierung wird verpflichtet, dem Bundestag alle zwei Jahre einen Bericht über die Maßnahmen zur Förderung der Frauenbeschäftigung und zur Erhöhung des Frauenanteils innerhalb der Bundesverwaltung sowie über den erreichten Stand der gesellschaftlichen Gleichstellung der Frau vorzulegen. Ich bin davon überzeugt, daß ein Bericht der Bundesregierung über den Stand ihrer Bemühungen in ihrem ureigenen Verantwortungsbereich das besondere Interesse dieses Hauses und der Öffentlichkeit haben wird.
({4})
Meine Damen und Herren, die hier vorgestellten Regelungen müssen selbstverständlich vor unserer Verfassung Bestand haben. Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes enthält ein Diskriminierungsverbot: „Niemand darf wegen seines Geschlechtes ... benachteiligt oder bevorzugt werden." Art. 3 des Grundgesetzes enthält aber auch ein Gleichstellungsgebot. In Abs. 2 heißt es: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt. " Hier begründet das Grundgesetz eine Handlungspflicht des Gesetzgebers. Der Gesetzgeber hat kraft Grundgesetzes den Auftrag, Defizite der Gleichberechtigung in der sozialen Wirklichkeit auszugleichen. Tun wir endlich unsere Pflicht!
({5})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Karwatzki.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Ich möchte zuerst ein Wort zu den Ausführungen der Kollegin Würfel zur Entscheidung des kleinen Parteitages der CSU sagen. Frau Würfel, die Christlich Demokratische Union respektiert die Entscheidung, geltende Regelungen einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Wir haben uns stets mit großem Nachdruck für eine Veränderung des Bewußtseins in der Bevölkerung eingesetzt,
({0})
und wir möchten, daß durch ein Schwangerenberatungsgesetz ein wirksamerer Schutz des ungeborenen Lebens erreicht wird.
({1})
Das Beratungsgesetz behält auch nach den Beschlüssen der Bayerischen Staatsregierung seine Bedeutung, und ich füge hinzu: Dieses erklärte auch gestern der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer für die Bundesregierung.
({2})
Meine Damen und Herren, die Verbesserung der Situation der Frauen in unserer Gesellschaft war von Beginn unserer Regierungszeit an ein wichtiges Anliegen der Union. Wir haben davon nicht nur gesprochen, nein, liebe Kollegin Timm, sondern vieles auf den Weg gebracht, was Sie bis dahin vernachlässigt haben.
({3})
Ich bestreite nicht, daß dabei noch vieles zu tun ist, Herr Kollege Vogel, aber offensichtlich haben manche den Blick für realistische Möglichkeiten verloren.
({4})
Hunderte von Jahren hatten wir ein ganz bestimmtes Frauenleitbild; das kann eben nicht von heute auf morgen vollständig auf den Kopf gestellt werden. Zur Veränderung des Frauenbildes, zur Veränderung der Situation der Frau bedarf es auch sonstiger Verände9372
rungen in der Gesellschaft. Daraus ergeben sich z. B. auch Fragen nach der Zukunft der Familie, nach der Rolle des Mannes und nach der Rolle der Kinder und auch nach dem öffentlichen Bewußtsein überhaupt.
Ziel unserer Frauenpolitik ist es, den Frauen nicht eine bestimmte Rolle aufzudrängen, sondern den tatsächlichen Anliegen und Problemen der Frauen Rechnung zu tragen. Diesen tatsächlichen Anliegen werden wir nicht dadurch gerecht, daß wir Quoten für die berufliche und politische Beteiligung der Frauen vorschreiben.
({5})
Wo liegen eigentlich die Probleme? Mädchen haben heute weitgehend die gleichen Ausbildungschancen; da sind wir uns alle einig. Diese Chancen wollen sie dann auch nutzen, und gerade das Nutzen dieser Chancen ist in der Praxis oft sehr schwierig. Nach Umfragen und Untersuchungen will der größte Teil der Frauen Familien- und Berufstätigkeit entweder zeitgleich oder zeitlich hintereinander verbinden. Die Realisierung dieses Wunsches bereitet in der Praxis vielfach Probleme. Dies betrifft in erster Linie den Mangel an familienfreundlichen Arbeitsplatzbedingungen sowie die Schwierigkeiten beim Wiedereinstieg ins Berufsleben nach Zeiten der Kindererziehung. Nicht wenige stellen deswegen den Wunsch nach Kindern zurück, nicht wenige rackern sich ab, um neben der Familienarbeit einer Erwerbstätigkeit nachgehen zu können. Dies gilt sowohl in den Fällen, wo der zweite Verdienst einfach notwendig ist, wie auch in den Fällen, wo es mehr um Selbstverwirklichung geht.
Deshalb ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit zu den größten Herausforderungen unserer Sozialpolitik geworden.
Bei allen noch vorhandenen Problemen kann ich guten Gewissens behaupten, daß wir auf diesem Weg ein Stück weitergekommen sind: Die Anzahl der Teilzeitarbeitsplätze hat kontinuierlich zugenommen. Mit dem Beschäftigungsförderungsgesetz haben wir Teilzeitarbeit mit Vollzeitarbeit rechtlich gleichgestellt. Die Regelungen im öffentlichen Dienst werden verbessert. Ich begrüße die Bemühungen der Bundesregierung, die Dauer der Beurlaubung und Teilzeitarbeit auszudehnen.
({6})
Es ist aber unbestritten, daß wir noch mehr Teilzeitarbeitsplätze, natürlich für Mann und Frauen, und zwar auf allen Qualifikationsstufen, brauchen. Es stimmt eben nicht, was gelegentlich behauptet wird, daß Frauen in Teilzeitarbeit abgedrängt werden.
({7})
Umfragen bestätigen vielmehr, daß über 80 % der weiblichen Teilzeit-Arbeitnehmer ausdrücklich nur eine Teilzeitarbeit gewünscht haben.
({8})
Ich wünsche mir in dieser Frage mehr Flexibilität und
Phantasie in der Ausgestaltung von Teilzeitarbeit. Es
müssen nicht immer 20 Stunden und Vormittag oder Nachmittag sein. In vielen Betrieben und Behörden wäre eine individuelle Koordination von Familien- und Berufsinteressen besser möglich, als vielfach praktiziert. Ich appelliere deshalb an die Tarifparteien und Arbeitgeber, mehr Teilzeit-Arbeitsplätze mit unterschiedlichem Qualifikationsniveau und flexibler Ausgestaltung zur Verfügung zu stellen.
Wenn über Teilzeitbeschäftigung gesprochen wird, darf natürlich die Frage der geringfügigen Beschäftigung nicht ausgeklammert werden. Wir kennen die damit verbundene Problematik. Unsere Fraktion hat deshalb eine Kommission eingesetzt, um die Auswirkungen dieser Regelung auf Beschäftigte und Arbeitgeber unvoreingenommen zu untersuchen. Die Ergebnisse dieser Arbeit werden die Grundlage für unser weiteres Handeln sein.
Es geht aber nicht nur um die Arbeitszeit. Darüber hinaus ist die Möglichkeit der Rückkehr in der Beruf nach Zeiten der Kindererziehung für die Frauen von großer Bedeutung. Deshalb haben wir mit dem Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub eine Beschäftigungsgarantie verbunden, und deshalb haben wir in den letzten Novellierungen des Arbeitsförderungsgesetzes deutliche Verbesserungen bei den Förderungsmaßnahmen für Einarbeitungs- und Qualifizierungsmaßnahmen für Frauen durchgesetzt.
Angesichts dieser Aktivitäten kann daher niemand bestreiten, daß dies ein außerordentlich bedeutender Schritt hin zu mehr Wahlfreiheit gewesen ist und sich in der Qualität hier etwas positiv verändert hat.
Die Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf ist die tragende Säule unserer Frauenpolitik. Jede Frau soll selber bzw. gemeinsam mit ihrem Partner entscheiden können, ob sie erwerbstätig sein will und ob sie Familie und Beruf miteinander verbinden will.
Daraus leitet sich ab, daß Familienarbeit und Erwerbsarbeit gleichermaßen Anerkennung finden müssen.
({9})
Da jahrzehntelang unter der sozialliberalen Koalition nur die Erwerbstätigkeit der Frau im Vordergrund stand, war diese Wahlfreiheit nicht gegeben.
({10})
Erst mit der Einführung des Erziehungsgeldes und -urlaubs, mit der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung und den Verbesserungen beim Wiedereinstieg sind wir auf dem Weg zu mehr Wahlfreiheit für die Frau ein Stück weitergekommen.
({11})
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Matthäus-Maier?
Es tut mir schrecklich leid, Herr Stücklen; aber ich habe nur noch zwei Minuten Redezeit.
Es wird immer wieder kritisiert, daß die Arbeitslosenquote der Frauen höher als die der Männer ist. Dies hängt natürlich auch mit der zunehmenden
Nachfrage der Frauen nach Arbeitsplätzen zusammen, mit der die Zunahme der Arbeitsplätze nicht Schritt halten konnte.
({0})
- Ich sage und nenne es doch!
Ein weiterer Grund für die höhere Arbeitslosigkeit der Frauen ist natürlich die einseitige Berufswahl, die es aufzubrechen gilt. Auch hier sind wir aktiv geworden. Versuche der Bundesregierung sowie die Bemühungen der Berufsberatung zeigen erste Erfolge. Bei den Frauen mittleren Alters bleibt dieses Problem leider bestehen.
Hinzu kommt das Thema der tatsächlichen Verfügbarkeit. In unserer Tätigkeit habe ich nicht selten festgestellt, daß Frauen zwar arbeitslos gemeldet waren, aber angebotene Arbeit aus den verschiedensten Gründen dann doch nicht angenommen haben. Ich will dies nicht bewerten, aber zur Versachlichung der Diskussion muß dieser Aspekt erwähnt werden.
Unsere Beschäftigungsstrukturen sowie die Zusammensetzung der öffentlichen Gremien zeigen, daß Frauen und Männer nicht auf allen Qualifikationsebenen gleichermaßen vertreten sind; die Ursachen dafür sind sehr unterschiedlich. Aber liegt die Lösung des Problems denn darin, vorzuschreiben, daß alles paritätisch besetzt sein muß?
({1})
Ist es sachgerecht, wenn Sie z. B. die Vergabe von öffentlichen Aufträgen davon abhängig machen, ob ein ausgewogenes Verhältnis von Männern und Frauen in allen Berufen, Bereichen und Funktionen in einem Betrieb vorhanden ist?
({2})
Ich meine, daß wir mit solchen pauschalen Vorschriften weder den Frauen helfen
({3})
noch den realen Gegebenheiten Rechnung tragen.
({4})
Unser Weg ist nicht der, der feste Quoten für Frauen und Männer vorschreibt. Unser Weg ist der der positiven Förderung von Frauen bei gleicher Qualifikation.
Die Union ist nicht die Partei, die - so wie Sie von der Opposition es gern darstellen - in der Frauenpolitik nur für die berühmten "Ks" eintritt. Die Union ist die Partei, die in der Frauenpolitik neue Wege gegangen ist.
({5})
Sie hat die Abkehr von der verhängnisvollen Einseitigkeit in die Wege geleitet, einer Einseitigkeit, die nur die Berufstätigkeit sah. Frau Kollegin Schmidt, Sie haben hier soeben - zu Recht - Ihren Gesetzentwurf dargestellt und geglaubt, feststellen zu können, daß er
auch die nichterwerbstätige Frau berücksichtigt. Wenn Sie die ersten zwei Seiten Ihres Gesetzentwurfs sehen, dann müssen Sie zu der festen Überzeugung kommen, daß Sie nach wie vor das Lied der außerhäuslich erwerbstätigen Frau singen.
({6})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beck-Oberdorf.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mich beschleicht zunehmend das Gefühl, daß wir Frauen uns selbst eine Falle aufstellen, wenn wir immer wieder die Debatte um die Vereinbarkeit von Erwerbsleben mit Familie anstrengen und diese Debatte damit zu unserem Thema machen. Wirklich Terrain gewonnen haben wir erst, wenn jeder Mann Erwerbstätigkeit und die Strukturen in der Erwerbstätigkeit unter dem Gesichtspunkt betrachtet: Wie kann ich das denn mit meiner Familie unter einen Hut bringen: mit der Betreuung von Kindern, mit der Pflege von Alten und Angehörigen usw.?
({0})
Im Augenblick verschiebt sich diese Last zuungunsten der Frauen, und wir müssen aufpassen, daß wir daran nicht auch noch mitwirken. Deswegen geht es darum, jede Arbeitszeitdebatte - auch eine Debatte über Arbeitszeiten für Männer - genau unter dem Gesichtspunkt zu führen: Wie sieht es denn mit der Vereinbarkeit von Erwerbstätigkeit und Leben mit Kindern aus?
An Provokationen hinsichtlich der Veränderung des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses hat es in der letzten Zeit ja nicht gefehlt. Norbert Blüm denkt laut über den Neun-Stunden-Tag nach und lockt mit drei arbeitsfreien Tagen im Tausch dafür. Der Reifenkonzern Uniroyal in Aachen treibt es noch toller und fordert die Zwölf-Stunden-Schicht an Samstagen und Sonntagen plus einen Acht-Stunden-Tag obendrauf und will den Rest der Woche freigeben. Herr Haussmann will den Samstag nun endlich wieder zum Regelarbeitstag machen, und der Dienstleistungsabend ist der große Vorstoß für die Rundum-Öffnung des Tages für den Handel. Verlängerung der Maschinenlaufzeiten ist das große Stichwort von Herrn Lafontaine. Wie der Mensch den Rest von sich noch organisiert, mag er selber sehen. Und das heißt dann für Sie: Wahlfreiheit. Wahlfreiheit für Frauen? - Natürlich nicht. Denn selbst wenn nur die Männer in diese Art von Normalarbeitstag gehen, haben Frauen natürlich nicht mehr die Freiheit, zu wählen. Sie sind nämlich die verfügbare Restmasse, die sich um diesen Arbeitstag herumgruppieren muß, damit zu Hause der Laden überhaupt noch läuft.
({1})
Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, warum derlei Vorschläge nicht aus weiblichem Munde kommen? Natürlich, Frauen wissen, daß der sogenannte Normalarbeitstag von ihnen, zumindest wenn Kinder
zu betreuen sind oder etwa ein alter Mensch zu pflegen ist, kaum wahrgenommen werden kann. Acht Stunden Arbeitszeit plus Pausen plus Wegezeit sind gut und gerne zehn bis elf Stunden am Tag. So ein Arbeitstag ist selbst mit einem Quotierungsgesetz für Frauen und eigentlich auch für Männer tatsächlich nicht wahrnehmbar, wenn es zu Hause eine Familie gibt.
({2})
Die einzige Antwort auf die Frage nach der Vereinbarkeit von Erwerbsleben mit Familie heißt also: Der Normalarbeitstag muß verändert werden; er muß verkürzt werden.
({3})
Ich will nun gar nicht bestreiten, daß Sie dieses Problem nicht auch gesehen haben. Sie lösen es aber selbstverständlich mit dem Angebot der Teilzeitarbeit für Frauen und Mütter; der Vollzeitjob bleibt für den Mann. Die Nachteile bleiben natürlich auf seiten der Frauen. Sie haben keine eigenständige materielle Existenzsicherung; sie bleiben unten in der Hierarchie im Betrieb, und bei der Rente sind sie, wenn sie Glück haben, auf dem Sozialhilfeniveau.
Wo liegt also die Lösung für dieses Problem? Ich kann es nur in groben Zügen umreißen. Der Hauptgesichtspunkt ist, daß der Normalarbeitstag für Erziehende und Pflegende verändert, und zwar verkürzt werden muß. Wenn Sie selbst immer betonen, daß das Aufziehen von Kindern eine gesellschaftlich notwendige und wertvolle Aufgabe ist, muß selbstverständlich diese Verkürzung des Normalarbeitstages auch von der öffentlichen Hand finanziert werden; es muß der Lohnausfall finanziert werden, es müssen die Sozialhilfekassen finanziert werden, damit dort keine Lücken entstehen. Das ist der Weg, den man bei der Lösung des Problems gehen muß: Verkürzung des Normalarbeitstages, z. B. vier Stunden Arbeitszeitverkürzung pro Kind, aufgeteilt zwischen beiden Eltern, mit Erstattung des Lohnausfalls. Dann haben wir den Sechs-Stunden-Arbeitstag für beide, und das eröffnet vielleicht eine Chance für die Frauen, ins Erwerbsleben wirklich einen gleichberechtigten Einstieg zu finden.
({4})
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fortschritt ist konkret und Benachteiligung handfest. Deshalb rede ich heute morgen nicht über die Philosophie der Gleichberechtigung, sondern über die praktischen Fortschritte. Es gibt nichts Gutes, außer man tut es. Das ist kein Protokoll der Selbstzufriedenheit. Wir sind nicht am Ziel, aber wir sind in den sieben Jahren ein großes Stück vorangekommen.
({0})
Von 1983 bis 1988 stieg die Zahl der sozialversicherten Beschäftigten um 1,1 Million. Zwei Drittel dieser Beschäftigungsgewinne sind Beschäftigungsgewinne der Frauen. 710 000 mehr beschäftigte Frauen - nie gab es, meine Damen und Herren, seitdem
überhaupt eine Beschäftigungsstatistik geführt wird, einen höheren Frauenerwerbsanteil als heute, im Februar 1989. Das ist doch ein Fortschritt.
({1})
Nun wird versucht, die Sache madig zu machen, und gesagt, das seien alles Teilzeitarbeitsplätze. Erstens sehe ich nicht, wieso Teilzeit weniger wert sein soll.
({2})
- Ich komme gleich dazu. Keine Aufregung; ich komme zu allem. - Von diesen 710 000 mehr beschäftigten Frauen sind 400 000 vollerwerbstätige Frauen, die einen Arbeitsplatz gewonnen haben.
Meine Damen und Herren, lassen Sie doch die Menschen entscheiden, was für jeden einzelnen wertvoller ist: Teilzeit oder Vollerwerbsarbeit. Ich behaupte: Es gibt mehr Vollerwerbstätige, die lieber teilzeitarbeiten wollen, als Teilzeitbeschäftigte, die eigentlich vollerwerbstätig werden wollen.
({3})
Wer das bezweifelt, dem kann ich das mit Zahlen sagen: 2,5 Millionen Vollerwerbstätige wünschen eigentlich Teilzeitarbeit und erhalten sie nicht. - Das ist das Ergebnis einer Untersuchung der Hans-Böckler-Stiftung; sie muß bei Ihnen hohe Glaubwürdigkeit haben. - Nur 16 % der Teilzeitbeschäftigten wünschen Vollerwerbstätigkeit. Meine Empfehlung an uns Politiker wäre: Schminken wir uns doch die Vormundschaft ab! Laßt doch jeden Menschen selber über sein Arbeitszeitprogramm entscheidend!
({4})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte.
Herr Blüm, wenn das mit dem Wunsch nach Teilzeitarbeit so ist - was stimmt - und wenn wir diesem Wunsch dazu verhelfen wollen, Realität zu werden - was ich auch begrüße -, wäre es dann nicht an der Zeit, daß Sie endlich die Teilzeitarbeit arbeitsrechtlich und versicherungsrechtlich so absichern, daß es nicht mit einem großen Risiko verbunden ist, Teilzeitarbeit zu verrichten?
({0})
Verehrte Frau Kollegin, ich bin Ihnen für die Frage deshalb dankbar, weil sie mir Gelegenheit gibt festzuhalten, daß im Beschäftigungsförderungsgesetz die Teilzeitarbeit zum erstenmal arbeitsrechtlich der Vollerwerbstätigkeit gleichgestellt worden ist.
({0})
- Ihr Gesichtsausdruck beweist: Sie haben das nicht
gewußt. Deshalb müssen wir - das sage ich wieder an
die Adresse der Koalition - unsere Erfolge viel besser darstellen.
({1})
Selbst Frau Matthäus-Maier hat das nicht gewußt.
({2})
In einem Punkte stimme ich Ihnen, Frau MatthäusMaier, zu: Das Problem der geringfügigen Beschäftigungen ist noch nicht gelöst. Das ist ein Schlupfloch, durch das sich die Teilzeitarbeit um die Sozialstaatspflichten herumgemogelt.
({3})
Nur werden Sie zugeben: Das Problem ist schwer zu lösen. Das geht nicht mit drei Sätzen.
({4})
- Ich halte es für lösungsbedürftig, ganz einfach damit die Teilzeitarbeit nicht in den Verdacht gerät, sie sei nur ein modernes Mittel, Sozialstaatspflichten zu umgehen. Ich füge aber hinzu: Das Problem ist schwer zu lösen, und es ist wahrscheinlich auch nicht perfekt zu lösen, wenn man Mischformen zwischen ehrenamtlicher Arbeit und beruflicher Arbeit nicht töten will, was Sie und ich sicherlich nicht wollen. Ich halte aber das Problem um der Teilzeitarbeit und ihrer Reputation willen und um des Schutzes der Betroffenen willen für lösungsbedürftig.
Lassen Sie mich zur Teilzeitarbeit noch etwas sagen: Ich sehe in ihr auch eine große Chance, daß wir Arbeit nach Maß anbieten. Mein Gott, ist nicht die industrielle Arbeitsform sehr stur? Haben wir nicht eigentlich seit 200 Jahren eine Arbeitszeit, die im Grunde nur die Alternative „ganz hinein oder ganz heraus" zuläßt? Könnte die Teilzeitarbeit - und zwar nicht nur in der bescheidenen Form der Teilung der Tagesarbeit, sondern auch in der Form, daß über Monate und Jahre geteilt wird - nicht auch eine Chance sein, Lebens- und Arbeitsrhythmus besser miteinander zu kombinieren? Vielleicht hat ein 60jähriger oder eine 60jährige andere Arbeitszeitbedürfnisse als ein 20jähriger. Wäre die Teilzeitarbeit nicht auch eine Chance, Familienarbeit und Erwerbsarbeit besser miteinander zu kombinieren?
Auch hier haben wir ein Angebot geliefert, nämlich die Wiedereingliederung. Das Arbeitsförderungsgesetz bietet größere Wiedereingliederungschancen für jene Frauen, die Kinder erzogen haben, und erhält den Anspruch auf Unterhaltsgeld aufrecht. Für diese Frauen, die nach der Erziehungsarbeit wieder zurückkehren wollen, haben wir nicht nur Modelle in Blaupausenform angeboten, sondern Rechtsansprüche geschaffen. Meine Damen und Herren von der SPD, bei den Blaupausen sind Sie besser; das weiß ich. Wir aber machen das konkrete Angebot, daß man Teilzeitarbeit und Bildung verbindet, um eine sachte Rückkehr zu ermöglichen.
Beim Einarbeitungszuschuß werden jene Arbeitnehmer besonders gefördert, die nach Zeiten der Kindererziehung wieder eine Arbeit aufnehmen wollen. Wir haben auch - was in dieser Debatte über Erwerbstätigkeit möglicherweise zu kurz kommt - den
Zugang der Frauen zu selbständigen Existenzen gefördert. Mit Hilfe des Eigenkapitalhilfeprogramms des Bundes und des ERP-Programms von 1983 sind seit 1983 bis 1988 21 000 Frauen selbständig geworden. Selbständig sind Frauen immer; ich meine jetzt die wirtschaftlich selbständige Existenz. Das hat uns 1,4 Milliarden gekostet.
Jetzt will ich noch etwas vortragen, auch wenn es das Selbstbewußtsein der Männer beschädigen sollte: Die Abbrecherquoten zeigen, daß die Erfolgsquote bei den Frauen höher ist als bei den Männern. Das zeigt, daß den Frauen eine gewisse Hartnäckigkeit im Durchsetzungsvermögen offenbar nicht abgeht. Ich sage das nicht neidisch, sondern um Klischees zu zerstören. Beispielsweise liegt die Zahl der Abbrecher, derjenigen, die nicht ans Ziel gekommen sind, im Handwerk bei den Männern bei 3,3 % und bei den Frauen bei 1,8 %. Im Einzelhandel sind es bei den Männern 7,5 %, bei den Frauen 7 %.
Wir haben diese Brücke zur Selbständigkeit, zur selbständigen wirtschaftlichen Existenz auch im Arbeitsförderungsgesetz gestärkt. 7 000 Frauen haben den neuen § 55 a genutzt, sie haben nämlich mit Hilfe des Überbrückungsgeldes den Weg aus der Arbeitslosigkeit in die Selbständigkeit begangen. Ich gebe zu, meine Damen und Herren, das sind alles keine großspurigen Programme, bei denen man sich in Begeisterung redet. Aber es sind handfeste Hilfen.
({5})
Ich ziehe die handfeste Hilfe den ganzen Blaupausenprogrammen vor. Ich finde, es kommt immer darauf an, Schritt für Schritt voranzukommen.
Auch in der beruflichen Qualifikation kommen wir voran, sind aber noch lange nicht am Ziel. 1970 waren im dualen System 35 % Mädchen, heute sind es 42 %. 1982 waren 84 000 Frauen - merken Sie sich die Jahreszahl 1982 - in Weiterbildungsmaßnahmen der Bundesanstalt; 1988 waren es rund 204 000.
Ich will zu dem Thema Erwerbsarbeit nur so viel sagen, ohne meinem Vorsatz untreu zu werden, mich an Konkretes zu halten: Für mich ist Arbeit nicht nur Erwerbsarbeit. Ich halte es für eine Verklemmung, das Thema Emanzipation auf Erwerbsarbeit zu verengen.
({6})
- Wenn es niemand tut, dann können Sie ja klatschen. Dann bitte ich um Ihren Beifall. Dann klatschen Sie doch. Warum ziehen Sie sich den Schuh denn an?
({7})
Ich kenne nichterwerbstätige Frauen, die emanzipierter sind als ihre erwerbstätigen Ehemänner. Insofern, meine ich, sollten wir das Thema nicht auf Erwerbstätigkeit reduzieren.
({8})
- Ja, wenn das allgemeinen Beifall findet. Ich darf doch auch einmal etwas sagen, dem alle zustimmen.
Zur Gesundheitsreform. Ich will zu ein paar Punkten Stellung nehmen. Es geht um ganz handfeste Sozialpolitik. Bei der - zu Unrecht - so viel gescholtenen Gesundheitsreform ist in der öffentlichen Diskussion ganz untergegangen, daß sie die Stellung der Frauen stärkt, daß beispielsweise die Familienhilfe in der Krankenversicherung nicht mehr vom Mann auf die Frau abgeleitet wird, sondern daß die Frau als mitversicherte Ehefrau eine originäre Rechtsbeziehung zu ihrer Krankenkasse hat, daß sie nicht einfach nur der Beiwagen des Mannes ist, sondern direkte Rechtsbeziehungen hat.
({9})
Unterschätzt werden auch die Verbesserungen der Stellung der Alleinerziehenden.
({10})
Das Kind ist bei dem versichert, der es erzieht. In der Vergangenheit war es so: Es war bei demjenigen versichert, der das höhere Einkommen hatte, was in vielen Fällen ein Streitfall war und was in vielen Fällen Querelen geschaffen hat. Das ist kein spektakuläres Programm der Verbesserung; aber die Welt kommt Schritt für Schritt voran. Denjenigen, die unter dem Ärger dieser Querelen gelitten haben, haben wir Hilfe verschafft.
Ich glaube auch, das Thema Pflege ist zweifellos kein Frauenthema. Es geht um Hilfe für Männer und Frauen, die als Pflegende tätig sind. Die Hilfe kommt aber zum großen Teil den Frauen zugute. Ist es kein Fortschritt, daß sie unterstützt werden, daß wir das in der Krankenversicherung geschafft haben?
({11})
- Sie haben ja dagegen gestimmt. Deshalb werden Sie dem jetzt nicht Beifall spenden. Diejenigen aber, die das Geld bekommen, werden uns und nicht Ihnen Beifall spenden, weil sie Verbesserungen erhalten.
({12})
Zu den Renten. Wir haben die Gleichberechtigung im Rentenrecht durchgesetzt. Sie haben sieben Jahre darüber geredet.
({13})
Bei der Hinterbliebenenrente, bei der Gleichstellung von Männern und Frauen im Rentenrecht, war unser Vorschlag in Übereinstimmung mit dem DGB, Ihr Vorschlag - ich sehe Frau Fuchs - in Übereinstimmung mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände.
({14})
- Ich habe das ja nur festgestellt, damit Sie in Ihrem Angriff auf mich etwas zurückhaltender werden.
Wir haben die Wartezeit gesenkt und damit vielen Frauen überhaupt einen Rentenanspruch verschafft, die vorher vor der Tür stehengeblieben waren.
Zu den Kindererziehungszeiten. Frau Schmidt, als Sie heute morgen gesagt haben: „Wir machen, wir machen, wir machen" , da habe ich daran gedacht, daß Sie 13 Jahre lang bei Kindererziehungszeiten etwas gemacht und gemacht und gemacht, aber sie nie wirklich durchgesetzt haben.
({15})
Wir haben Kindererziehungszeiten durchgesetzt.
({16})
In der Opposition haben Sie wenigstens die Entschuldigung, daß Sie nicht die Mehrheit haben. Sie hatten aber 13 Jahre lang die Mehrheit und haben keine Kindererziehungsjahre durchgesetzt.
({17})
Sie können ja darüber klagen, es sei nicht nach Ihrem Wunsch.
Bis 1990 werden rund 6,2 Millionen Mütter in den Genuß von Kindererziehungszeiten kommen. Das ist ein handfestes Programm für die Frauen, nicht eine Blaupausenpolitik. Damit können Sie Ihre Brötchen einwickeln, aber nicht die Welt verbessern.
({18})
- Entschuldigung, ich nehme es zurück. Ich empfehle, daß die Vogelschen Aktenordner als Einwickelpapier benutzt werden, wenn das umweltschutzmäßig besser ist.
({19})
Ich glaube, daß wir gemeinsam bei der jetzt bevorstehenden Rentenreform wichtige Beiträge liefern können, um die Benachteiligungen von Frauen im Rentenrecht zu beseitigen. Dabei gebe ich der Rente nicht die Daueraufgabe, Ungerechtigkeiten in der Lohnfindung sozusagen als Ersatzmann auszugleichen. Das Übel muß an der Wurzel gepackt werden. Noch immer werden Frauen im Arbeitsleben benachteiligt; sie erhalten zu geringe Löhne. Eine Tarifpolitik, die gerade die Frauenlohnarbeitsgruppen an das untere Ende der Skala bringt, ist eine Tarifpolitik der Diskriminierungen.
Deshalb ergeht von mir der Aufruf an die Tarifpartner,
({20})
- wir haben Tarifautonomie und keine Kommandowirtschaft -, die Diskriminierung der Frauen zu beseitigen.
({21})
Ich möchte sozusagen außerhalb dessen, was ich zum heutigen Thema sagen wollte, noch etwas hinzufügen und damit auf den Anfang der Debatte zurückkommen, als Frau Krieger gesprochen hat. Ich will heute nicht zum Schwangerschaftsabbruch sprechen. Aber es hat mich betroffen gemacht, daß Sie, Frau Krieger, Abgeordnete des Deutschen Bundestages,
hier von diesem Pult sich eines Rechtsbruches gerühmt haben.
({22})
- Nein, ich spreche nicht zum Thema Schwangerschaftsabbruch. Ich habe Sie so verstanden, Frau Krieger. Wenn ich Sie mißverstanden habe, klären Sie das. Ich habe Sie so verstanden.
({23})
Ich will nur eins sagen: Dies ist das Parlament, in dem Recht gesetzt wird. Wer ein anderes Recht haben will, muß neue Mehrheiten schaffen, muß um das Recht kämpfen. Aber der Kampf um das Recht kann nicht so geführt werden, daß man Recht lächerlich macht. Damit würde nicht nur - ich benutze das Wort nicht inflationär - die Würde des Hauses beschädigt, sondern auch die Würde des Rechtsstaates, in dem Veränderungen durch Mehrheiten beschlossen werden.
Meine Damen und Herren, ich lade uns ein - Männer und Frauen und beide Seiten zusammen -, gemeinsam für die Gleichberechtigung der Frauen zu kämpfen, denn noch immer werden sie benachteiligt. Noch immer werden sie im Arbeitsleben benachteiligt, noch immer haben sie in unserem beruflichen Bildungssystem Nachteile, noch immer wird Ihnen Aufstieg versperrt.
({24})
Nicht alles ist mit Recht zu lösen: Mentalitäten stehen im Weg, beispielsweise die Mentalität, daß manche Männer glauben, es sei unter ihrer Würde, wenn eine Frau ihnen vorgesetzt wäre. Dies halte ich für alten Patriarchalismus, den wir Männer uns abgewöhnen müssen.
({25})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Bulmahn.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Auch 40 Jahre nach dem Inkrafttreten des verfassungsrechtlichen Gleichberechtigungsgebotes wird uns Frauen noch immer eine entsprechende Teilhabe an gesellschaftlicher Macht, an Mitgestaltungs- und Mitbestimmungschancen und damit auch an Einfluß auf die gesellschaftliche Entwicklung weitgehend vorenthalten. Noch immer sind Lebenschancen davon abhängig, ob man als Junge oder als Mädchen auf die Welt kommt. Noch immer werden Jungen und Mädchen, Frauen und Männer in geschlechtsspezifische Rollenklischees gepreßt. Noch immer macht es einen gewaltigen Unterschied, wenn eine Frau oder ein Mann dasselbe tun.
Zu den besonders gravierenden, nicht hinnehmbaren Benachteiligungen von Frauen in unserer Gesellschaft gehört die offene, meist aber eher subtile soziale Diskriminierung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Die Chancen, einen Arbeitsplatz zu erhalten und zu behalten, sind für Frauen erheblich schlechter als für Männer. Gilt es für Männer als unverständlich und ehrenrührig, nicht berufstätig zu sein, so sehen wir Frauen uns angesichts der skandalös hohen Massenarbeitslosigkeit einem besonderen Begründungszwang, ja Angriffen und Beschuldigungen ausgesetzt, wenn wir berufstätig werden oder bleiben wollen.
Stehen Entlassungen in Betrieben an, so sind es verheiratete Frauen, die, als Doppelverdienerinnen diffamiert, selten als Doppelarbeiterinnen bezeichnet, am ehesten von der Erwerbslosigkeit bedroht sind, ohne daß jemand auf die Idee käme, die verheirateten Männer in gleicher Weise und aus gleichem Grund in Erwägung zu ziehen.
Bewerben sich Frauen um einen Arbeitsplatz, so werden ihnen in den Vorstellungsgesprächen mit steter Regelmäßigkeit Fragen wie z. B. nach dem Familienstand, der Zahl der Kinder, ob sie allein leben, ob sie verheiratet seien, ob sie Kinder haben wollen, gestellt.
Eine 23jährige medizinisch-technische Assistentin wird in einer Untersuchung zur Situation erwerbsloser Frauen hierzu mit den Worten zitiert:
Ich war so blöd, ihm - dem Arbeitgeber zu sagen, daß ich verlobt bin und irgendwann auch heiraten will. Und dann kam er und sagte, er hätte sich das überlegt: Wenn man heiratet, dann kämen gleich die Kinder. Er wisse ja selbst, wie das war und das könne er sich nicht leisten. Es sei für ihn effektiv zu teuer.
So einfach ist das, meine Herren.
Ich bin sicher, niemand von Ihnen und sicherlich auch Sie nicht, Herr Blüm, haben sich schon einmal in einer ähnlichen Lage befunden und sind danach gefragt worden, wann Sie denn Kinder haben wollten und wie Sie denn die Doppelrolle in Beruf und Familie miteinander vereinbaren könnten.
({0})
Verantwortlich für etwaige Fehlentwicklungen der Kinder sind immer nur die Frauen. Von einer väterlichen Vernachlässigung der Kinder ist allenfalls im Zusammenhang mit unterbliebenen Alimentenzahlungen die Rede. Dabei belegen gerade neuere Forschungsergebnisse die Notwendigkeit enger VaterKind-Beziehungen bereits während der ersten Lebenswochen für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes.
Trotz all dieser Diffamierungen und Anfeindungen, trotz der miserablen Lage auf dem Arbeitsmarkt hält der Trend zu einer höheren Erwerbsbeteiligung der Frauen weiter an. Mittlerweile sind 38,7 % der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik Frauen. Offensichtlich ist die Mehrheit der Frauen nicht länger bereit, auf ein eigenständiges, vom Familienleben unabhängiges Berufsleben zu verzichten, und das zu Recht.
Trotz des vorhandenen leichten Anstiegs der Erwerbstätigkeit insbesondere bei jüngeren Frauen darf allerdings nicht unter den Tisch gekehrt werden, daß
80 % des Beschäftigungszuwachses der vergangenen zehn Jahre auf einer Ausweitung der verschiedenen Teilzeitarbeitsformen beruhen, nicht aber auf einer Schaffung von tatsächlich mehr Vollzeitarbeitsplätzen für Frauen.
({1})
Für zahlreiche Frauen erfüllt sich damit der Wunsch nach eigenständigem Einkommen, einer eigenständigen sozialen Absicherung, nach sozialer und materieller Unabhängigkeit und nach Entscheidungsfreiheit allerdings nur unvollständig oder gar nicht. Frauen sind auf dem Arbeitsmarkt weit überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen.
Die Frauen zugestandenen Arbeitsplätze konzentrieren sich auf die unteren Bereiche der betrieblichen Hierarchie und auf die unteren Lohngruppen. Frauen werden zudem in Teilzeitarbeitsplätze, in ungeschützte Arbeitsplätze, in Arbeitsplätze ohne Kündigungsschutz, ohne soziale Absicherung im Krankheitsfall, bei Arbeitsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit und im Alter abgedrängt.
Das Recht auf Arbeit, meine Damen und Herren, das Recht auf Gleichberechtigung und Chancengleichheit im Arbeitsleben, das Recht auf Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Familie ist aber ein ungeteiltes Recht.
({2})
Es gilt für Frauen und Männer gleichermaßen. Von diesem Zustand sind wir in der Wirklichkeit noch weit entfernt.
Obwohl Frauen in einem deutlich geringeren Maße als Männer am Erwerbsleben teilnehmen, stellen sie mit 46,1 % fast die Hälfte der Arbeitslosen. Jeder 13. Mann, aber jede 10. Frau ist arbeitslos. Dabei spiegelt die amtliche Statistik das erschreckende Maß der Frauenarbeitslosigkeit nur unzureichend wider, da sie nur diejenigen erfaßt, die sich offiziell arbeitslos gemeldet haben. Außerdem werden neuerdings arbeitslose Frauen und Männer, die keine Leistungen vom Arbeitsamt erhalten und sich drei Monate nicht mehr beim Arbeitsamt gemeldet haben, schlicht und einfach aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen.
Legt man die jüngsten Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg zugrunde, so gibt es neben den rund 1,3 Millionen registrierten arbeitslosen Frauen alleine unter der deutschen Bevölkerung weitere 700 000 Frauen, die sich in den vergangenen zwölf Monaten öfter als viermal um Arbeit bemüht haben. Das heißt, meine Damen und Herren: Es gibt in der Bundesrepublik mindestens 2 Millionen arbeitslose Frauen.
Frauen sind aber nicht nur überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit betroffen, sie sind zugleich auch länger arbeitslos als Männer. In den vergangenen Jahren betrug die durchschnittliche Dauer der Arbeitslosigkeit für Männer 6,3 Monate, für Frauen aber 7,5 Monate. Sie haben weniger Chancen, wieder in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, und müssen sich mit deutlich niedrigeren Leistungen des Arbeitsamtes zufrieden geben.
In welch hohem Ausmaß die Arbeitslosigkeit von Frauen durch ihre Geschlechtszugehörigkeit und nicht durch mangelhafte Qualifikation oder mangelnde Erfahrung bestimmt wird, unterstreichen die folgenden Angaben. Lag die Arbeitslosenquote für männliche Hochschulabsolventen bei 4,3 %, so lag sie für weibliche Absolventinnen mit 8,3 % nahezu doppelt so hoch. Fachhochschulabsolventen hatten eine Arbeitslosenquote von 2,8 %, Fachhochschulabsolventinnen von 8,6 %. Sicherlich spielt die Fachrichtung bei diesen großen Unterschieden eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aber auch Ingenieurinnen und Naturwissenschaftlerinnen sind in einem erheblich größeren Maße von Arbeitslosigkeit betroffen als ihre männlichen Kollegen. Entsprechendes gilt auch für Facharbeiter und Facharbeiterinnen sowie für Absolventen und Absolventinnen in einem gewerblichtechnischen Lehrberuf. 41)/0 der Männer, aber sage und schreibe 16 % der Frauen waren nach Abschluß der Ausbildung in diesen Bereichen von Arbeitslosigkeit betroffen.
({3})
Das ist die Wahlfreiheit, von der Sie hier immer sprechen.
({4})
Die jährliche Arbeitsmarktanalyse der Bundesanstalt für Arbeit stellt diese Fakten und Zusammenhänge nur unzureichend dar. Sie werden meist nur beiläufig erwähnt, müssen mühselig aus den statistischen Übersichten des Anhangs erschlossen werden oder fehlen völlig. Eine differenzierte kontinuierliche Berichterstattung über Umfang, Ursachen und Verlauf der Frauenarbeitslosigkeit ist aber Voraussetzung für die frühzeitige Erkennung von zukünftigen Beschäftigungsperspektiven für Frauen, für die gezielte Entwicklung von tragfähigen Strategien einer gezielten Arbeitsmarktpolitik für Frauen. Diesem Ziel dient der von meiner Fraktion eingebrachte Antrag zur Analyse und Berichterstattung über Frauenarbeitslosigkeit.
Zwei Millionen arbeitslose Frauen in unserem Land sind eine niederschmetternde Bilanz Ihrer Wirtschafts- und Sozialpolitik, meine Damen und Herren
von der Regierungsbank.
({5})
Mit Sonntagsreden und flotten Sprüchen, wie wir sie heute wieder zigmal gehört haben, werden sich diese Frauen nicht zufrieden geben.
({6})
Statt den Frauen Beschäftigungsperspektiven zu verschaffen, die strukturelle Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt tatsächlich abzubauen, und eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, haben Sie die Mittel für die Qualifizierung von arbeitslosen Frauen und Männern drastisch zusammengestrichen
({7})
und preisen die Errungenschaften flexibilisierter und
befristeter Arbeitsverhältnisse und deren besondere
Vorteile für Frauen und Familien. Dies, meine Damen
und Herren, ist kein Beitrag zum Abbau von Massenarbeitslosigkeit
({8})
und auch kein Beitrag zur Frauenförderung. Dies ist ein Beitrag zum Abbau von arbeits- und sozialrechtlichen Schutzbestimmungen.
({9})
Rund zwei Millionen Bundesbürger dürfen inzwischen diesen ungeschützten Beschäftigungsverhältnissen nachgehen. Alle Risiken werden hierbei auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen selbst abgeladen. Das ist keine Wahlfreiheit.
({10})
Auch Jobsharing oder KAPOVAZ bringen drastische Eingriffe in die persönliche und familiäre Zeitplanung mit sich. Flexibilisierung bedeutet hier eben nicht die Einflußnahme auf die gewünschte Arbeitszeit, sondern das bedingungslose Zur-Verfügung-Stehen.
({11})
Meine Damen und Herren, wenn wir derartige Arbeitsbedingungen weiter fördern und zulassen, verkommt die Familie zum Schichtbetrieb,
({12})
werden Arbeitnehmerinnen in einer geradezu schamlosen Art und Weise entwürdigt und entrechtet. Sie verlieren über diese Aspekte der Teilzeitarbeit kein Wort in Ihrer Antwort auf unsere Anfrage zu den Problemen der beruflichen Eingliederung. Sie verlieren auch kein Wort darüber, daß zwei Drittel aller Teilzeitbeschäftigten einen Vollzeitarbeitsplatz wollen,
({13})
diesen aber aus betrieblichen Gründen nicht bekommen oder ihn aus familiären Verpflichtungen nicht besetzen können, weil es keine Kindergärten oder Ganztagsschulen in erreichbarer Nähe gibt.
Meine Damen und Herren, die Zukunft der Frauenarbeit hängt entscheidend von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ab, von dem Willen der Männer, endlich auch ihren Anteil am Windelwaschen, Kochen und Putzen zu leisten, und von gesetzlichen Vorgaben. Wir brauchen eine Politik, die Männern und Frauen langfristig existenzsichernde Beschäftigungsmöglichkeiten bietet, eine Politik, die ein gesellschaftliches Klima schafft, in dem Familien- und Erwerbsarbeit zur selbstverständlichen Lebensplanung von Männern und Frauen gehören.
({14})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Walz.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Vor allem jüngere Frauen haben sich in ihrer Lebensgestaltung dem Zugriff und damit der Etikettierung durch die Politik entzogen. Es gibt immer mehr die Frau, die zu Hause und im Beruf ist. Und wir Politiker sollten uns davor hüten, je nach ideologischer Ausrichtung mit den angeblichen Interessen der einen oder anderen Klientel zu hantieren. Einiges von dem, was ich heute morgen gehört habe, hat mich peinlich berührt. Ich nehme an, daß es die Frauen draußen außerhalb dieser Festung auch peinlich berührt hat.
({0})
Wir haben heute von einem Bewußtsein der Frauen auszugehen, wonach Beruf und Familie nicht mehr Gegensätze sind. Wir haben von einem Selbstverständnis der Frauen auszugehen, das auf bessere Aus- und Fortbildung gründet und auf der Erkenntnis, daß die Arbeit von Frauen, egal ob im Beruf oder in der Familie geleistet, gleichwertig und unentbehrlich ist. Und wir müssen zur Kenntnis nehmen, daß Frauen ihr Leben und seine Phasen selbst planen wollen.
({1})
Dabei hat sich gezeigt, daß das traditionelle Entweder-Oder einem Sowohl-Als-auch gewichen ist; denn nur so kann der Wunsch nach Kindern erfüllt und die Verbindung zum Beruf aufrechterhalten werden.
Meine Damen und Herren, die Einstellung zum Beruf ist dabei nicht mehr nur allein vom Broterwerb, oder vom Zubrotverdienen diktiert, sondern auch vom Wunsche, Wissen und Können einzusetzen. Vor einigen Jahren hieß das noch spöttisch anklagend oder auch trotzig oder trutzig: Die Frauen wollen sich selbstverwirklichen. Dabei hat es sich eigentlich immer nur um ein zutiefst menschliches Bedürfnis gehandelt, nämlich um Selbstbehauptung und Selbstbestätigung.
({2})
Das, meine Damen und Herren, sind natürlich die Früchte vom Baume der Erkenntnis, die da lautet: Männer und Frauen sind gleich, und Männer und Frauen haben gleich viel oder gleich wenig Intelligenz. Aber mit diesem Sündenfall war die Welt, die häusliche Welt, vieler konservativer Männer natürlich nicht mehr in Ordnung. Aber, meine Damen und Herren, ist sie denn so in Unordnung geraten? Profitiert nicht die Gesellschaft in erheblichem Umfang und in manchen Bereichen sogar unerläßlich von der außerhäuslichen Tätigkeit der Frau?
Wie steht es nun mit der Bewältigung von Kindererziehung und Beruf? Die Lösung, die viele Frauen suchen, heißt ganz offensichtlich Teilzeitarbeit. Was sie wünschen, ist neuerdings sogar mehr Flexibilisierung auf diesem Gebiet. Sie, meine lieben Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sprechen dabei von einem Abdrängen in Teilzeitarbeit. Ich weiß nicht, wohin Sie schauen und worauf Sie hören; denn das geht ganz offensichtlich an der Realität vorbei. Wie anders wäre sonst die große Nachfrage nach Teilzeitarbeitsplätzen eigentlich zu erklären, die im Rahmen einer Untersuchung bei Teilzeitbeschäftigten ausdrücklich bestätigt wurde? Zu vermuten ist außerdem, daß bei einem entsprechenden Angebot sogar noch mehr Frauen Teilzeitbeschäftigungen aufnehmen würden.
Allerdings - und das ist anklagend zu sagen - sollten die Unternehmer mehr Teilzeitarbeitsplätze anbieten. Sie sollten Vorurteile aufgeben.
({3})
Und sie sollten vor allen Dingen diese Teilzeitarbeitsplätze vormittags anbieten.
({4})
Keiner Frau nützt ein Teilzeitarbeitsplatz nachmittags, wenn die Kinderbetreuung nicht gesichert ist. Die Kinderbetreuung, meine Damen und Herren, ist der Dreh- und Angelpunkt bei der ganzen Geschichte. Hier ist massive Kritik an den Ländern, aber auch an den Kommunen zu üben. Sie wollen nicht die Ganztagesschulen einrichten, sie wollen nicht die Schülerhorte verbessern im Hinblick auf ein besseres pädagogisches Angebot. Dies kostet Geld, und gelegentlich steht auch eine ideologische Barriere dagegen.
({5})
Wie sieht es nun mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen aus, und wie ernst nehmen wir dieses Selbstbestimmungsrecht im Hinblick auf das SowohlAls-auch? Die Antwort der Regierung auf Fragen der SPD liefert einige interessante Hinweise darauf, was Wirklichkeit und was auch Wunschdenken ist.
Tatsache ist: Die Erwerbstätigkeit der Frauen ist gestiegen, vor allen Dingen die Erwerbstätigkeit der verheirateten Frauen, und zwar bei den 35- bis 45jährigen. Seit 1980 sind knapp 2 Millionen Frauen nach einer Unterbrechung wieder in den Beruf zurückgekehrt. 1980/81 kehrten 33 % der Frauen nach Beendigung des Mutterschaftsurlaubs in den Beruf zurück; 1984 waren es bereits 44 %.
Meine Damen und Herren, zu verschweigen ist nicht: Viele Frauen sind arbeitslos. Doch sollten wir auch nicht vergessen, daß es bei der Arbeitslosigkeit ein regionales Gefälle gibt, das sowohl auf Männer als auch auf Frauen zutrifft. Wir sollten auch nicht vergessen, welche Ursachen der Frauenarbeitslosigkeit zugrunde liegen. Frauenarbeitslosigkeit ist nicht nur durch das Fehlen von Arbeitsplätzen, sondern durch mangelnde Qualifikationen begründet.
Meine Damen und Herren, diese Zahlen zeigen, daß Frauen - zumindest nach der Geburt des ersten Kindes - versuchen, Beruf und Kindererziehung unter einen Hut zu bringen, häufig in Form von Teilzeitarbeit. Warum aber wollen die Frauen die Verbindung zum Beruf weiterhin aufrechterhalten? Ich denke, Frauen wissen um die Unsicherheit menschlicher Beziehung. Sie wollen die letzten Sicherheiten nicht aufgeben, und die letzte Sicherheit ist nun einmal der eigene Beruf. Davon hängt dann auch häufig die Zahl der Kinder ab. Wenn wir uns ernsthaft über die Bevölkerungsabnahme unterhalten würden, dann würden wir auch darauf stoßen, daß die Ursache, warum das zweite Kind nicht geboren wird, darin liegt, daß keine Kinderbetreuung vorhanden ist.
Meine Damen und Herren, ich habe noch eine Minute Redezeit und möchte in der mir noch verbleibenden Redezeit etwas zur Wiedereingliederung sagen. Wenn die Frauen nach ihrer Familienphase versuchen, wieder in den Beruf zurückzukehren - jede zweite versucht es - , dann trifft sie häufig auf unüberwindbare Barrieren. Sie findet keinen Teilzeitarbeitsplatz bzw. keinen entsprechenden Teilzeitarbeitsplatz. Die Qualifikationen, die sie einmal erworben hat, reichen nicht mehr aus. Die Anforderungsprofile haben sich gewandelt. Die Karawane ist weitergezogen. Falls sie einen Einstieg findet, dann meistens unter der einmal erworbenen Qualifikation, verbunden mit einer schlechteren Bezahlung. Meine Damen und Herren, ich glaube, das macht viele dieser älteren Frauen so bitter und veranlaßt auch viele der jüngeren, ihren Beruf nicht aufzugeben, sondern zu versuchen, Familie und Beruf zu vereinbaren.
Daß es auf diesem Gebiet noch viel zu tun gibt, ist uns allen klar. Daß es dabei nicht nur um eine Aufgabe der öffentlichen Hände geht, sondern auch um eine Aufgabe der Wirtschaft, ist uns allen auch klar. Dort werden zwar Fort- und Weiterbildungsangebote gemacht, vorwiegend für die männlichen Mitarbeiter, ganz wenige für die weiblichen Mitarbeiter, für die ehemaligen überhaupt keine. Ich glaube, wir sollten auch an die Wirtschaft appellieren, mehr für die Rückkehrerinnen zu tun.
({6})
Meine Damen und Herren, es war hier im Hause lange Zeit üblich, daß für Erstreden Glückwünsche ausgesprochen wurden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer ersten Rede, früher als „Jungfernrede" bekannt.
({0})
- Sicher, immer. Wenn ich hier oben sitze, Herr Kollege Vogel, bitte ich, mich immer darauf aufmerksam zu machen.
({1})
Ich möchte gerne gutgemeinte alte Bräuche auch weiterhin pflegen.
Nur, Frau Kollegin, wenn das rote Lämpchen aufleuchtet, dann bedeutet das das Ende der Redezeit.
({2})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Niehuis.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Herren und Damen! Es wurde mehrfach erwähnt, daß Frauen heute beides wollen: Familie und Beruf. Dabei verlassen sie sich nach wie vor auf das sogenannte Drei-Phasen-Modell: Berufstätigkeit - Unterbrechung für die Familie - Rückkehr in den Beruf. Rein theoretisch könnte man sich ja auch auf dieses Modell verlassen, hört man doch überall, wie anerkennenswert, wie wichtig und wie wertvoll die Familienarbeit ist. Doch trotz all dieser Lobeshymnen auf die Frau als Mutter haben Frauen im Laufe ihres Lebens gleich mehrfach Gelegenheit, zu erfahren, wie wenig Familienarbeit in Wirklichkeit zählt.
Nun habe ich heute morgen von Ihnen aus der Union immer wieder gehört, wir kritisierten die ganze Zeit, während doch zu unserer Regierungszeit die Anerkennung der Hausfrauentätigkeit zu kurz gekommen sei. Vielleicht darf ich dazu einmal feststellen, Herr Minister: Zum erstenmal in der Geschichte dieser Republik wurde die Hausfrauentätigkeit in der Rente im Jahre 1977 durch den sogenannten Versorgungsausgleich anerkannt, wonach die nicht erwerbstätige Frau die Hälfte der in der Ehe erworbenen Rente erhält.
({0})
- Ich wollte ja nur einmal gesagt haben, daß vieles von dem, was Sie gesagt haben, nicht stimmt.
Wie wenig Familienarbeit anerkannt wird, erfahren insbesondere diejenigen Frauen, die ihre Berufstätigkeit für die Kinder unterbrochen haben. Sie merken, daß sie durch die Unterbrechung den Anschluß an ihren alten Beruf verpaßt haben. Gleichzeitig müssen sie erfahren, daß die Erfahrungen und Qualifikationen, die sie in der Arbeit für die Familie erworben haben, in der Berufswelt wenig Anerkennung finden. Frauen, die gerne für die Familie da sind, die als Mütter viele gute Entscheidungen für die Familie treffen und getroffen haben, wissen dann nicht, wie sie für sich selbst entscheiden sollen, wie sie in den Beruf zurückkehren können, woher sie die Hilfestellung bekommen. Die gesellschaftliche Anerkennung der Familienarbeit entpuppt sich dann in der Realität sehr schnell als Nachteil, als Benachteiligung.
Das ist eine Situation, in der die Politik aufgefordert ist, diesen Mißstand zu beenden und diesen Frauen zu helfen.
({1})
Frau Ministerin Lehr, Sie haben von dieser Stelle so nett einen Dank an all diese Frauen ausgesprochen. Viel besser wäre es gewesen, Sie würden eine Politik für diese Frauen machen.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat im Sommer 1987 eine öffentliche Anhörung zu diesem Thema durchgeführt und durch die Große Anfrage die Bundesregierung aufgefordert, hier zu handeln. Leider muß ich feststellen, daß das ernsthafte Bemühen der Bundesregierung fehlt, Frauen bei der Rückkehr in den Beruf nach einer Familienphase zu helfen. Das weiß niemand besser als die betroffenen Frauen selbst.
Untersuchungen der Bundesanstalt für Arbeit haben gezeigt, daß Frauen, die in den Beruf zurückkehren wollen, in den 80er Jahren über viel größere Schwierigkeiten und Probleme zu klagen hatten als vor 1980. Die Bundesregierung ist also weit davon entfernt, wirksam zu helfen oder wirksam geholfen zu haben. Das möchte ich an ein paar Punkten deutlich machen.
Aus der Antwort auf unsere Große Anfrage geht hervor, daß seit 1977 22 Modellversuche gefördert wurden, die sich mit den besonderen Problemen von Frauen beschäftigen, die in den Beruf zurückkehren wollen. Dank dieser Modellversuche kann man heute feststellen: Wir haben keinen Erprobungsbedarf mehr. Wir wissen ganz genau, wo die Probleme liegen und wie man Frauen helfen kann.
Und was macht die Bundesregierung? Anstatt nun das, was aus den Modellversuchen herausgekommen ist, in ein Konzept zu gießen, legt sie zusätzlich zu den 22 Modellversuchen in diesem Jahr zwei weitere auf. Das ist nicht in Ordnung.
({2})
Die 2 Millionen Frauen, die in den nächsten Jahren in den Beruf zurückkehren möchten, erwarten von Ihnen nicht, daß Sie eine weitere wissenschaftliche Spielwiese aufmachen, auf der Sie noch einmal das erfinden, was schon zweiundzwanzigmal vorher erfunden wurde. Vielmehr erwarten diese Frauen schlicht und einfach ein Konzept, mit dem ihnen geholfen wird.
({3})
Modellversuche sind kein Konzept und schon längst kein Ersatz für fehlende Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik.
({4})
Um was geht es bei diesen Modellversuchen? Sie wollen drei Jahre lang Möglichkeiten der Beratung erproben, fünf Jahre lang Möglichkeiten der betrieblichen Einarbeitung. Mit diesen beiden Schwerpunkten offenbaren Sie im Grunde Ihre eigene Konzeptionslosigkeit. Zur gleichen Zeit, wo die Arbeitsämter laut Erlaß der Bundesanstalt für Arbeit Frauenbeauftragte gerade zur Information und zur Beratung von Frauen einsetzen wollen, machen Sie für drei Jahre einen Nebenschauplatz auf und wollen das noch einmal erproben. Es wäre doch viel sinnvoller gewesen, wenn Sie die Zeit und das Geld dazu genutzt hätten, dafür zu sorgen, daß eine flächendeckende Beratung für Frauen in den Arbeitsämtern eingerichtet wird.
({5})
Dann hätten nicht nur 200 Frauen etwas davon, die zufällig an einem Modellversuch teilnehmen, sondern dann hätten 2 Millionen Frauen etwas davon, die ganz gerne beraten werden möchten.
Die gleiche Konzeptionslosigkeit offenbart sich in Ihrem fünfjährigen Modellversuch zur Einarbeitung von Frauen in den Betrieben. Da rühmen Sie sich einerseits, § 49 des Arbeitsförderungsgesetzes, nach dem Betrieben Einarbeitungszuschüsse gewährt werden können, auch für Frauen nach der Familienphase geöffnet zu haben.
({6})
Aber andererseits, Herr Blüm, haben Sie doch nicht das gemacht, was Sie eben hier sagten, nämlich die Einarbeitungszuschüsse erhöht, sondern Sie haben genau das Gegenteil gemacht: Sie haben die Einarbeitungszuschüsse von 70 % auf 50 % gekürzt.
({7})
Wer gesetzliche Ansprüche zugunsten von unverbindlichen und befristeten Modellversuchen kürzt, muß sich schlichtweg vorwerfen lassen, mit Modellversuchen die Verschlechterung der gesetzlichen An9382
Sprüche verdecken zu wollen. Das haben die Mütter nicht verdient.
({8})
Wie konzeptionslos das Modellprogramm ist, weiß im übrigen die Frau Ministerin selbst am besten, weil ihr Programm gar nicht abgerufen wird und die Gelder insofern im Moment noch gar nicht gebraucht werden. Gerade weil Sie so konzeptionslos an die Frage der beruflichen Eingliederung von Frauen herangehen, verfallen Sie einem unwirksamen Aktionismus und versäumen dabei, dort tätig zu werden, wo es den Frauen wirklich helfen würde.
Wir alle wissen, daß Frauen dann die größte Chance haben, erfolgreich in den Beruf zurückzukehren, wenn sie ihre Berufstätigkeit nicht allzulange unterbrechen. Das heißt, sie müssen sich dann auf die Rückkehr vorbereiten, wenn die Kinder noch betreuungsbedürftig sind. Die Bundestagspräsidentin selbst schreibt im neuen „Spiegel" über die Situation der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik - ich zitiere - : „Es gibt kein vergleichbares Land mit einem vergleichbar geringen Angebot an außerfamiliärer Betreuung. "
Richtig. Das heißt, rückkehrwilligen Frauen wird es bei uns schwergemacht, Kinderbetreuung zu finden, und private Lösungen sind teuer. Wenn man Frauen mit Familie die Teilnahme beispielsweise an Weiterbildungsveranstaltungen ermöglichen will, muß man ein verstärktes Augenmerk auf die Kinderbetreuung richten oder vermehrt Teilzeitunterricht anbieten. Nach § 45 AFG liegt es im Ermessen der Arbeitsämter, ob Kosten für Kinderbetreuung erstattet werden.
Wer nun allerdings meint, es interessiere die Bundesregierung, ob und wieviel die Arbeitsämter für Kinderbetreuung ausgeben, der irrt sich. Dies wird statistisch überhaupt nicht erfaßt. Dieses mangelnde Interesse an der Situation von Frauen mit Kindern haben die Mütter nicht verdient. Dieses mangelnde Interesse macht sich auch darin bemerkbar, daß Sie schlappe 60 DM pro Monat als Erstattung für Kinderbetreuung vorsehen. Jede Mutter kann Ihnen erzählen, was 60 DM im Monat für Kinderbetreuung wert sind.
({9})
- Wegen der Kürze der Redezeit kann ich nicht immer auf Sie eingehen. Ein paarmal habe ich das ja schon getan.
Eine andere Möglichkeit, Frauen mit Kindern die Teilnahme an beruflicher Fortbildung zu ermöglichen, wäre ein vermehrtes Angebot an Teilzeitunterricht. Aber auch hier mußte die Bundesregierung in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage nach § 44 Abs. 2 b AFG zugeben - Herr Blüm, hören Sie ruhig zu, es geht noch einmal um das AFG; da können Sie etwas besser machen -,
({10})
daß gerade in diesem Bereich wenig Fördermittel ausgegeben werden. Das heißt, genau die Bereiche, die
für Frauen mit Kindern wichtig sind, spielen im
Arbeitsförderungsgesetz eine vollkommen unbedeutende Rolle.
Wen wundert es dann, daß die Teilnahme von, Frauen an beruflichen Bildungsmaßnahmen nach dem AFG 1988 gegenüber 1987 um 5,7 % zurückgegangen ist? Wir brauchen nicht einen Rückgang an Weiterbildung, sondern vermehrte Angebote für Frauen in der Weiterbildung.
({11})
Aus diesem Grunde weise ich auf unseren Entschließungsantrag hin. Sie können ihm ja zustimmen. Ich fordere Sie auf, endlich ein Konzept vorzulegen, das im Zusammenwirken von Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik Frauen hilft, aber auch Männern hilft, sofern sie betroffen sind, nach der Familienphase in den Beruf zurückkehren zu können.
({12})
Frau Ministerin Lehr, lassen Sie mich zum Schluß außerhalb dieses Themas eine Bemerkung machen. Äußerungen von Frau Krieger haben hier immer wieder eine Rolle gespielt. Sie hat sich auf die „Frankfurter Allgemeine Zeitung" bezogen, in der steht, Sie hätten auf einer hessischen Wahlveranstaltung gesagt: Abtreibung ist Mord. Wie ich höre, bestreiten Sie das. Aber es reicht nicht, wenn Sie dieses irgendwann einmal richtigstellen. Es gehört sich dann schon, daß Sie als Ministerin hier herkommen und es an dieser Stelle richtigstellen.
({13})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Hamm-Brücher.
Herr Präsident! Liebe Kollginnen und Kollegen! Erlauben Sie mir, am Ende dieser temperamentvollen, sachkundigen und natürlich auch kontroversen Debatte als eine Parlamentarierin, die von den 70 Jahren Frauenstimmrecht, an die wir uns erinnert haben, 41 Jahre im parlamentarischen Leben steht, ein Wort der dankbaren Erinnerung an die 37 Frauen, die vor genau 70 Jahren in den Reichstag eingezogen sind.
({0})
Ich glaube, wir Frauen haben allen Anlaß, uns darauf zu besinnen, daß es diese Frauen waren, die es uns ermöglicht haben, daß wir heute in so großer Zahl und Vielfalt im Deutschen Bundestag mit einer selbstverständlichen Gleichberechtigung über unsere Probleme debattieren und daß es Männer gibt, die uns sogar zuhören. Dafür möchte ich besonders danken.
Nun ist es mir gelungen, liebe Kolleginnen und Kollegen, zu diesem Ereignis eine Fotografie - das ist jetzt als Fotografie verkleinert; das gibt es als großes Wandbild - von jenen 37 Frauen, die die ersten Reichsabgeordnete waren, und deren Lebensläufe zu beschaffen. Diese reichen von der Blumenarbeiterin und Dissidentin bis zur Akademikerin.
Ich habe mit Frau Süssmuth, die leider jetzt nicht amtieren konnte, was sie sehr bedauert, vereinbart, daß wir im neuen Plenartrakt für dieses großartige Tableau dieser ersten Frauen einen geeigneten Platz finden, auf daß sich alle Frauen, die daran vorübergehen, an die Vorkämpferinnen für die Gleichberechtigung der Frauen erinnern können.
Herzlichen Dank.
({1})
Frau Kollegin Hamm-Brücher, auch der männliche amtierende Präsident ist Ihrem Vorschlag gegenüber sehr aufgeschlossen.
({0})
Ich erteile der Frau Frauenministerin des Landes Schleswig-Holstein das Wort.
Frau Ministerin Böhrk ({1}) ({2}): Herr Präsident! Meine Herren und Damen! 70 Jahre Frauenwahlrecht: Es wird Zeit, daß praktische Schritte passieren. Die meisten von Ihnen haben es bereits festgestellt, die einen mit Freude, die anderen mit einer gewissen Verunsicherung: Im nördlichsten Bundesland ist seit einem dreiviertel Jahr die Zeit des Aufklarens gekommen, auch für Frauen.
({3})
Die Landesregierung Schleswig-Holstein hat sich dazu verpflichtet, in der Frauenpolitik Maßstäbe zu setzen, die deutlich über die bisherige Praxis in Bund und Ländern hinausgehen.
({4})
Ich zitiere genauso wie die Frau Kollegin Lehr aus einer Regierungserklärung, aber aus der von Björn Engholm. Da sind die Ziele der Frauenpolitik ganz anders und viel weiter abgesteckt. Dort heißt es:
Die Gleichstellung der Frauen ist kein politisches Entgegenkommen der Politik an die Frauen, sondern eine historisch überfällige Selbstverständlichkeit. Mit der Ernennung einer Frauenministerin setzen wir ein bundesweites Signal.
({5})
Politik zur Gleichstellung von Männern und Frauen ist für diese
- die schleswig-holsteinische - Regierung politisches Grundprinzip.
Schon diese Sätze machen deutlich, daß es sich hier nicht um Wunschvorstellungen einiger Frauen handelt; es handelt sich vielmehr um einen ganz wichtigen Eckpfeiler emanzipatorischer Politik.
({6})
Erste Resultate sind nicht allein vier Ministerinnen in den Bereichen Bundesangelegenheiten, Kultus, Finanzen und Frauen - darunter eine stellvertretende Ministerpräsidentin - , sondern insbesondere ein Vetorecht der Frauenministerin bei allen Gesetzesvorlagen und -initiativen, die die Belange von Frauen betreffen.
({7})
Für uns ist die Frauenpolitik eine Querschnittsaufgabe. Sie ist kein abgesondertes Spezialthema, sie ist auch nicht auf bestimmte, von Männern zugewiesene Spielwiesen eingegrenzt, schon gar nicht auf Familienpolitik, sondern Frauenpolitik zieht sich durch alle politischen Bereiche mit gleicher Wertigkeit.
({8})
Deshalb wird in Schleswig-Holstein die Frauenministerin frühzeitig an allen Regierungsvorhaben beteiligt, die frauenrelevant sind: beim Personalvertretungsgesetz wie beim Schul- und Hochschulgesetz, wo es um die Quotierung von Gremien geht, bei der Benennung von Ämtern, Gremien und Funktionen, bei der Arbeitsmarktpolitik wie bei der Wirtschaftspolitik.
({9})
Die Stellungnahmen des Landes Schleswig-Holstein im Bundesrat enthalten immer auch den Frauenstandpunkt.
({10})
Die Frauenministerin in Schleswig-Holstein legt auch eigene Gesetzentwürfe vor, bringt ressortübergreifend Initiativen in Gang: zur Frauenförderung im öffentlichen Dienst und in der Wirtschaft, zur Verbesserung der Situation von Frauen im ländlichen Bereich, zur Linderung des Problems der männlichen Gewaltanwendung gegen Frauen und Mädchen. Natürlich bedeutet dies - Frauenpolitik als Querschnittsaufgabe, Frauenpolitik als politisches Prinzip - eine Einschränkung der Entscheidungsmacht der einzelnen Ressorts. Genau das ist die politische Innovation, die Frauenpolitik erst möglich macht.
({11})
Wer also Frauenpolitik auf seine Fahnen schreibt - das Thema putzt ja in diesen Zeiten ganz ungemein -, der muß sich an dem Maßstab messen lassen, wieviel Macht und wieviel Rechte er Frauen zugesteht
({12})
und auch wie viele persönliche Bequemlichkeiten, Vorteile und Denkgewohnheiten er zugunsten von Frauen aufgibt.
Mir scheint, daß diese Auffassung einer Frauenpolitik mit Durchsetzungsvollmacht weder unter Frau Süssmuth noch unter Frau Lehr eine Mehrheit im Bundeskabinett finden konnte, wenn dies überhaupt die Absicht gewesen ist. Aber eines dürfte klar sein: Sie, Frau Lehr, können nicht Rechte von Frauen fordern und durchsetzen, ohne selbst weitgehende Rechte zu haben.
({13})
Es geht nicht an, daß Sie sich wie eine brave Schülerin
bei Herrn Kohl und Herrn Stoltenberg Ihr Taschen9384
Frau Ministerin Böhrk ({14})
geld erbetteln müssen, um aktive Frauenpolitik zu betreiben.
({15})
Es geht nicht an, daß Ihre Rechte aus Anhörungen, Veröffentlichungen, der Förderung kleiner Modellprojekte und bunten Plakatwänden in Bahnhofshallen bestehen.
({16})
- Ganz ruhig!
Das kleine finanzschwache Land Schleswig-Holstein, das sich in einer katastrophalen Finanzsituation befindet,
({17})
hat bei einem Bevölkerungsanteil von 4 °A. der Bundesbevölkerung in drei Jahren 20 Millionen DM für den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen eingestellt. Im Haushalt der Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit finden sich in demselben Zeitraum lediglich 15 Millionen DM für alle Bundesbürgerinnen.
({18})
Um ein entsprechendes Bundesprogramm aufzulegen wie in Schleswig-Holstein wären 500 Millionen DM notwendig. Dieser Vergleich macht deutlich: Was Ihnen, Frau Lehr, von Ihrer Regierung zugestanden wird, das hat nicht annähernd den Umfang eines Trostpflasters. Sie müssen nachhaltig Instrumente einfordern, mit denen eine Politik gestaltet werden kann, die Frauen definitiv hilft, anstatt sie zum Punkt „Verschiedenes" auf der Tagesordnung zu machen.
({19})
Stillesein und Kanzlerfurcht sind die denkbar ungeeignetsten Instrumente zur Verwirklichung frauenpolitischer Ziele.
({20})
Und - das sage ich aus aktuellem Anlaß - auch die Schmollecke ist keine geeignete Startbasis für die Durchsetzung von Frauenbelangen.
({21})
Eines muß für uns doch feststehen: Hier geht es nicht um die Vertretung einer bestimmten Lobby im allgemeinen Prozeß der Politik, sondern es geht um das Ziel einer emanzipierten, einer erwachsenen Gesellschaft von Männern und Frauen.
({22})
Wir müssen endlich aus den Kinderschuhen heraus zu einem entschiedenen Gang in eine Gesellschaft der Gleichberechtigten. Wer glaubt, daß sich dieses Ziel allein mit guten Worten oder der Präsentation wissenschaftlicher Ergebnisse erreichen ließe, der braucht sich nicht zu wundern: Da bleibt außer heißer Luft
({23})
am Ende nur das Gewinnerlächeln der Männer übrig, an deren Machtposition und Politik sich nichts geändert hat.
({24})
Was die Bundesfrauenministerin braucht, ist ein Vetorecht bei allen frauenrelevanten Vorhaben der Regierung.
({25})
Was sie braucht, ist eine entschiedene Machtposition im politischen Gefüge, über die nicht hinweggegangen werden kann. Wenn Sie, Frau Lehr, sich nicht trauen, das im Kabinett oder im Bundestag zur Sprache zu bringen: Ich sehe hier eine ganze Reihe von Frauen und auch Männern aus der SPD-Fraktion und darüber hinaus, die Sie dabei unterstützen werden. Ich möchte Ihnen, Frau Lehr, zu dieser Politik Mut machen, Mut bei der Formulierung und Durchsetzung frauenpolitischer Maßnahmen auch gegen deutliche Widerstände.
Sie müssen jedoch auf der anderen Seite deutlich machen, daß Sie die skizzierten Forderungen verwirklichen wollen. Nichts wäre kontraproduktiver für die Sache der Frauen als eine Taktik des Hinhaltens, der Abwiegelung und des Aussitzens. Nichts wäre schädlicher, als wenn Sie sich in die Rolle einfinden würden, die Ihnen von manchen zugedacht wurde, nämlich die frauenbeschwichtigende Medientünche für einen patriarchalischen Durchmarsch zu liefern.
({26})
Die Zeiten für deutliche Schritte zur tatsächlichen Gleichberechtigung waren noch nie so günstig wie gerade jetzt. Noch nie hat es eine so breite Übereinstimmung von Frauen in zentralen frauenpolitischen Forderungen gegeben. Die Forderung nach Gestaltung der Politik, der Öffentlichkeit, der Wirtschaft nach den Bedürfnissen von Frauen ist längst nicht mehr auf kleine Zirkel und Gruppen beschränkt. Das geht quer durch die Generationen, quer durch die Parteien, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität.
({27})
Wir Frauen sind 52 % der Bevölkerung. Wir brauchen uns nicht mehr auf Trippelschritte einzulassen und nicht mehr mit Lippenbekenntnissen zufriedenzugeben. Wir haben jetzt die Chance, das historische Elend der Benachteiligung von Frauen zu beenden.
Wenn Sie, Frau Lehr, sich als Bundesfrauenministerin diese Anliegen zu eigen machen, können Sie auf unsere volle Unterstützung bauen. Wenn Sie jedoch anfangen, im Schwurbund der Regierungspatriarchen mitzukungeln, dann werden Sie ganz bald erfahren, daß die Solidarität auch unter Frauen ihre Grenze findet,
({28})
Frau Ministerin Böhrk ({29})
nämlich genau dort, wo es gegen unsere, gegen Frauenrechte geht, gleichgültig, ob sie nun von Männern oder von Frauen in Frage gestellt werden.
({30})
Das Vetorecht der Frauenministerin ist die Nagelprobe für ernstgemeinte Frauenpolitik.
({31})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Limbach.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin sehr erstaunt, daß jemand, der wie Sie, Frau Böhrk, gerade erst ein Amt übernommen hat, hier eine Rede hält, ohne auch nur mit einem Wort zu erwhnen, wer vorher in Schleswig-Holstein Maßstäbe für Frauenpolitik gesetzt hat wie die Parlamentarische Staatssekretärin Annemarie Schuster. Ich finde das unkollegial.
({0})
Ich finde dies überhaupt erstaunlich: Wir haben heute eine ganze Reihe von Diskussionsbeiträgen gehört, durch die wir mehr darüber informiert wurden, was man zu tun beabsichtigt, was man tun würde, wenn, und was man eventuell noch machen könnte; das kam insbesondere von Ihnen, Frau Schmidt. Da muß man fragen: Warum habt ihr all diese klugen Einsichten, die ihr hattet, nicht schon umgesetzt, als ihr die Mehrheit hattet?
({1})
- Lieber Herr Vogel, das gilt auch für Sie. ({2})
- Sie belehren uns immer wie ein Oberlehrer. Wir hatten früher einmal Oberlehrer, wir wollen keine mehr.
({3})
Ich hatte heute morgen gehofft, es würde mehr vom Konsens als vom Dissens in der Frauenpolitik aufscheinen. Aber bei vielen Punkten, in denen wir grundsätzlich der Meinung sind, daß Verbesserungen nötig sind - Wiedereintritt in das Erwerbsleben, Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Anerkennung von Arbeit in der Familie für die, die nicht erwerbstätig sein wollen oder können - , hat sich doch deutlich gezeigt, daß der große Dissens darin besteht, daß eben unser Menschenbild und damit unser Frauenbild ein ganz anderes ist.
({4})
- Das ist kein Blödsinn! ({5})
Wir wollen niemandem - auch Ihnen nicht - vorschreiben, wann er, wie er sein Leben - allein oder mit seinem Partner - gestaltet.
({6})
Wir als Politiker haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Rahmenbedingungen geschaffen und verstärkt verbessert werden, die diese freie Wahl auch ermöglichen.
({7})
Unsere Minister, unsere Redner haben hier heute doch gezeigt, daß dies geschehen ist. Natürlich, Sie haben gut reden. Sie sagen: 60 Mark sind zu wenig. Aber 60 Mark sind mehr als null Mark. Sie können auch sagen: Ein Jahr Erziehungszeit in der Rente ist zu wenig. Aber ein Jahr - und später drei Jahre - ist mehr als null Jahre.
({8})
Wir wollen Politik in der richtigen Richtung mit dem richtigen Konzept, aber mit den möglichen Schritten machen. Es gehören nämlich Familienpolitik, Frauenpolitik, Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Sozialpolitik - Sie können auch noch andere Politiken hinzunehmen - zusammen. Nur wenn das im ganzen harmonisch ist, gibt es - so wie das auch nur dann so ist, wenn es zwischen den Menschen harmonisch ist - eine erfolgreiche und funktionsfähige Lösung.
({9})
Wir sind der Auffassung, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Wir wissen allerdings auch, daß alles Menschenwerk unvollkommen ist; deshalb leider auch unser Menschenwerk. Aber wir brauchen uns nicht vorwerfen zu lassen, wir hätten nicht die richtigen Schritte auf dem richtigen Weg getan.
Meine Fraktion und die von uns unterstützte und getragene Regierung haben richtige und wichtige Schritte für die Frauen eingeleitet und werden auf diesem Weg fortfahren.
({10})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Schoppe.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich muß hier noch einmal etwas zu dem Problem der Abtreibung sagen; ich will das hier nicht so stehenlassen. Was sich in den letzten Monaten unter Mönchskutten, unter Kaplanmänteln, unter Papstmänteln an Frauenfeindlichkeit zusammengebraut hat, das muß mit aller Entschiedenheit zurückgewiesen werden.
({0})
Wenn sich Menschen entschließen - es geht ja um mehr als um den Schutz des ungeborenen Lebens -, im Zölibat zu leben, dann ist es nach der Theorie der unterschiedlichen Lebensmodelle ihre Sache, das zu machen,
({1})
und dann sollen sie es machen. Aber wenn sie ihre sexualfeindliche Norm, die daraus erwächst, uns allen aufdrücken wollen, dann ist es vorbei, das wollen wir nicht; das wird hier abgelehnt.
({2})
Und wenn Frauen, wie es heute hier im Bundestag passiert ist, diese frauenfeindliche Argumentation - anstatt mit dem Problem Abtreibung solidarisch umzugehen - auch noch übernehmen und gegen Frauen hier wenden, dann sieht man: mit der Frauenpolitik liegt es noch sehr im argen.
Lassen Sie mich noch auf eines hinweisen: Hier ist so viel von den Frauen und der Abtreibung geredet worden, und wieder ist ein Teil schamhaft verschwiegen worden. Eine Frau hat einmal gesagt - ich zitiere - : „Männer sind wie Pusteblumen. Ihnen sitzt der Samen so locker. "
({3})
Das ist das Problem, das wir kennen. Und die Folgen dieses „Lockersitzens" tragen wir, sei es, daß es eine ungewollte Schwangerschaft ist, sei es, daß es nachher ein Kind ist und wir als Frauen dann 20 Jahre dafür verantwortlich sind. Dieses Problem muß auch besprochen werden, wenn hier über Abtreibung geredet wird.
({4})
Und es muß noch einmal gesagt werden: Es ist mehr als ein Fauxpas, wenn eine Frauenministerin, die hier anfängt, gleich in ihrer ersten Phase davon spricht, daß Abtreibung mit Mord zu tun hat.
({5})
Meine Damen und Herren, es ist aber noch etwas anderes, was mich hier aufregt. Liebe Renate - wo ist sie jetzt? Sie ist nicht da -, wenn ihr hier ankündigt, was ihr alles machen wollt und wie die Maßnahmen aussehen sollen
({6})
- nun wartet doch einmal ab! - , dann muß ich natürlich sagen: Über den Status der Ankündigung seid ihr - einschließlich der Ministerin - noch nicht weit hinausgekommen.
({7})
Das muß man auch der SPD sagen. Wenn es um Kindergartenplätze geht, so sieht die Situation in NRW auch sehr mies aus.
({8})
Ich glaube, die Probleme der Frauenpolitik sind weniger Probleme der einzelnen Parteien. Frauenpolitik hat einfach in allen Parteien keine Priorität. Die Situation, die wir haben, ist, daß wir einige mehr Frauen haben, die in den Parlamenten sitzen; wir haben einige mehr Frauen, die Ministerin geworden sind. Aber über diesen Status sind wir nicht hinausgekommen. Wir haben sehr viele Frauen, die in Armut abrutschen, und dieses Problem haben wir bisher noch nicht in den Griff bekommen,
({9})
auch nicht dort, wo die Sozialdemokraten dran sind. Da gilt es, jetzt noch viel zu tun.
Etwas anders. Ich kann es nicht mehr hören, wenn hier immer von Partnerschaft in der Familie geredet wird. Partnerschaft in der Familie sieht für die meisten Frauen so aus: Der Mann ist der Partner, und die Frau schafft.
({10})
Wo gibt es denn die Männer, die in der Familie mitarbeiten? Das ist das Modell von Partnerschaft, das den Männern sehr gut gefällt; ich sehe sie doch hier lachen.
Jetzt noch ein Problem. Es hat doch überhaupt keinen Zweck - wie es hier immer passiert - , ein Lebensmodell - Erwerbstätigkeit der Frau - gegen ein anderes Lebensmodell - also dieses Drei-PhasenModell: erst einmal Ausbildung, dann Kinder kriegen und zu Hause bleiben und dann, wenn es geht, wieder rein - gegeneinander auszuspielen. Es ist ja völliger Quatsch und Blödsinn. Die Entwicklung, die wir zu verzeichnen haben, ist doch, daß sich die Lebensmodelle der Frauen sehr ausdifferenziert haben, daß es sowohl das eine wie das andere gibt. Wir müssen aufpassen, daß wir nicht Gesetze schaffen, die neue Diskriminierungen mit sich bringen, weil wir bestimmte Lebensmodelle mit diesen Gesetzen eigentlich nicht fassen können.
Im Zusammenhang mit unserem Quotierungsgesetz muß ich Ihnen noch einmal sagen: Sie lügen sich doch eines in die Tasche, wenn Sie glauben, daß die Frauen ohne Quotierung in die Erwerbsarbeit hineinkommen; das sind immer nur wenige, und es sind zu wenige.
({11})
Zu unserem Quotierungsgesetz muß ich selbstkritisch aber auch noch etwas anders sagen, weil es um neue Diskriminierungen gehen könnte. Wir haben uns zu einer multikulturellen Gesellschaft entwickelt, und wenn wir nicht wollen, daß bestimmte Frauen auch durch Frauen diskriminiert werden, müssen wir an diesem Punkt darüber nachdenken, ob wir bei Gleichberechtigung aller Frauen nicht eine zusätzliche Quote für die ausländischen Frauen brauchen, die zu uns gekommen sind und auch qualifizierte Arbeitsplätze haben wollen.
Jetzt noch ein Wort zu Herrn Blüm. Herr Blüm, Ihre Teilzeitgeschichte - und wie sie auch aus dieser Reihe hier diskutiert worden ist - hinkt an einem Punkt, weil Sie nicht genau sagen, welche Teilzeitwünsche die Menschen haben. Tatsächlich habe ich in einer Studie, die aus Berlin kommt, gelesen, daß von den Vollzeiterwerbstätigen Männern 10 % teilzeitarbeiten wollen - wer hätte das gedacht? - , 4 wollen es für ihr ganzes Leben, 6 % wollen es für eine bestimmte Lebensphase. Bei den Frauen, die heute in Vollzeitarbeitsplätzen sind, wollen über 30 % teilzeit-arbeiten. Aber was sie nicht wollen, Herr Blüm: Sie wollen nicht diese schäbigen, unterbezahlten Teilzeitarbeitsplätze haben, die heute Millionen Frauen
haben. Das ist doch das Problem. Es geht um qualifizierte Teilzeitarbeitsplätze. Deswegen kann man nicht immer sagen: Die wollen alle teilzeitarbeiten. - Die wollen qualifiziert teilzeitarbeiten, und sie wollen für bestimmte Lebensphasen teilzeitarbeiten.
Zum Schluß noch: Sie sehen, mit der Emanzipation der grünen Männer ist es auch noch nicht so weit. Wir sind zwar 56 % Frauen bei uns in der Fraktion, aber unsere Männer sind so wenig emanzipiert, daß sie sich nicht einmal trauen, zur Frauendebatte hier herauszukommen.
({12})
Zur Abgabe einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat die Abgeordnete Frau Krieger das Wort.
Erst wurde mir Mord vorgeworfen. Das wurde glücklicherweise zurückgenommen. Dann wurde mir in dieser Debatte vorgeworfen, ich hätte einen Rechtsbruch begangen.
Dazu stelle ich folgendes fest: Obwohl es diesen frauenfeindlichen § 218 gibt, ist nach wie vor nicht jede Abtreibung in der Bundesrepublik ein Rechtsbruch. Zum Glück können Sie, Herr Blüm, überhaupt nicht nachweisen, ob das bei mir oder bei jemandem von den anderen Kolleginnen und Kollegen, die sich im „Stern" öffentlich einer Abtreibung oder der Beihilfe dazu bezichtigt haben, der Fall war, und so soll es auch bleiben.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen auf den Drucksachen 11/1087, 11/2921, 11/3266, 11/3285 und 11/3728 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Weiter wird vorgeschlagen, den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/4051 an dieselben Ausschüsse zu überweisen wie das Gleichstellungsgesetz. Ist das Haus damit einverstanden? - Es ist so beschlossen.
Ich rufe die Zusatzpunkte 1 und 2 der Tagesordnung auf:
ZP1 Beratung des Antrags der Fraktion der CDU/ CSU, SPD und FDP
Mordauftrag aus dem Iran
- Drucksache 11/4057 ZP2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau Hensel, Frau Vennegerts, Dr. Lippelt ({0}), Frau Oesterle-Schwerin, Frau Dr. Vollmer und der Fraktion DIE GRÜNEN
Mordauftrag des Ayatollah Khomeini
- Drucksache 11/4059 Meine Damen und Herren, interfraktionell ist eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart. Ist das Haus auch damit einverstanden? - Ich sehe und höre keinen Widerspruch; es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Duve.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Wort „Islam" heißt „Frieden", der Name Khomeini bedeuetet Krieg und Gewalt. In der großen Kulturtradition des Islam gab es immer die Friedensbotschaft. Die Tradition der Khomeini-Mullahs war das Schwert.
Wer nach eigenem Recht richtet und Mordbefehle erteilt, vom politischen Oberhaupt des Staates unterstützt und bekräftigt, der erklärt uns den Krieg. Das gilt im hochtechnisierten 20. Jahrhundert noch mehr als im mittelalterlichen 12. Jahrhundert. Wer seine Moscheen geradezu als Abschußbasen für menschliche Cruise Missiles auf ausgesuchte Ziele in London oder in New York, in Frankfurt oder in Köln benutzen will, ist ein Kriegsherr, der Völkerrecht bricht, der die Charta der Vereinten Nationen mit Füßen tritt, der die Verfassungen anderer Staaten auszuhebeln versucht.
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Wir nehmen den Mordauftrag so ernst, wie er gemeint ist. Es liegt in der Tradition der Khomeini-Mullahs, ihre Gewalt immer gegen Schwache und Ungeschützte, gegen Minderheiten zu wenden: gegen Frauen auf offener Straße, gegen Homosexuelle, gegen Kinder, die man als Minenhunde in den Krieg schickt, gegen gejagte Oppositionelle, die hingerichtet werden - und nun gegen Schriftsteller und Verlage in der ganzen Welt. Kein Moslem kann auf solche Kriegsherren stolz sein!
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Meine Damen und Herren, ich spreche von den Aufputschern, nicht von den Aufgeputschten. Denn natürlich gibt es verletzbare religiöse Gefühle. Solche verdienen Respekt, gerade bei uns. Respekt gehört zur Tradition der Aufklärung, auf der dieses Parlament ruht.
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Aber verletzte religiöse Empfindungen sind eine Sache, die Verletzung des Völkerrechts durch Killerkommandos eine andere.
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Der Krieg ist erklärt. „Die Pfeile sind bereits unterwegs ", sagt der iranische Präsident. Wir haben das zur Kenntnis genommen. Der Chef eines Staats bekennt sich dazu, Terrorgruppen ausgesandt zu haben. Er ist nach unserem Strafrecht des Aufrufs zum Mord schuldig. Erstaunlich ist, daß die Sozialistische Republik
Jugoslawien, wo dies geäußert wurde, den Besuch nicht sogleich für beendet erklärt hat.
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Die Pfeile haben bereits getroffen: Ein Mensch und seine Familie müssen sich vielleicht für Jahre verstekken. Verlage in London, Amerika und hier in Europa müssen geschützt werden. Vor der Redaktion der Zeitschrift „Libération" in Paris stehen Polizisten.
Die Pfeile haben aber vor allem den Frieden zwischen den Völkern verletzt und beschädigt. In der technisch und politisch einen Welt gibt es viele Religions- und Denktraditionen. Sie müssen koexistieren können. Ohne friedliche Koexistenz auch zwischen den großen Weltreligionen hat diese eine Welt im 20. und im 21. Jahrhundert keine Chance.
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Khomeini ist es - vermutlich aus inneriranischem Machtkalkül - gelungen, mit diesen Pfeilen das dünne Gewebe friedlicher Koexistenz zwischen westlich orientierten und islamischen Staaten aufs schwerste zu beschädigen. Hier steht Mordgebot gegen das Toleranzgebot unserer aufklärerischen Tradition: sich dafür einzusetzen, daß der andere seine von uns als falsch empfundene Meinung sagen darf. Dieser Gedanke war immer eine schwierige Zumutung, auch für uns selbst - ich weiß, wovon ich rede. Aber dieser Gedanke ist die praktische Vernunft, die bei uns entwickelt wurde. Er ist natürlich schwer nachzuvollziehen für eine Religion, deren Rechtssystem und deren politische Ordnung sich auf ein einziges heiliges Buch berufen, an dem es seiner Natur nach keine Kritik geben kann. - Ich habe in meiner Jugend erlebt, wie sich Händler auf dem arabischen Markt weigerten, Gemüse, Fleisch oder Fisch in Zeitungspapier zu wikkeln, weil die Buchstaben der heiligen Schrift nicht beschmutzt werden dürfen.
Unser Art. 5 des Grundgesetzes ist für viele Moslems nicht nachvollziehbar. Niemand hat erwartet, daß nun islamische Verlage Schlange stehen, um die Publikationsrechte an Rushdies Buch zu erwerben. Aber gerade wegen dieser prinzipiellen Nichtübereinstimmung brauchen wir die friedliche Koexistenz. Auch ihretwegen muß der Mordbefehl zurückgenommen werden.
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Die Pfeile haben aber noch mehr getroffen. In Europa leben Millionen Mitbürger - Mitbürger! - islamischen Glaubens, darunter viele Schiiten. Sie sollten hier ohne Angst leben können, so wie der europäische und britische Bürger, der gebürtige Moslem aus Indien, Salman Rushdie, ohne Angst bei uns leben können muß.
Khomeini hat auch dem inneren Frieden in Europa den Krieg erklärt. Viele Moslems aus der Bundesrepublik haben sich in den letzten Tagen zu Wort gemeldet. Sie haben an den Friedensgedanken im Islam erinnert und sich von Khomeini distanziert.
Ich rufe auch die bei uns lebenden schiitischen Mullahs in Hamburg und anderswo auf: Sagen Sie sehr deutlich und unmißverständlich, was Sie von dem Mordbefehl halten! Als schiitische Mullahs haben Sie eine politische Verantwortung für das Gemeinwesen, in dem Sie und Ihre Gemeinde leben, also auch für unser Gemeinwesen. Wir fordern Sie auf, in Ihren Predigten auf den Unterschied zwischen verletzten religiösen Gefühlen und kaltem Mordbefehl aufmerksam zu machen.
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Setzen Sie Ihre Moschee niemals dem Verdacht aus, sie könnte als Terrorstation mißbraucht werden. Dies würde unser Rechtssystem nicht dulden.
Tage einer solchen Kriegserklärung an uns sind nicht die Zeit für die auch notwendige Suche nach dem Balken im eigenen Auge. Wo Mörder ausgeschickt werden, da wird selbst der Nachdenkliche und Selbstkritische zum Ankläger und nicht zum Selbstankläger.
Es war wohl Selbsttäuschung, zu glauben Wirtschaftsbeziehungen, Kulturabkommen, gemeinsame wirtschaftspolitische Ausschüsse, Waffenlieferungen, Kernkraftwerke seien koexistenzfähig mit den Mullahs der Gewalt.
Der Gedanke, man könne den religiösen, gewaltbereiten Fundamentalismus dieser Art - nur von ihm spreche ich jetzt - durch wirtschaftliche und technische Modernisierung liberalisieren, verdient Respekt. Ich muß aber hinzufügen: Für manche aber war es nur das bessere Wort für Geschäft. Er verdient Respekt; denn Khomeinis Kriegserklärung an uns ist ja zugleich eine an die etwas liberaleren Kräfte im Iran, die auf Modernisierung drängen.
Dieses Kalkül Khomeinis enthüllt ganz deutlich den machtpolitischen Machiavellismus der Gewaltmullahs: der Welt den Krieg erklären mit angeblich verletzten religiösen Gefühlen - bei ihm persönlich verletzten Gefühlen - , um innenpolitisch Machtschach zu spielen. Welch ein Zynismus!
Schon nach dem Töten der Bahais - viele von uns haben die Briefe der jungen Frauen und Familien der Bahais bekommen, bevor sie in den Tod gegangen sind -, nach den Massenhinrichtungen, nach der Gewalt gegen Frauen, hätte der Bruch in den Wirtschaftsbeziehungen erwogen werden müssen.
Meine Damen und Herren, auch ein Außenminister darf nicht zulassen, daß ihm die Ermordung eines Schützlings, nämlich des Dr. Danesh - jedermann wußte, daß der Außenminister dahingefahren war, um auch über ihn zu sprechen - , in dieser Weise sozusagen auf dem diplomatischen Tablett gezeigt wird. Es war eine Demütigung des Gastes, die kein Moslem hingenommen hätte.
Jetzt leben wir mit diesem Mordbefehl. Die Bundesregierung hat reagiert. Sie muß noch schärfere Sanktionen zur Isolierung der Gewaltmullahs ankündigen und planen; aber auch die Wirtschaft muß dies wollen. Sie muß jetzt klar sagen, wo sie steht.
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Der Vorschlag Dr. Vogels, den Luftverkehr einzustellen, zielt in die richtige Richtung. - Herr Präsident,
ich bin gleich fertig; vielleicht darf ich eben noch diese grundsätzlichen Dinge hier zu Ende bringen.
Das Buch muß erscheinen können. Wir stehen dem Verlag und den Autoren bei, die sich in einer großen Aktion zusammenfinden. Dies ist nicht die Stunde lokkerer Mutsprüche. Eine gemeinsame Edition vieler Verlage und literarischer Herausgeber ist die richtige, besonnene Reaktion auf einen außergewöhnlichen, einen einmaligen Vorgang.
Die Bürger islamischen Glaubens müssen hier ohne Angst leben können. Khomeini hat diesen Glauben vor der Weltöffentlichkeit in ein böses Licht gerückt. Wir Deutsche haben erfahren, wie kalte Machtpolitik, fanatisierte Massen und die nackte Gewalt unsere kulturellen Traditionen bis zur Unkenntlichkeit geschändet haben. Wir Deutsche wissen, wovon wir sprechen, wenn wir heute sagen: Alle Moslems, die den Mut haben, sich um ihrer Religion willen offen gegen Khomeini zu stellen, verdienen unseren Respekt und unseren Schutz.
Um zwei alte Begriffe zu übernehmen: Zwischen Orient und Okzident muß es auch im nächsten Jahrhundert, auch im Zeitalter von Vision und Television, die friedliche Koexistenz zwischen den Menschen und zwischen den Völkern geben. Wir stehen vor einer ebenso schweren Aufgabe wie vor der Überwindung des Kalten Krieges. Pakistan hat bereits die Fähigkeit, eine Bombe zu bauen.
Der Rushdie-Fall, die Khomeini-Drohung, ist zur Zeit die größte Bedrohung für die neugewählte Präsidentin, die ja auf einen etwas liberaleren Kurs setzt.
Erinnern wir uns, meine Damen und Herren, in dramatischen Zeiten an kluge Zeilen aus dem westöstlichen Diwan:
Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.
Das gilt auch morgen, trotz Khomeini. Ich danke für die Aufmerksamkeit.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lummer.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in unserer Sprache die Redewendung „das hat mir die Sprache verschlagen" oder „dazu fehlen mir die Worte".
Angesichts des Vorgangs, über den wir reden, ist ein solches Empfinden sehr naheliegend. Man könnte wahrlich zur Sprachlosigkeit erstarren, wenn man sich vorstellt, wie das Wort eines greisen Fanatikers zur Tat wird.
Was uns ebenso zornig wie sprachlos macht, ist die Unvorstellbarkeit eines solchen Mordauftrages, ist die Tatsache, daß ein solcher Mordauftrag ganz aus dem Rahmen unserer Wertvorstellungen fällt. Hier haben wir es mit dem Gegenteil dessen zu tun, was selbstverständlich ist. Es geht um das schlechthin Unverständliche und Unfaßbare.
Wenn es einen Ausdruck für den Begriff „Unkultur" gibt, dann ist es dieser Mordauftrag. Natürlich kann da ein Kulturabkommen keinen Raum haben.
Ein religiöser Fanatiker verurteilt einen Schriftsteller und eine unbestimmte Zahl von Personen, die mit der Herausgabe eines Buches beschäftigt sind, zum Tode. Ein religiöser Fanatiker ernennt damit ja wohl Millionen von Moslems zu Henkern.
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Es wäre schon gar nicht mehr verwunderlich, wenn einige diese makabre Berufung annähmen. Die „Satanischen Verse" haben insofern eine wirklich teuflische Antwort erfahren.
Wo - so muß man sich fragen - ist die größere oder ist überhaupt die Gotteslästerung? Ein Buch mit Beleidigungen der Religion mag als Gotteslästerung empfunden werden; der Auftrag zur Tötung des Autors ist eine wahrhaft gotteslästerliche Anmaßung.
Ich meine, irgendwo fühlt man sich in die Welt des Umberto Eco und den „Namen der Rose" zurückversetzt, wo auch Bücher als die große Gefahr für den wahren Glauben empfunden werden und die Lektüre bestimmter Bücher, die als solche angesehen werden, automatisch zum Tode führt.
Ist es da irgendwie abwegig, wenn man empfindet, daß wir im Begriffe sind, in das finstere Mittelalter zurückversetzt zu werden? Tatsächlich hat auch damals der Absolutheitsanspruch einer Religion zu Todesurteilen geführt. Wir gehen davon aus: Das ist vorbei. Wir haben ein Stück dieses Denkens allerdings manchmal, auch in unseren Tagen, in bestimmten Ausformungen totalitärer Strukturen mit ihrem Absolutheitsanspruch erlebt. Wir hoffen, daß auch dies vorbei ist.
Es mag und soll jeder seinen Glauben für den wahren und richtigen halten. Es muß ja niemand gehalten sein, auch nur die Relativität der Ringparabel Lessings zu akzeptieren. Wir alle müssen aber die Toleranz aufbringen, und zwar auch die gläubigen Christen und Moslems, daß ein anderer eben anderes oder auch gar nichts glaubt.
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Selbst wenn er über meinen Glauben lästert und ihn verspottet, darf dies nicht zu seinem Tode führen.
Meine Damen und Herren, ich gehe ungeachtet der Tatsache, daß mir und wahrscheinlich den meisten Kollegen nur Bruchstücke des Werkes von Rushdie bekannt sind, davon aus, daß es sich um eine Beleidigung des Islams handelt. Der Autor hat sich dafür entschuldigt: Er anerkenne, daß sich Moslems aufrichtig verletzt fühlen könnten und er bedaure ihre Schmerzen.
Meine Damen und Herren, wir sollten gemeinsam mit dem Autor bedauern, daß es zu einer Beleidigung der Muslime in aller Welt gekommen ist.
Wir sollten auch nicht vergessen, daß in unserem Strafrecht ein Paragraph existiert, der die Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen unter Strafe stellt. Ich will jetzt gar nicht die Frage stellen, ob nicht das aufrichtige Bedauern, wenn es der Autor so meint,
zwangsläufig dazu führen müßte, das Buch zu ändern oder zurückzuziehen. Aber ich will ganz deutlich sagen, daß ich für die Verletzung der Gefühle aufrichtiger Moslems sehr wohl Verständnis habe. Jedoch gerade dieses Mitempfinden, so meine ich, gibt uns nun das Recht, in aller Entschiedenheit darum zu bitten, nicht mit teuflichem Terror zu antworten. Wir wollen deutlich machen, daß wir, wenn diese Bitten nicht helfen, gehalten sind, über Sanktionen nachzudenken, die deutlich machen, worum es hier und worum es uns geht. Es geht um den Bestand einer zivilisierten Welt auf der Basis der Menschenrechte und der Freiheit. Auch das ist eine - vielleicht die einzig mögliche - fundamentale, meinetwegen auch fundamentalistische Position. Insofern befinden wir uns schlicht in einer Situation der Notwehr, um die Grundlagen einer gemeinsamen Existenz der Völker und der Menschen zu bewahren.
Dieser Mordbefehl ist universell und bedarf einer universellen Antwort. Deshalb sind alle Staaten und die Staatengemeinschaft der Vereinten Nationen zu einer Antwort aufgerufen. Das, meine Damen und Herren, gilt nicht zuletzt auch für jene Staaten, die dem Islam in besonderer Weise verbunden sind. Wir treten in der Resolution allen Tendenzen entgegen, den Konflikt mit Khomeini zu einer allgemeinen Diskriminierung der großen Kulturtradition des Islam zu mißbrauchen. Das ist richtig, und das ist gut so. Aber wir warten in diesem Bewußtsein auf die Unterstützung gerade auch islamischer Staaten im Kampf gegen Khomeini. Noch herrscht hier überwiegend das Schweigen. Noch besteht hier die Gefahr, daß der Eiferer Erfolg haben wird und die geistige Führung im Sinne dieses teuflischen Terrors übernimmt.
Unser Zorn wie unser Engagement sind ja deshalb so groß, weil ein solcher Mordauftrag die Säulen des friedlichen Zusammenlebens der Völker ins Wanken bringt. In Wahrheit - der Kollege Duve hat es deutlich gesagt - handelt es sich hier um eine Kriegserklärung an die Vereinten Nationen und jedes Mitglied. Wer Khomeinis Urteil akzeptiert, verurteilt die Menschheit zu Unfreiheit und zur mittelalterlichen Inquisition. Weil, wenn dieser Mordauftrag Schule macht, eine Wende in den internationalen Beziehungen eintreten würde, darf man uns nicht verübeln, wenn wir darüber nachdenken, wie man derartiges verhindern kann. Es kann ja sein, daß Khomeini weder durch die Rückberufung der Botschafter und Geschäftsträger beeindruckt wird noch durch die Nichtinkraftsetzung des Kulturabkommens.
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Wenn unsere Bitten auf Rücknahme des Mordauftrages keinen Erfolg haben, dann müssen wir weitere Schritte allerdings nicht nur überlegen. Es wäre wirklich fatal, wenn wir, ohne alles versucht zu haben, uns in der gemeinsamen Aktion eines Traueraktes wiederfinden würden.
Wenn sich ein Staat mit dem Mordauftrag dieses Religionsführers identifiziert - das ist leider geschehen, nicht zuletzt durch einige Botschafter, die sich bereit erklärt haben, den Auftrag zu erfüllen - , dann isoliert sich ein solcher Staat selber. Ich denke, er hat seinen Platz in der Gemeinschaft der Völker geräumt.
Diese Selbstisolation muß uns zwingen, alle Verbindungen, die wir zu einem solchen Staate pflegen, zu überdenken.
Was kann, wenn Bitten nichts fruchten, die Wirkung zeigen, daß der Mordauftrag zurückgenommen wird? Ein Vorschlag ist genannt. Ein gemeinsamer Verzicht auf den Flugverkehr wäre gewiß eine Maßnahme, die nicht ohne Folgen bleiben würde. Wir sollten weder voreilig noch zu rücksichtsvoll sein. Unser Außenminister sagte: Wir schließen nichts aus. Und das soll jeder wissen.
Es ist schlimm, wirklich schlimm, wenn wir über weitere Sanktionen nachdenken müssen. Aber allen muß eben klar sein, daß wir im Nerv getroffen sind. Es liegt nicht an uns, wenn wir keine andere Wahl haben.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Hensel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lummer, Worte, Worte, so wenig glaubwürdig, als würden wir uns heute hier das erste Mal überhaupt mit den Zuständen im Iran befassen oder davon Kenntnis kriegen! Es ist ganz, ganz schlimm. Es hat mich so betroffen gemacht. Sie wissen, wie lange diese Zustände im Iran schon herrschen.
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Nach acht Jahren menschenverachtendem Krieg am Golf schlossen die Kriegsgegner im August letzten Jahres ein Waffenstillstandsabkommen. Seitdem praktizieren der Irak als auch der Iran eine Politik der Liquidierung von unliebsamen und oppositionellen Personen. Amnesty international wies in Pressemeldungen wiederholt darauf hin, daß die iranischen Gefängnisse leergeschossen werden, daß Folter, unfaire Gerichtsverfahren und grausame Bestrafungen, beispielsweise Fingeramputationen, andauern. Tausende von Menschen werden verfolgt, gefoltert und umgebracht, darunter Frauen und Jugendliche, Schriftsteller, Journalisten wie auch Homosexuelle.
Anfang Dezember 1988 hatten die GRÜNEN Herrn Sadegh Sadeghi auf einer Pressekonferenz zu Gast, der eindrucksvoll das Schicksal seines Sohnes und vom Schicksal vieler anderer jugendlicher Menschen berichtet hat. Sein Sohn ist mit 16 Jahren verhaftet und nach siebeneinhalb Jahren Gefängnis und Folter hingerichtet worden. Sein Appell an uns lautete: Helft denen, die noch am Leben sind.
Wir erinnern uns auch an den iranischen Arzt Ahmed Danesh, der aus der Bundesrepublik in den Iran verschleppt wurde. Sämtliche Appelle an die iranische Regierung haben das Leben dieses Mannes nicht retten können. Das Regime ließ ihn unmittelbar vor dem Besuch des Bundesaußenministers Genscher in Teheran ermorden.
Es ist wichtig, hier festzustellen: Die Verantwortung für das Morden im Namen des Islam trägt allein der Ayatollah Khomeini.
Durch den Aufruf zur Ermordung des indischen Schriftstellers Salman Rushdie gewinnen die schlimmen Beispiele menschlicher Verrohung eine neue Qualität. Das Kopfgeld von 9,2 Millionen DM für moslemische Mörder und von 1,8 Millionen DM für nichtmoslemische Mörder ist das Ergebnis einer fanatischen Vorstellung von Sühne und Gewalt.
Der Schiitenführer Khomeini hat damit auch deutlich gemacht, daß die Peitsche der Scharfmacher die islamischen Gesetze nicht dem internationalen Völkerrecht unterordnet oder anpaßt.
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Aber, meine Damen und Herren, es kann in der heutigen Debatte des Deutschen Bundestages nicht darum gehen, zu beurteilen, ob Rushdies Buch gegen die Gesetze des Islam verstößt oder ob das Buch viele Muslims in ihrem religiösen Empfinden verletzt. Dieses Buch wird in der Bundesrepublik erscheinen, und diese Tatsache entspricht unserem Verständnis vom Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit.
Es geht in der heutigen Debatte auch darum, festzustellen, daß es muslimische Emigranten und Mitbürger in der Bundesrepublik und in Europa gibt, die dem Ayatollah Khomeini das Recht absprechen, in ihrem Namen zu reden und in ihrem Namen zum Mord aufzurufen. Selbstverständlich fürchten diese Menschen - und mit Recht, meinen wir -, verstärkt diskriminierenden Tendenzen und Ausländerfeindlichkeit in der Bundesrepublik ausgesetzt zu sein. Diesen Tendenzen muß die Bundesregierung entschieden und mit einer Stimme entgegenwirken.
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Meine Damen und Herren, ich möchte in der heutigen Debatte kurz auf die innenpolitische Lage im Iran eingehen. Es muß dabei angemerkt werden, daß Rushdies Buch bereits im Sepember 1988 erschienen ist und daß von der Presse schon mehrfach über die Bücherverbrennungen in Bredford, Großbritannien, berichtet wurde.
Die Tatsache, daß sich Khomeini erst jetzt zu Rushdies „Satanischen Versen" geäußert hat, läßt vermuten, daß es ihm um eine innenpolitische Machtprobe geht.
({3})
Die Gemäßigten um den Parlamentspräsidenten Rafsandjani hatten in den letzten Monaten an Einfluß gewonnen, was eine Öffnung zum Westen hin versprach. Die Radikalen um Ministerpräsident Musavi und Innenminister Mohtaschemi, der als Nachfolger von Khomeini gilt, versuchten, dieser Entwicklung entgegenzutreten.
Während der Golfkrieg jetzt nicht mehr dazu benutzt werden kann, die Bevölkerung vom desolaten Zustand ihres Landes abzulenken, muß nun die Religion dafür herhalten. In dem Versuch, die innenpolitische Lage unter Kontrolle zu bringen, schreckt das iranische Regime nicht einmal davor zurück, auch Theologen hinzurichten, die mit der Vorgehensweise der iranischen Regierung nicht einverstanden waren, oder auch Theologen, die der Auffassung waren, daß nach islamisch-schiitischem Prinzip Khomeini als Stellvertreter des in der Verborgenheit harrenden Imam, auf dessen Wiederkehr die schiitische Gemeinschaft seit dem 9. Jahrhundert wartet, gar nicht legitimiert und in der Lage ist, einen gerechten Staat herbeizuführen.
Dazu muß man wissen, daß die Schiiten in der islamischen Gemeinde mit Ausnahme der Fatimiden-Dynastie nie die Herrschaft hatten. Im Gegenteil, sie gehörten immer zur Gruppe der Unterprivilegierten.
An der Macht gebärdet sich der Schiitenführer Ayatollah Khomeini nun als Oberhaupt des gesamten Islam, d. h. auch der Sunniten. Wir alle wissen: Die Muslime, die Sunniten und die Schiiten sind auch bestürzt über die Drohung gegen Rushdie.
Meine Damen und Herren, der Punkt ist schon lange erreicht, an dem niemand mehr den menschenverachtenden Wahnsinn im Iran stillschweigend oder halbherzig zur Kenntnis nehmen kann. Es grenzt an Zynismus und muß erschrocken machen, wenn sich Bundesaußenminister Genscher erst jetzt genötigt sieht, öffentlich zu äußern, es sei Aufgabe der EG-Staaten, „Menschenleben zu schützen".
({4})
- Dann lesen Sie das bitte nach. Sie sollten Ihre eigenen Papiere lesen.
({5})
Als Genscher nämlich im November 1988 den Iran besuchte, war die Hinrichtungswelle auf ihrem Höhepunkt. Der Minister aber reiste mit führenden Wirtschaftsvertretern im Handgepäck und beeilte sich, ein Kulturabkommen zu unterzeichnen.
({6})
Die Zeitungen schrieben damals: Deutsche Firmen in den Startlöchern. Sie schrieben aber nichts über Gespräche des Außenministers zu den Massenhinrichtungen, weil diese offenbar - wenn überhaupt - hinter ganz dicht verschlossenen Türen und im Zuge einer mehr als stillen Diplomatie angesprochen wurden. Dafür ist Herr Genscher - ich denke, er wird es noch nachlesen - diesem Hause eine Erklärung schuldig.
({7})
Natürlich war es klar, worum es ging. Im Vordergrund standen die wirtschaftlichen Interessen beim Wiederaufbau eines Landes, zu dessen Zerstörung und wirtschaftlichem Ruin, zu dessen Ausbluten die Bundesrepublik mit Waffenlieferungen selbst maßgeblich beigetragen hat.
Jetzt gilt es, diesem Terror im Iran, der inzwischen auch auf Europa übergegriffen hat, umgehend Einhalt zu gebieten.
Die Tatsache, daß Ayatollah Khomeini es sich erlaubt, eine Aufforderung zum Töten durch die Welt zu
schicken, ist ein deutliches Zeichen dafür, daß ihn die europäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, durch militärische und wirtschaftliche Unterstützung zu lange in seiner Vorgehensweise bestätigt haben.
({8})
Es ist höchste Zeit, die iranische Regierung unter politischen und wirtschaftlichen Druck zu setzen.
Auch wenn die iranische Regierung bereits erklärt hat, daß sie wirtschaftlichen Sanktionen seitens der Europäischen Gemeinschaft keine Bedeutung beimißt, braucht sie dennoch Geld. Für den Wiederaufbau wird der Iran in den kommenden Jahren zirka 160 Milliarden DM benötigen. Die deutschen Wirtschaftsunternehmen ihrerseits sind natürlich daran interessiert, ihr bisheriges Exportvolumen von 2 Milliarden DM zu erhöhen. Die Investitionen lassen sich die Wirtschaftsunternehmen natürlich mit Bundesbürgschaften absichern, und die Haftung muß von den Steuerzahlern übernommen werden.
Wir Grünen fordern die Bundesregierung jetzt mit Nachdruck auf, ein Wirtschaftsembargo gegen den Iran auszusprechen.
({9})
Es genügt nicht - Frau Staatssekretärin, ich habe gestern Ihr Interview im Fernsehen gesehen - , erste Schritte zu gehen, diplomatische Beziehungen einzuschränken und erst bei einer Eskalation über weitere Schritte nachzudenken. Das ist eine Ungeheuerlichkeit.
Bedauerlicherweise greifen CDU/CSU, FDP und auch die SPD in ihrem Antrag zu Formulierungen, die ihrerseits eine ganz gefährliche Eskalationsrhetorik enthalten. So unterträglich wir diesen Mordaufruf Khomeinis finden, so wenig darf sie als Kriegserklärung angesehen werden. Die Antragsteller müssen doch wissen, wie wörtlich derartige Formulierungen im Iran genommen werden. Wer den Mordaufruf gegen Salman Rushdie als eine Gefährdung des Friedens bezeichnet, läuft Gefahr, tatsächlich eine Gefährdung des Friedens heraufzubeschwören.
Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Duve?
Ich bin bei meinem letzten Satz. Bitte, nein.
Aus diesen Gründen kann die Fraktion DIE GRÜNEN dem überfraktionellen Antrag leider nicht zustimmen.
({0})
- Nein. - Wir bitten Sie aber, unserem Antrag zuzustimmen, weil nur er die dringend notwendigen Maßnahmen enthält, die die Bundesregierung jetzt ergreifen muß. Es sind nicht mehr Worte angesagt.
Danke sehr.
({1})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Feldmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist eine sehr ernste Aussprache. Ihre Selbstgerechtigkeit, Frau Hensel, ist unerträglich. Ich weise sie zurück.
({0})
Der öffentliche Mordauftrag des iranischen Staatsführers Khomeini gegen den britisch-indischen Schriftsteller Salman Rushdie und die möglichen Verleger seines Buches ist ein Akt unvorstellbarer Menschenverachtung.
({1})
Diese Drohung gilt nicht nur Rushdie, sondern der gesamten zivilisierten Staatengemeinschaft. Bedroht sind unsere Grundrechte, vor allem das Recht der freien Meinungsäußerung.
Es ist schlimm genug, daß wir die willkürlichen Hinrichtungen im Iran hilflos hinnehmen müssen. Es geht aber nicht an, daß Khomeini in seiner Verblendung versucht, Mord und Terror auch in die übrige Welt hineinzutragen.
({2})
Dieser öffentliche Aufruf zum Mord ist ein Rückfall ins Zeitalter finsterer Religionskriege. Die mögliche Verletzung religiöser Gefühle kann keine Rechtfertigung dafür sein, alle Regeln eines geordneten menschlichen Zusammenlebens außer Kraft zu setzen und zu Mord und Totschlag aufzurufen.
({3}) Hier ist die internationale Solidarität gefordert.
({4})
Wir begrüßen, daß die EG-Außenminister mit ihrer Erklärung und dem Rückruf ihrer Geschäftsträger einen ersten gemeinsamen Schritt getan haben, der von Außenminister Genscher initiiert wurde. Außenminister Genscher hat sich in der Vergangenheit immer wieder darum bemüht, das iranische Volk aus seiner Isolierung zu lösen und die pragmatischen Kräfte des Landes zu stärken. Durch seine Vermittlertätigkeit hat er maßgeblich zur Beilegung des Golfkrieges beigetragen. Dies dürfen wir nicht übersehen.
({5})
Die Solidarität innerhalb der EG reicht allein aber nicht aus; denn bedroht sind wir alle, und nicht nur wir hier, sondern auch die islamische Welt. Auch die Solidarität der arabisch-islamischen Welt ist gefordert.
Aber auch angesichts dieser unmittelbaren Bedrohung von Menschenleben, des internationalen Völkerrechts und unserer Rechtsordnung sind wir gefordert, kühlen Kopf zu bewahren. Haß darf nicht mit Haß und Intoleranz nicht mit Intoleranz beantwortet werden.
({6})
Wir setzen das iranische Volk nicht mit Khomeini gleich und Khomeini nicht mit den Lehren des Koran.
({7})
Khomeinis Wüten kann unseren Respekt vor der islamischen Religion nicht schmälern. Auch wenn wir das Buch Rushdies nicht kennen, so bedauern wir doch, wenn sich islamische Gläubige - zu Recht oder Unrecht - in ihren religiösen Empfindungen verletzt fühlen. Wir garantieren unseren islamischen Mitbürgern die Freiheit der Religionsausübung.
Wir begrüßen die Distanzierung des Islamischen Rates in der Bundesrepublik von Khomeins Mordauftrag.
({8})
- Nein, das sind nicht nur Worte, Frau Hensel; dies ist Ausdruck gegenseitiger Achtung.
Wir verkennen nicht den Unterschied zwischen unseren Wertesystemen und denen der islamischen Welt. Wir leben zwar in unterschiedlichen Welten, aber auf einer Erde. Keiner kann und darf sein Wertesystem absolut setzen. Wir erwarten aber Respekt vor unserer Rechtsordnung, unseren Grundwerten und dem menschlichen Leben. Unsere Toleranz darf nicht mit Inkonsequenz und Schwäche verwechselt werden. Wo Menschenrechte und Grundwerte bedroht sind, darf der demokratische Rechtsstaat nicht kapitulieren.
({9})
Wir begrüßen die Solidarität der deutschen Verleger und ihre Bereitschaft, Rushdies Buch notfalls gemeinsam herauszugeben. Sie machen damit deutlich, daß sie nicht bereit sind, sich Erpressung und nacktem Terror zu beugen, daß eine Beschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit nicht hingenommen wird.
Wir appellieren an die deutsche Wirtschaft, ihrerseits Konsequenzen zu ziehen. Die Wirtschaft kann nicht so tun, als gingen sie diese Vorgänge nichts an.
({10})
Wir begrüßen die vorbildliche Erklärung des Präsidenten des Deutschen Industrie- und Handelstags, Stihl, der für sein Unternehmen eine Reduzierung der Geschäfte mit dem Iran angekündigt hat.
({11})
- Es ist sehr wichtig, Herr Kollege, daß die deutsche Wirtschaft hier Flagge zeigt.
Nicht nur die Politik, auch die deutsche Wirtschaft trägt Verantwortung für das internationale Ansehen unseres Staates. Dies haben die Ereignisse der letzten Woche überdeutlich gezeigt.
Wir legen an die Politik des Iran nicht zu Unrecht auch moralische Maßstäbe an. Moralische Maßstäbe müssen auch für unsere Export- und Außenwirtschaftspolitik verbindliche Richtschnur sein.
Ich danke für die Aufmerksamkeit.
({12})
Ich erteile das Wort der Frau Staatsminister im Auswärtigen Amt.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit Bestürzung und Abscheu haben wir von der Morddrohung gegen den britischen Autor Rushdie gehört. Die Bundesregierung möchte bei dieser Gelegenheit vor dem Deutschen Bundestag erneut ihre Haltung gegenüber diesem unglaublichen Vorgang verdeutlichen.
Der Vorfall ist bekannt: Vor einigen Monaten erschien ein Buch des britisch-indischen Schriftstellers Rushdie, das Passagen enthält, die von gläubigen Moslems als blasphemisch bezeichnet werden. Viele fühlen sich in ihren religiösen Gefühlen aufs tiefste verletzt.
Religiöse Gefühle finden unseren Respekt, so wie wir Verständnis für unsere eigenen religiösen Überzeugungen erwarten. Die Verletzung religiöser Auffassung kann jedoch niemals und unter keinen Umständen rechtfertigen, öffentlich zum Mord an Bürgern fremder Staaten aufzurufen. Ein solcher Aufruf ist ein eklatanter Verstoß gegen unverzichtbare und weltweit geltende Regeln des Zusammenlebens der Staaten und der Völkergemeinschaft. Seine Verbindung mit einer hohen Geldbelohnung macht ihn nur noch verwerflicher.
Die Bundesregierung ist von diesem völlig inakzeptablen Vorgang zutiefst betroffen und hat dies in der Öffentlichkeit bereits mehrfach deutlich zum Ausdruck gebracht.
Die Beziehungen mit dem Iran haben in der Geschichte über lange Phasen einen guten und freundschaftlichen Charakter gehabt. Auch nach der Revolution hat sich die Bundesregierung darum bemüht, ihre Beziehungen zum Iran zu bewahren. Sie hat darauf hingearbeitet, den Iran in die internationalen Bemühungen zur Regelung des irakisch-iranischen Konflikts einzubeziehen.
Ich darf in diesem Zusammenhang auf die mit unserer maßgeblichen Unterstützung erfolgte Annahme der Resolution 598 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen im Jahre 1988 und den inzwischen bestehenden Waffenstillstand zwischen Iran und Irak verweisen.
Diese Vorgänge, meine Damen und Herren, im vergangenen Jahr waren ja auch der Ausgangspunkt dafür, daß wir vermuten konnten - dafür bestanden dann auch konkrete Anzeichen -, daß der Iran die erforderliche Respektierung der Grundregeln des internationalen Zusammenlebens wieder anerkennt. Das war auch die Begründung dafür - allerdings, wie ich anfügen möchte, auch die Tatsache, daß das Leben zweier Deutscher, die im Libanon inhaftiert waren, mit zur Debatte stand -, daß es zu einem Besuch von Außenminister Genscher in Teheran im vergangenen Jahr gekommen ist. Die Bundesregierung und Herr Genscher haben nie einen Zweifel daran gelassen - wir haben das wiederholt hier im Bundestag und auch in der Öffentlichkeit deutlich gemacht -,
daß die Menschenrechtsverletzungen im Iran nicht hinnehmbar sind.
({0})
Auch während des Besuchs von Außenminister Genscher in Teheran ist diese Frage bei jedem Gespräch angesprochen worden, wie Sie, Frau Hensel, auch der deutschen Presse entnehmen können.
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- Frau Hensel, Sie wissen selbst, daß auch Sie in der Regel nicht bereit sind, wenn Sie in einem Gespräch auf etwas angesprochen werden, zu sagen: Ich ändere meine Politik von Grund auf. Dies ist vielmehr ein Prozeß, der sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen wird, so schlimm es ist und so unverzeihlich Menschenrechtsverletzungen sind.
Außenminister Genscher hat in Teheran anläßlich dieses Besuchs darüber hinaus verlangt, daß der Menschenrechtsbeauftragte der Vereinten Nationen in den Iran reisen und sich über die Zustände dort informieren kann.
Herr Duve, während dieses Besuchs ist vom Außenminister der Fall Danesh angesprochen worden. Ihm ist eine Antwort darüber verweigert worden.
({2})
Erst später hat die iranische Regierung zugegeben, daß Herr Danesh hingerichtet worden ist, und zwar mit der Angabe, es handle sich um eine Verwechslung. Ich sage das mit aller Trauer; ich sage das mit aller Ablehnung, die dieser Vorgang verdient.
Das jetzt ausgesprochene und nach der Entschuldigung Rushdies noch einmal bekräftigte sogenannte Todesurteil gegen Salman Rushdie bedeutet einen schweren Rückschlag. Die Bundesregierung hat sofort nach der Morddrohung an ihrer entschlossenen Haltung keinen Zweifel gelassen. Bereits am 16. Februar hat das Auswärtige Amt in einer ersten kritischen Stellungnahme den Tötungsappell Khomeinis nachdrücklich verurteilt.
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Wir haben zum Ausdruck gebracht, daß eine solche Drohung gegen alle völkerrechtlichen und moralischen Prinzipien des Zusammenlebens von Staaten und Bürgern untereinander verstoße. Auch die Verletzung religiöser Gefühle rechtfertige nicht diese Überreaktion des iranischen Revolutionsführers.
({4})
Am 17. Februar hat der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Dr. Sudhoff den iranischen Botschafter einbestellt und ihm die tiefe Bestürzung der Bundesregierung über diese Morddrohung zum Ausdruck gebracht. Er hat diese scharf verurteilt und sie als eine schwere Belastung der deutschiranischen Beziehungen bezeichnet.
Am selben Tag hat Bundesminister Genscher den deutschen Geschäftsträger aus Teheran zur Berichterstattung nach Bonn gerufen.
Salman Rushdie hat zwei Tage später die Verletzung religiöser Gefühle gläubiger Moslems durch sein Buch bedauert und sich hierfür entschuldigt. Dies ist von iranischer Seite nicht akzeptiert worden, im Gegenteil: Khomeini hat seinen Aufruf darüber hinaus am 19. und am 22. Februar noch einmal bekräftigt.
Am 20. Februar haben sich die Außenminister der Zwölf in Brüssel mit diesem unglaublichen Vorgang befaßt. Bundesminister Genscher hat bei dieser Gelegenheit die grundsätzliche Bedeutung dieses Vorgangs unterstrichen. Das, Frau Hensel, so schlimm die Menschenrechtsverletzungen im Iran sind, verleiht diesem Vorgang ja die zusätzliche Schärfe. Durch die Tatsache, daß hiermit über die Menschenverachtung und über diese unglaubliche Aufforderung zum Mord hinaus die Grundsätze der internationalen Beziehungen mißachtet und aufs tiefste gefährdet werden, wird das friedliche Zusammenleben der Völker in seiner Wurzel getroffen.
In einer gemeinsamen Erklärung haben die Außenminister am gleichen Tage ihrer tiefen Besorgnis über diesen Vorgang Ausdruck gegeben und die hierin liegende Verletzung der elementaren Grundregeln der zwischenstaatlichen Ordnung, wie sie in der Satzung der Vereinten Nationen festgelegt sind, verurteilt. Sie haben betont, daß es bei allem Respekt vor religiösen Auffassungen entscheidend darum geht, das Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung zu erhalten. Sie haben schließlich der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß sich der Iran zum Respekt vor den internationalen Verpflichtungen und zum Verzicht auf die Anwendung von Gewalt bekennen werde.
Als gemeinsame Maßnahme haben die Zwölf beschlossen, die Missionschefs der Mitgliedstaaten aus Teheran zu Konsultationen einzuberufen und den Austausch hochrangiger gegenseitiger Besuche auszusetzen. So wird z. B. Bundesminister Kiechle seinen für Mai dieses Jahres vorgesehenen Besuch in Teheran nicht durchführen. Die Vorbereitungen für die Gespräche der deutsch-iranischen Wirtschaftskommission sind eingestellt worden.
Bundesminister Genscher hat ferner veranlaßt, die innerstaatlichen Maßnahmen zur Inkraftsetzung des im November 1988 in Teheran unterzeichneten Kulturabkommens auszusetzen, solange die Morddrohungen aufrechterhalten werden. Wir haben ebenfalls gegenüber der iranischen Botschaft mit allem Nachdruck den unerträglichen Ton zurückgewiesen, der in dem offenen Brief an Frau Bundestagsabgeordnete Michaela Geiger angeschlagen worden ist.
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Wir hoffen und wünschen, daß auch auf iranischer Seite die Beachtung der Grundsätze des internationalen Rechts sich wieder durchsetzen wird. Dies ist unverzichtbare Voraussetzung für die Wiederherstellung normaler Beziehungen zum Iran. Wir erhoffen die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft bei diesen Bemühungen gerade auch seitens unserer islamischen Freunde. Wir haben daher in AbstimStaatsminister Frau Dr. Adam-Schwaetzer
mung mit Großbritannien am 21. Februar 1989 der spanischen EG-Präsidentschaft vorgeschlagen, an andere Staaten und Organisationen, z. B. die OECD, die NATO, die Arabische Liga, aber auch die ASEANStaaten, mit der Bitte um solidarische Unterstützung des Zwölfer-Beschlusses heranzutreten. Am 22. Februar 1989 hat sich das Bundeskabinett für die Befassung des UN-Sicherheitsrates mit der Morddrohung ausgesprochen. Dies war bereits am 20. Februar 1989 dem britischen Außenminister gegenüber zum Ausdruck gebracht worden, daß nämlich die Bundesrepublik Deutschland, die selbst nicht Mitglied des Sicherheitsrates ist, Großbritannien als ständiges Mitglied des Sicherheitsrates ihre volle Unterstützung gewähren werde, falls Großbritannien den Fall vor den Sicherheitsrat bringe. Dies ist heute vom Staatssekretär des Auswärtigen Amts der britischen Botschaft gegenüber noch einmal wiederholt worden.
Die deutsche Delegation der zur Zeit in Genf tagenden 45. Menschenrechtskommission der Vereinten Nationen wurde angewiesen, die Kommission mit dem Mordaufruf gegen Salman Rushdie zu befassen. Ferner befürworten wir die Abhaltung einer Konferenz zwischen christlichen und moslemischen Autoritäten. Dies ist bekanntlich schon früher von Außenminister Genscher vorgeschlagen worden. Ein solches Gespräch zwischen den beiden Religionen über die Frage der Menschenrechte scheint uns eine unverzichtbare Voraussetzung dafür zu sein, daß in der Zukunft das Zusammenleben und die Toleranz gefördert werden.
Die Bundesregierung appelliert an die iranische Führung, das Menschenleben bedrohende sogenannte Todesurteil aufzuheben und alles zu tun, um fremdes Leben nicht zu gefährden. Ein solcher Schritt der iranischen Regierung könnte es erlauben, die Beziehungen zum Iran wieder zu verbessern.
Ich danke Ihnen.
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Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der FDP auf Drucksache 11/4057. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Keine Gegenstimme. Enthaltungen? - Vier Enthaltungen. Der Antrag ist damit mit großer Mehrheit angenommen.
Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4059 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Bei vier Ja-Stimmen und einer Anzahl von Enthaltungen ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt.
Wir treten in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt.
Die Sitzung ist unterbrochen.
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Meine Damen und Herren! Die unterbrochene Sitzung wird wieder eröffnet.
Ich rufe den Zusatztagesordnungspunkt 3 auf: Aktuelle Stunde
Auswirkungen der Ruhrgebietskonferenz
Die Fraktion der CDU/CSU hat gemäß unserer Geschäftsordnung eine Aktuelle Stunde zu dem oben genannten Thema beantragt.
Ich kann sofort die Aussprache eröffnen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lammert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die öffentliche Debatte über das Ruhrgebiet hat sich - im Vergleich zu den Diskussionen vor 12 oder 18 Monaten - in einer ganz bemerkenswerten Weise verändert. In den letzten 20 Jahren ist über das Ruhrgebiet kaum jemals so viel Gutes, Freundliches und Optimistisches zu hören und zu lesen gewesen wie in den letzten 14 Tagen.
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Ein Jahr nach der Ruhrgebietskonferenz vom 24. Februar 1988 zeigt eine erste Bilanz, völlig gleichgültig, von wem sie angestellt wird, und ich schließe mit Dank und Anerkennung die Kollegen von der SPD und auch die Landesregierung Nordrhein-Westfalen ausdrücklich mit ein
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- das habe ich ja, um Sie da nicht unnötig zu provozieren, mit
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dem notwendigen Blick fürs Wesentliche gleich herausgelassen - :
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Diese Konferenz war ein Erfolg für das Ruhrgebiet mit weitreichenden Impulsen, die dazu beigetragen haben, den notwendigen Strukturwandel in dieser bedeutenden Industrieregion weiter voranzutreiben.
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Die Ruhrgebietskonferenz beim Bundeskanzler hat die Wiederherstellung der Leistungskraft des Ruhrgebiets als nationale Aufgabe deutlich gemacht. Für die Zukunft dieser Region liegt die Bedeutung dieser Konferenz nach meiner festen Überzeugung nicht in erster Linie, vermutlich nicht einmal vorrangig, in den finanziellen Hilfen, die bereitgestellt wurden, sondern in der Aufbruchstimmung und in der Bereitschaft aller aus Politik und Wirtschaftsverbänden, an der Wiederherstellung der Leistungskraft dieser Region gemeinsam mitzuwirken. Schon der jüngst von der Wirtschaft gegründete Initiativkreis Ruhrgebiet zeigt beispielhaft, daß es nach der Ruhrgebietskonferenz gelungen ist, die für die Erneuerung des Reviers Verantwortlichen aus Politik und Wirtschaft tatsächlich zusammenzuführen, um sich in einer gemeinsamen Anstrengung der Aufgabe zu stellen, zur Revitalisierung des Ruhrgebiets beizutragen. Die Zuversicht und das Selbstbewußtsein, die das öffentliche Echo nach dieser konzertierten Aktion bestimmt haben, sind mehr als ein Augenblicksereignis geblieben. Nach Ablauf eines Jahres registrieren wir einen grundlegenden Stimmungswandel in der Region, der in den Berich9396
ten der Industrie- und Handelskammern und der Handwerkskammern zum Ausdruck kommt, in denen die wirtschaftliche Dynamik im Ruhrgebiet als deutlich verstärkt beschrieben wird, die inzwischen wieder den Anschluß an die allgemein günstigen konjunkturellen Daten unserer Volkswirtschaft gefunden hat.
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Unsere Bilanz läßt viele optimistische Prognosen zu - eine allerdings nicht, nämlich daß damit alle Probleme nun buchstäblich in wenigen Wochen aus der Welt geschafft seien und keinerlei Handlungsbedarf mehr bestehe.
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Wir wissen, und wir wollen das ausdrücklich auch hier festhalten: Das Ruhrgebiet kann, darf und wird keine Dauerförderregion bleiben, weil es - schon gar im Maßstab der Europäischen Gemeinschaft - gewiß keine Entwicklungsregion ist. Deswegen kommt es wesentlich darauf an, daß das Potential dieser Region, das jeden Vergleich national und international aushält, nun wirklich mobilisiert wird und in einer dauerhaften Kraftanstrengung aller Beteiligten sichergestellt werden kann.
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- Ich freue mich über die Zustimmung der Kollegen aus der SPD-Fraktion.
Deswegen müssen wir dies auch als eine gemeinsame Aufgabe der Bundesregierung und vor allem eben auch der Landesregierung in den nächsten Monaten und Jahren fortsetzen und die Defizite aufarbeiten, die zuletzt gerade in den jüngsten Tagen die von Ministerpräsident Johannes Rau beauftragte MikatKommission ausdrücklich noch einmal deutlich gemacht hat. Mir hat dieses Gutachten, wie Sie vielleicht verstehen können, nicht zuletzt deswegen besonders gut gefallen, weil es geradezu serienweise auf zweckmäßige und notwendige Maßnahmen hinweist, die die CDU im Ruhrgebiet seit vielen Jahren einfordert
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und die wir vor mehr als einem halben Jahr in einem Regionalprogramm auch ausdrücklich beschlossen haben.
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Und ich habe mit großer Freude zur Kenntnis genommen, daß nach der Ankündigung des nordrhein-westfälischen Verkehrsministers, 1990 in den Bundestag zu wechseln - da habe ich zum ersten Mal eine Chance gewittert, daß in Nordrhein-Westfalen nach 1990 auch wieder Straßenbau stattfinden kann - , der Ministerpräsident des Landes nun sogar öffentlich die Frage stellt - rechtzeitig zum Geburtstag dieser Ruhrgebietskonferenz - , ob man über den Bau der „Dü-Bo-Do" als notwendiger Maßnahme zur Vermeidung des Verkehrsinfarktes im Ruhrgebiet nicht tatsächlich miteinander reden müsse.
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Meine Damen und Herren, wir werden unter dem Gesichtspunkt einer Verstetigung der Aufwärtsentwicklung, die wir hier feststellen, über eine Reihe von Fragen - nicht nur, aber auch in dieser Debatte - miteinander reden müssen. Wir stellen fest, daß die von Helmut Kohl damals einberufene Konferenz dafür gesorgt hat, daß es hier nicht bei folgenlosen Absichtserklärungen geblieben ist. Die Bundesregierung hat gehandelt. Sie hat damit uns alle und alle in der Region Verantwortlichen in die Pflicht genommen, mit eigenen Initiativen dazu beizutragen, daß wir den Strukturwandel durch gemeinsame Kraftanstrengungen meistern und die Zukunft des Ruhrgebiets erfolgreich gestalten können.
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Das Wort hat der Abgeordnete Schluckebier.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es mag ja nun verschiedene Versionen geben, wer und was denn letztlich zu dieser Ruhrgebietskonferenz geführt hat.
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Bei mir wird ein entscheidender Tatbestand immer bestehen bleiben: Der Versuch, ein großes Stahlunternehmen in Rheinhausen mit mehr als 5 000 Arbeitsplätzen ohne jegliche Information und Verhandlung platt zu machen,
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erzeugte einen Arbeitskampf, den die Bundesrepublik so noch nicht erlebt hatte. - Der Aufsichtsrat war vorher, wie Sie wissen, Frau Kollegin, auch nicht unterrichtet. - Vorausgegangen waren Stillegungen und massiver Arbeitsplatzabbau in der Nachbarstadt Oberhausen. Ich glaube, daß die Härte dieses Arbeitskampfes und die damit verbundene Solidarität letztlich zur Ruhrgebietskonferenz geführt haben.
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Wie es damals vor Ort aussah, haben auch Bundesminister erleben dürfen, die sich in Rheinhausen sehen ließen.
Nun lassen Sie mich wegen der Aktualität noch etwas einschieben: Die Meldungen und Informationen, die wir in den letzten Wochen und Tagen im Hinblick auf die Zukunft der deutschen Steinkohle erhielten, können zu einer ähnlichen Situation führen.
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Anschließende Dementis von seiten der Koalition sind da nicht mehr sehr hilfreich. Wenn das so weitergeht, meine Damen und Herren von den Koalitionsfraktionen, werden Sie Ihren letzten Kredit im Ruhrgebiet bald verloren haben - und nicht nur dort.
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Daß dieser Arbeitskampf in Rheinhausen nicht eskalierte, hatte mehrere Gründe: Zum einen sind hier das verantwortungsbewußte Handeln der betroffenen
Betriebsräte, die Vermittlungstätigkeit des Ministerpräsidenten Johannes Rau
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und letztlich auch - dies gehört zu einer redlichen Feststellung - die Ruhrgebietskonferenzen in Bonn und Düsseldorf zu nennen. Seit dem, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein gutes Jahr vergangen, und die politisch Verantwortlichen dieser Region sind dabei, die Ergebnisse dieser Konferenz umzusetzen. Dabei ist für unseren Bereich heute schon festzustellen, daß einige Projekte wie die Gründung von wissenschaftlichen Instituten, der Ausbau der Mikroelektronik, der Bau des Freihafens in Duisburg sowie der Ankauf von Gewerbeflächen mit starker finanzieller Beteiligung des Landes zügig vorangehen.
Andererseits gibt es angekündigte Projekte, die sich in ihrer Verwirklichung schwertun. Dies gilt insbesondere für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Objektiv gesehen ist die betroffene Region Duisburg/Oberhausen noch lange nicht über den Berg. Die augenblickliche Stahlkonjunktur verdeckt ein wenig die entstandenen Strukturschwächen. Auf dem Arbeitsmarkt gibt es nach wie vor keinerlei Anzeichen für eine Entlastung. Die Arbeitslosenquote in dieser Region liegt immer noch über 15 %.
Eine Verbesserung dieser Situation wird nur gelingen, wenn Investitionen getätigt werden, die das Arbeitsplatzangebot vergrößern und nicht überwiegend der Rationalisierung dienen. Wir warten daher darauf, daß die Investitionen, die im Rahmen der Ruhrgebietskonferenz für die Bundesbahn und die Bundespost vorgesehen sind, begonnen werden. Dies meinte ich auch, als ich von den Projekten sprach, die vor einem Jahr angekündigt wurden, deren Beginn sich leider immer wieder hinauszögert. Unsere Aufgabe muß es daher sein, auch weiterhin darauf zu achten, daß die versprochenen Hilfen so schnell wie möglich wirksam werden, und die private Wirtschaft immer wieder daran zu erinnern, daß sie neue Arbeitsplätze versprochen hat.
Die Aufbruchstimmung, meine Damen und Herren - da gebe ich meinem Vorredner recht - , in der Region ist vorhanden. Ein Selbstläufer wird es trotzdem nicht werden. Daher muß die politische Verantwortung für diese Region auch in Zukunft begleitend erhalten bleiben. Die Ankündigungen und Versprechungen, die sich aus den Ruhrgebietskonferenzen ergeben haben, haben große Hoffnungen bei den betroffenen Bürgern erzeugt. Wir Politiker und die Politik insgesamt dürfen die bestehenden Erwartungen nicht enttäuschen. Daß die private Wirtschaft in derselben Verantwortung steht, möchte ich in dieser Debatte doppelt unterstreichen.
Herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich glaube, die Menschen an der Ruhr sehen seit der Ruhrgebietskonferenz beim Bundeskanzler wieder mit mehr Zuversicht in die Zukunft.
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Das Lamento an der ideologischen Klagemauer verstummt erfreulicherweise allmählich, die Stimmung des Aufbruchs, so denke ich, ist unverkennbar. Seit die Landesregierung ihre unberechtigte Anschwärzung der Bundespolitik zumindest zeitweilig, hoffentlich auf Dauer aufgegeben und sich als mitverantwortlicher Partner in die Pflicht genommen hat, konnten einige der Barrieren für die Revitalisierung des Ruhrgebiets abgebaut werden. Die positive Bilanz der vom Bund kräftig aufgestockten Gemeinschaftsaufgabe hat ja nun auch endlich die NRW-Staatskanzlei eingeräumt.
Meine Damen und Herren, noch bedeutsamer für den Klimawechsel an der Ruhr ist sicherlich auch die Gründung des Initiativkreises führender Wirtschaftsunternehmen und namhafter Persönlichkeiten in der vergangenen Woche. Die Anstoßwirkung solcher Selbsthilfemaßnahmen kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Die Botschaft ist nach außen hin deutlich und wohl auch gut angekommen: Es lohnt sich wieder, sich für das Revier einzusetzen und seine vielfältigen Attraktivitäten herauszustellen. Was für ein Kontrast, meine Damen und Herren, zu den Demonstrationen auf den Rheinhausener Rheinbrücken und vor den Privathäusern der Krupp-Verantwortlichen! Dadurch ist seinerzeit der Ruf des Ruhrgebiets sicher nicht gefördert worden.
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Meine Damen und Herren, es gilt nun, glaubhaft darzustellen, daß in dem Umdenken in den Köpfen der politisch Verantwortlichen an der Ruhr nicht nur kurzfristige Kosmetik aus opportunistischem Kalkül, sondern eine wirkliche Wende zum Ausdruck kommt. Zweifel, so fürchte ich, bleiben gestattet. Warum leistet sich sonst die Mehrheitspartei SPD in vielen Städten des Ruhrgebiets zermürbende Grabenkämpfe und interne Feldschlachten, über denen ihre Tagespflichten zur aktiven Wirtschaftsförderung oft in Vergessenheit geraten?
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Und, meine Damen und Herren, sind die Parolen der Unternehmensfeindlichkeit nur bis zum nächsten Wahlkampf eingemottet oder tatsächlich redlicher Einsicht gewichen? Wie weit reicht nun eigentlich die Bereitschaft der SPD, das Heil nicht nur in staatlichen Programmen zu suchen, sondern auch der Wirtschaft den erforderlichen Spielraum zu belassen?
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Meine Damen und Herren, nicht nur der neue Initiativkreis der Wirtschaft, der markante Schwerpunkte für Kultur und Wissenschaft setzen will, sondern auch die Befunde der Mikat-Kommission belegen, daß eine wirksame Strukturerneuerung auf vielen Feldern zugleich ansetzen muß und auch anknüpfen kann.
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Ein vielgestaltiges Kulturleben z. B. macht einen der größten Aktivposten des Ruhrgebiets aus. Überregionale Akzente setzen etwa die Eröffnung des AaltoTheaters in Essen oder die große Munch-Ausstellung, übrigens ein hervorragendes Beispiel für privates Engagement für die Kultur.
Schlechte Noten dagegen für die Schulpolitik: Die Mikat-Gutachter mußten Landesregierung und Ratsmehrheiten mit Recht ins Stammbuch schreiben, daß eine günstige Wirtschaftsentwicklung natürlich auch von den Bildungsmöglichkeiten abhängt. Die ideologische Durchsetzung der Gesamtschule auf Kosten der Gymnasien etwa paßt nicht in das neue Bild vom attraktiven und wirtschaftsoffenen Ruhrgebiet.
Meine Damen und Herren, mit der europäischen Marktöffnung wird die Bedeutung des großen Wirtschaftsraums Ruhrgebiet noch zunehmen. Er muß sich dafür freilich auch noch rüsten. Was verspricht sich eigentlich die Staatskanzlei davon, wenn sie die berechtigte Forderung nach dem modernen Schnellbahnsystem Transrapid auf die Flughafenverbindung Düsseldorf-Köln/Bonn beschränkt,
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wenn im Dezember auch der Ministerpräsident selbst im Gespräch mit einer großen Ruhrgebietszeitung nur dieses Trassenstück der Erwähnung wert erachtete,
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wo doch die Wirtschaft bekanntlich eine Strecke vom Ruhrgebiet über die Flughäfen mit Weiterführung ins Rhein-Main-Gebiet fordert? Die ursprünglich ablehnende Haltung zur Magnetschnellbahn in NordrheinWestfalen spukt offenbar immer noch in den Hirnen der SPD-Landespolitiker.
Die Anstoßwirkungen der Ruhrgebietskonferenz sind auch weit über die Grenzen Europas hinaus wahrgenommen worden. Das Interesse z. B. kanadischer Investoren, auf dem ehemaligen Hüttengelände in Oberhausen das größte Freizeit- und Einkaufszentrum der Welt errichten zu wollen,
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hat, wie immer man zu dem noch reichlich schillernden und verschwommenen Projekt auch stehen mag, den Standort Ruhrgebiet jedenfalls positiv ins Gespräch gebracht.
Was nun leider allzuoft noch fehlt, ist die Fähigkeit von Land und Städten, auch geeignete Flächen anzubieten.
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Diese Chancen dürfen nicht durch die oft mangelnde Kompetenz der SPD-Gemeinderäte im Ruhrgebiet zerstört werden.
Meine Damen und Herren, was die Umstrukturierung des Reviers betrifft, werden die betroffenen Menschen, wird die Region die Freien Demokraten immer an ihrer Seite wisssen.
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Vielen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
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Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger!
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Der Beitrag von Herrn Lammert eben hat gezeigt, mit welchem Trick die Ruhrgebiets-CDU versucht, den Wahlkampf für Nordrhein-Westfalen zu eröffnen, nämlich: Stimmungsmache gegenüber realen Problemen im Ruhrgebiet. Die realen Probleme heißen bis heute: zunehmende Erwerbslosigkeit
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und infolge der zunehmenden Erwerbslosigkeit zunehmende Armut im Ruhrgebiet.
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Herr Lammert und Herr Beckmann, es ist unbestritten, daß es in bestimmten Teilen, und zwar in Minderheitskreisen, im Ruhrgebiet eine Aufbruchstimmung gibt, u. a. in der Mikat-Kommission, die wesentlich aus Politikern von gestern und vorgestern zusammengesetzt ist, und auch in dem Initiativkreis aus führenden Wirtschaftsunternehmungen.
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Völlig im Kontrast zu dieser Aufbruchstimmung stehen die Warnstreiks gestern auf vier Schachtanlagen im Ruhrgebiet, die wieder eine Reaktion auf eine ganz spezifische Stimmungsmache aus dem Wirtschaftsministerium unter Herrn Haussmann sind, von wo nämlich den Menschen im Ruhrgebiet, insbesondere im Bergbau, Angst und Schrecken eingejagt wird, und zwar damit, daß der schon längst beschlossene Abbau von Arbeitsplätzen bei Kohle und Stahl bis 1995 noch weiter zunehmen wird.
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Wenn man die Zusagen aus dem Zukunftsprogramm Montanregion, das ja das Ergebnis der Ruhrgebietskonferenz war, nämlich innerhalb von fünf Jahren 400 Millionen DM aus Bundesmitteln ins Ruhrgebiet fließen zu lassen, mit den Ergebnissen der Kabinettsrunde zum Kohlepfennig vom November 1988 vergleicht, wird man feststellen: Auf der einen Seite sollen in fünf Jahren dem Ruhrgebiet 400 Millionen DM aus Bundesmitteln gegeben werden; auf der anderen Seite ist geplant, beim Kohleausgleichsfonds NRW und dem Saarland 1,4 Milliarden an Revierausgleich und Erschwerniszulage für niederflüchtige Kohle wegzunehmen. Das heißt, unter dem Strich wird durch die Politik der Bundesregierung dem Ruhrgebiet in den nächsten fünf Jahren mehr als eine
halbe Milliarde Mark genommen. Statt daß ihm gegeben wird, wird ihm durch die Politik der Bundesregierung genommen, und die Stimmung, die das an der breiten Basis der Bevölkerung im Ruhrgebiet auslöst, ist nicht Aufbruchstimmung, sondern genau das Gegenteil. Rheinhausen war ein Signal; die Warnstreiks gestern im Bergbau sind ein weiteres Signal.
Die Mikat-Kommission und die von ihr einstimmig vorgelegten Vorschläge kann man als einen Großangriff auf die ökologischen Lebensbedingungen im Ruhrgebiet charakterisieren.
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Dort wird einstimmig, mit Zustimmung der ehemaligen Gewerkschaftsvorständler Adolf Schmidt und Rudolf Judith, gefordert: Ausbau der Autobahnen DÜBO-DO und A 430,
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Schnellstrecke Transrapid Düsseldorf-Köln. Dort wird eine Verkürzung der Genehmigungsverfahren für Industrieansiedlungen im Unternehmerinteresse und gegen die Interessen von Umwelt und der Bürgerinnen gefordert.
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Man kann eindeutig sagen: Während auf der einen Seite alles über die Notwendigkeit von Klimaschutz redet, über die Fraktionen hinweg, ist die Botschaft der Mikat-Kommission: Wir brauchen einen besonderen Standortvorteil im Ruhrgebiet, und das heißt: Das Ruhrgebiet muß zu einer klimaschutzfreien Zone werden. - Wir halten dies für einen absoluten Skandal. Wenn man sich fragt: Wie kommt das denn?, stellt man fest, daß die Mikat-Kommission keineswegs eine unabhängige Kommission war, sondern daß deren Mitglieder ganz gezielt ausgewählt worden sind, wesentlich mit Politikern von gestern und vorgestern besetzt war. Entsprechend sind die Politikvorschläge,
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Vorschläge für die Fortsetzung einer ewiggestrigen Politik.
Für skandalös halte ich, daß die Landesregierung, auch gestern in der Landtagsdebatte, die Modernisierung des Ruhrgebiets offensichtlich in einer Wende rückwärts sieht. Rau lenkt ein in Fragen des Ausbaus der DÜ-BO-DO. Jochimsen machte vor Monaten den Vorschlag, die Autobahn 430 doppelstöckig auszubauen - ein ökologischer Wahnwitz. Es wird ein Triple-Five-Projekt vorgeschlagen. Oberhausen soll zu Superhausen werden ({9})
nach Ansicht von Zöpel, nach Ansicht der LandesJungsozialisten und nach Ansicht der GRÜNEN ein ökologisches und ökonomisches Wahnsinnsprojekt. Das Ruhrgebiet, insbesondere die Emscherzone im
Ruhrgebiet, soll mit einer Fülle von sogenannten Entsorgungseinrichtungen überzogen werden, damit es vom ehemaligen Kohlenpott in Zukunft zum Müllklo der Nation wird. Wir GRÜNEN halten dies für eine ökologische Wende rückwärts der Landesregierung, garniert als Modernisierung für die Zukunft.
Unsere Forderung ist: Wir brauchen tatsächlich eine Investitionsoffensive im Ruhrgebiet, allerdings unter der Perspektive, eine Ökoregion Ruhrgebiet zu schaffen, die insbesondere Investitionsmittel in die benachteiligte Emscherzone lenkt.
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- Sie haben überhaupt keine Ahnung, was eine grüne Wiese ist.
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Unser Vorschlag ist, das gesamte Abwassersystem in der Emscherzone, nicht nur dort, aber besonders dort, umzubauen, was über eine Generation lang Milliarden-Mittel erfordert. Das Ziel muß sein, aus der Emscher und ihren Nebenbächen wieder naturnahe oder sogar renaturierte Flüsse und Bäche zu machen,
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in denen in Zukunft wieder gebadet und gefischt werden kann. Das ist ökologisch, technisch und finanziell möglich, wie selbst in der Emscher-Genossenschaft mittlerweile diskutiert wird.
Ein weiteres Feld für Milliarden-Investitionen ist der ökologische Umbau des Energiesystems im Ruhrgebiet.
Herr Abgeordneter Stratmann, Sie wissen, daß ich an die Geschäftsordnung gebunden bin und sehr scharf darauf achten muß. Bringen Sie mich nicht in Verlegenheit! Bitte schön.
Deswegen schließe ich meinen letzten Satz ab.
Der ökologische Umbau des Energiesystems im Ruhrgebiet schafft nicht nur die ökologisch notwendige Energieeinsparung und eine Umstellung auf ein rationelles Energiesystem, sondern ist darüber hinaus in der Lage, notwendige Ersatzarbeitsplätze für den Rückgang im heimischen Steinkohlebergbau zu schaffen.
Danke schön.
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- Die große Koalition von Lammert und Vosen ist wieder eindeutig.
(Rixe [SPD]: Und das auf den Plätzen der
GRÜNEN!
Den letzten Satz werden wir auf die Redezeit natürlich nicht anrechnen.
Nun hat das Wort der Bundesminister Schäuble.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Regionale Strukturpolitik ist nach unserer Verfassung primär Aufgabe der Bundesländer und muß es auch bleiben. Dennoch hat der Bundeskanzler am 24. Februar vergangenen Jahres zu einer Ruhrgebietskonferenz eingeladen,
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um mit allen Verantwortlichen konkrete Schritte für eine Wiederbelebung des alten Industriereviers zu vereinbaren und so neue Zukunftschancen zu erschließen. Die Bundesregierung hat damit in gesamtstaatlicher Verantwortung und Solidarität gehandelt, ohne daß die zuständige Landesregierung aus ihrer primären Verantwortung entlassen werden kann.
Wir können heute, ungefähr ein Jahr danach, eine positive Bilanz ziehen. Das ist in diesen Tagen bemerkenswert genug und ist in Düsseldorf von der Landesregierung ausdrücklich anerkannt worden.
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Es ist mehr erreicht worden, als die meisten vor einem Jahr erwartet haben.
Wie die Landesregierung am Mittwoch bekanntgegeben hat, wurden durch das vom Bundeskanzler initiierte Sonderprogramm für Montanregionen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur allein in Nordrhein-Westfalen 422 Investitionsvorhaben der gewerblichen Wirtschaft gefördert, mit denen nach Angaben der Unternehmen insgesamt '7 600 dauerhafte Arbeitsplätze neu geschaffen werden konnten.
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Ich möchte daran erinnern, daß mit diesem Sonderprogramm für Montanregionen zusammen mit dem Resider-Programm der EG allein für das Ruhrgebiet insgesamt 1 Milliarde DM an zusätzlichen staatlichen Mitteln zur Förderung von arbeitsplatzschaffenden Investitionen im Ruhrgebiet zur Verfügung gestellt werden, die noch bis 1993 dem Revier bei der Bewältigung des Strukturwandels helfen.
Es muß auch einmal anerkannt werden, meine Damen und Herren, daß die revierfernen Bundesländer diesem Sonderprogramm die notwendige Zustimmung gegeben haben und es damit überhaupt erst ermöglicht haben, daß Beträge von über 1 Milliarde DM an Investitionsfördermitteln in die Montanreviere fließen können.
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- Dazu komme ich noch.
Die Ruhrgebietskonferenz hat in den Montanstandorten des Reviers eine neue Aufbruchstimmung ausgelöst. Das Wort vom „Aufbruch hin zu Duisburg 2000" macht die Runde, so heißt es in einem Bericht der Stadt über die Umsetzung des Programms vom November 1988. Der Oberbürgermeister dieser Stadt - den werden Sie ja kennen, meine Damen und Herren von der SPD - hat bei einer Festrede im November 1988 die positive Signalwirkung der Ruhrgebietskonferenz des Bundeskanzlers gewürdigt und festgestellt, daß kaum ein Woche vergehe ohne eine Grundsteinlegung in der Stadt. Die Menschen in Duisburg hätten das Gefühl bekommen, daß die Bundesregierung ihre Sorgen ernst nehme und daß nun effektiv etwas getan werde.
Ein Jahr nach der Konferenz ist das für die Region Duisburg vorgesehene Maßnahmenpaket nahezu abgeschlossen. Ich glaube, daß wir alle die Bedeutung dieser Bilanz nur ermessen können, wenn wir uns an die demonstrierenden Arbeiter aus Rheinhausen Ende 1987 noch einmal erinnern.
Wir haben Schritt für Schritt in diesem Jahr - übrigens gemeinsam mit der Landesregierung in Düsseldorf - den Fortgang der versprochenen und ins Auge gefaßten Vorhaben überwacht und bilanziert, und wir werden das auch jetzt tun. Ich will aus dieser umfassenden Bilanz hier nur einige wenige Beispiele über Duisburg hinaus in aller Kürze erwähnen:
Zum Beispiel ist auch Oberhausen im Rahmen des regionalpolitischen Sonderprogramms höhergestuft worden zu einem Schwerpunktort mit 18%iger Förderung. Die Arbeitsmarktregionen Wesel/Moers und teilweise Hamm/Beckum sind ebenfalls in die Regionalförderung aufgenommen worden.
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In Dortmund fördert der Bundesminister für Forschung und Technologie Hochtechnologieentwicklungen bei der Dortmunder Elektronenspeicherringanlage.
Der Bund hat gemeinsam mit den Ländern in den Gremien der Fraunhofer-Gesellschaft eine Sonderfinanzierung des Dortmunder Instituts für Transporttechnik und Warendistribution zugestimmt.
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Auch die vom Land Nordrhein-Westfalen gewünschte Verbesserung der sogenannten Sitzlandquote für Max-Planck-Institute ist beschlossen worden.
Im Umweltbereich wurde zwischen Bund und Land Einvernehmen über die Förderung eines Pilotprojektes Abfallbeseitigung erzielt, und der Bundesumweltminister fördert Demonstrationsvorhaben zur Verminderung von Umweltbelastungen in Nordrhein-Westfalen nach dem derzeitigen Stand mit zunächst 13 Umweltschutzprojekten und einem Investitionsvolumen von 120 Millionen DM.
Auch die Deutsche Bundespost hat im vergangenen Jahr weit über das versprochene Investitionsvolumen von 500 Millionen DM hinaus investiert. Sie hat im übrigen weitere Aufträge im Gesamtwert von 980 Millionen DM rechtsverbindlich erteilt, die in dieBundesminister Dr. Schäuble
sem Jahr, 1989, zu konkreten Ausgaben führen werden.
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Wir sind auch bei den längerfristigen Projekten wie der Einbeziehung des Ruhrgebiets in die Schnellbahnverbindung Paris-Brüssel-Köln oder der Neubaustrecke Köln-Rhein/Main, der Magnetbahn oder der Anbindung der Flughäfen Düsseldorf und Köln/ Bonn gute Schritte vorangekommen.
Wir haben zur Sicherung von Ausbildungskapazitäten im Ruhrgebiet zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt und fördern Modellversuche im Bereich der beruflichen Bildung.
All diese und viele weitere Einzelpunkte zeigen, daß seitens der Bundesregierung alles unternommen worden ist, um die Ergebnisse der Ruhrgebietskonferenz gemeinsam mit dem Land so schnell wie möglich umzusetzen.
Aber viel wichtiger als einzelne Projekte ist die im Ruhrgebiet mit dieser Ruhrgebietskonferenz erzeugte Aufbruchstimmung.
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In dieses Bild paßt auch die schon erwähnte und auch damals beschlossene Initiative der deutschen Wirtschaft, mit der konkrete Investitionsprojekte gefördert werden sollen. Eine Region mit Zukunft braucht nicht nur Investitionen in moderne Technologien, sondern auch ein attraktives Angebot in den Bereichen Kultur, Sport und Freizeit.
Ich möchte auch die Strukturhilfe des Bundes, aus der Nordrhein-Westfalen jährlich immerhin 756 Millionen DM erhält,
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in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt lassen. Die mit maßgeblicher politischer und finanzieller Hilfe des Bundes erzeugte Aufbruchstimmung in Nordrhein-Westfalen läßt sich auch an konkreten Zahlen ablesen, die die Landesregierung in Düsseldorf in diesen Tagen bekanntgegeben hat.
Die Bundesregierung, meine Damen und Herren, wird auch in Zukunft zu ihrer Solidarität mit den strukturschwachen Regionen stehen. Aber die Pflicht der Länder, in ihrer primären Verantwortung selbst das Notwendige zu tun, ist damit nicht aufgehoben.
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Wenn sich etwa die Landesregierung in Düsseldorf ausführlich mit der Frage beschäftigen muß, ob Genehmigungsverfahren in Nordrhein-Westfalen länger dauern als anderswo, dann belegt dies ja wohl auch, daß in Nordrhein-Westfalen noch immer nicht ein ausreichend fortschritts- und investitionsfreundliches Klima herrscht.
Wir haben uns bei der Konzeption der Ruhrgebietskonferenz sehr bewußt für eine Strategie des Konsenses statt des Konflikts entschieden, weil nach der Zuständigkeitsverteilung unseres Grundgesetzes nur in gemeinsamer Verantwortung Fortschritte zu erreichen sind. Aber ich füge auch hinzu: Gesamtstaatliche Verantwortung darf niemals zur Einbahnstraße werden. Es geht nicht an, immer nur Forderungen bei der Bundesregierung abzuladen, ohne selbst die eigenen Aufgaben zu meistern.
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Die Fähigkeit zum kooperativen Föderalismus darf uns in der Bundesrepublik Deutschland nicht verlorengehen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch eine Bemerkung anfügen. Der Strukturwandel steht auch in einem engen Zusammenhang mit der Kohlepolitik.
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Der Steinkohlebergbau und seine Beschäftigten können in dem schwierigen Anpassungsprozeß nicht alleine gelassen werden. Für die Bundesregierung hat deshalb die Solidarität mit dem Revier und mit den Bergleuten besonderes Gewicht.
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Ich begrüße auch, daß Ministerpräsident Rau jetzt für einen neuen Konsens in der Energiepolitik eintritt, aber er muß sich doch die Frage stellen lassen, ob es für den Steinkohlebergbau nicht besser gewesen wäre, am alten Konsens zwischen Kohle und Kernenergie festzuhalten.
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Für die Bundesregierung steht außer Zweifel, daß die heimische Steinkohle auch in Zukunft einen wichtigen Beitrag zu unserer Energieversorgung leisten wird. Sie hat angesichts der schwierigen Rahmenbedingungen gehandelt. Wir haben von 1983 bis 1988 die Kohle mit über 33 Milliarden DM gestützt. Allein 1988 waren es 10 Milliarden DM. Wir haben gegen den Widerstand der revierfernen Länder den Kohlepfennig auf 8,5 % heraufgesetzt. Damit sind aber die Grenzen der Belastbarkeit für unsere Wirtschaft und auch für die revierfernen Länder erreicht.
Ich füge hinzu: Angesichts der Verantwortung, die auch sozialdemokratische Amtsträger auf Landes- und Kommunalebene für die Elektrizitätsversorgungsunternehmen tragen, erwartet die Bundesregierung, daß sich die von Ministerpräsident Rau zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft zu einem Konsens in der Frage einer Stabilisierung des Verstromungsfonds schon bald konkretisiert. Hier kann sich zeigen, meine Damen und Herren, wie ernst es der SPD und der von ihr geführten Landesregierung ist. Lippenbekenntnisse und Forderungen an die Bundesregierung allein reichen nicht aus. Gefordert ist verantwortliches Handeln und Entscheiden für eine sichere Zukunft.
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Das Wort hat der Minister für Bundesangelegenheiten des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Minister Einert.
Minister Einert ({0}): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bei der Ruhrgebietskonferenz vor einem Jahr vom 24. Februar 1988, die schon mehrfach zitiert wurde, hat der
Minister Einert ({1})
Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Herr Rau, erklärt:
Das Ruhrgebiet ist keine absinkende Region. Das Ruhrgebiet ist eine traditionelle Industrieregion im Wandel, eine Region mit Zukunft.
Viele haben damals und einige heute noch gezweifelt, aber das vergangene Jahr hat deutlich gezeigt: Bei der ökonomischen und auch - ich füge das, Herr Abgeordneter Stratmann, ausdrücklich hinzu - bei der ökologischen Erneuerung des Ruhrgebiets sind wir ein gutes Stück vorangekommen.
({2})
Zu diesem Ergebnis kommt auch die Kommission, die unter Leitung des ehemaligen nordrhein-westfälichen Kultusministers und CDU-Bundestagsabgeordneten Professor Mikat die Montanregion des Landes Nordrhein-Westfalen untersucht hat. In ihrem Bericht, der in der vergangenen Woche der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, steht - ich zitiere ebenfalls einen Satz -:
Er
gemeint ist der Stellenwert des Ruhrgebiets besteht vor allem in einem hohen Potential an praxisnaher Wissenschaft, an neuen Techniken, an qualifizierten Arbeitnehmern und nicht zuletzt in den fraglos vorhandenen Anpassungserfolgen.
Den nordrhein-westfälischen Bürgern war im Februar 1988 klar: Die Zukunftssicherung der Montanregionen ist eine nationale Aufgabe. Eine solche Aufgabe kann auch das stärkste Bundesland nicht alleine schaffen.
Ich will hier keine Wahrheitsfindung machen, wer nun was initiiert hat. Das bringt auch, glaube ich, nicht viel. Aber unstreitig ist wohl, daß sich der Bund lange geziert hat,
({3})
seine regionalpolitische Mitverantwortung für die Montanregionen anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Herr Bundesminister Schäuble hat eben völlig mit Recht - ich widerstreite das überhaupt nicht - auf unsere verfassungsgemäße Systematik hingewiesen - völlige Übereinstimmung - , daß für Regionalpolitik die Länder vorrangig zuständig und verantwortlich sind. Von da aus ist für eine Auffassung, daß der Bund sagt: Bei einer solchen regionalpolitischen Zuständigkeit wollen wir sehr zurückhaltend sein, und das lehnen wir über Zeiten hinweg auch ab - ({4})
- Diese Vor- und Nach-Wende-Diskussionen können Sie führen. Das mag für Historiker vielleicht eine Bedeutung haben. Unstreitig ist jedenfalls, wenn ich formuliere, daß sich der Bund lange geziert hat, seine regionalpolitische Mitverantwortung für die Montanregionen anzuerkennen und entsprechend zu handeln.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang an den nordrhein-westfälischen Gesetzesantrag nach Art. 104 a Abs. 4 des Grundgesetzes vom Oktober 1987, der für vier Jahre im Wege der Mischfinanzierung insgesamt 2 Milliarden DM an Investitionshilfen für das Ruhrgebiet vorsah. Meine Damen und Herren, diese Initiative, von uns im Bundesrat vorgetragen, fand mit der Begründung, die ich eben zitiert habe, keine Unterstützung. Das ist eine Feststellung. Nur wenige Monate später kam es allerdings zu der Ruhrgebietskonferenz in Bonn.
Nun sage ich einen Satz völlig leidenschaftslos: Das Bekenntnis des Bundeskanzler zur regionalpolitischen Mitverantwortung der Bundesregierung für die Montanreviere war, glaube ich, das wichtigste Ergebnis dieser Konferenz, obwohl es sich nicht in Mark und Pfennig unmittelbar aufrechnen und ausrechnen läßt. Ich sage diesen Satz ganz leidenschaftslos und ganz neutral.
({5})
Vom Geld rede ich gleich noch. Aber ich spreche zunächst von dieser Erklärung zur Mitverantwortung.
Insoweit gibt es durchaus Zustimmung zu dem, was der Abgeordnete Lammert hier ausgeführt hat. Auch den Streit, wer was initiiert hat - ich habe es bereits gesagt - lasse ich offen. Was ich gut finde, ist - das sollten Sie in Ihren Reihen vielleicht einmal bedenken - , daß mit der Ruhrgebietskonferenz wohl auch eines zu Ende ist, nämlich das Herunterreden des Ruhrgebiets. Die Möbelwagenaktion und die Formulierung, was denn wohl das Ruhrgebiet wäre - ich will das mit den Abfallproduktionsstätten nicht mehr so groß aufwärmen - ({6})
- Wenn gesagt worden ist, das sei zu Ende, dann darf ich daran erinnern. An der Klagemauer in damaligen Zeiten, als es darum ging, nicht Almosen, sondern, wie wir glauben, unser Recht zu bekommen - das ist ein Unterschied - , standen nicht nur Sozialdemokraten. Dazu darf ich Ihnen einen Namen nennen, der bei Ihnen vielleicht eine höhere Attraktivität hat und den wir sehr respektieren, nämlich Kardinal Hengsbach.
({7})
Also sollten wir uns darauf verständigen, daß, wer Recht zur Klage hat, darauf angewiesen ist, für solche Aktivitäten Freunde und Bündnisgenossen zu haben.
({8})
Die Öffentlichkeit hat die Konferenz und die Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen mit großem Interesse, sicherlich auch mit einem Schuß Skepsis verfolgt. Diese Skepsis war, wie ich glaube, auch ganz gut. Denn der öffentliche Druck hat sicher mit zur schnellen Realisierung verschiedener Einzelmaßnahmen beigetragen.
Das Kernstück ist das Sonderprogramm im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur". Ich sage zur Klarstellung:
Minister Einert ({9})
Nicht einmal zwei Monate nach der Ruhrgebietskonferenz beschloß der Planungsausschuß das Fünfjahresprogramm, in welchem Bund und Land jeweils 80 Millionen DM jährlich bereitstellen. Ich kann die Zahlen nur bestätigen, die Herr Minister Schäuble hier genannt hat. Bereits 1988 - obwohl wir da nur ein halbes Jahr zur Verfügung hatten - konnten aus diesem Programm insgesamt 422 Vorhaben der gewerblichen Wirtschaft gefördert, ein Investitionsvolumen von 2,9 Milliarden DM angestoßen und rund 7 600 neue, zukunftssichere Arbeitsplätze geschaffen werden.
Flankiert wird dieses Programm durch ein BundLand-Programm zur Sicherung von Ausbildungsplätzen, was wir für ganz wesentlich halten; denn im Programm sind 750 Plätze vorgesehen. Das haben wir bereits im ersten Jahr übertroffen. Wir haben zur Zeit 826 qualifizierte Ausbildungsplätze in rein technologieorientierten Berufen neu schaffen können.
Das ist nicht alles. Nordrhein-Westfalen hat auch selbst die Idee des von mir eben erwähnten Investitionsprogramms weiter verfolgt und ein eigenes Programm „Zukunftsinitiative Montanregion" aufgelegt. In vier Jahren werden hierfür 1 080 Millionen DM zur Verfügung gestellt. Ich erwähne dies hier, um auch einmal die finanziellen Größenordnungen und Kraftanstrengungen für den nordrhein-westfälischen Landeshaushalt zu verdeutlichen. Das bedeutet in Zahlen: Bund 5 x 80 Millionen DM = 400 Millionen DM, Land: ebenfalls 400 Millionen DM - da wir in dem Bereich halbe/halbe finanzieren - plus 1 080 Millionen DM Montanstandorteprogramm, also ein Verhältnis 400 Millionen: 1 480 Millionen DM. Ich bringe diese Gegenüberstellung nur, um deutlich zu machen, daß wir uns unserer Verantwortung, auch der vorrangigen regionalpolitischen Verantwortung, durchaus bewußt sind und auch danach handeln.
({10})
Insoweit gibt es zwischen Worten und Taten überhaupt keinen Widerspruch.
Bei der Umsetzung der Beschlüsse der Ruhrgebietskonferenz auf den verschiedenen Politikfeldern sind wir gemeinsam mit dem Bund unterschiedlich weit gekommen. Ich sage ausdrücklich, wenn ich mir verschiedene Bereiche ansehe: Vorbildlich ist die Zusammenarbeit z. B. im Umweltschutzbereich zwischen dem Bundesumweltminister Töpfer und meinem Kollegen Matthiesen.
({11})
Hier ist mit einem hohen Grad von Kooperation in zeitlich schneller Abfolge alles das realisiert worden, was im Programm verabredet worden war. Die 33 Projekte mit rund 500 Millionen DM Investitionsvolumen sind genannt worden. In anderen Bereichen war es wesentlich zähflüssiger. In einigen Bereichen hat es zum Erfolg geführt.
Ich will hier nicht in kleiner Münze herummäkeln, aber ich bitte um Verständnis, wenn ich vier große Bereiche stichwortartig nenne:
Das ist einmal die straßenunabhängige Schnellverbindung zwischen den Flughäfen Düsseldorf und
Köln/Bonn. Wir haben sehr frühzeitig - das kann keiner bestreiten - unsere volle Bereitschaft erklärt, das Projekt in Nordrhein-Westfalen durchzuführen. Alle nordrhein-westfälischen Abgeordneten werden bestätigen, daß wir sie mit der Bitte um Unterstützung angegangen sind.
Herr Abgeordneter Beckmann, in aller Freundschaft darf ich Sie daran erinnern: Es gibt auch ein Empfehlungspapier des Koalitionsarbeitskreises, wo der Transrapid, in der Öffentlichkeit deshalb scherzhaft als „Heidschnuckenexpreß" bezeichnet, eigentlich eingerichtet werden soll. Wenn wir uns also verständigen können, daß das nicht so sein soll und eine nordrhein-westfälische Trasse Vorrang bekommen soll, gibt es volle Übereinstimmung. Dann werden wir gemeinsam kämpfen.
Herr Landesminister, ich hoffe, ich trete Ihnen nicht zu nahe, wenn ich sage: Ihnen wird die Geschäftsordnung nicht ganz bekannt sein. Wenn Sie die Redezeit von zehn Minuten überschreiten - Sie stehen kurz davor ({0})
- nein, nicht ganz - , würde die Aussprache neu eröffnet werden. Ich wäre Ihnen daher sehr dankbar, wenn Sie kurzfristig zum Schluß kämen; denn Sie brächten uns sonst unser gesamtes Programm durcheinander. Ich hoffe, daß Sie dies nicht als eine Belehrung mißverstehen.
Minister Einert ({1}): Nein, keineswegs.
Aber im Sinne einer ordentlichen Abwicklung wäre ich sehr dankbar, wenn Sie entsprechend Rücksicht nehmen könnten.
({0})
Minister Einert ({1}): Herr Präsident, ich bin Ihnen dankbar für den Hinweis. Nur, nachdem ich gehört habe, daß alleine drei Bundesminister zu dem Punkt -
Auch dieses läßt unsere Geschäftsordnung nicht zu, sondern bestenfalls zwei, sonst kriegen wir das gleiche Problem - aus Ihrer Sicht vielleicht: schlimmstenfalls. Auf jeden Fall werde ich das zu verhindern wissen.
({0})
Minister Einert ({1}): Dann werde ich mit einem Satz abschließen und mich je nach Argumenten - die Möglichkeit habe ich doch wohl - ein zweites Mal zu Wort melden.
({2}) Oder ist das nicht geregelt, Herr Präsident?
Auch das ist geregelt. Wenn die Gesamtzeit 30 Minuten überschreitet, Herr Landesminister, komme ich in die Verlegenheit. Es tut mir schrecklich leid.
Ich glaube, wir verständigen uns darauf: Sie machen zunächst einmal einen Schlußsatz, und dann
Vizepräsident Cronenberg
werde ich versuchen, mit den Geschäftsführern eine ordentliche Regelung zu finden.
({0})
Minister Einert ({1}): Einverstanden. Herr Präsident, ich bin Ihnen dankbar.
Lassen Sie mich abschließend einen Satz sagen. Wir denken heute an einen bestimmten Tag vor einem Jahr, an den 24. Februar 1988. Ich möchte Sie ganz herzlich bitten,
({2})
noch einen Schritt weiter zurückzugehen und sich auch an den 17. Dezember 1987 - wenige Wochen vorher - zu erinnern. Dies war auch ein Tag, der durch Konsens, Kompromiß und gemeinsame Verantwortung geprägt war. Sie alle wissen, welcher Tag damit gemeint ist, nämlich der Tag, an dem die noch heute gültige Kohlerunde stattfand. Wer von dem damals, am 17. Dezember 1987, gefundenen Konsens und von der damals hergestellten Übereinstimmung abweicht, der gefährdet auch den am 24. Februar 1988 gemeinsam erreichten Erfolg.
({3})
Nun hat der Abgeordnete Horst Günther das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Wir alle freuen uns über den Aufschwung im Ruhrgebiet. Einer, der aus Duisburg kommt, und dabei, wenn ich das personifizieren darf, für seine Stadt gut abgeschnitten hat, freut sich ganz besonders.
Herr Minister Einert, ich kann auch bestätigen, daß die Kooperation nun endlich funktioniert. Aber es wurde auch höchste Zeit, denn sie hat ja viele Jahre nicht funktioniert. Wenn Sie sagen, der Bund habe sich lange geniert, etwas für das Land NordrheinWestfalen zu tun,
({0})
so kann ich das für die Jahre bis 1982 durchaus bestätigen. In dieser Zeit hat die damalige Regierung wirklich nichts für das Land Nordrhein-Westfalen getan. Danach haben wir die Dinge Zug um Zug angepackt. Wir haben der Stahlindustrie geholfen, wir haben der Kohle wirksam geholfen - das erkennt sogar die IG Bergbau an -, und wir haben laufende Projekte gefördert.
({1})
- Ja, ich wohne nicht dort, wo Sie wohnen. Sie haben davon wahrscheinlich nichts gespürt. Deshalb machen Sie hier so unqualifizierte Zwischenrufe, Herr Stahl.
Ich kann nur feststellen: Wir haben unsere Verpflichtung als Bund gegenüber Nordrhein-Westfalen immer erfüllt. Ich kann allerdings auch feststellen, daß Nordrhein-Westfalen angebotene Gelder - etwa im Verkehrsbereich - überhaupt nicht abgerufen hat. Dann aber braucht man sich nicht hier hinzustellen und zu sagen: Der Bund hat insoweit seine Aufgaben nicht erfüllt.
({2})
Meine Damen und Herren, es hat viele Anläufe gegeben. Aber alles ist vorher versandet oder auch, sage ich, bewußt verhindert worden. Die Verhinderung des Strukturwandels hat nun endlich ein Ende.
Ich will auch sagen, daß der Kommunalverband Ruhrgebiet bereits vor vier Jahren wertvolle Arbeit geleistet und die Mängel aufgezeigt hat. Aber diese Berichte durften das Licht der Welt nicht erblicken. Sie wurden von der Landesregierung totgetreten. Es kann deshalb niemand bestreiten, daß die Kanzlerrunde vor einem Jahr endlich den Durchbruch geschafft hat. Niemand, der dort am Tisch saß, hatte den Mut, sich hinterher davonzustehlen. Alle haben angepackt, und nur so stellt sich jetzt auch der Erfolg ein. Deshalb sage ich hier ein ganz herzliches Dankeschön unserem Bundeskanzler, der dafür geradesteht, im besten Sinne des Wortes.
({3})
Wenn Sie hier protestieren, dann sage ich auch noch ein besonderes Dankeschön dem Bundesarbeitsminister, der
({4})
hervorragende Vorarbeit geleistet hat.
({5})
- Meine Damen und Herren, es geht weiter: Ein ganz besonderes Verdienst - das müssen Sie auch anerkennen - hat Kanzleramtsminister Schäuble, der in hervorragender Zusammenarbeit mit der Landesregierung und der Staatskanzlei die Projekte, die eingeleitet worden sind, überwacht. Sie sehen, ich bin da ganz fair und objektiv.
({6})
Es sind enorm viele Projekte angeleiert worden. Plötzlich sind erfreulicherweise alle dabei: die Industrie- und Handelskammern, die Universitäten, die Unternehmer, die Banken, aber plötzlich auch die Oberbürgermeister der SPD-regierten Revierstädte und die Landesregierung. Das alles will ich ja anerkennen. Ich muß nur die Frage stellen, meine Damen und Herren: Warum ist das alles nicht 10 oder 15 Jahre früher eingeleitet worden?
({7})
Hervorzuheben ist auch die gute Zusammenarbeit, die inzwischen auch in manchen Ruhrgebietsstädten zwischen den Parteien funktioniert - die GRÜNEN, Herr Stratmann, leider ausgenommen; Sie haben das hier heute wieder demonstriert.
Aber die Bundesregierung hat es dabei nicht bewenden lassen. Nordrhein-Westfalen bekommt ab
1989 für zehn Jahre jährlich 756 Millionen DM Strukturhilfe. Nordrhein-Westfalen nimmt davon 400 Millionen DM - dies hat Herr Rau gestern bestätigt - und finanziert damit das ZIM-Programm, die Zukunftsinitiative Montanregion. Dies ist mit großem Getöse verkauft worden. Jetzt steht auf allen Tafeln an Baustellen und auf Einladungen - ich zitiere - : „Dieses Projekt wird mit Landesmitteln gefördert." - In Wahrheit, meine Damen und Herren, sind es Bundesmittel, die aus diesem Strukturhilfeprogramm in Höhe von 756 Millionen DM stammen.
({8})
Wenn diese Propaganda so weitergeht, müssen wir uns überlegen, ob wir Bundesmittel nicht direkt in die Städte leiten. Dann können wir das auch entsprechend darstellen.
Herr Clement von der Staatskanzlei gibt zu: 7 600 neue Arbeitsplätze gibt es seit dieser Zeit. Ich stelle fest: In verschiedenen Ruhrgebietsarbeitsamtsbezirken ging die Arbeitslosigkeit besonders stark zurück. So ging die Arbeitslosigkeit innerhalb eines Jahres in Oberhausen um 15,2 %, in Bochum um 10,4 %, in Hagen um 8,5 %, in Dortmund um 8,1 % usw. zurück. Das kommt doch nicht von ungefähr, sondern das kommt daher, daß eine vernünftige Wirtschaftspolitik eingeleitet wurde, wozu der Bundeskanzler den Startschuß gegeben hat. Darauf sind wir besonders stolz.
Vielen Dank.
({9})
Nun hat der Abgeordnete Urbaniak das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erinnern uns noch an die Möbelwagendarstellung. Der Möbelwagen fährt jetzt in anderer Richtung, oder Sie haben ihn da, um den Kollegen Blüm zu verladen. Er hat ja noch keine klare Perspektive für Nordrhein-Westfalen. Ich weiß es nicht.
({0})
Ich stelle fest: Die dynamische Entwicklung im Ruhrgebiet hat vor der Ruhrgebietskonferenz stattgefunden. Das ist überhaupt gar keine Frage. Die Kommunalpolitiker in den Städten und Gemeinden des Ruhrgebietes sind ihrer Verantwortung, Kollege Beckmann, gerecht geworden, vor allen Dingen auch die sozialdemokratischen. Aber ich nenne sie alle. Wenn Sie einen Teil der demokratischen Kräfte im Ruhrgebiet diskriminieren wollen,
({1})
dann zerstören Sie den Konsens, der dort gefunden worden ist.
({2})
Der dritte Punkt: Technologiezentren sind vor der Ruhrgebietskonferenz entstanden. Sie erleben ja eine interessante Entwicklung, auch was neue Arbeitsplätze angeht. Es hat sich ein Ruhrgebietskonsens gebildet, der beispielhaft ist für Regionen, in denen ähnliches passieren könnte. Gewerbeflächen sind da, müssen aber saniert werden, was auch geschieht. Das ist ein langer Prozeß.
({3})
Ausländische Investoren haben sich im Ruhrgebiet niedergelassen. Ich will keine Firmennamen nennen. Sie sehen weitere Investitionen vor.
Professor Mikat hat festgestellt: NRW und auch das Ruhrgebiet sind auf dem richtigen Weg - und damit ist die Politik von Ministerpräsident Rau ja wohl mit eingeschlossen.
({4})
Kollege Beckmann, wir haben besonnene Arbeitnehmer im Ruhrgebiet. Wenn sie in einem Akt der Verzweiflung seinerzeit in Oberhausen und in Duisburg
({5})
- und in Hattingen - Aktionen durchgeführt haben, die Sie genannt haben, dann dürfen Sie das nicht anprangern. Diese Menschen waren in bitterster Not und Sorge um ihren Arbeitsplatz. Das machen Sie zur Problematik. Das ist nicht in Ordnung.
({6})
Wir begrüßen die Ergebnisse der Ruhrgebietskonferenz. Für uns ist die Hilfe des Bundes selbstverständlich. Aber, Herr Haussmann, wer gerade 14 Monate nach der Bonner Kohlenrunde - mit den dort erarbeiteten und entschiedenen großen Anpassungslasten für Bergbau und Bergleute - über Massenentlassungen spekuliert, strapaziert die Geduld der Bergleute aufs äußerste und zündelt an der Lunte eines Pulverfasses. Sie haben doch diese Papiere im Wirtschaftsministerium erarbeiten lassen. Geben Sie den Bergleuten eine klare Perspektive! Sagen Sie deutlich, daß auch Sie eine saubere und klare Kohlepolitik vertreten! Sie tragen für die Arbeitsniederlegungen im Ruhrgebiet die Verantwortung.
({7})
Ich verlange von Ihnen eine klare Aussage zu dem, was in Ihrem Hause erarbeitet worden ist.
({8}) Sie haben dazu ja die Gelegenheit.
Sie haben eine weitere Hürde aufgebaut. Noch im Dezember haben Sie gesagt, Sie wollten den Stahlkodex in der Europäischen Gemeinschaft erhalten. Sie sind aber im Januar umgefallen, indem Sie den 10 Milliarden an Finsider zugestimmt haben.
({9})
- Winken Sie nicht ab, Kollege Hausmann! Sie sind noch zu jung im Amt. Sie werden sich noch mit all den Belastungen auseinanderzusetzen haben, und ich hoffe, daß Sie das vernünftig machen. Klarheit in der Stahlpolitik und Klarheit in der Kohlepolitik sind not9406
wendig; sonst wird alles zerstört, was die Ruhrgebietskonferenz erbracht hat.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Gattermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Tue Gutes und rede darüber - man wird wohl auch der Politik nicht verwehren können, nach dieser PR-Regel zu handeln. Deshalb „Jahres-Bilanzpressekonferenz" in Düsseldorf, deshalb offensichtlich die Aktuelle Stunde hier heute in Bonn.
In der Tat, die ersten Ergebniszahlen lesen sich auch sehr angenehm für einen Ruhrgebietler: angestoßenes Investitionsvolumen von fast 3 Milliarden DM, über 400 geförderte gewerbliche Projekte, über 7 000 Arbeitsplätze neu geschaffen. Das ist sehr schön. Aber deutlich mehr noch, so möchte ich ausdrücklich sagen, erfreut es mich, wenn ich die Aufbruchstimmung vor Ort erlebe, z. B. bei uns im Dortmunder Technologiepark, Herr Urbaniak, wenn ich aus den örtlichen Statistiken der Arbeitsämter die ersten ganz zarten Indizien für den Abbau struktureller Arbeitslosigkeit erkenne.
({0})
- Herr Präsident, ich bitte die Zeit abzuziehen, während der ich nicht reden kann.
Ich werde entsprechend verfahren. Ich möchte allen Ernstes die Kollegen bitten, doch nur sinnvolle Zwischenrufe zu machen.
({0})
Herr Abgeordneter, Sie haben das Wort.
Ich denke auch an die hier schon mehrfach erwähnte Initiative der Wirtschaft, daß man selbst die Initiative für mehr Investitionen, für mehr kulturelle Vielfalt ergreift.
Meine Damen und Herren, hier möchte ich die eingangs zitierte PR-Regelung angesetzt sehen. Hier möchte ich die Anerkennung dafür aussprechen, daß sich die Zeichen für eine neue, gute Zukunft des Reviers mehren, und zwar sowohl bei den Unternehmen als auch bei den Arbeitnehmern, bei den fleißigen und bodenständigen Bürgern. Ihre Bereitschaft, die Parteigrenzen übergreifend anzupacken, die Strukturprobleme zu lösen, das verdient, so meine ich, unseren Respekt.
Übrigens, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, so Sie nicht aus Nordrhein-Westfalen oder nicht aus dem Revier kommen: Ich empfehle jedem, einmal ins Revier zu fahren und ein bißchen Zeit mitzubringen. Ich sage das vor allem im Blick auf das Verständnis, das wir bei den Kollegen aus den revierfernen Ländern zur Lösung der restlichen Probleme brauchen werden. Man sollte sich das einmal vor Ort anschauen.
({0})
Man sollte einmal die dortige Infrastruktur studieren, die Vielfalt des kulturellen Angebots ausprobieren, das Bildungsangebot, das Wohnungsangebot, das Freizeitangebot erleben. Man sollte einmal die Luft schmecken, die in den letzten Jahren unendlich viel reiner geworden ist.
({1})
- Verehrter Herr Kollege Stratmann, sie ist nach dem Empfinden der Bevölkerung sehr viel besser geworden. Dabei bleibt es. Das lassen wir uns doch von Ihnen nicht miesreden.
Man sollte sich einmal die Gewässer anschauen, von der Emscher abgesehen, bei denen schon seit Jahrzehnten eine geordnete öffentliche Wasserwirtschaft betrieben wird.
Das alles sollten Sie einmal testen. Dann verstehen Sie meinen Optimismus, den ich in die Zukunft des Reviers setze, allerdings unter der Voraussetzung, daß wir unseren Beitrag zur Lösung der restlichen Strukturprobleme leisten, und unter der Voraussetzung, daß wir nicht mit bürokratischen Hemmnissen oder mit ideologievergiftetem Klima diese Aufbruchsstimmung behindern. Das richtet sich an jede Adresse, damit das von vornherein klar ist.
Meine Damen und Herren, ich will den wesentlichen Anteil der Politik an dieser Entwicklung nun nicht schmälern. Natürlich sind 400 Millionen DM vom Bund in der Gemeinschaftsaufgabe, Sonderprogramm, 500 Millionen DM vom Land und 100 Millionen DM von der EG
({2})
gut und richtig, und es muß so bleiben. Aber wir sollten uns nicht damit aufhalten, uns anerkennend auf die Schulter zu klopfen, weil noch zu viele Probleme zu lösen sind.
Übrigens, wenn man auf die Schultern klopft, Herr Kollege, dann sollte man bei der Aufzählung der verdienstvollen Minister auch den Bundesminister für Wirtschaft nicht vergessen, der das Gemeinschaftsprogramm, die Sonderregelung, durchgebracht hat.
({3})
Meine Damen und Herren, die Leute an der Ruhr haben für Schwarze-Peter-Spiele oder für Hahnenkämpfe irgendwelcher Art überhaupt kein Verständnis, null Verständnis! Deshalb ist es auch nicht so gut, wenn man, wie es im letzten Sommer der Fall war, die große Schau veranstaltet, daß der Bund mit seinem Geld nicht überkomme und das Land das in einem spektakulären Nachtragshaushalt vorfinanzieren müsse, und wenn von den 160 Millionen DM dann ganze 16 Millionen DM abfließen.
Meine Damen und Herren, wir müssen auf dem eingeschlagenen Wege fortfahren. Dann ist mir um das
Schicksal des Ruhrgebietes nicht bange. Wenn wir in der Kohle den Konsens versuchen, Herr Urbaniak, dann versuche bitte niemand, ein Spielchen zu machen und uns im letzten Augenblick hängenzulassen und damit den Wahlkampf zu führen.
({4})
Sonst werden Sie einmal erleben, was eine harte Auseinandersetzung ist.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Stratmann.
: Herr Einert, da Sie das Stichwort und die politische Losung „ökologische Erneuerung für das Ruhrgebiet" benutzt haben, möchte ich Sie fragen: Was ist das für ein Verständnis von ökologischer Erneuerung, wenn auf der einen Seite im Ruhrgebiet auch von Ihnen der Mangel an Freiflächen beklagt wird und auf der anderen Seite riesige Freiflächen im Ruhrgebiet durch immens große Berghalden zugekippt werden? Was ist es für ein Verständnis von ökologischer Kreislaufwirtschaft, wie es auch in dem Entwurf des SPD-Grundsatzprogramms steht, wenn auf der einen Seite der Abfall von unter Tage über Tage verkippt wird und auf der anderen Seite der Abfall von über Tage, insbesondere Sondermüll, unter Tage in Schachtanlagen, z. B. in der Zeche Zollverein oder in Dortmund, verbracht wird?
Was ist es für ein Verständnis von ökologischer Erneuerung, wenn auf der einen Seite Rau jetzt in Sachen Ausbau der Dü-Bo-Do einlenkt und auf der anderen Seite auch unter dem Druck der örtlichen Bürgerinitiative die SPD in Bochum der Dü-Bo-Do vor Jahr und Tag eine entschiedene Absage erteilt hat? Ich kann nur sagen - der Kollege Hasenfratz aus Bochum ist da - , daß wir GRÜNE im gesamten Ruhrgebiet, insbesondere in Bochum, mit den Bürgerinitiativen, auch auf den Straßen erbitterten Widerstand gegen den geplanten Ausbau der Dü-Bo-Do leisten werden.
Was ist es für ein Verständnis von ökologischer Erneuerung, Herr Einert, wenn jedem in der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre " ganz klar ist, daß es darauf ankommt, den Anfall von Emissionen aller Art, auch von Verkehrs- und Energieemissionen, zu senken und auf der anderen Seite von Ihnen ein Triple-Five-Projekt ins Gerede gebracht wird, das das Verkehrsaufkommen aus einem Umkreis von 200 km in riesigen Dimensionen in Oberhausen zentralisiert?
({0})
Sie sprechen von ökologischer Erneuerung und machen das Gegenteil. Der Abgang von Zöpel aus dem Kabinett in Düsseldorf ist Programm und ist die Verabschiedung von ökologischen Ansätzen, wie es sie in der Verkehrspolitik unter Zöpel gegeben hat. Sie leiten damit auch die antiökologische Rolle rückwärts in Nordrhein-Westfalen, insbesondere im Ruhrgebiet, ein.
({1})
Das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Herr Blüm.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich der wirtschaftliche Himmel über dem Ruhrgebiet aufhellt, dann können wir doch alle froh sein. Wir machen doch Politik für die Bürger, nicht für die Parteien. Laßt uns das doch mal gemeinsam feiern!
({0})
Herr Einert, Sie sagen, wir sollten den Streit offenlassen, wer dabei das größere Verdienst hat. Wir müssen ihn noch nicht einmal eröffnen. Sie müssen nur zugeben, und zwar nicht hier, sondern bei Ihren Genossen, daß der Bund seit 1982 70 Milliarden DM für Nordrhein-Westfalen investiert hat. Keine Bundesregierung hat mehr für das Land getan als diese Bundesregierung:
({1})
Kredite aus zinsvergünstigten Förderprogrammen, steuervergünstigte Umweltinvestitionen, Hilfen für die Verstromung der Steinkohle.
({2})
- Das kann ich gar nicht auswendig lernen, so viel ist das. In der Tat: Städtebauförderung, Wohnungsbauförderung, Bergarbeiterwohnungen, alles Milliardenbeträge. Wir brauchen überhaupt keinen Streit zu eröffnen. Sie müssen nur mal Ihren Genossen neue Flugblätter beschaffen, Sie müssen endlich die alten Flugblätter einstampfen, auf denen es heißt, Bonn würde Düsseldorf im Stich lassen.
({3})
Trotz dieses guten Tages will ich ein bißchen Ärger zu Protokoll geben. Ich habe etwas gegen diese Doppelstrategie: erst die Finanzpolitik des Bundes beschimpfen und dann klammheimlich das Geld abholen. Das kommt mir so vor wie: In der Kneipe den Bauern beschimpfen und auf dem Heimweg die Mitgift für die Tochter mitnehmen. So ähnlich ist es. Wenn schon, denn schon!
({4})
- Ich habe in der Tat etwas gegen diese Art - ich kann es auch weniger kühl als mit dem Wort „Doppelstrategie" als eine Art von Schizophrenie bezeichnen - , sich erstens den Beifall der Kernenergiegegner und zweitens das Geld von denjenigen zu holen, die durch die Kernenergie den Strompreis erträglich
machen. Dagegen habe ich etwas. Da müssen Sie sich entscheiden.
({5})
- Immerhin soviel, daß ich - zusammen mit anderen - notwendig war, um den Kumpels zu helfen, damit eine anständige Kernenergiepolitik kam.
({6})
Ich sage doch überhaupt nicht, daß ich es allein geschafft hätte.
({7})
- Reizen Sie mich nicht durch Zwischenrufe! ({8})
Dann komme ich nämlich von meinem Konzept ab.
Ich will Ihnen mal etwas sagen: Ich bin es auch leid, daß Herr Rau sagt, er hätte an die Ministerpräsidenten Briefe geschrieben. Mein Gott, ist dem Ministerpräsidenten zur Kohlepolitik nichts anderes eingefallen, als Briefe zu schreiben? Der hätte sich mal wie die nordrhein-westfälische Landesgruppe der CDU bei allen Bundesländern kämpferisch für die Kumpels an Rhein und Ruhr einsetzen sollen.
({9})
Da will ich mal zur Enttäuschung auch der SPD in Düsseldorf sagen: Ich bin nicht der Außenminister des Herrn Rau, ich bin nicht dafür angestellt, ihm die Kohlen aus dem Feuer zu holen, ich bin für Konsens, aber bitte nicht so: Die einen sind für die Ergebnisverwertung und die anderen für die Durchsetzung. So haben wir nicht gewettet.
({10})
Wir, nämlich die Politiker, wollen unseren Dienst leisten.
Aber ich glaube, daß der Aufbruch an Rhein und Ruhr - das ist ein großer Irrtum - nicht allein politisch zu schaffen ist. Der Aufbruch fängt im Kopf der Bürger an. Daß Nordrhein-Westfalen wieder den Platz erringt, an dem es mal war, an der Spitze, verdankt es doch seinen Bürgern, verdankt es der Aufbruchstimmung, die dieses Land Nordrhein-Westfalen einst groß gemacht hat. An der Klagemauer wird diese Renovation jedenfalls nicht gelingen.
({11})
- Sie mögen das als „Fensterreden" bezeichnen.
Die besten Zeichen sind die Selbsthilfe der Bürger an Rhein und Ruhr, etwa das Bottroper Forum mit Kardinal Hengsbach. Ich finde es gut, daß die Kirchen, katholische und evangelische Kirche, mit von der Partie sind, auch diese moralische Aufrüstung, das Mutmachen der Bürger zu unterstützen. Dann die Oberhausener Konferenz, neue Oberhausener GmbH. Das ist doch keine obrigkeitsstaatliche Veranstaltung, sondern die Initiative vieler, die erkannt haben, was die Zeichen der Zeit sind.
Wir müssen die Betreuungsmentalität in NordrheinWestfalen abschaffen. Unter der Käseglocke der Bürokratie wird Nordrhein-Westfalen nicht gesunden. Das ist im übrigen eine alte Mentalität der Arbeiterbewegung: Hilfe zur Selbsthilfe.
Ich sehe große Chancen für Nordrhein-Westfalen, senen früheren Platz wieder zu erobern. Es ist von seiner Lage her das Land, das geradezu das Stellwerk im neuen Europa sein kann. Es liegt geradezu in der Kernzone des neuen Europa. Wir müssen die Chancen ergreifen und frischen Wind in die Entbürokratisierung bringen. Auch die Kommunen in Nordrhein-Westfalen, nicht zuletzt dominiert durch die Sozialdemokraten, müssen ihre Platzhirschmentalität ablegen, es muß zu größeren Planungseinheiten an Rhein und Ruhr kommen. Wir brauchen einen Modernitätsschub.
Lassen Sie mich mal was zu Transrapid sagen. Da sind wir in Konkurrenz mit anderen Anbietern. Ja, da wäre es vielleicht gut, Nordrhein-Westfalen würde diese Konkurrenz offensiv betreiben. Da haben nordrhein-westfälische Beamte schon abgewunken, als die CDU Nordrhein-Westfalen noch um Transrapid gekämpft hat.
({12})
Es nützt nichts, bei den Kundgebungen das große Wort zu riskieren, wenn man dann, wenn es zur Sache geht, nicht da ist.
Wir haben doch immerhin die Weltraumbehörde trotz großer Konkurrenz so beachtlicher Länder wie Bayern, vor denen ich großen Respekt habe, nach Nordrhein-Westfalen geholt.
Wir brauchen in Nordrhein-Westfalen auch die Faszination von Projekten., die die Phantasie erregen.
({13})
- Ihre nicht. Das weiß ich.
({14})
Ihre bleibt bei Windmühlen hängen.
({15})
- Ja, wir brauchen auch in Nordrhein-Westfalen die Kernenergie, und zwar aus einem Grund, Herr Stratmann,
({16})
der für Sie wie für alle Menschen ganz wichtig ist: aus Umweltgründen. Ich sehe die große Umweltbedrohung im Ozonloch über der Erde. Ich finde: Unter allen Energieträgern ist die Kernenergie diejenige, die die Umwelt am meisten schont.
({17})
Ich bin für die Kohle, aber - das gehört zur Ehrlichkeit; lügt euch doch nichts in die Tasche - sie wird nur in einer Mischkalkulation mit der Kernenergie überleben. Alles andere sind große Redensarten, sind nichts anderes als Lebenslügen; und die werden schließlich die Kumpels bezahlen müssen.
Wir feiern heute einen Tag - „feiern" ist vielleicht falsch - , wir haben heute einen Tag, an dem wir gemeinsam - ich sage ausdrücklich: gemeinsam - ein Stück nach vorn gekommen sind; nicht ans Ziel. Aber laßt uns gemeinsam weitermachen - nur bitte nicht mit der Arbeitsteilung: Bonn ist an den Problemen schuld, und Rau ist der Meister für alle Erfolge! So findet keine Arbeitsteilung statt, jedenfalls nicht mit der CDU.
({18})
Das Wort hat der Abgeordnete Franz Müntefering.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Geburtstagsfeiern sind immer eine schöne Sache, Herr Kollege Blüm. Man schaut zurück, man schaut nach vorn, und vielleicht kriegt man ein Geschenk. Weshalb soll es dann nicht auch für die Ruhrgebietskonferenz eine Geburtstagsfeier geben? Und dabei sind wir ja gerade.
Aber nun der Blick zurück. Er darf nicht zu kurz sein. In den 50er Jahren arbeiteten noch 80 % der Menschen im Ruhrgebiet bei Kohle und Stahl. 1988 waren es noch 30 %. Durch diese Zahlen ist knapp, aber ganz deutlich der Weg des Landes NordrheinWestfalen vom Land von Kohle und Stahl zum Land mit Kohle und Stahl beschrieben.
Beim Rückblick darf nicht unterschlagen werden, was in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten unter schwersten Bedingungen geleistet worden ist: Von 1972 bis 1985 ein Plus von 71 300 Studienplätzen auf jetzt 220 000. Das ist eine strukturpolitische Entscheidung, die erst heute so langsam im Land Wirkung hat, die aber richtig war. 54 % der japanischen Direktinvestitionen erfolgten in den vergangenen Jahren in Nordrhein-Westfalen. Schlechte Kaufleute sind die Japaner nicht, und auf schlechtem Boden siedeln sie auch nicht. Sie werden ihre Gründe haben. 1987 gab es in Nordrhein-Westfalen netto 3 800 neue Unternehmen. Zwischen 1984 und 1987 gab es in Nordrhein-Westfalen netto 192 000 neue Arbeitsplätze. Alles vor der Montankonferenz!
Heute kann man im Ruhrgebiet feststellen: Es hat keine Verslumung der Städte gegeben, wie man das in vergleichbaren Regionen anderer Länder beobachten kann. Das Ruhrgebiet ist grüner als je zuvor. Das Ruhrgebiet wandelt sich zu einer modernen Industrieregion, und die Menschen des Ruhrgebiets wohnen und leben gern im Ruhrgebiet.
1988 war alles in allem ein gutes Jahr für das Ruhrgebiet. Auch die Ruhrgebietskonferenz war gut.
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Die Stimmung stimmte wieder, und das mit gutem Grund.
Der Blick nach vorn: Das Ruhrgebiet ist aus der Talsohle, aber nicht über den Berg - das auch schon deshalb nicht, Herr Blüm, weil manche Steine nicht so schnell aus dem Weg geräumt werden, wie es versprochen war, und weil neue Steine auf den Weg gerollt werden.
Vor einem Jahr wurde versprochen: Die Deutsche Raumfahrtagentur kommt nach Nordrhein-Westfalen. Da gibt es bis heute noch nichts Definitives. Es wurde versprochen: Nordrhein-Westfalen wird an den Strukturhilfefondsmitteln angemessen beteiligt. 860 Millionen DM wären angemessen gewesen. 756 Millionen sind es geworden. 5 x 80 Millionen DM Gemeinschaftsaufgabe wurden gegeben, 10 x 10 Millionen DM wurden nicht gegeben. Das ist eine schlechte Rechnung, die Sie da aufmachen, schlecht für das Land Nordrhein-Westfalen.
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Einige verkehrspolitische Probleme sind ungelöst. Für die Schnellstrecke Dortmund-Paderborn-Kassel muß der Bund seinen Wirtschaftlichkeitsvorbehalt für den Bereich Paderborn/Kassel definitiv und schnell aufgeben.
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Die Trassenbestimmung für die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke Köln-Frankfurt muß schnellstens erfolgen. Die Trassenbestimmung ist auch Voraussetzung für das Konzept einer Schienenanbindung des Flughafens Köln/Bonn; eine S-Bahn-Anbindung des Köln/Bonner-Flughafens ist ohnehin unverzichtbar. Aber erst mit dieser Trassenentscheidung der neuen Bahnstrecke wird sich auch klären, ob die Magnetschwebebahn „Transrapid" im weiteren Flughafenkonzept eine Rolle spielen kann.
Herr Minister - da Sie das noch einmal angesprochen und sich auch kürzlich in einer Zeitung in dieser Weise geäußert haben -, auf der Ruhrgebietskonferenz beim Bundeskanzler hat der Ministerpräsident Johannes Rau gefordert, daß Experten innerhalb von sechs Monaten klären, ob und wie die Magnetschwebebahn für den Bereich des Hochleistungsverkehrs zwischen den Flughäfen Düsseldorf und Köln eingesetzt werden kann. Signal: Nordrhein-Westfalen ist dafür; kläre du, Bundesregierung, ob es denn geht, weil schon längst andere Gerüchte im Umlauf waren. Um es noch einmal klipp und klar zu sagen: Wenn das möglich ist, können wir Sozialdemokraten das mit Ihnen von der CDU/CSU und der FDP gerne machen. Da sind wir in Nordrhein-Westfalen voll dabei, das wollen wir gerne haben. Aber, bitte schön, erzählen Sie hier nicht, wir hätten das ja gar nicht haben wollen. Das ist anders, das ist falsch, was Sie da erzählt haben.
Letzte Anmerkung: Ich habe gesagt, manchmal bekommt man zum Geburtstag ein Geschenk. Meine Bitte an Sie, Herr Blüm: Machen Sie dem Land Nordrhein-Westfalen aus Anlaß dieses Geburtstages der Ruhrgebietskonferenz ein Geschenk. Erklären Sie endgültig, daß Sie im nächsten Jahr als Oppositionsführer in Nordrhein-Westfalen zur Verfügung stehen. Johannes Rau als Ministerpräsident und Norbert Blüm als Oppositionsführer - Nordrhein-Westfalen unschlagbar!
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Das Wort hat der Abgeordnete Hauser ({0}).
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei Geburtstagen werden natürlich gerne Scherze gemacht, und das letzte war wohl sicher ein Scherz. Aber umgekehrt ist es ja auch interessant. Das wäre einmal eine neue Version und wäre mindestens so reizvoll wie das, was Sie hier angeboten haben.
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Meine Damen und Herren, wenn wir hier heute schon über Geburtstage und über Ergebnisse dieser Ruhrgebietskonferenz reden, dann möchte ich auf einen Aspekt aufmerksam machen, der in der ständigen Debatte um die Probleme von Kohle und Stahl leider allzuoft in den Hintergrund tritt und auch in dieser Debatte heute bisher noch keine Beachtung gefunden hat, nämlich die Rolle, die den kleinen und Mittelbetrieben, dem Mittelstand im Ruhrgebiet bei der strukturellen Erneuerung, bei der Verbesserung der Situation des Ruhrgebiets zukommt. Seine Bedeutung ist in der Vergangenheit sträflich vernachlässigt worden. Die Ruhrgebietskonferenz hat - neben all den anderen positiven Aspekten - auch das Ergebnis gehabt, daß die Bedeutung der mittelständischen Unternehmen stärker in den Mittelpunkt des Interesses gerückt worden ist.
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Wenn man daran denkt, daß im Ruhrgebiet allein im Handwerk in 30 000 Unternehmen 300 000 Menschen beschäftigt werden, dann ist das genausoviel wie bei Kohle und Stahl im gesamten Bundesgebiet.
Die durch Zechenstillegungen und Kapazitätsabbau in der Stahlindustrie ausgelöste Krise der Montanwirtschaft ist natürlich - leider - auch nicht ohne Auswirkungen auf den mittelständischen Wirtschaftsbereich geblieben. Um das einmal an einem Beispiel deutlich zu machen: Von den im Ruhrgebiet Anfang 1988 gemeldeten Arbeitslosen waren 7 400 aus dem Bergbau, 16 600 aus dem Stahlbereich und 30 100 aus dem Handwerk; davon entfiel die Hälfte auf den Bau. Meine Damen und Herren, diese Aspekte, meine ich, gehören auch in die Analyse,
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wenn wir diese Dinge im Gesamtzusammenhang besprechen.
Seit 1977 ist die Zahl der im Handwerk Beschäftigten als Folgeerscheinung dieser Krisensituation um 32 000 - das sind mehr als 10 % - zurückgegangen. Hiervon ist vor allen Dingen das Bauhaupt- und Ausbaugewerbe, aber auch ein großer Teil des mittelständischen Handels betroffen, der in den Negativsog der nordrhein-westfälischen Wirtschaftsentwicklung hineingezogen worden ist.
Zu bewältigen ist eine derart tiefgreifende Krise nur durch eine gemeinsame Kraftanstrengung, die durch die Ruhrgebietskonferenz ausgelöst worden ist. Ich will das einmal an einer Zahl deutlich machen, weil das zeigt, in welcher Weise tatsächlich Aufbruchstimmung erzeugt worden ist. Der Geschäftsklimaindex im Handwerk hat sich vom Frühjahr bis Herbst 1988, also innerhalb eines halben Jahres, um 12 Punkte auf 79 % erhöht. Das ist die höchste Zuwachsrate innerhalb eines halben Jahres, die es bisher je gegeben hat. Das zeigt, wie die Erwartung einer guten Entwicklung und die positiven Perspektiven ihren Niederschlag gefunden haben. Das Ruhrgebietshandwerk hat im vorigen Jahr einen realen Umsatzzuwachs von 4,5 gehabt und liegt damit deutlich über der gesamtwirtschaftlichen Zuwachsrate, die es im Ruhrgebiet gegeben hat. Das heißt im Klartext, daß wir die Probleme des Ruhrgebiets nicht lösen können, wenn wir immer nur die Probleme von Kohle und Stahl im Blick haben, sondern nur, wenn wir wissen, daß eine wirkliche Strukturveränderung im Ruhrgebiet nur unter Einbeziehung des Mittelstandes erreicht werden kann.
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Interessant ist, daß der Anteil der Beschäftigten in mittelständischen Betrieben im Ruhrgebiet vergleichsweise höher liegt als in anderen Teilen des Bundesgebietes. Zum Beispiel sind 19,3 % aller Beschäftigten im Ruhrgebiet im Handwerk tätig, während es im Durchschnitt des Landes Nordrhein-Westfalen nur 16,9 % sind.
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Deswegen ist die Frage, Herr Stahl, ob wir mit den Ergebnissen der Ruhrgebietskonferenz einen wesentlichen Beitrag zur Lösung der Probleme der beruflichen Bildung, der Probleme der Bereitstellung von notwendigen Facharbeitern leisten, von ganz zentraler Bedeutung.
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- Nun erregen Sie sich doch nicht! - Ich will hier nur ein Beispiel nennen. Das Zentrum für Umwelt und Energie im Handwerk, das jetzt in Oberhausen errichtet wird, das eine ganz besondere Bedeutung hat und eine Signalwirkung haben wird, ist das Ergebnis dieser Ruhrgebietskonferenz. Ich bin der Meinung, daß, wenn wir die bürokratischen Hemmnisse, die hier eben schon einmal angesprochen worden sind - ich brauche das gar nicht zu vertiefen -
Herr Abgeordneter, ich möchte auch darum bitten. Ehe ich mich dem Risiko aussetze, den Mittelstand zu privilegieren, möchte ich Sie lieber darauf aufmerksam machen, daß Ihre Redezeit abgelaufen ist; sonst komme ich in Teufels Küche.
Ich will Sie diesem Risiko nicht aussetzen, Herr Präsident. Ich will nur sagen, daß dann, wenn auch die Bürokraten in Nordrhein-Westfalen schneller arbeiten und die Baugenehmigungen nicht mehr so lange dauern, das, was an Investitionen ausgelöst werden kann, noch sehr viel schneller realisiert werden wird.
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Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Jens.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Erfolg hat immer viele Väter, aber wir alle müssen aufpassen, daß wir uns wirklich nicht mit fremden Federn schmücken. Ich glaube, im Zeichen der wirtschaftlichen Besserung im
Ruhr- und Ruhrrandgebiet gilt es, auf manches hinzuweisen und manches zu sagen. Es ist aus meiner Sicht jedoch abstrus, diese positive Entwicklung allein auf die Ruhrgebietskonferenz vom 24. Februar 1988 zurückzuführen. Der Strukturwandel ist ein ganz langfristiger Prozeß. Vor acht Jahren kam es auf Landesebene zum Aktionsprogramm Ruhr, vor sieben Jahren gab es zusätzliche Hilfen für die Stahlindustrie, vor fünf Jahren wurden etliche neue Gebiete in die Gemeinschaftsaufgabe „Förderung der regionalen Wirtschaftsstruktur" aufgenommen, und schließlich - rein auf Landesebene - kam es zur Zukunftsinitiative Montanregion. So wie die Ruhrgebietskonferenz kam auch alles dieses durch entscheidenden Druck der Sozialdemokraten zustande.
Nach einer Untersuchung des Landesarbeitsamts Düsseldorf sind in der letzten Zeit - in den letzten acht Jahren, einschließlich 1988 - 130 000 Arbeitsplätze verlorengegangen, und zwar sind sie vor allem in den Großunternehmen verlorengegangen. Die Großindustrie hat Arbeitsplätze abgebaut. Jetzt kommt man mit Werbeanzeigen und versucht, sein Image wieder ein bißchen aufzupolieren. Das ist eine zweifelhafte Angelegenheit. Aber es kommt entscheidend darauf an, daß diese Unternehmen endlich anfangen, zu investieren, daß sie endlich Innovationen tätigen, neue Produkte auf den Markt bringen, neue Märkte erschließen. Das verlangen wir von der Großindustrie im Ruhrgebiet.
Nach dieser Untersuchung sind - das ist richtig - in den kleinen und mittleren Unternehmen, wie Herr Hauser eben gesagt hat, in den letzten acht Jahren 47 000 neue Arbeitsplätze geschaffen worden. Hier müssen wir noch mehr tun, um die Umstrukturierung voranzubringen; das ist gar keine Frage. Aber ich kritisiere, Herr Hauser, daß diese Bundesregierung leider die Lohnkostenzuschüsse für Forschung und Entwicklung gestrichen hat.
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Das ist eine schlimme Fehlentwicklung.
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Ich kritisiere auch, daß die Beratungsförderung gerade für kleine und mittlere Unternehmen abgebaut werden soll. Das muß korrigiert werden.
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Besonders aber kritisiere ich, daß in der letzten Zeit das Klima, das durch die verschiedenen Maßnahmen mühsam geschaffen wurde, durch das Fehlverhalten der Bundesregierung in der Kohlepolitik wieder kaputtgemacht wird. Noch vor kurzem hat Bundeskanzler Kohl lautstark versprochen, daß das Mengengerüst in der Kohleförderung bis 1995 unbedingt gehalten werden soll. Jetzt hat Herr Haussmann deutlich gemacht, daß die Vereinbarungen vom Dezember 1987 schon keine Gültigkeit mehr haben sollen. Das ist eine Tatsache, und Sie sollten sich nicht darüber wundern, daß wiederum, wie es gerade in diesen Tagen passiert ist, die Kumpels vor den Zechen demonstriert haben.
Der Vorsitzende der IG Bergbau und Energie hat vor wenigen Tagen gesagt: Wer gerade 14 Monate nach der Kohlerunde mit den dort verabredeten großen Anpassungslasten für Bergbau und Bergleute über Massenentlassungen spekuliert, wie das jetzt der Fall ist, der strapaziert die Geduld der Bergleute aufs äußerste und zündelt an der Lunte des Pulverfasses.
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Gerade jetzt kommt ein neues Gutachten der RuhrUniversität auf den Tisch, das einmal mehr sagt: Wir können den Strukturwandel in dieser Region nur dann bewerkstelligen, wenn die Kohleabsatzmenge, die wir 1987 verabredet haben, in Zukunft gehalten wird.
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Wenn das eingeschränkt wird, kommt es zu eklatanten Einschränkungen auch bei der Bergbau-Zulieferindustrie, die zur Zeit zum Wachstum in dieser Region beiträgt.
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Ich will zum Schluß sagen: Zwei wesentliche Punkte sind es, die dieser Region Zukunft geben. Wir haben hochqualifizierte Arbeitskräfte, und wir haben eine vorbildliche Hochschullandschaft. Reden Sie aber bitte nicht dauernd davon, daß das Lohnniveau in dieser Region abgesenkt werden muß. Wir werden nämlich diese hochqualifizierten Arbeitskräfte nur dann halten, wenn wir auch einen hohen Lebensstandard behalten.
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Ich verlange, daß Bundeskanzler Kohl zu seinem Wort steht. Das Ruhrgebiet hat meines Erachtens eine Zukunft, wenn er dazu beiträgt, daß die Kohle ihre Sorgen wieder verliert.
Schönen Dank.
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Das Wort hat der Abgeordnete Gerstein.
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Freuen Sie sich nicht zu früh!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Kollege Jens, ich werde gleich auf Ihren kohlepolitischen Exkurs zurückkommen. Lassen Sie mich aber mit der Erinnerung daran beginnen, daß der Bundeskanzler in seiner Rede am 11. Oktober 1988 anläßlich des 125jährigen Bestehens der Industrie- und Handelskammer Dortmund sehr zu Recht darauf hingewiesen hat: Worauf es im Revier tatsächlich ankommt, das ist nicht Resignation und Pessimismus, sondern das ist das Ja zur Zukunft.
Ich glaube, wenn jetzt führende Unternehmer in diesem Sinne in einer gemeinsamen Initiative das nachvollziehen, wozu der Bundeskanzler mit der Ruhrgebietskonferenz vor einem Jahr die ersten Signale gegeben hat,
({0})
so belegt das erneut, daß neben den konkreten Sachentscheidungen für das Revier vor allem die positive Aufbruchstimmung - hier war davon die Rede - der neue Motor für die Entwicklung des Reviers geworden ist. Wir haben darauf zu achten, daß dieser Motor auf Touren bleibt, vielleicht auf höhere Touren kommt. Dann werden wir auch gemeinsam erreichen, daß das Revier trotz des natürlich anhaltenden Strukturwandels wirklich auf dem besten Wege ist, die alte Faszination als eines der großen Leistungszentren in unserem Lande wiederzugewinnen.
Aber es bleiben noch viele Wünsche offen; davon ist hier die Rede gewesen. Ich will nur kurz auf die Notwendigkeit der Verbesserung des Straßennetzes hinweisen. Ich freue mich ganz außerordentlich darüber, daß offensichtlich bestimmte Blockaden auf kommunaler und Landesebene nun aufgehoben werden und daß mit Nachdruck z. B. der sechsspurige Ausbau der Bundesstraße 1 - Herr Urbaniak, möglichst mit Tunnellösung - oder auch die Frage der Dü-Bo-Do erneut in Angriff genommen werden können. Von großer Bedeutung - Herr Müntefering hat das angemahnt - ist sicherlich auch der zügige Ausbau der Bundesbahnstrecke Dortmund-Paderborn-Kassel. Ich glaube, die gestrige sehr positive Erklärung des Verkehrsministers hat das notwendige grüne Licht oder, im Sinne der Bundesbahn: die notwendige Weichenstellung für einen zügigen Ausbau gebracht. Wir bedanken uns hierfür ganz ausdrücklich.
Meine Damen und Herren, es ist in dieser Diskussion etwas sehr klargeworden, was früher nicht klar war. Das ist, daß eine entscheidende Voraussetzung für die Zukunft des Reviers das klare und unmißverständliche Bekenntnis zum technischen Fortschritt und nicht gegen ihn, Herr Stratmann, ist. Gerade im Revier können wir uns die emotional bedingten Abwertungsstrategien der Vergangenheit nicht mehr leisten. Ich finde es sehr beruhigend, daß z. B. die Entstehung des Testspeicherrings Delta, die Einrichtung des Roboterinstituts in Dortmund, die Erweiterung der Fraunhofer-Institute in Duisburg und Dortmund und einiges andere auch deutlich machen, daß in der Frage der Notwendigkeit und der Akzeptanz moderner Entwicklungen und moderner Technik im Ruhrgebiet eine Wende stattgefunden hat.
({1})
- Kommt, kommt.
Lassen Sie mich zur Kohlefrage auch aus aktuellem Anlaß, weil es hier angesprochen ist, eine abschließende Bemerkung machen. Natürlich brauchen wir aus der Sicht des Reviers in besonderem Maße Klarheit über den langfristigen Stellenwert der Kohle.
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Es kann gar keine Rede davon sein, daß jemand Massenentlassungen will. Ich bin sicher und davon überzeugt, es wird keine Massenentlassungen im Bereich des Bergbaus geben, war es doch gerade die Bundesregierung - die Kohlekonferenz vom 17. Dezember ist hier zitiert worden - , die es fertiggebracht hat, die unvermeidbaren Anpassungsvorgänge gemeinsam
mit allen Betroffenen so zu begleiten und zu organisieren, daß regional und sozial verträglich angepaßt werden konnte, gegen alle Unkenrufe.
({3})
Ich bin sicher, daß mit dieser bewährten Strategie und Zusammenarbeit auch mit den Sozialdemokraten, auch mit Herrn Rau
({4})
- das wird auch mit Herrn Haussmann funktionieren - die Probleme, auch die neuen Probleme, vor denen der deutsche Steinkohlebergbau steht, so gelöst werden können wie bisher, daß nämlich die Verträglichkeit regional und sozial gesichert wird.
Vielen Dank.
({5})
Nun hat das Wort der Abgeordnete Dr. Hoffacker.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst möchte ich an die Adresse von Herrn Landesminister Einert ein Wort richten. Herr Einert, Sie sind hier als der Repräsentant der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen aufgetreten und haben es nicht für nötig befunden, ein Wort des Dankes an den Bundeskanzler,
({0})
an die Bundesregierung und an diejenigen zu richten, die Hilfen angeboten haben.
({1})
Dies hätte Ihnen meines Erachtens sehr gut angestanden.
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Wenn Sie hier Kardinal Hengsbach nennen, dann, glaube ich, wäre es auch ganz gut, ihn hier jetzt nicht nur öffentlich zu nennen, sondern ihm auch dann zu helfen, wenn es um schwierige Aufgaben im Ruhrgebiet geht. Die Größen der SPD, so kann ich feststellen, lassen sich immer sehr gerne mit dem Kardinal fotografieren, was meist sehr öffentlichkeitswirksam ist.
({3})
Das tun sie bestimmt nicht wegen Technicolor; dessen bin ich sicher. Wenn es aber darum geht, für die Armsten mitzusorgen, dann steht er allein. Dafür gibt es gute Beispiele. Als der Kardinal z. B. auf die Straße ging, um für die benachteiligten Jugendlichen Ausbildungsplätze und Arbeitsplätze zu beschaffen und gleichzeitig auch die Komplementärmittel zu sammeln, habe ich niemanden von der Landesregierung von Nordrhein-Westfalen gesehen.
({4})
Keiner hat hier Hand angelegt.
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- Das paßt Ihnen wieder nicht. Es ist wirklich schade.
Die ÖTV hat diese Aktion, die das Bistum Essen durchgeführt hat, vielmehr aus ideologischen Gründen mißbilligt und hat Briefe geschrieben, daß ihr dies nicht passe. Dies muß einfach einmal gesagt werden, wenn hier große Namen in den Mund genommen und die Konsequenzen dabei nicht bedacht werden.
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Die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen bremst und behindert die Entwicklung des Ruhrgebietes. Dafür möchte ich gerne einige Beispiele bringen:
Wie kleinkariert und widersprüchlich die Bremser in der Verkehrspolitik arbeiten, läßt sich sehr gut bei den beiden Politikern Herrn Zöpel und Herrn Jochimsen am Beispiel von Essen ablesen. So fragt man sich heute natürlich, ob die Überschrift in der WAZ stimmt: „Rau läßt Bau der A 44 im Ruhrgebiet prüfen. " - Jahrelang ist Herr Zöpel durch die Lande gezogen und hat behauptet, die Trasse der A 44 sei nicht nutzbar. Er hat den Eindruck vermittelt, auf der Trasse stünden bereits Wohnhäuser, so daß eine Durchstreckung nicht zu verwirklichen sei.
Dasselbe Trauerspiel gibt es bei der A 52 in Essen: Nachdem bereits 400 Millionen DM vom Bund für den vordringlichen Finanzbedarf eingesetzt worden sind und Anfang der 90er Jahre mit dem Bau hätte begonnen werden können, bewirkt Herr Zöpel mit dem in der Zeitung so dargestellten „Spaziergang", daß das Planfeststellungsverfahren aufgehalten wird.
Das ist die Funktion von Herrn Zöpel in der Verkehrspolitik zugunsten der Bürger von Essen.
({7})
Herr Jochimsen träumt von einer zweistöckigen A 430, in der Zeitung groß dargestellt. Ich kann nur sagen: Alpträume für die Realisten, gute Tips für die Karnevalisten.
({8})
Selbst seinem Kollegen Zöpel war das zuviel: Er hat ihn öffentlich korrigiert.
Aber die Landesregierung bremst auch im Bereich der Wissenschaft. Der Zustand unserer Hochschulen ist so katastrophal, daß von der Strukturhilfe des Bundes, von unserem Geld, 68 Millionen DM gebraucht werden, um die notwendigsten Reparaturen durchzuführen.
({9})
Die Geräteausstattungen in unseren technischen Abteilungen der Hochschulen sind über 20 Jahre alt und werden von Fachleuten nur mit Bedauern und mitleidig angesehen.
({10})
Dagegen erfüllt Glanz die Augen der Museumssachverständigen.
Die Privatuniversität Herdecke konnte sich unter Ihnen nicht entwickeln; sie ist nach Mannheim ausgewandert.
Ich nenne ebenfalls die Stellenstreichungen im Bereich der Universität Bochum: Allein in Bochum sind 350 Stellen gestrichen worden. Im Stellenpool sind noch 500 Stellen, die Sie gerne umschichten würden, von denen aber die Sachkenner wissen, daß sie wohl auch der Streichung anheimfallen.
Ich darf auch die Schließung der Fachhochschule Hagen in Ihre Erinnerung rufen. Sie ist ein weiterer Beleg für diese Bremserpolitik.
Meine Damen und Herren, der CDU und den gesellschaftlichen Kräften in unserem Land ist es zu verdanken, daß die Entwicklung des Ruhrgebietes weitergeht.
({11})
Ich hoffe, daß die Landesregierung nicht in ihrem Bremserhäuschen sitzenbleibt, um die Fahrt weiter zu stoppen.
Wir jedenfalls werden nicht ruhen, diese Regierung, solange sie im Amt ist, anzutreiben und sie bei nächster Gelegenheit abzulösen.
Vielen Dank.
({12})
Ich schließe die Aussprache in der Aktuellen Stunde.
Wir kommen nun zu ein paar Tagesordnungspunkten, zu denen keine Aussprachen vorgesehen sind.
Ich rufe zunächst Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({0}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vorschlag für eine Verordnung des Rates zur Aufstellung allgemeiner Regeln für die Bezeichnung und Aufmachung der Weine und der Traubenmoste
- Drucksachen 11/2899 Nr. 3.11, 11/3886 Berichterstatter: Abgeordneter Susset
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/3886. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Beschlußempfehlung ist bei Ablehnung der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({1}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Vizepräsident Cronenberg
a) Vorschlag für eine Verordnung ({2}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({3}) Nr. 804/68 über die gemeinsame Marktorganisation für Milch und Milcherzeugnisse
b) Vorschlag für eine Verordnung ({4}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({5}) Nr. 857/84 über Grundregeln für die Anwendung der Abgabe gemäß Artikel 5 c der Verordnung ({6}) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse
c) Vorschlag für eine Verordnung ({7}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({8}) Nr. 2237/88 zur Festlegung der Gemeinschaftsreserve für die Anwendung der Abgabe gem. Art. 5 c der Verordnung ({9}) Nr. 804/68 im Sektor Milch und Milcherzeugnisse für die Zeit vom 1. April 1988 bis zum 31. März 1989
d) Vorschlag für eine Verordnung ({10}) des Rates zur Festsetzung des ab dem 1... . 1988 anwendbaren Interventionspreises für Butter
e) Vorschlag für eine Verordnung ({11}) des Rates zur Änderung der Verordnung ({12}) Nr. 1079/77 über eine Mitverantwortungsabgabe und Maßnahmen zur Erweiterung der Märkte für Milch und Milcherzeugnisse
- Drucksache 11/3200 Nr. 2.11, 11/3887 -
Berichterstatter: Abgeordneter Schartz
Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten auf Drucksache 11/3887 ab. Wer stimmt der Beschlußempfehlung zu? - Wer enthält sich? - Wer stimmt dagegen? - Die Beschlußempfehlung ist gegen die Stimmen der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 9 auf:
a) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({13})
Sammelübersicht 98 zu Petitionen
- Drucksache 11/4000 -
b) Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({14})
Sammelübersicht 99 zu Petitionen
- Drucksache 11/4001 Wer stimmt für die Beschlußempfehlungen des Petitionsausschusses auf den Drucksachen 11/4000 und 11/4001? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - diese Beschlußempfehlungen sind bei Enthaltungen der GRÜNEN angenommen.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({15}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht über den Mutterschaftsurlaub
- Drucksachen 10/5327, 11/2329 Berichterstatter:
Abgeordnete Frau Hasselfeldt
Wir stimmen über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung auf Drucksache 11/2329 ab. Wer dieser Beschlußempfehlung zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Enthaltungen? - Bei Enthaltungen der GRÜNEN ist diese Beschlußempfehlung angenommen. Da alle abgestimmt haben, brauche ich nicht zu fragen, wer dagegen stimmt.
Wir kommen nunmehr zu Tagesordnungspunkt 5: Beratung des Antrags der Fraktion der SPD
Schuldenberatung und Schuldenbereinigung für Verbraucher
- Drucksache 11/3047 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({16})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau
Der Ältestenrat schlägt Ihnen eine Beratungszeit von 45 Minuten vor. Ergeben sich Einwendungen dagegen? - Das ist nicht der Fall. So ist dies beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion legt heute einen Gesetzesantrag vor, der sich mit einer wenig erfreulichen Entwicklung innerhalb unserer Gesellschaft befaßt und der Lösungswege zur Diskussion stellt.
Schuldenberatung und Schuldenbereinigung für Verbraucher sind die Stichworte. Sie bezeichnen gleichzeitig ein Thema von außerordentlicher gesellschaftlicher Bedeutung, dessen Umfang zwar erahnt, aber keineswegs gründlich erforscht und erfaßt ist. Moderner Schuldturm, Volksseuche, systematisch herbeigeführte Katastrophenlage sind Stichworte und Bezeichnungen, die nicht von uns erfunden sind, sondern Beurteilungen von kompetenter Seite darstellen, z. B. von den Sozialorganisationen. Diese Schlaglichter lassen eine gewisse Ohnmacht gegenüber diesem Phänomen erkennen.
Meine Damen und Herren, unsere Antwort auf diese soziale Schieflage lautet: Nicht die Symptome angehen, sondern die Ursachen der Verbraucherüberschuldung bekämpfen.
Meine Damen und Herren, ich will, weil es sonst so abstrakt ist, mit einem Fall beginnen, der sich aus einer der wenigen Untersuchungen von neutraler Seite zum Konsumentenkredit ergibt. Er ist in den Konstanzer Schriften zur Rechtstatsachenforschung, Band 6, nachzulesen. Diesen Standardfall vereinfache ich in der Darstellung etwas, damit uns die Zahlen nicht erschlagen. Laut dem Autor, Herrn Bender, ist
dies kein extremer, sondern ein durchschnittlicher Fall. Er sieht so aus:
Ein Ehemann will 1982 einen Kredit über
15 000 DM aufnehmen. Die Bank macht die Kreditgewährung davon abhängig, daß sich die Ehefrau mitverpflichtet. Die Ehefrau ist 29 Jahre alt, hat weder Vermögen noch eigenes Einkommen, aber zwei Kleinkinder. Zu diesem Nettokredit von 15 000 DM kommen die Kredit-, Makler- und Abschlußgebühren, insgesamt 10 000 DM. Diese wundersame Erhöhung, meine Damen und Herren, führt zu einer Gesamtschuld von 25 000 DM.
({0})
Dies bedeutet einen Effektivzins von rund 25 %. Man höre und staune: Bei dem damaligen Schwerpunktzins von 15 % liegt dieser Zins noch unterhalb der Wuchergrenze.
Ich fahre in dem Fall fort. Die Ehe wird 1983 geschieden. Der Ehemann bezahlt keine Raten mehr. Unterhalt leistet er nur unregelmäßig. Die Bank kündigt den Kredit; es ergeht Vollstreckungsbescheid gegen die Frau. Tituliert wird jetzt eine Gesamtforderung von 17 000 DM zuzüglich jährlicher Zinsen in Höhe von 20 % . Aus dem Ursprungsdarlehen von
16 000 DM ergeben sich 3 200 DM Zinsen pro Jahr. Zahlen kann besagte Frau natürlich nichts.
Aber die Geschichte geht weiter. 15 Jahre später sind die Kinder so groß, daß sich die Frau ihren Unterhalt selbst verdienen kann. Sie kann wieder arbeiten und die Schuld abbezahlen. Sie ist jetzt 44 Jahre alt. Inzwischen sind folgende Beträge auf gelauf en. Hauptschuld 16 000 DM plus 15 Jahre Zinsen in Höhe von 48 000 DM, insgesamt 64 000 DM. Die Frage ist: Wie kann jemand in dieser Lage von einem solch immensen Schuldenberg herunterkommen?
({1})
Besagte Frau müßte, wenn sie innerhalb von 16 Jahren, also mit 60 Jahren, schuldenfrei in Rente gehen wollte, netto rund 1 580 DM verdienen. Dann könnte sie rund 566 DM zur Tilgung und Verzinsung zahlen.
Man kann diesen Fall noch weiterspinnen, indem man das, was üblich ist, hinzufügt: Die Bank hat diese Schulden längst abgeschrieben. Sie hat das zum Teil durch das Finanzamt ersetzt bekommen, d. h. durch uns alle, die Steuerzahler,
({2})
zu einer Quote von 50 % bis 70 %. Schließlich hat sie die ausgeklagte, titulierte Forderung einem der berühmten, ich möchte eher sagen: berüchtigten Inkassounternehmen verkauft, sagen wir einmal: zu 5 % der ursprünglichen Schuld. Nun ist dieses Inkassounternehmen fleißig am Werk.
Meine Damen und Herren, was besagt dieses Beispiel?
Erstens. Lebenslange Überschuldung ist in diesem Falle unabwendbar. Man könnte sagen: Das Urteil lautet: lebenslänglich.
Zweitens. Hausfrauen - das ist für manche überraschend - gehören zu den am meisten betroffenen Personen, neben Ausländern und anderen Kreisen.
Schätzungen gehen davon aus, meine Damen und Herren, daß rund 400 000 Haushalte von Verbraucherüberschuldung betroffen sind.
({3})
- Möglicherweise sind die Zahlen höher. Ich will hier nichts dazumachen.
Ursachen auswegloser Zahlungsunfähigkeit - das wissen wir zumindest - sind in erster Linie Arbeitslosigkeit, vor allen Dingen Langzeitarbeitslosigkeit, aber auch andere Wechselfälle des Lebens wie Krankheit und häufig familiäre Schwierigkeiten. Im übrigen: Aus Unerfahrenheit geraten unüberschnittlich häufig junge Menschen schon am Anfang ihres Berufswegs in finanzielle Verstrickungen. Schuld daran, meine Damen und Herren, ist nicht zuletzt eine äußerst aggressive Werbung, die Konsumentenkredite oft als leicht zurückzahlbar vorspiegelt und sie sozusagen als schick in unserer Konsumgesellschaft verkauft. Aber wir müssen uns doch fragen: Kann man von einem 18jährigen, der zugegebenermaßen volljährig ist, der voll geschäftsfähig ist, verlangen, daß er alle Konsequenzen langfristiger Verschuldung übersieht? Ich glaube, nicht.
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Wir bedauern, meine Damen und Herren, daß die Bundesregierung bisher nicht in der Lage war, genügend Tatsachenmaterial über den Umfang des modernen Schuldturms zu beschaffen. Unsere Kleine Anfrage, Ausbau der Schuldenberatung, vom März 1988 und die Antwort der Bundesregierung vom Mai 1988 haben die Versäumnisse der Bundesregierung deutlich gemacht. Man höre und staune: Erst im April 1987 war ein Forschungsvorhaben ausgeschrieben worden, das gut ein Jahr später, zum Zeitpunkt unserer Kleinen Anfrage, noch nicht einmal vergeben worden war an ein entsprechendes Institut oder an eine wissenschaftliche Einrichtung. Ich denke, meine Damen und Herren, hier ist die Bundesregierung im Schuldnerverzug.
Aber wir wissen aus Untersuchungen von Verbandsseite und auch von einzelnen Wissenschaftlern, daß bald etwas geschehen muß. Bloße Ankündigungen ersetzen keine Lösungen. Das Thema, meine Damen und Herren, ist nicht neu. Es ist auch nicht „über uns gekommen" , wie der Bundeskanzler zu sagen pflegt, wenn er von ihm nicht vorausgesehene Entwicklungen zu kommentieren hat. Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits in der 10. Legislaturperiode wiederholt auf diese große Gefahr für unsere Gesellschaft hingewiesen und Initiativen im Bundestag eingebracht.
({5})
Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des Kreditwuchers
({6})
und zur Vertragshilfe bei notleidenden Krediten forderte sie eine gesetzliche Umschreibung der Wuchergrenze. - Ich denke, das Phänomen der Massenarbeitslosigkeit und der Dauerarbeitslosigkeit ist besonders unter Ihrer Regierungsverantwortung akut geworden.
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Wir haben damals jedenfalls eine gesetzliche Umschreibung der Wuchergrenze gefordert, um der Zinsüberteuerung von Verbraucherkrediten wirkungsvoll entgegenzutreten. Das Verbraucherkreditgesetz sah darüber hinaus gesetzliche Maßnahmen gegen die Überhöhung von Verzugskosten vor und verstärkte das Zinseszinsverbot.
Wir haben damals auch noch einen Antrag „Insolvenzverfahren für Arbeitnehmer und Verbraucher" eingebracht, der u. a. forderte, ein Kleininsolvenzverfahren nach dem Vorbild angelsächsischer Staaten einzuführen, das letztlich eine Restschuldbefreiung beinhaltete. Ich freue mich, daß die Bundesregierung diesen Vorschlag, wie sich aus den Aktivitäten ergibt, nunmehr aufgegriffen hat.
Diese Vorschläge, meine Damen und Herren, von denen ich sprach, werden in dieser Initiative erneut aufgenommen, aber erweitert und präzisiert. Wir wollen ein Gesamtkonzept, das, in drei Stufen aufeinander aufbauend, Vorsorge trifft, aber gleichzeitig nach dem Eintritt der Überschuldung auch Perspektiven für die spätere Lebensführung enthält. Und wir sagen auch, wie wir das erreichen wollen.
Aus unserer Sicht sind erforderlich: erstens ein wirkungsvollerer Verbraucherschutz vor überhöhten Kreditzinsen, zweitens eine - in Klammern gesagt: unter Mitbeteiligung der Kreditwirtschaft - rechtlich und finanziell abgesicherte Schuldnerberatung und drittens ein effektives gesetzliches Mittel zur Schuldenbereinigung im Insolvenzfall, im sogenannten Privatkonkurs, mit der Möglichkeit einer Befreiung von der Restschuld.
Zum ersten Schritt: Wir wollen Vorsorge treffen, indem wir die Wuchergrenze gesetzlich umschreiben. Neben einer Generalklausel sollen künftig bestimmte Tatbestände der Preisgestaltung zur Sittenwidrigkeit führen. Wir lehnen uns dabei an die Ergebnisse der Rechtsprechung an, zumindest zum Teil, und erwarten von dieser Maßnahme mehr Rechtsklarheit durch die Einführung einer Zinsobergrenze. Und wir wollen, meine Damen und Herren, daß als Darlehenspreis die Gesamtheit aller Leistungen, die der Verbraucher aufzubringen hat, angesehen wird, das in der Absicht, dadurch den sogenannten Schuldenregulierern, die besser als Kredithaie bekannt sind, das Handwerk zu legen, indem alle Beteiligten, Darlehensgeber und -vermittler, in die Frage der Leistung und im Verhältnis dazu der Gegenleistung einbezogen werden.
Und wir wollen, daß die Zahlungen des Schuldners - auch das ein wichtiger Gesichtspunkt - im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage in § 367 BGB zuerst auf die Darlehensschuld, erst dann auf die Kosten und zuletzt auf die Zinsen anzurechnen sind. Jeder weiß, daß niemand mehr von der Hauptschuld herunterkommt, wenn seine Leistungen zuallererst auf Zinsen und Kosten angerechnet werden. Insoweit ist die Regelung im Diskussionsentwurf der Bundesregierung über ein Verbraucherkreditgesetz erst halbherzig, weil dort Leistungen zunächst auf die Kosten des Darlehens angerechnet werden sollen und erst dann auf die Hauptschuld.
Die zweite Stufe unseres Antrags besteht in der Forderung nach einer rechtlich und finanziell abgesicherten Schuldenberatung. Hierbei weisen wir auf die verdienstvollen Initiativen der Sozialverbände, Kommunen und Verbraucherorganisationen hin, deren reicher Erfahrungsschatz genutzt werden sollte. Wir wissen, daß Schuldenberatung ein beratungsintensiver Vorgang ist und nicht nur Sichtung und Klärung wirtschaftlicher Verhältnisse bedeutet, sondern meist auch Beistand zur Ordnung der gesamtwirtschaftlichen Lebenslage heißt, um ein menschenwürdiges Leben ohne erstickende Schuldenlast zu gewährleisten.
In der dritten Stufe sehen wir ein Kleininsolvenz-verfahren für Verbraucher mit Restschuldbefreiung vor. Unsere Vorstellungen, meine Damen und Herren, sind hier sehr präzise. Wir freuen uns, daß die Bundesregierung unserem Vorschlag einer Restschuldbefreiung in ihren Vorstellungen zum Entwurf eines neuen Insolvenzrechts grundsätzlich folgt. Es geht uns darum, ein einfaches Verfahren für die Fälle von Zahlungsunfähigkeit bzw. voraussichtlicher Zahlungsunfähigkeit natürlicher Personen zu eröffnen. Ziel soll letztlich die Befreiung von der Restschuld sein. Ich füge in Klammern hinzu: Das verlangt von dem Schuldner oder der Schuldnerin erhebliche eigene Anstrengungen.
Wir wollen, daß im Endergebnis die Kreditwürdigkeit wiederhergestellt ist. Wir sind der Auffassung, meine Damen und Herren, daß unser Entwurf eine gute Diskussionsgrundlage darstellt, um in Fällen der Verbraucherüberschuldung eine sozial angemessene Perspektive zu eröffnen.
Danke schön.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Hörster
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des Kollegen Pick waren etwas moderater als das, was im Antrag der SPDFraktion auf Drucksache 11/3047 steht. Gleichwohl ist die Zielrichtung, mit der Sie den Antrag eingebracht haben, meines Erachtens falsch.
Herr Kollege Pick, niemand in der Koalition bestreitet, daß wir nach wie vor viele Arbeitslose haben, und niemand nimmt die Folgen der Arbeitslosigkeit für den einzelnen auf die leichte Schulter. Aber es ist nach meinem Dafürhalten schon zu einfach gestrickt, wenn Sie einen Zusammenhang zwischen der Arbeitslosigkeit einerseits und der Verschuldung durch Konsumentenkredite andererseits herstellen.
({0})
Die Deutsche Bundesbank hat in diesem Zusammenhang ja Ermittlungen angestellt. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen besagen etwas ganz anderes. Die Kreditquote - das ist der Anteil der VerbraucherkreHörster
dite in Prozent des privaten Verbrauchs - betrug z. B. 1977 2,2 %; die Arbeitslosenquote hingegen betrug 4,5 %. 1981 stieg die Arbeitslosenquote auf 5,3 %; die Kreditquote sank auf 0,8 %. 1986 betrug die Arbeitslosenquote 9 %, während die Kreditquote demgegenüber nur 0,9 % betrug. Diese wenigen Zahlen machen wohl deutlich, daß es einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote und der Verschuldung durch Konsumentenkredite nicht gibt.
Daß die sachliche Grundlage des Antrages der SPD nicht sauber durchdacht ist, ergibt sich auch daraus, daß man - wenn man ihn liest - feststellen kann, daß sämtliche Arten von Schuldnern in einen Topf geworfen werden. Es ist für mich nicht erfindlich, was wirtschaftlich notleidende Haus- und Wohnungseigentümer oder überschuldete Landwirte mit dem Sonderproblem der Konsumentenkredite zu tun haben.
Unbestritten ist aber - das ist der Punkt, auf den wir zu sprechen kommen müssen - , daß die durchschnittliche Verschuldung durch Konsumentenkredite in den letzten Jahren erheblich zugenommen hat. Nicht die Fallzahlen, sondern die Höhe der Verschuldung ist der entscheidende Punkt.
Unbestritten ist auch, daß es unverschuldete Notlagen gibt, bei denen der einzelne überfordert ist, unter anderen Umständen früher eingegangene Verpflichtungen zu erfüllen. .
An der eigentlichen Ursache der wachsenden Verschuldung, Herr Kollege Pick, drückt sich die SPD meines Erachtens aber vorbei. Häufigste Ursache für die Überschuldung ist nämlich, daß sich die Verbraucher mehr leisten wollen, als sie sich nach der Struktur ihres Einkommens eigentlich leisten können. Anstatt den Leuten klarzumachen, daß man nur soviel Geld ausgeben kann, wie man einnimmt, unterstützt die SPD das unvernünftige Verhalten einzelner, indem sie in ihrem Antrag einfach unterstellt, daß „der moderne Konsum immer höhere finanzielle Vorleistungen erfordert". An anderer Stelle wird ausgeführt: „Die volle Teilhabe am Leben in unserer modernen Gesellschaft erfordert Kreditwürdigkeit".
Was ist denn nach Auffassung der SPD eigentlich dieser „moderne Konsum"? Was gehört dazu: das zweite Fernsehgerät, der dritte Video-Recorder, die 200-Watt-Stereoanlage, oder was ist da gemeint? Die SPD, die sonst doch so gerne die Sinnfrage stellt, muß sich doch auch hier fragen, ob der Konsum alles bedeutet. Während auf dem weiten Feld der Umweltpolitik gerade versucht wird, eine den Konsum einschränkende Richtung einzuschlagen, gilt dies für den Bereich der Verbraucherkredite aus der Sicht der SPD offenbar nicht. Gerade durch die Überschätzung des Konsums für die „volle Teilhabe am Leben in unserer modernen Gesellschaft" - ein Zitat aus Ihrem Antrag - kommt es eben zu jenen höchst riskanten Kreditgeschäften, deren Eingehung, insbesondere durch junge Leute, in dem SPD-Antrag dann wiederum beklagt wird.
Ich will nicht verschweigen, daß auch die aggressive Werbung verschiedener Verbraucherkreditinstitute wesentlich dazu beiträgt, daß sich einzelne übernehmen. Aber man sollte doch in aller Deutlichkeit sagen, daß der eigentliche Grund für das Übernehmen darin besteht, daß man sich halt mehr leisten will, als man sich objektiv leisten kann.
Der Antrag der SPD macht zum jetzigen Zeitpunkt nach meinem Dafürhalten auch keinen rechten Sinn. Die SPD hat - Herr Professor Pick, Sie haben das eben dankenswerterweise dargestellt - Kenntnis von dem Gesetzesvorhaben der Regierungskoalition auf diesem Gebiet. Wir werden das in diesem Hause, aber auch im Rechtsausschuß in den nächsten Wochen ohnehin beraten.
Wir haben, Herr Kollege Pick, zum einen die EGRichtlinie vom 22. Dezember 1986 über den Verbraucherkredit. Wir werden diese EG-Richtlinie durch ein Verbraucherkreditgesetz in nationales Recht umsetzen. Wir werden dabei nicht nur die Minimalanforderungen dieser EG-Richtlinie erfüllen, sondern wir werden in wesentlichen Teilen darüber hinausgehen. Wir werden durch dieses Gesetz außerdem zur Rechtsvereinfachung beitragen. Wir wollen im übrigen dafür sorgen, daß Änderungen aus dem zu kompliziert und unübersichtlich gewordenen Abzahlungsgesetz eingearbeitet werden.
Über die Richtlinie hinaus enthält zum anderen auch der Ihnen vorliegende Referentenentwurf - ihn haben Sie ebenfalls angezogen - Vorschläge zur Regelung über den Schuldnerverzug und die Kreditvermittlung mit dem Ziel, gerade in Not geratenen Kreditschuldnern die Rückzahlung ihrer Verbindlichkeiten zu erleichtern.
({1})
- Ich habe eben, glaube ich, sehr deutlich gesagt, daß es unverschuldet in Not geratene Schuldner gibt. Die anderen, die aus Konsumsucht übertrieben haben, möchte ich davon sehr wohl trennen.
Drei Elemente des Entwurfs sind hervorzuheben. Im Falle des Verzugs soll der Kreditschuldner nur bis zum Ende der vereinbarten Kreditlaufzeit die vertraglich bedungenen Zinsen zahlen. Danach stehen dem Kreditgeber nur die auf die Hauptforderung zu zahlenden Zinsen - nach dem Diskontsatz plus 5 % - zu, es sei denn, er weist einen höheren Schaden nach. Den hat er bei voller Würdigung der Beweislast selbst nachzuweisen.
Für Zinsforderungen können Zinsen, also Zinseszinsen, nur in der gesetzlichen Höhe verlangt werden. Sie sind überdies auf einem getrennten Konto zu führen, so daß auch hier für den Schuldner Klarheit entsteht.
Damit nicht im Verzugsfalle Zinsleistungen ungebremst anwachsen, ist eine Abweichung von der bisherigen Regelung des § 367 Abs. 1 BGB vorgesehen. Danach sollen Zahlungen zuerst auf die Kosten, dann auf die Hauptforderung und schließlich auf die Zinsen angerechnet werden, so daß der Zinsanteil bei den rückständigen Forderungen kontinuierlich sinkt.
Ein besonderes Problem stellen die sogenannten Umschuldungskosten dar. Hier soll vorgesehen werden, daß für unwirtschaftliche Umschuldungen keine Kreditvermittlungsprovision verlangt werden kann, damit ein wichtiger Anreiz entfällt, unwirtschaftliche
Umschuldungen vorzunehmen, nur um die Kreditvermittlungsprovision zu erlangen.
Es ist unbestritten, daß die Rechtsprechung in einer ganzen Anzahl von Entscheidungen die Position der Verbraucher bei Konsumentenkrediten gestärkt hat. Das zeigt, daß es falsch wäre, Wuchergrenzen oder ähnliches in starrer Weise festzulegen, da es dann der Rechtsprechung nicht möglich wäre, auf geänderte Verhältnisse in der Wirtschaft, aber auch im praktischen Verhalten der Vertragspartner mit der erforderlichen Flexibilität zu reagieren.
Bei den teils lyrischen Ausführungen zur Schuldnerberatung fällt auf, daß die SPD nicht mehr an das glaubt, was sie selbst einst als den mündigen Bürger bezeichnet hat. So verdienstvoll die Arbeit der bestehenden Schuldnerberatungsdienste im Einzelfall ist, so wenig taugt der von Ihnen aufgezeigte Weg, das Problem zu lösen. Oft genug kommen nämlich die Menschen mit notleidenden Krediten erst dann dorthin, wenn das Kind schon durch wohlmeinende, aber dilettantische Arbeit längst im Brunnen liegt. Vor allem kann es nicht angehen, die Kreditgeber, die insbesondere nach der ins Auge gefaßten Regelung am Verzug nicht mehr verdienen dürfen, zu verpflichten, zusätzliche Kosten außerhalb ihrer eigenen Beratung zu übernehmen.
({2})
Restschuldbefreiung kann nicht das Hauptziel bei der Verbraucherinsolvenz sein. Zwar enthält auch der Diskussionsentwurf des BMJ eine solche Regelung. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß diejenigen Schuldner desavouiert würden, die zum einen ihre finanzielle Belastbarkeit richtig eingeschätzt haben und zum anderen durch große Sparsamkeit den Versuch unternehmen, ihre eingegangenen Verbindlichkeiten bis zum letzten Rest zu erfüllen.
Der Antrag der Opposition zeigt einmal mehr, daß ihr mehr daran gelegen ist, ein Netz der Bevormundung und Betreuung in allen Lebenslagen aufzubauen, als die Bürger durch die entsprechende Aufklärung und die Mahnung an die Verantwortlichkeit ihres eigenen Handelns zu eigenen Entscheidungen zu befähigen.
({3})
Schließlich können wir nicht jedem Schuldner von Verbraucherkrediten einen Vormund zur Seite stellen, und schließlich kann ein Staat, der auf den mündigen Bürger baut, diesen aus der Verantwortung für seine eigene Lebensgestaltung nicht entlassen.
Wir werden im Ausschuß hinreichend Gelegenheit haben, diese Standpunkte zu beraten.
({4})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Saibold.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der heute zur Beratung anstehende Antrag der SPD-Fraktion wird von uns GRÜNEN grundsätzlich begrüßt; denn das Problem der Verschuldung wächst und wächst. Ich kann mich noch sehr gut erinnern, als Mitte der 70er Jahre die großen Werbekampagnen der Banken liefen. Überall fand man die Aufforderung, nicht mehr zu warten, sondern sofort zu kaufen, die Finanzierung sei kein Problem. Damals wurde propagiert: Bargeld sofort, praktisch ohne Kosten.
Der Hintergrund war, daß damals - zur Zeit der Rezession - zuviel Geld flüssig war, weil die Firmen nicht genügend investierten. Die Banken wollten neue Kundenkreise erschließen. Wie gut, daß sich mit der Ankurbelung des Konsums auch gleich noch die Wirtschaft anschubsen ließ.
Nach ganz wenigen Jahren änderte sich die Situation: Die Investitionen nahmen zu, die Zinsen stiegen, und gleichzeitig verloren immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz durch Rationalisierungsmaßnahmen. Diese Menschen saßen dann plötzlich ohne ausreichendes Einkommen allein auf ihrem Schuldenberg, nahmen neue, noch teurere Kredite auf, und viel zu oft verstrickten sie sich in den Fängen der Kredithaie, aus denen sie zum Teil heute noch nicht befreit sind.
In der Zwischenzeit entwickelten sich die Konsumentenkredite zu einer Selbstverständlichkeit. Versandhäuser und Autofirmen locken weiter mit dem Angebot: Kaufe heute, zahle morgen. In unserer Gesellschaft hat der Konsum einen überragenden Stellenwert. Konsumgüter wie ein Auto, Markenkleidung, eine neue Wohnungseinrichtung und teure Urlaubsreisen werden als sichtbare Erfolgsinsignien gewertet und deshalb von der überwiegenden Mehrheit der Menschen angestrebt.
Doch die Schere zwischen Menschen, die bis zum Überdruß konsumieren können, und solchen, die es auch wollen, aber aus eigenen Mitteln nicht schaffen, öffnet sich immer weiter. Gerade die sozial Benachteiligten möchten wenigstens im Konsumbereich nicht auch noch außerhalb der Gesellschaft stehen und erliegen um so leichter den angepriesenen Scheinlösungen. Dabei geraten sie jedoch häufig in eine vollkommen ausweglose Situation.
Um aus ganz hoffnungslosen Verstrickungen herauszukommen, muß es die Möglichkeit einer Restschuldbefreiung durch Konkurs für Privatpersonen geben. Damit werden wieder Chancen für neue Lebensperspektiven eröffnet.
Ein weiterer Punkt, der in dem Antrag enthalten ist und den wir noch einmal unterstreichen wollen, sind die Kosten der Beratung und die Kosten für die Rechtsberatung. Wir haben im Petitionsausschuß sehr häufig Fälle von Kreditnehmern und Kreditnehmerinnen, die sich in einer aussichtslosen Situation befinden und keine Rechtsanwälte finden, die sie vertreten. Das liegt zum Teil an den hohen Kosten, die auf die Kreditnehmer und Kreditnehmerinnen zukommen. Meistens ist es dann so, daß sich die Betroffenen außerstande sehen, diese Kosten zu tragen. Andererseits ist die Prozeßkostenhilfe so niedrig, daß man damit kein Verfahren gegen ein Kreditinstitut finanzieren kann.
Bezeichnenderweise werden übrigens von Gerichten und Kreditinstitutionen nicht etwa die verschuldeten Menschen als notleidend bezeichnet, sondern
man spricht von „notleidenden Krediten". Auch die SPD benutzt diesen Begriff.
({0})
Zwischenzeitlich wurde übrigens ein neuer Dreh gefunden, um die Verbraucherverschuldung weiter voranzutreiben: die Kreditkarte. Sie ist, wie der Name schon sagt, ein Kredit, den sich der Kunde oder die Kundin sozusagen in Eigenregie selbst geben kann. Wie leicht verliert man da den Überblick über die eigenen Finanzen und verausgabt sich über die Zahlungsfähigkeit hinaus! Aber genau das ist ja auch beabsichtigt. Hier ist also schon die nächste Schlinge ausgelegt.
Es darf deshalb nicht nur darum gehen, den Schaden durch Beratung bei notleidenden Krediten zu begrenzen, sondern notwendig ist eine verstärkte Beratung vor Abschluß von Kreditverträgen oder vor der Benutzung einer Kreditkarte bzw. vor Inanspruchnahme von Überziehungskrediten, weil dort die Zinsen immens hoch sind, zum Teil bis zu 18 %.
Sie sehen, daß die wahrhaft Mächtigen in unserem Land, die Banken, beim Verschuldungsproblem eine ganz entscheidende Rolle spielen. Wer einen wirklichen Abbau des Schuldenturms anstrebt, darf die Banken nicht ungeschoren davonkommen lassen. Es reicht nicht aus, sie zur Finanzierung der Schuldenberatung heranzuziehen; denn das machen sie quasi mit links.
Es ist ein unhaltbarer Zustand, daß die Kreditinstitute die rechtliche Grundlage der Kundenbeziehung einseitig nur in ihrem eigenen Interesse festlegen können. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die in jeder Bank aushängen, basieren nämlich auf einem Gesetz, das den Banken praktisch freie Hand gibt. In keinem anderen Bereich sind Kunden so rechtlos wie in den Schalterhallen der Geldtempel. Zu fordern ist deshalb, daß die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken durch verbraucherfreundliche, gesetzlich definierte Regelungen ersetzt werden.
Ein letzter Punkt noch: Ebenfalls aus Erfahrungen mit unseren Petenten wissen wir, daß Kunden, die mit einer Bank im Clinch liegen, automatisch von allen anderen Banken am Ort wie Aussätzige behandelt werden. Die bankinternen Absprachen, die den dazu nötigen Informationsaustausch liefern, müssen unbedingt im Hinblick auf datenschutzrechtliche Aspekte hinterfragt werden.
Ich danke.
({1})
Das Wort hat Herr Abgeordneter Kleinert ({0}).
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Über eines scheint hier ja Einigkeit zu bestehen - ich erkläre das für die Freien Demokraten der Ordnung halber noch einmal ganz ausdrücklich - : Es gibt Fälle - das ist nie bestritten worden - von unverschuldeter Überschuldung, die in den betroffenen Familien zu erheblichem Elend führen. In diesen Fällen muß Entscheidendes getan werden, um zu helfen.
Nun ist das nicht so ganz neu. Wir haben auch in diesem Haus des öfteren in einigermaßen ähnlicher Besetzung über die Dinge gesprochen. Es sind eigentlich auch immer die gleichen Fronten dabei festzustellen gewesen. Wir haben uns nämlich mit der CDU/ CSU zusammen eher dafür eingesetzt, daß man die Dinge da, wo sie wirklich gravierend sind, mit den klassischen Instrumentarien unseres Rechts in den Griff nimmt, und die SPD hat nun einmal, wie heute an Hand dieser Vorlage wieder ganz deutlich wird, einen Hang zur Organisationstümelei und zur Organisationshuberei und will daher zunächst einmal die vielen, die helfen wollen, sicher- und besserstellen und hofft, daß denen, denen geholfen werden soll, dann schließlich auf diese Weise auch geholfen wird. Das halten wir für einen falschen Weg.
Wenn es gemeinnützige oder auf andere Weise legitimierte Institutionen gibt - schließlich haben wir früher einmal die Verbraucherverbände zu dieser Art Beratung ausdrücklich bevollmächtigt - , dann sollen diese es gerne tun. Aber die Idee, „noch einmal mehr", die Idee, die Kosten solcher Veranstaltungen auf Dritte zu verlagern, und die Idee, diese Institutionen in viel stärkerem Maße als bisher sozusagen werblich - ähnlich wie den Konsumentenkredit - in das Blickfeld der Interessenten zu rücken und damit die ganze Geschichte jedenfalls volkswirtschaftlich zu verteuern, halten wir für falsch. Denn bezahlen muß immer jemand. Im Zweifel bezahlt die große Zahl der Kreditnehmer, die ganz normal und anständig ihre Kredite samt Zinsen zurückzahlen, das, was in den notleidenden Fällen, und zwar nicht nur in den unverschuldet notleidenden Fällen, sondern auch da, wo sehr viel Sorglosigkeit und Leichtsinn am Werk sind, eben von den anderen nicht gezahlt wird. Das ist etwas, was man nicht so ohne weiteres hinnehmen sollte. Man braucht allerdings auch einen gewissen Einblick in die tatsächlichen Verhältnisse, um hier zur richtigen Therapie kommen zu können.
Die Idee, daß Banken oder Hersteller von Konsumartikeln sich durch übertriebene Werbung faule Schuldner anlachen wollen, wie ich das eben aus Ihren Worten, Frau Saibold, herausgehört habe, ist insofern sehr abwegig, als ein noch so hoher Zins nicht die Ausfälle ausgleichen kann, die in diesen Fällen entstehen. Diese Art von Krediten oder diese Art von Verkäufen werden doch von den Unternehmen so schnell wie es geht - und im Einzelfall mit erheblichem Schaden - abgestoßen, damit man nur sowohl mit dem noch höher werdenden finanziellen Risiko wie auch mit dem dramatischen Ärger, der mit diesen Dingen verbunden ist, nichts mehr zu tun hat.
Die Beteiligten können denken. Wenn sie schon nicht moralische Heroen sind und wenn sie vielleicht auch mehr an ihr Geschäft als an das Interesse Dritter denken, so sind sie jedenfalls so gescheit, daß sie solche Geschäfte, wie Sie sie vermuten, nicht betreiben. Das Bild von dem bösen Banker ist falsch, der nur irgendwoher noch so schlechte Kunden haben will, um nach 30 Jahren vielleicht sein Geld wiederzubekommen. Dr. Pick vermutet - Sie sind ja auch mehr Rechtsprofessor - , daß er dann lieber einen Kredit verschmerzt, von dem er 60 oder 70 % vom Steuerzahler zurückkriegt. Er tröstet sich wohl mit dem Geld der anderen über die 30 % hinweg, die mindestens bei
Kleinert ({0})
ihm hängenbleiben. Wer will denn solche Geschäfte machen?
Solange Sie vor diesem tatsächlichen Hintergrund, den Sie sich selbst erst einmal so hermalen, nach Therapie suchen, solange wird diese Therapie nach Dr. Eisenbart ausfallen, und außerdem würde sie zu zusätzlichen und völlig überflüssigen volkswirtschaftlichen Aufwendungen führen.
Zusätzliche institutionalisierte Beratung und die Kosten derselben können sicher nicht durch diejenigen finanziert werden, die ununterbrochen gefrotzelt werden. Das würde ich auch in anderen Verhältnissen niemandem zumuten wollen. Es sagt einem doch die ganz normale Einsicht in zwischenmenschliche Beziehungen jeder Art, daß ich schlecht gezwungen werden kann, denjenigen, der mich dauernd tratzen will, für diese Bemühungen auch noch finanziell glattzustellen. Deshalb finde ich es fast perfide, hier die Banken zu ihrer ständigen Belästigung durch die von ihnen zu finanzierenden Institutionen heranziehen zu wollen. Das ist eine ganz einfache Überlegung aus dem menschlichen Bereich.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Bitte schön.
Wollen Sie mit Ihren Ausführungen sagen, daß sowohl die verschuldeten Personen als auch die Schuldnerberatungsstellen die Banken nur zum Spaß traktieren?
Nein, das will ich überhaupt nicht sagen. Ich will nur sagen, daß man Parteirollen auseinanderhalten muß und daß immer derjenige, der in einer Auseinandersetzung für sein Interesse eintritt, auch von seiner Seite her, aber nicht von der Seite des Gegners her, die dafür notwendigen Mittel einsetzen soll, weil sonst nämlich einmal mehr die selbstregulierenden Faktoren, die in der Kostentragung liegen, unter den Tisch gekehrt werden. Für den Beginn einer Auseinandersetzung ist nichts nützlicher, als daß sich der Betreffende überlegt, was er dabei aufzuwenden und einzusetzen hat.
Wir sind deshalb der Meinung, daß im institutionellen Bereich nichts geschehen sollte. Wir sind andererseits - das haben wir auch bei den früheren Beratungen 1983 und 1986 hier schon gesagt - der Meinung, daß wir konsequenterweise - je mehr ich hier Tüftelkram im einzelnen, großartige Pläne, Kontrollen und Betreuungen für zu aufwendig halte - bei der Kleininsolvenz mit der Restschuldbefreiung dabeisein sollen, weil da nämlich in den besonders krassen Fällen wirklich ein Schlußstrich gezogen werden sollte, um einen neuen Anfang zu ermöglichen.
({0})
- Wenn Sie das Kind vorher vor diesem Fall bewahren wollen, dann müßten Sie versuchen, mit uns gemeinsam hier mehr zu allgemeiner Aufklärung, aber auch zur Einführung vernünftiger selbstregulierender Instrumente beizutragen, und Sie sollten dann nicht durch solche Vorlagen, wie Sie sie hier machen, bei
Schuldnern auch noch den Eindruck erwecken, als ob das alles gar nicht so schlimm wäre und nicht der unüberlegte Kreditaufnehmer, sondern hauptsächlich die bösen Banken die Schuld hätten. Mit einem sol-, chen Gesellschaftsbild kommt man doch in einer arbeitsteiligen Gesellschaft nicht zurecht.
Weil dies alles so ist und weil ich zum wiederholten Mal auf Willy Brandt und seine Vision vom mündigen Bürger am Schluß der heutigen Ausführungen zurückkommen möchte und weil wir die europäische Richtlinie zum Verbraucherkredit, auf die Herr Hörster schon hingewiesen hat, umsetzen müssen und möglichst vernünftig umsetzen werden, laden wir Sie herzlich ein, mit uns im Gespräch zu bleiben. Wir versuchen unverdrossen, Ihnen auch die sachlichen Seiten des Geschäfts dabei klarzumachen. Vielleicht kommen wir sogar gemeinsam zu etwas besseren Ergebnissen als denen, die Sie heute vorgeschlagen haben.
Herzlichen Dank.
({1})
Das Wort hat der Herr Parlamentarische Staatssekretär Dr. Jahn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es trifft zu: Die Schuldenlast der privaten Haushalte wächst. Immer mehr Mitbürgern droht die Gefahr, trotz aller Anstrengungen tiefer und tiefer in den Strudel der Verschuldung gerissen zu werden. Dies ist ein gesellschaftliches Problem, mit dem die Betroffenen und die Gerichte nicht allein gelassen werden dürfen.
Die Bundesregierung wird deshalb, Herr Kollege Pick, noch in diesem ersten Halbjahr den Entwurf eines Verbraucherkreditgesetzes in das Gesetzgebungsverfahren einbringen. Der Entwurf wird sich nicht darauf beschränken, die Brüsseler Richtlinie über den Verbraucherkredit in das deutsche Recht umzusetzen. Der Entwurf wird auch Auswüchse beim Verzugszins, bei den Zinseszinsen und bei der Kreditvermittlung beschneiden und die schuldabtragende Wirkung von Zahlungen des in Not geratenen Schuldners verstärken.
Freilich meinen wir, daß der Zahlungsverzug des Kreditnehmers, solange kein Insolvenzverfahren eröffnet ist, einen Schuldenerlaß oder substantielle Verkürzungen der Gläubigerrechte nicht rechtfertigt. Insofern folge ich dem, was Herr Kollege Kleinert hier soeben ausgeführt hat.
Eine gesetzliche Festschreibung der Wuchergrenze, wie es den Vorstellungen der Sozialdemokratie entsprach, werden wir nicht vorschlagen. Hätten wir das vor zehn Jahren getan und die damaligen Grundsätze der Rechtsprechung zugrunde gelegt, so stünde wohl noch heute eine Regelung im Gesetz, wonach die Sittenwidrigkeit bei einem Jahreszins zwischen 30 und 35 % beginnt. Sie wissen, daß die Rechtsprechung mittlerweile, so meine ich wenigstens, viel strenger geworden ist. Wir sind der Auffassung, daß die Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit von Kreditverträgen die Verbraucher vorbildlich schützt. Diese Materie ist bei den Gerichten bestens
aufgehoben. Die Gerichte haben den Vorteil einer flexiblen und einzelfallbezogenen Handhabung der Generalklausel des § 138 BGB. Daß der doppelte Marktzins heute generell die kritische Grenze darstellt, bedarf keiner Abstützung in einem Spezialgesetz.
({0})
Die nach dem Bundessozialhilfegesetz für die Beratung hilfebedürftiger Personen zuständigen Stellen und die rechtsberatenden Berufe müssen vertrauensvoll zusammenarbeiten. Sie tun es. Dies hält auch die Bundesregierung für nötig. Zu begrüßen ist deshalb, daß entsprechende Absprachen zwischen den kommunalen Spitzenverbänden und dem Deutschen Anwaltsverein getroffen worden sind.
Die Ergebnisse eines umfangreichen Forschungsprojekts zum Thema „Überschuldungssituation und Schuldnerberatung", das vom Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit und unserem Hause gemeinsam in Auftrag gegeben worden ist, werden Aufschluß über die Mängel der Schuldnerberatung geben und Vorschläge für eine bedarfsorientierte Schuldnerberatung entwickeln.
Die Bundesregierung ist weiter der Auffassung, daß das Insolvenzverfahren entscheidend zur Schuldenbereinigung für Verbraucher beitragen kann. Die Vorschläge der SPD berühren sich hier in vielen Punkten mit den von unserem Haus vorgesehenen neuen Gesetzgebungsverfahren der Insolvenzrechtsreform. Der Entwurf soll den gesetzgebenden Körperschaften, Herr Kollege Pick, noch dieses Jahr vorgelegt werden, so daß die Verabschiedung in dieser Wahlperiode möglich wird.
({1})
Ich begrüße es ganz besonders, daß Sie, Herr Kollege Pick, Ihre Forderung nach einem Vertragshilfeverfahren für Verbraucher nicht mehr aufrechterhalten. Das Insolvenzverfahren ist gewiß der geeignetere Weg, zu einer umfassenden Schuldenbereinigung zu kommen, als der richterliche Eingriff in individuelle Vertragsverhältnisse. Ich bin sehr dankbar, daß wir darin übereinstimmen.
Wir wollen deshalb kein Sonderinsolvenzrecht für Verbraucher. Die gesetzliche Restschuldbefreiung nach dem Diskussionsentwurf ist ein allgemeines Rechtsinstitut des neuen, einheitlichen Insolvenzverfahrens. Sie steht nicht nur Verbrauchern und Arbeitnehmern, sondern auch Einzelunternehmern zur Verfügung. Der Entwurf hält also am Gedanken des Universalkonkurses mit Entschiedenheit fest. Der immer stärkeren Zersplitterung unseres Rechts halten wir den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung entgegen. Ich glaube, wir fahren damit gut.
Mit der Restschuldbefreiung sollen die Möglichkeiten einer sozialen Ausgestaltung des Insolvenzrechts voll ausgeschöpft werden. In der Marktwirtschaft kann das Insolvenzrecht dem Schuldner nicht den Erhalt seines Unternehmens und natürlich auch nicht die Fortdauer seiner Unternehmerrolle garantieren; sonst würden Wettbewerb und Strukturwandel zu unser aller Schaden behindert. Aber das Insolvenzrecht kann, ohne sich in Widerspruch zur Marktwirtschaft zu setzen, dem Schuldner - darüber ist ja heute gesprochen worden - unter bestimmten Voraussetzungen einen Neuanfang ermöglichen.
Mehr sehr verehrten Damen und Herren, so läßt sich eine große soziale Aufgabe mit freiheitlichen und marktverträglichen Mitteln lösen. Auf dieser Grundlage müßte, meine ich, bei der Insolvenzrechtsreform eine fruchtbare Zusammenarbeit aller politischen Kräfte dieses Hauses möglich sein mit der Zielsetzung, daß dieses umfassende Reformwerk noch in dieser Wahlperiode verabschiedet werden kann.
({2})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3047 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Ist das Haus damit einverstanden? - Kein Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Teubner, Frau Oesterle-Schwerin und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Raumplanungsgesetzes ({0})
- Drucksache 11/2666 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({1})
Ausschuß für Wirtschaft
Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuß mitberatend und gem. § 96 GO
b) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anderung des Raumordnungsgesetzes
- Drucksache 11/3916 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({2})
Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für diesen Tagesordnungspunkt eine Beratungszeit von 30 Minuten vorgesehen. - Auch dagegen kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Kansy.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Als 1965 das Raumordnungsgesetz beschlossen wurde, war es für viele ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn wir ehrlich sind, hat sich daran bis heute. nur begrenzt etwas geändert, obwohl Raumordnungspolitik auf die Lebensverhältnisse der Bürger sehr entscheidend Einfluß nimmt.
Ein Beispiel: Das Bundesgebiet ist großräumig durch ein ausgeprägtes Süd-Nord-Gefälle gekennzeichnet. Dies drückt sich insbesondere in einer unterschiedlichen Arbeitsmarktsituation, in der unterschiedlichen wirtschaftlichen Entwicklungsdynamik
sowie in der finanziellen Leistungskraft aus. Bereits im derzeitigen Raumordnungsgesetz wird gefordert, daß Maßnahmen zur Strukturverbesserung ergriffen werden sollen, um ausgewogene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verhältnisse herbeizuführen. Dies soll natürlich, meine Damen und Herren, keine Nivellierung des Bundesgebietes bedeuten. Aber wenn wir kürzlich im Rahmen der sogenannten Albrecht-Initiative ein Strukturhilfeprogramm größeren Ausmaßes auflegen mußten,
({0})
spricht das nicht dafür, daß 24 Jahre bisheriges Raumordnungsgesetz - unter allen Bundesregierungen, meine Kollegen von den Sozialdemokraten - in jeder Beziehung erfolgreich waren.
Beispiel zwei: Wir müssen heute feststellen, daß der ländliche Raum in seiner Vielfältigkeit als Lebens- und Kulturraum in Gefahr ist. Das gilt sowohl im Hinblick auf seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit als auch im Hinblick auf die Lebensbedingungen der Menschen dort und auch im Hinblick auf seine ökologische Ausgleichsfunktion. Konsequenterweise wird deswegen in diesem neuen Gesetz zur Änderung des Raumordnungsgesetzes den Grundsätzen der Raumordnung vorangestellt, daß die Struktur des Gesamtraumes mit einem ausgewogenen Verhältnis von Verdichtungsräumen und ländlichen Räumen entwickelt werden muß.
Aber die Raumordnungspolitik, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist ein Bereich, in dem viele politische Ebenen zusammenwirken müssen. Das neue Gesetz bedarf daher mehr noch als das alte einer Zusammenarbeit von Bund und Ländern, die von einer breiten Mehrheit getragen wird. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es deswegen, daß bei der Vorbereitung dieser Gesetzesnovelle von Beginn an der Weg einer engen Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern beschritten wurde.
Aber auch über den Bereich der Bundesrepublik hinaus sind heute Harmonisierungen nötig. Mit diesem Gesetz werden z. B. auch für den Bereich der Raumordnung die notwendigen Konsequenzen aus der im Jahre 1985 vom Rat der Europäischen Gemeinschaften verabschiedeten Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung gezogen.
Insgesamt ist die Novellierung dieses seit dem Jahre 1965 nahezu unverändert gebliebenen Gesetzes unsere Antwort darauf, daß sich in diesem Vierteljahrhundert die Voraussetzungen der Raumordnungspolitik maßgeblich verändert haben. So ist z. B. das Gewicht von Umweltschutzbelangen entscheidend gewachsen, schafft der landwirtschaftliche Strukturwandel neue Anforderungen an eine Politik für den ländlichen Raum, führen neue Technologien zur veränderten Bewertung von Standortbedingungen, muß das geänderte Freizeitverhalten in die räumliche Planung Eingang finden und muß vor allen Dingen auch die absehbare Bevölkerungsentwicklung wesentlich stärker als früher berücksichtigt werden.
({1})
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt es daher auch, daß der neue Gesetzentwurf neben den bisherigen, doch etwas unscharfen Leitvorstellungen heute den Schutz, die Pflege und die Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen, das langfristige Offenhalten von Gestaltungsmöglichkeiten der Raumnutzung sowie gleichwertige Lebensbedingungen der Menschen in allen Teilräumen des Bundesgebietes herausstellt.
Meine Damen und Herren, ein wichtiger Schwerpunkt des neuen Gesetzes ist auch die rahmenrechtliche Regelung des Raumordnungsverfahrens. Wie bereits erwähnt, wird dabei die Möglichkeit geschaffen, bereits im Raumordnungsverfahren in die Umweltverträglichkeitsprüfung eintreten zu können. Auf diese Weise spart man sich Zeit und Doppelaufwand und vermeidet z. B. falsche Standortentscheidungen mit nachteiligen Folgen sowohl für die Umwelt als auch für andere Betroffene.
Ich glaube, wir sind uns alle darüber im klaren, daß die beste Novellierung des Raumordnungsgesetzes ihre Wirkung nur entfalten kann, wenn in der Vielfalt möglicher politischer Entscheidungen der raumordnerische Anspruch auch durchgesetzt wird. Länderegoismus oder Ressortegoismus haben in der Vergangenheit manchen Sand ins Getriebe gestreut.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion DIE GRÜNEN, auch semantische Kletterübungen wie in Ihrem Gesetzentwurf, den Begriff „Raumordnung" durch „Raumplanung" zu ersetzen, weil ,,,Raum' und ,Ordnung' ... in den 20er und 30er Jahren einen irrationalen, eher mythischen, bisweilen fast metaphysischen Charakter hatten" , bringen uns nicht gerade weiter.
Wichtig ist also, Raumordnungspolitik auch als Tagespolitik zu betrachten und aus den Elfenbeintürmen von manchen Behörden und Planern herauszuholen. Planung, sagte einmal ein kluger, wenn auch zugegebenermaßen etwas bösartiger Mann, ist das Ersetzen des Zufalls durch den Irrtum. Meine Kolleginnen und Kollegen, ohne den Wert langfristiger Planung hier schmälern zu wollen, meine ich, zeigt das Zitat doch, worauf es auch ankommt: nicht nur auf neue große Pläne, sondern auf eine ordnende Hand im täglichen Handeln. Wir vertrauen darauf, Herr Minister, daß Ihr Gesetzentwurf uns dabei helfen wird.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat Frau Abgeordnete Teubner.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik ist gescheitert. Was die Bundesregierung mit Durchschnittszahlen zuzukleistern versucht - zuletzt in der Antwort auf die Große Anfrage der SPD zu den Lebensbedingungen im ländlichen Raum, die wir nachher noch besprechen -, hatte spätestens der Raumordnungsbericht 1986 offengelegt: Es gibt in diesem Land extreme regionale Unterschiede.
({0})
Der Auftrag des alten Raumordnungsgesetzes, in allen Teilräumen des Landes gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen, ist nicht erledigt. Im Gegenteil, es gibt das große Gefälle zwischen den Wohlstandsländern im Süden der Republik und den immer mehr verarmenden wirtschaftsschwachen Regionen des Nordens, und es gibt solche Gefälle innerhalb der Bundesländer. Der europäische Binnenmarkt wird dieses Ungleichgewicht noch verstärken, wie eine kürzlich vorgestellte Studie des Bonner Forschungsinstituts EMPIRICA vermittelte.
Es ist also richtig und notwendig, die Grundlagen, Ziele und Instrumente der Raumordnung neu zu definieren. Warum nicht vielleicht sogar, Herr Kansy, das Ministerium für Raumordnung weiterentwickeln zu einem Raumordnungs- und Strukturministerium
({1})
- diesen Gedanken haben ja Sie letztes Jahr in die Debatte geworfen - , zu einem Ministerium, das die Aufgaben der regionalen Wirtschaftsförderung, der Verkehrspolitik, der Arbeitsmarktpolitik, des Städtebaus, der Dorferneuerung, der Agrarpolitik und des Umweltschutzes ernsthaft koordinieren könnte und, mit politischer Kompetenz ausgestattet, umsetzen könnte? Keine schlechte Idee, wie gesagt, Herr Kansy, aber wahrscheinlich waren Sie selbst realistisch genug zu wissen, daß eine solche Idee scheitern muß; denn Sie wissen selbst ganz genau, daß die Rahmenbedingungen für die Entwicklung dieses Landes von anderen, mächtigeren Instanzen gesetzt werden als von einem Minister, der bis heute nicht verstanden hat, was Raumordnung ist, und der von niemandem ernstgenommen wird.
({2})
Ein Beispiel: Er hat es bis heute nicht geschafft - und wohl auch nicht für nötig befunden - , sich im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsentwicklung" neben den Finanzministern und den Wirtschaftsministern Sitz und Stimme zu beschaffen.
({3})
Insofern, Herr Schneider, ist Ihre Presseäußerung, die Sie anläßlich der Vorstellung dieser Gesetzesnovelle von sich gaben - ich zitiere -, die „im Raumordnungsgesetz entwickelten Leitvorstellungen seien für alle Politikbereiche verpflichtend", nicht mehr als ein schlechter Witz.
Wir GRÜNEN stellen dem Gesetzentwurf der Bundesregierung einen eigenen Entwurf gegenüber. Wir gehen dabei von dem Grundsatz aus, daß Raumordnung nicht länger Anpassungspolitik wie bisher sein darf, sondern selbst aktiv steuernd in Entwicklungen eingreifen muß; deswegen, Herr Kansy, unser Begriff „Raumplanung".
Einer der zentralen Grundsätze dabei ist der vorsorgende Umweltschutz.
({4})
Hemmungsloser Landschaftsverbrauch und die unbegrenzte Vergiftung von Wasser, Luft und Boden können auf Dauer nur verhindert werden, wenn der Umweltschutz eine Maxime vorausschauender Planung wird und nicht nur ein sogenannter - wie es in den Gesetzen immer heißt - „Belang", der in der Konkurrenz mit anderen Belangen, mit den sogenannten Sachzwängen unserer Wirtschaftsgesellschaft, in der Regel immer zu kurz kommt.
({5})
Der „sparsame und schonende Umgang mit Grund und Boden" - so z. B. im Baugesetzbuch formuliert - muß, wie in unserem Entwurf vorgesehen, zwingend vorgeschrieben werden; alle anderen Regelungen bleiben unverbindlich und folgenlos.
Eines der besten - besser gesagt: schlimmsten - Beispiele dafür ist die Ansiedlung eines DaimlerBenz-Werks in den Rastatter Rheinauen, nebenbei gesagt, ohne Umweltverträglichkeitsprüfung.
({6})
Wir haben vorhin in der Debatte über das Ruhrgebiet gehört, daß ohne Rücksicht auf die Belange des Umweltschutzes und ohne die Verpflichtung zu schonendem Umgang mit Grund und Boden im Ruhrgebiet genau dasselbe vorgesehen ist, nämlich ohne jede Rücksicht auf andere Belange durchzuzocken.
Daß zu einer vorausschauenden Planung ein hohes Maß an Öffentlichkeitsbeteiligung gehört, versteht sich von selbst. Dazu zählt natürlich auch die Zusammenarbeit über die Landesgrenzen hinweg.
Schließlich muß der Bundestag die Möglichkeit zu einer wirksamen Kontrolle der Raumordnungspolitik haben. Dafür reicht unseres Erachtens eine alle vier Jahre geführte Raumordnungsdebatte, zumal wenn sie folgenlos bleibt, nicht aus. Wir sehen deshalb in unserem Gesetzentwurf vor: Zukünftig wird zusammen mit dem Bundeshaushalt ein Bericht über die Raumordnungspolitik des vergangenen Jahres vorgelegt, damit es endlich möglich wird, die räumliche Entwicklung der Bundesrepublik im Zusammenhang mit der mittel- und langfristigen Investitionsplanung und deren Auswirkungen auf die Struktur dieses Landes zu diskutieren. Wenn das nicht passiert, könnten wir das Ressort Raumplanung ehrlicherweise gleich den Herren Stoltenberg und Haussmann überlassen.
({7})
Das Wort hat der Abgeordnete Hitschler.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll das am 8. April 1965 beschlossene Raumordnungsgesetz, im übrigen zum sechsten Mal novelliert, um wichtige Ergänzungen, die neueren Erkenntnissen und Entwicklungen Rechnung tragen, angereichert werden.
Die Novelle beinhaltet dabei zwei bedeutsame Schwerpunkte:
Erstens. Die Aufgaben und Leitvorstellungen der Raumordnung werden aktualisiert, und die Grundsätze der Raumordnung erfahren wichtige Anpassungen und Ergänzungen.
Zweitens. In das Raumordnungsverfahren wird die in der EG-Richtlinie 85/337 vorgesehene Umweltverträglichkeitsprüfung für raumbedeutsame Maßnahmen oder Vorhaben durch Ermittlung, Beschreibung und Bewertung der Planungsauswirkungen auf die Umwelt in einer ersten Stufe eingeführt.
Mit diesen Intentionen entspricht der vorliegende Gesetzentwurf der programmatischen Beschlußlage meiner Partei, der FDP, die diesen Ansatz seit vielen Jahren, zuletzt wieder auf ihrem Bundesparteitag im September 1987 in Kiel, gefordert hat. Wir begrüßen daher diesen Entwurf im ganzen und dürfen sagen, daß wir ihn als einen großen Fortschritt zur Verbesserung der Umweltvorsorge im Zuge der raumordnerischen Überlegungen ansehen.
({0})
Die Forderungen der kommunalen Spitzenverbände hinsichtlich des rahmenrechtlichen Raumordnungsverfahrens wurden dadurch berücksichtigt, daß das Ergebnis des Raumordnungsverfahrens und der darin eingeschlossenen Umweltverträglichkeitsprüfung nach § 6 a Abs. 6 als öffentlicher Belang in die Abwägung nach § 1 Abs. 5 und 6 des Baugesetzbuches, also in die Bauleitplanung, einbezogen wird. Der Kreis der einem Raumordnungsverfahren unterworfenen Vorhaben soll dabei mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung des Bundes festgelegt werden. Dies schafft nach unserer Meinung durch die Bundeseinheitlichkeit mehr Rechtssicherheit für die Träger.
Die Aufgaben und Leitvorstellungen der Raumordnung erfahren im § 1 Abs. 1 wesentliche Erweiterungen: Schutz, Pflege und Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen, langfristige Offenhaltung von Gestaltungsmöglichkeiten der Raumnutzung und gleichwertige Lebensbedingungen der Menschen in allen Teilräumen des Bundesgebietes enthalten teilweise ganz neue Entwicklungsaspekte für die Struktur des Gesamtraumes. Diese Leitvorstellungen verkünden zwar keine bindenden Handlungsanweisungen für politische Entscheidungen, sie verpflichten aber alle Entscheidungsträger im öffentlichen Bereich bei allen Maßnahmen die raumbedeutsamen Wirkungen zu berücksichtigen.
Die im § 2 formulierten Grundsätze berücksichtigen nunmehr erfreulicherweise die Umweltbelange. Neu hinzugefügt wurden ferner Belange der Erholung, Freizeitbetätigung und des Sports in der Raumplanung. Darüber hinaus findet der erhebliche Strukturwandel in den städtisch und ländlich strukturierten Räumen seinen Niederschlag in der Neuformulierung der Grundsätze.
Es ist in den Beratungen des Ausschusses zu prüfen, ob angesichts des in Bälde bevorstehenden einheitlichen Wirtschaftsraumes Europa die in § 1 Abs. 3 formulierte Leitvorstellung auch bei den Grundsätzen der Raumordnung eine Ausformulierung erfahren müßte. Raumbedeutsame Vorhaben in Grenzregionen des Bundesgebietes sollten nach unserer Auffassung auch mit den Nachbarstaaten und deren raumplanerischen Vorstellungen abgestimmt werden, und zwar nicht nur in bilateralen Raumordnungskommissionen, zumal raumbedeutsame Wirkungen bekanntlich an einer Grenze nicht Halt machen, was ja auch für die Bundesländer übergreifende Raumordnung gilt. Die europäische Perspektive, der z. B. in der Verkehrsplanung eine immense Bedeutung zukommt, sollte deshalb im Gesetz ihren angemessenen Platz finden.
Es ist ferner zu bedenken, ob angesichts der Bedeutung des zivilen und militärischen Luftverkehrs nicht daran gedacht werden muß, den Luftraum als solchen in die Ordnung des Gesamtraumes einzubeziehen. In den bisherigen Raumordnungsberichten fehlte auf Grund der mangelnden Grundlage im Raumordnungsgesetz jeglicher Hinweis darauf. Doch wird wohl jeder zugeben müssen, daß die Ordnung des Luftraumes von nicht unerheblicher Bedeutung nicht nur für die Luftverkehrsteilnehmer selbst ist, beispielsweise durch Festlegung von Tieffluggebieten und Flugschneisen, wie sie ja diskutiert werden. Ich meine, wir sollten diesen Gedanken in den Ausschußberatungen in der Tat vertiefen.
Im Entwurf des Raumplanungsgesetzes der Fraktion der GRÜNEN hingegen finden wir einige für uns nicht akzeptable Ansätze, die wir allerdings im Ausschuß noch intensiv beraten wollen und von Ihnen auch erläútert bekommen wollen.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Großmann.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Raumordnungsgesetz ist in die Jahre gekommen. Viele der vor 20 Jahren zugrundegelegten Grundlagen stimmen nicht mehr; sie sind überholt. Das meistens auf Wachstum angelegte Grundgerüst muß fortgeschrieben werden.
Geändert haben sich z. B. Altersstruktur und damit zusammenhängend unterschiedliche Wanderungsgewinne und -verluste in den Regionen. Der Strukturwandel der letzten Jahre hat die Disparitäten, also die Ungleichgewichte, zwischen den einzelnen Regionen drastisch verstärkt. Das gilt nicht nur für das NordSüd-Gefälle. Zwischen den städtischen und ländlichen Räumen wachsen die Unterschiede ähnlich wie zwischen den ländlichen Räumen untereinander und auch zwischen den städtischen Räumen untereinander.
Zum Strukturwandel kommt der Wertewandel. Dramatische Entwicklungen zu Lasten unserer Umwelt haben uns vor Augen geführt, wie schnell sich die ökologischen Bedingungen verschlechtern; auch hier ist das regional sehr unterschiedlich. Dem trägt u. a. die EG-Richtlinie zur Umweltverträglichkeit Rechnung, die bei der Novellierung des Raumordnungsgesetzes in nationales Recht umgesetzt werden soll.
Wichtig ist aus unserer Sicht zudem, daß Wasser, Boden, Luft und Landschaft nicht nur einzeln, sondern auch in ihren Wirkungszusammenhängen beurteilt werden müssen. Wir müssen begreifen, daß Umweltzerstörungen oft nicht rückgängig zu machen sind und uns unsere natürlichen Ressourcen nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen.
Dies führt zu der Überlegung, daß auch das raumordnerische Instrumentarium weiterentwickelt werden muß. Zu diesem Zweck soll ein Raumordnungsverfahren eingeführt werden, über dessen Ausgestaltung wir sicher im Ausschuß noch differenzierter sprechen müssen.
Die von mir hier kurz skizzierten Maßstäbe kann man nicht isoliert diskutieren; ich will sie in einen etwas größeren Zusammenhang stellen: Wie muß Raumordnungspolitik gestaltet werden? Gibt es neue Anforderungen an sie? Welchen Stellenwert gibt ihr die Bundesregierung und der zuständige Minister? Welchen raumordnerischen Bezug haben die Fachpolitiken der Bundesregierung? Gibt es, bundespolitisch gesehen, überhaupt so etwas wie Regionalpolitik? - Dies ist nur ein kleiner Teil der Fragen, die sich sofort aufdrängen.
Klar ist: Wir brauchen neue raumordnerische Maßstäbe; wir als SPD-Bundestagsfraktion haben sie in der Debatte zum Raumordnungsbericht 1986 schon formuliert, und dazu gibt es auch Veröffentlichungen der Akademie für Raumforschung und Landesplanung sowie anderer sachkundiger Organisationen.
Anspruch und Wirklichkeit - bundespolitisch betrachtet - klaffen aber noch weit auseinander. Es ist überhaupt nicht erkennbar, ob die Bundesregierung daran etwas ändern will. Im Gegenteil: Die Politik der letzten Monate läßt Schlimmes befürchten. Ein paar Beispiele:
Die in den einzelnen Regionen unterschiedlich hohe Arbeitslosigkeit ist höher als je zuvor. Eine aktive Arbeitsmarktpolitik wird zwar bis in die Reihen der CDU hinein - ich nenne die Namen Fink und Franke - gefordert, findet aber nicht statt. Ich halte Ihnen den Raumordnungsbericht 1986 vor und zitiere daraus:
Auch in Zukunft muß die Bundesanstalt für Arbeit darum bemüht bleiben, daß die beruflichen Qualifikationsmaßnahmen in enger Abstimmung mit der Wirtschafts- und Strukturpolitik verstärkt auf die Erfordernisse des regionalen Arbeitsmarktes gerichtet werden. Insbesondere für die Neuansiedlung von Betrieben kommt es darauf an, die Voraussetzungen zu schaffen, daß entsprechend qualifizierte Arbeitnehmer zur Verfügung stehen.
Soweit das Zitat.
Und die Realität? 4 Milliarden DM hat die Bundesregierung bei der 9. Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes gestrichen. Qualifizierungs- und Umschulungsmaßnahmen sind zusammengestrichen worden. Aus Soll-Leistungen sind Kann-Leistungen geworden. Das gleiche gilt bei den Eingliederungshilfen z. B. für Dauerarbeitslose; auch hier wurde kräftig gestrichen.
Ein anderes Beispiel aus dem Raumordnungsbericht 1986. Dort heißt es:
Die bisherigen Erfolge der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur schließen nicht aus, daß das regionalpolitische Förderungsinstrumentarium laufend auf seine Wirksamkeit überprüft und gegebenenfalls veränderten Wachstums- und Beschäftigungsbedingungen angepaßt werden muß.
Was ist daraus geworden? Eine neue Strukturpolitik? Eine neue Regionalpolitik? Keineswegs, die Bundesregierung bleibt untätig. Von effizienter regionalpolitischer Unterstützung keine Spur.
({0})
Immer wieder haben wir Schritte in diese Richtung gefordert, z. B. die Entlastung der Gemeinden durch gerechtere Finanzausgleichssysteme und durch Übernahme der Sozialhilfekosten.
Ihrem Parteifreund Albrecht ist schließlich der Kragen geplatzt. Der Druck des Bundesrates hat dazu geführt, daß wenigstens ansatzweise Strukturpolitik betrieben werden kann.
({1})
Herr Albrecht hat im „Spiegel" dazu ganz offen gesagt - Zitat - :
Und wir verlangen, daß der Bund mit seiner gesamten Politik dafür sorgt, daß die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den Regionen der Republik nicht weiter auseinandergeht. Dazu verpflichtet ihn die Verfassung.
({2}) Weiter sagt er:
Der Bund muß die besonderen Belastungen der finanzschwachen und mit Strukturproblemen behafteten Länder stärker als bisher berücksichtigen.
Sie sind also wieder einmal von außen über bestimmte Hürden getragen worden.
({3})
Auch in den Fachpolitiken ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit riesig. Die Dreiteilung der Post wird zu Lasten des ländlichen Raumes gehen. Die fehlerhafte Politik der Bundesbahn hat zu einem weitgehenden Rückzug aus der Fläche geführt, abgesehen von anderen dubiosen Entscheidungen. Wer in den letzten Tagen Presseberichte über den ICE gelesen hat, der nur auf deutsche Gleise paßt, kann sich wirklich nur noch an den Kopf fassen.
Die Umweltpolitik ist zu lasch und läuft nur noch den Katastrophen hinterher.
Ich erwähne noch einmal den Raumordnungsbericht, Thema Fachpolitiken. Dort heißt es:
Es soll geprüft werden, wie die Ziele der Regionalförderung, insbesondere in der Forschungs- und Technologiepolitik, Arbeitsmarktpolitik, Verkehrspolitik und Agrarpolitik, stärker berücksichtigt werden können. Eine stärkere Verzahnung dieser Politikbereiche wird unter regionalen Gesichtspunkten auch in den programmatischen Schwerpunkten der Raumordnung für erforderlich gehalten.
Die gibt es seit einigen Jahren; sie wurden damals von der Bundesregierung formuliert.
Wir wollten wissen, was die Bundesregierung daraus gemacht hat. Wir haben also gefordert, daß die Bundesregierung einen Bericht über die praktische Umsetzung und die bisherigen Ergebnisse dieser programmatischen Schwerpunkte der Raumordnung vorlegen sollte. Das wiederum war den Koalitionsparteien jedoch zu gefährlich; sie haben diesen Antrag niedergestimmt.
Ich habe also bei Wissenschaftlern nachlesen müssen, was von diesen programmatischen Schwerpunkten der Raumordnung zu halten ist. Herr Eusterbrock von der Universität Münster hat eine sehr interessante Arbeit über die Beteiligung des Bundesraumordnungsministers bei raumbedeutsamen Maßnahmen des Bundes vorgelegt. Dort heißt es:
Mit den programmatischen Schwerpunkten sind die inhaltlichen Grundlagen der offiziellen Raumordnungspolitik niedergelegt worden. Einschränkend muß jedoch festgestellt werden, daß es sich dabei nicht um eine Niederschrift raumordnerischer Maximalforderungen handelt, sondern nur um ein Dokument der Positionen, die der Bundesraumordnungsminister gegenüber den anderen Bundesministerien hat durchsetzen können. Diese programmatischen Schwerpunkte tragen mithin Kompromißcharakter, der in vielen abstrakt und vage gehaltenen Aussagen erkennbar wird. So werden räumliche Konflikte vielfach wohl beschrieben, aber noch keinen erkennbaren Lösungen zugeführt.
Ich will noch ein kleines Zitat hinzufügen, wo es um die Durchsetzungskraft des Bundesraumordnungsministers geht. Da sagt derselbe Autor - ich zitiere noch einmal - :
Die bisherigen Äußerungen von Personen, die sich in der praktischen Raumordnungspolitik engagieren, lassen vermuten, daß der Bundesraumordnungsminister bisher nicht, wie es die Rechtsordnung verlangt, bei den bedeutenden raumbedeutsamen Maßnahmen des Bundes immer hinzugezogen worden ist.
({4})
Zitatende.
Ich meine, das ist eine vornehme Umschreibung von Bedeutungslosigkeit, die hier zum Ausdruck kommt.
Wie klein sein Gewicht ist, mußte der Minister auch in der Diskussion um seine Stellung im Planungsausschuß der Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur schmerzlich erfahren. Frau Kollegin Teubner hat schon darauf hingewiesen. Zuerst hatten seine politischen Truppen in den Koalitionsparteien, übrigens unterstützt von der SPD, seine volle Mitgliedschaft im Planungsausschuß gefordert. In der entscheidenden Sitzung sind sie dann umgekippt. Der Minister darf auch in Zukunft dort nicht mitreden.
({5})
Die Frage nach einer guten und effizienten Raumordnungspolitik ist also - ich meine, das ist klargeworden - eng verknüpft mit der Frage nach neuen
Inhalten, den sie begleitenden Fachpolitiken und natürlich dem Durchsetzungsvermögen des Ministers.
Nach den Fehlschlägen der Raumordnungspolitik der letzten Jahre ist äußerste Skepsis angebracht. Die Ausschußberatungen werden zeigen, ob Raumordnungspolitik von dieser Bundesregierung auch weiterhin als Randbereich der Politik betrachtet wird.
Danke.
({6})
Das Wort hat der Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau, Herr Dr. Schneider.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Es ist mir immer ein Vergnügen, in Anwesenheit des Herrn Bundesfinanzministers über wohnungswirtschaftliche, städtebauliche und raumordnungspolitische Themen zu sprechen.
({0})
Die Raumordnungspolitik, also der Ausgleich zwischen den verschiedenen Teilräumen des Bundesgebiets, der Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen an den verfügbaren Raum, der Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie, gewinnt durch den umfassenden wirtschaftlichen Strukturwandel und nicht zuletzt durch den EG-Binnenmarkt neue und, wovon ich überzeugt bin, wachsende Bedeutung. Ich nenne nur einige wenige Trends, die wir beobachten.
Die Unterschiede in der Entwicklungsdynamik der Verdichtungsräume können sich weiter vergrößern. Konzentrations- und Spezialisierungseffekte werden erheblich zunehmen. Für die Zukunft der peripheren ländlichen Regionen, die schon durch den landwirtschaftlichen Strukturwandel stark belastet sind, sind zusätzliche Anstrengungen erforderlich. Durch die Bevölkerungsentwicklung, vor allem durch die Veränderung des Altersaufbaus, ergeben sich neue Herausforderungen. Wachsende Freizeitansprüche müssen befriedigt werden. Die zu erwartenden wirtschaftlichen Wachstumsimpulse müssen so umgesetzt werden, daß Umweltbelastungen so weit wie möglich vermieden werden.
Es geht darum, auch im Hinblick auf den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt ab 1993 den Standort Bundesrepublik Deutschland insgesamt weiterhin zu verbessern und gleichzeitig die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß an den gegebenen Chancen alle Teilräume und ihre Bürger teilhaben. Hierfür ist es erforderlich, daß das Raumordnungsrecht die Instrumente für eine positive räumliche Entwicklung enthält.
Bund und Länder waren sich einig, daß das seit seinem Erlaß im Jahre 1965 im wesentlichen unverändert gebliebene Raumordnungsgesetz der Präzisierung
und der Aktualisierung bedarf. Die Bundesregierung hat deshalb die von mir vorgelegte Novelle zum Raumordnungsgesetz beschlossen. Der Bundesrat hat die Hauptanliegen dieser Novellierung im ersten Durchgang voll mitgetragen.
Die beiden Hauptschwerpunkte der Novelle darf ich nun vortragen. Die Leitvorstellungen und Grundsätze der Raumordnung sollen im Hinblick auf die aktuellen und zukünftigen Aufgaben ergänzt werden. Zum anderen wird mit dem Raumordnungsverfahren ein in einigen Bundesländern seit einigen Jahren bewährtes Instrument bundeseinheitlich für die frühzeitige Abstimmung von Nutzungsansprüchen nutzbar gemacht. Das zentrale Anliegen der Raumordnungspolitik, in allen Teilräumen der Bundesrepublik Deutschland gleichwertige Lebensbedingungen zu schaffen und zu erhalten, soll als Leitvorstellung der Raumordnung gesetzlich festgeschrieben werden. Im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über die strukturellen Entwicklungsprobleme einzelner Regionen kann der Gesetzgeber damit ein Signal setzen und sowohl der sogenannten passiven Sanierung von zurückgebliebenen ländlichen Gebieten eine Absage erteilen als auch den schwierigen Anpassungs- und Strukturproblemen einiger alter Industrieregionen entsprechen.
Lassen Sie mich an dieser Stelle auch im Hinblick auf die anschließende Aussprache zur Wohnungspolitik ein paar Worte zu den Vorzügen des ländlichen Raumes sagen. Der ländliche Raum hat im Wettbewerb der Regionen gute Chancen. Früher herrschte die Meinung, daß man im ländlichen Raum zwar gut wohnen, aber schlecht arbeiten könne. Der erste Teil dieses Satzes stimmt nach wie vor, der zweite ist zunehmend korrekturbedürftig. Im ländlichen Raum können unsere Bürger, vor allem Familien, zu geringeren Kosten besser wohnen. Wegen des billigen und ausreichend verfügbaren Baulandes ist hier auch der Erwerb von Wohneigentum leichter. Der ländliche Raum hat bei vielen wirtschaftlichen Meßgrößen eine überdurchschnittliche positive Entwicklung erreicht. So, meine Damen und Herren, ist die Zahl der Beschäftigten im ländlichen Raum seit 1978 mehr als doppelt so stark angestiegen wie im Bundesdurchschnitt, nämlich um 7 vom Hundert gegenüber 3,3 vom Hundert. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit hat hier schon 1983 eingesetzt, also früher als in den Verdichtungsräumen.
Zu den Leitvorstellungen, die künftig bei allen raumwirksamen Entscheidungen öffentlicher Planungsträger zu beachten sind, sollen auch der Schutz, die Pflege und Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen gehören. Der Entwurf der Bundesregierung stellt die Bedeutung des Umweltschutzes in der Raumordnung heraus. Umweltschutz ist ein vorrangiges Ziel der Raumordnungspolitik.
Ich bedanke mich.
({1})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/2666 und 11/3916 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf:
a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Müntefering, Dr. Sperling, Conradi, Erler, Großmann, Menzel, Dr. Niese, Oesinghaus, Reschke, Scherrer, Weiermann, Adler, Bamberg, Bernrath, Fuchs ({0}), Dr. Gautier, Haack ({1}), Haar, Dr. Hauchler, Heistermann, Ibrügger, Jansen, Kastning, Kißlinger, Koltzsch, Kretkowski, Kuhlwein, Dr. Martiny, Müller ({2}), Müller ({3}), Oostergetelo, Pfuhl, Rixe, Sielaff, Dr. SkarpelisSperk, Tietjen, Traupe, Weiler, Wimmer ({4}), Wittich, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Lebensbedingungen in den Städten und Dörfern des ländlichen Raumes
- Drucksachen 11/1903, 11/3007 -
b) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Oesterle-Schwerin, Frau Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Schädigung der Mieterinnen und Mieter gemeinnütziger Wohnungen durch die Steuerreform
- Drucksachen 11/1467, 11/2909 Zu Punkt 11 b liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4060 vor.
Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung dieser Punkte 90 Minuten vorgesehen. - Kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Sperling.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr Stoltenberg, Sie dürften an der soeben gehaltenen Rede des Raumordnungsministers kaum Anstoß nehmen können. Ich erwarte darum keine Pressemeldungen, keine Antworten in Fragestunden und auch keine Intervention Ihrerseits hier, die das aus der Sicht des Finanzministers dementiert, was der Raumordnungsminister soeben gesagt hat. - Aus der Sicht des Finanzministers , Herr Schneider, eine gelungene Rede, aber was die Raumordnungspolitik angeht, nicht.
({0})
Ich möchte zu wenigen der Themen reden, die wir im Zusammenhang mit ländlichen Räumen zu besprechen haben. Wenn wir vom ländlichen Raum reden, dann meinen wir einen Raum, in dem die landwirtschaftliche Tradition wesentlich stärker ist als in den anderen Räumen, über die heute nachmittag schon in anderem Zusammenhang gesprochen wurde.
Wir haben mit der Großen Anfrage nach diesen ländlichen Räumen gefragt, weil wir, anders als Sie in der Antwort auf die Große Anfrage, erhebliche Unterschiede in der Entwicklung sehen. Ich möchte Sie darum mit einem Zitat zu dem, was in Ihrer Antwort
steht, ein wenig nachdenklich machen. Wir hatten mit folgendem Satz gefragt:
Diese Anfrage hat die ländlichen Räume, insbesondere die strukturschwachen, zum Gegenstand. Wir erwarten, daß die Antworten der Bundesregierung zwischen den unterschiedlichen Situationen und Entwicklungschancen in den verschiedenen Kategorien der ländlichen Räume differenzieren.
Nun differenziert Ihre Antwort aber nicht zwischen strukturschwach und strukturstark, sondern Sie ebnen genau dies alles ein, indem Sie drei andere Kategorien, die sicher in der Raumordnung verwendet werden, ausschließlich benutzen.
Damit kommen wir auf die Situation, die ein anderer brillentragender Minister dieser Bundesregierung immer mit dem freundlichen Beispiel kennzeichnet:
({1})
Wenn zwei Schulbuben zwei Äpfel haben, einer zwei, der andere keinen, dann haben sie im statistischen Durchschnitt beide einen. Aber der statistische Durchschnitt führt noch nicht dazu, daß jeder einen hat. Was Sie uns geboten haben, ist der statistische Durchschnitt. Ihre ganze Antwort enthält nicht ein einziges Mal die Beschreibung von Bandbreiten zwischen gleichartigen strukturschwachen ländlichen Räumen. Mindestens die hätten Sie uns geben können. Ich will das nur mit ganz kurzen Beispielen anreißen.
Auch Sie wissen - das hätte in Ihrer Antwort gut stehen können - , daß etwa in den Landkreisen Emden und Leer die Arbeitslosigkeit höher liegt als 20 %, in Deggendorf und Passau bei knapp 20 % und daß es andere Kreise gibt, wo die Arbeitslosigkeit bis auf unter 10 % , ja, bis in die Nähe von 5 To hinunterreicht.
({2})
In beiden Fällen handelt es sich um ländliche Räume. In dem einen Fall wird die Zahl der Arbeitsplätze, wie Sie es soeben geschildert haben, mit Sicherheit anwachsen. In dem anderen Fall wird die Zahl der Arbeitsplätze sicher nicht in ausreichendem Maße anwachsen; denn sonst wäre die Arbeitslosigkeit in diesen Räumen nicht zu erklären.
Darum, Herr Minister, wäre es im Rahmen der Debatte über die ländlichen Räume sinnvoll gewesen, wenn Sie in Ihrer Antwort etwas über die Bandbreiten von Arbeitslosigkeit gesagt hätten. Sie können die Flächenländer des Nordens und des Südens der Bundesrepublik nehmen; dann kommen Sie ebenfalls auf sehr entgegengesetzte Zahlen. Auch dies kann man im groben nachholen. In den Flächenstaaten des Nordens der Bundesrepublik gibt es Arbeitslosenzahlen von mehr als 11 %; die Arbeitslosenzahlen im Süden der Bundesrepublik - in Bayern und Baden-Württemberg - liegen bei 7,5 % bzw. 5 %.
Zu dem Thema, welche Auswirkungen die hohe Arbeitslosigkeit in den strukturschwachen ländlichen Räumen auf die Lebensbedingungen der dort lebenden Bevölkerung hat und welche Entwicklungschancen sich daraus ergeben, findet sich in Ihrer Antwort auf unsere Große Anfrage kein Wort.
Ich wende mich einem zweiten Thema zu. Das betrifft etwas, was mit der Arbeitslosigkeit zusammenhängt. Wir alle wissen: Unsere Wirtschaft ist auf Strukturwandel angewiesen. Strukturwandel bedeutet im wesentlichen Innovation in den Betrieben, für die Arbeitsplätze, auch in den Köpfen und in der Haltung der Bevölkerung, die an den neuen Arbeitsplätzen schaffen soll.
Wie sieht es nun mit dem Ministerium aus, das seitens der Bundesregierung die größten Innovationschancen in die Räume hinein verteilt? Wie sieht es mit dem Bundesministerium für Forschung und Technologie aus? Gott sei Dank verfügt das Ministerium inzwischen über einen Zahlenapparat, mit dessen Hilfe Aussagen über die regionale Verteilung der Mittel aus dem Haushalt des Ministeriums für Forschung und Technologie getroffen werden können. Dabei kommt heraus: Wenn man Niedersachsen und SchleswigHolstein einfach einmal zusammensieht - ohne Hamburg und Bremen - und die Bevölkerungszahlen dieser Bundesländer zusammenzählt, dann kommt man auch auf ungefähr 10 Millionen. In diese beiden nördlichen Flächenstaaten fließt genau die Hälfte der Mittel, die das Forschungsministerium für die auch etwa 10 Millionen Einwohner Baden-Württembergs bereithält.
({3})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Nein, Herr Grünbeck, ich möchte diesen Gedanken zu Ende führen.
In dem Moment, in dem man noch auf ein weiteres Land schaut, nämlich auf Bayern, stellt man fest: Auch für rund 10 Millionen Einwohner - wenn man das ein bißchen großzügig sieht - wird eine Summe zur Verfügung gestellt, die um fast 30 To höher ist als die Summe, die in die ebenfalls 10 Millionen Einwohner umfassenden Länder Niedersachsen und SchleswigHolstein fließt. Die einen bekommen 700 Millionen DM, die anderen bekommen über 1 Milliarde DM.
Diese Mittel fördern den Innovationsprozeß und die Anpassungsfähigkeit. Dies strahlt aus den Zentren in die ländlichen Räume aus. Es wäre gut, Herr Minister, wenn sich Ihr Ministerium, von dem ich aus früherer Tätigkeit ja weiß, daß es über die entsprechende intelligente Kapazität verfügt, dieser Aufgabe energischer widmen könnte und dürfte.
({0})
Ich komme zu einem dritten Thema. Ich freue mich, daß Herr Stoltenberg anwesend ist; denn, Herr Schneider, zu Ihrem Ministerium ist in diesem Zusammenhang wohl wenig zu sagen. Ich komme auf die Auswirkungen der Steuerreform zu sprechen. Es gibt inzwischen erste Überlegungen dahin gehend: Was bedeutet die so sehr gerühmte Steuerreform für den ländlichen Raum? Abgesehen davon, daß bei den Mitteln für regionale Wirtschaftspolitik DirektsubventioDr. Sperling
nen gekürzt worden sind, die auf der anderen Seite nicht voll kompensiert werden, gibt es weitere Auswirkungen, nämlich auf die Einnahmeseite der Städte und Gemeinden, auch der im ländlichen Raum, und auf die Kaufkraft insofern, als Menschen durch Steuerentlastungen, wie Sie meinen, beglückt werden.
({1})
In dem Moment, in dem man dies einmal durchdenkt, wird man feststellen: Die Einnahmeminderungen der Städte und Gemeinden im ländlichen Raum werden nicht so gravierend sein, aber der Kaufkraftzuwachs im ländlichen Raum auf Grund von Steuerentlastungen wird erheblich unter dem Kaufkraftzuwachs liegen, der durch Entlastungen in den Ballungsräumen erreicht wird. Dies bedeutet, daß zwischen den Ballungsräumen und dem ländlichen Raum die Auswirkungen der Steuerreform dazu führen werden, daß die Schere in den Lebensbedingungen weiter auseinanderklafft.
Eigentlich, Herr Minister Schneider, hätte auch dazu etwas an Überlegungen in Ihrer Antwort stehen können. Aber wir haben danach nicht gefragt, weil wir damals, als wir die Fragen stellten, noch nicht sehen konnten, daß es für die Regionalpolitik und Raumordnungspolitik mit der Steuerreform so schlecht enden würde.
({2})
- Es ist auch nicht gut für die Gemeinden und Städte. Herr Möller, ich weiß, daß Sie Landrat eines Kreises sind, der von der Nähe dieses schönen Ballungsortes Bonn profitiert. Wären Sie Landrat in Emden, d. h. wären Sie an der Stelle des Kollegen Ewen, würden Sie Ihre Meinung hinsichtlich dessen, was Sie gerade gesagt haben, vielleicht völlig ändern und dem Kollegen Ewen in der Betrachtung der Finanzmöglichkeiten von Gemeinden, Städten und Landkreisen zustimmen. Da gilt das Beispiel mit den zwei Jungen und den zwei Äpfeln: Der eine hat zwei und der andere keinen.
({3})
Ich komme zu dem letzten Thema, zu dem ich noch etwas sagen möchte. Kommunikation und Innovation hängen zusammen. Wer sich die ländlichen Räume anschaut, der weiß, daß Sie selber über sich und die restliche Welt nur noch durch eine Zeitung informiert werden. Die Ein-Zeitungs-Kreise werden durch den Postzeitungsdienst in Zukunft noch schlechter bedient werden. Dann tritt mit der Poststrukturreform das Problem auf, daß überregionale Zeitungen für die Bevölkerung in ländlichen Räumen weniger erschwinglich werden.
Das ist auch ein Schlag gegen Demokraten mit der Folge, daß ländliche Räume hinsichtlich der Informationsmöglichkeiten schlechter gestellt werden.
({4})
Das gilt dann durchgehend; denn 25 % der Bevölkerung werden kein Kabelfernsehen kriegen. Für die
direkt abstrahlenden Satelliten braucht man, weil sie
mit einer anderen Norm abstrahlen, erst neue Empfangsgeräte. Auch im Informations- und Kommunikationsbereich wird die Bewohnerschaft des ländlichen Raums durch das schlechter gestellt, was Sie an Politik betreiben.
Ich wollte das einmal mit einer breiten Themenpalette ansprechen.
Herr Schneider, ich weiß nicht, welche Art Lebewesen Sie bei dem Lieblingsbild des Bundeskanzlers von der Karawane und den bellenden Hunden sind. Aber ich kann Ihnen eines sagen, da Sie auch Wohnungsbau- und Städtebauminister sind: Sorgen Sie dann mindestens bei der Neuordnung der Räume mit dafür, daß die Zweckentfremdung des Kanzleramtes als Karawanserei aufhört.
({5})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Möller.
({0})
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir freuen uns, daß sich der Parlamentarische Staatssekretär a. D. Dr. Dietrich Sperling nach sechs Jahren freier Zeit wieder in der Wohnungs- und Raumordnungspolitik zurückgemeldet hat.
({0})
Sie haben, Herr Kollege Dr. Sperling, in Ihrem Beitrag gerade zwei Punkte beanstandet. Zum einen haben Sie beklagt, daß es den Städten und Gemeinden nicht so gut gehe. Vor einem Jahr hat gerade Ihre Fraktion und hat der Präsident des Deutschen Städtetages groß geklagt, daß die Steuerreform solch schlechte Aussichten und Chancen für die Städte und Gemeinden beinhalte und daß die Steuerausfälle so groß würden. Gestern hat Präsident Schmalstieg zugeben müssen, daß die Städte und Gemeinden 2 Milliarden DM mehr als vorher eingenommen haben.
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Ein Zweites: Sie beklagen heute, daß viele Bürger in den ländlichen Räumen nicht an das Kabelfernsehen angeschlossen werden könnten. Vor ein paar Jahren haben Sie das Kabelfernsehen in diesem Raum noch verteufelt.
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So unsicher und so widersprüchlich ist die Politik dieser Opposition.
Die Große Anfrage der SPD zu den Lebensbedingungen in den Städten und Dörfern enthält einen richtigen Satz, den wir unterstreichen,
({3})
nämlich daß der ländliche Raum größere Aufmerksamkeit und gezieltes Handeln erfordere. Genau das hat die Bundesregierung durch eine Reihe von Maßnahmen zielgerichtet und erfolgreich getan. Die Poli9430
tik der Bundesregierung ist darauf ausgerichtet, gleichwertige Lebensbedingungen für den ländlichen Raum zu schaffen.
Wie falsch die Ausgangslage der wirtschaftlichen Entwicklung in der Großen Anfrage von der SPD beurteilt worden ist, zeigt sich in dem Satz, daß die schwache gesamtwirtschaftliche Entwicklung die Probleme im ländlichen Raum verschärft habe. Inzwischen hat aber wohl auch die Opposition längst erkennen können und müssen, daß wir mit etwa 3,5 Wachstum die beste und dauerhafteste Entwicklung der letzten 20 Jahre verzeichnen können - dank der Politik dieser Bundesregierung.
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Insbesondere falsch ist die Behauptung der SPD, daß die Mittel für die Städtebauförderung gekürzt seien und daß die Ausstattung für die Dorferneuerung zu gering sei. Diese Behauptung muß wider besseren Wissens aufgestellt sein, was deutlich wird, wenn ich Ihnen folgende vier Punkte vortrage.
Erstens. Die Mittel für Städtebauförderung wurden von dieser Regierung von zu Ihrer Zeit 220 Millionen DM auf jetzt 660 Millionen DM verdreifacht.
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Zweitens. Das Strukturhilfegesetz in Milliardenhöhe unterstützt auch und gerade Städte und Gemeinden für die Stadtsanierung und Dorferneuerung.
Drittens. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur" ermöglicht über 5 000 Dorferneuerungsmaßnahmen.
Viertens. Die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" wurde um 60 To aufgestockt. Diese Leistungen kommen auch dem ländlichen Raum und den dort lebenden Bürgern zugute.
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Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Müntefering?
Ich möchte im Zusammenhang vortragen.
Meine Damen und Herren, im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe „Hochschulbau" hat die Bundesregierung auch den Bau von Hochschulen im ländlichen Raum unterstützt. 60 % der neu gegründeten Hochschulen und mehr als 50 % der Fachhochschulen liegen in ländlichen Regionen. 16 % der Studenten werden in diesen ländlichen Regionen ausgebildet, und hier sind auch 20 % des Forschungspersonals tätig. Dies ist eine gute Ausgangsposition; dieses Wissens- und Wissenschaftspotential kann auch bei der Ausschöpfung neuer Technologien und der Ansiedlung neuer Betriebe im ländlichen Raum genutzt werden.
Meine Damen und Herren, ein paar Überlegungen zu der Anfrage der GRÜNEN. Diese Anfrage der GRÜNEN über die Lage der Mieterinnen und Mieter gemeinnütziger Wohnungen ist das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt ist.
({0}) Alle Themen, die dort angesprochen worden sind, wurden sehr intensiv und ausführlich bei den Beratungen des Steuerreformgesetzes angesprochen und behandelt. Sie sind darüber hinaus bei einer Anhörung im Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau am 27. Mai noch vertieft worden. Alle Themen sind dort angesprochen worden und sind dort ausführlich behandelt worden.
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Um es ganz deutlich zu machen: Die Anfrage der GRÜNEN zielt allein auf eine bewußte Verunsicherung der Mieter in Wohnungen gemeinnütziger Wohnungsunternehmen ab. Das ist das alleinige Ziel. Dabei muß man aber feststellen, daß die Aufhebung des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes keine wesentlichen Auswirkungen auf die Mieten der gemeinnützigen Wohnungsunternehmen haben wird. Die Bundesregierung hat das präzise und im einzelnen erläutert.
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- Herr Kollege Menzel, lesen Sie die Antworten nach! Mit der Aufhebung des WGG ist nämlich nicht die Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit verbunden. Die Wohnungsgemeinnützigkeit ist älter als das WGG aus den 30er Jahren. Durch die Aufhebung des WGG sind die Voraussetzungen für einen neu belebten Wohnungsbau unter dem Kennzeichen der Gemeinnützigkeit viel besser geworden, als man angenommen hat. Das Steuerreformgesetz hat nämlich den finanziellen Spielraum der gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaften beträchtlich vergrößert. Die Unternehmen sind nicht mehr in ihrem Geschäftsbereich eingegrenzt. Der Wegfall der Steuerpräferenzen hat den großen Vorteil, daß die gemeinnützige Wohnungswirtschaft jetzt für Investitionen alle steuerlichen Möglichkeiten wie auch die anderen Betriebe in Anspruch nehmen kann. Dadurch sind große Investitionshemmnisse beseitigt worden, und das ist gut so.
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Meine Damen und Herren, die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen werden von diesen steuerlichen Möglichkeiten auch Gebrauch machen, was uns immer wieder versichert worden ist. Wir glauben dem Direktor des Gesamtverbandes.
Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen haben sich längst auf die neue Lage eingestellt. Ich sage deshalb ganz bewußt: Daher wäre es unverantwortlich, die Aufhebung des WGG zu verschieben. Es würde zu einem Chaos bei Unternehmen führen und damit zu Lasten der Mieter gehen.
({4})
Es würde zu Attentismus führen, und notwendige Investitionen würden verschleppt oder verschoben.
Meine Damen und Herren, es bedarf also keiner Kurskorrektur in der Wohnungsbaupolitik. Es bedarf einer zielgerichteten und folgerichtigen Anwendung einer richtig verstandenen, sozial ausgerichteten Wohnungsmarktpolitik. Wenn die Rahmenbedingungen richtig gesetzt sind und richtig gesetzt bleiben,
wird man auch aus momentanen Engpässen und Verknappungserscheinungen wieder herauskommen.
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Es ist noch kein ganzes Jahr her, Herr Kollege Sperling, seit sich im Februar bzw. März des vergangenen Jahres der Städtebauausschuß genötigt sah, sich durch Ortsbesichtigungen in Hamburg und Köln Gedanken über die Wohnungsleerstände in den Ballungsgebieten zu machen. Damals schlug Wohnungsbauminister Zöpel in Nordrhein-Westfalen den Abriß von Hochhäusern vor.
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Er forderte den Bundesbauminister auf, Abrißprämien zu vergeben. Von einer Million leerstehender Wohnungen wurde gesprochen. Inzwischen - so sagt man - stehen Warteschlangen vor den Wohnungsämtern und
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werden Milliardenprogramme im Wohnungsbau gefordert.
So wie 1987 und 1988 Abrißüberlegungen völlig falsch waren, so sind jetzt riesige staatliche Subventionsprogramme fehl am Platze. Wie falsch Forderungen nach einem neuen Wohnungsbauprogramm sind, mag folgende Zahl verdeutlichen: Wenn die Nachfrage nach Wohnraum in der Bundesrepublik um 3 zu- oder abnimmt, geht es rechnerisch immerhin um plus oder minus 750 000 Wohnungen oder um gut 50 Millionen qm Wohnfläche. Wer einen Wohnungsneubau in dieser Größenordnung fordert, fordert eine unmögliche Finanzierung.
Was ist also in dieser Lage notwendig und erforderlich?
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Erstens. Wichtig ist die Verstetigung und auch die sorgsame Anhebung der Bauleistungen insbesondere für Wohnungen für Aussiedler, für kinderreiche Familien, für Studenten und für einen anderen Personenkreis. Hier sind in erster Linie die Bundesländer aufgerufen, sich dieser Verantwortung zu stellen, weil es zu ihren originären Aufgaben gehört.
Wenn ich daran denke, Herr Kollege Müntefering, daß das Land Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren die Mittel für den sozialen Mietwohnungsbau immer weiter zurückgefahren hat, dann komme ich und dann müssen auch Sie zu dem Ergebnis kommen, daß die Landesregierung ihrer Verpflichtung nicht entsprochen hat.
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Um ein Beispiel zu nennen: Von 1984 bis 1988, also in fünf Jahren, hat die Landesregierung von Nordrhein-Westfalen für den Bereich des Rhein-Sieg-Kreises, den der Kollege Sperling eben schon angesprochen hat, lediglich 207 Mietwohnungen im sozialen Wohnungsbau gefördert. Das sind 41 Wohnungen pro Jahr bei einer Bevölkerungszahl von 480 000 und bei 4 000 Aussiedlern. In den fünf Jahren zuvor hat das
Land wenigstens noch 157 Wohneinheiten pro Jahr gefördert.
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Nordrhein-Westfalen hat also in den letzten fünf Jahren den sozialen Wohnungsbau auf weniger als ein Drittel zurückgeführt. Ich meine, das ist der Skandal in Nordrhein-Westfalen.
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Meine Damen und Herren, die Landesregierungen sind also gefordert, hier mehr zu tun. Die Bundesregierung hat ihren Anteil im Aussiedlerwohnungsbau erbracht. Wir fordern aber die Bundesregierung auf, alle Mittel für den sozialen Wohnungsbau zu konzentrieren, zusammenzufassen und in angemessener Weise anzuheben, uns auch hier ein wenig Hilfe aus der augenblicklichen Verknappungslage zu geben.
Ein zweites: Wichtig ist aber, daß die Rahmenbedingungen noch weiter verbessert werden. Dazu gehört auch eine Annäherung der Abschreibungsmöglichkeiten für den Mietwohnungsbau. Ich glaube, daß durch eine solche Maßnahme zusätzliche Anreize für die unmittelbare Umsetzung in den Wohnungsbau gegeben würden und das dort verfügbare Kapital in eine wichtige wohnungsbaupolitisch richtige Richtung gelenkt würde.
({12})
Ein drittes Thema: Als dritte Maßnahme ist es erforderlich, das Wohngeld in absehbarer Zeit anzupassen.
Meine Damen und Herren, das ist ein schlüssiges, ein realistisches Konzept. Dagegen legt nun die SPDFraktion einen Antrag vor, der neben einigen guten Ansätzen, was ich nicht verkennen will,
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das alte Arsenal der Folterinstrumente des Dirigismus wieder öffnet
({14})
und abschreckend für Investoren wirkt, meine Damen und Herren.
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Meine Damen und Herren, wichtig ist die Festigung und Belebung der sozialen Marktwirtschaft auch im Wohnungsbaubereich.
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Die Bundesregierung hat das rechtzeitig und richtig erkannt. Deshalb unterstützen wir die Bundesregierung mit Nachdruck auch in dieser Frage.
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Das Wort hat Frau Abgeordnete Teubner.
Frau Präsidentin! Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer! Herr Kollege Möller, den angemessenen Kommentar zu Ihren wohnungspolitischen Aussagen wird die Kollegin Oesterle-Schwerin Ihnen nachher liefern.
({0}) - Ja, sicher. Wir reden hier zu zweit.
Ich beziehe mich auf den ersten Teil Ihrer Ausführungen zum Thema ländlicher Raum. Da war einmal ein Rüstungskonzern, der produzierte nebenher auch noch Personenwagen. Edle Karossen. Der brauchte, um diese perfekten Automobile noch weiter zu perfektionieren, eine Teststrecke. Das ist jetzt viele Jahre her, und das Bundesland im Süden dieser Republik, in dem der Konzern seinen Stammsitz hat, hatte sein Wirtschaftswunder erst noch vor sich.
Besonders im ländlichen Raum war der Mangel an Arbeitsplätzen groß, das Bauernsterben schon im Gange, alternative Möglichkeiten einer eigenständigen Wirtschaftsentwicklung nicht in Sicht. So kaufte der Konzern in einem der strukturschwächsten Landkreise - der Volksmund vergleicht die Gegend mit Sibirien - 707 Hektar Land, davon 150 Hektar Wald, der Rest Äcker und Wiesen, um dort sein Motodrom zu errichten. Der Landesfürst unterstützte das Vorhaben der Industriefürsten, doch die Landeskinder, die in der betroffenen Gegend wohnten, wollten lieber ihr Land behalten und selbst bewirtschaften, nach ökologischen Kriterien, im Einklang mit der Natur. Die Nachfrage nach ihren Produkten war groß, und sie entwikkelten ein umfassendes Konzept für eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung in ihrer Region, vom ökologischen Landbau über die Verarbeitung bis zur Vermarktung ihrer Produkte.
Doch so hatte sich der Landesfürst die Entwicklung dieses strukturschwachen Raumes nicht vorgestellt. Schließlich war ja da noch der Edelkarossenfabrikant, der seine Betonwüste haben wollte. So wurde ein Flurbereinigungsverfahren eingeleitet und sogleich die besagte Flur unter Polizeischutz von den darauf wachsenden 90 000 Bäumen bereinigt. Die Bauern aber wandten sich an die Rechtsvögte, die jahrelang beraten mußten, bevor sie herausfanden: Das Flurbereinigungsverfahren hat enteignenden Charakter; für eine Enteignung zugunsten eines privaten Projekts fehlte allerdings die gesetzliche Grundlage. Sie wäre daher verfassungswidrig gewesen.
({1})
Nun wollten die Ökobauern eine Audienz bei ihrem Landesfürsten haben, um mit ihm darüber zu beraten, wie die Arbeitsplätze in der Region erhalten werden, der abgeholzte Wald wieder aufgeforstet und ein zukunftsträchtiges ökologisches Landwirtschaftsprojekt verwirklicht werden könnte. Doch daran hatte der Landesvater kein Interesse. Durch seinen neuen Regierungssprecher - der alte war kurz zuvor Pressesprecher des Konzerns mit dem guten Stern geworden - ließ er ausrichten - Zitat - :
Das Land hat der Region eine Strukturchance
angeboten. Jetzt kann niemand erwarten, daß wir
für dieselben Leute, die dies ausgeschlagen haben, Wunderdinge vollbringen.
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So, meine Damen und Herren, sieht in diesem Land Politik für den ländlichen Raum aus.
({3})
Jahrzehnte sich selbst überlassen, auf Gedeih und/ oder Verderb, ist er in den letzten Jahren zunehmend interessant geworden als Ausgleichsraum für die Belastungen, die die Ballungsgebiete nicht mehr tragen können oder wollen. Und dieser Ausgleich bedeutet nicht nur, wie die Bundesregierung einleitend zu ihrer Antwort vermerkt, „Freizeit und Erholung, ... Landschaftspflege und ... ökologischen Ausgleich" , sondern das bedeutet vor allem die großräumige Verteilung der in den städtischen Verdichtungs- und Ballungsräumen produzierten Gift- und Abfallstoffe. Zum Dank darf der ländliche Raum dann sein
- noch - relativ sauberes Wasser und, wo gewünscht, Arbeitskräfte liefern, beides notfalls über Hunderte von Kilometern.
Ein besonders infames Instrument zur möglichst reibungslosen Durchsetzung dieser Arbeitsteilung hat sich die Bundesregierung mit der Neufassung des § 35 des Baugesetzbuchs einfallen lassen, und sie ist noch so dreist, in der Antwort auf Frage 29 diesen Paragraphen als eine Regelung hochzuloben, die „einer Zersiedlung der Landschaft entgegensteht".
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Mag sein, einer Zersiedlung durch Reihenhaus-Kolonien; ansonsten wird mit diesem § 35 jede bauliche Schandtat im ländlichen Raum legalisiert.
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Da heißt es - ich erinnere noch einmal daran - :
Im Außenbereich ist ein Vorhaben nur zulässig, wenn öffentliche Belange nicht entgegenstehen ... und
- zum Beispiel wenn es ... wegen seiner besonderen Anforderungen an die Umgebung, wegen seiner nachteiligen Wirkung auf die Umgebung oder wegen seiner besonderen Zweckbestimmung nur im Außenbereich ausgeführt werden soll oder
- zum Beispiel -... der Erforschung, Entwicklung oder Nutzung der Kernenergie ... oder der Entsorgung radioaktiver Abfälle dient.
Alles andere, alles, was die Bedingungen für Menschen, hier leben zu können, ausmacht, ist der Bundesregierung egal, und die Antwort auf die Große Anfrage ist im Grunde von vorn bis hinten nichts als der Versuch, dieses Desinteresse und diese Untätigkeit zu verschleiern und zu beschönigen - sei es im Bereich der eigenständigen, nicht von Energiekonzernen diktierten Energieversorgung, sei es im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen wie Post oder Bahn,
sei es bei der ärztlichen Versorgung oder dem verbrauchernahen Einzelhandel.
Da nützt auch die aufwendigste europäische Kampagne nichts, Herr Minister.
Wenn die Politik in den Ballungszentren nicht bald anders aussieht, werden auch die ländlichen Räume, vor allem die, die sich als in keinster Weise für die städtischen Interessen ausbeutbar erweisen, weiterhin keine andere Perspektive haben als die, die man so schönfärberisch „Passive Sanierung" nennt.
Und für die anderen, die etwas näher am Einzugsbereich der Wirtschaftszentren liegen, gilt der zweite Teil meiner eingangs erzählten Geschichte vom Konzern mit dem guten Stern.
In einem anderen Landesteil jenes südlichen Fürsten kaufte er 170 ha, diesmal in einem Auwald gelegen. Vom Landesherren ließ er sich als sogenannte Strukturförderung für die Erschließungskosten des Bauplatzes und für sogenannte ökologische Ausgleichsmaßnahmen eine Ansiedlungsbeihilfe von 160 Millionen DM zusagen - es war ja ein armer Konzern -,
({6})
und vorsichtshalber ließ man das Ganze noch vom Bundesbauminister absegnen - gegen den ausdrücklichen Protest des damaligen Bundesumweltministers, der von dem geplanten Großprojekt eine „hochgradige Gefährdung" der betroffenen Lebensräume befürchtete.
({7})
Schutz der Umwelt vor Schadstoffen? Bodenschutzkonzeption? Ökologisch verträgliche und sozial sinnvolle Arbeitsplätze? Eigenständige Regionalentwicklung nach den Bedürfnissen der Menschen, die dort leben? Weit gefehlt. Das sind Fremdworte für die Bundesregierung bzw., wenn sie sich solche Begriffe zu eigen macht, nichts als schöne Floskeln.
({8})
Das Wort hat der Abgeordnete Grünbeck.
({0})
Frau Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Entwicklung von Städten und Dörfern im ländlichen Raum ist ein langfristiger und langwieriger Prozeß. Wenn ich die Große Anfrage der SPD genau lese, dann kommt es mir vor, als fragten Sie die Vorgänger des jetzigen Bauministers, welche Fehler sie gemacht haben, die der jetzige Bauminister alle korrigieren soll.
({0})
Dennoch teile ich Ihre Sorge. Da Sie die Zwischenfrage nicht zugelassen haben, Herr Sperling, will ich Ihre Behauptung über Forschung und Entwicklung richtigstellen und Ihnen gleichzeitig belegen, auf welchem falschen Dampfer Sie eigentlich fahren. Forschung und Entwicklung sind doch keine Frage des ländichen Raums und des Ballungsraums. Forschung und Entwicklung werden in der Bundesrepublik Deutschland zu 80 % durch die Wirtschaft und nur zu 20 % durch den Staat finanziert. Im übrigen sind zwei Drittel aller Patentanmeldungen und Innovationen aus den kleinen und mittleren Betrieben hervorgegangen. Das heißt, es ist egal, ob wir in Städten oder ländlichen Räumen wohnen; die Unternehmen und ihre Mitarbeiter entwickeln Innovationen. Bloß brauchen sie Vertrauen zu diesem Staat, in dem sie leben. In den Fällen, die Sie zitiert haben, besteht das Vertrauen nicht mehr in diesem Maß.
Herr Bundesbauminister, ich bin Ihnen für die umfassende Antwort dankbar, die Sie auf die Anfrage der SPD gegeben haben.
Wir leben in einer Bundesrepublik Deutschland,
({1})
in der der ländliche Raum 80 % der Fläche und 50 % der Bevölkerung ausmacht. Das Einkommen unserer Landwirte ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Die Zahl der Landwirte ist rückläufig. Dennoch sind wir den Landwirten Dank schuldig, daß sie im Grunde genommen den Einstieg in die Europäische Gemeinschaft durch ihre eigenen Opfer mitgetragen haben. Auch das sollte man in dieser Debatte, wo es um ländliche Räume geht, sagen.
({2})
Die EG-Integration war richtig, der Binnenmarkt steht vor uns. Er wird uns neue Chancen geben.
({3})
Für die regionale Strukturpolitik sollten wir etwas anderes machen. Da, glaube ich, verfolge ich mit Ihnen einige Anstöße. Ich glaube aber vor allem, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, daß wir in Zukunft mehr Koordination zwischen der regionalen Strukturpolitik, der regionalen Wirtschaftsförderung, Verkehrspolitik und Raumordnung brauchen. Ich habe das wiederholt im Ausschuß gesagt. Alles nebeneinander zu machen wird auf die Dauer nicht reichen. Wir brauchen das Miteinander dieser einzelnen Bereiche.
Darüber, daß wir die Ballungsräume, meine Damen und Herren, nicht noch mehr überfrachten dürfen, sind wir uns hoffentlich alle einig. Wir müssen den ländlichen Raum stärken und die Ballungsräume entlasten.
({4})
Das wird immer vordringlicher. Denn wir wissen alle, daß wir heute schon riesige Probleme bei der Entsorgung und bei der Versorgung der Ballungsräume haben. Das zieht sich durch alle Regionen.
Ich glaube aber auch, daß wir den Ballungsräumen keinen Gefallen tun, wenn wir die Verknappung von bestimmten Wohnraumbeständen jetzt etwa dazu benutzen würden, in den Ballungsräumen noch stärker zu investieren. Wo sind denn die Wohnungen knapp, wo sind denn die Wohnungen zu teuer? Schauen Sie sich die Wohngeldstruktur einmal etwas genauer an, und Sie stellen dann fest: Der Wohngeldbericht 1987
- das war ja unsere FDP-Initiative seit vielen Jahren
- weist aus, daß wir mit dieser Wohngeldstruktur den tatsächlich Bedürftigen zielgerecht geholfen haben: den Arbeitslosen, den kinderreichen Familien, den Sozialhilfeempfängern und den Rentnern mit Niedrigsteinkommen. Das sind heute 85 % der Wohngeldempfänger. Ist das denn keine richtige Wohngeldpolitik, keine richtige Sozialpolitik und keine richtige Mietenpolitik?
Und wenn der Präsident des Deutschen Mieterbundes heute fordert,
({5})
ein Sofortprogramm von 10 Milliarden DM aufzulegen, dann würde das - es ist im übrigen immer wieder dasselbe, daß der Kollege nicht da ist, wenn es um seine Probleme geht - bedeuten, daß der jetzt ohne Zweifel schon vorhandene Zinsanstieg zunehmen würde. Ich würde dem Zins Aufwind geben, und das ist das Schlechteste, was wir den Investoren anbieten können. Steigende Zinsen am Kapitalmarkt sind eine Bremse für alle Investitionen. Deshalb werden wir das auch nicht mitmachen.
({6})
Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege?
Aber gern.
Die SPD-Fraktion hat heute beantragt, daß ein Programm „Sozialer Wohnungsbau" in Höhe von 2,5 Milliarden DM aufgelegt wird, und zwar jährlich, in diesem und im nächsten Jahr. Wäre das denn die Größenordnung, die Sie mittragen?
Herr Kollege Müntefering, Sie wissen, wie aufgeschlossen ich gegenüber allen guten Vorschlägen bin, aber auf die warte ich bei Ihnen noch. Das ist der Punkt. Nicht die Größenordnung ist das Problem, sondern das Problem in den Ballungsräumen, in denen es heute dramatisch an Wohnungen fehlt, ist ein anderes. Wissen Sie, was uns dort am meisten fehlt? - Im Augenblick die Maurer und die Hilfskräfte, die für den Bau notwendig sind.
({0})
Unsere Kapazitäten sind völlig ausgeschöpft, wir sind an die Grenze der Kapazitäten gelangt.
({1})
Wir sollten etwas anderes tun, als diese Förderungsprogramme neu aufzulegen.
({2})
- Frau Präsidentin, ich nehme an, daß die Zeit für eine weitere Zwischenfrage nicht angerechnet wird.
Wenn Sie noch eine Zwischenfrage gestatten, wird die Zeit nicht angerechnet.
Ja, gern.
Bitte schön, Herr Müntefering.
Heißt das, daß Sie völlig gegen neue Programme im sozialen Wohnungsbau sind?
Nein, aber ich schließe mich den Ausführungen meines Vorredners, des Kollegen Möller, an, daß wir das bündeln werden.
({0})
Lassen Sie uns das mit Ruhe und nicht mit hektischem Aktionismus machen!
({1})
Ich bin auch dankbar, daß der Herr Finanzminister hier anwesend ist.
Lassen Sie mich nun noch etwas zu den Arbeitsmarktentwicklungen im ländlichen Raum sagen. Meine Damen und Herren, wir haben in den ländlichen Räumen natürlich Sorgen, aber nicht nur Sorgen mit den Arbeitslosen, sondern auch Sorgen derart, Heere qualifizierter Fachkräfte in den ländlichen Raum zu bekommen. Ich sehe ein, daß die Attraktivität der Ballungsräume im kulturellen Bereich, im Verkehrsbereich, im Bildungsbereich natürlich groß ist und daß vor allen Dingen auch die Chance zur Fluktuation von einem Unternehmen zum anderen und damit zur Verbesserung des beruflichen Einkommens groß ist. Aber auf die Dauer gesehen ist es natürlich keine Lösung, wenn wir die ländlichen Räume in den einzelnen Regionen auf diesem Gebiet ausbluten lassen.
Natürlich sind regionale Unterschiede vorhanden; das wissen wir. Aber mein großer Kummer hinsichtlich der ländlichen Räume - lassen Sie mich das vortragen, meine Damen und Herren ({2})
ist die Verkehrspolitik. Wenn in der Verkehrspolitik keine Wende eintritt und wir Streckenstillegungen, Stillegungen von Güterbahnhöfen, Stillegungen von Stückgutbahnhöfen in zunehmendem Maße in Kauf nehmen, dann werden Sie kein Unternehmen finden, das langfristig bereit ist, im ländlichen Raum zu bleiben, und schon gar kein Unternehmen finden, das bereit ist, sich im ländlichen Raum anzusiedeln.
({3})
Wir brauchen eine andere Verkehrspolitik, die nicht nur die Ballungsräume miteinander verbindet. Ich glaube nicht, daß es auf die Dauer gesehen hilfreich ist, wenn wir nur noch Ballungsräume miteinander verbinden und den Individualverkehr ganz in den ländlichen Raum verlagern. Ich appelliere an die Bundesregierung, eine europäische neue Regelung in der Verkehrspolitik zu finden, die die ländlichen Räume nicht austrocknet. Ich komme aus dem ländlichen Raum und betreibe dort ein Unternehmen und weiß, wovon ich rede. Wir haben auf die Dauer gesehen
keine Chance, wenn wir in der Verkehrspolitik nicht neue Überlegungen anstellen.
({4})
Ich glaube nicht, daß es im Grunde genommen an den wohnungspolitischen Initiativen liegen wird. Wir haben natürlich auch im ländlichen Raum Probleme, billige Wohnungen zu finden. Ich empfehle Ihnen allen, jetzt die neuesten Ergebnisse der Wohnungszählung bei der Volkszählung zu verwerten. Wesentlichen Anteil an der Verknappung der Wohnungen hat ganz eindeutig der zunehmende Bedarf kleinerer Einzelwohnungen. Wir haben immer mehr junge Leute, die daheim früher ausziehen, als das früher der Fall war. Wir haben auch geschiedene Leute, die getrennt in Einzelwohnungen leben wollen. Wir haben ältere Menschen, die in großen Wohnungen bleiben, keine Untermieter mehr akzeptieren, weil Ihnen der Lebensstandard das nicht mehr aufzwingt.
({5})
Das alles sind Dinge, die sich entwickelt haben. Wissen Sie denn, daß sich in den letzten 20 Jahren der Wohnraum pro Einwohner der Bundesrepublik von 12 m2 auf 32 m2 bei gleichzeitiger Modernisierung
- mehr Bäder, mehr Komfort - erhöht hat?
({6})
- Nein. - Aber was mir Kummer macht, Herr Menzel, ist natürlich die Fehlbelegung der Sozialmietwohnungen gerade in den Ballungsräumen. Ich bin dafür, daß die Bundesregierung ihre Ankündigung wahrmacht, die Fehlbelegungsregelung zu erweitern. Wir haben uns überlegt - mein Kollege Dr. Hitschler wird das demnächst vortragen -, ob wir aus der Fehlbelegungsabgabe nicht einen zweckgebundenen Fonds bilden mit dem Ziel - das kündigen wir einmal an - , daß man aus diesem Fonds etwas finanziert, was im Grunde genommen die Unterbringung der sogenannten Problemgruppen ständig erschwert.
({7})
Wir brauchen eine Mietengarantie und eine Instandhaltungsgarantie für die Vermieter. Was machen sie denn, wenn sie Problemgruppen aufnehmen, von denen sie nicht wissen, ob sie die Miete bezahlt bekommen oder ob sie den Schaden an der Wohnung ersetzt bekommen, wenn der Mieter wieder auszieht. In diesem Fall würde ich den Kommunen ein gewisses Bindungspotential übertragen, damit sie die Möglichkeiten haben, ihrer Verpflichtung, ihre Problemgruppen unterzubringen, gerecht werden. Wenn Sie bessere Lösungen haben, sind wir für alle Vorschläge dankbar.
({8})
Was die GRÜNEN-Anfrage zur Wohnungsgemeinnützigkeit betrifft, meine Damen und Herren - an sich hat es der Kollege Möller gesagt - , lohnt es sich fast nicht, darüber zu diskutieren. Wir wollen diese Wohnungsgemeinnützigkeit gemeinsam mit den gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften nicht mehr rückgängig machen. Die gemeinnützigen Wohnungsgesellschaften sind heute froh darüber, nachdem wir ihnen die steuerlichen Erleichterungen über die Teilwertlösung zugesagt haben und auch verwirklichen werden, daß sie in den Markt hineinkönnen, daß sie Sozialmietwohnungen nicht nur vermieten können - ({9})
- Die wollen ja bauen, die wollen vermieten, die wollen verkaufen, und die wollen wieder bauen. Die wollen in den Markt hinein. Nun lassen Sie sie doch gewähren, wenn sie den Markt in Bewegung bringen! Das beste Instrument für eine Mietensenkung ist doch, das Wohnungsangebot zu erweitern.
({10})
Alles andere können Sie doch im Grunde genommen nicht glaubhaft vortragen.
Ich glaube nur, daß Sie von den GRÜNEN den Titel Ihrer heutigen Anfrage verwechselt haben. Sie haben geschrieben: „Schädigung der Mieterinnen und Mieter gemeinnütziger Wohnungen durch die Steuerreform". Ich dachte, Sie würden noch einmal sagen: „Schädigung der Mieterinnen und Mieter durch ein gemeinnütziges Unternehmen" . Das wäre dann der richtige Titel, aber hier war das eine falsche Beschreibung.
({11})
Ich glaube also, daß wir auf dem richtigen Wege sind, wenn wir die steuerlichen Anreize für die Investoren erhöhen und die Rahmenbedingungen, insbesondere auch die Kapitalmarktbedingungen, für die Investoren stabil halten. Dann wird es sich lohnen, nicht hektischen Aktionismus zu machen, sondern in der Wohnungspolitik Kontinuität zu belegen. Dabei unterstützen wir die Bundesregierung.
({12})
Das Wort hat Herr Bundesminister Dr. Schneider.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
({0})
Die Bilanz der Wohnungspolitik der Bundesregierung ist respektabel.
({1})
Der Grad der Wohnungsversorgung ist für 95 % der Bevölkerung überaus zufriedenstellend. Zu dem, was ich da heute gelesen habe, Herr Müntefering, stelle ich fest: Ich habe zu keinem Zeitpunkt gesagt, daß wir keine regionalen Problemfälle hätten. Ich habe immer betont, daß das Ergebnis der Volks- und Wohnungszählung den Beweis dafür erbracht hat, daß wir glo9436
bal, pauschal eine Wohnungsversorgungsleistung erreicht haben wie zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des deutschen Volkes.
({2})
- Das heißt, daß es noch niemals pro Einwohner 35 qm gegeben hat. Die Bevölkerung ist um 0,7 gewachsen, die Zahl der Wohnungen um 33,7 % und die Wohnfläche um 50 %. Das wollte ich damit zum Ausdruck bringen.
({3})
Ich habe ausdrücklich betont und wiederhole es, daß es für 5 % unserer Mitbürger echte, ernsthafte Wohnungsproblemfälle gibt,
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um die wir uns kümmern müssen. - Herr Kollege Conradi, wenn Sie diesen Zwischenruf machen, möchte ich einmal sagen, wie Sie selber in einer Presseverlautbarung vom 29. April 1982 - kurz vor der Konkursanmeldung der früheren Regierung - die Lage im Wohnungsbau beurteilt haben. Sie haben gesagt: die Bauwirtschaft in Not; kein Wunder, bei den hohen Zinsen baut keiner, ob Industrie- oder Verwaltungsbau, ob Mietwohnung oder Eigenheim. Sie haben weiter gesagt: Auch vom sozialen Wohnungsbau ist keine Hilfe zu erwarten; die Bundesregierung hat alles getan, dieses ungeliebte und teure Kind den Ländern zuzuschieben.
Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Bitte, Herr Kollege Müntefering.
Sie waren schon zwei Sätze weiter, aber ich darf noch einmal zurückgreifen: Herr Minister, halten Sie es für angemessen, daß der Wohnungsbauminister, wissend, daß 90 % oder von mir aus auch 95 % der Menschen bei uns gut wohnen, 5 % aber nicht - und das sind 1,3 Millionen Haushalte -, sagt „alles in Ordnung",
({0})
oder sollte er nicht der sein, der darauf hinweist, daß etwas getan werden muß?
({1})
Herr Kollege Müntefering, ich habe niemals „alles in Ordnung" gesagt. Ich habe die Zahlen der Volks- und Wohnungszählung wiedergegeben. Das sind Leistungsergebnisse, die durchaus sehenswert sind. Das schließt aber nicht aus, daß sich unsere gesamte gemeinsame wohnungspolitische Sorge auf diese Personenkreise richtet, und die Bundesregierung hat ja schon längst zuvor gehandelt.
({0})
- Herr Kollege Sperling, was haben Sie uns denn 1982 hinterlassen? Die Verdienste der Arbeitnehmer wurden von der Inflation aufgefressen. - Das war damals ein Wort aus den Reihen der Sozialdemokraten. - Real schrumpften die verfügbaren Einkommen damals um 2,7 %. Die Mietsteigerungen lagen bei 5,1 %. Wir hatten ein Minuswachstum von 1 %.
Ganz anders 1988 auf Grund unserer erfolgreichen Wirtschafts-, Finanz-, Steuer- und Haushaltspolitik: Mit plus 3,4 % war dies das Jahr mit der höchsten realen Wachstumsrate in den 80er Jahren. Der Mietanstieg betrug im Jahre 1982 2,5 %, im Jahre 1987 nur 1,8 %.
({1})
Das war der niedrigste Mietanstieg seit Einführung des Mietindex überhaupt.
Die Realeinkommen sind in den drei Jahren von 1986 bis 1988 um 12 % angewachsen. Real, das heißt: Da sind alle Preissteigerungen, also auch die Mietpreissteigerungen, schon abgezogen. Wenn Sie jemals eine solche wohnungswirtschaftliche Leistungsbilanz zugunsten der Mieter aufzuweisen gehabt hätten, hätten Sie in diesem Lande die Glocken läuten lassen.
({2})
Meine Damen und Herren, wir haben in unserem Lande in den letzten Jahren zu wenige Wohnungen gebaut. Und warum wurden so wenige Wohnungen gebaut? Weil wir Leerstände hatten. Ich darf Ihnen sagen: Am 11. Dezember 1985 berichtete die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung" : Konkurrenzkampf mit Prämien und Preissenkungen - Zwischen den großen Wohnungsgesellschaften in den Revierstädten ist ein heftiger Konkurrenzkampf um Sozialmieter entbrannt. - Es wurde festgestellt, daß 30 000 Sozialwohnungen leer stünden. Sie standen leer. Das war im Zeichen des Skandals der Neuen Heimat.
({3})
Da hat doch keiner mehr investiert. Es wurde weder im sozialen Wohnungsbau noch im frei finanzierten Wohnungsbau investiert. In dieser Zeit hat das „Handelsblatt" eine Karikatur von mir gebracht. Da wurde Bundesminister Schneider heftig widersprochen, der 300 000 neue Wohnungen im Jahr für erforderlich halte. 150 000 im Lande seien völlig ausreichend. ({4})
- Im Wettlauf derer, die sich am meisten geirrt haben, würden Sie immer noch die ersten Plätze einnehmen.
Es geht aber nicht darum, darüber zu reden, wer sich geirrt hat. Geirrt haben sich in der Einschätzung des Zustroms von neuen Bewohnern der Bundesrepublik Deutschland alle. Deswegen sollten wir den Streit darüber beenden. Die Frage lautet vielmehr: Wie
bauen wir weiterhin Wohnungen? Nach meiner Einschätzung müssen es etwa 300 000 jährlich sein.
({5})
Primär kann das nur durch eine verstärkte Bereitschaft bei den privaten Investoren geschehen.
Sie wissen, wir haben voriges Jahr, wenn ich alles zusammenrechne, etwa 5 Milliarden DM an öffentlichen Direktsubventionen für den Wohnungsbau ausgegeben; aber es wurden weit über 120 Milliarden DM investiert. Also brauchen wir den privaten Investor; den dürfen wir nicht verunsichern.
Wenn ich Ihre heutige Presseerklärung lese, dann stelle ich fest, daß Sie ja alles tun, um denen, die investitionsbereit sind, die Entscheidung schwerzumachen. Sie vertreiben sie ja. Wir brauchen Ruhe an der Mietenfront!
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- Was machen Sie denn? Sie wollen das Mietrecht ändern. Jetzt kommt der Anleger wieder, und Sie wollen ihn vertreiben. Nein, ich darf Ihnen sagen, Ihre Rezepte stammen von vorgestern. Die sind keine Bereicherung.
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Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Oesterle-Schwerin?
Ja, bitte sehr.
Sagen Sie einmal, Herr Minister: Was heißt denn „Ruhe an der Mietenfront", wenn die Mieten in Köln um 20 % und in München teilweise um 50 % gestiegen sind? Wo ist denn da Ruhe an der Mietenfront?
Keine Diskussion über unser Mietrecht! Unser Mietrecht ist sozial,
({0})
und es bleibt auch sozial, wenn das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz außer Kraft tritt.
Hierzu hat der Präsident des Mieterbundes am letzten Samstag im Bayerischen Rundfunk u. a. erklärt: 3,5 Millionen Wohnungen werden aus der Bindung entlassen. Wovon spricht dieser Mieterpräsident überhaupt, dieser Exjustizminister? Weiß er denn nicht, daß hinsichtlich der Wohnungen, die den Bindungen des sozialen Wohnungsbaus unterliegen, der Wegfall des Gesetzes überhaupt keinen Einfluß nimmt? Weiß denn dieser Herr Jahn nicht, daß das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz niemals eine Belegungsbindung beinhaltet hat?
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Als die Sozialdemokraten - Herr Sperling, Sie waren dabei - , den Versuch unternommen haben, diese
Sozialbindung in das Gesetz aufzunehmen, da habe ich in Reit im Winkl zwischen dem damaligen Direktor des Gesamtverbandes der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen und dem damaligen Staatssekretär Schmidt fast eine körperliche Auseinandersetzung verhindern müssen, so erregt sind sie gewesen.
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- Da darf ich Ihnen sagen: Es ist eine Verfälschung der Wirklichkeit, so zu tun, als ob mit dem Außerkrafttreten des Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetzes eine einzige Belegungsbindung entfiele. Das ist eine Lüge.
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Damit verhetzen Sie draußen die Mieter. Diese Lüge wird ebenso platzen wie die Mietenlüge in Hamburg und all die anderen Prophezeiungen, die Sie gegeben haben.
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Es ist unerhört: Wenn der Präsident des Deutschen Mieterbundes über den Sender des Bayerischen Rundfunks so etwas verbreitet, eine hahnebüchene Unwahrheit, dann muß ich dem im Deutschen Bundestag entgegentreten.
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Übrigens: Die Herren des Gesamtverbandes der Gemeinnützigen Wohnungsunternehmen sind in dieser Woche bei mir gewesen. Sie wehren sich mit großer Entschiedenheit gegen den Vorschlag des Landes Schleswig-Holstein, das Inkrafttreten um drei Jahre zu verschieben, mit besten Gründen.
Noch etwas: Auch Verhetzungen auf diesen Teil der Steuerreform bezogen, tragen auf den ersten Anhieb vielleicht Früchte; aber bei den Fachleuten, die mit mir gesprochen haben, haben sie keinen Erfolg damit.
Auch in diesem Bereich ist die Steuerreform ein großer Erfolg, und zwar ein großer wohnungswirtschaftlicher Erfolg. Damit meine ich: Es ist in erster Linie ein Erfolg für die Mieter.
Wenn die Frage gestellt wird: Wer ist der Anwalt der Mieter in Deutschland, der Präsident des Mieterbundes, Gerhard Jahn, oder der derzeitige Bundesbauminister?, dann möchte ich nicht unbescheiden sein;
({6})
aber dieses Prädikat, Anwalt der Mieter zu sein, steht immer noch mir zu.
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Das Wort hat der Abgeordnete Graf.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Es ist sicherlich unzweifelhaft, daß sich der Ausstattungsstandard in den Städten und Dörfern in bestimmten Regionen dieser Republik in den letzten Jahren deutlich verbessert hat. Allerdings muß in aller Deutlichkeit hier gesagt werden, daß sich die Entwicklung in den ländlichen Räumen sehr unterschiedlich vollzogen hat. Insbesondere in den ländlich geprägten Regionen, die von Strukturschwäche gezeichnet sind, haben sich die Probleme in den letzten Jahren in ganz massiver Weise verstärkt. Hierzu hat auch die Politik dieser Bundesregierung in nicht unerheblichem Maße beigetragen. Dem Gebot des Grundgesetzes, im gesamten Bundesgebiet gleichwertige Lebensbedingungen herzustellen und zu sichern, ist diese Politik nicht gerecht geworden.
In der Antwort der Bundesregierung vom 28. September 1988 auf die Große Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion zu den Lebensbedingungen in den Städten und Dörfern des ländlichen Raumes wird u. a. darauf hingewiesen, daß der historisch bedingte frühere starke Gegensatz zwischen Stadt und Land zunehmend an Schärfe verliert. Hierzu möchte ich nur anmerken, daß dieses sicherlich für Regionen mit großen Verdichtungsräumen zutrifft, nicht aber für die, die fast ausnahmsweise ländlich geprägt sind und fernab von den Ballungszentren liegen.
Dieses macht eine grundlegende Neuausrichtung der Agrarpolitik zur Sicherung einer bäuerlich strukturierten Landwirtschaft notwendig; denn sie ist eine wichtige Voraussetzung für die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des ländlichen Raumes und seiner positiven Entwicklung.
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Deshalb ist es auch notwendig, Landwirtschaft und Nebenerwerbslandwirtschaft zu stabilisieren sowie den landwirtschaftlichen Strukturwandel abzusichern, indem vermehrt Wert auf die Sicherung und Schaffung zukunftsträchtiger außenlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze gelegt wird.
In diesem Zusammenhang müssen verstärkt Anstrengungen zur Dorferneuerung unternommen werden, um unsere Dörfer lebenswert zu erhalten.
({1})
- Aber nicht in dem Maße, wie es notwendig wäre; Sie werden davon noch einiges hören.
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Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich lebe seit fast 30 Jahren im Oldenburger Münsterland, vielleicht besser bekannt unter dem Begriff Südoldenburg. Dort bin ich 15 Jahre in der Kommunalpolitik tätig, und ich glaube, daß ich weiß, wovon ich hier rede.
Zunächst einmal gilt es für mich festzustellen, daß sich die Arbeitsmarktsituation auf Grund des Strukturwandels in der Landwirtschaft in ganz erheblichem Maße verschlechtert hat. So betrug beispielsweise die Arbeitslosenquote - davon hat mein Kollege Sperling heute schon gesprochen - im Bereich des Arbeitsamtsbezirks Vechta im Jahre 1988 im
Schnitt 15,7 %. Im Bereich der Nebenstelle Friesoythe
- das ist mein Heimatort - betrug die Arbeitslosenquote 23,1 %. Diese Zahlen würden sich ganz sicherlich um 10 % erhöhen, hätten wir nicht durch Mittel der Arbeitsverwaltung Leute in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen hineinbekommen. Dann hätten wir eine Arbeitslosenquote von 35 %.
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- Jahresdurchschnitt.
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Allein der Anteil der Frauen an der Arbeitslosigkeit in unserem Bereich beläuft sich auf 44 %. Besonders gravierend stellt sich gerade bei uns die hohe Jugendarbeitslosigkeit dar. Dieses macht allein im Jahresdurchschnitt einen Teilbereich von 25 % aus. Das sind annähernd 2 000 Jugendliche, die sich nach beendeter Schulausbildung bzw. nach Beendigung ihrer Lehre arbeitslos melden.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, ich liege mit meiner Einschätzung richtig, daß sich diese Zahlen im Laufe dieses Jahres noch weiter erhöhen werden. Dieses ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, daß durch die Novellierung des Arbeitsförderungsgesetzes die Mittel der Bundesanstalt für Arbeit in ganz erheblichem Maße gekürzt worden sind. Dieses wird zunehmend bei den Arbeitsämtern deutlich. Ich habe heute noch ein Gespräch mit meinem Arbeitsamtsleiter geführt, der mir dieses bestätigt hat.
Die Folgen einer solchen Politik sind bereits jetzt erkennbar. Seit mehreren Monaten ist bei uns ein verstärktes Abwandern junger, qualifizierter Arbeitskräfte in strukturstarke Räume festzustellen. Einer meiner Vorredner - ich glaube, Herr Grünbeck, Sie waren es - hat hier schon darauf hingewiesen. Das führt dazu, daß der ländliche Raum nach und nach ausblutet. Im übrigen hat dies auch zur Folge, daß, sofern sich noch Betriebe in diesen Gebieten ansiedeln wollen, diese nicht mehr in der Lage sind, qualifizierte Arbeitskräfte in ausreichender Zahl zu bekommen.
Dieser Kreislauf muß unterbrochen werden. Diese Entwicklung führt natürlich auch zu einer überproportionalen Belastung der Kommunen des ländlichen Raumes hinsichtlich der Ausgaben für die Sozial-hilf e.
Am Beispiel meiner Heimatgemeinde Friesoythe möchte ich einmal an Hand einiger Zahlen die Auswirkung verdeutlichen: Die Ausgaben für die allgemeine Sozialhilfe betrugen im Jahre 1978 ca. 1 376 000 DM. Bis zum Jahre 1988 ist eine Steigerung um 876 000 DM zu verzeichnen, was einem Prozentsatz von ca. 63 % entspricht. Im gleichen Zeitraum ist die Entwicklung der Gewerbesteuer, unserer Haupteinnahmequelle, rückläufig: Von 1975 mit 3 814 000 DM bei schlechter Konjunkturlage ist sie im Jahre 1980 bei einer weitaus besseren Konjunkturlage auf 3 680 000 DM zurückgegangen.
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Ich denke, liebe Kolleginnen und Kollegen, daß diese Zahlen deutlich machen, in welcher Situation sich viele Kommunen des ländlichen Raumes befinden; denn was für meinen Ort Friesoythe gilt, gilt sicherlich auch für viele andere Orte im ländlichen Raum der Bundesrepublik Deutschland. Die negative Finanzentwicklung hat dazu geführt, daß die Kommunen nicht mehr oder kaum noch als Investor auftreten können.
Daß dies so ist, beweist auch die Aussage des Mitglieds des Niedersächsischen Landtages, Ihres Kollegen Eveslage, der gleichzeitig Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes ist. In der Zeitschrift „Die niedersächsische Gemeinde" vom September 1988 führt er u. a. aus - ich darf zitieren -:
Für die niedersächsischen Städte und Gemeinden ergeben sich für 1990 Mindereinnahmen von 293 Millionen DM als direkte Auswirkungen der Steuerreform und indirekt über den Finanzausgleich mit dem Land noch einmal 2 Millionen DM.
Es ist gut, wenn man sich an dieser Stelle einmal auf jemanden aus Ihren Reihen berufen kann und uns nicht gleich der Vorwurf gemacht wird, daß es Leute von uns seien. Sie können das im Wortlaut nachlesen.
Aber so, wie der genannte Präsident des Niedersächsischen Städte- und Gemeindebundes dieses ausgeführt hat, geht es ja auch vielen Kommunalpolitikern vor Ort. Bei den Verbandstagungen wird gemeinsam mit Abgeordneten der SPD, der GRÜNEN und der FDP der Finanzmangel der Kommunen beklagt, und wenn man dann abends in die Wahlveranstaltung geht, wo die eigenen Leute sind, dann wird die Politik dieser Bundesregierung bejubelt, und man sagt, alles sei in Ordnung. Dieses ist unredlich.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, die intakte Landschaft, die intakte Natur ist oder, besser gesagt: war ein Stück Lebensqualität des ländlichen Raumes. Neben dem Waldsterben und der Luftverschmutzung ist die Grundwassergefährdung in Regionen mit intensiver Tierhaltung zu einem großen Problem geworden. In meinem Wahlkreis gibt es viele Haushalte, die noch nicht an die öffentliche Trinkwasserversorgung angeschlossen sind. Diese sind auf die Versorgung durch einen Hausbrunnen angewiesen. Das wiederum können sie nicht, weil die hohe Nitratbelastung die Gemeinden heute vielfach dazu zwingt, öffentliche Wasserentnahmestellen für die Bevölkerung bereitzustellen, und das im Jahre 1989.
Für die Zukunft wird die Ausweitung der vorhandenen Infrastruktur längst nicht mehr die tragende Rolle spielen wie vor einigen Jahren. So antwortete die Bundesregierung im vergangenen Jahr auf die Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion. Gleichzeitig forderte sie aber die Kommunen unmißverständlich auf, weiterhin zu investieren. Das ist richtig und notwendig und gilt insbesondere für den ländlichen Raum, wo Investitionen gerade im Umweltschutzbereich notwendig sind. Daß das so ist, beweist ein Beispiel aus meinem Wahlkreis. Die verschärften Vorschriften für Mülldeponien in Niedersachsen haben dazu geführt, daß allein der Landkreis Cloppenburg für die Abdichtung einer Deponie 40 Millionen DM investieren muß. 40 Millionen DM bedeutet bei uns: Diese 40 Millionen DM müssen letztlich über Gebühren von den Bürgern aufgebracht werden. In dem Bereich, aus dem ich komme, wo die Einkommen ohnehin an der untersten Grenze der Einkommensskala stehen, sind die Bürger nicht mehr in der Lage, diese Kosten zu tragen. Das gleiche gilt für den Bau von Kläranlagen, wo ein erheblicher Bedarf besteht.
({7})
Es gäbe noch eine Menge mehr zu sagen. Aber ich sehe gerade: Die Lampe leuchtet auf. Aber noch zwei Anmerkungen zur Lebensqualität im ländlichen Raum.
Das Gebiet, aus dem ich komme, ist auch Tieffluggebiet Nummer 1.
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An Spitzentagen gibt es 200 Überflüge im 75-MeterBereich. Das ist nicht mehr zumutbar und hat nichts mit Lebensqualität zu tun.
({9})
Darauf möchte ich abschließend noch einmal hingewiesen haben.
Ich hätte noch eine Menge mehr zu sagen. Aber die Zeit reicht nicht aus.
Herzlichen Dank.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Sauter.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Da vorhin vom Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg die Rede war, darf ich wenigstens einen Satz dazu sagen.
({0})
- Sie haben nicht zugehört, sonst würden Sie das nicht sagen.
({1})
Ich finde, daß die Struktur in Baden-Württemberg relativ ausgewogen ist. Ich denke, wir könnten alle froh sein, wenn wir im ganzen Bundesgebiet eine solche Struktur aufweisen könnten.
Ich möchte, meine Damen und Herren, mit etwas Außergewöhnlichem beginnen, nämlich der Opposition danke schön sagen, daß sie diese Große Anfrage eingebracht hat.
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Sauter ({3})
Wir haben das übrigens in der letzten Legislaturperiode auch getan, und die höhere Weisheit des Altestenrates ließ es dann nicht mehr zu, daß wir darüber diskutieren. Ich finde schon, daß es sich lohnen würde - es dreht sich um 50 % oder 60 % To der Menschen -, gelegentlich länger, umfassender und vertiefter über diese Fragen zu sprechen, als das der Fall ist. Dann sollte man auch ein etwas realistischeres Bild der Situation im ländlichen Raum geben, meine Damen und Herren von der Opposition. Es ist Ihre Aufgabe, daß Sie Kritik üben. Das ist keine Frage. Wenn jemand aus dem ländlichen Raum hier zuhört oder diese Reden nachliest - ich weiß nicht, ob das geschieht -,
({4})
müßten sie zu der Überzeugung kommen, daß es besser wäre, nicht mehr dort zu bleiben und das Glück irgendwo anders zu suchen. Ich denke, wir müssen ein realistisches Bild zeichnen. Dieses realistische Bild hat durchaus aktive und positive Ansätze für den ländlichen Raum. Es geht auch darum, diese herauszustellen.
Im übrigen, füge ich hinzu: Wenn wir die Bundesrepublik Deutschland mit anderen europäischen Ländern vergleichen, sehen wir so schlecht nicht aus. Verfolgen Sie einmal die zentralistische Geschichte in Frankreich, in Italien, in Spanien und anderwärts! Ich meine, es ist auch ein Verdienst des föderalen Systems in der Bundesrepublik Deutschland gewesen, daß wir eine relativ ausgewogene Struktur haben, wohl wissend, daß wir hier noch vor großen Aufgaben stehen. Ich finde es positiv, daß die Kampagne für den ländlichen Raum, eingeleitet vom Europarat, von Bundesminister Schneider sehr stark unterstützt worden ist. Ich habe immer ein bißchen Kritik daran geübt, weil ich den Verdacht nicht losgeworden bin, daß da zuviel in Romantik, zuviel in Idylle gemacht und daß die wirtschaftliche, die soziale und die kulturelle Zukunft des ländlichen Raumes zu wenig gesehen worden ist. Ich finde, wir hätten diese Kampagne nicht mit dem Jahre 1988 abschließen sollen, sondern sie für die Zukunft, nicht nur für die Bundesrepublik Deutschland, sondern für Europa, fortsetzen sollen. Wir könnten hier einiges in die Diskussion einführen, meine sehr verehrten Damen und Herren; ich denke an das, was wir zur Zeit in Europa erleben. Wir geben - der Herr Bundesfinanzminister ist da - mehr Geld für Regionalfonds, für Strukturfonds, für Agrarfonds aus. Ich meine, es wäre im Interesse des Ganzen schon notwendig, daß die Maschinen zum Menschen kämen und nicht umgekehrt. Dieses muß, glaube ich, die Zielsetzung sein.
({5})
Ich wollte noch eine kleine Replik zum Thema Verwaltungs- und Gebietsreform geben, die Zeit erlaubt es mir jedoch nicht mehr. Aber wie da wie mit dem Rasenmäher über den ländlichen Raum hinweggefahren worden ist, wie Strukturen zugrunde gegangen sind, wie man kulturelle Traditionen beseitigt, wie man Ortsnamen ausgelöscht hat - danke schön an Herrn Minister Schwarz-Schilling, daß das einigermaßen wieder repariert werden konnte -, war schon schlimm. Dann hat man geglaubt, man könnte alles verplanen. Man hat Oberzentren geplant, Mittelzentren, Unterzentren, Entwicklungsachsen und was da nebenher noch war. Die nicht privilegierten Orte hatten keine Überlebenschancen mehr. Dann ist man hergegangen und hat neue Wohngebiete in den Gemeinden ausgewiesen. Jeder Gemeinderat war ja stolz darauf, wenn er neue Wohngebiete ausweisen konnte. Diese Wohngebiete waren und sind sehr monoton. Es gibt dort keinen Kindergarten, nicht einmal eine kleine Werkstatt, es gibt überhaupt keine Verbindung zum Kernort. Ich denke, darüber sollte man ein bißchen nachdenken mit dem Ziel, wie wir das korrigieren, aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren ziehen können.
Ich will eine kurze Anmerkung zu dem machen, meine sehr verehrten Damen und Herren, was hier zu Recht angesprochen worden ist - auch Herr Dr. Sperling hat mal recht. Er hat ein ganz schwieriges Thema angesprochen, das der strukturschwachen Gebiete. In der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist das Grobraster gewählt worden, das von Ihnen übernommen worden ist: Ballungsgebiete, verdichtete Räume und strukturschwache Gebiete.
Die eigentliche Frage ist, wie es in den strukturschwachen Gebieten gelingen kann, diesen Abwanderungstendenzen entgegenzuwirken. Ich füge hinzu, meine sehr verehrten Damen und Herren: Es ist sicher richtig, daß man über Fremdenverkehr und Naherholung manches tun kann, wohlwissend, daß eine Überlastung durch den Fremdenverkehr einer solchen Region eher schadet. Deshalb meine ich, daß es in entscheidender Weise darauf ankommt, Initiativen aus dem Raum heraus zu entwickeln und Initiativen aus dem Raum heraus zu fördern.
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Meine Damen und Herren, wenn wir uns richtig erinnern, dann sind dort die neuen Arbeitsplätze geschaffen worden, nicht in den Ballungsgebieten, nicht in den Großbetrieben, sondern in den Kleinbetrieben mit 1 bis 100 Beschäftigten. Deshalb meine ich, daß es notwendig, wichtig und richtig ist, daß wir vor allen Dingen hier Initiativen entwickeln.
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Herr Grünbeck, ich stimme Ihnen zu: Eine bessere Erschließung ist notwendig.
Das Wichtigste für diese schwach strukturierten Regionen scheint mir zu sein, daß wir das „Schienennetz des 21. Jahrhunderts", wie man so sagt, nämlich die neuen Kommunikationssysteme - und dies ist eine Aufgabe, die wir Minister Schwarz-Schilling aufgetragen haben - auch in die schwach strukturierten Räume hineinbringen; denn eine These, die früher immer verbreitet worden ist, stimmt, glaube ich, nicht mehr. Man hat gesagt: Industrieansiedlungen in den Ballungsgebieten. Man hat von „Fühlungsvorteilen" - so war der Fachausdruck - gesprochen.
Herr Abgeordneter, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihren engagierten Redebeitrag unterbreche. Aber es gibt den Wunsch zu einer Zwischenfrage. Kommen Sie diesem Wunsch nach?
Ja, bitte schön.
Bitte schön.
Herr Kollege, ist denn die Tatsache, die von Ihnen geschildert wird, daß gerade die kleineren Betriebe auch in den ländlichen Räumen so besonders viel zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Fortschritt beitragen, der Grund dafür, daß Ihre Regierung so besonders die Großbetriebe aus den Haushalten des BMFT und anderer fördert?
({0})
Ich glaube, darauf ist vorhin schon aufmerksam gemacht worden: Genau umgekehrt, Herr Kollege, ist es richtig. Während früher vom BMFT einseitig die Großbetriebe gefördert worden sind, ist jetzt eine Umkehr eingetreten, und der überwiegende Teil der Fördermittel geht jetzt in die Mittel- und die Kleinbetriebe.
({0})
Ich will eine weitere Bemerkung dazu machen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich denke auch, daß das Problem Teilzeitarbeit unbefriedigend gelöst ist. Dies muß man zugeben. Wenn es neue Kommunikationsmöglichkeiten, wenn es neue Technologien gibt, sollten wir auch darüber nachdenken, ob wir uns nicht über das Problem der Heimarbeit unterhalten müssen und ob es hier nicht neue Chancen auch für den ländlichen Raum gibt.
({1})
Dies alles sind Probleme, die nicht ausgestanden sind.
Eines ist ganz sicher, meine Damen und Herren: Ein entscheidendes Moment für die Zukunft ist eine gute Bildung und eine gute Ausbildung. Ich meine, das gilt für alle Bildungsstätten, von den Hochschulen über die Fachhochschulen bis zu den Fachschulen. Wir haben im Lande Baden-Württemberg, wenn ich das geschwind sagen darf, mit den Berufsakademien in den ländlichen Regionen gute Erfahrungen gemacht. Herr Grünbeck, sehen Sie sie sich einmal an. Dann werden Sie selber sagen, daß die Industrie damit außerordentlich zufrieden ist.
Ich will abschließend sagen, daß wir in den strukturschwachen Regionen, in den agrarisch geprägten Regionen die Probleme nicht allein mit der Agrarpolitik lösen können.
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- Allein mit Heimarbeit auch nicht. Aber gerade Sie haben doch die Auffassung vertreten, daß die Agrarpolitik hier in besonderer Weise herhalten müsse.
Ich finde, daß wir die größten Probleme in Deutschland und - ich füge hinzu - in Europa dort haben, wo wir agrarische oder stark agrarisch geprägte Regionen haben. Deshalb meine ich, daß wir auch im Interesse des Erhalts des ländlichen Raumes alles daransetzen müssen, gesunde Agrarstrukturen zu erhalten. Aber es müssen auch Einkommensmöglichkeiten im außerlandwirtschaftlichen Bereich bestehen. Ich finde, daß diese Bundesregierung ihren Beitrag dazu geleistet hat.
Ich will zum Schluß gerne eine Anregung aufgreifen, Herr Präsident. Ich meine, eine Koordination, ein Zusammengehen aller wäre eigentlich nicht ganz verkehrt. Wenn sich der Wirtschaftsminister, der Raumordnungsminister, der Verkehrsminister, der Postminister, der Agrarminister gelegentlich zusammensetzten und die Politik besser koordinierten, dann wäre das sehr zu begrüßen. Den Finanzminister hätte ich nicht so gerne dabei, das muß ich dazusagen.
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Aber lassen Sie mich im Ernst sagen: Wenn hier eine noch bessere Koordination möglich wäre, dann würde das sicher zum Nutzen und zum Segen des ländlichen Raumes gereichen.
({4})
Das Wort hat die Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin.
Kolleginnen und Kollegen! Alle reden von Wohnungsnot, nur der Herr Möller hat es noch nicht begriffen. Ich denke, da kann man nicht helfen. Und unser Herr Minister, dessen Politik für diese Wohnungsnot verantwortlich ist, nennt sich hier heute vermessen „Anwalt der Mieter" . Dreist ist das, Herr Minister.
({0})
Sie sind nicht Anwalt der Mieter, Sie sind keineswegs Anwalt der Mieter, sondern Sie sind der Minister der Wohnungsnotgewinnler in diesem Land. Wenn Sie es nicht glauben, dann werde ich es Ihnen nachweisen. Hören Sie gut zu!
Ich möchte einmal auf Ihren Vorschlag eingehen, die steuerlichen Abschreibungssätze für Wohngebäude zu verdoppeln, d. h. die Abschreibungsfristen von 50 auf 25 Jahre zu verkürzen. Zur Erinnerung: Herr Schneider hat am 1. Februar ein Gespräch mit Maklern und mit Vertretern von Banken und Versicherungsgesellschaften geführt, die alle gefordert haben, die Abschreibungsbedingungen zu verbessern. Zwei Wochen später hat sich dieser Wunsch zur offiziellen Wohnungspolitik der Bundesregierung gemausert.
Sollte sich die Hoffnung der Bundesregierung erfüllen und sollten auf Grund der Verbesserung der Abschreibungsbedingungen in den nächsten fünf Jahren tatsächlich zusätzliche 300 000 Wohnungen gebaut werden, so würde das die Steuerzahlerin 15 Milliarden DM kosten. Wir gehen dabei von 50 000 DM an zusätzlicher Steuerersparnis pro Wohnung aus.
Das nenne ich Politik für Wohnungsnotgewinnler. Erst wird Wohnungsnot erzeugt, dadurch daß man keine sozialen Mietwohnungen mehr baut, damit die private Wohnwirtschaft höhere Mieten kassieren kann. Dann schreit man: „Hilfe, wir haben Wohnungsnot", und dann geht man hin und fördert die private Wohnwirtschaft, damit diese die Wohnungs9442
not wieder beseitigt. Das nenne ich Politik für Wohnungsnotgewinnler. Nichts anderes haben Sie die letzten Jahre gemacht.
Sie schenken den Privatunternehmern 15 Milliarden DM Steuererleichterung, damit diese 300 000 teure Wohnungen bauen. Damit entziehen Sie dem sozialen Mietwohnungsbau Mittel, die für den Bau von 150 000 sozialen Mietwohnungen ausreichen würden.
Jetzt können Sie natürlich sagen, 300 000 Wohnungen sind besser als 150 000 Wohnungen. Aber die Privatwirtschaft wird, auch mit diesem Milliardengeschenk, keine einzige preiswerte Mietwohnung bauen. Das ist der Unterschied!
Das heißt, Sie fördern 300 000 teure Wohnungen und entziehen dem sozialen Wohnungsbau damit die Mittel, die für den Bau von 150 000 sozialen Wohnungen ausreichen würden. Die private Wohnwirtschaft wird keine einzige Wohnung für Alleinerziehende, für Rentnerinnen, für Erwerbslose, für Kinderreiche und für Ausländerinnen bauen, weil diese eben nicht zu der Kundschaft gehören, für die Banken und Versicherungen bauen wollen oder für die sie sich in irgendeiner Weise verpflichtet fühlen.
Die Wohnungen, die Sie mit großem Getöse ankündigen, werden auf jeden Fall Wohnungen der obersten Preisklasse sein. Sie werden für die Einkommensschwachen unerreichbar und unbezahlbar sein, für diejenigen, die sie am meisten brauchen. Die Bundesregierung kann sich dann höchstens zugute halten, daß sie ein Riesenprogramm für Yuppies und Schickimickis gemacht hat. Herr Schneider, so sieht Ihre Tätigkeit als Anwalt der Mieterinnen aus.
({1})
Wir fordern statt dessen - und bringen heute einen Entschließungsantrag ein - , die mit der Steuerreform 1990 beschlossene Aufhebung der Wohngemeinnützigkeit wieder zurückzunehmen. Die Wohngemeinnützigkeit muß mit dem Ziel reformiert werden, daß der Sozialauftrag der 1 800 gemeinnützigen Wohnungsunternehmen gesetzlich und dauerhaft formuliert wird.
Sie haben heute die Chance, Ihre Politik vom letzten Sommer zu revidieren. So wie ich den Laden hier kenne, fürchte ich, daß Sie das nicht tun werden.
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Das Wort hat der Abgeordnete Conradi.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 10. März 1988, haben wir über die von Ihnen geplante Aufhebung der steuerlichen Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau heftig gestritten. Wer hätte gedacht, Herr Bauminister, daß unsere Warnungen vor der Aufhebung des WGG so schnell bestätigt würden! Wer hätte gedacht, daß der Bankrott Ihrer Wohnungspolitik so schnell sichtbar wird!
({0})
Herr Minister, vor einer Woche haben Sie gesagt, nur 4 % der Haushalte suchten eine ausreichende Wohnung, nur 1 % sei wirklich in Wohnungsnot. Herr Dr. Schneider, „nur" ? Das sind über 1 Million Haushalte, das sind mehr als 2 Millionen Menschen bei einer Neubauleistung von etwas über 200 000 Wohnungen im Jahr. Ihre ganzen Potemkinschen Prozentfaxereien können nicht darüber hinwegtäuschen, daß wir über 1 Million Haushalte haben, die wirkliche Wohnungsprobleme haben bei einer Neubauleistung von weniger als einem Fünftel davon.
Sie haben bei Ihrem Amtsantritt versprochen - das haben Sie heute wiederholt - , Sie wollten der beste Anwalt der Mieter sein. Der Volksmund sagt dazu: Hand aufs Herz und frisch gelogen. In der Zwischenzeit hat Ihre Politik gezeigt, daß Sie kein Freund der Mieter, sondern ein Feind der Mieter sind.
Von Ihrer Politik sind ja nicht nur die 1 Million Haushalte betroffen, die keine Wohnung finden, sondern auch die vielen anderen, die seit Jahren - Herr Minister, alle Ihre Wiederholungen können darüber nicht hinwegtäuschen - hinnehmen müssen, daß die Mietsteigerungen deutlich über den Steigerungen aller anderen Preise liegen.
({1})
Natürlich stimmen die Zahlen, die Sie genannt haben. Es gab in den letzten Jahren die niedrigsten Mietsteigerungen seit langer Zeit. Aber diese Mietsteigerungen waren dreimal so hoch wie alle anderen Preissteigerungen.
Herr Abgeordneter, Sie gestatten eine Zwischenfrage des Abgeordneten Hitschler? - Bitte.
Herr Conradi, sind Sie bereit zuzugeben, daß die über 2 Millionen Wohnungssuchenden, von denen Sie sprechen, keine Zahl ist, die auf einer statistischen Basis beruht, sondern eine Zahl, der Vermutungen zugrunde liegen.
Vielen Dank für diese Frage. Ich hoffe doch, daß der Herr Wohnungsbauminister, der in der letzten Woche von diesem Pult aus in seiner Rede diese Zahlen genannt hat, nicht Vermutungen, sondern gesicherte Zahlen wiedergegeben hat. Er hat erklärt, 4 % suchten eine größere, bessere oder bezahlbare, jedenfalls geeignetere Wohnung und 1 sei tatsächlich in Not. Ich beanstande doch nur,
({0})
daß hier die Wohnungsprobleme von 1 Million Haushalten, d. h. mehr als 2 Millionen Menschen, mit „nur" bagatellisiert werden. Ich finde sie dramatisch.
({1})
Das veranlaßt den Abgeordneten Grünbeck, eine weitere Zwischenfrage stellen zu wollen. - Bitte schön, Herr Abgeordneter Grünbeck.
Herr Kollege Conradi, würden Sie zur Kenntnis nehmen, daß nach den gestrigen Zwischenergebnissen des Statistischen Bundesamtes in
der Bundesrepublik 25,7 Millionen Haushalte und 25,4 Millionen Wohnungen vorhanden sind und daß das verfügbare Nettoeinkommen wesentlich stärker als die Mieten gestiegen ist?
Das ist beides nicht zu bestreiten. Nur stecken in der Wohnungszahl sehr viele Zweitwohnungen. Das heißt, es gibt bei uns Leute - das wird doch gar nicht bestritten; das habe ich hier auch vor wenigen Wochen gesagt - , die hervorragend mit Wohnungen versorgt sind. Die meisten von uns, die große Mehrheit der Bevölkerung - der Minister hat völlig recht - , sind mit Wohnungen so gut wie nie zuvor versorgt. Aber das gibt uns doch kein Recht, die Probleme einer Minderheit kaltherzig wegzuschieben und zu sagen, das interessiere uns nicht.
({0})
Jahrzehntelang hat die gemeinnützige Wohnungswirtschaft mit ihren preiswerten Mitwohnungen den Anstieg der Mieten gebremst, und zwar nicht nur für die Menschen, die in deren Wohnungen wohnen, sondern auch für die anderen. Diese Bremswirkung fällt jetzt weg. Die gemeinnützigen Wohnungsunternehmen müssen sich jetzt rein wirtschaftlich verhalten. Das gilt auch für die städtischen Unternehmen, Herr Minister. Die Bindung der Gemeinnützigkeit, nicht mehr als 4 % auf das eingesetzte Kapital zu verdienen - das war eine echte Sozialbindung - , fällt jetzt weg. Zukünftig müssen die Unternehmen allein nach wirtschaftlichen Grundsätzen geführt werden. Das wird dazu führen
({1})
- lassen Sie mich diesen Satz bitte noch vollenden -, daß diese Unternehmen ihre Mieten an die örtlichen Vergleichsmieten heranführen müssen. Das heißt, sie müssen erhöhen. Weil aber die örtlichen Vergleichsmieten auf Grund der Knappheit steigen, werden wir auch in diesem Bereich drastisch steigende Mieten haben.
Sie gestatten eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Faltlhauser? - Bitte schön, Herr Abgeordneter, Sie haben die Möglichkeit, eine Zwischenfrage zu stellen.
Herr Kollege Conradi, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß die Gemeindeordnungen in unserem Lande, insbesondere die nordrhein-westfälische, ausdrücklich vorgeben, daß städtische gemeinnützige Wohnungsbauunternehmen sich eben nicht zwangsweise marktwirtschaftlich verhalten müssen, sondern daß sich eine beteiligte Stadt selbstverständlich weiterhin gemeinnützig verhalten wird und auch muß? Dies gilt z. B. für die Bayerische Gemeindeordnung.
Herr Kollege, die Gemeinden und ihre Unternehmen werden auch von den Rechnungsprüfungseinrichtungen für die Gemeinden geprüft. Die verlangen ebenso wie die Finanzämter bei den anderen Unternehmen eine wirtschaftliche Unternehmensführung. Die drängen darauf - wir haben ja auch Gemeinden, in denen die CDU dies tut - , daß die Unternehmen sich nach wirtschaftlichen Prinzipien richten. Der Vorwurf ist doch, daß hier in fahrlässiger - ich behaupte: in vorsätzlicher - Weise ein wichtiges Korrekturinstrument am Mietenmarkt zerschlagen worden ist.
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- Wenn Sie sagen, das sei Unfug, dann will ich hier den bayerischen Wirtschaftsminister August Lang zitieren, der gesagt hat „Unser Sozialstaat hat ohne Not ein soziales Pfand aus der Hand gegeben." Das hat er über diese größte wohnungsbaupolitische Fehlentscheidung seit dem Krieg gesagt.
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Herr Minister, statt hier den Präsidenten des Mieterbundes zu kritisieren, sollten Sie sich lieber einmal mit den Äußerungen der Bayerischen Staatsregierung auseinandersetzen, wobei ich leider hinzufügen muß, daß die Bayerische Staatsregierung dann im Bundesrat umgefallen ist, weil ihr die Flugbenzin-Angelegenheit von Franz Josef Strauß und seinen Millionären wichtiger war als das Wohnen von Millionen Menschen. Das steht auf einem anderen Blatt.
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Herr Abgeordneter Conradi, der Herr Abgeordnete Sperling möchte noch eine Zwischenfrage stellen. Die rechne ich Ihnen auch nicht an. Aber ich mache Sie darauf aufmerksam - sonst führte das ja zur Verdoppelung Ihrer Redezeit - , daß ich dann allerdings etwas kleinlicher sein werde.
Herr Präsident, ich habe die Zwischenfragen nicht bestellt; aber wenn Sie sie mir anrechnen, dann lasse ich sie nicht zu.
Das sieht aber fast so aus. ({0})
Herr Abgeordneter Sperling!
Peter Conradi, kannst du dich noch der Zeit erinnern, als Wohnungsbauminister Schneider deiner Auffassung war, bis er vom Finanzminister in eine anders lautende Kabinettsdisziplin gezwungen wurde?
Darauf komme ich gleich zurück.
Herr Abgeordneter Sperling, trotz des Duzverhältnisses zum Redner sind Sie verpflichtet, die Antwort stehend entgegenzunehmen.
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Dies ist ja nicht das erste Mal, daß der Wohnungsbauminister Ankündigungen macht, die der Finanzminister hinterher zunichte macht. Das heißt, er läßt ihn ständig kalt im Regen stehen.
Nun wollen Sie Wohnungen für Aussiedler bauen, und Sie müssen Unternehmen finden, die das anständig machen. Die gemeinnützige Wohnungswirtschaft,
die früher sozial, solide und vernünftig gebaut hat, muß sich in Zukunft allein nach dem Ertrag richten. Sie kann sich nicht mehr wie bisher, bei einer zulässigen Gewinnerwartung von 41Y0 am Nutzen für die Gemeinschaft orientieren.
So sehen, Herr Schneider, Ihre Aussiedlerprogramme auch aus: sieben Jahre Bindung der Mieten, und dann werden die Mieten auf 12 bis 13 DM pro Quadratmeter Wohnfläche steigen. Da werden die Aussiedler aber dumm aus der Wäsche schauen, wenn die Mieten für ihre Wohnungen so hochgehen.
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Wie unehrlich die Aufforderung des Bundeskanzlers ist, wir sollten die Aussiedler mit offenen Armen in Empfang nehmen, wird am Verhalten der Bundesregierung deutlich: Die Stadt Stuttgart, die kein Bauland mehr hat, bittet den Bundesfinanzminister, ihr entbehrliche bundeseigene Grundstücke für den Aussiedlerwohnungsbau zu überlassen. Der Bundesfinanzminister verlangt für diese Grundstücke einen Bodenpreis von 800 DM/qm.
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- 800 DM. Dabei weiß jeder, daß die Förderung des Aussiedlerwohnungsbaus überhaupt nur mit Bodenpreisen bis zu 400 DM pro qm funktioniert; sonst kommen Mieten heraus, die nicht tragbar sind. Das heißt, die vollmundige Aufforderung des Herrn Bundeskanzlers gilt offensichtlich für die Bundesregierung nicht.
In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage sagen Sie:
Die Bundesregierung erwartet, daß etwaige zusätzliche Wohngeldausgaben weit niedriger als die Steuermehreinnahmen sind.
In der letzten Woche haben Sie, Herr Schneider, in der „Süddeutschen Zeitung" auf Seite 1 großmundig kräftige Wohngelderhöhungen angekündigt. Was stimmt eigentlich?
Einen Tag später, in der Aktuellen Stunde, sagt der Bundesfinanzminister, das sei wohl nicht so viel; man habe nicht mehr so viel Geld.
Nun lesen wir, daß Ihr gestriger Kassensturz gezeigt hat: Die Kasse ist leer. Das ist kein Wunder: Wenn man die Kundschaft von Herrn Lambsdorff, der ja hier nach seinen eigenen Worten - ich zitiere das immer gerne - als „Abgeordneter mit privatwirtschaftlichen Interessen" tätig ist - so hat er selbst gesagt -, zu üppig bedient, ist natürlich für den Wohnungsbau hinterher kein Geld mehr da.
Einmal mehr hat Sie der Bundesfinanzminister im Regen stehenlassen. Früher hätte sich ein Minister, Herr Schneider, der auf seinen guten Namen hält, gewehrt. Notfalls hätte er auch gesagt: Macht das alleine! Aber in dieser Bundesregierung klebt die ganze Reihe hier vorne an ihren Sesseln. Vom aufrechten Gang, im Streitfall vom aufrechten Abgang kann man bei dieser Bundesregierung nichts mehr sehen.
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Im Kabinett ducken Sie sich weg, aber bei der Beantwortung der Großen Anfrage sind Sie schneidig. Inhalt und Stil der Antworten gegenüber dem Parlament sind beleidigend, herablassend, ja zynisch gegenüber den betroffenen Menschen.
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Ich gebe Ihnen einmal ein Beispiel: Sie sagen in der Antwort auf Frage 6:
Die Auswirkungen der Aufhebung der gemeinnützigkeitsrechtlichen Mietpreisbindung werden sich auch in Großstädten und Ballungsräumen nicht grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, die für den Wohnungsmarkt insgesamt zu erwarten sind.
Wissen Sie, was die Oberbürgermeister und Bürgermeister, egal von welcher Partei, in den Großstädten von einer solchen Antwort halten? Sie sagen: Entweder ist es eine Dreistigkeit, oder es ist Inkompetenz. Ich sage: Es ist beides.
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Nun haben Sie heute gesagt, Sie werden dem Antrag der GRÜNEN, die Wohnungsgemeinnützigkeit nicht aufzuheben, nicht zustimmen; wir werden ihm zustimmen. Dann haben Sie noch eine Chance, den Bundesrat. Die Landesregierung von Schleswig-Holstein hat angekündigt, sie werde beantragen, den Wegfall der Wohnungsgemeinnützigkeit um drei Jahre zu verschieben.
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- Herr Grünbeck, es spricht vieles dafür. Es wird nämlich jahrelange Streitereien mit der Finanzverwaltung über die von Ihnen beschlossene Teilwertregelung geben. Manches würde dafür sprechen, noch einmal einige Zeit zu überlegen, ob wir nicht doch die Wohnungsgemeinnützigkeit, statt sie ganz abzuschaffen, gemeinsam reformieren sollten und beispielsweise den Unternehmen, die in der Wohnungsgemeinnützigkeit drinbleiben wollen, die Möglichkeit geben sollten, das auch zu tun, und denen, die heraus wollen, dann auch etwas von den Vorteilen abknöpfen sollten, die sie ja jahrelang durch die Gemeinnützigkeit hatten, und zwar zugunsten des Wohnungsbaus. Herr Minister, das ist ein faires Angebot: Wenn Sie Ihre Meinung ändern, wenn Sie bereit sind, die Wohnungsgemeinnützigkeit - der Antrag im Bundesrat kommt ja - mit uns zu reformieren - wir sind da nicht nachtragend, uns geht es um die Sache, was wir bei dem Rentenkompromiß gezeigt haben -, wenn Sie das mit uns machen wollen, dann müssen Sie allerdings schnell handeln, damit die Unternehmen wissen, was auf sie zukommt.
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Wenn Sie aber bei Ihrer bisherigen Politik bleiben, dann werden Sie dafür die Quittung bekommen. In Berlin, Frankfurt, München, auch in Nürnberg, Herr Minister, in Köln, in Stuttgart - so hoffe ich natürlich - , in Saarbrücken und in Hannover werden Sie die Antwort auf diese Politik bekommen.
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- Da Sie hier „Stuttgart" rufen, sollten Sie einmal lesen, was der Oberbürgermeister Rommel, der nicht meiner Partei angehört, über die Politik dieser Bundesregierung und dieses Ministers hier sagt. Da sehen Sie aber ziemlich alt aus, verehrter Herr Kollege.
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Sie, Herr Minister, wollen ein Anwalt der Mieter sein. Das haben Ihnen anfangs viele Leute geglaubt; das glaubt Ihnen heute fast niemand mehr. Es ist eben doch so, wie Abraham Lincoln mal gesagt hat: Man kann vielleicht einige Leute für alle Zeit zum Narren halten, man kann vielleicht alle Leute für einige Zeit zum Narren halten, aber ganz sicher kann man nicht alle Leute für alle Zeit zum Narren halten. Das gilt auch in der Wohnungspolitik.
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Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Kansy.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir wollten eigentlich schon die Debatte abschließen, aber zwei Bemerkungen, Herr Kollege Conradi, veranlassen mich doch, hier etwas richtigzustellen.
Erstens zur Wohnungsgemeinnützigkeit: Was die Menschen brauchen, sind weder Ihre Sprüche hier noch Ihre Polemik noch Ihre alten Neue-Heimat-Rezepte, sondern Wohnungen.
({0})
Sie finden keinen Fachmann, ob er Sozialdemokrat ist, ob er Christdemokrat ist oder ob er sich aus seiner beruflichen Verantwortung und Kenntnis heraus mit der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft beschäftigt, der Ihnen nicht sagt, es wäre jetzt, im Frühjahr 1989, ein Wahnsinn, diese gesetzlichen Regelungen wieder umzudrehen, weil das nicht geschehen könnte, ohne einen Attentismus zu bekommen, ein Nichtstun, ein Warten auf die abschließenden Regelungen,
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mit dem Ergebnis, daß diese Gesellschaften über Jahre keine neuen Wohnungen bauen werden.
({2})
Das zweite, Herr Conradi: Sie haben den Minister falsch zitiert. Sie haben gesagt, daß er gesagt habe: 95 % unserer Mitbürger sind mit Wohnraum ausreichend ausgestattet. Das ist auch richtig. Wir verwahren uns hier noch einmal dagegen, daß Sie hier aus Problemen bestimmter Gruppen, die keiner leugnet, eine allgemeine Wohnungsnot in der Bundesrepublik Deutschland konstruieren.
({3}) Das geht doch an den Realitäten vorbei.
Der Minister hat gesagt: diese wenigen Prozente - die Sie angesprochen haben -, um die wir uns besonders kümmern werden.
({4}) Verehrter Herr Kollege Conradi, wir werden uns um sie kümmern.
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Wir werden schnell entscheiden, weil wir der Auffassung sind, daß jetzt Klarheit geschaffen werden muß.
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Es dient aber nicht der Sache, daß Sie in Ihrem Programm bei den Punkten 1 bis 3 die von diesen Fraktionen seit Wochen öffentlich diskutierten Vorschläge abschreiben und unter Punkt 4 sagen: Im übrigen müssen wir die Vermieter ordentlich zwicken. Ganz unten schreiben Sie dann: Wir begrüßen private Investitionen. Da ist doch die Schizophrenie größer, als man sie hier darstellen kann.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?
Ja, bitte.
Herr Kollege Dr. Kansy, darf ich Ihnen den Originaltext des Ministers von letzter Woche hier vorlesen? Er spricht von den „Wohnungsnotfällen, um die wir uns in besonderer Weise kümmern müssen". Minister Schneider fuhr dann fort:
Wenn ich „wir" sage, dann heißt das: Länder und vor allen Dingen auch die Gemeinden.
Er meinte also nicht „wir", er meinte andere.
Herr Conradi, auch für Sie gilt die Ordnung des Hauses, die Antwort auf eine Frage stehend anzuhören.
Nein, Herr Conradi, der Minister, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die Bundesregierung und unsere Kollegen von den Freien Demokraten vergessen nur nicht, daß § 1 des Zweiten Wohnungsbaugesetzes heißt: Bund, Länder und Gemeinden sind für die Lösung dieser Probleme verantwortlich.
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Wir lassen uns nicht erst jahrelang auffordern, uns als Bund aus der Wohnungsbauförderung von München bis Hamburg zurückzuziehen - das kann man machen, wie Sie sehr richtig sagen - , aber dann, wenn der Wind mal so richtig bläst, erinnern sich alle wieder wohlwollend, daß es eine Bundesregierung gibt. Und das ist gut; denn sie wird handeln.
Also: Erstens. Wir werden schnell entscheiden.
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Zweitens. Wir werden Entscheidungen treffen, die schnell wirken,
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weil wir - Herr Kollege Menzel - wissen, daß wir die Wohnungen schnell brauchen. Drittens. Wir werden es nicht zulassen, daß man hier die Aussiedler - Sie haben sie angesprochen - und die anderen Gruppen auseinanderdividiert, die beide einen berechtigten
Anspruch haben, in dieser Situation Hilfe zu bekommen.
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Wir werden deswegen vorschlagen, das bisherige Aussiedlerwohnungsbauprogramm in der bisherigen Form aufzuheben, diese Mittel mit erhöhten Mitteln aus dem sozialen Wohnungsbau in ein gemeinsames Programm einzubringen und allen Leuten zu helfen, die auf Grund dieser besonderen Situation Schwierigkeiten haben, sich mit ausreichendem Wohnraum zu versorgen.
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Wir werden vor allem nicht die privaten Investoren vergraulen, sondern wir überlegen, in welcher Art und Weise wir die Bereitschaft, privates Kapital zu investieren, vergrößern können. Mit diesem Paket werden wir diesen Menschen mehr helfen als mit all Ihrer Polemik gegen diese Bundesregierung.
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Frau Abgeordnete Oesterle-Schwerin, Sie haben vorhin den Deutschen Bundestag als „Laden" bezeichnet. Ich glaube, daß das nur in der Hitze des Gefechts geschehen ist. Aber ich möchte nicht versäumen, festzustellen, daß dies unparlamentarisch und nach meiner Auffassung auch unangemessen ist.
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Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4060.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dieser Entschließungsantrag ist gegen die Stimmen der Fraktionen der SPD und DIE GRÜNEN abgelehnt worden.
Nun rufe ich den Zusatztagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Fraktion die GRÜNEN
Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Untersuchung der Kontroll- und Genehmigungs-Praxis der Bundesregierung am Beispiel der Beteiligung bundesdeutscher Unternehmen an der Planung und am Bau von Anlagen zur Herstellung von Chemischen und Biologischen Waffen im Iran, im Irak, in Libyen und in Syrien
- Drucksache 11/4010 Der Ältestenrat schlägt Ihnen vor, daß jede Fraktion eine Redezeit von fünf Minuten hat. Ist das Haus damit einverstanden? - Das ist offensichtlich der Fall.
Ich kann die Debatte eröffnen. Zunächst hat Frau Vennegerts das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor fast genau einem Jahr und an gleicher Stelle, als der Verdacht aufkam, bundesdeutsche Unternehmen könnten Ländern der sogenannten
Dritten Welt, insbesondere Pakistan und Libyen, zum Bau der Atombombe verholfen haben, herrschte unter allen Parteien in diesem Haus Einigkeit darüber, diesen ungeheuerlichen Vorwurf durch Einsetzung eines Untersuchungsausschusses aufzuklären. Unterschiedliche Meinungen gab es nur über die Reichweite des Untersuchungsauftrags des einzusetzenden Untersuchungsausschusses. Der Kollege Langner sagte damals: Wir von der Union wollen wirklich wissen, wie es eigentlich gewesen ist; hier werden wir allen Mißständen schonungslos und ohne Ansehen der Person nachgehen. Der Kollege Baum kritisierte damals, es sei eine Stimmung entstanden - ich zitiere -,
als sei das Faktum schon erwiesen, daß die Deutschen dem Gaddafi helfen, die Bombe zu bauen. Eine solche Stimmung ist auf Grund vager Verdachtsmomente erzeugt worden. Wir wollen das aufklären.
Während es vor einem Jahr nur vage Verdachtsmomente für die mögliche Verwicklung bundesdeutscher Unternehmen in den Bau von Atombomben in Dritte-Welt-Ländern gab, geht die Bundesregierung im Fall Rabta davon aus, daß die Anlage zur Produktion von Chemiewaffen bestimmt ist. In dem am 17. Februar 1989 von der Bundesregierung vorgelegten Bericht heißt es: Nach gegenwärtiger Beurteilung der Bundesregierung ist die Anlage in Rabta zur Herstellung von C-Waffen nicht nur geeignet, sondern von vornherein bestimmt gewesen.
Während also im Fall von Nukem/Alkem anfänglich nur Verdachtsmomente bestanden, die für die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ausreichten, liegen im Rabta-Fall nicht nur vage Verdachtsmomente vor, sondern - wie die Regierung selbst zugibt - ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, daß die Anlage zur Giftgasproduktion geeignet ist und bundesdeutsche Unternehmen am Bau maßgeblich beteiligt waren. Die Konsequenz müßte also in diesem Falle ungleich mehr darin bestehen, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen, der dann auch die ähnlich gelagerten Fälle im Irak, Iran und Syrien untersuchen sollte. Als Hintergrund ist zu bedenken, daß die Bundesrepublik schon heute fünftgrößter Rüstungsexporteur der Welt ist.
Nach Auffassung der GRÜNEN soll der - von uns geforderte - 3. Untersuchungsausschuß u. a. herausfinden, was trotz des Umfangs der bisherigen Berichte der Bundesregierung zum Libyen-Komplex nur bruchstückhaft erkennbar wurde: Wann und durch wen wurde die Bundesregierung erstmals über die Beteiligung bundesdeutscher Firmen oder bundesdeutscher Staatsbürger an direkten oder indirekten Lieferungen von Vormaterialien zur Herstellung von Gaswaffen informiert, und was hat sie unternommen, um dies zu unterbinden? Trägt die Bundesregierung durch die von ihr erteilten Weisungen an nachgeordnete Behörden Verantwortung für die Übertretung ihrer eigenen Rüstungsexportgrundsätze? In welchem Verhältnis steht in der alltäglichen Rüstungsexportpolitik das außenpolitische Ziel des friedlichen Zusammenlebens der Völker gegenüber dem Ziel der Exportmaximierung? Hat die Geheimdienstkoordination im Bundeskanzleramt zur Potenzierung der zu
untersuchenden Probleme beigetragen? Dies sind - wie ich denke - viele, viele berechtigte Fragen.
Selbstverständlich, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, schließt ein Untersuchungsausschuß eine Behandlung der Thematik in den Fachausschüssen und erst recht im Bundestag nicht aus. Im Gegenteil: Ich bin der Meinung, daß es allen Parlamentariern darum gehen müßte, an Hand eines Untersuchungsauftrages die Kompetenzen der Regierung abzuklären und zu ermitteln, wer welche Exporte zu kontrollieren und zu genehmigen hat. Das müßte ein ureigenes Interesse der Parlamentarier sein - natürlich nicht dieser Regierung.
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Die Regierung wird beantworten müssen, warum Sie, im Gegensatz zu den USA, die eigenen Kontrollmöglichkeiten immer mehr einschränkte und den zuständigen Behörden die Weisung gab, im Zweifel stets dem florierenden Export Vorrang zu geben. Wir sind der Meinung, daß dieser 3. Untersuchungsausschuß sehr wohl das geeignete Instrument wäre, das Kartell des Schweigens über die fatale Rüstungsexportpolitik aufzubrechen, das Botschafter Per Fischer, der frühere Leiter der Außenwirtschaftsabteilung des Auswärtigen Amtes, dieser Bundesregierung im Namen der Nord-Süd-Kampagne des Europarates gerade attestiert hat. Eine glaubwürdige Ablehnung dieses Untersuchungsausschusses gibt es meines Erachtens nicht.
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Das Wort hat der Abgeordnete Bohl
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Untersuchungsausschüsse sind kein Selbstzweck. Sie sind auch nicht als Spielwiese für unzufriedene Abgeordnete gedacht. Die verfassungsmäßige Institution Untersuchungsausschuß ist eine wichtige parlamentarische Einrichtung, die nicht entwertet werden darf.
Zu Sinn und Zweck des Untersuchungsausschusses hat sich das Bundesverfassungsgericht wiederholt geäußert. Die neuen Skandalmeldungen über die co op, bekanntlich eine Schwester der Neuen Heimat und wie diese vor einiger Zeit von ihrer Mutter - der Gewerkschaftsholding BGAG - verstoßen, lenken den Blick auf eine bestimmte Entscheidung. Ich meine den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts betreffend die Herausgabe von Akten der BGAG an den Neue-Heimat-Untersuchungsausschuß.
Danach sollen die Untersuchungsausschüsse, die wichtige Kontrollfunktionen haben, in Ausführung des Auftrages des Parlaments dieses bei seiner Arbeit unterstützen und seine Entscheidungen vorbereiten. Dabei kann es auch ausreichen, daß lediglich Empfehlungen politischer Art angestrebt werden. Gemessen an diesem Sinn und Zweck von Untersuchungsausschüssen ist der von den GRÜNEN gewünschte völlig unnötig. Denn die Sachverhalte, deren Kenntnis für ein Handeln des Bundestages erforderlich ist, sind bekannt. Wir befinden uns bereits in der Phase, in der es darum geht, die Konsequenzen festzulegen. Deshalb lehnen wir den Antrag ab.
Was den Sachverhalt Libyen anbelangt, so hat die Bundesregierung dem Deutschen Bundestag wiederholt mündlich und jetzt auch schriftlich berichtet. Auch zum Thema Irak gibt es einen schriftlichen Bericht der Bundesregierung. Aus beiden Berichten wissen wir, daß es Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden gibt. Auch kennen wir die Probleme, die sich im Hinblick auf das Außenwirtschaftsrecht ergeben. Parlamentarische Untersuchungen in diesem Bereich würden eher die staatsanwaltlichen Ermittlungen behindern, als daß sie zu neuen, weitergehenden Erkenntnissen führen würden.
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Nun hat Herr Kollege Mechtersheimer in der letzten Debatte von seinem kürzlichen Besuch in Libyen berichtet. Wir erinnern uns natürlich, daß es besondere Verbindungen der GRÜNEN zu Gaddafi gab. Da gab es das Mechterheimer/Schily-Treffen mit Gaddafi am 12. März 1982 in Wien. Da gab es Anfang Juli 1982 die Pilgerreise einer großen Delegation der GRÜNEN zu Gaddafi nach Libyen.
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Die Presse schrieb damals auch über finanzielle Angelegenheiten. Der „Vorwärts" - es gab ihn noch, Herr Gansel - behauptete am 29. Juli 1982 sogar, Mechtersheimer habe von Gaddafi viele Anregungen mitgebracht.
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Nur, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, auch diese besonderen Beziehungen der GRÜNEN zu Libyen rechtfertigen keinen Untersuchungsausschuß.
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Parlamentarische Untersuchungen sind auch hier völlig unnötig, denn die im Antrag der GRÜNEN dreimal wiederholte Frage „Gibt es Anhaltspunkte dafür, daß ... " ist längst beantwortet.
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Die Debatten hierzu am 18. Januar und 17. Februar dieses Jahres haben doch deutlich gemacht, daß alle Fraktionen den ersten Teil dieser Fragen mit Ja beantworten. Die Bundesregierung hat deshalb ja auch Gesetzesinitiativen ergriffen. Die entscheidende Frage der GRÜNEN ist also längst beantwortet, so daß es gar nicht mehr darum gehen kann, mit Hilfe eines Untersuchungsausschusses dem Deutschen Bundestag die Grundlage für gesetzgeberische Entscheidungen zu verschaffen.
Sie, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, haben die Überflüssigkeit Ihres Untersuchungsausschusses mit Ihren beiden Entschließungsanträgen vom 18. Januar dieses Jahres selbst bestätigt. Detailliert fordern Sie dort mehrere Druckseiten lang eine Vielzahl von Konsequenzen. Sie würden doch wohl auch Widerhall in dem Schlußbericht finden. Ihre Forderungen in dem Schlußbericht würden dann entsprechend lauten. Der Untersuchungsausschuß würde
zwangsläufig dazu führen, daß wir dann erst sein Ergebnis abwarten müßten, bevor wir Konsequenzen ziehen. Die wäre dann aber für den Gesetzgeber in dieser Legislaturperiode nicht mehr möglich.
Jetzt kommt es darauf an, hier im Bundestag alle Kräfte darauf zu konzentrieren, die anstehenden Gesetzesberatungen gründlich und zügig durchzuführen.
({5})
Das ist die Aufgabe und die Arbeit, die wir jetzt zu tun haben.
Vielen Dank.
({6})
Das Wort hat der Abgeordnete Gansel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lange bevor die ersten Gerüchte über ein illegales Rüstungsprojekt in die Öffentlichkeit gerieten, hatte ein Sachbearbeiter des Auswärtigen Amtes einen vertraulichen Vermerk angefertigt, aus dem ich heute zitieren kann:
Vorausschauende Bewertung - Falls der unterstellte Sachverhalt zutrifft und in der Öffentlichkeit bekannt wird, sind heftige Reaktionen von verschiedenen Seiten vorherzusehen ... Für diesen Fall muß mit einem Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft gerechnet werden, in dem dann die Frage Bedeutung gewinnt, ob dieses Verfahren auf Hinweis von offizieller Seite bereits vor Bekanntwerden in der Öffentlichkeit eingeleitet worden ist.
Dieser Vermerk wurde dem zuständigen Staatssekretär zugeleitet. Er unterrichtete den Bundesaußenminister. Der Vermerk trägt das Datum vom 3. Juli 1985. Gemeint war die Lieferung von U-Boots-Knowhow nach Südafrika. Deshalb verwies der Vermerk auf „verschiedene Seiten" , „die der Bundesregierung Verstoß gegen das UN-Waffenembargo und Unterstützung der Apartheidpolitik Südafrikas vorwerfen werden".
In der Folgezeit wurde die U-Boot-Affäre von der Bundesregierung wie eine geheime Kommandosache behandelt. Nicht die Staatsanwaltschaft wurde informiert, sondern sieben Monate später nahm die OFD Kiel Ermittlungen auf, die von den betroffenen Firmen als Chance für „eine politische Beerdigung" verstanden wurden.
Als sich der Sachverhalt als richtig herausstellte und zu heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit und ausländischer Regierungen und Politiker führte, erklärte das Auswärtige Amt in einer Stellungnahme, eine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik läge nicht vor; es gäbe im internationalen Bereich Irritationen. Dadurch wurde es der zuständigen Staatsanwaltschaft schwer, wenn auch nicht unmöglich gemacht, ihrerseits Ermittlungen auf der Grundlage des § 34 des Außenwirtschaftsgesetzes vorzunehmen. Mit diesen Vorgängen mußte sich ein Untersuchungsausschuß des Bundestages beschäftigen, und es gibt ja auch noch weiter Aufklärungsbedarf.
In der Libyen-Affäre sieht es zur Zeit anders aus. Deshalb lehnt die SPD-Fraktion heute die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses ab.
({0})
Die Bundesregierung hat schließlich in dieser Affäre die Aufnahme staatsanwaltschaftlicher Ermittlungen - die ja nicht etwa durch Mitteilungen der Bundesregierung, sondern durch Pressemeldungen ausgelöst wurden - nicht verhindern können. Es ist schlimm, daß dazu der Druck der US-Administration und der Presse erforderlich war, aber die Bundesregierung hat sich diesem Druck nicht entziehen können.
Zwar hat die Staatsministerin im Auswärtigen Amt am 25. Januar im Auswärtigen Ausschuß erklärt, die Libyen-Affäre habe keine erhebliche Störung der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik ausgelöst, im Verhältnis zu den USA handele es sich eher um Irritationen, die keine tiefgreifenden Wirkungen haben würden - das kommt uns bekannt vor -, aber wir wissen heute, daß das Auswärtige Amt tatsächlich zu diesem Zeitpunkt auf Anfrage des ZKI die „erhebliche Störung in den auswärtigen Beziehungen" ausdrücklich bejaht hatte.
Im Unterschied zur U-Boot-Affäre hat die Bundesregierung einen umfangreichen Bericht für die parlamentarische und öffentliche Debatte erstellt, und im Unterschied zur U-Boot-Affäre ist bei der Giftgasaffäre bisher nicht erkenntlich, daß Mitgleider der Bundesregierung über Einzelheiten des illegalen Rüstungsgeschäfts vor seinem Beginn informiert waren. Im Gegensatz zur Südafrika-Affäre haben wir bei der Libyen-Affäre keine Anhaltspunkte dafür, daß Provisionsversprechen in den politischen Raum für das Zustandekommen des illegalen Rüstungsgeschäfts ursächlich oder mit ursächlich gewesen sind.
Es gibt allerdings zwischen der Libyen-Affäre und der Südafrika-Affäre auch einige Ähnlichkeiten und sogar Berührungspunkte. Wir werden deshalb den Bericht der Bundesregierung in den nächsten Wochen in den zuständigen Fachausschüssen sorgfältig diskutieren, und jede Frage, die die GRÜNEN in ihrem heutigen Antrag gestellt haben, ist berechtigt und muß beantwortet werden.
({1})
Die SPD-Fraktion hat gestern an den Chef des Bundeskanzleramtes mehrere schriftliche Fragen gerichtet. Wir erwarten, daß sie in der Sondersitzung des Auswärtigen Ausschusses beantwortet werden. Wir werden die Giftgasaffäre auch zu einem späteren Zeitpunkt wieder im Plenum diskutieren müssen. Schließlich wird der Bundestag aus den offenbaren Fehlern und Versäumnissen Konsequenzen ziehen müssen. Ein Untersuchungsausschuß ist aber im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sinnvoll.
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Sinnvoll wäre dagegen eine Untersuchung, mit der geklärt werden könnte, wie es kommt, daß der Bundeskanzler, der sich ja sonst durch eine bisweilen überschäumende Redseligkeit auszeichnet, ausgerechnet dann in eine fast pathologisch zu nennende
Sprachlosigkeit verfällt, wenn er den Bundestag betritt, in dem über Rüstungsexporte diskutiert wird.
({3})
Zunächst mag ein jeder und eine jede darüber seine oder ihre eigenen Vermutungen anstellen können. Wir werden für Klarheit sorgen - mit den im jeweiligen Zeitpunkt adäquaten parlamentarischen Mitteln.
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Das Wort hat der Abgeordnete Beckmann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die FDP-Fraktion lehnt den Antrag der GRÜNEN auf Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses ab. Die unabsehbare Vermehrung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse
({0})
würde dieses wichtige Instrument der parlamentarischen Arbeit endgültig stumpf werden lassen.
({1})
Wir müssen uns das Recht der parlamentarischen Untersuchung für Fälle aufbewahren, in denen der Bundestag wirklich ein eigenständiges Interesse an der Aufklärung der Vorgänge hat.
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In diesem Falle würde das Parlament ausschließlich in Konkurrenz zu den bereits tätig gewordenen Ermittlungsbehörden treten und wäre dann ja - das wissen wir aus Erfahrung - darauf beschränkt, jeweils die Ergebnisse der staatlichen Ermittlungsbehörden abzufragen. Dies kann in unseren Augen nicht der Sinn eines solchen Untersuchungsverfahrens sein.
Meine Damen und Herren, es kommt hinzu, daß mit dem vorliegenden Bericht der Bundesregierung die Vorgänge chronologisch aufgearbeitet sind. Ich gehe davon aus, daß damit alle Fakten und Daten auf dem Tisch des Hauses liegen.
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Einer parlamentarischen Untersuchung bedarf es daher auch zur Aufklärung der Vorgänge in der Bundesregierung nicht. Über die politische Einordnung dieser Vorgänge um die Chemiefabrik in Rabta hat der Deutsche Bundestag bereits in der vergangenen Woche debattiert. Dabei sollte noch einmal Erwägung finden, daß die Ausfälle von Frau Beer als Sprecherin der GRÜNEN gegen die Bundesregierungen vermuten lassen, daß der Antrag dieser Fraktion weniger auf Aufklärung als auf Fortsetzung dieser dürftigen Kampagne gerichtet ist.
({4})
Außerdem dient der Antrag nur dazu, das Verfahren künstlich in die Länge zu ziehen, obwohl die Bundesregierung längst gehandelt hat.
Meine Damen und Herren, die FDP-Fraktion ist nicht bereit, sich dieser politischen Taktik, die dem Deutschen Bundestag eine Rolle zuweist, die ihm nach unserer Verfassung nicht zukommt, anzuschließen. Wie vertrauen darauf, daß die Verfolgung der Verantwortlichen in den Händen der Justiz gut aufgehoben ist und daß die Gerichte über diese Vorkommnisse ihr Urteil fällen werden. Eine politisch-parlamentarische Vorverurteilung durch einen Untersuchungsausschuß gehört nicht zu den Aufgaben eines Untersuchungsausschusses.
Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, werden wir gegen diesen Antrag stimmen.
Vielen Dank.
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Meine Damen und Herren, dann will ich feststellen, wie Sie heute über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4010 abzustimmen gedenken. Wer für diesen Antrag ist, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? ({0})
Wer enthält sich? - Damit ist der Antrag der GRÜNEN mit den Stimmen der SPD, der CDU/CSU und der FDP abgelehnt.
Meine Damen und Herren, nun kommen wir zum Tagesordnungspunkt 12 und zum Zusatztagesordnungspunkt 5:
12. a) Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Lenzer, Maaß, Engelsberger, Carstensen ({1}), Gerstein, Dr. Götz, Hauser ({2}), Linsmeier, Magin, Dr. Neuling, Dr. Rüttgers, Seesing, Dr. Voigt ({3}), Austermann, Dr. Laufs, Müller ({4}), Kossendey, Börnsen ({5}), Dr. Hornhues, Weiß ({6}), Dr. Müller, Schulze ({7}), Sauer ({8}), Schmitz ({9}), Graf von Waldburg-Zeil, Dr. Hüsch, Lowack, Daweke und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr.-Ing. Laermann, Baum, Beckmann, Bredehorn, Dr. Feldmann, Frau Folz-Steinakker, Grünbeck, Dr. Haussmann, Heinrich, Kleinert ({10}), Kohn, Dr. Graf Lambsdorff, Neuhausen, Paintner, Frau Dr. Segall, Timm, Wolfgramm ({11}), Zywietz und der Fraktion der FDP
Förderung und Nutzung „Erneuerbarer Energiequellen" in der Bundesrepublik Deutschland
- Drucksachen 11/2029, 11/2684 -
Vizepräsident Cronenberg
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Lennartz, Jung ({12}), Bachmaier, Blunck, Bulmahn, Conrad, Conradi, Fischer ({13}), Ganseforth, Dr. Hartenstein, Dr. Hauchler, Dr. Hauff, Heistermann, Ibrügger, Jansen, Dr. Jens, Kiehm,
Dr. Klejdzinski, Koltzsch, Kretkowski, Dr. Martiny, Menzel, Meyer, Müller ({14}), Purps, Reimann, Reuter, Schäfer ({15}), Schanz, Dr. Schöfberger, Schreiner, Schütz, Simonis, Dr. Soell, Dr. Sperling, Stahl ({16}), Stiegler, Tietjen, Vosen, Waltemathe, Weiermann, Weyel, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD
Programm: Energieeinsparung und rationelle Energienutzung
- Drucksache 11/2242 ({17}) Überweisungsvorschlag des Ältstenrates:
Ausschuß für Wirtschaft ({18})
Finanzausschuß
Ausschuß für Verkehr
Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau Ausschuß für Forschung und Technologie
Ausschuß für Bildung und Wissenschaft
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Haushaltsausschuß
ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Frau
Teubner und der Fraktion DIE GRÜNEN
Energiewirtschaftsgesetz - Drucksache 11/1271 - Überweisungsvorschlag:
Ausschuß für Wirtschaft ({19})
Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Zum Tagesordnungspunkt 12 a liegt ein Entschließungsantrag vor, und zwar vor der Fraktion DIE GRÜNEN. Er liegt Ihnen auf Drucksache 11/4048 vor.
Hierzu hat Ihnen der Ältestenrat die Empfehlung zu geben, daß wir 90 Minuten über diese Tagesordnungspunkte diskutieren. Ich nehme an, daß Sie mit diesem Vorschlag einverstanden sind. - Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Wir können mit der Debatte beginnen. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippold.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eine Vorbemerkung vorab, weil Herr Schäfer das gerne so hat: Das Programm der SPD, Herr Schäfer, steht - das muß Ihnen noch einmal gesagt werden - unter falschen Prämissen. Wir stehen nicht - Sie haben das noch im März gesagt - in einer weltwirtschaftlichen Rezession. Wir haben auch nicht die von Ihnen prognostizierten dramatischen Arbeitsplatzverluste und in gleicher Weise nicht die vorhergesagten Milliardenverluste bei Investitionsausgaben. Das ist alles wie üblich völlig falsch. Das gilt auch für den Rest Ihres Antrages.
Wie muß Energiepolitik vor dem Hintergrund einer wachsenden Weltwirtschaft und eines weltweit steigenden Energiebedarfs angelegt sein? Wir gehen davon aus, daß Energie ausreichend, langfristig, sicher und wirtschaftlich verfügbar sein muß. Sie muß sich auf eine ausgewogene Nutzung aller zur Verfügung stehenden Primärenergieträger stützen. Neu zu entwickelnde Energietechniken, insbesondere die Nutzung erneuerbarer Energiequellen, tragen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit bei.
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Sie verbreitern das Energieangebot ganz allgemein.
Der Forschung, Entwicklung und Anwendung dieser innovativen regenerierbaren Technologien kommt damit, neben der Weiterentwicklung vorhandener Technologien, besondere Bedeutung zu. Die Bundesregierung hat diese Notwendigkeit erkannt. Wir geben für Forschung und Forschungsförderung auf diesem Feld mehr aus als andere europäische Nationen zusammengenommen.
Allerdings muß nüchtern gesehen werden, daß trotz großer technischer Fortschritte, gerade in Anbetracht der niedrigen Energiepreise, nur wenige Techniken zur Nutzung regenerativer Energiequellen schon heute wirtschaftlich konkurrenzfähig sind, wie z. B. Wasserkraft und Freibadwassererwärmung.
Deshalb ist festzuhalten, daß aus heutiger Sicht erneuerbare Energiequellen noch keine tragfähige Option für eine heute einzuleitende Umstrukturierung der Energieversorgung darstellen.
Aus diesem Grunde stellt sich zumindest heute die Frage "Kernenergie oder Sonnenenergie?" nicht. Die damit angesprochene Alternative ist heute nicht existent, und verantwortungsvolle Energiepolitik darf nicht nur auf dem Prinzip Hoffnung aufbauen. Wir können hier nicht auf ein Entweder-Oder-Denken setzen und auch nicht auf Schlagworte und Ideologien wie z. B. dezentrale Energieversorgung. Das sind keine geeigneten Maßstäbe zur Bewertung.
Es gibt auch keinen Grund, anzunehmen, daß die Nutzung der Kernenergie, die rationelle Verwendung von Energie und die Nutzung der erneuerbaren Energiequellen sich nicht sinnvoll ergänzen können. Die oft postulierte Nichtverträglichkeit ist aus historischer Sicht falsch, technologisch gesehen nicht existent und aus wirtschaftlicher Sicht unvernünftig.
Der Einsatz von Kohle, Steinkohle und Kernenergie kann unsere Energieversorgung langfristig sichern, und zwar bei Sicherstellung der nuklearen Entsorgung, der Verbesserung der Sicherheit der Kernenergieanlagen und bei verbesserter Umweltverträglichkeit der Steinkohle.
Gerade die Umweltverträglichkeit der Energienutzung wird zu einer entscheidenden neuen Herausforderung. Die Schonung der Ressourcen, der sparsame Umgang mit den vorhandenen Energiereserven, ist ein erster Aspekt. Doch dies reicht heute längst nicht mehr als alleiniges Kriterium einer umweltverträglichen Energiepolitik aus.
Herr Dr. Lippold, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klejdzinski?
Bedauerlicherweise heute nicht.
Bei der Luftreinhaltung - zweites Bewertungskriterium - sind die Stichworte Gesundheitsschutz und Rettung der Wälder wesentlich. Hier haben wir erhebliche Fortschritte gemacht. Aus Zeitgründen erspare ich mir eine Aufzählung der Details.
Einen zentralen Rang - damit bin ich beim dritten Kriterium - nimmt jedoch der langfristige Schutz der Erdatmosphäre ein. Der Treibhauseffekt, die Veränderung des Weltklimas mit allen daraus resultierenden möglichen katastrophalen Folgen wirft Fragen auf, die Antworten erfordern.
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- Hören Sie sich doch in Ruhe an, was ich zu sagen habe.
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Dieser Treibhauseffekt wird maßgeblich durch die Verbrennung fossiler Stoffe bestimmt. Hier müssen Lösungsstrategien ansetzen.
Energieeinsparung und Verbesserung der Energieeffizienz haben dabei Vorrang. Hier gibt es übrigens in Teilbereichen Übereinstimmung mit Ihren Vorstellungen im Bereich der Energiepolitik. Bei der Energieeinsparung konnten bereits in der Vergangenheit Erfolge erzielt werden. Das Wachstum des Bruttosozialproduktes konnte vom Energieverbrauch abgekoppelt werden.
Wesentlicher Stützpfeiler dieser Entwicklung war die Modernisierung der Produktionsanlagen. Dabei muß beachtet werden, daß in der Phase der Energiepreisexplosion Energieeinsparung ein durchaus dominantes Investitionsmotiv war. Mit fallenden Energiepreisen traten andere Motive in den Vordergrund: Rationalisierung, Produktionsprogrammumstellungen, Qualitätsverbesserung, Arbeitsschutz und Umweltschutz.
Von herausragender Wichtigkeit erscheint jedoch der Sachverhalt, daß unabhängig vom Investitionsmotiv Energieeinsparung auch in der Folgezeit in die Zielvorgabe für Produkt- wie Produktionsverfahrensinnovation integriert war. Das bedeutet grundsätzlich: Modernisierung von Investitionen heißt auch für die Zukunft Energieeinsparung.
Deutlich ist, daß Hilfestellungen staatlicherseits hierbei nebensächlich sind. Untersuchungen belegen, daß sie keinen vernünftigen Anreiz für Investitionen in diesem Bereich bringen. Damit kommt einer angebotsorientierten Politik, die Investitionen fördert, auch für die Energieeinsparung eine hervorragende Bedeutung zu. Auch von Subventionen kann in diesem Bereich, weil sie nicht effizient sind, langfristig Abstand genommen werden.
Es gibt weitere Faktoren, die hierbei eine Rolle spielen, wenn ich Energieeinsparung realisieren will: Kooperationsvereinbarungen von Staat und Wirtschaft wie auch Energieeinsparung in den Haushalten. Damit waren wir erfolgreich, d. h., dieses marktwirtschaftliche Instrumentarium hat gegriffen.
Neben Einsparungen und Effizienzverstärkung muß sicherlich auch daran gedacht werden, daß schadstofffreie Energien einzusetzen sind, d. h. in diesem Fall regenerative Energien. Der Treibhauseffekt und die drohende Klimakatastrophe bringen uns aber dazu, auch den Einsatz der Kernenergie neu zu überdenken. Das gilt insbesondere, wenn wir hierbei in eine weltweite Betrachtung einsteigen.
Die strittige Diskussion in der SPD hat gezeigt, Herr Kollege Stahl: Wer z. B. in der Kohlevorrangpolitik auf eine Erhöhung des Kohleverbrauchs setzt, setzt hier sowohl national wie international falsche Zeichen vor dem Hintergrund, daß Energiepolitik umweltverträglich sein muß.
Herzlichen Dank.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Schäfer ({0}).
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen! Meine Herren! Die technischindustrielle Revolution hat in den Industrieländern den jahrhundertealten Kreislauf von Armut, Not und Naturkatastrophen abgelöst und zu einer, früher unvorstellbaren Vermehrung des Wohlstands geführt.
Dieser Fortschritt hat jedoch seine eigene Dialektik; denn mit dieser Revolution hat der Mensch die lebendige Natur radikal verändert. Heute müssen wir erkennen, daß wir unsere Art des Produzierens und des Konsumierens so nicht fortsetzen können; sonst schädigen und zerstören wird unsere Lebensbasis. Wenn wir die Schöpfung bewahren wollen, müssen wir unsere Lebensgewohnheiten und unsere Art des Wirtschaftens ändern.
({0})
Weltweit verbrauchen wir heute rund 10 Milliarden Tonnen Steinkohleeinheiten fossiler Brennstoffe. Diese sind das Resultat von 500 000 Jahren des Sammelns und Speicherns dieser Energierohstoffe. Wir müssen das sinnlose Verbrennen der in Jahrhundertmillionen entstandenen fossilen Stoffe in wenigen Jahrhunderten beenden.
({1})
Wir haben nur noch wenig Zeit, das Mögliche und Nötige zu leisten. Gerade beim Energieverbrauch ist absehbar, wann die Reserven ausgebeutet und verbrannt sein werden. Mit unserer Energievergeudung - das gilt vor allem für die Industrieländer - leben wir zu Lasten der nach uns folgenden Generationen.
({2})
Wir verletzen auf diese Art massiv den Generationenvertrag.
Wir wissen: Das Klima der Erde wird durch anthropogene Einflüsse verändert. Eine Erwärmung kann zu einer Klimakatastrophe mit unabsehbaren Folgen für
Schäfer ({3})
das Leben auf der Erde führen, wenn wir nicht schnell eine radikale Umkehr vollziehen.
Ich glaube, meine Damen und Herren, wir sollten uns heute nicht über die Problemanalyse angesichts erdrückender Fakten und wissenschaftlicher Expertisen streiten; streiten müssen wir allerdings über Wege aus der Gefahr.
({4}) Dabei steht am Anfang eine bittere Erkenntnis:
Erstens. Diese Bundesregierung weist keinen Weg aus der Umwelt- oder Energiekrise.
({5})
Sie hat kein Konzept einer ökologisch verantwortbaren Energiepolitik. Sie hat die politische Gestaltung in diesem Politikfeld schlichtweg aufgegeben.
({6})
Diese Bundesregierung hat nicht die Kraft, einen neuen, ökologisch verantwortbaren Ordnungsrahmen für die Energieversorgung der Zukunft zu schaffen. Sie packt beispielsweise eine grundlegende Reform des aus der Nazizeit stammenden Energiewirtschaftsgesetzes nicht an, trotz anderslautender Parteitagsbeschlüsse einer Koalitionsfraktion.
({7})
Zweitens. Meine Damen und Herren, obwohl Sie den Markt über alles stellen, wenden Sie marktwirtschaftliche Instrumente nicht an, um der Umweltzerstörung und dem energieverschwendenden Verbrauch Einhalt zu gebieten. Ein Umsteuern in der Energiepolitik kann nur gelingen, wenn die Kosten der Umweltzerstörung in den Preis der entsprechenden Güter eingehen.
({8})
Nur dann wird sich umweltschädliches Produzieren und Konsumieren nicht mehr besser rechnen als umweltverträgliches Verhalten. Die Koalitionsfraktionen haben bisher eine Besteuerung der nuklearen und fossilen Energien abglehnt.
Drittens. Die schnellsten Erfolge bei der Umweltentlastung und Rohstoffschonung kann man durch rationelle Energienutzung und durch das Energieeinsparen erzielen. Bei den hohen Ölpreisen der 70er und der beginnenden 80er Jahre hatten die Industrieländer dabei durchaus Erfolge vorzuweisen: Die Energieproduktivität wurde in den Industrieländern um 20 bis 30 % verbessert. Seit dem Verfall der Ölpreise herrscht hier weitgehende Stagnation. Die Regierungspolitik unterstützt diesen Trend, indem sie in ihrer Steuerpolitik steuerliche Hilfen für bessere Energieausnutzung, für das Energiesparen, für Wärmedämmung und die Förderung der Kraft-Wärme-Koppelung auslaufen läßt bzw. schon beendet hat.
({9})
Viertens. Ebenso unzulänglich ist Ihre Förderung der erneuerbaren Energien. Die Ablehnung der Initiativen aus Ihren Fraktionsreihen, Herr Maaß, für Markteinführungshilfen für erneuerbare Energien zeigt die Kurzatmigkeit und die Verantwortungslosigkeit dieser Politik. Alle Experten sind sich einig, daß wir im 21. Jahrhundert einen wesentlichen Teil unserer Energienachfrage über erneuerbare Energien decken müssen. Vorsorge ist angebracht. Sie aber verschwenden immer noch etwa das 10fache für die Dinosaurier-Technik Kernenergie,
({10})
statt die Gelder für die Entwicklung und den Einsatz erneuerbarer, zukunftsträchtiger Energien aufzuwenden.
Vor der letzten Bundestagswahl, meine Damen und Herren, aber auch danach haben viele aus den Reihen der CDU die Kernenergie als Übergangstechnik bezeichnet.
({11})
Dem haben sich eine Reihe von FDP-Kollegen angeschlossen. Es zeichnete sich eine Annäherung in den Positionen der Parteien ab. Davon kann heute nicht mehr die Rede sein. Trotz Harrisburg, trotz Tschernobyl, trotz zahlloser skandalöser Vorgänge ist es der Bundeskanzler höchstpersönlich, der das Reden von der Kernenergie als Übergangslösung fallengelassen hat.
({12})
Noch weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit hat er sich auf die zeitlich unbegrenzte Nutzung der Kernenergie festgelegt. Das heißt, er hält nicht nur die dauerhafte Nutzung aller Atomkraftwerke für geboten, sondern er will den Schnellen Brüter bauen, er will die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf bauen.
({13})
Bei dieser Kernenergiestrategie verwundert es nicht, wenn jetzt sein Forschungsminister auch noch staatliche Mittel für Blaupausen eines Eurobrüters zum Fenster hinauswirft.
({14})
Wir werden gegen dieses unsinnige Projekt erbitterten Widerstand leisten.
Sie setzen sich für die unbegrenzte Nutzung der Kernenergie ein. Deshalb macht es nach Ihrer energiepolitischen Logik auch Sinn, die einzige heimische Energiequelle, die Kohle, langsam, aber sicher ihrer Zukunftsperspektive zu berauben. Die Kohle ist die einzige Energie, die noch für mehrere Jahrhunderte für uns zur Verfügung steht.
({15}) Wir sind deshalb noch lange auf sie angewiesen.
Wir fordern den Bundeskanzler auf: Herr Bundeskanzler, halten Sie Ihr Wort und stellen Sie die Finanzierung der vereinbarten Mengen des Jahrhundertvertrages jetzt sicher! Oder wollen Sie tatsächlich schwarze Fahnen an der Ruhr und an der Saar? Und, Herr Bundeskanzler, sorgen Sie noch in diesem Jahr für eine Anschlußregelung mit einem langfristigen
Schäfer ({16})
Beitrag der heimischen Kohle zur Sicherung unserer Energieversorgung!
({17})
Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn die Koalition mit dem Ausbau der Kernenergie so weitermacht und gleichzeitig die Existenz der Kohle aufs Spiel setzt, dann ist - das sage ich ganz nüchtern und mit allem Ernst - ein neuer energiepolitischer Konsens mit uns Sozialdemokraten nicht zu erzielen.
({18})
Die SPD hat seit 1986 ihr energiepolitisches Konzept erarbeitet. Ich fasse es in vier Punkten zusammen:
Wir werden noch in diesem Jahr ein neues Energiegesetz vorlegen, das das Energiewirtschaftsgesetz aus dem Jahre 1935 ablöst. Dabei wird bei der Versorgung und dem Verbrauch von Energie, der rationellen Energienutzung und der Energieeinsparung absolut der Vorrang eingeräumt werden. Wir müssen die Energienutzung mit dem höchsten Wirkungsgrad, d. h. die Kraft-Wärme-Koppelung mit der Fernwärme, durchsetzen. Wir müssen, wo immer wir können, den erneuerbaren Energien den Weg in die Zukunft weisen.
Zweitens. Die SPD wird eine Besteuerung fossiler und nuklearer Energien vorschlagen. Auf Dauer, meine Damen und Herren, ist nichts ökonomisch vernünftig, was ökologisch unvernünftig wäre.
({19})
Die Umwelt darf nicht länger als freies Gut behandelt werden, das in den Preisen nicht berücksichtigt ist.
Drittens. Die öffentlichen Hilfen und steuerlichen Erleichterungen für rationelle Energienutzung und Energiesparmaßnahmen müssen wieder aufgelegt werden. Dazu dient unser Programm, über das wir heute diskutieren. Das gilt übrigens auch für die Förderung erneuerbarer Energien. Auch hier sind wie bei der rationellen Energieverwendung die technischen Fortschritte der letzten zehn Jahre rasant, wenn die Schwelle zur Wirtschaftlichkeit auch noch nicht erreicht ist.
Es ist aber nicht nur die Aufgabe des Staates, die Rentabilität zu verbessern, sondern dies muß eine ureigenste Aufgabe der Energiewirtschaft werden. Ich vermisse ein langfristiges Konzept und eine große finanzielle Anstrengung unserer Energieversorgungsunternehmen.
({20})
Man kann die Zukunftsvorsorge nicht allein der Politik zuschieben. Sie muß auch von einer verantwortungsbewußten Wirtschaft mit angepackt werden.
({21})
Schließlich, meine Damen und Herren, setzen wir uns für eine umweltverträgliche Nutzung der heimischen Kohle ein. Der Jahrhundertvertrag muß mit seinem vereinbarten Mengengerüst bis 1995 finanziert werden,
({22}) eine Anschlußregelung ist jetzt vorzubereiten, die einen Versorgungssockel an Energiesicherung durch heimische Steinkohle enthalten muß.
Ich bedanke mich, meine Damen und Herren, für Ihre Aufmerksamkeit.
({23})
Das Wort hat der Abgeordnete Professor Laermann.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir diskutieren heute u. a. auch über die Antwort auf die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen zum Thema erneuerbare Energien. Wir begrüßen die Bilanz, die hier gezogen worden ist.
({0})
Wir haben aus dieser Bilanz natürlich auch unsere politischen Konsequenzen zu ziehen, auch unsere Defizite, die in der Tat vorhanden sind - niemand wird dies leugnen - , hier zu erkennen.
({1})
In Anbetracht einer steigenden Weltbevölkerung, in Anbetracht eines weltweit steigenden Energiebedarfs - und dieser wird unabänderlich ansteigen -, in Anbetracht der Begrenztheit mineralischer wie fossiler Energierohstoffe und in Anbetracht der mit Energiegewinnung, Energieumwandlung und Energienutzung verbundenen Risiken, nicht zuletzt auch in Anbetracht der mit allen Verbrennungsprozessen verbundenen CO2-Problematik ist es in besonderem Maße die Pflicht aller Industriestaaten bei ihrem hohen, ich sage: zu hohen Energiebedarf, alle nur erdenklichen Anstrengungen zu unternehmen, erstens Energie sparsamer und rationeller zu nutzen,
({2})
zweitens alle Möglichkeiten zur Nutzung erneuerbarer Energien auszuschöpfen
({3})
und drittens neue umwelt- und ressourcenschonende Energietechniken und Energiesysteme zu erforschen und zur Marktreife zu entwickeln.
({4})
Die FDP hat ihre Position - Herr Vosen, hören Sie zu - dazu in Beschlüssen des Bundeshauptausschusses im vergangenen Jahr erneut formuliert.
({5})
Diese Beschlüsse sind die Richtlinie für die Arbeit der FDP-Fraktion. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis.
({6})
Aber wir sind keine Utopisten, die meinen, wir könnten im Hauruckverfahren diese Dinge alle umsetzen und durchsetzen,
({7})
sondern wir wollen - und dazu sind wir in der Lage - das Wünschenswerte mit dem Machbaren in Übereinstimmung bringen.
Herr Abgeordneter Laermann, der Abgeordnete Stahl möchte Ihnen eine Zwischenfrage stellen.
Ich muß an meine Zeit denken, Herr Präsident.
Herr Abgeordneter, ich werde sie Ihnen nicht anrechnen. - Bitte sehr.
Herr Kollege Laermann, wir sind uns über die Einsparungen wohl im ganzen Hause einig. Ich zitiere den letzten Satz aus der Antwort der Bundesregierung auf Ihre Große Anfrage:
Das von der Bundesregierung im Rahmen der Steuerreform vorgesehene Auslaufen der Förderbestimmungen ({0}) dürfte somit für den Markt der erneuerbaren Energien nur geringe Auswirkungen haben.
Stimmen Sie dem zu, was die Bundesregierung hier sagt, daß das Auslaufen eines derartigen Gesetzes, bei dem es um Investitionen für neue Energieanlagen, die im Wirkungsgrad wesentlich besser sind, im gesamten Hausbesitzerbereich in der Bundesrepublik geht, in Ordnung ist, wenn man das Ziel hat, Energie einzusparen und die Umwelt insgesamt zu entlasten? Ist dies der richtige Weg?
Sie sollten eigentlich keine Zwischenrede halten, sondern eine kurze Frage stellen. Das steht so in der Geschäftsordnung, Herr Abgeordneter Stahl. Sie wissen das genau.
Herr Kollege Stahl, ich darf Sie auf meine weiteren Ausführungen verweisen. Sie werden diesen Ausführungen dann gewiß entnehmen, daß dieser Punkt einer der Punkte ist, die ich unter dem Begriff „Defizite" zusammengefaßt habe.
({0})
Meine Damen und Herren, von 1974 bis heute sind für Forschung und Entwicklung zur Nutzung erneuerbarer Energien staatlicherseits mehr finanzielle Mittel bereitgestellt worden, als abgeflossen sind. Dies beweist, dies belegt auch, daß die Forschung nicht nur durch finanzielle Zuwendungen stimuliert wird und von Finanzmitteln abhängig ist.
Es ist anzumerken, daß sowohl aus der Sache heraus als auch auf Grund langfristiger internationaler Verpflichtungen - Kollegen von der SPD, diese Verpflichtungen sind Sie nämlich mit eingegangen; Herr Schäfer, die Dinosaurier, von denen Sie gesprochen haben, verdanken wir ja schließlich einem Bundeskanzler der SPD ({1})
die Aufwendungen für die Entwicklung der Kerntechnik - daran geht kein Weg vorbei; dies muß man auch einmal feststellen - im gleichen Zeitraum etwa um das Sechsfache höherlagen.
Aber wenn nun die höchst kostspieligen und langfristigen Verpflichtungen aus zwei nuklearen Großprojekten auslaufen, sollten sich die Aufwendungen für die Kernenergie im wesentlichen auf die Sicherheitsforschung unter Einschluß der Entsorgung und die internationale Kooperation und Standardisierung auf diesem Gebiet beschränken,
({2})
sollten freiwerdende Finanzmittel für die Erforschung und die Entwicklung neuer, umweltfreundlicher Energietechniken eingesetzt werden.
({3})
Die FDP mahnt die Fortschreibung eines Energieforschungsprogramms an.
Die erneuerbaren Energien tragen gegenwärtig vor allem durch die Wasserkraft sowie in geringem Umfang durch die Nutzung von Wind, Biomasse und thermischer Sonnenenergienutzung zur Deckung des Endenergieverbrauchs bei. Der 1987 ermittelte Beitrag lag bei knapp 3 % des Primärenergieverbrauchs. Unter sehr optimistischen Randbedingungen, bei denen die Energiepreise eine entscheidende Rolle spielen, könnten diese erneuerbaren Energien in zwei Jahrzehnten einen Anteil von zirka 10 % erreichen. Es ist hervorzuheben, daß dabei kein erheblicher Forschungsbedarf mehr besteht, denn es liegen umfassende marktreife Entwicklungsergebnisse vor, die nunmehr einer Nutzung zugeführt werden müssen. Meine Damen und Herren, es kommt in erster Linie darauf an, Strategien für eine forcierte Markteinführung zu entwickeln und zügig anzuwenden.
({4})
Natürlich muß dabei berücksichtigt werden, daß die Einführung jedweder technischer Neuerungen nicht sprunghaft erfolgen kann, sondern kontinuierlicher Einführungszeiten bedarf, die allerdings durch geeignete Instrumente nicht nur finanzieller Art - das betone ich ausdrücklich - wesentlich verkürzt werden können.
Die Kosten dezentraler Energietechniken auf der Basis erneuerbarer Energien sind zu hoch. Die Kostendifferenz unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit der konventionellen Energie wie z. B. Öl und Gas ist zu groß. Die Herstellung solcher Anlagen in größeren Serien, Überprüfung und Entrümpelung von hemmenden administrativen Vorschriften und Richtlinien, auch fiskalische Förderinstrumente, Herr Kollege Stahl, können die Kosten erheblich senken und zur stärkeren Nutzung führen.
({5})
Als beispielhaft für die staatliche Unterstützung einer Markterprobung kann auch das 100-MW-Windprogramm angesehen werden. Wir begrüßen, daß
dies bisher planmäßig vorbereitet wird und daß entsprechende Abkommen zwischen dem Bund und den betreffenden Ländern kurz vor dem Abschluß stehen.
Das größte Potential liegt in der Nutzung der Sonnenenergie zur Erzeugung elektrischer Energie, vor allem in Verbindung mit der Erzeugung von Wasserstoff. Dafür sind allerdings noch erhebliche Forschungsanstrengungen erforderlich, auf die sich deshalb staatliche Forschungsförderungsmaßnahmen konzentrieren müssen, die grundsätzlich mit europäischen und internationalen Aktivitäten zu koordinieren sind.
Großer Forschungsbedarf besteht auch auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Speicherung von elektrischer Energie. Erfolgversprechende Ansätze sind leider kaum erkennbar. Ein Durchbruch hier würde die Einsatzmöglichkeiten von Wind- und Solartechnik auch in unseren Breiten durch den Ausgleich tages-
und eventuell auch saisonabhängiger Schwankungen ganz erheblich verbessern.
Große Erwartungen werden an die Grundlagenforschung auf dem Gebiet der sogenannten warmen Supraleitung geknüpft.
({6})
Forschungspolitische Unterstützung zur Verbesserung der Nutzung erneuerbarer Energien ist auch zur Beseitigung operationaler Hemmnisse und zur Bereitstellung von Planungshilfen für lokale und regionale Energieversorgungskonzepte, zur Abdeckung der Einspeisungsproblematik und der Versorgungssicherheit erforderlich.
({7})
Besonders für die Energietechniken, und zwar für Energiegewinnung, -umwandlung und -nutzung, ist die Erforschung der Wirkungen auf Mensch und Natur zu verstärken, wobei das Zusammenwirken und die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Einflüsse stärker als bisher zu beachten sind.
({8})
Das gilt im übrigen auch bei großtechnischer Nutzung regenerativer Energien. Machen wir uns da keine Illusionen!
Schließlich gehört in den Forschungskatalog - auch im Sinne der Wirkungsforschung - natürlich die Weiterentwicklung der Kohletechniken mit Schwerpunkt auf Kohleveredelung für energetische und nichtenergetische Zwecke, um bei weltweit steigender intensiver Nutzung der Kohle die Belastungen der Atmosphäre zu vermeiden.
({9})
Ich möchte einen Grundsatz formulieren: Die Forschungspolitik der Bundesrepublik Deutschland auf dem Energiesektor muß von der Verantwortung für die Sicherung einer globalen Nutzenergiebasis geprägt sein. Sie muß ihren Beitrag durch Entwicklung und Bereitstellung wirkungsvoller, umweltverträglicher, wirtschaftlicher Energietechnologien auch und gerade für die speziellen Bedürfnisse der industriell nicht oder wenig entwickelten Länder leisten.
Meine Damen und Herren, machen wir uns keine Illusionen: Das, was wir auf dem Gebiet neuer Energietechnik erreicht haben, müssen wir erhalten. Wir wissen nicht, wann und zu welchem Zeitpunkt die Energiepreise wieder steigen und wie und in welchem Rahmen sich die Verfügbarkeit entwickelt.
({10})
In diesem Zusammenhang setzt die FDP hohe Erwartungen in das von uns geforderte Forum „Zukunftsenergie". Wir erwarten, daß noch divergierende Vorstellungen alsbald zusammengeführt werden können und das Forum noch vor der parlamentarischen Sommerpause aus der Taufe gehoben werden kann.
({11})
Herr Abgeordneter, so schwer es mir fällt: Ich muß Sie mahnen.
Ein Satz noch.
Das Forum soll sich nach unserer Auffassung mit zukünftigen Entwicklungen im Energiebereich, den technischen, ökonomischen, ökologischen, gesellschaftlichen Bezügen und natürlich auch mit Technikfolgenabschätzung und mit Technikbewertung befassen. Keinesfalls aber dürfen die heutigen Möglichkeiten und Handlungsnotwendigkeiten zur Energieeinsparung und zur Nutzung erneuerbarer Energien mit Hinweis auf die Arbeit eines solchen Forums vernachlässigt werden.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident, für die Geduld.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Daniels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor mehr als einem Jahr haben wir an dieser Stelle das letzte Mal über alternative Energien und Energieeinsparung diskutiert. Bisher hatten diese Debatten aber keine Konsequenzen. Auch dem müssen Sie, Herr Kollege von der FDP, zustimmen.
({0})
Ich fürchte, der Bundesregierung ist überhaupt nicht klar, wieviel wertvolle Zeit damit auf dem Wege zu einer umweltfreundlichen Energieversorgung verloren ging und welcher Handlungsspielraum damit vergeben worden ist.
({1})
Wir stehen vor einer der größten Aufgaben, die der Menschheit neben der Erhaltung des Friedens gestellt sind: die Rettung des Ökosystems Erde vor einer schleichenden radioaktiven Verseuchung und der drohenden Klimakatastrophe. Mit jedem Augenblick, den wir ungenützt lassen, die zentralen Probleme der Energieversorgung anzugehen, werden die Chancen zur Rettung des blauen Planeten Erde schlechter.
Dr. Daniels ({2})
Die Bundesregierung ihrerseits jedoch ist nicht in der Lage, auf diese Situation zu reagieren.
({3}) Sie blockiert sogar jede Neuentwicklung.
Wie zerstritten und unbeweglich die Koalitionsfraktionen sind, beweist kaum etwas besser als die Große Anfrage, die heute zur Beratung ansteht. Immerhin 70 Abgeordnete brechen aus dem Fraktionszwang aus und verlangen endlich die wirksame Förderung von alternativen Energien. Das Ergebnis: Wirtschafts- und Umweltministerium geraten sich über diese Frage unversöhnlich in die Haare.
({4})
Weiter passiert nichts. Es darf also weiter geforscht werden, aber eine faire Chance auf dem Markt erhalten die erneuerbaren Energien nicht. Damit lehnt die Bundesregierung auch die Maßnahmen ab, die generell zum Instrumentarium jeder marktwirtschaftlichen Politik gehören, nämlich die industrielle Innovationskapazität durch gezielte unternehmenspolitische Maßnahmen zu erhöhen.
Die CDU-Dissidenten kündigten daraufhin öffentlichkeitswirksam einen Förderungsantrag für Wind- und Wasserkraft an.
({5})
Das Ergebnis wiederum: Die Fraktionsspitze blockt, und noch heute warten wir auf Ihren Antrag.
({6})
Damit wurden auch die Absichten mancher Mitglieder der Koalitionsfraktionen durchkreuzt, erneuerbare Energien durch finanzielle Anreize und Demonstrationsprogramme zum Vehikel ihrer Mittelstandspolitik zu machen.
Eine rühmliche Ausnahme stellt der Beschluß des Petitionsausschusses dar. In ihm wird mit den Stimmen der FDP gegen die der CDU/CSU gefordert, endlich ein Gesetz zur Förderung der Windenergie auf den Weg zu bringen.
({7})
Bald wird sich die Bundesregierung aber nicht mehr mit Ankündigungen begnügen können; denn schon längst gibt es einen neuen energiepolitischen Konsens in der Bevölkerung. Die Mehrzahl der Bürger und Bürgerinnen unterstützt es, den Ausstieg aus der Atomkraft, den längst überfälligen Einstieg in die Energieeinsparung, die Dezentralisierung und Rekommunalisierung der Energiewirtschaft sowie die Markteinführung erneuerbarer Energien zu vollziehen. Aber das ist bei Ihnen aus irgendwelchen Gründen noch nicht angekommen.
Durchaus mit Sympathie verfolgen wir die Bemühungen der SPD-Bundestagsfraktion, mit der grünen Energieprogrammatik gleichzuziehen.
({8}) Teilweise wird sie ja in SPD-geführten Bundesländern
und Kommunen auch schon erfolgreich verwirklicht.
({9})
Um so verwunderlicher ist es allerdings, wenn die SPD im Bundestag unsere Anträge ablehnt,
({10})
sie aber später in etwas anderem Gewande selbst wieder einbringt.
({11})
Mit unserem Antrag - Herr Schäfer, hören Sie zu - zu den linearen zeitvariablen Stromtarifen für alle Stromverbrauchsgruppen und Stromanwendungsgebiete machen Sie im Saarland gute Erfahrungen, und unseren Antrag haben Sie im Umweltausschuß abgelehnt.
({12})
Sind etwa unsere Anträge so gefährlich, daß Sie sie erst noch einmal abschreiben müssen, bevor Sie sie selbst einbringen?
({13})
Ein gutes Beispiel für diese Vorgehensweise ist auch der vorliegende SPD-Antrag zur Energieeinsparung. Ich werde mich nur auf ein paar Punkte beziehen: das Stromsparen, Energieeinsparen bei Raumheizung und Warmwasserbereitung und die sogenannten Energiedienstleistungen. Ich habe den Antrag mit Interesse gelesen, aber vergeblich eine Diagnose der Fehlentwicklungen und der Hemmnisse gesucht, die einer Forcierung der Energieeinsparung im Wege stehen. Wichtige flankierende Maßnahmen wie die dringend notwendige Novellierung der Wärmeschutzverordnung, des Energieeinsparungsgesetzes und der Heizanlagen-Verordnung sind nicht einmal erwähnt. Statt dessen schlägt die SPD eine pauschalisierte Kur vor; aber Maßnahmen, die an den Symptomen nur herumkurieren, reichen heutzutage nicht mehr aus.
Auf die Problematik des Stroms im Wärmemarkt, der schlimmsten vorstellbaren Energieverschwendung, gehen Sie in dem Antrag überhaupt nicht ein.
Mißverstanden haben Sie auch den Begriff der Energiedienstleistung, der keine Fortsetzung der Energieberatung darstellt, wie es in Ihrem Antrag steht, sondern der die intelligente Form der Energienutzung beschreibt. Ich zitiere dazu aus dem Bericht der Enquete-Kommission „Schutz der Erdatmosphäre" :
Der Energiebedarf ist eine Dienstleistung, z. B. Raumtemperatur, Licht und Kraft, die immer schon durch eine Kombination der Faktoren Energie, Kapital und technisches Wissen erbracht wurde. Energieeinsparung heißt dann, dieselb en Dienstleistungen durch eine effizientere KombiDr. Daniels ({14})
nation der genannten Faktoren zu gewährleisten.
Es ist ein grundsätzlicher Mangel Ihres Antrags, liebe Kollegen von der SPD, daß Sie den Vorrang des Energiesparens scheinbar nicht begreifen.
({15})
Meine Damen und Herren, heute sind übergreifende Maßnahmen erforderlich. Für uns ist eine Neuorientierung der Energiewirtschaft überfällig. In unseren Anträgen für ein Energiesparprogramm im Wärmemarkt, für die Einführung ökologisch orientierter Stromtarife und zur Rekommunalisierung haben wir den Weg einer ökologischen Energieversorgung aufgezeigt und einen umfassenden Maßnahmenkatalog vorgelegt.
Woran aber scheitert nun die Einführung der überwiegend anwendungsreifen alternativen Energiesysteme? Vieles davon haben wir in unserem Entschließungsantrag bereits aufgeführt. Ich möchte Ihnen nur drei typische Beispiele nennen; Herr Forschungsminister, hören Sie einmal zu! In Bayern entwickelt ein Privatmann eine Biogasanlage, die gleichzeitig als Abfallverwerter und Energieumwandler arbeiten kann. Um Förderungen vom Forschungsministerium zu bekommen, muß er jedoch 50 % Eigenkapital aufbringen. Weil er dies nicht kann, muß diese Erfindung entweder privat finanziert werden oder an einen der großen Strom-Multis verkauft werden. Die zügige Umsetzung von solchen innovativen Ideen wird dadurch behindert, da die Großindustrie keine Interesse daran haben kann, daß ihre Monopolstellung durch dezentrale Energiesysteme gefährdet wird.
({16})
Leider geht es sehr vielen Erfindern ebenso. Das straft insbesondere den Forschungsminister Lügen, der gebetsmühlenartig wiederholt, kein erfolgsversprechendes Forschungs- und Entwicklungsprojekt würde an einem Mangel an Fördermitteln scheitern.
Ein anderes Beispiel! In Freiburg entwickelt das Fraunhofer-Institut für solare Energiesysteme ein energieautarkes Solarhaus. Da das Forschungsministerium den konventionellen Teil dieses Hauses für einen Bewohnbarkeitstest nicht finanzieren will, liegt auch dieses Projekt auf Eis.
({17})
Bundesbauminister Schneider wird zwar nicht müde, die positiven Aspekte von Niedrigenergiehäusern anzupreisen; Fördermittel dafür sind jedoch bei keinem Ministerium erhältlich. Das beweist wieder einmal, daß es sich hier nur um Phrasendrescherei handelt.
Drittes Beispiel: In Hamm wird ein Antragsteller, der einen Antrag für eine Windenergieanlage gestellt hat, von der Genehmigungsbehörde mit dem Argument abgewiesen, seine Windanlage passe nicht in das dortige Erholungsgebiet.
({18})
- Nordrhein-Westfalen. - In Sichtweite der Windenergieanlage ragt allerdings der Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop auf, eine der berühmten Investitionsruinen unseres Forschungsministers. Der Antragsteller muß nun einen endlos langen Marsch durch die Verwaltungsgerichte machen. Hier steht die Rechtsunsicherheit vor Anwendungserleichterungen. Denn die Genehmigung zur Errichtung von Windenergieanlagen erfolgt nach dem Baurecht mit seiner Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe, deren Auslegung im Ermessen der örtlichen Behörden liegt.
Das entscheidende Hindernis liegt aber bei den Einspeisevergütungen für regenerativ und dezentral produzierten Strom.
({19})
- Eine kleine Verbesserung; das gebe ich Ihnen zu, Herr Stahl. ({20})
Zwischen acht und zehn Pfennig zahlen die monopolistischen EVUs für die in ihr Netz eingeleitete Kilowattstunde, für die sie selbst beim Verkauf mindestens 20 Pfennig verlangen.
Die Wirtschaftlichkeit von regenerativ erzeugtem Strom wäre schon längst erreicht, gäbe es diese marktgestaltende Position der EVUs nicht. Denn betriebswirtschaftlich ist z. B. Windstrom nicht zu schlagen. Ein Kilowatt installierter Leistung kostet beim Schnellen Brüter 28 000 DM
({21})
- man kann das ja ruhig einmal vergleichen - beim Kohlekraftwerk Ibbenbüren 2 300 DM und bei einer kleinen Windenergieanlage 1 200 DM. Bei solchen Zahlen wird deutlich, wie absurd es ist, daß der Bundesforschungsminister weiterhin Hunderte von Millionen DM für den Hochtemperaturreaktor, die Kernfusion und neuerdings sogar für diesen sogenannten Euro-Brüter aus dem Fenster wirft.
({22})
Auch jede volkswirtschaftliche Rechnung fällt zugunsten der erneuerbaren Energien und natürlich auch des Energieeinsparens aus.
Umweltschäden durch fossile und atomare Energien gehen in keine konventionelle Wirtschaftlichkeitsberechnung ein. Hier muß eine Neubewertung von Energiepreisen erfolgen, für die wir die Einführung einer Primärenergie- und Atomstromsteuer verlangen. Auch müssen die Stromtarife so gestaltet werden, daß sie nicht verbrauchsfördernd angelegt sind, sondern einen Anreiz zum Energiesparen geben.
({23})
Erst nach Behebung dieser energiepolitischen Hindernisse sowie der Initiierung eines weitreichenden Energiesparprogramms und eines umfassenden Förderprogramms für alternative Energien beginnt eine umweltfreundliche Energieversorgung.
Dr. Daniels ({24})
Weil wir wissen, wie dringend eine solche Initiative ist, bieten wir allen Fraktionen die Beteiligung an einem interfraktionellen Antrag zur Förderung der Windenergie an, damit vor allem die Rechtsunsicherheit abgeschafft wird, Investitionsanreize geschaffen werden und die Rentabilität für die Windenergie endlich ihren Durchbruch erzielt.
Besten Dank.
({25})
Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Dr. von Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei aller Neigung der Opposition zur Kritik - das ist ja auch ihre Rolle ({0})
darf ich Sie doch bitten, Herr Schäfer und Herr Daniels, daß Sie sich den Fakten stellen. Diese lauten in der Energiepolitik, daß die Energieversorgung noch nie so reichlich war; diese lauten in der Energiepolitik, daß die Energieversorgung noch nie so preisgünstig war, und diese lauten in der Energiepolitik, daß sie noch nie so umweltfreundlich war.
({1})
Meine Damen und Herren, die Bundesregierung beläßt es aber nicht dabei. Denn niemand von uns weiß heute genau, wie die Situation in zehn oder in zwanzig Jahren aussieht.
Herr Staatssekretär, Dr. Knabe möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Haben Sie etwas dagegen einzuwenden?
Ich gehe davon aus, daß Sie die Zeit nicht anrechnen, Herr Präsident.
Bitte sehr, Herr Dr. Knabe.
Eine ganz kurze Frage: Meinen Sie nicht, daß gerade die von Ihnen genannten Eigenschaften des Überflusses und des billigen Preises jeder Energieeinsparung sehr entgegenwirken?
Herr Kollege, die Praxis zeigt, daß wir seit 1973, wenn Sie die Zahlen mit 1988 vergleichen, einen relativ konstanten Energieverbrauch haben, obwohl das Bruttosozialprodukt um 30 % gestiegen ist. Das ist ein Ausfluß der Energiesparbemühungen der Bundesregierungen, nicht nur dieser Koalition, in den letzten Jahren.
({0})
Meine Damen und Herren, niemand weiß von uns heute genau, wie die Situation in 10 und 20 Jahren aussieht, und deshalb muß sich auch eine verantwortungsvolle Energiepolitik neuen Erkenntnissen stellen, wie sie aus anderen Wissenschaftsbereichen - z. B. dem im Rahmen der Klimadiskussion auch in diesem Plenum diskutierten Treibhauseffekt - herauskommen. Deshalb lautet die Handlungsanweisung für eine verantwortungsvolle Energiepolitik, eine vertretbare Vorsorge zu treffen und anpassungsfähig für die Zukunft zu bleiben. Das heißt, Energieversorgung wird sich auch in Zukunft auf alle Energieträger stützen müssen; man wird auch in Zukunft eine sparsame und eine rationelle Energieverwendung als zentrales Anliegen der deutschen Energiepolitik betreiben müssen.
Wir waren deshalb sehr dankbar, daß wir Gelegenheit hatten, anläßlich der Großen Anfrage zu den erneuerbaren Energien zu diesem speziellen, wichtigen, zukunftsweisenden Thema Stellung zu nehmen. Der Beitrag der erneuerbaren Energien wird so weit wie möglich ausgebaut werden müssen, und uns sind auch die Gründe bekannt. Die erneuerbaren Energien vergrößern die vorhandene Energiebasis, sie schonen die nur endlich vorhandenen fossilen Energieträger, sie verringern die Umweltbelastungen, sie können besonders auch in Ländern der Dritten Welt wirtschaftliche und gesellschaftliche Probleme erleichtern, und ihre Nutzung fördert den Gedanken des rationellen Umgangs mit Energie.
Um dieses Ziel zu erreichen, werden von der Bundesregierung national und international große Anstrengungen unternommen. Allein für Forschung, Entwicklung und für Demonstration hat der Bund seit 1974
({1})
über 2 Milliarden DM ausgegeben. Wir nehmen damit eine international herausragende Stellung ein. Wir wollen die anderen Mitgliedstaaten in Europa und die Industriestaaten überzeugen, daß das der richtige Weg ist.
Wir unterstützen internationale Programme, besonders innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Wir haben durch die Investitionszulagen und steuerliche Vergünstigungen den Marktzugang erleichtert und einen Einstieg in diese Entwicklung gefunden, die angenommen wurde. Es wurde schon darauf hingewiesen, daß die Rahmenbedingungen auch für stromerzeugende erneuerbare Energie erheblich verbessert wurden,
({2})
indem wir erreicht haben, daß die Vergütung für ins öffentliche Netz eingespeisten Strom deutlich erhöht worden ist. Sie haben völlig Recht, daß sich insbesondere die Wirtschaft voller Engagement dieser Entwicklung angenommen hat.
({3})
Ich darf nur darauf hinweisen, daß 80 % der aus erneuerbaren Energien genutzten Stromkapazitäten von den EVU abgenommen werden.
Wir fördern Information und Beratung, wir setzen uns für die Beschleunigung der Prüf- und Genehmigungspraxen in den Ländern ein. Erneuerbare EnerParl. Staatssekretär Dr. von Wartenberg
gien sind heute auch ein Schwerpunkt deutscher Entwicklungshilfe. Trotz dieser umfangreichen Bemühungen ist der Versorgungsbeitrag, den die erneuerbaren Energien in der Bundesrepublik Deutschland leisten, praktisch noch auf Wasserkraft beschränkt. Es ist ein Anteil am Primärenergieverbrauch von 2,5 % und an der Stromversorgung von rund 5 %.
Wer verantwortlich und differenziert nachdenkt, der kennt auch die Gründe dafür, die natürlich in den klimatischen und geographischen Gegebenheiten unseres Landes liegen. Sie liegen auch in der Unerfahrenheit von Genehmigungsbehörden, auch in nicht ausreichender Ausbildung oder Erfahrung der Planer, Architekten, Handwerker und der Hersteller, und ganz entscheidend ist - das muß man aus der Sicht des Wirtschaftsministeriums sagen - die nach wie vor weitgehend fehlende Wirtschaftlichkeit.
Das wirtschaftlich ausschöpfbare Potential der erneuerbaren Energien ist nach heutigen Marktgegebenheiten einfach auch in nächster Zeit sehr gering.
({4})
Aber die Bundesregierung gibt sich eben nicht mit diesen Feststellungen zufrieden, denn vieles, was heute unwirtschaftlich ist, kann unter anderer Datenkonstellation wirtschaftlich werden.
({5})
Deshalb kommt es darauf an, einen technologischen Fadenriß bei den erneuerbaren Energien auf Grund der gesunkenen Energiepreise zu vermeiden, und hier helfen wir, und diesem Ziel gilt auch die vorgesehene 100-Megawatt-Anlage des Windprogramms.
Die Bundesregierung hat eingehend die auch in unserer Fraktion lebhaft diskutierten Vorschläge für zusätzliche Markteinführungshilfen geprüft und dabei auch die Argumentation berücksichtigt, es müsse bei den erneuerbaren Energien eine Serienproduktion ermöglicht werden, dann würden sie sich bald im Markt allein behaupten. Aber um der Wahrhaftigkeit Genüge zu tun, muß ich darauf hinweisen, daß diese Prüfung leider bestätigt hat, daß es mit kurzzeitigen Markteinführungshilfen für erneuerbare Energien bei dem gegenwärtigen Preisniveau der konkurrierenden Energieträger nicht getan wäre. Es wären Subventionen nicht nur von massivem Umfang, sondern auch von einer Langfristigkeit, einer längeren Dauer erforderlich - mag man über die Dauer von zehn Jahren mehr oder weniger im einzelnen streiten - , die wir einfach nicht verantworten können. Nachhaltig fehlende Wirtschaftlichkeit kann die Bundesregierung nicht ausgleichen. Sie wissen alle, daß Dauersubventionen für die Volkswirtschaft, Fehllenkung finanzieller Ressourcen mit erheblichen Folgeschäden an anderen Stellen bedeuten. Sie bedeuten Wettbewerbsverzerrung
({6})
und können im energiepolitischen Bereich die Bemühungen um eine rationellere und sparsamere Energieverwendung eher konterkarieren als unterstützen. Die Bundesregierung wird in dieser Wertung auch von Sachverständigenräten unterstützt, so im Jahresgutachten 1988/89, wo wir ausdrücklich vor solchen Hilfen gewarnt werden.
Sorgen bereiten uns die neuen Erkenntnisse über die Auswirkungen der Nutzung bestimmter Energien auf Umwelt und Klima. Deshalb werden wir verpflichtet und von Ihnen ja auch immer gemahnt sein, sorgfältig nicht nur zu beobachten, sondern auch zu prüfen, ob bei den erneuerbaren Energien Anlaß für zusätzliche Maßnahmen gegeben ist. Hier wird es ja auch auf die Ergebnisse der Enquete-Kommission entscheidend ankommen.
Wichtig erscheint uns, daß den Zukunftsenergien eine bessere Plattform geschaffen wird. Herr Kollege Maaß, es kommt uns darauf an, daß Wissenschaft und Wirtschaft eine gemeinsame Plattform haben - trotz aller Vielfalt der Verbände - und daß die erneuerbaren Energien als den herkömmlichen Energien gleichwertig anerkannt werden und bei Verhandlungen nicht am Katzentisch sitzen. Deshalb unterstützen wir die Forderung, ein Forum zu schaffen, in dem sich die Zukunftsenergien darstellen können. Es sind einfach noch zu viele Vorurteile und zu viel Unkenntnis da.
({7}) Deshalb ist Aufklärung notwendig.
Ich würde es sehr bedauern, wenn dieses Angebot nicht angenommen würde. Der Bundesminister für Wirtschaft unterstützt diese Vorhaben zur Gründung eines Forums für Zukunftsenergien. Wir sind bereit, dafür in den nächsten Jahren insgesamt fünf Millionen DM zur Förderung erneuerbarer Energien zur Verfügung zu stellen.
Wenn auch Sie diesen Ansatz unterstützen, ist das der beste Beleg dafür, daß Sie Ihre Kenntnisse über den Sinn und die Notwendigkeit erneuerbarer Energien der Bevölkerung weitergeben wollen.
Herzlichen Dank.
({8})
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Lennartz.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir reden heute über das SPD-Programm „Energieeinsparung und rationelle Energienutzung", über die Große Anfrage der Koalitionsfraktionen zur Förderung und Nutzung erneuerbarer Energiequellen in der Bundesrepublik Deutschland sowie über einen Antrag der GRÜNEN zum Energiewirtschaftsgesetz.
Wir Sozialdemokraten haben mit Erstaunen, aber auch mit einem Schmunzeln zur Kenntnis genommen, daß die Bundesregierung ganz im Gegensatz zu ihrer bisherigen Praxis in eine neue Zeitrechnung eingestiegen ist.
({0})
Bisher - Sie alle wissen das - wurde das Jahr der Wende, 1982, gleichsam als das neue Jahr Null geführt, ab dem sich alles zum Guten gewendet haben sollte. Tausendfach hat seitdem die Bundesregierung die Formulierung „seit 1982" gebraucht.
In der Antwort auf die Große Anfrage von Abgeordneten der CDU/CSU und der Fraktion der FDP ist die Regierung wohl nicht ohne Grund von diesem eisernen Prinzip abgerückt. In der Energiepolitik gilt die Wende-Zeitrechnung offenbar nicht. Denn dort, wo es um Forschung und Entwicklung für das Energiesparen geht, wo eine positive Bilanz energiepolitischen Wirkens gezogen werden soll, findet man plötzlich und unerwartet ganz neue Berichtszeiträume. Da heißt es allen Ernstes - ich darf zitieren - :
Insofern erweist sich der Erfolg der Energiepolitik der Bundesregierung in besonderer Weise an der Tatsache, daß die Energieeffizienz der deutschen Volkswirtschaft seit 1973
({1})
um etwa 30 v. H. gesteigert werden konnte.
Ja, meine Damen und Herren, da lautet doch die Frage: Welche Energiepolitik, Herr von Wartenberg, welcher Bundesregierung?
({2})
Meine Damen und Herren, es darf doch wohl nicht wahr sein, daß nun ausgerechnet von dieser Bundesregierung versucht wird, einen energiepolitischen Fortbestand zu konstruieren, als gäbe es eine Brücke zwischen dem sozialliberalen Ideen- und Gestaltungsreichtum der 70er Jahre, Herr Laermann,
({3})
und der nachfolgenden christliberalen Politik-Enthaltsamkeit besonders in der Energiepolitik,
({4})
wie wir sie in den 80er Jahren leider erleben und erdulden mußten, meine Damen und Herren.
Das veranlaßt den Abgeordneten Professor Laermann, sich zu einer Zwischenfrage zu melden.
Jawohl, bitte.
Bitte sehr.
Können Sie mir bestätigen, daß die wesentlichen finanziellen Aufwendungen für Kernenergie, für die Erforschung der Kernenergie sowie für die Entwicklung neuer Reaktorlinien in den Regierungszeitraum des früheren Bundeskanzlers Schmidt fallen und aus dieser Zeit auch die langfristigen internationalen Verträge herrühren, die wir heute noch erfüllen müssen.
({0})
Herr Laermann, der Bundeskanzler Helmut Schmidt hat für diese Republik erfolgreich gearbeitet
({0})
und auch Beschlüsse von der vorherigen Regierung mit übernommen, die er demzufolge auch durchgeführt hat. Demgemäß steht der ehemaligen Bundeskanzler Schmidt zu dieser auch von Ihnen damals mitgetragenen Energiepolitik. Erste Anmerkung dazu.
Die zweite Anmerkung: Ich habe soeben zur Kenntnis genommen, Herr Professor Laermann, daß Sie in Ihrer Rede vorhin eine Energiepolitik der Defizite beschrieben haben. Alles das, wovon Sie gesagt haben, daß Sie es tun wollen, tun Sie nicht.
({1})
Und das unterscheidet uns: Damals, als wir gemeinsam in der Koalition waren, haben wir geredet und gehandelt, heute wird hier nur noch geredet. Es tut mir leid, Ihnen das hier auf Ihre Frage sagen zu müssen. So stehen wir zu unserer Vergangenheit, aber wir würden gemeinsam - auch mit Ihrer Hilfe, bezogen auf Mehrheiten - in eine vernünftige Zukunft schauen.
({2})
Herr Abgeordneter, der Abgeordnete Dr. von Wartenberg möchte ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte sehr.
Herr Kollege Lennartz, da Sie ja das Jahr 1973 angesprochen haben: Ist die Änderung der Energiepolitik des Jahres 1973 Ergebnis wirtschaftspolitischer Einsichten der damaligen Bundesregierung oder vielleicht der Ölpreiskrise des gleichen Jahres gewesen?
Nein, das war unsere energiepolitische Weisheit. Wir Sozialdemokraten denken nämlich fünf, zehn und fünfzehn Jahre klug voraus, analysieren und entwickeln dann Perspektiven.
({0})
Schauen Sie sich Ihre Politik einmal genau an, Herr von Wartenberg. In der Antwort auf die vorgenannte Große Anfrage schreiben Sie: „seit 1973". Nur, Sie haben dann vergessen, in Ihrer Rede hier weiter zu formulieren. Sie hätten dann sagen müssen, daß Anfang der 80er Jahre eine absolute Stagnation eingetreten ist.
({1})
Und von diesem Zeitraum an sind Sie für die Energiepolitik zuständig. Das ist der Unterschied - den ich
soeben bereits formulierte - zu einer sinnvollen, vorLennartz
wärtsschauenden Energiepolitik, die auch das Wort „Energieeinsparung" ernst nimmt.
({2})
Meine Damen und Herren, ich darf Sie erinnern, wie Sie die öffentliche Förderung des Energiesparens Zug um Zug abgebaut, wie Sie die Abschreibungsmöglichkeiten bei Energieeinsparinvestitionen gestrichen haben, bis es Ihnen selbst zu unheimlich wurde,
({3})
wie Sie die Förderung der Fernwärme - eine energiepolitische Pflichtübung, wenn man Energie wirklich und wirksam sparen und die Luftbelastung senken will - gegen Null haben verkümmern lassen, obwohl gerade hier ein schier unermeßliches Potential an Investitionschancen, an Arbeitsplätzen und an Umweltpluspunkten liegt.
Nein, meine Damen und Herren von CDU/CSU und FDP, ökologische Fortschritte auf dem Gebiet der Kraft-Wärme-Koppelung, die bessere Energieausbeute von Kohlekraftwerken durch die Kombi-Technik, das alles interessiert Sie wenig. Denn Sie haben ganz andere Sachen im Kopf: Schneller Brüter und Hochtemperaturreaktor,
({4})
Wiederaufbereitungsanlage und Endlagerung. Da wird das Geld hineingepumpt, meine Damen und Herren, zwischen 1 Milliarde und 1,5 Milliarden DM im Jahr.
({5})
- Da ist Ihnen, Herr Laermann, nichts zu teuer. ({6})
Für rationelle Energienutzung bleiben da gerade noch die bescheidenen 100 Millionen DM im Forschungsetat, Herr Minister, für die erneuerbaren Energien 200 Millionen DM.
Das Investitionszulagengesetz haben Sie in diesem Jahr abgeschafft. Die steuerlichen Sonderabschreibungen für Forschung und Entwicklung von energiesparenden Produkten nach § 82 d der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung haben Sie für 1988 abgeschafft. Die erhöhten steuerlichen Abschreibungen für Energiesparmaßnahmen an Gebäuden nach § 82 a der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung sollen Ende 1991 auslaufen; dasselbe gilt für die Modernisierungs- und Instandsetzungsmaßnahmen. Erhöhte Abschreibungen bei umweltfreundlichen Produkten nach § 7 d des Einkommensteuergesetzes - weg damit, sagt die Regierung,
({7})
und das alles mit der mittelstandsfreundlichen Komponente, von Ihnen mitgetragen, Herr Engelsberger.
Sie haben in den 80er Jahren wertvolle Zeit damit vergeudet, als Büttel der Atomenergie durchs Land zu ziehen, als würde blanker Lobbyismus eine verantwortliche gesamtstaatliche und gesellschaftliche ausgewogene Energiepolitik ersetzen.
({8})
Antikohlepolitik, wachsende Energieverschwendung, Abkehr von der heimischen Kohle und mehr Abhängigkeit von Importenergien, das ist Ihre Bilanz, die nicht einmal den Namen Energiepolitik verdient.
({9})
Seit 1985 steigt der Öl- und Gasverbrauch, seit 1986 geht die Stromerzeugung aus heimischer Stein- und Braunkohle zurück.
Meine Damen und Herren, der Jahrhundertvertrag - mit ihm sind die Versorgungssicherheit der Bundesrepublik und die Existenzgrundlage von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes untrennbar verbunden - ist unter Ihrer Fuchtel zum Spielball sich widersprechender Einzeläußerungen aus der Regierung verkommen. Das ist die bittere Wahrheit. Die Existenz ganzer Bergbaureviere wird durch diese durchsichtige Schaukelpolitik gefährdet.
Wir sind ein Land, Herr Kollege Carstensen, ohne Rohstoffe. Braunkohle, Steinkohle und Salz sind die einzigen Rohstoffe, die wir haben; das sollte auch Ihnen bekannt sein.
({10})
Deshalb, meine Damen und Herren, können wir am Weltmarkt nur mit Intelligenz bestehen. Intelligente, energiesparende Produkte werden am Weltmarkt das Geschäft der Zukunft sein. Sie lassen die nationale Industrie ungefordert. Sie versäumen, Entwicklung und Einsatz modernster intelligenter Energieprodukte bei uns in der Bundesrepublik zu fördern und damit eine Bahn für die Eroberung der Weltmärkte mit Energietechnologien zu schlagen, die die übrigen Industrieländer noch nicht haben.
({11})
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Laermann?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Lennartz, wie halten Sie es eigentlich mit der Bewertung der ökologischen Auswirkungen eines weiteren forcierten Braunkohleabbaus?
({0})
Herr Kollege, ich gehe davon aus, daß die Braunkohle und die Steinkohle die einzige nationale Energiereserve sind, die wir haben, und demzufolge ist das ein hohes Gut, das wir erhalten müssen. Wir setzen im Gegensatz zu Ihnen auf eine erhöhte Effizienz, d. h. weniger Einsatz von Kohle, eine bessere Energieauswertung und auch weniger
CO2-Ausstoß, um hier auch dem globalen Problem des CO2-Ausstoßes entgegenzuarbeiten.
({0})
Das ist unsere Politik im Gegensatz zu Ihnen, die Sie entgegen der Auffassung der Enquete-Kommission auf den verstärkten Einsatz von Atomenergie setzen, eine Energie, die nicht beherrschbar ist, Herr Kollege: Biblis A, Biblis B, Tschernobyl, Harrisburg. Sie sollten sich bitte an Ihren Reden messen lassen. Es ist eine vernünftige Politik, die wir Sozialdemokraten hier tragen.
Meine Damen und Herren, warum ignorieren Sie, daß von den geschätzten jährlich 100 Milliarden DM volkswirtschaftlichen Verlusten durch Umweltverschmutzung fast die Hälfte auf das Konto des Energieverbrauchs in Industrie, Haushalt und Verkehr geht? Hier muß doch der Hebel angesetzt werden, gerade auch angesichts der menschheitsbedrohenden Klimakatastrophe.
Energiesparen ist das energiepolitische Potential, ist die Manövriermasse der Zukunft. Herr Kollege Laermann, 50 % bei der Raumwärme, 10 bis 20 % bei der Prozeßwärme, bis zu 20 % beim Stromverbrauch, das sind Zahlen, die Sie in der Antwort der Bundesregierung, die hier gegeben worden ist, nachlesen können. Wie man das erreichen kann, haben wir mit unserem vorliegenden Programm „Energieeinsparung und rationelle Energienutzung" gezeigt. Dies, meine Damen und Herren, ist verantwortungsvolle Energiepolitik. Das wäre eine ökologische Modernisierung der Volkswirtschaft, die auch dem Mittelstand helfen könnte.
Die Bundesregierung hingegen verspielt mit ihrer energiepolitischen Tatenlosigkeit eine wichtige Zukunftschance.
({1})
Kein Industriestaat wird sich das in den 90er Jahren ungestraft erlauben dürfen. Dann werden wir in unserer Regierungsverantwortung Ihren energiepolitischen Stall gründlich ausmisten.
({2})
Ich danke Ihnen.
({3})
Das Wort hat der Abgeordnete Engelsberger.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auf die Ausführungen des Herrn Kollegen Lennartz kann ich nur ganz kurz antworten, weil ich leider nicht sehr viel Redezeit habe. Herr Kollege Lennartz, Sie haben versucht, all die Versäumnisse aus den 13 Jahren, in denen Sie an der Regierung waren, all die Entwicklungen in der Energiepolitik, die Ihrer Meinung nach Fehlentwicklungen sind, uns anzulasten.
({0})
Herr Kollege Lennartz, Sie wissen doch, daß die meisten Kernkraftwerke unter Ihrer Regierung gebaut worden sind.
({1})
Sie wissen doch, daß die fortgeschrittenen Reaktorlinien - Hochtemperaturreaktor, Schneller Brüter - von Ihnen ins Leben gerufen worden sind.
({2})
Heute laufen Sie gegen diese technischen Entwicklungen Sturm und sagen „Diese Fehlentwicklungen wollen wir nicht haben", ohne zuzugeben, daß Hunderte von Milliarden an Volksvermögen - Ihrer Meinung nach falsch - investiert worden sind. Das muß man Ihnen einmal sagen! Wenn wir diese Gelder für die regenerativen Energien und zum Einsparen eingesetzt hätten, die Gelder, von denen Sie jetzt sagen, Sie hätten sie fälschlich ausgegeben, dann wären wir ein Stück weiter.
Wir haben in der Bundesrepublik einen Anteil der Kernenergie von 40 %. Sie kommen, wenn Sie die deutsche Steinkohle mit einsetzen wollen, nicht daran vorbei, die Energieversorgung auf diese beiden Beine zu stellen und sie auf ihnen aufzubauen. Unser Prinzip ist der Konsens zwischen Kernenergie und Kohle.
({3})
Sie haben diesen Konsens verlassen und wollen nur noch auf die Kohle setzen. Wir wissen aber genau, daß die Kohle in bezug auf CO2 der größte Umweltverschmutzer ist, den wir haben,
({4})
ein Umweltfaktor, der nach der Meinung der Weltklimakonferenz sofort auf die Hälfte reduziert werden müßte. Das alles haben Sie hier nicht erwähnt!
Herr Präsident, ich muß nun aber zu meinem Thema kommen, sonst läuft mir die Zeit davon.
({5})
Den erneuerbaren Energiequellen wird in der energie- und umweltpolitischen Diskussion zu Recht ein hoher Stellenwert beigemessen. Wir alle stimmen in der Forderung überein, daß alle nur einigermaßen sinnvoll erscheinenden Anstrengungen für den Ausbau der regenerativen Energien fortgesetzt werden müssen. Vor allem der wachsende Energiebedarf einer explosiv zunehmenden Weltbevölkerung und die begrenzten Vorräte an fossilen Energieträgern, aber auch die immer deutlicher zutage tretenden Umweltprobleme, die bei der Verbrennung dieser Energieträger entstehen, machen es notwendig, umweltverträgliche und ressourcenschonende Energieträger intensiv zu erforschen und wirtschaftlich zu nutzen.
Es ist deshalb zu begrüßen, daß die Bundesregierung die Erforschung und Entwicklung erneuerbarer Energien trotz ungünstiger Marktbedingungen fortsetzen und, wo immer sinnvoll, verstärken will.
({6})
- Kennen Sie nicht das Solarwasserstoffprojekt in der Oberpfalz, kennen Sie nicht das Solarprojekt an der Mosel? Herr Kollege Stahl, ich könnte Ihnen hier ganze Listen aufzählen, wenn die Zeit mir das gestatten würde.
({7})
In Ihrer Antwort auf die Große Anfrage der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion gibt die Bundesregierung dankenswerterweise einen umfassenden, realistischen Überblick über die Möglichkeiten und Grenzen beim Einsatz regenerativer Energien wie Sonne, Wind, Wasserkraft, Biomasse, Erd- und Umgebungswärme. Jede dieser Energiequellen muß als Option für eine zukunftsorientierte Energieversorgung angesehen werden, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auch und vor allem in der Dritten Welt.
Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Stahl?
Wenn mir die Zeit nicht angerechnet wird, Herr Präsident!
Ich bin großzügig. Engelsberger ({0}): Bitte sehr.
Herr Kollege Engelsberger, nachdem Sie die Bundesregierung hier jetzt so gelobt haben
({0})
und sagen, daß sie für den Bereich der regenerativen Energien insgesamt so viel getan hat, darf ich Sie fragen, ob das eine besondere Leistung der Bundesregierung ist. In der Drucksache 11/2684 steht auf Seite 38, daß für den Bereich Technologien für Entwicklungsländer z. B. 1982 61,7 Millionen DM, 1988 40 Millionen DM und für übrige Aktivitäten zu erneuerbaren Energien 1982 27,3 Millionen DM und 1988 5 Millionen DM ausgegeben worden sind. Halten Sie dies für eine außerordentlich gute Politik bezogen vor allen Dingen auf das, was Sie hier sehr lobend dargestellt haben? Das ist doch ein Widerspruch in sich.
Herr Kollege Stahl, Sie wissen als Fachmann selber, wie schwierig es ist, regenerative Energien heute so einzusetzen, daß sie wirtschaftlich gegenüber der billigen Konkurrenzenergie der fossilen Brennstoffe bestehen können.
({0})
Das wissen Sie ganz genau. Es müssen auch die entsprechenden Projekte vorliegen, damit man die regenerativen Energien einsetzen und anwenden kann. Ich will Ihnen nur sagen - auch Sie wüßten das, hätten Sie das genauer gelesen - , daß wir, die Bundesrepublik Deutschland, allein in einem Jahr 256 Millionen DM für regenerative Energien ausgeben. Das ist
mehr, als die übrige EG zusammen ausgibt. Und dann sagen Sie, das wäre nichts. - Ich muß fortfahren.
({1})
Jede dieser Energiequellen muß als Option für eine zukunftsorientierte Energieversorgung angesehen werden, und zwar nicht nur in der Bundesrepublik Deutschland, sondern vor allem auch in der Dritten Welt. Es ist deshalb das Ziel unserer Politik, die Einsatzmöglichkeiten der erneuerbaren Energien weiterhin zu verbessern und ihren Anteil an der Energieversorgung langfristig zu steigern.
Gleichzeitig muß jedoch dringend vor übertrieben hohen Erwartungen über das wirtschaftlich ausschöpfbare Potential regenerativer Energien gewarnt werden. Ich sage dies mit Nachdruck an die Adresse der GRÜNEN und der SPD; denn nach allen uns zugänglichen Erkenntnissen wäre schon viel erreicht, wenn der Beitrag erneuerbarer Energieträger zum Energieverbrauch, der im Jahre 1987 im Primärbereich bei etwa 2,5 % lag, bis zum Jahre 2000 verdoppelt werden könnte.
({2})
Erneuerbare Energien in der Bundesrepublik Deutschland sind keine Alternative zu Kohle und Kernenergie, sondern eine Ergänzung zu den vorhandenen Energieträgern. Gegenüber den illusionären Vorstellungen und Forderungen der GRÜNEN und der SPD muß mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, daß Sie zumindest in den nächsten 30 Jahren weder die fossilen Energieträger - Öl, Gas und Kohle - noch die Kernenergie ersetzen können.
Herr Abgeordneter, es ist noch einmal der Wunsch nach einer Zwischenfrage, diesmal von Herrn Kreuzeder, geäußert worden.
Noch eine Frage? - Wenn das toleriert wird, bin ich gerne bereit.
Das ist der letzte Grad der Toleranz.
Die Frage von Herrn Kollegen Kreuzeder beantworte ich ganz besonders gerne: Er kommt nämlich aus meinem Wahlkreis.
Herr Kollege Engelsberger, was halten Sie von der von Ihrem Kollegen Fellner forcierten regenerierbaren Energiequelle Elefantengras?
({0})
Dies ist eine gute Frage, Herr Kreuzeder. Ich würde sagen - ich habe es ja vorhin ausgedrückt - , daß wir - Sie müssen stehenbleiben; das ist parlamentarischer Brauch ({0})
alle Möglichkeiten auch bei regenerativen Energiequellen ausschöpfen und Versuche unternehmen
müssen, sie energiepolitisch so einzusetzen, daß wir
die fossilen Energieträger, langfristig aber auch die Kernenergie, eingrenzen oder begrenzen können.
({1})
Wenn das Elefantengras, so wie mir der Kollege Fellner sagt, das Mehrfache an Energie gibt, wie z. B. die Gewinnung von Energie aus Rapsöl, dann, so würde ich sagen, ist das ein positives Experiment.
({2})
- Darf ich wieder antworten? - Ich weiß es nicht.
({3})
Ich hatte gesagt, das sei der letzte Grad der Toleranz. Ich denke, wie lange die Kollegen und auch ich heute abend hier noch sitzen.
Es wird natürlich, Herr Präsident, etwas aufgelockerter, wenn man auch einmal solche Fragen zuläßt und darauf eingehen darf.
Ich hatte sie nicht zugelassen.
Die Frage der Weltbevölkerung ist ganz entscheidend. Wir haben erst dieser Tage erfahren, daß wir nicht 5 Milliarden Einwohner haben, sondern 6 Milliarden Einwohner, und daß wir bereits im Jahre 2010 7 Milliarden Einwohner haben werden - eine unvorstellbar große Zahl. Bis jetzt ist die Situation meines Wissens so, Herr Kollege Kreuzeder, daß, wenn wir eine gerechtere Verteilung vornehmen würden, die Ernährung bezogen auf das, was die Erde an Nahrungsmitteln produzieren kann, kein Problem ist. Das größte Problem besteht darin, daß wir für die vielen Menschen in der Dritten Welt und in den Schwellenländern die notwendige Energie nicht zur Verfügung stellen können. Sie müssen sich vorstellen, daß wir bezogen auf die feste Erdoberfläche nur einen Anteil von einem Promille, von einem Tausendstel, haben, daß wir aber 4 % der Energie verbrauchen. Das ist das 4 000fache im Vergleich zu dem, was uns als Fläche zur Verfügung steht. Deshalb müssen wir hier ansetzen.
Meine Kollegen haben schon angeführt, daß Energiesparen und neue Technologien wichtige Instrumente sind, diese Entwicklung zu beherrschen.
({0})
- Herr Schäfer, Sie sagen „einverstanden". Dazu muß ich noch sagen - Herr Schäfer, Sie haben es ja angeführt; leider stehe ich unter Zeitdruck, es leuchtet schon wieder das Licht -
Gleich wird es rot, Herr Kollege.
Die Situation ist folgende: Sie sagen zwar: Wir wollen unser Klima schonen, wir wollen die Erdatmosphäre von CO2 entlasten, aber in Wirklichkeit haben Sie eine Kohlevorrangpolitik, die bei uns allein durch die Verbrennung in Kraftwerken im Jahr 80 Millionen t CO2 produziert. Aber in diesem Bereich sind Sie nicht bereit, Einsparungen vorzunehmen.
({0})
Herr Kollege Vosen, Sie haben gestern im Ausschuß dasselbe gesagt, was ich jetzt sage; nur hat Ihr Kollege Schäfer in seiner Einlassung darüber natürlich kein Wort verloren.
Herr Kollege - Engelsberger ({0}): Herr Präsident, jetzt bin ich natürlich mit meinem Thema nicht weitergekommen.
Das ist der Lauf der Welt. Bringen Sie noch einen schönen Schlußsatz, Herr Kollege Engelsberger. Nehmen Sie die letzte Seite und davon die Hälfte.
({0})
Ja, ich nehme die letzte Seite;
({0})
ich füge mich der Empfehlung des Präsidenten.
Die vorhandenen technologischen Lösungsansätze müssen insbesondere in den Bereichen durch Markteinführungshilfen gefördert werden - jetzt sind wir nämlich beisammen -, in denen sie, wie bei der Wasserkraft und der Windenergie, kostenmäßig vertretbar erscheinen. Dabei sind die Marktchancen für alternative Energien insbesondere mit Hilfe der Steuerpolitik und angemessener Einspeisungsvergütungen zu verbessern.
({1})
- Das wollte mich der Präsident beinahe nicht mehr sagen lassen.
({2})
Die Bemühungen der Bundesregierug, daß von seiten der Energiewirtschaft für die Einspeisung von Strom aus regenerativen Energiequellen angemessene Konditionen angeboten werden, haben noch nicht den gewünschten Erfolg gehabt. In der Praxis bringt eine Vergütung nach den langfristig vermiedenen Kosten im Durchschnitt einen Preis von 8 bis 9,5 Pf bei den regenerativen Energiequellen, während für deutsche Steinkohle 20 Pf pro Kilowattstunde und für Kernenergie 14 Pf pro Kilowattstunde anzusetzen sind.
Herr Kollege, es tut mir leid. Jetzt schlägt Großzügigkeit um in unsoziales Verhalten. Sie sprechen jetzt zwei Minuten länger, und ich muß Sie unterbrechen.
Eine halbe Minute;
({0})
die sozialen Kosten muß ich noch ansprechen: Die
Frage nach den sozialen Kosten - das sind die KoEngelsberger
sten für Waldschäden, Pflanzenschäden, für Schäden an Bauten, Schäden an der Gesundheit der Menschen und, was besonders vordringlich erscheint, Klimaschäden durch den Ausstoß von Kohlendioxid - wird in der Antwort der Bundesregierung nur ungenügend berücksichtigt.
So, daß war ein Schlußsatz.
Hier müßte meines Erachtens angesetzt werden, um die Preise für regenerative Energien attraktiver werden zu lassen; denn auch unterlassene Umweltschäden sind volkswirtschaftlich gesehen vermiedene Kosten.
({0})
- Dann habe ich ja doch noch etwas gesagt, was Ihnen Freude macht.
Ich stelle fest, daß Sie mir nicht böse sind, obwohl wir alle deswegen hier länger sitzen müssen.
Das Wort hat der Abgeordnete Vosen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Es ist ja anzuerkennen, daß die Koalition diese vom Inhalt her kleine, aber in der Form Große Anfrage eingebracht hat und daß wir praktisch wirklich 70 Kollegen in dieser Koalition vorfinden, die bereit sind, sich auch einmal mit dieser Frage der regenerativen, alternativen Energien zu beschäftigen.
Ich will festhalten, daß sie das jahrelang - ich will bekennnen: vorübergehend, in der Anfangsphase auch die SPD - als Spinnerei, als nicht realistisch abgetan hat. Das sind die Fehler, zu denen man sich bekennen muß. Das war für irgendwelche linken Spinner in dieser Republik
({0})
eine Sache, die sie auf ihre Fahne geschrieben haben. Niemand nahm das ernst. Der Herr Staatssekretär, der ja heute noch in erster Linie Volkswirt ist, kann es immer noch nicht verstehen, sondern nur rechnen.
Es ist tatsächlich wahr, daß wir festhalten müssen, daß diese Beantwortung der Anfrage in ein Forum einmünden soll, also, so fürchte ich, in eine Quasselbude. Ich meine: In dieser Frage haben wir in den letzten Jahren mehr als genug geredet.
Es ist in der Tat so, daß die Mehrheit der CDU/CSU immer noch auf die Kernkraft setzt. Auch Herr Engelsberger hat es hier zum Ausdruck gebracht.
({1})
Die Kernkraft, meine Damen und Herren, ist nämlich etwas, was die anderen Länder und vor allen Dingen die, die rechnen, nämlich die Vereinigten Staaten, schon seit 14 Jahren nicht mehr innovativ betreiben. Man betreibt zwar noch die Kernkraftwerke, die stehen, aber errichtet keine neuen, weil man erkannt hat, daß diese Technologie auf Dauer unbezahlbar werden
wird. Das ist die Wahrheit. Auch wir haben das erkannt.
Wir bekennen uns als Sozialdemokraten dazu, daß wir die Kernkraft in unserem Land mit forciert haben. Wir übernehmen ja auch die Verantwortung hierfür.
({2})
Aber wir sagen heute: Dieser Weg ist falsch. Daraus ziehen wir die richtigen Schlüsse.
({3})
Es ist aber nicht so, daß wir jetzt sagten, der einzige Schluß wären alternative Energien.
Wir sagen vielmehr: Die Alternative ist die, daß man die Atomkraft wegspart, indem man weniger fossile Energie verbraucht. Das ist möglich. Man kann fossile Energie in der Tat erheblich einsparen, die eingesparte Energie teilweise durch eine Umschichtung innerhalb der Bilanz der Energie zur Stromerzeugung nutzen und trotzdem auf einem niedrigen Niveau fossiler Energien die Umwelt schützen.
({4})
Das ist möglich. Das sagen seriöse Gutachter, Herr Kollege. Das würde ich einmal nachlesen. Es gibt auch Gutachten, die die Bundesregierung in Auftrag gegeben hat. Die werten Sie aber nicht aus, weil dem in der Tat eine zu große Lobby entgegensteht.
In unserer oligopolistisch angelegten Energiewirtschaft ist man eben am Verkauf interessiert.
({5})
und nicht am Sparen. Die Kapazitäten der Stromerzeuger werden nicht ausgenutzt. Die Kraftwerke fahren ja zurück, vor allen Dingen bei der Braunkohle ist das festzustellen. Die Kernenergie läuft auf vollen Touren, weil man glaubt, daß man die hohen Investitionen amortisieren muß.
Meine Damen und Herren, daß dieser Antrag, den Sie eingebracht haben oder einbringen werden - ich hoffe, daß Sie einen einbringen; bis jetzt ist es ja nur eine Anfrage - , wohl nicht von Erfolg beschieden sein wird, ist mir völlig klar. Es ist nämlich so, daß die Mittel z. B. zur Förderung regenerativer Energien einschließlich Kohletechnik und Einspartechniken von 1982 mit 660 Millionen DM wirklich auf jetzt 413 Millionen DM zurückgegangen sind; es sind also jedes Jahr 250 Millionen DM weniger. Das kann man sich einmal ausrechnen. Das macht über die Jahre weit über 1 Milliarde DM aus, in denen die Technologie, die Sie jetzt fordern, die regenerative Energie, zurückgefahren worden ist. Das sind Fakten, haushaltstechnische Fakten. Ich bin bereit, Ihnen diese Fakten an die Hand zu geben.
({6})
- Das ist es. - Statt dessen geben Sie in diesem Jahr für die Kernergie immer noch erhebliche Summen aus, nämlich - Haushaltszahlen - 720 Millionen DM in 1988. Das ist ohne die internationalen Verpflichtungen. Das heißt, die Förderung auf europäischer Ebene für die Kernergie kommt hinzu. Somit kann man sagen: 1 Milliarde DM,
({7})
über den Daumen gepeilt, geben Sie immer noch für die Kernenergie aus. Das geht in der mittelfristigen Finanzplanung zurück. Das wissen wir. Die Zahlen sind da. Aber auf der anderen Seite gehen Sie schon wieder in die Bruttechnologie hinein, mit neuen Verpflichtungen, die sich stellen werden. Auch das ist die Festschreibung eines falschen Weges, der in Europa längst als solcher erkannt ist.
({8})
Daß das alles passiert, obwohl der Bundesforschungsminister in einer Riesenfinanznot ist und in diesem Jahr 350 Millionen DM - 5 % des Haushalts - bei einem Einzeltitel einsparen muß, wo er kaum einen Spielraum hat, bedeutet ja, daß Ihre Anträge keinen Erfolg haben können. Denn die Verpflichtungen für die Mikroelektronik sind nicht gedeckt. Die Verpflichtungen für Luft- und Raumfahrt, die Sie eingegangen sind, sind nicht gedeckt.
({9})
Auch die Rohstofforschung ist nicht ausreichend gedeckt. Es ist also vieles offen, was Sie nicht machen können, weil zur Zeit die Finanzen einfach nicht zur Verfügung stehen.
Wenn Herr Lenzer - ich zitiere ihn einmal - u. a. sagt, seit rund sechs Jahren fördert der Minister Riesenhuber die Erforschung der Ursachen des Waldsterbens - wir fordern ihn auf, auf der Basis der bisherigen Erkenntnisse Heilungsversuche zu unternehmen - , dann zeigt das, daß hier zwar etwas geforscht wird, aus Geldmangel aber in den Schubladen verschwindet.
({10})
Das ist das Schlimme in Existenzfragen unseres Landes.
({11})
Ich meine, daß diese Finanzmisere, die der Minister selbst verursacht hat,
({12})
indem er alles, was an Großforschung geht, unterstützt hat, Ihre Intention, nämlich jetzt regenerative Energien zu fördern, nicht zum Erfolg kommen lassen wird.
Ich bin also der Meinung, daß dieser Antrag, so gut er gemeint ist, im Prinzip dazu beiträgt, daß in der Öffentlichkeit eine Augenwischerei entsteht, daß man vorgaukelt, man würde etwas tun, aber letztlich nicht in der Lage ist, auf diesem Weg wirklich voranzukommen. Das ist die Situation. Sie gehen in die Großforschung und fördern das Kleine nicht. Das ist meiner Meinung nach der falsche Weg, der unserem Land auf Dauer schaden wird.
({13})
- Bitte schön, Herr Lenzer.
Lieber Kollege
Augenblick. Einen Moment.
Ich lasse es zu.
Er läßt es zu, und jetzt kommen Sie dran. Ich muß nur noch sagen: Es ist nur noch ganz kurze Zeit. Aber ich stoppe sie ab.
Lieber Kollege Vosen, ich muß befürchten, daß Sie die Antwort der Bundesregierung nicht gelesen haben. Wie beurteilen Sie die Tatsache, daß im Jahre 1985 für Nuklearenergieforschung einschließlich Reaktorsicherheitsforschung 1,565 Milliarden DM veranschlagt waren, 1988 im Soll aber nur noch 714 Millionen DM standen und die erneuerbaren Energiequellen im gleichen Zeitraum 1985 mit 207 und 1988 im Soll mit 260 Millionen DM veranschlagt sind, also eine ganz klare Verbesserung und eine Umkehr der generellen Tendenz zu verzeichnen ist?
Herr Kollege, ich habe beide Zahlen aus dem BMFT hier vorliegen. Ich will sie Ihnen einmal vortragen. 1981 lagen die Aufwendungen des BMFT für Kernenergie bei 1,278 Milliarden DM. Es ist richtig: Das war zu unserer Zeit. Da haben wir die Finanzierung von Schnellem Brüter und Hochtemperaturreaktor - im Bau - vornehmen müssen. Das war ein sehr, sehr hoher, bedauerlich hoher Betrag, der uns alle belastet hat, sage ich ganz offen.
({0})
Es hat ja keinen Zweck, daß wir uns hier die Unwahrheit vortragen. Ein deutsches Parlament ist nicht dazu da, mit Sprechblasen die Unwahrheit zu verkünden, sondern die Wahrheit zu sagen.
Herr Kollege Vosen - - Vosen ({0}): Ich komme zum Ergebnis.
Sie müssen zum Schluß kommen.
1986 - welches Jahr hatten Sie angezogen? -,
({0})
1988 waren es 719 Millionen DM, eine Rückführung also.
({1})
Die Reaktoren sind fertig. Das ist der Grund. Aber es kommen internationale Verpflichtungen hinzu, so daß ich nach wie vor bei der von mir genannten einen Milliarde DM insgesamt bleiben muß.
({2}) Die Zahlen stimmen.
Was die regenerativen Energien angeht - Sie hatten danach gefragt - , so waren es 1982 276 Millionen DM.
({3})
Dazu kommen noch die Mittel für die Kohleveredelung - die will ich noch hinzunehmen - in Höhe von 660 Millionen DM im Jahr 1982. 1989 - das ist jetzt das Soll - sind für die regenerativen Energien nur
noch 249 Millionen DM da, also 30 Millionen DM weniger als 1982. Und die Mittel für Kohleveredelung sind erheblich zurückgefallen,
({4})
von fast 400 Millionen DM auf 160 Millionen DM, so daß wir dafür über 250 Millionen DM weniger als damals aufwenden. Beide Zahlen stimmen, Herr Kollege.
Herr Kollege, jetzt haben Sie noch genau 40 Sekunden. Bitte, noch einen schönen Satz.
Ich hoffe, ich habe Ihre Frage zufriedenstellend beantwortet.
({0})
Ich habe sogar schon feststellen müssen, daß der Kollege jetzt eigentlich keine Redezeit mehr hat.
Ich komme zu meinem Schlußsatz. Ich sehe an meiner Uhr, daß ich meine Zeit ausgeschöpft habe.
({0})
Ich kann Sie nur bitten, liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie sich von den Managern, die da sitzen, nicht in Ihrem Unternehmen beirren - Ihre 70 Kolleginnen und Kollegen, die das betreiben -, auf diesem Wege regenerative und alternative Energien voranzutreiben. Lassen Sie sich das nicht in Foren ausreden, oder lassen Sie sich nicht in Foren abschieben, in Quasselbuden verweisen, sondern revolutionieren Sie weiter wie bisher auf diesem Weg, und geben Sie denjenigen Widerworte, die vorgeben, die Vernunft gepachtet zu haben.
Herzlichen Dank.
({1})
Es ist heute abend nicht einfach hier.
Der nächste ist Professor Laermann. Da habe ich es leichter, glaube ich.
({0})
Lieber Herr Vosen, ich möchte hier feststellen: Wenn nicht die Möglichkeit besteht, daß Sie Mitglied in diesem Forum werden, wird es sicherlich nicht zur Quasselbude werden.
({0})
Ich habe mich hier noch einmal zu Wort gemeldet, Herr Kollege Lennartz, weil ich noch einiges zu Ihrer Antwort sagen wollte.
Sie haben hier bedauernd festgestellt, daß der Einsatz der Braunkohle zurückgegangen sei. Sie wissen aber sehr wohl um die Diskussion über die weitere „Nordwanderung" der Braunkohle. Sie wissen sehr wohl, welche schwierigen ökologischen Probleme da auftreten. Aber Sie sind mit keinem Wort auf diese Probleme eingegangen.
({1})
Sie haben hier nicht die Notwendigkeit erwähnt, etwa 15 000 Menschen in diesem Gebiet mit all den Schwierigkeiten, die dabei auftreten, umzusiedeln. Ich meine, daß wir uns hier auch Gedanken darüber machen müssen, ob wir das weiter so fortsetzen können.
({2})
Ich verhehle nicht, daß Braunkohle und Steinkohle für uns in der Tat als nationale Energiereserve wichtig sind.
({3})
Aber meinen Sie nicht, daß es dann notwendig wäre - ich habe von der Notwendigkeit der Kohleveredelungstechniken gesprochen - , daß wir uns in aller Sachlichkeit darüber auseinandersetzen, uns zusammensetzen und darüber diskutieren, welche Möglichkeiten wir haben, um das Energie- und Rohstoffpotential der Stein- und Braunkohle besser auszunutzen, als wir das bisher tun,
({4})
und daß es notwendig ist, hier entsprechende Techniken zu entwickeln, gegebenenfalls auch unter Hinzuziehung, unter Mitbenutzung der Kernenergie, wenn ich an die Koppelung von Hochtemperaturreaktor und Kohlevergasungs-, -veredelungsanlagen denke?
({5})
Ich meine, daß wir darüber nachdenken, daß wir darüber reden müssen.
Herr Kollege Lennartz, ich bin mit Ihnen in einem Boot, wenn es uns gelingt, an dieser Stelle wirklich etwas für die Schonung der Umwelt zu tun, denn mit solchen Techniken können wir wohl auch dem CO2Problem zu Leibe rücken.
Ich möchte noch eine Anmerkung zu der Frage machen, wie es um die Energieeinsparung bestellt ist. Wir haben heute einen Anteil von 4 % am Weltenergieverbrauch. Dabei müssen wir berücksichtigen, daß zwei Drittel der Weltbevölkerung einen Energieverbrauch haben, der bei 0,5 % oder darunter liegt. Das müssen wir uns anschauen. Wir müssen also davon ausgehen, daß der Weltenergiebedarf weiter wachsen wird.
({6})
Auch wenn wir das Nord-Süd-Gefälle überwinden wollen, erfordert die wirtschaftliche Entwicklung den Einsatz von mehr Energie. Das werden wir nicht nur mit regenerativen Energien in den Ländern der Dritten Welt machen können.
Nehmen wir an, der Energieverbrauch steigt in den nächsten 20 Jahren auf das Doppelte, dann beträgt unser Anteil noch 2%. Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, um unsere Bemühungen zur Energieeinsparung fortzusetzen. Mich müssen Sie doch
nicht katholisch machen. Ich bin ein Einsparfreak. Jeder muß sich an seine eigene Nase fassen und sich fragen, wie er sich verhält.
({7})
Ich höre ständig die Forderung nach Einführung einer Geschwindigkeitsbegrenzung. Wenn alle diejenigen, die diese Forderung erheben, bereit wären, sich daran zu orientieren und, sage ich einmal, nicht schneller als 120 km/h fahren würden, dann wäre das schon eine ganze Menge. Der Rest könnte dann gar nicht mehr viel schneller auf der Autobahn fahren. Bloß, die Kameraden tun das nicht. Die sagen: Solange wir kein Gesetz haben, fahre ich so schnell, wie es mir möglich ist. Was für eine Einstellung mündiger Bürger ist das!
({8})
Man sollte einmal die Frage stellen, ob wir alles nur per Gesetz regeln müssen oder ob wir nicht besser an die Einsicht des Bürgers appellieren,
({9})
damit hier auch ohne Gesetz und auf der Grundlage der Einsicht das Notwendige geschieht.
Ich habe noch keine Steuervergünstigung für energiesparende Maßnahmen im meinem Haus in Anspruch genommen. Das habe ich noch nicht gebraucht, weil es mir ein Bedürfnis war, mich so zu verhalten, und weil ich mir auch Rechnungen angeschaut habe. Ich habe für mich ausgerechnet, daß ich das auf die Dauer im Grunde genommen einsparen kann.
Ich meine, das müßten wir bei all diesen Überlegungen mit berücksichtigen.
Ich möchte noch eine Anmerkung machen. Wissen Sie, wenn wir von Energieeinsparung sprechen und das möglicherweise noch auf die Länder der Dritten Welt beziehen, dann habe ich den Eindruck, als wollte man einem Hungernden beibringen, den Hunger durch Fasten zu überwinden.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
({10})
Das Wort hat der Abgeordnete Maaß.
Herr Präsident! Ich habe eine Bitte: Ich möchte in Anbetracht der schon fortgeschrittenen Zeit im Zusammenhang vortragen.
Danke schön. Ich nehme das zur Kenntnis.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich wieder einmal versuchen, auf den Punkt zurückzukommen. Ich möchte hier den Versuch unternehmen, die regenerativen Energien hervorzuheben und ihrer Bedeutung gerecht zu werden. Dazu ist es notwendig, vorab einige Begriffe als Eingangsthesen zu klären.
Ich sehe die regernerativen Energien neben den Energieträgern Kernenergie und Kohle als gleichberechtigt an. Ich sehe natürlich auch Instrumente des Energiesparens. Weiter müssen wir zur Kenntnis nehmen: Kernenergie und Kohle werden in absehbarer Zeit nicht an Bedeutung verlieren. Regenerative Energien können heute und in absehbarer Zeit keine Alternative, sondern lediglich eine Additive sein.
Meine Damen und Herren, wir müssen eine Energiepolitik gestalten, die sich antizyklisch verhalten muß, die aber auch die Zukunftschancen und die Voraussetzungen dafür mit berücksichtigen muß. Das heißt, wir müssen trotz relativ niedriger Energiepreise im Bundesgebiet und trotz eines Überangebots an Energie versuchen, die regenerativen Energien weiter voranzubringen und zu fördern.
({0})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, hier kommen wir zu staatlichen Aufgaben. Der Bundesminister ist bis an die Grenze seiner Ressortzuständigkeit gegangen.
({1})
- Entschuldigung! - Ich möchte ihm ausdrücklich Dank dafür aussprechen. Ich gehe auch davon aus, daß wir bei einer Energiepolitik, die auf die Anwendung regenerativer Energien setzt, Kreativität an den Tag legen müssen. Ich bin so fair und ehrlich, einzugestehen, daß ich mir diese Kreativität in anderen Bereichen ebenfalls wünsche.
Nur, wer den Versuch unternimmt, regenerative Energien als Alternative zu anderen Energieformen hinzustellen, dient den regenerativen Energien nicht.
({2})
Jetzt lassen Sie mich zu einigen Strategien kommen. Ich werde immer wieder zitiert zu den Stichworten Markteinführungshilfen und Markteinführungsstrategien. Lassen Sie mich dazu einige Kernpunkte ansprechen. Ich möchte hier nicht den monetären Sektor betrachten, sondern Ihnen einfach einmal nur die Realität, die Wirklichkeit vor Augen führen und feststellen: Wenn der Staat den Energieversorgungsunternehmen Schutzräume schafft, in denen sie ein regionales Monopol haben, dann ist das richtig, wenn aus diesen Schutzräumen heraus auch Gewinne gemacht werden können und niedrige Energiepreise ermöglicht werden. Aber ich gehe davon aus, daß an diejenigen, die diese Schutzräume in Anspruch nehmen, also an die EVUs die Frage gestellt wird: Wie könnt ihr euren gesellschaftspolitischen Beitrag leisten?
Hier erhebe ich die erste Forderung, nämlich die Einspeisungsvergütung anzuheben. Sie haben im letzten Sommer noch im Dornröschenschlaf gelegen, als wir massiv Druck gemacht haben.
({3})
Erinnern Sie sich bitte daran, daß die EVUs dann bereit waren und gesagt haben: Wir gehen bei der WindMaaß
energie auf 11 Pf hoch. Das müssen Sie uns zugute halten.
Der zweite Punkt: Wenn sich die Energieversorgungsunternehmen bei uns im Stadium einer gewissen Überliquidität befinden, müssen wir auch die Frage stellen - so wie Sie es früher bei der Kernenergie gemacht haben - , inwieweit sie zu Forschungs- und Entwicklungsaufgaben herangezogen werden können.
Es gibt weitere Punkte, über die wir im Zusammenhang mit der Frage nachdenken müssen, wie wir die regenerativen Energien weiter nach vorne bringen können. Hier denke ich auch an Instrumentarien wie Abschreibungsmöglichkeiten etc. Hier fordere ich die Kreativität, die ich zur Zeit noch vermisse.
Lassen Sie mich jetzt noch auf einen anderen Punkt eingehen. Ich stelle mit Bedauern fest, daß die regenerativen Energien damit abgetan werden, daß man sagt: Na ja, hier sollen neue Subventionstöpfe erschlossen werden. Das ist eine unfaire Argumentation.
({4})
Ich wende mich an Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren von der SPD: Sie sind still bei Ihrer Kohlepolitik. Wenn Sie aber 20 Milliarden DM jährliche Dauersubvention bei der Kohle akzeptieren, dann müssen Sie bei den regenerativen Energien genauso zu Felde ziehen und sagen: Wir müssen uns überlegen, wie wir sie weiter voranbringen.
({5})
- Herr Vosen, Sie haben das im Ausschuß gestern bestätigt. - Hier müssen wir neue Wege gehen. Hier müssen die Energieversorgungsunternehmen mit herangezogen werden.
Ich möchte noch einen Punkt ansprechen. Ich stelle mit großer Sorge fest, daß die Opposition bis auf verbale Akrobatik im Bereich der regenerativen Energien eigentlich nichts zum Einsatz gebracht hat. Wo sind denn die Pilotvorhaben? Sie sind doch in CDUbzw. CSU-regierten Bundesländern realisiert worden.
({6})
Gucken Sie sich doch einmal Niedersachsen an, gukken Sie sich bitte Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz an. Was hören wir denn von Herrn Rau und Herrn Lafontaine? Nur Lippenbekenntnisse, aber es passiert nichts.
({7})
Zum Abschluß noch eine Bemerkung: Wenn ich mir das Hauffsche Energiemodell angucke - die SPD hat sich das ja zu eigen gemacht -, stelle ich fest, daß Sie den Bürgern 50 Milliarden DM Energiesteuer überbraten wollen. Das müssen Sie einmal laut sagen. Dann kriegt der Bürger Angst vor ihrer Energiepolitik.
({8})
Meine Damen und Herren, kämpfen Sie mit für den vernünftigen, sinnvollen Einsatz regenerativer Energien. Bislang habe ich von Ihnen keinen Beitrag dazu gehört.
Danke schön.
({9})
Das Wort hat der Bundesminister für Forschung und Technologie.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Laermann hat an einer Stelle darauf hingewiesen - das ist aufgegriffen worden - , wo das grundsätzliche Problem liegt. Wir stehen in der Situation einer wachsenden Menschheit mit begrenzten Ressourcen. Die Menschheit wird in den nächsten 20 Jahren um die Hälfte wachsen. Wir leben in einer Welt, in der die klassischen Ressourcen in zweierlei Hinsicht ihre Grenzen erreicht haben: Öl, Gas und Kohle sind nicht beliebig verfügbar. In diesen Jahren wird zunehmend deutlich, daß ein weiteres Verbrennen der fossilen Energien zu einer Belastung des Klimas führen kann, die irreversibel ist, nicht mehr eingefangen werden kann und bedrohlich ist.
({0})
Die Frage ist, was in einer solchen Situation Forschung überhaupt leisten kann. Es gibt auf lange Frist nur drei Antworten auf die Knappheit an Energie. Das eine ist die Sonne, das zweite ist die Fusion und das dritte ist die Kernspaltung. Es gibt kein anderes Prinzip.
({1})
- Wenn Sie hier physikalisch mehr bringen können, dann werden Sie einen Nobelpreis bekommen. Sie können über Tachyonen sprechen; aber das ist nicht das Niveau, auf dem wir hier debattieren.
({2})
Hierbei entsteht die Notwendigkeit, all diese Techniken nach den besten Möglichkeiten zu entwickeln. Das heißt, daß wir Kohle immer umweltfreundlicher machen und mit höherem Wirkungsgrad verfeuern müssen, damit der CO2-Ausstoß zurückgeht, der Energieträger aber wirkungsvoller eingesetzt werden kann.
({3})
Das heißt, das Kernenergie immer sicherer gemacht und die Fusion langfristig entwickelt werden muß.
({4})
Das heißt, daß wir hier die regenerativen Energien nach allen Möglichkeiten entwickeln müssen.
({5})
Nun sagt hier der Kollege Vosen - und Ihr Zuruf geht in die gleiche Richtung - , daß der Forschungshaushalt nicht ausreiche und der Forschungsminister nicht genug dafür tue.
({6})
Herr Vosen, in den Jahren seit 1982 - Sie können es in den einzelnen Haushaltsplänen nachlesen - hat der Forschungsminister in der großen Mehrzahl der Jahre mehr Geld vorgehalten, als hernach in praktischen Projekten untergebracht werden konnte. Ich bin der Überzeugung, daß wir hier Prioritäten zu setzen haben. Natürlich stimme ich Ihnen zu - das werde ich immer tun - , daß mein Haushalt knapp ist; aber in dem Haushalt habe ich immer Prioritäten gesetzt und durchgehalten. Die Förderung der kleinen und mittleren Unternehmen ist immer überdurchschnittlich gewachsen, und zwar mit der zwei- oder dreifachen Steigerungsrate, verglichen mit dem Gesamthaushalt. Es ist also nicht so, wie Sie behaupten, daß ich nichts für die Kleinen täte. Die Förderung von Umwelt und Gesundheit ist überdurchschnittlich, und zwar mit dem Zwei- bis Dreifachen, gewachsen. Die Klimaforschung schließlich ist auf das Sechsfache gewachsen. Dort, wo wir Prioritäten sehen, haben wir sie gesetzt, und da hat nie etwas an knappem Geld gefehlt. Diese Strategie werden wir weiter fahren.
Was die Kerntechnik betrifft, so sprechen wir jetzt nur von pauschalen Zahlen. Aber ich kann hier nicht schnell Großforschungseinrichtungen abschalten. Sprechen wir von den Projekten! Wir geben in diesem Jahr ein Viertel der Mittel für Kernenergieprojekte aus, wie es 1982 der Fall war, und zwar nicht etwa deshalb, weil ich etwas gegen Kernenergietechnik hätte. Ich bin nur der Überzeugung, daß sie reif ist und ihr Geld am Markt verdienen kann, was sie ja auch tut.
Wir geben über 270 Millionen DM für regenerative Energien und rationelle Energieverwendung aus. Diese Zahl wird hier kleingemacht, und es wird darüber geredet, man solle mehr tun. Sehen wir das einmal im Vergleich an - an einer Stelle ist es beiläufig genannt worden - : Kein Land in Europa gibt annähernd soviel aus. Alle Länder in Europa geben gemeinsam weniger für regenerative Energien aus als Deutschland allein. Zur Erforschung regenerativer Energie geben wir mehr als Japan aus, und ob es mehr oder weniger als in den Vereinigten Staaten ist, wird sich erst nach dem Dollarkurs am Jahresende entscheiden.
Herr Minister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Wenn es nicht angerechnet wird.
Ja, ich rechne es nicht an.
Von mir aus, gerne.
Herr Minister, was sagen Sie denn zu der Aussage, die eben vom Kollegen Maaß gekommen ist, daß es derzeit überhaupt nicht mehr darauf ankomme, in erster Linie den Forschungshaushalt im Bereich der erneuerbaren Energien weiter auszubauen, sondern daß es in erster Linie darauf ankomme, die reife Technik in den Markt einzuführen, wie das z. B. in Japan und in den USA in wesentlich stärkerem Maße betrieben wird? Das müssen Sie meiner Meinung nach doch wohl vergleichen.
Herr Kollege Daniels, die Wirksamkeit von Subventionen ist begrenzt. Ich möchte auf das Beispiel von Dänemark und von Kalifornien - Sie sprachen von den Vereinigten Staaten - hinweisen. Bekannt ist, daß mit außerordentlich hohen staatlichen Subventionen - Steuererleicherungen und Direktzuschüssen - dort Windenergie für die Stromerzeugung in den Markt gebracht worden ist. Der Erfolg ist, daß in Kalifornien heute 1,3 % des Strombedarfs durch Windenergie gedeckt werden, in Dänemark 0,2 %. Ich bin der Überzeugung, daß wir überall dort, wo wir es tun können, bis an die Grenzen des Marktes fördern müssen. Das 100-MW-Windenergieprogramm soll nicht nur eine Vielfalt von einzelnen Techniken fördern, sondern es soll auch Techniken zur Serienreife und damit zu Kostendegressionen bringen, die sie wirtschaftlich machen. Hier sehe ich einen wesentlichen Punkt.
Ich verweise auf das, was der Kollege Maaß mit großem Nachdruck vorgetragen hat: auf seine Unterstützung für das 100-MW-Windenergieprogramm und auf seine Vorschläge, die er zur Markteinführung gebracht hat. Ich beantworte die Frage nach dem, was ich tue und wie ich die Strategie aufgreife, nur an einer Stelle; ich könnte noch andere Beispiele bringen. Ich halte nichts von Dauersubventionen, die die Märkte versperren und nicht öffnen. Aber ich halte viel davon, etwas so weit zu fördern, daß Märkte tatsächlich für eine gereifte Technik, die in Großserie wirtschaftlich ist, geöffnet werden.
({0})
Herr Minister, es gibt nun noch den Wunsch nach einer weiteren Zwischenfrage.
Ich habe das Gefühl, daß meine Uhr weiterläuft: Gerade hat sie vier Minuten angezeigt.
Ich habe sie eben wieder eingeschaltet. Ich schalte sie auch gleich wieder aus, wenn Sie die Zwischenfrage beantworten.
Herr Vahlberg, bitte schön.
Herr Minister, meine Frage geht in die gleiche Richtung; aber ich möchte sie dennoch stellen. Vor dem Hintergrund, daß die Kohle subventioniert ist, und vor dem Hintergrund, daß auch die Kernenergie hoch subventioniert ist - sie würde sich ja nie im Markt halten können, wenn nicht erhebliche öffentliche Mittel in die Kernenergie fließen würden; Beispiel USA, wo keine Kernkraftwerke mehr gebaut werden - , stelle ich meine Frage: Wie erklären Sie sich denn dann, daß im Jahreswirtschaftsbericht - daran haben Sie ja sicherlich mitgeschrieben und mitgewirkt - zu dem Thema regenerative Energien steht: Da sich die regenerativen Energien, hier vor allem die Solarwasserstofftechnologie, im Markt nicht behaupten können, ist eine Subvention nicht tragbar? Vor dem Hintergrund, daß andere Energien durch die
Bundesregierung durchaus hoch subventioniert sind, können Sie doch nicht dem Marktmechanismus bei der Durchsetzung der Solarwasserstofftechnologien oder der regenerativen Energien im Markt wirken lassen.
Ich möchte hier die Frage der Kohlesubvention nicht im einzelnen untersuchen. Aber ich weise auf eines hin: Sie ist aus zwei Gründen gerechtfertigt worden, die mit einer Subvention des Energieverbrauchers nichts zu tun gehabt haben, nämlich mit der Erhaltung einer einheimischen Reserve, der einzigen Reserve, die wir hier im Boden von Deutschland haben. Wenn die Schächte einmal abgesoffen sind, sind sie faktisch nicht mehr zu erschließen.
Zweitens sind sie mit der Frage der großen strukturellen Bedeutung im Saarland und im Ruhrgebiet gerechtfertigt worden. Dies sind die grundsätzlichen Erläuterungen.
Zur Frage der Kernenergie: Wenn Kernenergie aus dem Staatshaushalt subventioniert würde, dann würde ich sagen: Hier haben wir ein Argument.
({0})
- Vielen Dank.
Aber ich muß Ihnen eines sagen: Bis zur Entsorgungsvoraussorgeverordnung werden die Kosten von den Elektroversorgungsunternehmen getragen. Diese tragen die Kosten für die Kerntechnik, für die Wiederaufarbeitungsanlage und für die Entsorgung.
({1})
Weder im Haushalt des Forschungsministers noch im Haushalt des Wirtschaftsministers kann ich irgend etwas erkennen, was in diesem Kontext als Subventionierung einer Energie verstanden werden sollte.
Trotzdem muß ich hier eines sagen: Ich rede jetzt nicht darüber, ob das eine Subvention oder etwas anderes ist; aber ich rede davon, daß regenerative Energien bis an die Grenze des Marktes gefördert werden sollen.
Das 100-MW-Windenergieprogramm, das hier genannt worden ist, ist von manchen als eine Subvention bezeichnet worden. Ich sage: Es ist eine unter Forschungsgesichtspunkten, weil wir die richtige Frage stellen, legitime Erschließung von Märkten, die wir brauchen; darauf haben wir es angelegt.
({2})
Ich möchte hier jetzt nicht - das kann ich in der begrenzten Zeit auch gar nicht - die große Fülle der Energietechniken aufzählen, die wir haben: von der Photovoltaik mit ihren Alternativen angefangen, über die Grundlagenforschung, mikrokristallin oder kristallin, bis zu den Demonstrationsanlagen und zu Großanlagen in Bayern oder in Rheinland-Pfalz und zu Solarwasserstoffkombinationen, sei es in Bayern, sei es in Saudi-Arabien. Ich spreche nicht von den Techniken für die Dritte Welt. Ich spreche nicht von den Möglichkeiten, durch eine Kombination von Techniken hier echte zusätzliche Chancen zu eröffnen. Ich spreche nicht darüber, was wir aus der Sukzession von Sonnendörfern gelernt haben, von Sonntlan über Daxing bis jetzt zur Lykovrissi. Ich spreche nicht von den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, die wir untergebracht haben. Sie gehören zu dem Handwerk. Aber ich muß sagen: Ich kenne weltweit kein Programm, das diesem Programm in seinem Ansatz überlegen wäre.
Ich räume ein, daß wir eine Schwierigkeit in der Wirtschaftlichkeit haben. Einiges ist jetzt hier im Gespräch ausgetauscht worden. Aber ich bin trotzdem der festen Überzeugung - dies haben wir in der Antwort auf die Große Anfrage gesagt - , daß es unsere Pflicht und Aufgabe ist, die Techniken soweit zu entwickeln, daß sie dann wirtschaftlich werden, wenn sich der Markt ändert. Die Gefahr dieser Jahre ist, daß sich jeder auf dauerhaft niedrige Ölpreise verläßt. Dies ist eine tödliche Angelegenheit.
({3})
- Herr Schäfer, ich kann es leider nicht austragen, aber lesen Sie das vorzügliche Papier nach, das Herr Matthöfer Anfang der 80er Jahre geschrieben hat, und lesen Sie nach, was in der Diskussion Ihrer eigenen Fraktion daraus gemacht worden ist! Damals wurde nämlich festgestellt, daß dies in dieser Weise nicht durchführbar ist.
({4})
- Wenn das eine Zwischenfrage ist, bin ich in Verlegenheit. Ich nehme sie gern auf.
Sie brauchen nicht in Verlegenheit zu sein. Ich bin für eine lebhafte Debatte, aber ich weiß, daß die Sitzung heute abend bis 22.30 Uhr dauert.
Ich bitte hier um Nachsicht. Ich sage ungern nein, wenn ich hier freundlich gefragt werde.
({0})
- Das ist doch wirklich ausgewachsener Kappes. Entschuldigung, „Kappes" ist unparlamentarisch.
„Kappes" ist eine Übersetzung von „Kohl" .
Bitte schön, Herr Schäfer.
Ich möchte Sie fragen, Herr Minister, ob wir Sie an unserer Seite hätten, wenn wir das gleiche oder ein ähnliches Modell, wie es Herr Matthöfer damals zur Verteuerung der Energie vorgeschlagen hat, hier im Deutschen Bundestag einbringen würden.
Nein, da haben Sie mich nicht auf Ihrer Seite, und zwar genau aus den Gründen, die
damals in der Diskussion ausgetragen worden sind. Da wurde hier nämlich argumentiert - ich kann es in der Kürze der Zeit hier nicht im einzelnen nachvollziehen -, was es bedeutet, wenn man in einer solchen Massivität flächendeckende Energiesteuern erhebt, was dies bei steigenden Ölpreisen bedeutet, was es bedeutet, wenn Steuern wieder wegfallen, falls der Ölpreis steigen sollte, was es hinsichtlich der Irreversibilität von Steuern bedeutet. Die Sektsteuer wurde zur Finanzierung der Reichskriegsflotte im Ersten Weltkrieg erhoben. Die Reichskriegsflotte liegt auf dem Grund der Meere, die Sektsteuer feiert fröhliche Urständ, jedes Jahr neu. Ein Finanzminister, der mal eine Steuer hat, läßt sie so leicht nicht los. Diese großartige Bundesregierung ist die erste, die Steuern in wirklich wesentlichem Umfang abgebaut hat.
({0})
- Herr Vosen hat gefordert, wir sollen die Wahrheit sagen, und ich folge immer dem Aufruf von Kollegen, besonders wenn es so grundsätzlich ist.
({1})
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kollegen, ich glaube, daß wir die Strategie angelegt haben, die richtig ist, eine Strategie, die Möglichkeiten für den Zeitpunkt öffnet, in dem die Ölpreise wieder steigen werden. Mit diesem Zeitpunkt ist fest zu rechnen, und dann müssen wir die Alternativen so haben, daß sie ausgereift, sicher und technisch verfügbar eingesetzt werden können.
({2})
Die Strategie kann eigentlich nur sein: Wir müssen neue Energien entwickeln, neue Energietechniken, jede, die uns zugänglich ist, sicher und umweltfreundlich, wirtschaftlich und verfügbar. Dann, wenn wir sie brauchen, werden wir über sie zu entscheiden haben. Wir werden dann aus den alten Energietechniken aussteigen, wenn wir die neuen haben, um einzusteigen. Auszusteigen, ohne zu wissen, wo man einsteigt, ist unverantwortlich. Das Neue so zu entwickeln, daß es rechtzeitig verfügbar ist und Zukunft vernünftig aufgebaut werden kann, dies ist ein Teil des Generationenvertrages, den wir eingehen müssen, nachdem wir in unserer Zeit leicht verfügbare Energien in großem Umfang aufbrauchen. Wir hinterlassen sie unseren Nachkommen nicht hinreichend, aber wir müssen ihnen die Techniken so geben, daß sie Wahlfreiheiten haben. So haben wir die Strategie angelegt, und so stehen die Prioritäten im Haushalt, und diese Prioritäten halten wir durch.
({3})
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zunächst zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4048. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zu überweisen - zur federführenden Beratung -- an den Ausschuß für Wirtschaft und zur Mitberatung an den Ausschuß für Forschung und
Technologie, den Finanzausschuß und den Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Sind Sie damit einverstanden? - Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Zu Tagesordnungspunkt 12b und Zusatzordnungspunkt 5 ist interfraktionell vorgeschlagen worden, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/2242 ({0}) sowie den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/1271 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.
Kann ich auch da Übereinstimmung feststellen? - Ja, das ist der Fall. Die Überweisungen sind so beschlossen.
Ich rufe nun Tagesordnungspunkt 13 auf:
Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Garbe, Frau Flinner, Kreuzeder und der Faktion DIE GRÜNEN
Maul- und Klauenseuche: Sicherheit konventioneller und gentechnischer Impfstoffe, Sicherheit der Impfstoffwerke und Notwendigkeit jährlicher Flächenimpfung
- Drucksachen 11/2905, 11/3766 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4049 vor.
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Garbe.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Impfprogramme können eine große Errungenschaft sein. Wir alle sind froh, daß die Pocken weltweit durch ein konsequentes Impfprogramm ausgelöscht werden konnten. Aber es geht heute nicht um Pocken, sondern mit unserer Großen Anfrage und dem Entschließungsantrag, den wir heute einbringen, haben wir uns einer Tierseuche zugewandt.
Die Maul- und Klauenseuche war einmal die wirtschaftlich bedeutendste Tierseuche in unserem Land. Von 1950 bis 1952 verursachte sie Schäden in der Größenordnung von 450 Millionen DM.
Seit 1937 wurden Schutzimpfungen durchgeführt; anfangs mit wenig Erfolg. Widersinnigerweise - wir erkennen das heute rückblickend - trug die Impfstoffgewinnung an den Schlachthöfen zur Ausbreitung der Seuche bei. Das MKS-Virus ist so leichtübertragbar, daß bis zum heutigen Tag die Impfstoffwerke nur unter den allerhöchsten Sicherheits- und Abschirmungsbedingungen arbeiten dürfen, unter sogenannten L4-Höchstsicherheitsbedingungen. Diese Maßnahmen wurden in den frühen Jahren nicht eingehalten.
Seit 1966 gibt es nicht nur die flächendeckende Impfpflicht in der Bundesrepublik, sondern die Produktion von Naturviruspräparaten in Rindern zur Impfstoffherstellung wurde durch das Frenkel-VerFrau Garbe
fahren ersetzt. Seit dieser Zeit wird das Virus auf der Basis von Zellkulturen in Impfstoffwerken gezogen.
Seit Ende der 60er Jahre haben die Veterinärverwaltungen die Seuche in den Griff bekommen - zum Glück.
({0})
Wir können uns jetzt zufrieden zurücklehnen. Aber inzwischen ist die jährliche Flächenimpfung unproduktiv geworden. Und sie ist nicht nur unproduktiv und teuer. Sie wirft uns im Vergleich mit Ländern zurück, die nicht mehr impfen oder nie auf die Impfstrategie gesetzt haben. Die Impfrisiken übersteigen inzwischen bei weitem die Einschleppungsrisiken für Maul- und Klauenseuche. Ich beziehe mich hier auf Ausführungen, jahrzehntelange Untersuchungen und Unterlagen der MKS-Experten der Bundesanstalt für Viruskrankheiten der Tiere in Tübingen. Einige Zahlen finden Sie in unserem Entschließungsantrag belegt.
Sie erinnern sich sicher, meine lieben Kollegen und Kolleginnen, daß Ende 1987 / Anfang 1988 in der Bundesrepublik in Großburgwedel beim dortigen Impfstoffwerk der Fa. Wellcome wieder MKS ausbrach. Dieses war der letzte Ausbruch und stellte den 30. Primärausbruch in der Bundesrepublik seit 1970 dar. Mit 30 Primärausbrüchen stehen wir nicht nur viel schlechter als die nichtimpfenden Länder da. Viel erschreckender ist: Von diesen 30 Ausbrüchen waren nur zwei importiert.
Die Bundesforschungsanstalt belegt, daß Hauptursache für MKS-Ausbrüche schlechte Impfstoffe waren. Da wurden die Tiere geimpft, und das Virus war noch ansteckungsfähig. Zweithäufigste Quelle der Ansteckungen waren die Impfstoffwerke. Dies erfüllt uns natürlich mit besonderer Sorge. Wir haben keine Zweifel daran, daß in diesen Impfstoffwerken alles Erdenkliche getan wird. Es handelt sich ja um Höchstsicherheitseinrichtungen.
Hier stellt sich für uns natürlich die Frage: Wie sicher ist dann der Umgang mit anderen Krankheitserregern und mit den gentechnisch manipulierten Erregern, die nun landauf, landab in oftmals viel unsichereren Einrichtungen gezogen werden?
({1})
Damit werden wir uns sicher noch intensiv im Ausschuß beschäftigen.
Was wir aber wollen, ist - und das ist Inhalt unseres Entschließungsantrags: - Schluß mit der Impfpflicht bei MKS! Ohne Impfen geht es auch; und die Anstekkungsrisiken ohne Impfen sind wesentlich geringer als mit der gesetzlichen Impfpflicht.
Meine Herren und Damen, dies sind wir den Landwirten schuldig. Jährlich werden in der Bundesrepublik 54 Millionen DM ausgegeben, um die Rinder zu impfen. Die Gesamtkosten liegen noch viel höher. Die Experten der Bundesforschungsanstalt sagen - wir haben auch diese Zahlen in unserem Entschließungsantrag dokumentiert - , an jährlichen Kosten zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche entstehen bei Aufhebung der Impfpflicht pro Jahr 55 Millionen DM. Bei Fortsetzung der Impfpflicht kostet es unter dem Strich 200 Millionen DM.
Deshalb, meine sehr verehrten Herren und Damen, wollen wir eine sehr sorgfältige Prüfung der Situation und Beratung im Ausschuß. Wir sagen: Die Impfpflicht bei MKS ist überholt, sie schadet mehr, als sie nutzt. Wir fordern ein Umdenken, Anstrengungen der Bundesregierung auf EG-Ebene. Wir fordern zwar keinen nationalen Alleingang, aber ich gebe zu bedenken: Die Bundesrepublik steht am Ende der Skala der Länder, die die Impfpflicht rückgängig machen wollen.
Ich danke Ihnen.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Kroll-Schlüter.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir können feststellen, daß sich die prophylaktischen Schutzimpfungen, die zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche jährlich durchgeführt werden, bewährt haben. Wir hatten früher, in den Jahren 1965 ff., mehr als 15 000 Fälle; 1967 noch mehr als 3 000. Demgegenüber sank die Zahl der Fälle im ersten Jahr nach Einführung der Pflichtimpfung auf 68, 1985 und 1986 traten überhaupt keine auf. In den letzten beiden Jahren waren es insgesamt wieder sechs Fälle.
Dennoch: Ein Abgehen von der in der Bundesrepublik Deutschland bisher verfolgten Strategie zur Bekämpfung der Maul- und Klauenseuche erscheint nur dann vertretbar, wenn dies EG-einheitlich durchgeführt oder beschlossen würde.
({0})
- Darin sind wir uns also einig. ({1})
Die Bundesregierung ist seit geraumer Zeit darum bemüht, eine EG-einheitliche Regelung herbeizuführen. Bisher ist eine Entscheidung noch nicht getroffen worden; sie ist auch noch nicht absehbar. Denn die Haltung der Mitgliedstaaten der EG ist sehr unterschiedlich.
Die gegenwärtig eingesetzten Impfstoffe haben sich, soweit ich es überblicken kann, als sicher erwiesen. Jeder einzelne Impfstoff unterliegt der staatlichen Zulassung durch das zuständige Bundesamt in Frankfurt. Die zugelassenen Impfstoffe unterliegen außerdem der laufenden Chargenprüfung, und diese Prüfungen beziehen sich auf die Unschädlichkeit und die Wirksamkeit.
Ein schlüssiger Beweis für den ursächlichen Zusammenhang zwischen einzelnen MKS-Ausbrüchen und Impfstoffmängeln bzw. einem Entweichen von Erregern aus Impfstoffwerken konnte - jedenfalls auf Grund der Untersuchung zu 1987 und 1988 - nicht erbracht werden.
({2})
Aber wir sollten, wenn es hier unterschiedliche Auffassungen oder Informationen dazu gibt, dem Ausschuß noch einmal sorgfältig nachgehen.
Es besteht die berechtigte Aussicht, daß die Methoden der Gentechnologie in Zukunft zu weiteren Verbesserungen
({3})
der diagnostischen Möglichkeiten und auch zur Weiterentwicklung im Bereich der Impfstoffproduktion, und zwar sowohl in der Human- als auch in der Veterinärmedizin, führen werden.
Wir können zusammenfassend sagen: Die staatlichen Maßnahmen zum Schutz gegen diese Seuche haben sich bewährt. Die Beratungen darüber, ob die Pflichtimpfung angesichts der in Mittel- und Westeuropa günstigen Gesamtsituation auch in Zukunft beibehalten werden soll, werden zur Zeit in Brüssel geführt. Die Bundesrepublik Deutschland wird sich einer EG-einheitlichen Regelung nicht verschließen. Wir können gemeinsam dazu beitragen, daß es zu einer solchen Regelung kommt.
Danke schön.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Adler.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Maul- und Klauenseuche - eine noch immer nicht überwundene Krankheit für Rinder, die bei ihrem Ausbruch zur Seuche wird. Wie aber kann ihr begegnet werden? Muß weiterhin vorbeugend jedes Rind ab dem vierten Monat geimpft werden? Mit was geimpft werden? Ist alles wirklich so harmlos, wie die Bundesregierung es in ihrer Antwort auf die Große Anfrage der GRÜNEN glauben machen will? Leben die Länder Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland, Polen, Österreich, Jugoslawien, Griechenland und Ungarn wirklich in Insellage wie Großbritannien oder Island, alles Länder, die bereits seit Jahren auf dem Impfzwang verzichten? Warum trauen die sich, warum nicht auch die Bundesrepublik?
Wie der Großen Anfrage zu entnehmen ist, konnte durch eine Neuerung im Verfahren der Impfstoffproduktion zwischen 1967 mit 3 350 Ausbrüchen und 1969 mit 12 Fällen bereits eine Besserung erreicht werden. Die Bundesregierung bezieht sich in ihrer Antwort immer wieder darauf, daß durch die Änderungen in der Herstellung des Impfstoffs eine selbstauslösende Infektion nicht mehr oder seltener vorkomme; aber sie kommt vor, wie der Vorfall in Großburgwedel in Niedersachsen zeigt.
Warum Impfung? Der wirtschaftliche Schaden für die betroffenen Bauern ist sicherlich einer der wichtigsten Gründe. Aber könnte nicht wie in den USA und anderen Ländern ohne Impfung gehandelt werden? Warum den Vorschlag einer Vakzinen-Bank mit allen bekannten MKS-Typen und eines Katastrophenschutzplans mit entsprechenden Einrichtungen nicht aufgreifen? Vor allem vor diesem Hintergrund sollte geprüft werden, da die gentechnologische Strategie versagt.
Die Bundesregierung selbst führt aus:
Die z. Z. verwendeten Vektorviren ({0}) sind wegen ihres pathogenen Restrisikos in der Praxis nicht einsetzbar.
Hier handelt es sich um das Vacciniavirus, das mit dem pockenerregenden Virus des Menschen eng verwandt ist. Die Überlegungen gehen nun dahin, daß das Vacciniavirus mit den entsprechenden Antigen-Eigenschaften des MKS-Virus ausgestattet wird, um somit einen Lebendimpfstoff zu erzeugen. Es besteht daher die Gefahr, daß sich dieses Vacciniavirus, das nun mit den Maul- und Klauenseuchen-Antigen-Eigenschaften ausgestattet wird, mit dem Vacciniavirus, das zur Pockenbekämpfung beim Menschen eingesetzt wurde, vermischen kann und rein theoretisch neue Viruslinien mit kombinierten Eigenschaften aus beiden Typen hervorgehen. Aus dieser Manipulation könnten neue krankheitserregende Wirkungen auf Mensch oder Tier resultieren.
Die gentechnologischen Arbeiten, die nichtpathogene Mutanten zum Ziel haben, versprechen keine Gewähr für ungefährlichen Umgang mit den Viren. Ob der Wunsch nach multivalenten Impfstoffen nach Ihrer Vorstellung so gut ist, bezweifle ich sehr. Ja, es gibt mehr Befürchtungen als Hoffnungen. Sie selbst erklären:
Allerdings wird es auch mit der Gentechnologie in absehbarer Zeit nicht möglich sein, gegen jede Infektionskrankheit einen bestimmten Impfstoff zu entwickeln. Dies liegt nicht so sehr an der Technik, sondern an der Komplexität und der Variabilität der Erreger.
Dies sollte uns, meine ich, zu denken geben.
Die Fragen nach den Kosten können nicht so eindimensional behandelt werden, wie Sie es tun. Ziel muß sein: MKS-freie Bestände. Auf welchem Weg das erreicht wird, sollte dringend mit den EG-Partnern abgestimmt werden. Wir begrüßen die Stoßrichtung der Großen Anfrage. Die Antwort der Bundesregierung ist mager. Auf die entscheidenden Vorschläge und Forderungen gehen Sie gar nicht ein. Deshalb sollte geprüft werden, ob nicht erreicht werden kann, daß der Impfzwang für die Tiere abgeschafft wird, der in den letzten Jahren zu selbstauslösenden Infektionen geführt hat.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Bredehorn.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Welche absolut aktuelle Notwendigkeit besteht, daß der Ältestenrat die Diskussion über die MKS heute abend auf die Tagesordnung gesetzt hat, ist mir nicht ganz klar. Trotzdem sollten wir uns der Frage der Notwendigkeit flächendeckender Schutzimpfungen gegen MKS stellen und auch versuchen, Licht in die letzten MKS-Ausbrüche in der Bundesrepublik zu bringen. Frau Kollegin Garbe, Sie fordern, die flächendeckende Schutzimpfung einzustellen, und Sie berufen sich da auf Experten. Da kann ich nur sagen - sicherlich, ich weiß nicht, wie viele es sind, einer, zwei oder drei - : Es gibt eine große Anzahl von Experten, die uns das Gegenteilige erzählen.
Die Antwort der Bundesregierung läßt erkennen, daß die Ausbrüche u. a. auf unzureichend inaktivierten Impfstoff zurückzuführen sind. Allerdings hatten
wir in den letzten zehn Jahren vermutlich nur zwei Fälle dieser Art in der Bundesrepublik; auch das geht ja aus der Antwort hervor. Es ist sicherlich auch - der Vorfall in Großburgwedel deutet darauf hin - eine Virenverschleppung durch Impfstoffe nicht ganz von der Hand zu weisen.
Wir sollten uns - das habe ich gerade gesagt, und dazu stehe ich auch - grundsätzlich dieser Frage der bundesweiten Schutzimpfung stellen, und dies aus mehreren Gründen. Zum einen sind - das haben Sie erwähnt - die Kosten ja nicht ganz unerheblich.
({0})
Allerdings sind die 54 Millionen pro Jahr, die Sie hier angeben, wohl nicht ganz zutreffend. Aber wir müssen uns natürlich, obwohl Sie gesagt haben, das sei unproduktiv, auch fragen, was es denn bedeutet, wenn durch eine Nichtimpfung Ausbrüche geschehen wie etwa 1982 in Dänemark, wo ja keine Schutzimpfungen stattfinden. Dort haben 22 Ausbrüche nach Berechnungen immerhin einen Schaden von rund 130 Millionen DM verursacht. Diese Frage müssen wir dabei sicher mit berücksichtigen.
Wie das Beispiel Großburgwedel zeigt, ist die Schutzimpfung kein Garantieschein dafür, daß bei uns die Krankheit nicht ausbricht. Das steht allerdings auch fest.
({1})
Wir müssen sicherlich auch handelspolitische Erwägungen anstellen. Die würden ja ebenfalls für eine Nichtimpfung sprechen. Sie haben das gar nicht erwähnt, aber es ist ja bekannt, daß die Chancen für den Export von Frischfleisch und für den Verkauf von Zuchtvieh beim Wegfall der Impfung für uns steigen würden; denn es gibt eine ganze Reihe von aufnehmenden Ländern, die als seuchenfrei nur solche Tiere und Fleischprodukte ansehen, die aus Ländern kommen, in denen nicht geimpft wird. Das sind insbesondere die USA und Japan.
Trotz dieser Beispiele müssen wir uns die Frage stellen, wer eigentlich das Risiko auf sich nehmen will, die Schutzimpfung völlig fallenzulassen
({2})
und dadurch die Gefahr von MKS-Ausbrüchen zu erhöhen. Die Abwägung zwischen Seucheneinschleppungs- bzw. -ausbruchgefahr und Verzicht auf die bundesweite Impfung bedarf besonders in der Bundesrepublik mit einem hohen Anteil des Im- und Exports tierischer Erzeugnisse und lebender Tiere einer genauen eingehenden Kosten-Nutzen-Analyse.
Vor dem Hintergrund des Binnenmarkts 1992 wirft die Anfrage der GRÜNEN das Problem der bisher unzureichenden Harmonisierung im veterinärrechtlichen Bereich auf. Die unterschiedlichen Regelungen in den einzelnen EG-Ländern sind technische Handelshemmnisse, die im Hinblick auf zukünftig offene Grenzen abgebaut werden müssen. Etwa 50 Bestimmungen müssen bis 1992 vereinheitlicht werden, und der MKS-Bereich gehört dazu.
Ein nationaler Alleingang in die eine oder die andere Richtung empfiehlt sich meines Erachtens angesichts dieser Harmonisierungsbestrebungen nicht. Wir sollten daran arbeiten, daß die Viehseuchenbekämpfung EG-weit vereinheitlicht wird.
Schönen Dank.
({3})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/4049. Es ist beantragt worden, diesen Entschließungsantrag zur federführenden Beratung an den Ausschuß für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten sowie zur Mitberatung an den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu überweisen. Sind Sie damit einverstanden? - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe Punkt 14 der Tagesordnung auf:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Dr. Pick, Dr. Däubler-Gmelin, Bachmaier, Klein ({0}), Schmidt ({1}), Schütz, Singer, Stiegler, Wiefelspütz, Dr. de With, Jaunich, Adler, Amling, Becker-Inglau, Dr. Böhme ({2}), Gilges, Dr. Götte, Rixe, Schmidt ({3}), Seuster, Wittich, Bulmahn, Schmidt ({4}), Weiler, Scherrer, Graf, Reschke, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter/ innen anerkannter Beratungsstellen in Suchtfragen
- Drucksache 11/3280 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({5})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Suchtberater/innen
- Drucksache 11/3482 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({6})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
c) Erste Beratung des von den Abgeordneten Frau Nickels und der Fraktion DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter/innen von AIDS-Beratungsstellen
- Drucksache 11/3483 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates:
Rechtsausschuß ({7})
Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit
Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist eine gemeinsame Beratung dieser Vorlagen und ein Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vereinbart
Vizepräsident Westphal
worden. - Ich sehe keinen Widerspruch; dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Professor Pick.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dieser Antrag - Entwurf eines Gesetzes zur Einführung des Zeugnisverweigerungsrechts für Mitarbeiter/innen anerkannter Beratungsstellen in Suchtfragen - hört sich zunächst sehr abstrakt an, hat aber einen sehr realen menschlichen Hintergrund.
Dieser sogenannte Fall hat eine Geschichte, die sich zwischen dem 13. Juli 1987 und dem 31. Mai 1988 folgendermaßen abspielte.
Am 13. Juli 1987 wird die Drogenberaterin Ute B. zu einer polizeilichen Vernehmung ins Polizeiamt in Bingen eingeladen. Die Polizei verlangt von Frau B. eine Aussage im Zusammenhang mit einem Pkw-Einbruch, der einige Zeit vorher auf der Straße passiert war. Nach Angaben des geschädigten Eigentümers fehlten anschließend eine Halogentaschenlampe und ein Regenschirm im Gesamtwert von 100 DM. Der Schaden am Pkw selbst war nach Angaben des Geschädigten wesentlich höher, ca. 3 000 DM, verursacht durch das Aufschneiden des Faltdachs.
In dem Wagen selbst wurde ein Zettel gefunden, auf dem ein Termin mit Frau B. vereinbart war. Es handelt sich dabei um einen Termin, den Frau B. mit einem Klienten der Drogenberatungsstelle vereinbart hatte.
Frau B. weigerte sich, bei der polizeilichen Vernehmung eine Aussage zu machen. Am 15. September 1987 fand eine richterliche Vernehmung statt. Auch dort verweigerte Frau B. die Aussage zur Sache, da sie befürchtete, mit der Nennung des Namens das Vertrauensverhältnis zu ihrem Klienten und damit die Basis für ihre Beratungstätigkeit zu gefährden.
Am 30. November 1987 beschloß dann das Amtsgericht Bingen, gegen Frau B. ein Ordnungsgeld von 500 DM, ersatzweise Ordnungshaft von fünf Tagen, festzusetzen. Am 20. Januar 1988 wurde die Beschwerde von Frau B. vom Landgericht Mainz als unbegründet verworfen.
Da damit der Rechtsweg erschöpft war, legte Frau B. am 9. März 1988 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein. Am 31. Mai 1988 beschloß die Dritte Kammer des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung anzunehmen, da sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg habe.
Soweit, meine Damen und Herren, der bisher bekannte Verlauf des Verfahrens, das, wenn man es so will, mit der Niederlage der Betroffenen endete.
Auch unser vorliegender Gesetzentwurf kann an der Frau B. angedrohten Haft nichts ändern, genauso wenig wie die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit, die das Verfahren intensiv begleitet hat. Dieser Fall aber lenkt den Blick auf eines der dunkelsten und schwierigsten gesellschaftlichen Probleme, den Bereich von Sucht und Drogen.
Die Dramatik der Rauschgiftgefahren ergibt sich aktuell aus dem jüngsten Bericht des Bundesministers des Innern vom 25. Januar dieses Jahres, wonach die Zahl der Todesopfer einen Höchststand im Jahre 1988 erreicht hat: 673 Tote. Auch die Quantität der Drogensicherstellung hat sich drastisch erhöht. Schließlich ist auch die Zahl der Erstkonsumenten harter Drogen gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 38 % gestiegen. Dies zeigt in großer Deutlichkeit, wenn auch nur beispielsweise, die Bedeutung, die Präventionsmaßnahmen und Betreuung zukommt.
In diesem Rahmen, meine Damen und Herren, wollen wir der sozialpolitischen Strategie im Umgang mit den Suchtproblemen, um die es heute geht, den Vorzug vor der kriminalpolitischen Strategie geben.
({0})
§ 53 der Strafprozeßordnung, der verschiedene Zeugnisverweigerungsrechte enthält, schützt das besondere Vertrauensverhältnis, das zwischen Angehörigen bestimmter Berufe und den Personen besteht, die sich ihrer Hilfe und Sachkunde bedienen. Es soll durch die Aussicht, daß eine solche Vertrauensperson später einmal als Zeuge über Tatsachen aussagen könnte, die ihr anvertraut wurden, nicht belastet werden. Meine Damen und Herren, das gilt gerade auch in entsprechenden Konfliktsituationen von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in Suchtberatungsstellen.
Wir haben diesen Widerstreit im Spannungsverhältnis mit dem hohen rechtspolitischen Ziel der Wahrheitsfindung im gerichtlichen Verfahren zu sehen und abzuwägen. Wir sind uns darüber klar, daß Zeugnisverweigerungsrechte Ausnahmen vom Grundsatz der rechtsstaatlichen Verpflichtung, zur Aufklärung des Sachverhalts in einem Verfahren beizutragen, bleiben müssen.
Unser Vorschlag hat die Zustimmung der entsprechenden Verbände, und er stimmt im wesentlichen mit dem Vorschlag der GRÜNEN überein.
Ich möchte am Schluß meiner Ausführungen noch eine Bemerkung zur Frage der Einbeziehung der AIDS-Beratungsstellen machen: Wir meinen, daß wir noch keine genügenden Grundlagen haben. Insbesondere sind uns keine Fälle bekannt, in denen Strafverfolgungsbehörden oder gar Gerichte hier eingeschaltet worden sind und in denen es um die Frage eines Zeugnisverweigerungsrechtes ging. Wir sind aber gerne bereit, solche Erkenntnisse, falls sie sich im Laufe der Beratungen ergeben, in unsere Überlegungen einzubeziehen.
Danke schön.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Langner.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren hat in einer im Februar vorigen Jahres veröffentlichten Stellungnahme unbestritten nachdenkenswerte Argumente für ein Zeugnisverweigerungsrecht vorgebracht, übrigens weitaus bessere, als
man sie in der Begründung der heute zur Beratung anstehenden Gesetzentwürfe lesen kann.
({0})
Es steht außer Frage, daß die Beratungsstellen den Hilfesuchenden Verschwiegenheit über die von ihnen mitgeteilten Tatsachen und persönlichen Daten garantieren müssen. Dem dient bereits heute die Regelung des § 203. Danach unterliegen Berater für Suchtfragen einer Schweigepflicht, die bei Verletzung, also bei unbefugter Offenbarung anvertrauter Lebensumstände, mit Strafe bedroht ist. Zum gleichen Schutz des Vertrauensverhältnisses in den AIDS-Beratungsstellen sollte auch den dort Tätigen eine entsprechende Pflicht auferlegt werden.
Um das Vertrauensverhältnis zwischen Sucht- bzw. AIDS-Beratern und Hilfesuchenden noch stärker abzusichern, wird nun zusätzlich auch durch diese Initiative ein Zeugnisverweigerungsrecht gefordert. Der Gesetzgeber hat hier allerdings eine Abwägung zwischen den Belangen der Sucht- und AIDS-Krankenhilfe auf der einen Seite und den Interessen an einer wirksamen Strafrechtspflege auf der anderen Seite vorzunehmen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung aus dem Jahre 1977, wo es um die Beschlagnahme von Klientenakten einer Aachener Caritas-Drogenberatungsstelle ging,
({1})
auf diese beiden sich widerstreitenden, aber in eine praktische Konkordanz zu bringenden Belange hingewiesen. Nach Auffassung des Gerichts überwiegen weder generell die Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege im Bereich der Bekämpfung des Drogenmißbrauchs das öffentliche Interesse an der Suchtkrankenberatung, noch ist dies umgekehrt der Fall. Es lasse sich also auch kein genereller Vorrang gesundheitsfürsorgerischer Belange vor dem Interesse der Strafrechtspflege begründen.
Dahinter steht die Feststellung, daß jede Ausdehnung des strafprozessualen Zeugnisverweigerungsrechts und korrespondierend des Beschlagnahmeschutzes die Beweismöglichkeiten der Strafverfolgungsbehörden einschränkt und deshalb die Findung einer materiell richtigen und auch gerechten Entscheidung beeinträchtigt.
Das Gericht hatte bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1972, als es um die Frage einer Erweiterung des Zeugnisverweigerungsrechts für Sozialarbeiter ging, ausgeführt - ich zitiere - :
Dem Gesetzgeber ist es nicht freigestellt, den Kreis der aus Berufsgründen zeugnisverweigerungsberechtigten Personen nach Belieben zu erweitern. Vielmehr zieht ihm das Rechtsstaatsprinzip Grenzen.
Auch muß man sich hüten, das Recht nach politischer Opportunität auslegen oder verändern zu wollen. In Untersuchungsausschüssen erlebe ich gelegentlich, daß die Opposition Zeugnisverweigerungsrechte eher restriktiv gehandhabt wissen möchte. Gutes Recht muß den Gesamtzusammenhang der
Rechtsordnung bedenken. Das macht auch die hier zu findende Lösung schwierig.
({2})
- Übrigens, dieser Zwischenruf, Frau Nickels, war entlarvend für die Opportunität im Recht.
Nicht zuletzt in der Entscheidung zur Aachener Drogenberatungsstelle läßt das Verfassungsgericht erkennen, daß im Hinblick auf die Aufklärung schwerer Straftaten, insbesondere im Bereich der Rauschgiftkriminalität oder von Kapitalverbrechen, ein Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten zweifelhaft ist.
Bedenken gegen eine weitere Ausdehnung eines solchen Rechts bestehen auch deshalb, weil es auch in vielen anderen Berufsgruppen ein starkes Interesse an zusätzlichen Verweigerungsrechten gibt. In den Kommentaren finden Sie eine stattliche Liste von Berufen, bei denen ebenfalls ein Vertrauensverhältnis zwischen Beratern und Klienten besteht: Psychologen, Sozialarbeiter, viele wären hier zu nennen. Die Zuerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts für Sucht- und AIDS-Berater bringt also die Gefahr, daß aus Gleichbehandlungsgründen eine nicht mehr überschaubare Ausdehnung des Zeugnisverweigerungsrechts auf andere Berufsgruppen erforderlich würde und damit eine massive Beeinträchtigung der Strafrechtspflege eintreten könnte.
Zum Abschluß darf ich darauf hinweisen, daß nicht nur die Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren, sondern auch die Verfasser der Gesetzentwürfe darauf hinweisen, daß die Strafverfolgungsbehörden nur in äußerst seltenen Fällen auf einer Aussage durch einen Suchtberater und, soweit aus meiner Sicht erkennbar, bisher überhaupt noch nicht bei einem AIDS-Berater bestanden haben. Es sind nur ganz wenige Fälle aus der Rechtsprechung bekannt, wo es zu einem Konflikt kam.
Anlaß für die jetzige Gesetzesinitiative ist wohl auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Mai 1988, wo eine Verfassungsbeschwerde einer Drogenberaterin, in der es um die Zeugnispflicht in einem Strafverfahren ging, mangels hinreichender Erfolgsaussichten nicht zur Entscheidung angenommen wurde.
Verfassungsrechtlich - dies sei noch einmal betont - ist also die generelle Zuerkennung eines Zeugnisverweigerungsrechts nicht geboten. Für meine Fraktion sichere ich aber eine intensive Beratung der Gesetzentwürfe im Rechtsausschuß, bei der alle genannten Aspekte zu berücksichtigen sind, zu.
Danke schön.
({3})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Nickels.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heute zu beratenden drei Gesetzentwürfe der SPD und der GRÜNEN sind mehr als
überfällig. Das Zeugnisverweigerungsrecht für Drogenberater und Drogenberaterinnen haben verschiedene Verbände, die in der täglichen Drogenarbeit engagiert sind, seit langem gefordert - und das natürlich nicht ohne Grund. Die praktisch Arbeitenden sind nicht so auf gesetzliche Regelungen und auf solche Arbeit fixiert, wie wir das vielleicht manchmal sind. Wenn so etwas gefordert wird, dann meistens aus einer bestimmten Notsituation heraus.
Während Suchtberaterinnen und Suchtberater sich strafbar machen, wenn sie die ihnen anvertrauten Informationen unbefugt weitergeben, haben sie kein Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber Strafverfolgungsbehörden. Mir ist klar, daß § 203 StGB und § 53 StPO auch im übrigen nicht einfach gleichzusetzen sind. Aber ich sehe nicht die sachlich begründbaren Kriterien, deretwegen die Angehörigen dieser Berufsgruppe, genauso wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von AIDS-Beratungsstellen, bisher nicht Zeugnisverweigerungsberechtigte sind.
Fast täglich erfahren diese Menschen in den AIDS- und Drogenberatungsstellen von Handlungen, die zumindest nach dem Betäubungsmittelgesetz, aber oft auch nach dem allgemeinen Strafrecht strafbar sind. Ob es dabei um den Besitz kleiner Mengen Drogen geht, um den ungeschützten Geschlechtsverkehr, der nach der neueren Rechtsprechung mit drastischen Strafen gehandelt wird - das wissen Sie ja auch; von daher darf ich verweisen: Es gibt im Augenblick keine Fälle, wo das durchgreift, aber da ist einiges zu erwarten - oder ob es um kleinere und größere Eigentumsdelikte geht: Die Beratungssituation ist ohne eine freie Aussprache des Mienten oder der Klientin gar nicht denkbar.
Ich verweise hier auch auf den sehr lesenswerten Zwischenbericht der Enquete-Kommission „Gefahren von AIDS und wirksame Wege zu ihrer Eindämmung" : Das Kapitel habe ich einmal sorgfältig durchgelesen. Es steht genau im Gegensatz zu dem, was hier von Ihrer Seite gesagt worden ist. Das sollten Sie vielleicht einmal lesen.
({0})
- Ja, darüber können wir uns vielleicht einmal unterhalten. Dort wird aus der Praxis gesprochen.
Besonders nach der neueren BGH-Rechtsprechung zum ungeschützten Geschlechtsverkehr von HIV-infizierten Menschen müssen die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von AIDS-Beratungsstellen befürchten, später von der Staatsanwaltschaft irgendwann einmal nach Gesprächsinhalten über sexuelle Probleme oder Praktiken gefragt zu werden, wenn die Strafverfolgungsbehörden eine Anklage wegen Körperverletzung vorbereiten.
Ebensowenig wie für Drogenberatungsstellen besteht bei den AIDS-Hilfen die Möglichkeit, ein abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht, etwa über die Mitarbeit eines Arztes, für sich zu schaffen. Zwar schlägt auch hier der Zwischenbericht der EnqueteKommission vor, daß ein integrierter Ausbau von Beratungsstellen, in denen auch immer Ärzte sind, anzustreben ist; es ist aber so, daß nur in den allerwenigsten Einrichtungen der AIDS-Beratungen Ärzte mitarbeiten. Das geschieht nicht etwa, weil man das nicht will. Man kann sich diese Ärzte gar nicht leisten. Es ist so - das ist von den praktisch Arbeitenden auch sehr beklagt worden - : Die Förderung ist schon im letzen Jahr von Koordinationsstab im Bundesgesundheitsministerium verringert worden. Zuschüsse zu Fortbildungsveranstaltungen der AIDS-Hilfe wurden gestrichen.
({1})
Hier ist es überhaupt nicht möglich, eine Ausweitung der Stellen im gewünschten Sinne vorzunehmen, die ein abgeleitetes Zeugnisverweigerungsrecht beinhalten würde. Das ist die Realität. Dem müssen wir uns stellen. Daran kommen auch Sie nicht vorbei.
So sehr ich den Entwurf der SPD, den wir hier beraten, begrüße, so wenig kann ich verstehen, daß Sie sich nicht zu einem gleichartigen Entwurf bezüglich der AIDS-Beratungsstellen durchringen konnten. Sie haben hier Gesprächsbereitschaft signalisiert. Das finde ich gut. Ich fände es nur sinnvoll, wenn wir diese vernünftige Initiative auf zwei Beine stellen würden, was eigentlich auch sein muß. Denn gerade aus der Erfahrung in den von Ihnen regierten Bundesländern wissen Sie, daß von den 80 AIDS-Hilfestellen vier Fünftel intensive Beratungsarbeit in den Gefängnissen leisten. Dort werden HIV-positive oder an AIDS erkrankte Gefangene beraten. Die Beraterinnen und Berater genießen gerade in Gefängnissen, weil sie weder Beamte des Vollzugssystems noch Teil der Justiz sind, größtmögliches Vertrauen. Diese Arbeit ist sehr anerkannt und sehr effektiv. Zwei Drittel der entsprechenden Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen beraten dort natürlich Drogenabhängige und erfahren von vergangenen oder im Gefängnis vorkommenden Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Dieses Gesetz ist übrigens in seiner ganzen Widersprüchlichkeit und Unmenschlichkeit der wahre Hintergrund, vor dem wir heute ein Zeugnisverweigerungsrecht debattieren. Wären der Eigenkonsum und die Substitutionsbehandlung entkriminalisiert, wie das der Zwischenbericht dankenswerterweise anregt, so bräuchten wir überhaupt nicht über eine Erweiterung der Strafprozeßordnung zu debattieren. Dann wäre das obsolet. Aber das ist überhaupt nicht Gegenstand der Beratungen.
Allerdings ist es so, daß hier entgegen dem, was Sie sagen, die Praktiker Ihre restriktiven Vorstellungen unterlaufen. So finde ich es z. B. sehr interessant, daß der rheinland-pfälzische Justizminister Caesar noch vorgestern öffentlich gefordert hat - ich begrüße das; das ist wegen der Probleme nämlich sachgerecht -, im Gefängnis Spritzen zu verteilen, weil - er sagt, was alle wissen, was aber oft geleugnet wird - auch in Rheinland-Pfalz ca. 30 % der Insassen intravenös drogenabhängig sind. So hoffe ich, daß hier ein praktischer Umdenkungsprozeß passiert.
Herr Präsident, ich würde bitten - wir hatten ja gesagt, wir hätten zehn Minuten - , daß ich noch eine Minute bekomme. Ich habe noch ein paar Sachen, die ich einfach sagen möchte.
({2})
Wir hatten zehn Minuten vereinbart, und ich habe gesagt: Ich bemühe mich, schneller zu sprechen.
Nein, bitte nicht. Sie machen das schon. Sonst kann man das nicht mehr verstehen.
Wir dürfen, finde ich jedenfalls, die Augen nicht vor der praktischen Hilfe verschließen, die von denjenigen geleistet wird, die praktisch arbeiten. Wir haben aber auch eine anderslaufende Tendenz. Das ist hier von seiten der CDU auch dargestellt worden; man findet sie auch sonst teilweise. Es gibt Tendenzen der Strafjustiz und der Polizei, Drogen- und AIDS-Beratungsstellen, die im Prinzip die gleiche Klientel betreuen, in die Zange zu nehmen. Auch das ist eine Tendenz, die wir bedenken müssen. Auch deshalb brauchen wir eine Veränderung der Strafprozeßordnung. Ich will einige Beispiele nennen. So haben z. B. die Richter und Staatsanwälte des OLG-Bezirks Düsseldorf bei einem Treffen mit den leitenden Bewährungshelfern dieser Region gefordert, daß HIV-Infektionen in die Handakte der Bewährungshelfer aufzunehmen seien. In Karlsruhe drohte die Staatsanwaltschaft, Mitarbeiterinnen der dortigen AIDS-Hilfe vorzuladen, wenn sie nicht ausführlich über das Verhalten eines auf Bewährung entlassenen HIV-infizierten Mannes berichten. Das ist ein Beispiel einer Fallgruppe, nach der gefragt wurde. Ich hoffe, daß solche Beispiele in die Beratung einfließen.
Um die hieraus resultierenden und, wie ich finde, durchaus berechtigten Befürchtungen der Personen, die diese ohnehin äußerst schwierige und mit vielem menschlichen Elend verbundene notwendige Arbeit tagaus, tagein leisten - das meinte ich eben, als ich sagte: andere Personengruppen; hier geht es um Menschen, die meistens sowieso kaum noch etwas zu verlieren haben - , ernst zu nehmen und ihnen eine konkrete Hilfe zu bieten, müssen wir die Abwägung zwischen den Belangen der Strafrechtspflege einerseits und dem Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Suchtberatern und Mitarbeiterinnen von AIDS-Beratungsstellen zu den Hilfesuchenden andererseits meiner Ansicht nach dergestalt vornehmen, daß wir die Ausnahmevorschrift des § 53 der Straf prozeßordnung um die beiden letztgenannten Berufsgruppen erweitern. Das würde auch der Forderung der Enquete-Kommission AIDS entsprechend, die diese in ihrem Zwischenbericht vorgelegt hat. Das ist etwas ganz anderes, als Sie von der CDU gerade an Schlußfolgerungen gezogen haben.
Danke schön.
({0})
Das Wort hat der Abgeordnete Funke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Einführung von bestimmten Zeugnisverweigerungsrechten wird schon seit dem Beginn der 70er Jahre diskutiert. Die GRÜNEN und die SPD haben dieses dankenswerterweise wieder aufgenommen, genauso wie wir vor kurzem über das Zeugnisverweigerungsrecht für Journalisten diskutiert haben.
Ich glaube, daß man zunächst einmal prüfen muß, ob rechtstatsächlich ein Bedarf für dieses Zeugnisverweigerungsrecht für Berater in Suchtfragen überhaupt besteht.
({0})
Die von Ihnen genannten Beispiele sind zwar überzeugend. Aber ich möchte trotzdem auf Grund einer rechtstatsächlichen Untersuchung wissen, wie groß die Zahl der Berater in Suchtfragen ist, die hierdurch betroffen sein könnten. Ich glaube, daß es gut wäre, wenn der Bundesminister der Justiz eine solche rechtstatsächliche Untersuchung in Auftrag gäbe, genauso wie er bereits ein rechtsvergleichendes Gutachten beim Max-Planck-Institut in Freiburg in Auftrag gegeben hat, in das die Erfahrungen von sechs europäischen Ländern und der USA aufgenommen werden sollen. Ich glaube, daß uns dieses sehr helfen wird. Dieser Bericht soll Ende März dieses Jahres vorliegen, und dann sollten wir ihn sehr intensiv miteinander auswerten.
Es ist, glaube ich, auch klärungsbedürftig, welche praktische Bedeutung das Zeugnisverweigerungsrecht in Wirklichkeit haben wird, einerseits für die Suchtberatung und die Therapie und andererseits für die Effizienz der Strafverfolgung, insbesondere im Bereich des illegalen Drogenhandels und der sonstigen Beschaffungskriminalität bei Rauschgiftsucht. Das gilt vor allem deshalb, weil es auch nach den eigenen Angaben von Beratungsstellen und Verbänden - das steht auch in Ihrer Begründung - nur in seltenen Fällen zu einer zeugenschaftlichen Vernehmung von Suchtberatern in Strafverfahren gekommen ist.
Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß jede Ausweitung von Zeugnisverweigerungsrechten zwangsläufig eine Einschränkung der Wahrheitsfindung mit sich bringt, und zwar - das halte ich für ganz besonders wichtig - nicht nur zugunsten des Angeklagten, sondern gegebenenfalls auch zu Lasten des Angeklagten; denn die Beweiswürdigung ist dann natürlich besonders schwierig.
Mitberücksichtigt werden muß - Herr Dr. Langner, Sie haben das erwähnt -, daß auch die Gleichheit vor dem Gesetz für alle Angeklagten gelten muß, sowohl für Angeklagte im Verfahren über Suchtkrankheiten und auch für sozusagen normale Angeklagte.
Bei der Einführung des geforderten Zeugnisverweigerungsrechtes müßte wohl auch darüber nachgedacht werden, wie einem möglichen Mißbrauch dieses Rechtes entgegengewirkt werden könnte. Das gilt insbesondere dann, wenn an die beruflichen Standards der zur Zeugnisverweigerung berechtigten Mitglieder der Beratungsstellen keine besonderen Anforderungen gestellt werden sollten; denn für die Suchtberatung hat sich noch kein einheitliches Berufsbild, keine einheitliche Berufspraxis herausgebildet. Es fehlt an einer einheitlichen Standesvertretung und an Berufsgerichten, wie dies bei den anderen in § 53 StPO genannten Gruppen der Fall ist.
Bei einer Entscheidung für das Zeugnisverweigerungsrecht für Suchtberater muß damit gerechnet werden, daß dann auch andere Berufssparten dieses Recht für sich in Anspruch nehmen werden. Das gilt in erster Linie für Sozialarbeiter und Psychologen, aber es könnten auch Berater in Fragen der individuellen Lebensführung sein, wie z. B. Ehe-, Familien-, Jugend-, Erziehungs- und Entschuldungsberater.
Wir werden intensiv darüber nachzudenken haben, ob auf Grund der dargestellten Überlegungen das Zeugnisverweigerungsrecht so zu gestalten ist, daß Suchtberater, wenn sie bestimmte berufliche Standards erfüllen, in das Zeugnisverweigerungsrecht miteinbezogen werden können, wobei vielleicht eine weitere Einschränkung dahin gehend erfolgen könnte, daß Sucht in bezug auf die Rauschgifte verstanden wird, auf die das Betäubungsmittelgesetz Anwendung findet.
Wir werden die Anträge, die hier vorliegen, im Rechtsausschuß intensiv mitberaten.
Vielen Dank.
({1})
Das Wort hat der Abgeordnete Wüppesahl.
Meine Damen und Herren! Wie Sie wissen, liegt mir das Thema Drogen besonders am Herzen. Da ich - auch nach dem vorgestrigen Tag - immer noch kein Gesetzesinitiativrecht habe, bin ich besonders erfreut darüber, daß sowohl seitens der SPD-Fraktion als auch seitens der Fraktion, der ich früher angehörte, eine solche Initiative - gewissermaßen in Fortsetzung auch meiner früheren Arbeit - ergriffen worden ist.
Ich will mich zwei besonderen Gesichtspunkten widmen, die sehr grundsätzlich sind. Ich möchte mich auch nicht so sehr bei dem Text der Gesetzentwürfe aufhalten.
Ich möchte zunächst auf die Ausführungen des ersten Sprechers in dieser Runde Bezug nehmen. Dabei wurde auch der Bericht des Bundesinnenministeriums angeführt, um auf die besondere Dringlichkeit einer solchen Regelung in § 53 Strafprozeßordnung hinzuweisen.
Allein der Umstand, daß der Bundesinnenminister die maßgeblichen Richtlinien in diesem Politikfeld zu bestimmen scheint, ist mehr als fragwürdig. Bitte vergegenwärtigen wir uns - das führt dann auch zu der Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit einer solchen Regelung im Bereich des Zeugnisverweigerungsrechts - , daß es sich originär um Gesundheitspolitik handelt und handeln muß. Auch die zwischen den Juristen geführte Auseinandersetzung über die notwendige Abwägung zwischen dem Strafverfolgungsinteresse - das wird hier ja teilweise als Pflicht formuliert - und dem Rechtsstaatsprinzip, Herr Dr. Langner, in bezug auf die BVG-Urteile, die nun allerdings sehr weit zurückliegen und die, wie Sie gesagt haben, aus den Jahren 1967 und 1972 stammen
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- okay, aber bezogen auf die bestehende Rechtslage, Gesetzeslage - , dürfte es in dieser Form gesellschaftspolitisch nicht geben. Wir haben hier ein originäres Feld der Gesundheitspolitik vor uns, und die Gesundheitspolitik kann man nicht durch polizeiliche oder andere juristische Maßnahmen zu regeln versuchen. Von daher plädiere ich - vor dem Hintergrund meines Zivilberufes fällt mir das sicherlich sehr viel leichter, und ich bin unbefangener als die meisten hier - unbedingt dafür, daß Polizeibeamte, Staatsanwälte nichts in Drogenberatungseinrichtungen zu suchen haben.
({1})
Vergegenwärtigen Sie sich bitte auch noch folgenden Widerspruch: Mediziner haben ein Zeugnisverweigerungsrecht, Herr Bundesjustizminister Engelhard. Zu Medizinern können Drogenabhängige sinnvollerweise aber kaum gehen, weil das Drogenproblem u. a. die spezielle Problematik beinhaltet, daß Mediziner objektiv - ohne ihnen einen individuellen Schuldvorwurf machen zu wollen - selbst verantwortlich dafür sind, daß Hunderttausende von Menschen abhängig werden von Pharmaka, aber auch von anderen Drogen, und zwar auf Grund der Tatsache, daß sie in ihrer Ausbildung, in ihrem Studium praktisch nichts über das Suchtpotential der von ihnen verschriebenen Arzneimittel erfahren. Sie erfahren noch viel weniger über die tatsächlichen Wirkungsweisen der Suchtstoffe, die im wesentlichen Grundlage für die Notwendigkeit einer Einführung des Zeugnisverweigerungsrechts zu sein scheinen. Ich meine die klassischen oder kriminalisierten Drogen Heroin, Kokain etc.
Das heißt, wenn ein Drogenabhängiger zu seinem Arzt geht, kann er zur Zeit gar nicht vernünftig beraten werden, es sei denn, er hat ausnahmsweise jemanden vor sich, der sich autodidaktisch entsprechend fortgebildet hat oder der sich durch andere Formen der Betroffenheit ein Wissen angeeignet hat, das dann in der Regel mit entsprechender Erfahrung angereichert werden muß, da die Wissensanreicherung aus Lehrbüchern in unserer Republik kaum möglich ist, so befangen wie im Bereich der Drogenpolitik diskutiert wird.
Das bedeutet - in einem Satz formuliert - : Der Drogenabhängige kann sich nicht sinnvoll von einem Mediziner beraten lassen. Dieser Mediziner hätte ein Zeugnisverweigerungsrecht. Der Drogenabhängige muß zu einer Drogenberatungsstelle gehen, weil dort zur Zeit die echten Fachleute sitzen, jedenfalls unter den augenblicklichen Rahmenbedingungen im Gesetzesbereich in der Bundesrepublik Deutschland. Die Drogenberatungsstellen wiederum haben kein Zeugnisverweigerungsrecht.
Das ist ein Bruch in Ihrer herrschenden Logik, der meines Erachtens unabhängig davon ist, wie man das Drogenproblem insgesamt einzuordnen versucht oder wie man es vorrangig durch die Polizei zu regeln bemüht ist oder wie es von Medizinern, von der Drogenberatung gelöst wird. Das müßte doch gesundheitspolitisch und allgemein gesellschaftspolitisch sehr zum Nachdenken anregen.
Ich bin realtiv enttäuscht von Herrn Dr. Langner, der hier ein klares Nein für die CDU/CSU-Fraktion zu diesem Gesetzentwurf formuliert hat.
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- Herr Dr. Langner, ich habe Sie vollständig über den Hauskanal des Hohen Hauses gehört.
Ich bin in der Tat sehr enttäuscht über Ihre Ausführungen, weil Sie im wesentlichen auf diese veralteten Bemerkungen des Bundesverfassungsgerichts rekurriert haben.
({3})
Das gilt jedenfalls dann, wenn man die Verbindung zu der gesellschaftlichen Situation zieht, wie sie jetzt existiert.
Herr Abgeordneter, gukken Sie bitte einmal etwas weiter nach rechts.
Weil ich schon ständig solche Schlagschatten ins Auge bekomme, möchte ich meinen Beitrag an dieser Stelle auch beenden.
Ich bitte darum, in den folgenden Beratungen in den Ausschüssen, in denen ich ja auch keine Änderungsanträge einbringen kann - das kann ich erst in der zweiten Lesung im Plenum - , die Unterstützung in der Tendenz dieser beiden Initiativen der SPD und der GRÜNEN zuteil werden zu lassen.
({0})
Das Wort hat der Bundesminister der Justiz.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Forderung nach einem Zeugnisverweigerungsrecht für Suchtberater ist bereits im Sommer des vergangenen Jahres, insbesondere von den Verbänden der Berater, an mich herangetragen worden. Ich habe sogleich eine gründliche Prüfung des Anliegens eingeleitet, die auch in wenigen Monaten abgeschlossen sein wird.
Ich habe es in dem Zusammenhang für wichtig gehalten, einmal einen Überblick zu gewinnen, wie in anderen europäischen Ländern, aber auch in den Vereinigten Staaten das Problem des Zeugnisverweigerungsrechts gelöst ist. Dieses Gutachten des MaxPlanck-Instituts wird in Kürze vorliegen. Ich werde es dann selbstverständlich bei den Beratungen des Rechtsausschusses vorlegen.
Bei der Einräumung neuer Zeugnisverweigerungsrechte - darauf hat Herr Kollege Dr. Langner schon sehr nachdrücklich hingewiesen - ist der Gesetzgeber keineswegs frei. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt die Aufrechterhaltung einer funktionstüchtigen Rechtspflege. Dazu zählt die Möglichkeit einer wirksamen Strafverfolgung. Jedes neue Zeugnisverweigerungsrecht engt die Möglichkeit, Straftaten aufzuklären, im Regelfalle ganz zwangsläufig ein.
Nun hat das Bundesverfassungsgericht - auch darauf ist bereits hingewiesen worden - wiederholt betont, daß die Einführung weiterer Zeugnisverweigerungsrechte jeweils einer besonderen Legitimation bedürfe. Die jetzt vorgelegten Gesetzentwürfe zu diesem Thema werden bei der Beratung auch daran zu messen sein.
Was das Zeugnisverweigerungsrecht von Drogenberatern betrifft, so hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts schon seit 1977 Maßstäbe für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in Konfliktfällen zwischen Strafverfolgung einerseits und Rauschgiftsuchtberatung andererseits entwickelt. Die Staatsanwaltschaften und die Gerichte haben sich auch ganz konsequent an diese Maßstäbe mit der Folge gehalten, daß es seitdem nur in wirklich ganz wenigen Ausnahmefällen zu Zeugenvernehmungen von Suchtberatern gekommen ist. Das wird auch in den Begründungen zu den neuen, jetzt vorgelegten Gesetzentwürfen anerkannt.
Es wird zu klären sein, ob die Belange einer sachgerechten Suchtberatung wirklich den Ausschluß jeder Zeugnispflicht der Suchtberater erforderlich machen. Das würde immerhin bedeuten, daß die Strafgerichte auch dann nicht das Recht auf die Zeugenaussage des Beraters hätten - das muß man sich in seinem vollen Gewicht einmal klarmachen -, wenn es sich um eine schwere Gewalttat des Beratenen oder aber um eine schwere Straftat Dritter handelt, etwa im Zusammenhang auch mit der organisierten Betäubungsmittelkriminalität.
Was das Zeugnisverweigerungsrecht für die Mitarbeiter von AIDS-Beratungsstellen anbelangt, so ist mir bisher - auch darauf ist in dieser Debatte bereits hingewiesen worden - von einer erzwungenen Zeugenaussage eines AIDS-Beraters oder -Betreuers nichts bekannt geworden. Mit den wenigen Fällen, die der Gesetzentwurf anspricht, sind offenbar die seltenen Vorkommnisse aus der Suchtberatung gemeint. Dabei ging es in keinem Fall um die strafbare Handlung eines HIV-infizierten Beratenen. Da es bisher an jeglichem einschlägigen Fallmaterial fehlt, wird man das Reformbedürfnis hier besonders kritisch zu prüfen haben, bei aller Übereinstimmung im gemeinsamen Ziel, AIDS-Beratung möglichst wirksam zu gestalten.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Gesetzentwürfe auf den Drucksachen 11/3280, 11/3482 und 11/3483 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:
Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Wirtschaft ({0}) zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Saibold und der Fraktion DIE GRÜNEN
Übernahme des internationalen WHO-Kodexes für die Vermarktung von Muttermilchersatz
- Drucksachen 11/562, 11/2190 - Berichterstatter:
Abgeordneter Dr. Sperling
Vizepräsident Westphal
Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Saibold.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen! Meine Damen und Herren! Ich darf kurz daran erinnern, daß der WHO-Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatz 1981 verabschiedet wurde und in der Präambel die Aufforderung enthält, die Empfehlungen in die jeweiligen nationalen Gesetzgebungen umzusetzen. Bereits 1981 hat die Bundesregierung dem WHO-Kodex zugestimmt, doch bis heute erfolgte keinerlei Umsetzung.
Der Kodex hat zum Ziel, das Stillen zu fördern, und proklamiert daher u. a.: erstens Einstellung der direkten Werbung an die Verbraucherinnen, also keine Anzeigen, Geschenke oder Gratisproben, zweitens keine Verkaufsprämien und keine Geschenke der Babynahrungsindustrie an das Gesundheitspersonal, drittens keinen Kontakt zwischen Verkaufspersonal und schwangeren und stillenden Frauen.
Die WHO hat immer wieder auf die weltweite Gültigkeit des Kodexes hingewiesen; er wurde also nicht nur im Hinblick auf die verantwortungslosen Praktiken der Babynahrungshersteller in der Dritten Welt verabschiedet. Die WHO hat auch immer wieder betont, die Richtlinien seien als Minimalforderung anzusehen.
Wenn nun die Bundesregierung wieder einmal unter Verweis auf die zu erwartende EG-Richtlinie nationale gesetzlich verankerte Regelungen für überflüssig hält, so lehnen wir dies in mehrfacher Hinsicht ab.
Zum ersten: Bereits 1981 hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit gefordert, den WHO-Kodex EG-weit zu übernehmen. Seit 1984 wird an einer Richtlinie herumgedoktert. Mittlerweile haben wir 1989, und es liegt lediglich ein unbefriedigender, verwässerter Richtlinienvorschlag vor. Dies ist wieder ein Beispiel, wie sich unliebsame Gesetzesvorhaben über die EG auf die lange Bank schieben lassen.
({0})
Zum zweiten: Wenn man sich die derzeitige Praxis bei der Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten anschaut, wird man feststellen, daß es seit Jahren massenweise Verletzungen des WHO-Kodexes gibt. In Pakistan erhielten 20 von 23 untersuchten Krankenhäusern kostenlose Säuglingsnahrung, in Thailand alle 13 untersuchten Krankenhäuser. An der Elfenbeinküste, wo extra ein Programm zur Stillförderung gestartet wurde, wurden die Gratislieferungen erhöht. Das sind nur wenige Belege dafür, daß sich das Prinzip der Profitmaximierung gegenüber den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation durchgesetzt hat. Den sinnlosen und vermeidbaren Flaschentod in der sogenannten Dritten Welt wird es also auch in Zukunft geben. Deshalb wurde im letzten Jahr der Nestlé-Boykott wieder ausgerufen, der 1984 auf
Grund der Zusagen von Nestlé eingestellt worden war.
Ein Blick in die Krankenhäuser, Arztpraxen und Mütterberatungsstellen zeigt, daß auch hierzulande die Empfehlungen der WHO aufs Gröbste mißachtet werden. Verbraucherzentralen, der Bund der deutschen Hebammen und allen voran die Aktionsgruppe Babynahrung und andere kritische Organisationen haben diese Praxis wiederholt entschieden verurteilt. Deutlich wird hierbei vor allem, daß die bisherigen freiwilligen Vereinbarungen mit der Industrie wieder einmal das Papier nicht wert ist, auf dem sie stehen, und daß gesetzliche Regelungen hier und jetzt notwendig sind,
({1})
trotz des Wehgeschreis der Kindernahrungshersteller, die schon wieder einmal die Grundfesten unserer Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik erschüttert sehen, wenn Werbebeschränkungen in Aussicht stehen.
Es besteht doch aber wohl kein Zweifel darüber, daß es nicht länger zu verantworten ist, daß die Babynahrungshersteller um ihrer Umsätze willen die von Wissenschaftlern und Gesundheitspolitikern unbestrittenen Vorteile des Stillens ignorieren und alle Bemühungen zur Stillförderung unterlaufen.
Ich betone noch einmal, daß es keineswegs ausreicht, auf die Segnungen der EG zu verweisen, zumal der vorliegende Richtlinienentwurf in vielen Punkten entscheidend von den Mindestempfehlungen der Weltgesundheitsorganisation abweicht.
Wir halten weiterhin strenge nationale Regelungen für unverzichtbar. Wir fordern gleichzeitig die Bundesregierung auf, sich für eine wesentlich verbesserte Ausgestaltung der EG-Richtlinie und vor allen Dingen auch für deren baldige Verabschiedung einzusetzen.
Danke.
({2})
Das Wort hat der Abgeordnete Kittelmann.
({0})
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei der Überlegung, wer bei uns in der Fraktion zu dem Thema sprechen soll, hat wahrscheinlich Berücksichtigung gefunden, daß ich drei Söhne habe, die jetzt fünf, sechs und acht Jahre alt sind, und daß ich daher vielleicht im Verhältnis zu den anderen Mitgliedern der Arbeitsgruppe am ehesten in der Lage bin, ein gewisses Urteil abzugeben.
Zunächst einmal möchte ich auf den Abgeordneten Dr. Sperling und seinen Bericht vom 22. April 1988 - Drucksache 11/2190 - verweisen, dem die CDU/ CSU im wesentlichen zustimmt und von daher auch im Wirtschaftsausschuß ihre Zustimmung gegeben hat. Ich kann mich deshalb kurz fassen.
Die CDU/CSU sieht die dringende Notwendigkeit, den Mißbrauch und die mißbräuchliche Handhabung von Muttermilchersatz zu verhindern. Deshalb hat die Bundesregierung dem WHO-Kodex schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt, 1981, zu Recht zugestimmt, grundsätzlich, aber doch langfristig. Dies geschah, obwohl die Kodexbestimmungen bei uns zu Nachdenklichkeiten führen, sowohl in der verfassungspolitischen und ordnungspolitischen als auch allgemeinrechtlichen Situation.
Positiv ist - dies, Frau Saibold, sehen wir anders als Sie - , daß auch die Hersteller in der Industrie auf der EG-Ebene in enger Anlehnung an die originalen WHO-Empfehlungen freiwillig einen Kodex entwikkelt haben. Dieser berücksichtigt, daß vor allem die sozioökonomischen und rechtlichen Gegebenheiten in den EG-Mitgliedstaaten einheitlich vorhanden sind und daß es die einheitliche Zielsetzung der EG notwendig macht, daß wir auf eine EG-Maßnahme warten.
({0})
- Sie haben sich doch im Prinzip um dieses Problem nicht so intensiv wie Frau Saibold gekümmert.
Seit dem 1. Januar dieses Jahres ist der EG-Kodex der Hersteller verbindlich. Deswegen, Frau Saibold, haben Sie eben nicht recht, wenn Sie darauf hinweisen, daß die freiwillige Selbstbeschränkungsmaßnahme der Industrie nicht positiv ist. Man sollte da, wo die Industrie einmal etwas Positives macht, dieses bei allen Bedenken, die man ansonsten hat, auch einmal positiv anerkennen.
Wesentlich ist: Der Lösungsweg, den der vorgelegte Antrag einschlägt, führt in die falsche Richtung. Seine Annahme würde sich negativ auf die Vereinheitlichung des Rechts innerhalb der EG auswirken.
({1})
Darüber hinaus halten wir Ihre Auffassung, Frau Saibold, daß alleine durch die Werbemaßnahmen der Industrie - das war ja Ihr Schwerpunkt - die Mütter zum Abstillen bewegt werden, für außerordentlich übertrieben. Zum einen gibt es, soweit man dies beurteilen kann, doch funktionierende Vereinbarungen zwischen den Herstellern und den Kliniken über die Reduzierung der Verteilung von Proben und über die Reduzierung der Mengen innerhalb der Proben. Meine gezielte Umfrage in den letzten zwei Tagen bei Kliniken - da bin ich vielleicht noch ein bißchen erfahren, weil ich lange Jahre wirtschaftlicher Leiter eines großen Krankenhauses war - hat gezeigt, daß das praktiziert wird.
Das zweite ist: Es ist wesentlich, festzustellen - gerade das, Frau Saibold, haben Sie nicht erwähnt, aber es bringt doch zum Nachdenken - , daß entgegen den im Antrag geäußerten Befürchtungen die Stilltätigkeit der Mütter in der Bundesrepublik in den letzten 10 bis 12 Jahren kontinuierlich zugenommen hat. Sie liegt in den Kliniken jetzt bei etwa 80 %; davon haben Sie kein Wort gesagt.
Meine Damen und Herren, betrachtet man den Zeitraum zwischen der Vorlage des WHO-Kodexes und der geplanten Verabschiedung seitens der EG, ist die Ungeduld
({2})
- jetzt gebe ich Ihnen doch gerade recht, hören Sie mir doch zu ({3})
über die fehlende Entscheidung, die im Antrag der GRÜNEN zum Ausdruck kommt, nachvollziehbar. Es wird hoffentlich bald ein EG-weiter Durchbruch gelingen.
Lassen Sie mich deshalb abschließend folgendes sagen. Wir wissen, daß die Grundsätze und Ziele des Kodexes bereits auf EG-Ebene zu einer entsprechenden Richtlinie führen sollen. Nach der Verabschiedung dieser Richtlinie werden die Mitgliedstaaten in der EG innerhalb des Gemeinschaftsrechts dafür sorgen, daß das jeweils in nationales Recht umgesetzt wird. Es wäre deshalb gerade zum jetzigen Zeitpunkt kontraproduktiv, eine eigene nationale Rechtsprechung auf diesem Gebiet zu erlassen.
Ich weiß, daß die GRÜNEN grundsätzlich all dem, was Binnenmarkt, EG-Recht beinhaltet, aus ihrer Sicht politisch abneigend gegenüberstehen. Vielleicht liegt da auch die Ursache dieses Antrages. Sie wissen, daß wir dies politisch anders sehen.
Wir bitten aber die Bundesregierung, Herr von Wartenberg, darauf zu dringen, daß die EG zügiger als bisher eine rechtliche Umsetzung des WHO-Kodexes vornimmt, denn ich finde, daß sieben bis acht Jahre doch etwas reichlich sind, um eine rechtliche Grundlage zu finden, auf die, wie zumindest der Antrag der GRÜNEN hier beweist, sehr viele dringend warten.
Schönen Dank.
({4})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Martiny.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Man muß schon große Klimmzüge machen, um die Umsetzung einer WHOBestimmung in nationales Recht mit dem Verweis auf eine EG-Richtlinie abzulehnen, die erst in groben Zügen erkennbar ist und von der man gar nicht weiß, wann sie schließlich fertig ist.
An der Berechtigung, den Antrag zu stellen, den die GRÜNEN gestellt haben, gibt es nicht den geringsten Zweifel, denn die Problematik, gerade in Ländern der Dritten Welt, von der Muttermilch weg auf Erzeugnisse der Kindernahrungsmittelhersteller auszuweichen, hat sich in den letzten Jahren ganz besonders deutlich herausgestellt. Deswegen liegt der WHOKodex richtig, der empfiehlt, Muttermilch an die erste Stelle zu rücken und keine Praktiken walten zu lassen, die den Frauen nahelegen, daß es viel schicker ist, mit Nestlé ihre Säuglinge zu ernähren statt mit dem, was sie selbst zur Verfügung stellen können.
Ich finde, daß wir uns da im federführenden Wirtschaftsausschuß etwas gewunden verhalten haben,
und bin nicht so ganz glücklich mit dem Bericht und der Beschlußempfehlung. Ich bin jetzt sehr gespannt darauf, was uns Herr von Wartenberg für die Bundesregierung erklären wird. Auch in bezug auf Normung habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht - auf die Frau Saibold und Frau Nickels hingewiesen haben - , daß die EG als großer Verschiebebahnhof benutzt wird. Wenn man national etwas nicht will, dann sagt man entweder, wir müssen es im EG-Bereich regeln, oder man sagt, wenn man die Befürchtung hat, es geht auch da vielleicht noch zu schnell, man will es weltweit regeln. So ist es bei der Normung.
({0})
Da gibt es dann eben die ausweichende Erklärung: Man macht EG-Normen oder gleich weltweite Normen. Man wird unter dem Druck der jeweiligen Lobby immer den Weg wählen, der die längste Frist verspricht, in der man zu einer Lösung kommen muß.
Ich meine, wir müssen in dieser Frage wirklich zu einer raschen Lösung kommen, um uns, gemessen an den WHO-Maßstäben, nicht dem Verdacht auszusetzen, wir beteiligten uns an diesem Verschiebebahnhof. Deshalb meine ich, wir müssen die Bundesregierung mit allem Nachdruck drängen, im Rahmen der EG zu einer rechtlichen Lösung zu kommen.
({1})
Mein Archiv von Dokumenten in der Frage Muttermilch oder Muttermilchersatz geht übrigens bis ins Jahr 1981 zurück, also bis zu dem Zeitpunkt der Verabschiedung des WHO-Kodexes. Es ist ja auch nicht so, als hätten wir mit der Muttermilch keine Probleme. Denn durch die Nahrungsmittelkette gibt es auch da zunehmend Probleme, gerade in den Ländern der Dritten Welt, weil dort DDT und ähnliches immer noch nicht verboten sind.
Wir müssen also, meine ich, im Interesse der Weltgesundheit darauf achten, daß hier praktikable und gute Möglichkeiten gefunden werden. Dazu müssen wir im Rahmen der EG unseren Beitrag leisten. Und das muß schnell geschehen.
Vielen Dank.
({2})
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Würfel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen, die noch im Plenarsaal verblieben sind! Schreckensbilder von leidenden Säuglingen mit aufgedunsenen Bäuchlein, verursacht durch Babynahrung, die mit verunreinigtem Wasser hergestellt wurde,
({0})
haben in den 60er und 70er Jahren die Weltöffentlichkeit aufgerüttelt. Einzelne Firmen wurden als „BabyKiller" an den Pranger gestellt,
({1}) ihre Produkte wurden weltweit boykottiert; ihnen half es nicht einmal, daß sie ihre Unschuld an diesen Mißständen durch Gerichtsurteil nachweisen konnten.
Das Problem künstlicher Säuglingsnahrung ist natürlich so alt, wie es Mütter gibt, die nicht stillen können. In all diesen Fällen besteht selbstverständlich immer die Gefahr, daß Babynahrung falsch zubereitet oder mißbräuchlich verwendet wird. Wer aber industriell hergestellte Babynahrung generell verbieten will, hilft den Kindern nicht, die tatsächlich darauf angewiesen sind.
({2})
Die Produkte, die in den Entwicklungsländern als Ersatz für Muttermilch angeboten werden, sind für die Kinder unter hygienischen Gesichtspunkten meist weitaus gefährlicher. Wohl aber muß die Anwendung von künstlischer Säuglingsnahrung auf das notwendige Ausmaß begrenzt und müssen Mißstände bei der Werbung natürlich beseitigt werden.
Der internationale Kodex der Weltgesundheitsorganisation für die Vermarktung von Muttermilchersatz aus dem Jahre 1981 trägt dieser Zielsetzung Rechnung. Die Freien Demokraten erwarten von allen deutschen Unternehmen, daß sie sich vor allem bei ihrer Werbung strikt an diesen Kodex halten. Die vorgeschriebenen Kontrollen, die eine mißbräuchliche Verwendung der Produkte verhindern sollen, müssen eingehalten werden.
In der Praxis zeigt sich aber immer mehr, daß die Entwicklungsländer selbst und ihre Unternehmen sich nicht genügend an den WHO-Kodex halten. Dies ist eine Entwicklung, die ich als ausgesprochen beunruhigend empfinde.
Worauf es ankommt, sind verstärkte Anstrengungen zur Erziehung und Aufklärung der Bevölkerung in den Entwicklungsländern, vor allem aber mehr neue Brunnen mit frischem Wasser. Die Übernahme des WHO-Kodexes durch die Industrieländer ist wichtig. Dies stellt aber nicht das eigentliche Problem dar.
Wir unterstützen die EG-Kommission bei ihren Anstrengungen für die Verabschiedung des Richtlinienvorschlags über Säuglingsfertignahrung und Folgemilch, der auf dem WHO-Kodex aufbaut. Wir wollen, daß die Bundesregierung in Brüssel auf eine rasche Verabschiedung dieser Richtlinie hinwirkt und dem Deutschen Bundestag über den Fortgang der Verhandlungen berichtet. Vielleicht hören wir das sogar schon heute abend.
Aber machen wir uns nichts vor: Den Entwicklungsländern und den Menschen, die dort leben, ist hiermit nur wenig geholfen. Viel wichtiger sind konkrete Maßnahmen gegen Not und Elend, gegen die Unwissenheit der Menschen und gezielte Verbesserungen der Lebensbedingungen in der Dritten Welt. Darauf sollten wir uns konzentrieren.
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Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Wirtschaft, Herr von Wartenberg.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Grundsätze und Ziele des Internationalen WHO-Kodexes für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten sind auf Grund einer Entschließung des Europäischen Parlaments von der Kommission der Europäischen Gemeinschaften weitgehend in einen dem Rat zugeleiteten Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Säuglingsfertignahrung und Folgemilch vom 20. Oktober 1986 übernommen worden. Aus diesem Grund besteht derzeit für den Erlaß nationaler Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet kein Spielraum mehr. Nach Verabschiedung der Richtlinie durch den Rat sind die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaften verpflichtet, das Gemeinschaftsrecht in nationales Recht umzusetzen.
Die Behandlung des Richtlinienvorschlags „Säuglingsfertignahrung" wurde in der EG-Ratsgruppe Lebensmittel nach einmaliger Beratung im September 1987 wegen engen sachlichen Zusammenhangs mit der ebenfalls dem Rat vorliegenden „Diät-Richtlinie" zunächst zurückgestellt.
Wir haben dies nicht untätig hingenommen. In einer Mitteilung vom 3. Mai 1988 haben wir die EG-Kommission sowie in der Folgezeit die jeweiligen - griechischen bzw. derzeit spanischen - Ratsvorsitzenden und die übrigen EG-Mitgliedstaaten von dem Beschluß der Bundestagsausschüsse für Wirtschaft und für Gesundheit vom 20. April 1988 unterrichtet und uns für eine baldige Wiederaufnahme der Beratung des Richtlinienvorschlags „Säuglingsfertignahrung" eingesetzt. Kommission, griechischer sowie spanischer Vorsitz und die übrigen Mitgliedstaaten haben diesen Wunsch aber nicht unterstützt.
Grund für diese Haltung ist, daß der Richtlinienvorschlag „Säuglingsfertignahrung" von der vorherigen Verabschiedung der Diät-Richtlinie formell und inhaltlich abhängig ist. Die Richtlinie „Säuglingsfertignahrung" ist eine von insgesamt neun Folgerichtlinien zur Diät-Richtlinie. Die Diät-Richtlinie, zu der der Rat seinen Gemeinsamen Standpunkt am 21. Dezember vergangenen Jahres festgelegt hat, könnte nach Billigung durch das Europäische Parlament - voraussichtlich im April dieses Jahres - noch unter spanischer Präsidentschaft in zweiter Lesung verabschiedet werden.
Die Kommission hat auf erneute Anfrage mitgeteilt, daß sie ihren Vorschlag für eine Säuglingsfertignahrungs-Richtlinie vom 20. Oktober 1986 nach Billigung des Gemeinsamen Standpunktes zur Diät-Richtlinie durch das Europäische Parlament zurückziehen und die Arbeiten für eine geänderte Säuglingsfertignahrungs-Richtlinie sofort aufnehmen werde.
Die Bundesregierung wird auch weiterhin darauf drängen, daß in Brüssel auf eine rasche Verabschiedung der Richtlinie „Säuglingsfertignahrung" hingearbeitet wird. Wir sind bereit, den Deutschen Bundestag über den Fortgang der Verhandlungen zu unterrichten.
Ich bitte Sie deshalb, der Beschlußempfehlung des Wirtschaftsausschusses zuzustimmen.
({0})
Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlußempfehlung des Ausschusses für Wirtschaft auf Drucksache 11/2190. Der Ausschuß empfiehlt, den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/562 abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Enthaltung der Fraktion der SPD angenommen.
Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/2190 unter Ziffer 2 weiter die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Entschließung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die Entschließung ist mit Mehrheit angenommen.
Meine Damen und Herren, wir haben es geschafft. Wir sind am Schluß unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen, Freitag, den 24. Februar 1989, 9 Uhr ein.
Die Sitzung ist geschlossen.