Plenarsitzung im Deutschen Bundestag am 12/1/1988

Zum Plenarprotokoll

Hinweis: Der Redeinhalt enthält nur die tatsächlich gesprochenen Worte des jeweiligen Politikers. Jede Art von Zwischenruf oder Reaktion aus dem Plenum wird aus dem Redeinhalt gelöscht und durch eine Positions-ID im Format ({ID}) ersetzt.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich eröffne die Sitzung. Die Abgeordnete Frau Hoffmann ({0}) feierte am 26. November ihren 65. Geburtstag. Ich übermittle ihr nachträglich die herzlichsten Glückwünsche unseres Hauses. ({1}) Nach einer interfraktionellen Vereinbarung soll die verbundene Tagesordnung erweitert werden. Die Punkte sind in der Ihnen vorliegenden Zusatzpunktliste aufgeführt. 1. Aktuelle Stunde: Menschenrechtssituation in der Türkei ({2}) 2. Erste Beratung des von den Abgeordneten Carstensen ({3}), Eigen und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Bredehorn, Richter, Wolfgramm ({4}) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes - Drucksache 11/3596 3. Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen: Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München, Dachauer Straße, gemäß § 64 Abs. 2 BHO - Drucksache 11/3567 4. Beratung des Antrags der Abgeordneten Conradi, Müntefering, Erler, Großmann, Menzel, Dr. Niese, Oesinghaus, Reschke, Scherrer, Tietjen, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Weiterentwicklung und Verbesserung der nach 1950 erbauten Großsiedlungen - Drucksache 11/2241 5. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksachen 11/2688,11/3566 6. Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({5}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Wahlkreiskommission für die 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahlgesetz ({6}) - Drucksachen 11/2870,11/3170 7. Beratung des Antrags der Abgeordneten Fuchs ({7}), Dr. Böhme ({8}), Erler, Gerster ({9}), Heistermann, Horn, Kolbow, Leonhart, Steiner, Zumkley, Leidinger, Opel, Dr. Ehmke ({10}), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD: Rücktritt der Bundesrepublik Deutschland von dem Entwicklungsvorhaben „Europäisches Jagdflugzeug/Jagdflugzeug 90" - Drucksache 11/3018 8. Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN: Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus dem Entwicklungsvorhaben Jagdflugzeug 90 - Drucksache 11/3592 9. Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels ({11}) und der Fraktion DIE GRÜNEN: Keine Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf ({12}) - Drucksache 11/3597 - 10. Beratung des Antrags der Fraktion der SPD: Übernahme der Kosten der Volkszählung am 25. Mai 1987 durch den Bund - Drucksache 11/3584 - U. a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung des Vorruhestandsgesetzes - Drucksachen 11/1808, 11/3583, 11/3603, 11/3383 - b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes und zur Förderung eines gleitenden Übergangs älterer Arbeitnehmer in den Ruhestand - Drucksachen 11/2990, 11/3603, 11/3383 12. Aktuelle Stunde: Haltung der Bundesregierung zu den Beschlüssen des EG-Umweltministerrates vom 24./25. November 1988 Zugleich soll, soweit erforderlich, von der Frist für den Beginn der Beratungen abgewichen werden. Sind Präsidentin Dr. Süssmuth Sie damit einverstanden? - Ich höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf: Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland Hierzu liegen Entschließungsanträge der Fraktion der SPD und der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf den Drucksachen 11/3585 und 11/3602 vor. Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung vier Stunden vorgesehen. - Auch hier sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist es ebenfalls beschlossen. Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.

Dr. Helmut Kohl (Kanzler:in)

Politiker ID: 11001165

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Noch vor wenigen Jahren kennzeichnete Stagnation das Ost-West-Verhältnis. Das galt auch für die innerdeutschen Beziehungen, und es galt für den Einigungsprozeß im freien Teil Europas. Heute sind wir auf beiden Feldern Zeugen einer neuen Dynamik, die vor wenigen Jahren von den wenigsten für möglich gehalten wurde. Im vergangenen Jahr erstattete die Bundesregierung den Bericht zur Lage der Nation im geteilten Deutschland kurz nach dem Besuch von Generalsekretär Honecker in Bonn. Dieser Besuch fand vor dem Hintergrund positiver Entwicklungen in den innerdeutschen Beziehungen statt. Er hatte bei den Menschen hüben und drüben vielfältige und zum Teil auch zwiespältige Empfindungen ausgelöst, bei den meisten Hoffnungen, bei manchen aber auch Befürchtungen. Heute darf ich mit Befriedigung feststellen: Die damals geführten Gespräche haben weiterführende Anstöße gegeben. Insbesondere der Reiseverkehr hat sich weiterhin positiv entwickelt. In vielen anderen Bereichen konnten ebenfalls substantielle Fortschritte erzielt werden. Zu einer vollständigen Bilanz, meine Damen und Herren, gehört indessen auch, daß ich offen ausspreche: Manche Hoffnungen von damals haben sich nicht erfüllt. In die Erleichterung mischt sich das Gefühl von Bedrücktheit. Das gilt vor allem für das Klima in der DDR. Hier kommt einiges zusammen. Am stärksten fallen die enttäuschten Erwartungen der Menschen ins Gewicht. In der DDR selbst hat sich die neue Dynamik in den Ost-West-Beziehungen bisher kaum ausgewirkt. Während in der Sowjetunion und in den meisten Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas versucht wird, Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft herbeizuführen, bietet sich unseren Landsleuten in der DDR ein Bild der Stagnation, die sie zunehmend als Rückschritt empfinden. Schlimmer noch: Partei- und Staatsführung reagierten auf Diskussionen und Anstöße zu Veränderungen mit Repression. Die Folge sind Enttäuschung und Spannungen innerhalb der DDR. Aber auch vielen Beobachtern erscheint die DDR heute in einem kritischeren Licht als noch vor einem Jahr. Meine Damen und Herren, diese Entwicklung läßt das Verhältnis zwischen den beiden Staaten in Deutschland nicht unberührt. Gleichwohl wird die Bundesregierung daran festhalten, durch eine sachbezogene, nüchterne Politik die Beziehungen in einer Weise auszubauen, daß ohne Aufgabe von Grundsatzpositionen weitere Fortschritte zum Wohl der Menschen in Deutschland möglich sind. Verglichen mit dem Stand früherer Jahre ist das, was wir bisher für die Menschen in unserem geteilten Vaterland erreicht haben, nicht wenig. Aber es bedarf auch immer wieder neuer Anstrengungen, um es zu erhalten und um weiter darauf aufzubauen. ({0}) Es geht uns dabei immer auch um die Schärfung des Bewußtseins für die Einheit der Nation. Wir finden uns mit der Teilung unseres Vaterlandes nicht ab. ({1}) Wer dies behauptet, hat nicht begriffen, daß eine verantwortungsvolle Deutschlandpolitik immer zwei Ziele gleichzeitig im Auge behalten muß: die Teilung zu überwinden und bis dahin den Zusammenhalt der Nation zu bewahren. Wir haben freilich nach wie vor keinen Grund zu der Annahme, daß eine Lösung der deutschen Frage nahegerückt ist. Ich kann vor solchen, gelegentlich bei uns zu hörenden Illusionen nur warnen. Bei meinem Besuch in der Sowjetunion vor fünf Wochen ist einmal mehr für jedermann zu erkennen gewesen, daß gerade auch in dieser Frage die prinzipiellen Gegensätze fortbestehen. Generalsekretär Gorbatschow und ich waren uns jedoch darin einig, daß Unterschiede im Grundsätzlichen nicht den Weg zu vernünftigen, praktischen Lösungen im Interesse der Menschen versperren dürfen. Meine Damen und Herren, es ist meine feste Überzeugung, daß auf lange Sicht die Zeit nicht gegen, sondern für die Deutschen arbeitet. ({2}) Im Blick auf unser ungelöstes nationales Problem schreibt Generalsekretär Gorbatschow in seinem Buch „Perestroika" : Was in hundert Jahren sein werde, das solle die Geschichte entscheiden. - Mit dieser Aussage, meine Damen und Herren, erkennt er die historische Vorläufigkeit des Status quo an; doch ebenso unmißverständlich bringt er damit zum Ausdruck, daß nach seiner Meinung noch eine lange Wegstrecke vor uns liegt. Die gegenwärtige Lage der Nation - wie überhaupt die fortbestehende Spaltung unseres Kontinents - hängt untrennbar mit dem Ost-West-Konflikt zusammen, einem Konflikt, bei dem es im Kern um Freiheit und um nationale Selbstbestimmung geht. Solange der Gegensatz von Freiheit und Unfreiheit die Überwindung der Teilung Europas und damit Deutschlands verhindert, ist es unsere Aufgabe, das heute Mögliche und Verantwortbare zu tun, um den Ost-West-Konflikt in Deutschland und in Europa zu mildern und auf seine Überwindung hinzuwirken. ({3}) Nicht historische Zwangsläufigkeiten sind es, die den Lauf der Geschichte bestimmen. Auf menschliches Wollen und Tun kommt es letztlich an. Dieses Wissen ruft uns in die Verantwortung. Es mahnt uns, hier und heute ins Werk zu setzen, was der Einheit der Nation und der Freiheit ihrer Menschen dient. Angesichts der leidvollen Erfahrungen dieses Jahrhunderts steht dabei unumstößlich fest, daß Androhung oder Anwendung von Gewalt für uns keine Mittel der Politik sind. „Nie wieder Krieg - alles für die Freiheit", so hatte es sich nach 1945 die überwältigende Mehrheit der Deutschen geschworen. Dieser Schwur gilt weiter. ({4}) Die Bundesregierung bekräftigt hier vor dem Deutschen Bundestag die geschichtlichen, rechtlichen und politischen Grundlagen ihrer Deutschlandpolitik, die sie in den früheren Berichten zur Lage der Nation im geteilten Deutschland sowie in den Regierungserklärungen vom 4. Mai 1983 und vom 18. März 1987 erläutert hat. Wir halten insbesondere fest am Auftrag des Grundgesetzes, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". ({5}) Dieser Auftrag verpflichtet und berechtigt uns, Freiheit und Selbstbestimmung für alle Deutschen einzufordern. Er entspricht dem Wunsch und dem Willen, ja der Sehnsucht der Menschen in unserem geteilten Vaterland. Niemand kann von den Deutschen verlangen, ihr Selbstbestimmungsrecht aufzugeben. Wir streben die Einheit um der Freiheit der Menschen willen an. Deshalb kann die Freiheit auch niemals der Preis der Einheit sein. ({6}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unsere Deutschlandpolitik ist immer auch Bekenntnis zur Kontinuität der langen, wechselvollen und eben auch fortdauernden Geschichte aller Deutschen. Diese Geschichte ist unteilbar. Sie verbindet uns im Guten wie im Bösen. Es wäre unaufrichtig und moralisch nicht zu vertreten, sich aus der deutschen Geschichte nur die genehmen Teile herauszusuchen. Wir stehen hier gemeinsam in der Pflicht. Dieser Pflicht darf sich keiner entziehen. Ich habe es daher in meiner Ansprache bei der zentralen Gedenkveranstaltung in Frankfurt zum 50. Jahrestag der Pogromnacht des 9. November 1938 ausdrücklich begrüßt, daß die Regierung der DDR in jüngster Zeit Bereitschaft angedeutet hat, sich wenigstens durch symbolische Gesten zu der Verantwortung zu bekennen, die uns Deutschen insgesamt durch unsere gemeinsame Geschichte auferlegt ist. In diesem Sinne möchte ich auch den Entschluß der Regierung der DDR würdigen, die Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin wiederaufzubauen. Die Bundesregierung wird dafür einen erheblichen finanziellen Beitrag zur Verfügung stellen. Dies ist für sie ein Ausdruck nationaler Verpflichtung. Ich will allerdings auch ganz nüchtern feststellen: Das Bekenntnis der DDR zu der uns Deutschen insgesamt auferlegten Verantwortung kommt sehr spät: Symbolische Gesten allein genügen nicht. Es kommt hier vor allem auch auf die Solidarität mit den Lebens-, Freiheits- und Sicherheitsinteressen Israels an. Ich darf hier an die historische Erklärung erinnern, die Konrad Adenauer am 27. September 1951 zur Frage der Wiedergutmachung vor dem Deutschen Bundestag abgegeben hat. Darin bezeichnete es die Bundesregierung in feierlicher Form als „vornehmste Pflicht des deutschen Volkes", im Verhältnis zum Staate Israel und zum Judentum den „Geist wahrer Menschlichkeit wieder lebendig und fruchtbar werden" zu lassen. Der stenographische Bericht jener Sitzung verzeichnet wörtlich: „Lebhafter Beifall im ganzen Hause außer bei der KPD und auf der äußersten Rechten. " Bei diesem Konsens aller demokratischen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland ist es seither geblieben. Zu dieser Verantwortung gehört es auch, das Wissen um die Ursachen und die Bedingungen der Teilung Deutschlands und Europas wachzuhalten und zu vertiefen. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Bedürfnis nach Informationen über die Lage der Menschen im geteilten Deutschland erfreulicherweise spürbar gestiegen. Es gibt auch ein wachsendes Interesse an Informationen über die deutsche Frage als Teil des Ost-West-Gegensatzes, über die Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und über Perspektiven einer europäischen Friedensordnung, die auch eine Antwort auf die ungelöste deutsche Frage geben muß. All dies stellt hohe Anforderungen an die Bildungs- und Informationsarbeit, die wir als eine besonders wichtige Aufgabe unserer Deutschlandpolitik begreifen müssen. Es geht dabei um eine Darstellung, die alle Facetten erfaßt, die historischen und zeitgeschichtlichen Aspekte ebenso wie die rechtlichen Fragen sowie die kulturelle und nicht zuletzt die menschliche Dimension. Auf diese Weise schärfen wir das Bewußtsein für die fortbestehende Einheit der Nation, vor allem bei der nachwachsenden Generation. ({7}) Gerade für diese Generation gilt jedoch auch: Das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit kann auf Dauer nur dort entstehen, erhalten bleiben oder wachsen, wo Menschen einander begegnen. Politik für den Zusammenhalt der Nation erfordert daher, daß Deutsche von hüben und drüben so oft wie möglich zusammenkommen können. ({8}) Unsere durch eine gleichermaßen von Grundsatztreue wie vom Willen zur praktischen Zusammenarbeit geprägte Deutschlandpolitik konnte vieles in dieser Richtung bewegen, und die große Zahl menschlicher Begegnungen hat zum nationalen Zusammenhalt mehr beigetragen als viele große Worte. Jede Begegnung zwischen Menschen beiderseits der innerdeutschen Grenze macht diese Trennungslinie durchlässiger. Sie gibt unseren Landsleuten aus der DDR die Möglichkeit, sich aus erster Hand einen Eindruck vom Leben hier bei uns in der Bundesrepublik Deutschland zu verschaffen, und sie fördert bei Reisen in der DDR die Erkenntnis, daß wir gerade auch im Interesse der Menschen an der Einheit der Nation festhalten und jeden möglichen Zugewinn an Freiheit für unsere Landsleute in der DDR anstreben müssen. ({9}) Deshalb hat der Reiseverkehr zentrale Bedeutung. In den letzten beiden Jahren haben mehr Deutsche aus der DDR zu uns reisen können als jemals zuvor seit dem Bau der Mauer. Konnten früher fast nur Menschen im Rentenalter in den Westen reisen und jüngere nur ausnahmsweise, so ist 1987 fast jeder fünfte Bewohner der DDR, darunter über eine Million jüngerer Menschen, im Westen zu Besuch gewesen. Diese Zahlen werden in diesem Jahr, so wie sich die Dinge darstellen, wahrscheinlich noch übertroffen werden. Dies ist für mich der wichtigste Erfolg unserer aktiven Politik für den Zusammenhalt der Nation. ({10}) Meine Damen und Herren, wenn wir auch im Reiseverkehr von unserem Ziel „Freizügigkeit für alle Deutschen" noch weit entfernt bleiben und noch viele Wünsche offen sind - ich denke insbesondere an das Problem des Mindestumtausches und an die Verweigerung der Einreise bestimmter Personengruppen in die DDR - , so ist doch die Entwicklung der vergangenen Jahre von kaum zu überschätzender Bedeutung. Durch den Reiseverkehr werden menschliche Kontakte über die innerdeutsche Grenze hinweg belebt und neu geknüpft. Es werden Erfahrungen und Eindrücke vermittelt und ausgetauscht. Damit bietet sich auch die Chance, die politische Legitimation und die innere Akzeptanz unserer freiheitlichen politischen Ordnung vor Augen zu führen und unter Beweis zu stellen. Wir brauchen den Wettbewerb auch auf diesem Gebiet wahrlich nicht zu scheuen. ({11}) Vor allem aber, meine Damen und Herren, entspricht die Zunahme des Reiseverkehrs den Wünschen der Menschen, die im Mittelpunkt all unserer Anstrengungen stehen. Die Menschen in Deutschland wollen ganz einfach zusammenkommen können, sie wollen Verbindung zueinander halten und Gemeinsamkeiten bewahren. Generalsekretär Honecker hat gegenüber Bundesminister Schäuble erklärt, daß die Entwicklung im Reiseverkehr fortgesetzt werde. Auch die DDR weiß, welche Bedeutung der Reiseverkehr für unsere Beziehungen hat. Die Bundesregierung ist darüber unterrichtet, daß in der DDR jetzt eine allgemeine Regelung für Besuchsreisen eingeführt wird. Wenn dies dazu führt, daß für den einzelnen die Genehmigung einer Reise berechenbarer wird und ein ablehnender Bescheid auch überprüft werden kann, dann ist das ein wichtiger, ein begrüßenswerter Schritt. ({12}) Die Praxis bei Besuchsreisen könnte so besser durchschaubar und auf Dauer verläßlich werden. Wir wollen hier eine stetige Entwicklung, die schließlich zu Freizügigkeit in Deutschland führt. ({13}) In diesen Zusammenhang gehört, daß auch der Jugendaustausch ausgebaut werden konnte. Die Städtepartnerschaften - inzwischen eine ansehnliche Zahl - müssen weiter mit Leben erfüllt werden. Auch hier eröffnen sich vielfältige Möglichkeiten zur Begegnung, zum Austausch und zur Zusammenarbeit. Ein Feld, auf dem es noch großer gemeinsamer Anstrengungen bedarf, ist der Tourismus in beide Richtungen. Auch unsere Landsleute aus der DDR wollen einmal als Touristen in den Westen reisen können. ({14}) Dieses Ziel wird sich nur schrittweise und mit Anstrengungen beider Seiten erreichen lassen. Einstweilen müssen wir tun, was bei uns möglich ist, um unseren Landsleuten aus der DDR einen Besuch zu erleichtern. Hierzu hat die Bundesregierung 1987 durch die Erhöhung des Besuchergeldes und durch Tarifvergünstigungen auf Strecken der Deutschen Bundesbahn für Reisende aus der DDR einen wichtigen Beitrag geleistet. Die neu festgelegte Transitpauschale schafft eine stabile Grundlage für einen reibungslosen Transitverkehr von und nach Berlin für die Zeit von 1990 bis 1999. Dabei konnte der langgehegte Wunsch Berlins nach einem neuen Übergang im Süden der Stadt durchgesetzt werden. Außerdem wird die DDR in den nächsten Jahren weitere Teilstücke der Transitautobahn grunderneuern. Das Einverständnis hierüber wird nach Auffassung beider Seiten die weitere Entwicklung der Gesamtbeziehungen und auch die Lösung anderer anstehender Fragen günstig beeinflussen. Die DDR weiß, daß eine erfolgreiche Weiterentwicklung der Beziehungen auch davon abhängt, daß es ein ausgewogenes Geben und Nehmen gibt. Eine erfreuliche Entwicklung gibt es bei der kulturellen Zusammenarbeit. Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Kulturabkommens kann festgestellt werden, daß sich der Austausch auf den Gebieten von Kultur und Kunst, von Wissenschaft und Bildung spürbar belebt hat. Auf beiden Seiten ist der Wunsch nach Intensivierung und weiterem Ausbau der Zusammenarbeit groß. Dies zeigt, wie lange und wie schmerzlich solche Kontakte vermißt wurden. Kunst und Wissenschaft sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu Vorreitern grenzüberschreitender Kontakte geworden. Das kulturelle Erbe eines Volkes will eben nicht nur festgehalten, es muß auch gepflegt werden. Dies ist auch ein Werk des Friedens; denn Kultur verlangt den Geist der Versöhnung. Hierauf habe ich im März dieses Jahres sehr nachdrücklich hingewiesen: Damals gedachten wir der Geburt Joseph von Eichendorffs vor 200 Jahren in Oberschlesien. Natürlich gibt es bei der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes zwischen uns und der DDR auch einen Wettbewerb um Werte der gemeinsamen Vergangenheit. Doch niemand von uns hat ein Monopol auf Luther oder Bach, auf Lessing, Goethe oder Heine - um nur diese wenigen Namen zu nennen. Solche Ansprüche sind ebenso unglaubwürdig wie der Versuch, sich aus der gemeinsamen Verantwortung für die dunklen Kapitel der deutschen Geschichte davonzustehlen. Die Wahrheit ist: Alle Zeugen und alle Zeugnisse der gemeinsamen Herkunft wirken über die staatliche Teilung hinaus in allen Teilen unseres Vaterlandes bis heute fort. Meine Damen und Herren, eine gemeinsame Verantwortung beider Staaten in Deutschland gibt es nicht nur in bezug auf die Vergangenheit. Auf der Tagesordnung unserer Zusammenarbeit steht auch - und in wachsendem Maße - die Vorsorge für das Wohl künftiger Generationen. Dabei kommt den Fragen des Umweltschutzes eine ganz besondere Bedeutung zu. Der verschwenderische Umgang mit knappen Ressourcen, die gedankenlose Inanspruchnahme von Gütern wie reiner Luft und sauberem Wasser, dies alles geschieht unter dem Vorzeichen marktwirtschaftlicher Ordnung ebenso wie im sogenannten „real existierenden Sozialismus". Inzwischen hat sich in der Bevölkerung der DDR ebenfalls ein Umweltbewußtsein entwickelt, das sich endlich auch auf politische Entscheidungsprozesse auszuwirken beginnt. Die bei dem Besuch von Generalsekretär Honecker abgeschlossenen Verträge über wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit, Umweltschutz und Strahlenschutz sind inzwischen mit Leben erfüllt werden, auch wenn wir insbesondere beim Umweltschutz erst am Anfang einer dringend notwendigen Zusammenarbeit stehen. Auf den Gebieten der Wissenschaft und Technik wurden nach dem Abschluß des Abkommens über die Zusammenarbeit zahlreiche Forschungsprojekte zwischen Projektpartnern beider Seiten eingeleitet. Die Projektfelder umfassen für die Menschen so wichtige Bereiche wie medizinische Forschung, Luftreinhaltung, Reaktorsicherheit oder Bausubstanzerhaltung. Auf der Basis des Strahlenschutzabkommens werden Expertengespräche mit der DDR geführt; es geht hier um einen umfassenden Informations- und Erfahrungsaustausch. Auch dies liegt im gemeinsamen Interesse aller Deutschen. Meine Damen und Herren, ich begrüße ausdrücklich, daß die DDR ihren bisherigen Widerstand aufgegeben und sich kürzlich bereit erklärt hat, zu Beginn des nächsten Jahres mit uns Gespräche über die Reinhaltung der Elbe zu führen. Lösungen für dieses so überaus drängende Problem zu finden, ist eine gemeinsame Aufgabe. Gerade hier zeigt sich, daß trotz unterschiedlicher Positionen in Grundsatzfragen konkrete Zusammenarbeit zum Nutzen beider Seiten möglich ist. Für das, was in der konkreten Zusammenarbeit mit der DDR in beharrlicher Arbeit erreicht worden ist, will ich ausdrücklich all denen danken, die geholfen haben. Ich nenne hier aus gutem Grund Frau Bundesministerin Wilms und Herrn Bundesminister Schäuble, die sich mit besonderem Engagement - oft auch im Stillen - darum bemüht haben. ({15}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, bei allen Fortschritten, die es in den vergangenen Jahren in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten in Deutschland gegeben hat, können und wollen wir nicht übersehen, daß es nach wie vor auch erhebliche Belastungen im Verhältnis beider Staaten gibt. Ich denke dabei insbesondere an die zahlreichen Einreiseverweigerungen, vor allem für ehemalige Bewohner der DDR, die ihre Angehörigen und Freunde besuchen möchten. Ich denke an Zwischenfälle an der innerdeutschen Grenze; dort wird immer noch geschossen, und wir haben Opfer zu beklagen. Und ich denke - diese Aufzählung ist keineswegs vollständig - an Behinderungen von Informationen und das Vorgehen von DDR-Behörden gegen die Arbeit westlicher Journalisten. All diese Belastungen sind vor allem auch Ausdruck innerer Schwierigkeiten des politischen Systems in der DDR, von Schwierigkeiten, die aus fehlender Reformwilligkeit und fehlender Reformfähigkeit erwachsen. Dem stehen die Erwartungen der Menschen der DDR gegenüber. Sie werden geweckt durch die in der Sowjetunion stattfindende Diskussion über Reformen im Zeichen von „Umgestaltung", „Offenheit" und „Demokratisierung", gewiß aber auch durch eine größere Öffnung der DDR nach außen. Staats- und Parteiführung der DDR scheinen zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber nicht bereit zu sein, darauf einzugehen. Das führt dazu, daß die Unzufriedenheit der Menschen zunimmt; sie äußert sich in vernehmbaren Diskussionen, in öffentlich bekundetem Unmut und nicht zuletzt in dem anhaltenden Ausreisedruck. Wir, meine Damen und Herren, beobachten diese Entwicklung mit Sorge. Wir haben kein Interesse daran, daß die inneren Schwierigkeiten in der DDR weiter zunehmen. Wir streben nicht an, daß immer mehr Landsleute nur noch den Wunsch haben, die DDR zu verlassen. Wir wollen, daß sich das berechtigte Verlangen der Menschen nach umfassenden Reformen endlich erfüllt. Zensur und Verbot von Kirchenzeitungen, Behinderungen und Gewalt gegen westliche Berichterstattung, Einfuhrverbote für Zeitungen und Zeitschriften aus dem Westen - neuerdings sogar aus dem Osten -, ({16}) dies alles löst die Probleme nicht. ({17}) Wir können und wollen dazu nicht schweigen, und ich denke, daß sich die DDR-Führung dem Trend zu Veränderungen auf Dauer nicht wird entziehen können, der ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa erfaßt hat. In wenigen Tagen, meine Damen und Herren, jährt sich zum 40. Mal die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen. Dort heißt es, die Anerkennung der unveräußerlichen Rechte des Menschen bilde „die Grundlage der Freiheit, der Ge8098 rechtigkeit und des Friedens in der Welt". Den gleichen Gedanken formuliert auch die KSZE-Schlußakte von Helsinki. In dieser großartigen Vision einer Welt „frei von Furcht und Not" sind die Menschenrechte nicht etwa Wohltaten, die der Staat nach Gutdünken gewähren oder versagen kann. Sie sind vielmehr aller staatlichen Gewalt vorgegeben und setzen ihr Grenzen, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen. ({18}) Dies sollten wir nie aus dem Blick verlieren, wenn wir über menschliche Erleichterungen für unsere Landsleute in der DDR sprechen. So wichtig all diese von uns gewollten Fortschritte auch sind, sie bleiben immer noch hinter dem zurück, was die Vereinten Nationen zu unveräußerlichen Ansprüchen des Individuums erklärten. Die Achtung vor der unbedingten und absoluten Würde des Menschen in allen Bereichen seines Lebens ist grundlegende Voraussetzung des Friedens. Vertrauen in den zwischenstaatlichen Beziehungen setzt auf Dauer voraus, daß die grundlegenden Rechte der Menschen geachtet werden. Und weil Friede in den Herzen der Menschen beginnt, darf nichts und niemand sie daran hindern, in Freiheit zusammenzukommen. ({19}) Meine Damen und Herren, wir Deutschen haben in Jahrhunderten gelernt, daß gerade die Glaubens- und Gewissensfreiheit zum Kernbestand der Menschenrechte und zu den grundlegenden Voraussetzungen des inneren Friedens gehört. Mauer und Stacheldraht werden nicht auf Dauer Bestand haben. Denn sie stehen gegen jene historische Grundströmung, die weite Teile Europas schon seit langem erfaßt hat und die jetzt auch im östlichen Teil unseres Kontinents auf Umgestaltung drängt. Innerhalb der EG verschwinden die Barrieren, die Zäune und Schranken. Und wenn, meine Damen und Herren, das Wort vom „gemeinsamen Haus Europa" einen Sinn hat, dann doch wohl den, daß man sich innerhalb dieses Hauses frei bewegen kann; und zum Hausfrieden gehört, daß Bewohnern nicht Gewalt angetan wird. ({20}) Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, dies gilt auch gerade angesichts der großen Fortschritte, die wir 1988 im Prozeß der europäischen Einigung erzielen konnten. Es ist gelegentlich der Verdacht geäußert worden, die Bundesregierung ordne ihre deutschlandpolitischen Ziele europapolitischen Plänen unter. Meine Damen und Herren, solche Kritik verkennt den Sinn der Westintegration. Die europäische Dimension der deutschen Frage bedeutet für uns nicht die Scheinalternative nationale Einheit der Deutschen oder europäische Einigung. Das Grundgesetz verpflichtet uns vielmehr auf beides: auf die Einheit Deutschlands und auf ein vereintes Europa. Wir streben beide Ziele an. Für uns liegt die Zukunft Deutschlands in einer übergreifenden Friedensordnung, die die Menschen und Völker unseres Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt. ({21}) Die EG ist ebensowenig das ganze Europa wie die Bundesrepublik Deutschland unser ganzes Vaterland ist. Auch Warschau und Prag, Kiew und Budapest - um nur wenige Städte zu nennen - gehören zu Europa, und ganz selbstverständlich Leipzig, Dresden und Rostock. Wenn wir die europäische Einigung vorantreiben, dann nicht, weil wir unsere Landsleute in der DDR oder unsere europäischen Nachbarn in Mittel-, Ost-und Südosteuropa abgeschrieben hätten. Im Gegenteil: Wir vertrauen auf die große Anziehungskraft des europäischen Einigungswerks. Indem wir uns in der Europäischen Gemeinschaft immer enger zusammenschließen, handeln wir auch im Interesse der Menschen im anderen Teil unseres Kontinents und in der Hoffnung, daß sie eines Tages in freier Selbstbestimmung dieses Werk des Friedens mitgestalten können. Der Fortschritt im europäischen Einigungsprozeß ist ein wichtiger Faktor bei der Entwicklung der Ost-West-Beziehungen. Schon heute ist deutlich festzustellen, daß die sichtbaren Erfolge auf dem Weg zur europäischen Einigung - insbesondere die für 1992 vereinbarte Vollendung des europäischen Binnenmarktes - gerade auch bei unseren östlichen Nachbarn mit großer Aufmerksamkeit verfolgt werden. ({22}) Ich möchte an dieser Stelle erneut bekräftigen, daß aus unserer Sicht der europäische Binnenmarkt keine „Festung Europa" werden darf. Und dies heißt auch, daß sich nichts am System des innerdeutschen Handels ändern wird. Die Idee des freien und geeinten Europa hat eine Ausstrahlung weit über den Bereich der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft hinaus. Der europäische Einigungsprozeß ist Beispiel und Hoffnung, er bezeugt die Dynamik und politische Kraft freier Völker, die Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, diese stetige und berechenbare Politik der Bundesrepublik Deutschland ist ein wesentliches Element der europäischen Stabilität: sowohl bei den Anstrengungen für eine europäische Einigung als auch bei der Zusammenarbeit über die Trennungslinie hinweg, durch die Deutschland und Europa geteilt werden. Voraussetzung für die erfolgreiche Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR und der Sowjetunion ist und bleibt die feste und unzweifelhafte Verankerung der Bundesrepublik Deutschland im Atlantischen Bündnis und in der Wertegemeinschaft der freien Völker des Westens. Nur auf dieser Grundlage hat unser Wort Gewicht, und nur von dieser Position aus können wir erwarten, Fortschritte im Interesse der Menschen zu erreichen. Die positiven Veränderungen im West-Ost-Verhältnis müssen und werden wir weiterhin nutzen, um durch konkrete Fortschritte Verbesserungen auch für die Menschen in Deutschland zu erreichen. Durch diese Politik tragen wir gleichzeitig dazu bei, daß von den Beziehungen der beiden Staaten in Deutschland keine zusätzlichen Spannungen in EuBundeskanzler Dr. Kohl ropa ausgehen. Vielmehr kann durch die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen ein besonderer Beitrag zur Zusammenarbeit zwischen West und Ost geleistet werden. Im Kommuniqué aus Anlaß des Bonn-Besuchs von Generalsekretär Honecker im September 1987 haben wir dazu gemeinsam festgestellt, daß das Verhältnis der beiden Staaten zueinander ein stabilisierender Faktor für konstruktive West-Ost-Beziehungen bleiben muß, von dem positive Impulse für friedliche Zusammenarbeit und Dialog ausgehen sollen. Meine Damen und Herren, die deutsche Frage hat nie nur die Deutschen allein betroffen. Sie beschäftigt bis heute immer auch die anderen europäischen Völker. Die Lage und das politische Gewicht Deutschlands in der Mitte Europas verknüpfen unsere nationale Frage mit den Interessen nicht nur unserer unmittelbaren Nachbarn, sondern aller europäischen Völker. Wir brauchen für die Verwirklichung des Rechts unseres Volkes auf Selbstbestimmung das Verständnis und die Unterstützung unserer Nachbarn und Freunde, wofür im Rahmen einer aktiven Deutschlandpolitik stets geworben werden muß. Beides werden wir erreichen, wenn die Lösung der deutschen Frage in einen europäischen Rahmen eingebettet ist. Bei den Menschen in Osteuropa ist neue Hoffnung entstanden, die mit großen Erwartungen an die verantwortlichen Politiker verbunden ist. Diese Erwartungen dürfen nicht enttäuscht werden. Zugleich müssen wir redlicherweise vor übertriebenen Hoffnungen warnen. Das Bemühen in Ost und West muß auf eine stetige, evolutionäre Entwicklung gerichtet sein, um der Gefahr von Rückschlägen entgegenzuwirken. Die Sowjetunion hat unter Generalsekretär Gorbatschow ein Programm tiefgreifender Umgestaltung und Öffnung nach innen und außen eingeleitet. Ich habe dazu während meines Moskau-Besuchs erklärt: Wenn diese Politik, die mit den Begriffen „Perestroika", „Glasnost" und „Demokratisierung" charakterisiert wird, mehr Chancen zu Verständigung und Zusammenarbeit bietet, findet sie unsere Zustimmung und Sympathie, ja unsere Unterstützung. Die Veränderungen in Osteuropa, insbesondere in der Sowjetunion, haben auch für viele Deutsche, die seit langem den Wunsch hegen, in die Bundesrepublik Deutschland zu kommen, positive Auswirkungen gehabt. Diese Menschen, die oft einen besonders schweren Lebensweg hinter sich haben, können jetzt nach langen Jahren des Wartens, der Benachteiligung und oft auch der Verfolgung bei uns als Deutsche unter Deutschen leben. Ich habe in den vergangenen Wochen wiederholt deutlich gemacht, daß sich die von mir geführte Bundesregierung in besonderer Weise den Aussiedlern verpflichtet fühlt. ({23}) Ich wiederhole auch heute von dieser Stelle aus meinen Appell an uns alle: Empfangen wir unsere Landsleute mit offenen Armen und der Bereitschaft zu mitmenschlicher Hilfe. Beweisen wir unsere Fähigkeit zur Solidarität, und werden wir unserer Verantwortung gerecht, die aus gemeinsamer Geschichte und landsmannschaftlicher Verbundenheit erwächst. ({24}) Neben viel Zustimmung erreichen mich in diesem Zusammenhang auch manche kritischen Briefe, die mir zeigen, wie notwendig es ist, vor allem junge Menschen mit der ostdeutschen Geschichte und Kultur sowie der Geschichte und Kultur der deutschen Siedlungsgebiete in den Staaten Ost- und Südosteuropas vertraut zu machen. Meine Damen und Herren, den eindrucksvollsten Anschauungsunterricht für die Notwendigkeit, das Bewußtsein für die Einheit der Nation zu wahren, bietet immer wieder Berlin. Die Mauer, die den einen Teil der Stadt vom anderen und von ihrem natürlichen Umland trennt und die den Menschen in Berlin buchstäblich im Wege steht, macht für jedermann deutlich, daß die Teilung der Stadt - ebenso wie die Teilung Deutschlands und Europas - nicht das letzte Wort der Geschichte sein kann. Die Deutschlandpolitik der Bundesregierung ist deshalb immer auch Politik für Berlin. Es bleibt eine wesentliche Aufgabe, die Freiheit und Lebensfähigkeit des westlichen Teils der Stadt zu wahren und seine Anziehungs- und Ausstrahlungskraft zu fördern - in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Neben dem Engagement der drei Schutzmächte bedarf es dazu einer dynamischen Entwicklung der Bindungen zwischen Berlin und dem Bund. Berlin muß selbstverständlich in die Entwicklung des WestOst-Verhältnisses und insbesondere in die innerdeutschen Beziehungen voll einbezogen werden. Eine Deutschlandpolitik ohne Berlin oder um Berlin herum kann und wird es nicht geben. Ebensowenig darf es Beziehungen der DDR zu Berlin um Bonn herum geben. Nur die für Berlin lebensnotwendigen Bindungen an den Bund gewährleisten, daß die Stadt an der Entwicklung des freien Teils Deutschlands und des freien Europa wie in den vergangenen Jahren voll teilhat. Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, unsere Deutschlandpolitik will Freiheit für alle Deutschen erreichen. Diese Politik braucht Geduld, langen Atem und Beharrlichkeit. Sie braucht aber auch die Begeisterung, die von der Idee der Freiheit ausgeht. Augenmaß und Leidenschaft schließen einander nicht aus. Wir sollten uns ein Beispiel an den Männern und Frauen nehmen, die vor 40 Jahren im Parlamentarischen Rat über unsere Verfassung, das Grundgesetz, berieten - dieses Dokument des Freiheitswillens aller Deutschen, auch jener Deutschen, „denen mitzuwirken versagt war". Die Gründergeneration unserer Bundesrepublik Deutschland konnte uns den Wert und die Würde verantworteter Freiheit zurückgewinnen, weil sie die Kraft aufbrachte, die Last der Geschichte anzunehmen. Sie hat uns damit den Weg in eine Zukunft eröffnet, in der - dessen bin ich sicher - alle Deutschen und alle Europäer eines Tages in gemeinsamer Freiheit vereint sein werden. Es ist unsere Pflicht, meine Damen und Herren, auf diesem Wege und für dieses Ziel gemeinsam zu arbeiten. Es ist ein Werk des Friedens. ({25})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Vogel.

Dr. Hans Jochen Vogel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002379, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Aussprache über Ihre Regierungserklärung vom 10. November 1988, in der Sie, Herr Bundeskanzler, über Ihre Moskau-Reise berichteten, habe ich der Hoffnung Ausdruck gegeben, daß zwischen der Koalition und uns hinsichtlich wichtiger Elemente der Ostpolitik künftig eine gewisse Gemeinsamkeit möglich sei. Ihre heutige Regierungserklärung läßt es als denkbar erscheinen, daß eine solche Gemeinsamkeit auch in bezug auf bestimmte Elemente der Deutschlandpolitik erreicht werden kann; dies deshalb, weil Sie inzwischen nicht nur verbal, sondern auch inhaltlich relevante Teile unserer Deutschlandpolitik, die Sie - und das darf nicht verschwiegen werden - in den 70er Jahren erbittert bekämpft haben, übernommen haben. ({0}) Auf dieser Grundlage sind in den letzten Jahren und Monaten in den Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten, aber auch hinsichtlich der Lebensverhältnisse der Menschen in beiden Staaten, fühlbare und begrüßenswerte Verbesserungen erreicht worden. Einige davon haben Sie genannt, so etwa die erhebliche Zunahme der Besuchsreisen in beiden Richtungen, die gestiegene Zahl von Übersiedlungsgenehmigungen, die wachsende Anzahl von Städtepartnerschaften, den zunehmenden Austausch in Wissenschaft und Kultur, die Verständigung darüber, daß mit der Sanierung der Elbe unabhängig von der Regelung der Grenzfrage begonnen werden kann und die Aufnahme von Verhandlungen über die Verbesserung des Schienentransitverkehrs zwischen Westdeutschland und Berlin-West. Dies alles ist wohlgemerkt nicht deswegen erreicht worden, weil Sie nach 1982 die von Ihnen während Ihrer Oppositionszeit proklamierte Politik der Maximalforderungen und der Konfrontation praktiziert haben, sondern deswegen, weil Sie sich auf den Boden unserer Politik gestellt und nach Ihrem Vermögen versucht haben, die von uns vorgezeichnete Linie fortzusetzen. ({1}) Es wäre nicht unredlich gewesen, Herr Bundeskanzler, wenn Sie das eingeräumt und nicht mit einem in diesem Zusammenhang eher kleinkariert wirkenden Stillschweigen übergangen hätten. ({2}) Übrigens: Im Zusammenhang mit gewissen Gegenleistungen der DDR haben Sie vor kurzem die jährliche Transitpauschale um 335 Millionen DM auf 860 Millionen DM erhöht. Erinnern Sie sich noch, Herr Bundeskanzler, mit welch polemischer Kritik Sie als Opposition auf wesentlich geringere finanzielle Steigerungen zu unserer Zeit reagiert haben? ({3}) Ich will hier nicht darüber rechten, ob die jüngste Erhöhung in jeder Hinsicht angemessen war, obwohl man darüber durchaus in Ehren unterschiedlicher Meinung sein kann. Ich will an diesem besonders überzeugenden Beispiel nur deutlich machen, daß Sie auf diesem Gebiet heute genau das tun, was Sie uns früher vorgeworfen haben. Und ich sage: Erfreulicherweise tun Sie es. ({4}) Ich sagte, Sie seien auf die Linie unserer Deutschlandpolitik jedenfalls in Teilen eingeschwenkt oder bemühten sich doch darum. Diese Bemühungen sind jedoch nach wie vor mit erheblichen Unsicherheiten und Unklarheiten über Ihre Grundposition belastet. Das gilt u. a. für Ihre Haltung in der Grenzfrage. In Moskau haben Sie beispielsweise im März 1985 in einer von Ihnen und Herrn Honecker als Staatsratsvorsitzendem der DDR gemeinsam unterzeichneten Erklärung gerade auch mit Bezug auf die DDR wörtlich erklärt: Die Unverletzlichkeit der Grenzen - auch gegenüber der DDR und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen sind eine grundlegende Bedingung für den Frieden. Dessenungeachtet machen Sie Ihrem Generalsekretär Vorwürfe und pfeifen ihn zurück, weil er kürzlich die Wiederherstellung von Vorkriegsgrenzen - er sprach wörtlich von den Grenzen von 19xy - als illusorisch bezeichnet hat. Herr Bundeskanzler, was gilt denn nun? Worauf können und sollen sich denn in Anbetracht solcher Widersprüchlichkeiten unsere Nachbarn in Europa eigentlich verlassen können? ({5}) - Lieber Herr Kollege Waigel, ich habe nicht die Absicht, Ihre Auseinandersetzung mit Herrn Geißler hier aufzunehmen. Da müssen Sie ihn schon selber fragen. ({6}) - Natürlich gilt für jeden, der unsere Verfassung bejaht, auch die Kompetenz des Bundesverfassungsgerichtes. Darüber brauchen wir doch hier keine Auseinandersetzung zu führen. ({7}) Die gleiche Widersprüchlichkeit ergab sich im übrigen bei der Behandlung Ihres deutschlandpolitischen Papiers. Es enthielt zunächst durchaus realistische Gedanken und unterschied sich dadurch wohltuend von früheren Papieren und früheren Aussagen. Realistisch war insbesondere auch die Feststellung, daß jede Veränderung des Status quo in Mitteleuropa eine positive Haltung unserer Nachbarn voraussetze. Wohl wahr! Als dagegen der rechte Flügel Ihrer Partei protestierte, mußte das Papier auf Ihr Geheiß, Herr Bundeskanzler, geändert werden und ihm außerdem ein Adenauerzitat vorangestellt werden, demzufolge die Wiedervereinigung Deutschlands das vordringlichste - also das allererste und alleroberste - Ziel Ihrer Politik sei. Herr Bundeskanzler, Entschuldigung, das ist doch ein Märchen, mit dem Sie den rechten Rand Ihrer Partei beschwichtigen wollen. Schon für Adenauer war die Integration der Bundesrepublik in das westliche Bündnis, die auch wir seit der historischen Rede Herbert Wehners vom Juni 1960 akzeptiert haben und die wir unbeschadet der Meinungsverschiedenheiten über die richtige Strategie des Bündnisses unverändert bejahen, wichtiger als die Wiedervereinigung. Wo beides miteinander in Konflikt geriet, hat er sich für die Westintegration ausgesprochen und nicht für das, was Sie als vordringlichstes Ziel bezeichnen. ({8}) Adenauer wußte doch ganz genau, daß sich Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung gegenseitig ausschlossen. Und Sie, Herr Bundeskanzler, wissen doch ebenso genau, daß auch heute die Zugehörigkeit der beiden deutschen Staaten zu ihren jeweiligen Bündnissen mit ihrer Vereinigung oder gar mit der Wiederherstellung des Deutschen Reiches in den Grenzen von 1937 unvereinbar ist. Das ist doch die Realität. Warum wird sie nicht ausgesprochen? ({9}) Meine Damen und Herren, es fällt mir schwer, Herrn Geißler in irgendeinem Punkt zuzustimmen. Aber er hat doch recht, wenn er eben dies klipp und klar ausspricht und damit der Meinung des Herrn Kollegen Dregger entgegentritt, es müsse und werde eine Anknüpfung an das Bismarckreich geben, und das ganze Problem reduziere sich darauf, wie sich der Anschluß der DDR an die Bundesrepublik vollziehen lasse und eines Tages vollziehen werde. Dies sind doch gegensätzliche Positionen. ({10}) Wahr ist demgegenüber: Keiner von uns weiß - und da stimme ich dem Bundeskanzler zu - , welche Antwort die Geschichte auf die Frage der deutschen Teilung bereithält. Die Präambel des Grundgesetzes - um auch den Zwischenruf von Herrn Kollegen Waigel noch einmal aufzunehmen - läßt durchaus auch eine Antwort im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu, einer Ordnung, die die Grenzen durchlässiger macht, Feindbilder überwindet, die individuellen und die sozialen Menschenrechte stärkt und den Deutschen ohne Rücksicht auf ihre staatliche Organisation erlaubt, sich weiterhin als Glieder ein und derselben Geschichts-, Kultur-, Sprach- und Gefühlsgemeinschaft, also einer Nation - dies sind nämlich die konstituierenden Elemente des Nationenbegriffes - , zu verstehen, innerhalb deren unterschiedliche Gesellschaftsordnungen miteinander im friedlichen Wettbewerb stehen. ({11}) Übrigens ist die Frage der Nation ja auch im Grundlagenvertrag festgehalten worden, und der Grundlagenvertrag ist als Vertrag internationaler Qualität jeder innerstaatlichen Regelung übergeordnet. Meine Damen und Herren, die DDR kann die Nation nicht abschaffen, wir auch nicht, und wir wollen es auch nicht. Das ist der Kern dessen, was uns das Grundgesetz zu bewahren aufgibt. ({12}) Das ist zugleich eine realistische Perspektive für die Zukunft und keine irreale Flucht in die Vergangenheit. Es ist die Voraussetzung dafür, daß die Selbstbestimmung der Deutschen auch in der DDR zunimmt. Das, glaube ich, ist doch unser gemeinsames Ziel. ({13}) Das Streit- und Dialogpapier, das in einem langen und nicht einfachen Prozeß von Mitgliedern meiner Partei und Repräsentanten der SED erarbeitet worden ist, zielt in diese Richtung. Es verwischt keine Unterschiede; es verdrängt nicht die Opfer, die in den Jahren der Zwangsvereinigung und im Widerstand ge- gen den Stalinismus gerade vom Sozialdemokraten gebracht worden sind. ({14}) Aber es setzt Maßstäbe, an denen sich die Realität in beiden deutschen Staaten messen lassen muß. Es setzt etwa den Maßstab, daß die offene Diskussion über die Erfolge und Mißerfolge der unterschiedlichen Systeme innerhalb jedes Systems ebenso möglich sein muß wie die Reform der Systeme auf Grund solcher Diskussionen oder daß der umfassenden Information der Bürger in Ost und West eine wachsende Bedeutung zukommt und daß deshalb die wechselseitige Verbreitung von periodisch und von nicht periodisch erscheinenden Zeitungen und gedruckten Veröffentlichungen erleichtert werden muß. Ich räume allerdings freimütig ein, daß bei der Formulierung dieser Sätze wohl nicht daran gedacht worden ist, daß wir dies nun auch für die Verbreitung sowjetischer Druckerzeugnisse in der DDR einfordern müssen. ({15}) Aber auch dafür erweist sich dieses Papier als ein durchaus nützlicher Beurteilungsmaßstab, bei dem wir uns auf die Unterschrift beider Seiten berufen können. ({16}) - Mein Gott, nun schlafen Sie doch so weiter, wie Sie bei der Erklärung des Bundeskanzlers geschlafen haben. ({17}) - Ich finde es bemerkenswert, daß Sie immer erst gegen 10 Uhr aufwachen; das ist zu spät. ({18}) - Das, was Sie gerade machen, ist nicht gut für Ihren Kreislauf. Sie sind ein seltener Gast, und da Sie so selten hier sind, regen Sie sich nicht so stark auf! ({19}) Frau Präsidentin, darf ich in meiner Rede jetzt fortfahren? ({20}) - Jawohl, Herr Professor. Das sind wesentliche Elemente unserer Deutschlandpolitik. Wenn es zu einer breiteren Übereinstimmung kommen soll, dann müssen Sie Ihre Grundpositionen in diesen Fragen alsbald klären. Vor allem muß deutlich werden, daß Sie den Auffassungen, die vor allem von Herrn Kollegen Dregger in diesem Zusammenhang vorgetragen werden, nicht folgen. Tun Sie das und nähern Sie sich unserem Konzept auch im Grundsätzlichen, dann sind weitere substantielle Fortschritte möglich. Dann können wir die Chancen der systemöffnenden Zusammenarbeit kraftvoll und verantwortlich nutzen, um es mit den Worten des Herrn Bundespräsidenten zu sagen. Zu diesem Zweck sollten Sie die Aufnahme offizieller Beziehungen zwischen der Volkskammer und dem Deutschen Bundestag nicht weiter hinauszögern, sondern alsbald zum Abschluß bringen. ({21}) - Nun laßt ihn doch. Ich finde es ungeheuer belebend, wie er gegen Auffassungen, die in seiner eigenen Partei ständig an Boden gewinnen, hier protestiert. Ich meine, das ist doch anschaulich. ({22}) Ich appelliere dabei besonders an die neu gewählte Bundestagspräsidentin, an Sie, sehr geehrte Frau Süssmuth. Sie sind auch deshalb mit großer Mehrheit gewählt worden, weil nicht wenige in diesem Haus von Ihnen Selbständigkeit und Eigeninitiative gerade in den Dingen erhoffen, bei denen es sich um die ureigensten Angelegenheiten des Parlaments handelt und bei denen das Parlament bei Entscheidungen nicht der Zustimmung anderer Verfassungsorgane bedarf. Die Union sollte die Regelung der Elbegrenze nicht länger blockieren. Ich meine, man sollte auch darauf verzichten, die Existenz der Erfassungsstelle in Salzgitter zum Gesinnungsprüfstein zu machen. Es ist auch an der Zeit, ein Luftverkehrsabkommen in Angriff zu nehmen, das den heutigen Realitäten und Verkehrsbedürfnissen im Herzen Europas entspricht. Der Zustand, daß die Flugzeuge der beiderseitigen Fluggesellschaften das Gebiet des jeweils anderen Staatds im Norden oder Süden in weitem Bogen umfliegen, ist unnatürlich und überholt. ({23}) Natürlich müssen dabei die Interessen Berlins berücksichtigt und die Rechte der Alliierten gewahrt werden. Der Weg zu solchen Verhandlungen ist inzwischen von Moskau und Ost-Berlin geöffnet worden; er sollte beschritten werden. Notwendig ist weiter, daß beide deutsche Staaten miteinander über konkrete Abrüstungsinitiativen reden, die sie innerhalb ihrer Bündnisse in voller Loyalität zu diesen einleiten oder unterstützen können. Wir haben dafür in Gesprächen mit der DDR-Führung, über die Sie jeweils laufend unterrichtet worden sind, den Boden bereitet. Eine Begegnung zwischen Herrn Scholz und dem DDR-Verteidigungsminister Keßler wäre dafür ein weiterer nützlicher Schritt. Sie sollten ihn nicht durch Streitigkeiten darüber verzögern, an welchem Ort und in welcher Kleidung Herr Keßler an dieser Begegnung teilnimmt. ({24}) Immerhin ist ein französischer Ministerpräsident vor nicht allzu langer Zeit mit Herrn Hoffmann, dem Vorgänger von Herrn Keßler, der dabei seine Dienstkleidung trug, in Berlin, im Ostteil der Stadt, zusammengetroffen, ({25}) ohne daß dadurch der Status von Berlin irgendeinen Schaden erlitten hätte. Es ist nicht notwendig, daß wir alliierter tun als die Alliierten selber. ({26}) Was auf kulturellem und wirtschaftlichem Gebiet geschehen sollte, ist zwischen uns im wesentlichen unstreitig; ich brauche es daher nicht im einzelnen aufzuzählen. Ich erinnere jedoch an den gemeinsamen Beschluß aller Fraktionen des Deutschen Bundestags vom 9. Dezember 1987, bei der ins Auge gefaßten Einsetzung einer gemischten Wirtschaftskommission deren Arbeit so zu gestalten, daß die bewährten Aktivitäten der Treuhandstelle für Industrie und Handel, die Berlin ({27}) in vollem Umfang einschließen, nicht beeinträchtigt werden. Das gilt auch für die Wahl der Orte, an denen diese Kommission zusammentritt. Auch auf anderen Gebieten muß Berlin voll - da stimme ich mit Ihrer entsprechenden Passage überein - in die Bemühungen um engere Kontakte in den West-Ost-Beziehungen und einen intensiveren Austausch einbezogen werden. Gerade in einer Zeit, in der die europäische Einigung im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft voranschreitet und immer häufiger vom gemeinsamen europäischen Haus die Rede ist, ergeben sich unseres Erachtens für Berlin neue und ermutigende Perspektiven. Der bisherige Nachteil einer Randlage kann sich zum künftigen Vorteil einer zentralen Lage im Herzen Europas, und zwar an der Stelle wandeln, an der sich zwei europäische Teilregionen begegnen und eines UmschlagplatDr. Vogel zes, ja eines Scharniers, bedürfen. Dies ist die Perspektive für Berlin. ({28}) Aus dem Ort der Konfrontation kann so ein Ort der Begegnung, ja des Miteinanders werden, eines Miteinanders, das auf besondere Weise auch die Schutzmächte und die Sowjetunion einschließt. Der Berlin-Status braucht dem ebensowenig entgegenzustehen wie die inzwischen erfreulicherweise auch vom Berliner Senat anerkannte Tatsache, daß der Ostteil der Stadt für die DDR faktisch seit langem Hauptstadtfunktionen wahrnimmt. Die Anerkennung der Realitäten ist für jede sinnvolle Politik eine notwendige Voraussetzung. Für die Deutschlandpolitik gilt das im besonderen Maße, und zwar in jeder Hinsicht. Zu den Realitäten gehört auch, daß sich die DDR gegenwärtig in einer für ihre Führung ungewöhnlich schwierigen Phase befindet. Daß die materiellen Lebensbedingungen trotz aller Anstrengungen und nicht zu übersehender Fortschritte in der DDR auf vielen Gebieten hinter den materiellen Lebensbedingungen in der Bundesrepublik zurückbleiben, ist der dortigen Führung ebenso seit langem bewußt wie die Tatsache, daß die meisten DDR-Bürger mehr Pluralismus, mehr individuelle Freiheit und mehr Mitwirkungsmöglichkeiten wünschen. Und die DDR-Führung weiß wohl auch um die Sogwirkung, die deshalb von der Bundesrepublik auch für solche Menschen ausgeht, die an sich gerne in ihrer angestammten Heimat bleiben würden und sich mit ihrem Staat durchaus identifizieren möchten. Neu ist jedoch, daß auf Grund der Gorbatschowschen Reformpolitik ein Veränderungsdruck auch von der Sowjetunion ausgeht, und zwar in einem Maße, daß repressive Maßnahmen nicht mehr allein gegen westliche Medien und ihre Repräsentanten oder gegen Medien im eigenen Lande - etwa gegen Kirchenzeitungen - , sondern jetzt auch gegen sowjetische Zeitschriften und - weniger beachtet - gegen sowjetische Filme ergriffen werden - ein Vorgang, der noch vor kurzem als undenkbar erschienen wäre und der eher Unsicherheit als Selbstbewußtsein verrät. ({29}) Es ist eine Sache, diese Vorgänge zu kritisieren. Das tun wir ebenso wie - nach meinem Eindruck - alle Fraktionen dieses Hauses, und zwar da, wo es geboten ist, auch mit deutlichen Worten. Eine andere Sache ist es, sich so zu verhalten, daß die reformwilligen Kräfte im anderen deutschen Staat gestärkt werden, jene Kräfte, die wissen, daß die Bürgerinnen und Bürger eines auch technologisch entwickelten Industriestaates im Herzen Europas, die über das, was um sie herum vorgeht, genau im Bilde sind, nicht auf Dauer im Zustand einer beschränkten Mündigkeit gehalten werden können, ({30}) sondern daß diese Menschen ein höheres Maß an Selbstverantwortung und Entfaltungsmöglichkeit verlangen, und die wissen, daß die Erfüllung dieser Wünsche die Stabilität der DDR, ihr internationales Gewicht und das Selbstbewußtsein ihrer Gesellschaft nicht mindern, sondern heben und festigen würde. ({31}) So sehr man auch gelegentlich die Versuchung spürt: Wir können eine solche Entwicklung weder durch Konfrontation noch durch Destabilisierung fördern, sondern nur durch einen Kurs, der Offenheit mit kluger Beharrlichkeit verbindet - und das auch in unserem eigenen Interesse! ({32}) Denn nicht billiger Triumph, vielmehr Rückschläge und Gefahren von schwer zu überschauender Tragweite kämen auf uns zu, wenn die Gorbatschowsche Reformpolitik scheitern oder die Situation in der DDR unkalkulierbar werden würde. ({33}) Und da hängt, meine Damen und Herren, vieles mit vielem zusammen. ({34}) Nicht laute Parolen, nicht selbstgefällige Zurechtweisungen oder gar Rückfälle in den Sprachgebrauch des Kalten Krieges ({35}) sind deshalb das Gebot der Stunde, sondern der verantwortungsbewußte Umgang mit den realen Gegebenheiten, die nur durch behutsames Herangehen, nicht durch Vergrößerung der Distanz oder gar Konfrontation und erst recht nicht durch Wunschdenken beeinflußt werden können. ({36}) Ein vernünftiges deutschlandpolitisches Zusammenwirken der Kräfte in diesem Hause wäre dafür von Nutzen. ({37}) Es wäre übrigens auch das, was die Menschen im anderen deutschen Staat dringend von uns erwarten. ({38}) Ich habe deutlich gemacht, auf welcher Grundlage wir, die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, zu einer solchen Zusammenarbeit bereit sind. Ich danke Ihnen. ({39})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Lintner.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der jährliche Bericht zur Lage der Nation ist traditionsgemäß Anlaß, in der Deutschlandpolitik Bilanz zu ziehen, aber nicht nur bei der Bun8104 desregierung, Herr Kollege Dr. Vogel, sondern beispielsweise auch bei der Opposition. Doch darauf werde ich später noch zu sprechen kommen. Die Bilanz der Bundesregierung, meine Damen und Herren, kann sich auch diesmal wieder durchaus sehen lassen. Wir können heute feststellen: Die deutsche Frage findet sichtbar mehr Interesse als früher, und sie kann wieder mit ernsthafter Aufmerksamkeit in Ost und in West rechnen. ({0}) Zentrale deutschlandpolitische Themen, wie die Frage der Wiedervereinigung, stoßen auf eine wachsende Resonanz. So ist zum Beispiel in der Bundesrepublik mittlerweile eine konstruktive Debatte über Wege und Schritte zur Wiedervereinigung in Gang gekommen. ({1}) Die klaren deutschlandpolitischen Bekenntnisse auch höchster Repräsentanten unserer westlichen Verbündeten bei Besuchen in Berlin und in der DDR und auch gegenüber Besuchern aus der DDR sind allein ein Ergebnis der Tatsache, daß die jetzige Bundesregierung die Forderung nach Wiedervereinigung der Welt mit sichtbar mehr Nachdruck und erkennbar größerer Ernsthaftigkeit vorträgt, als dies früher der Fall war. Besonders deutlich wurde dies kürzlich daran, wie Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Treffen mit dem Generalsekretär Gorbatschow in Moskau offen, klar und ohne Scheu die Lösung der deutschen Frage gefordert hat. ({2}) - Herr Schily, Sie kennen ja die Sachverhalte, ({3}) ich brauche sie Ihnen ja nicht in Erinnerung zu rufen. Es sind Tatsachen, keine Meinungen. Aber auch das Interesse der Sowjets an Abrüstung hat bis heute zu keiner konkreten, nachweisbaren Chance für die Wiedervereinigung geführt. Ich stelle das deshalb fest, weil es zu keiner neuen Legende von einer angeblich aus Kleinmut verpaßten Chance zur Wiedervereinigung kommen darf; denn darauf spekulieren so manche politischen Gruppierungen im Lande. Im Mittelpunkt unserer Deutschlandpolitik - das hat der Bundeskanzler hier ja erneut klar und deutlich festgestellt - steht das Selbstbestimmungsrecht, ein im Völkerrecht verankertes, allgemein anerkanntes Menschenrecht, das keinem gegen seinen Willen geteilten Volk der Erde verweigert werden kann, so auch nicht dem deutschen Volk. Die Bundesregierung ist deshalb gut beraten, wenn sie dieses Anliegen - das ist auch ein Unterschied zu früher - mit großer Selbstverständlichkeit und nachdrücklich als eine ganz natürliche Forderung überall in der Welt vertritt. ({4}) Auch die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Frau Süssmuth, hat dafür, wie ich meine, vor kurzem bei einer Konferenz in Warschau ein gutes Beispiel gegeben. ({5}) Alle Vorschläge und Überlegungen, speziell dem deutschen Volk wegen seiner Geschichte diesen natürlichen Anspruch absprechen zu wollen, wie das unter anderem vom Herrn Kollegen Professor Heimann in einem Grundsatzpapier vom Sommer letzten Jahres getan worden ist, empfehlen den Deutschen die Anormalität. ({6}) Daß es also gelungen ist, aller Welt, darunter auch der Sowjetunion, nahezu bringen, daß es auf Dauer nicht gelingen kann, natürlicherweise Zusammengehöriges zu trennen, das ist einer der wichtigsten Erfolge der Deutschlandpolitik unserer Bundesregierung und speziell des Einsatzes des Herrn Bundeskanzlers. ({7}) Das sind, ebenso wie das Bemühen um die Stärkung des Bewußtseins der Einheit bei den Deutschen selbst, Elemente einer echten Konzeption und nicht nur von der aktuellen Situation eingegebene rein pragmatische Handlungen. Die SPD - jetzt komme ich auf Ihre Bilanz, Herr Dr. Vogel - hat es, glaube ich, nötig, selbst einmal kritisch eine Bilanz ihres deutschlandpolitischen Zustands zu ziehen. ({8}) Dies schon deshalb, weil gerade in den letzten Tagen zu Gegensätzliches an Standpunkten aus den Reihen der SPD bekannt geworden ist. So spricht zum Beispiel Egon Bahr von der „Illusion der Wiedervereinigung". Er tut sie wörtlich als „Quatsch" ab, nennt sie „objektiv und subjektiv Lüge", „Heuchelei, die uns und andere vergiftet", „politische Umweltverschmutzung". Das sind alles wörtliche Zitate aus den letzten Tagen, Äußerungen Ihres Fraktionskollegen. ({9}) Was ich, Herr Dr. Vogel, für den Gipfel des Zynismus halte, ist, daß er öffentlich Verständnis für den Schießbefehl geäußert hat, wie in der Presse zu lesen war. ({10}) - Doch, das hat er getan, lesen Sie es nach. Er hat gesagt, die Leitern wären am nächsten Tag ausverkauft, wenn ... So war er in der Presse zitiert worden. Ich habe bis heute kein Dementi gelesen. ({11}) Schon die Weigerung der Bundesregierung, eine verfassungswidrige konstitutive Vereinbarung mit der DDR über den Verlauf der Grenze an der Elbe zu treffen, ruft heutzutage Kritik bei der SPD hervor. Und ihr Vize Lafontaine - das kennen Sie ja - zieht ausländische Asylanten den deutschen Aussiedlern vor, ({12}) nennt die gegenteilige Auffassung gar „Deutschtümelei". Das alles, meine Damen und Herren, wird dann zwar von dem einen oder anderen in der SPD lustlos mehr oder weniger abgeschwächt, aber was eigentlich für die SPD gilt, das wird immer unklarer. Und auch Sie haben mit Ihren Ausführungen nicht zur Klarheit beigetragen. Die SPD hat offenbar - das ist meine Vermutung - längst dem Ziel der Wiedervereinigung innerlich abgeschworen. Sie scheut sich nur, das auch öffentlich zuzugeben. Auch dafür ist der Herr Bahr bekanntermaßen ein Spezialist. Dauernd fordern Sie von der Bundesregierung konkrete Schritte, Schritte, die letztlich gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verstoßen würden. Die SPD tritt dabei vielfach, leider, muß ich feststellen, als Anwalt der SED und nicht des Wiedervereinigungsgebotes des Grundgesetzes auf. ({13}) Dabei ist es der Bundesregierung ohne Abkehr von Grundsätzen gelungen, die DDR-Führung beispielsweise wieder von dem unsinnigen Junktim zwischen der Elbe-Grenze und Maßnahmen gegen die Elbeverschmutzung abzubringen. Obwohl die Bundesregierung beispielsweise auch in Sachen Erfassungsstelle Salzgitter festgeblieben ist, wurde der Schießbefehl für die DDR-Grenzorgane offensichtlich modifiziert.

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Herr Lintner, gestatten Sie eine Frage des Abgeordneten Schily?

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte schön, Herr Schily.

Otto Schily (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001970, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege, weil Sie jetzt so um Klarheit ringen, wäre ich Ihnen dankbar für die Beantwortung der Frage, ob nach Ihrer Vorstellung ein wiedervereinigtes Deutschland Mitglied der NATO bleiben würde.

Eduard Lintner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001351, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Schily, Sie kennen die Vorstellungen, die wir vertreten, sehr genau aus verschiedenen Podiumsdiskussionen. Sie wissen, daß für uns die Vorstellung von Wiedervereinigung vor allem im Selbstbestimmungsrecht der Deutschen mündet. Das heißt, die Deutschen müssen sich in freier Willensentscheidung erklären können, wie sie sich staatlich organisieren wollen. Ich sehe darin keinen Zusammenhang mit der jetzt von Ihnen gestellten Frage. ({0}) All das, meine Damen und Herren, hätte die Bundesregierung, wäre sie den ständig wiederkehrenden Aufforderungen der SPD gefolgt, längst zugestehen sollen, ohne daß die SPD je von der DDR-Führung irgendwelche Zugeständnisse dafür verlangt hätte. ({1}) - Meine Damen und Herren, da brauchen Sie nicht beleidigt zu sein. Es ist objektiv einfach so: Die Opposition erschwert der Bundesregierung das deutschlandpolitische Geschäft nach Kräften, indem sie dauernd Vorleistungen verlangt, anstatt mit uns, mit der Bundesregierung die DDR-Führung nachhaltig zu mehr Rechtlichkeit und inneren Reformen zu mahnen. ({2}) Herr Dr. Vogel, Ihr gemeinsames Papier mit der SED ({3}) hat vor einigen Tagen - das werden Sie ebenfalls zur Kenntnis genommen haben - der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als „überflüssig", gar als „schädlich" bezeichnet. ({4}) Davon haben Sie in Ihrem Vortrag eben aber nichts gesagt. Wir alle, meine Damen und Herren, würden uns natürlich wünschen, daß die Bundesregierung in den innerdeutschen Beziehungen noch mehr hätte erreichen können. Einige Beispiele für Unerledigtes hat der Bundeskanzler bereits aufgeführt. Lassen Sie mich noch einiges hinzufügen. Ich meine, daß auch die Öffnung der sogenannten Sperrbezirke entlang der DDR-Seite der Grenze für Besucher aus dem Westen hinzukommen muß. ({5}) Ich meine auch, daß die DDR-Seite bereit sein sollte, weitere Landstriche und Städte in den grenznahen Verkehr einzubeziehen. ({6}) Auch die Art und Weise, wie die DDR-Führung seit einiger Zeit die kirchlichen Presseorgane behandelt, aber auch wie sie mit unseren Journalisten und Korrespondenten in der DDR umgeht, muß als Rückschlag im Vergleich zum schon Erreichten bezeichnet werden. ({7}) - Das ist auch nicht sein Anliegen. Zu den negativen Entwicklungen gehört auch die härtere Gangart des Regimes gegenüber der eigenen Bevölkerung, das Verhaften und Einsperren politisch Andersdenkender, der rücksichtslose Machteinsatz bei jeder noch so geringen Kritik - siehe etwa die Entfernung von vier minderjährigen Schülern von einer Oberschule - das Vertriebsverbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik", die Absetzung sowjetischer Filme, der dem Jugend- und Kulturklub verordnete Maulkorb in Sachen „Glasnost" und „Perestroika". Das alles, meine Damen und Herren, paßt überhaupt nicht zu den ständigen Beteuerungen der DDR-Führung, es zu keiner Beschädigung der innerdeutschen Beziehungen kommen zu lassen. Die Bundesregierung hat - das muß man ihr bestätigen - mit Besonnenheit darauf reagiert, aber die Beschädigung der innerdeutschen Beziehungen tritt schon dann ein, wenn unsere Öffentlichkeit, d. h. wenn nach Meinung unserer Bevölkerung Hilfeleistungen und politisches Entgegenkommen gegenüber der DDR nicht mehr gerechtfertigt sind, weil es der DDR-Führung ganz offensichtlich am guten Willen zur Weiterentwicklung der Beziehungen in Richtung guter Nachbarschaft fehlt. Das senkt dann nämlich die Akzeptanzschwelle für deutschlandpolitische Maßnahmen beim Bürger, und damit schrumpft ganz zwangsläufig auch der Handlungsspielraum der Bundesregierung. Konkret heißt das, meine Damen und Herren: Auch der Geduldsfaden unserer Deutschlandspolitik ist nicht uferlos belastbar. Die DDR kann sich auch nicht gegen Reformen und Neuerungen auf Dauer völlig verschließen, die von fast allen übrigen kommunistischen Staaten als geradezu unabänderlich und überlebensnotwendig anerkannt worden sind. Die arrogante Feststellung - die im übrigen durch nichts gerechtfertigt ist - der Altherrenriege, in der DDR seien Reformen nicht nötig, ist eine zu augenscheinliche Notlüge, als daß sie ernsthaft als berechtigt akzeptiert werden könnte. ({8}) Dabei ist die Bundesregierung erkennbar bemüht, der DDR-Führung stabile innerdeutsche Rahmenbedingungen zu bieten. Aber damit soll eben ein Mehr an Menschenrechten ermöglicht und gezielt der Bevölkerung geholfen werden. Die Rigidität des Regimes und auch seine Brutalität gegenüber den eigenen Leuten müssen diese Stabilität auf Dauer gefährden. Meine Damen und Herren, ein Vorwurf - so z. B. von Herrn Maetzke am Montag in einem ,,FAZ"-Kommentar erhoben - kann der Bundesregierung im Ernst nicht gemacht werden, nämlich der Vorwurf, daß sie das eigentliche Ziel - die Wiedervereinigung - geopfert habe. Dieses Ziel ist für uns - Bundeskanzler Helmut Kohl, aber auch mein Parteivorsitzender Theo Waigel und andere haben es immer wieder betont - politisch und rechtlich ohne Abstriche gültig und verbindlich. ({9}) Damit ist geradezu zwangsläufig natürlich auch die Existenz der Bundesrepublik, aber auch der DDR in Frage gestellt. Sie gehen womöglich in einem neuen deutschen Gesamtstaat auf. Das ist aber nur eine logische Folge der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht. Darüber muß sich natürlich auch die SED im klaren sein. Zweifel an dieser Komponente der Deutschlandpolitik, wie sie in diesem Kommentar geäußert worden sind, sind unberechtigt, auch wenn darauf nicht ständig hingewiesen wird. Meine Damen und Herren, konkrete Ansatzpunkte für eine vernünftige Zusammenarbeit bieten sich u. a. bei Verkehrsfragen, beim Umweltschutz, in Wissenschaft und Technik, bei der Lehrlings- und Studentenausbildung und auch in der Landwirtschaft. Die DDR ist auf diese Zusammenarbeit im übrigen dringendst angewiesen, denn auch die Deutschen in der DDR verlangen mehr von ihrer politischen Führung. Sie sind damit unzufrieden, daß beispielsweise praktisch nichts Wesentliches gegen die extreme Umweltverschmutzung in ihrem Land getan wird. ({10}) Ein nach wie vor sehr schwieriges Kapitel - der Bundeskanzler hat es offen angesprochen - ist trotz steigender Zahlen die Familienzusammenführung und vor allem auch die Behandlung derjenigen geblieben, die einen Antrag auf Übersiedlung gestellt haben. Es liegt natürlich nicht in unserem Sinne, meine Damen und Herren, unsere deutschen Landsleute in der DDR zu ermuntern, die DDR zu verlassen. Aber diejenigen, die aus Verzweiflung über ihre Rechtlosigkeit, über die Willkür der Organe, wegen der mangelnden Freiheit oder der Perspektivlosigkeit den schweren Weg der Übersiedlung eingeschlagen haben, müssen von den zuständigen DDR-Stellen korrekt, d. h. gemäß den internationalen Vereinbarungen behandelt werden. ({11}) Meine Damen und Herren, im übrigen ist die DDR-Regierung natürlich selbst verantwortlich dafür, daß die Schlange der Antragsteller nicht abreißt. ({12}) Die Tatsache, daß nach der Antragstellung jede positive Perspektive für die Betroffenen und sogar noch für ihre Kinder in der DDR verlorengeht, zwingt die Antragsteller, geradezu eisern an ihrem Ausreisewillen festzuhalten. ({13}) Meine Damen und Herren, die Deutschlandpolitik besteht nicht nur aus den innerdeutschen Beziehungen. Auch die Ostgebiete und das Schicksal der Deutschen in den Siedlungsgebieten im Ostblock gehören dazu. Der Kollege Dr. Czaja wird sich dazu eingehend äußern. Der Bericht zur Lage der Nation darf, obwohl er jährlich wiederholt wird, nicht zur bloßen Routine werden. Er bietet die Chance - für Regierung wie für die Opposition - , das Erreichte auch kritisch zu bilanzieren, Mißverständnissen wirksam entgegenzutreten, Klarheit über den grundsätzlichen und praktischen Kurs zu schaffen und die Hoffnung für die Lösung der deutschen Frage zu stärken. Diese Aufgaben hat die Bundesregierung in ihrer Bilanz voll erfüllt. Sie kann in vollem Umfang in Anspruch nehmen, daß sie diesen Anforderungen gerecht geworden ist. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung für die Umsicht, die sie dabei an den Tag legt und gelegt hat, und ermuntert sie, auf diesem eingeschlagenen Weg aktiv weiterzugehen. ({14})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Lippelt.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im nächsten Jahr sollen nach dem Willen der Bundesregierung landauf, Dr. Lippelt ({0}) landab 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland gefeiert werden. Die DDR wird Ähnliches tun. Heute aber debattieren wir über die Lage der Nation. Welcher Nation eigentlich? ({1}) Staatsnation BRD, Staatsnation DDR, Kulturnation Deutschland - man unterscheidet gelegentlich zwischen Staatsnation und Kulturnation - oder jene historische Nation, die 1945 endete? Nationen sind keine Naturtatsachen. Sie definieren sich nicht über gemeinsame Sprache, wie Völker es tun. Sie definieren sich über gemeinsame Geschichte. Sie sind auf komplizierte Art und Weise historisch entstanden, und sie können historisch auch wieder verwirkt werden. Was zählt also? Die gemeinsame Geschichte endet in zwölf Jahren Faschismus, in der Zerstörung Europas, insbesondere in der Zerstörung jenes gemischt-völkischen Zusammenlebens, das einstmals Osteuropa war. Oder zählen die 40 Jahre paralleler Geschichte, hier als Bundesrepublik, dort als DDR? Über die Lage der Nation zu sprechen heißt deshalb auch, über eine historische Fiktion zu sprechen. Und doch sind natürlich die beiden Staaten, die sich jetzt anschicken, je den 40. Geburtstag zu feiern, auf vielfältige Art aufeinander bezogen. Nur, sie haben ihren eigenen Weg gemacht, sie haben ihre eigenen Gesellschaften ausgeformt. Zu debattieren ist deshalb erstens über die Lage der Bundesrepublik, zweitens über die der DDR und drittens über die Beziehungen dieser beiden Staaten zueinander. Erstens. Die Lage der Bundesrepublik definiert sich heute weit mehr aus ihren Beziehungen zu den Staaten Westeuropas, insbesondere zu Frankreich, als eben aus den Beziehungen zur DDR. Wir werden in einigen Stunden über den Versuch debattieren, den deutsch-französischen Beziehungen eine neue Qualität zu geben. Bemerkenswert ist es schon, daß gerade diejenigen, die immer so schnell das Wort von der Wiedervereinigung im Munde führen, so gedankenlos die Westintegration betreiben. Wie erklären Sie diesen Widerspruch eigentlich? Stehen Sie damit nicht in derselben Kontinuität des Irrtums, die auf Adenauer zurückgeht, der meinte, über die Westintegration die Frage der Wiedervereinigung lösen zu können? Oder ist es nicht vielleicht auch eine Kontinuität der Augenwischerei, weil Sie es im Grunde genauso wissen, wie es damals Adenauer wußte, daß sich beides ausschließt? Es sei denn, Sie setzen auf eine Abenteuerpolitik, auf die Politik, über die Stärke im Westen die Wiedervereinigung erzwingen zu können oder sie jetzt über ökonomische Stärke aus einer eventuellen Konkursmasse herausholen zu können. Zweitens. Über die Lage der DDR ist in der Tat im Kontext der Lage in den sogenannten realsozialistischen Staaten zu sprechen. Da erleben wir doch gegenwärtig eine Phase des Aufbruchs in der Sowjetunion. Gorbatschows Politik hat Kräfte freigesetzt, die auf eine ehrliche Bilanz und einen fundamentalen Neubeginn setzen. Trotz aller Skepsis wegen der autoritären Züge von Gorbatschows Reform von oben wünschen wir alle, daß dieses Reformwerk gelingen möge. Angesichts der Auseinandersetzungen in der Sowjetunion sind auch die Widersprüche zwischen den Staaten des RGW in Osteuropa und innerhalb dieser Länder schroffer zutage getreten. Während Ungarn sich um tiefgehende Reformpolitik bemüht, die CSSR und Bulgarien sich auf wirtschaftliche Reformen beschränken wollen und alles tun, um Kräfte, die auch auf politische Reformen drängen, zu isolieren, während in Polen Rakowski die anstehende Legalisierung der „Solidarnosc" immer wieder neu zu umgehen versucht, hat sich die DDR mehr und mehr zu einem Kurs der Abschottung von den aus der Sowjetunion kommenden Reformen entschlossen. Da wird die Zeitschrift „Sputnik" genauso verboten wie die Aufführung sowjetischer Filme und die „Budapester Rundschau". Die Abschottung von Reformeinflüssen aus dem eigenen Lager geht notwendigerweise mit einer Verschärfung der Kontrolle der Gesellschaft einher: Kirchliche Zeitschriften werden zensiert, da werden - ähnlich wie schon einmal im Februar - Leute, die sich für die Zustände im Lande, das sie als ihre Heimat begreifen, engagieren, gegen ihren Willen in die Bundesrepublik abgeschoben. Da werden Schüler, die sich gegen Militarismus aussprechen, wegen pazifistischer Grundhaltung relegiert. Die Politik der Perestroika in der Sowjetunion, in Polen, in Ungarn geht nicht nur um die Fragen der Reorganisation der Wirtschaft, sie geht im Kern um das Rearrangement der gesellschaftlichen Kräfte, sie geht um Verfassungsreformen. Wir haben es längst aufgegeben, unsere Gesellschaft kontrollieren zu wollen, sagte ein polnischer Parteifunktionär. Genau auf diese gesellschaftliche Kontrolle aber meint die Regierung der DDR nicht verzichten zu können. Kräfte politischer Reformen werden innerhalb von Regierung und Partei auch nicht erkennbar. Das ist ähnlich wie in der CSSR. In beiden Fällen hat das seine Gründe nicht nur in der Altersstruktur der Führung. Die Tschechoslowakei hat das Trauma des Prager Frühlings aufzuarbeiten, die DDR aber lebt aus der antifaschistischen Gründung. Sie hat - anders als die Bundesrepublik - gemeint, in bewußter und konsequenter Abkehr von einer faschistischen nationalen Vergangenheit neu anzufangen. Deshalb geht die Stalinismus-Diskussion, so wie „Sputnik" sie jetzt zugänglich macht, so sehr an die Wurzeln ihrer staatlichen Legitimation. Das ist nichts, worüber wir Schadenfreude empfinden könnten; denn in der Tat: Die Bundesrepublik hat sich nie einer so radikalen Aufarbeitung der Vergangenheit gestellt, wie die sowjetische Gesellschaft es tut. ({2}) Aber natürlich muß gesehen werden, daß die DDR und beispielsweise Polen sich genau an dem Punkte unterscheiden, daß in der DDR das Tiefenbewußtsein einer nationalen Geschichte, auf das sich Polen auch in der schwersten wirtschaftlichen Krise immer noch Dr. Lippelt ({3}) stützen kann, fehlt. Die Freigabe der Gesellschaft vom Staat, von der Partei, nötig für eine wirksam durchgreifende Perestroika, ist ein Problem, mit dem die Herrschenden nicht fertig werden. Die Tragik ist, daß sie sich gerade gegen jene Kräfte wenden, die sich für eine lebenswertere Perspektive in dieser DDR einsetzen. Drittens. Erst hiernach, erst nach einer solchen Analyse, können wir nun über die deutsch-deutschen Beziehungen sprechen. Vordergründig betrachtet kann die Bundesregierung zu Recht auf mehr Besuchsreisen - der Herr Bundeskanzler hat es getan - und auf einen Ausbau der kulturellen Beziehungen hinweisen. Aber die Kernfrage lautet doch: Wie verhält sie sich eigentlich zu der sich zuspitzenden Situation in der DDR und zu den Differenzierungsprozessen in Osteuropa unter dem Reformdruck der Sowjetunion? Es war ja richtig, daß sie mit dem Honecker-Besuch die Politik der sozialliberalen Koalition aufgenommen und fortgeführt hat; darauf hat Herr Vogel richtig hingewiesen, und daran gibt es auch nichts zu deuteln. Nur stellt sich natürlich angesichts der dramatischen Vorgänge in Osteuropa die Frage - sie stellt sich dann an beide Seiten - , ob die programmatischen Grundlagen dieser Deutschlandpolitik noch ausreichen oder ob sie die bundesdeutschen Handlungsmöglichkeiten nicht immer weiter einschränken. Für die Bundesregierung stellt sich faktisch doch nur folgende Alternative: entweder Beziehungen zu Bedingungen, die faktisch auf eine Stabilisierung der reformfeindlichen Kräfte in der DDR hinauslaufen, oder eine Politik, die langfristig auf den Zusammenbruch der DDR spekuliert und darin eine Chance für die Wiedervereinigung sieht. Die Variante Schäuble unterscheidet sich um keinen Deut von früherer SPD-Politik. So, wie Helmut Schmidt in Güstrow bei Honecker saß, als der Kriegszustand gegen die „ Solidarnosc " ausgerufen wurde, gratulieren sich jetzt Herr Schäuble und Herr Honecker zur Verbesserung der Beziehungen, während gleichzeitig die Schüler von den Schulen geworfen werden. ({4}) Die andere Alternative - nennen wir sie einmal die Alternative Hennig oder noch besser die Alternative Maetzke von der „FAZ", die die Regierung in diesem Punkte ja sehr kritisiert - setzt auf Konfrontation. Sie ist aber gefährliches Abenteurertum, das nicht nur die Menschen in der DDR auszubaden hätten, sondern das auch den gesamten KSZE-Prozeß und die außenpolitische Öffnung der Sowjetunion faktisch bedroht. - Ich kann diese Alternative natürlich auch „Variante Lintner" nennen. Nun schöpfen aber beide Alternativen ihre Legitimation aus dem Offenhalten der Wiedervereinigungsoption. Das Festhalten an der Wiedervereinigung schafft ein Strukturmuster, das jede Bundesregierung entweder zu Passivität und Reaktivität verdammt oder, wenn es operativ verstanden wird, zum Sprengsatz für den europäischen Entspannungsprozeß wird. Genau hier verbindet sich die deutschlandpolitische Diskussion mit der allgemeinen außenpolitischen. Wenn der Bundeskanzler, wenn die Kollegen Lamers und Rühe immer wieder den Zusammenhang zwischen der Schaffung einer europäischen Friedensordnung und der Wiedervereinigung betonen, so müssen sie erklären, wie sie dies ohne Hintergedanken und ohne Spekulationen auf einen Zerfallsprozeß in Osteuropa erreichen wollen. ({5}) Ist es nicht ehrlicher, zu akzeptieren, daß 40 Jahre Bundesrepublik, 40 Jahre DDR, 50 Jahre seit dem Kriegsausbruch, seit dem Überfall auf Polen, und die Verwirkung nationaler Einheit zusammengehen? Dann und nur dann sind wir frei zu einer entschlossenen Politik der Verwirklichung einer europäischen Friedensordnung. Im Rahmen dieser Politik werden und müssen wir von der DDR genauso wie von den anderen Staaten Osteuropas fordern, daß sie ihre Gesellschaften aus dem Griff von Partei und Staat entlassen. Nur dann sind wir frei, von der DDR-Führung die Aufgabe der Repressionen gegenüber ihrer Gesellschaft zu verlangen, wenn keinerlei Spekulation auf eine Destabilisierung der DDR dahintersteht. Da die Bundesregierung aber genau diese Konsequenz des Denkens scheut, stabilisiert sie die reformfeindlichen Kräfte der DDR in ihren jetzigen Herrschaftszuständen. Sie stimmt einer Erhöhung der Transitpauschale zu, sie setzt sich weiter für privilegierte Wirtschaftsbeziehungen ein, ein Punkt, an dem sie mit der Verwirklichung des Binnenmarktes früher oder später in Konflikt mit der Westintegration geraten wird. Sie ermöglicht über diese privilegierenden Wirtschaftsbeziehungen zu einem guten Teil auch, daß die DDR-Führung versuchen kann, sich aus der Reformpolitik ihrer Nachbarstaaten herauszuhalten; denn diese Reformpolitik ist natürlich auch von ökonomischen Notwendigkeiten bedingt, die sich in der DDR in diesem Maße noch nicht zur Geltung bringen. Wir GRÜNEN fordern die Aufgabe der Wiedervereinigungspolitik, weil dieser Verzicht uns jetzt für eine notwendige Europapolitik handlungsfähig macht, die über die Verkürzung des Begriffs „Europa" auf „Westeuropa" hinausgeht. Herr Bundeskanzler, Sie haben die Differenz heute sehr deutlich gemacht. Sie haben die alte Formel wieder aufgenommen und wiederholt: Einheit nicht auf Kosten der Freiheit. Die Formel ist sehr alt. ({6}) Die Frage ist, ob nicht inzwischen umgekehrt ein Schuh daraus wird: Können Freiheit und offene Systeme nicht auch auf Kosten der Einheit herbeigeführt werden? Denn wenn ehrlich über Europa geredet wird, über eine Friedensordnung eines Europa in Freiheit, dann muß das Europa, das Ihnen vorschwebt, doch ein Europa der Regionen, ein Europa offener Grenzen und ein Europa mit offenen Systemen sein. Dr. Lippelt ({7}) Wenn Sie dies erreichen wollen und zwar schnell, wenn Sie handlungsfähig werden wollen, wenn Sie den KSZE-Prozeß zu einem Friedensprozeß machen wollen, dann, Herr Bundeskanzler, werden Sie über diesen Punkt noch einmal sehr gründlich nachdenken müssen. Sie werden auch darüber nachdenken müssen, was es eigentlich kostet, wenn diese illusionäre Wiedervereinigungspolitik aufgegeben wird, und was es politisch an Handlungsfähigkeit bringt. ({8})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Das Wort hat der Abgeordnete Hoppe.

Hans Günter Hoppe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000955, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zu meinem Vorredner kann ich nur folgendes sagen: Wenn uns die GRÜNEN die Teilung Deutschlands als Beitrag für den Frieden in Europa anpreisen, dann ist das für mich eine Perversion des Denkens. ({0}) Meine Damen und Herren, zu Beginn der Debatte hörte es sich hoffnungsvoll an, als uns der Kollege Vogel die Gemeinsamkeit in der Deutschlandpolitik wieder in Aussicht stellte, weil, wie er sagte, die Regierungserklärung eine Kontinuität dieser Politik erkennen ließ. Aber wenn die Opposition der Regierungserklärung dann doch nicht zustimmen kann, wird es Sie, meine Damen und Herren von der SPD, sicher nicht wundern, wenn die Freien Demokraten Ihrem mit der SED produzierten Arbeitspapier auch keinen Beifall zollen können. ({1}) Meine Damen und Herren, die Debatte über den Bericht zur Lage der Nation wird diesmal zu einem Jahresrückblick. Damit wir die Ergebnisse des Kanzlerbesuchs in die Bilanz und die Aussprache einbeziehen konnten, war die durch diese Warteschleife eingetretene Verzögerung für die heutige Aussprache in Kauf zu nehmen. Die insgesamt zu registrierende Aufhellung des politischen Koordinatensystems gilt es für die Deutschlandpolitik zu nutzen, aber wir dürfen uns auch nicht blenden lassen. In der vergangenen Haushaltswoche wurden die finanziellen Voraussetzungen für die deutsch-deutschen Vereinbarungen, insbesondere für die Transitpauschale, beschlossen. Die Kollegen aller Fraktionen aus dem Haushaltsausschuß haben allerdings ihr starkes Mißfallen darüber bekundet, daß die Beteiligung des Parlaments und die Abstimmung mit den zuständigen Berichterstattern wahrlich nur unzulänglich waren. Das sollte sich nicht wiederholen! Vor einem Jahr hatten wir den Honecker-Besuch als Thema. Jubel, kritische Aufschreie und Fehldeutungen waren aufzuarbeiten. Der signalisierte Aufbruch in die zweite Phase der Deutschlandpolitik zum Wohle der Menschen steckt immer noch in den Anfängen. Die bei dem Besuch nicht beseitigten Schatten der Vergangenheit wirken immer noch fort. Die Erhöhung des Zwangsumtausches im Jahre 1980 war ein „Anschlag auf den Kernbereich der deutsch-deutschen Beziehungen". Die damalige Opposition hat den Vorgang - wie auch die Regierung - hart kritisiert. Bei der Beseitigung dieser „Erblast", die besonders die bis 1980 vom Umtausch befreiten Rentner bitter schmerzt, würde man sich bei den heute Handelnden etwas mehr Sensibilität für diese unverzichtbare „Vergangenheitsbewältigung " wünschen. ({2}) Dagegen konnte eine Fehlinterpretation korrigiert werden, die damals wahrscheinlich die protokollarische Üppigkeit erzeugt hatte. In der „New York Times" war zu lesen, daß Honeckers Reise die deutsche Teilung befestige, und diese sei ebenso wie die NATO Teil der etablierten, akzeptierten Wirklichkeit geworden. Nun, wie ungerechtfertigt diese Feststellung war, haben die Ereignisse dieses Jahres gezeigt. In beiden Staaten in Deutschland und in ganz Europa ist eine Aufbruchstimmung deutlich zu spüren. Der nationale Stromkreislauf war keineswegs unterbrochen. Das jetzt zu Ende gehende Jahr hat durchaus Verbesserungen in den Ost-West-Beziehungen gebracht. Der Besuch des Bundeskanzlers und des Bundesaußenministers in Moskau hat uns in der Überzeugung bestärkt, daß Generalsekretär Gorbatschow eine grundlegende Veränderung der sowjetischen Politik nach außen und innen anstrebt. Unser nationales Schicksal ist in das Schicksal Europas eingebettet. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß der Auftrag des Grundgesetzes praktische Wirklichkeit wird, nämlich auf einen Zustand in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt. Die FDP hat deshalb seit Jahrzehnten eine Politik der Vertrauensbildung zur Sowjetunion und den Staaten des RGW gefordert und zwar nicht zuletzt in der Erwartung, daß sich die deutsche Frage in einer Atmosphäre der Entspannung und Kooperation lösen läßt. Die jüngsten Äußerungen von Generalsekretär Gorbatschow werden in dieser Frage deshalb nicht das letzte Wort sein können. Die Teilung Europas und damit Deutschlands ist ein potentieller Konfliktherd und somit letztlich ein Sicherheitsproblem für alle. Die Sowjetunion, die im Zusammenhang mit Deutschland so oft über Realitäten spricht, sollte hierüber und über den unveränderten Willen aller Deutschen zur Einheit nachdenken. Vielleicht hat dieser Prozeß bereits begonnen. Der Beitrag von Leonid Potschiwalow in der „Litaraturnaja Gaseta" vom 20. Juli 1988 sieht die Deutschen in der Bundesrepublik und in der DDR als Angehörige der gleichen Nation mit einer gemeinsamen Geschichte und mit den „gleichen Mustern des nationalen Denkens". Die ablehnende Haltung des stellvertretenden DDR-Kultusministers zeigt, wie unbequem es der DDR ist, daß in der Sowjetunion über die Deutschen neu nachgedacht wird. Meine Damen und Herren, in den praktischen Fragen der deutsch-deutschen Politik sind im ablaufenden Jahr Fortschritte gemacht worden, die uns aber vor dem Hintergrund der fortbestehenden Belastungen nicht zufriedenstellen können. Theo Sommer beschreibt die Haltung des Staatsratsvorsitzenden Honecker in der „Zeit" am 25. November wohl richtig: Er mauert wieder und will nichts von Perestroika wissen. Die Zensur von Veröffentlichungen des „Gro8110 ßen Bruders", von dem es in der Vergangenheit zu lernen galt, zeigt eine starre, weil unsichere DDR-Führung. Hinter einem Vorhang von Friedens- und Abrüstungsbekenntnissen verletzt die DDR in jüngster Zeit zunehmend Menschen- und Bürgerrechte. Die derzeitige DDR-Führung ist offensichtlich unfähig, die Zeichen der Zeit zu erkennen. ({3}) Sie glaubt, mit Repressionen auf die politischen Veränderungen und Herausforderungen in Ost und West antworten zu können. Wenn die DDR aber meint, Perestroika und Glasnost schon hinter sich zu haben, so verirrt sie sich nicht nur, nein, sie isoliert sich auch. Seinerzeit hat Gorbatschow Rumänien ermahnt, nicht zu einem Schadensfall für den Sozialismus zu werden. Heute müßte er die DDR davor warnen, zu einem Schadensfall für die Entspannung zu werden. Meine Damen und Herren, im nächsten Jahr wird Deutschland 40 Jahre geteilt sein. Das ist kein Grund zur Resignation, sondern eine Herausforderung. ({4}) Die Einheit der Nation werden wir nur mit einer Kombination von Idealismus, Kreativität und Beharrlichkeit wahren. Wenn nach Max Weber die Politik des Bohren von dicken Brettern ist, dann ist Deutschlandpolitik das Bohren von Stahlbeton. ({5}) In einer Phase von Strukturveränderungen und Reformen müssen wir Deutsche Anwalt eines friedlichen Wandels und Verteidiger der Sache der Freiheit sein. Hier ist gesamteuropäisches, zukunftorientiertes Denken gefordert. Was die beiden Teile Europas näher-bringt, führt auch uns Deutsche zusammen. Die Teilung zu überwinden, ist nicht nur verfassungsrechtliche Pflicht; es ist mehr noch ein Gebot der politischen Moral. Trotz jahrzehntelanger Trennung lebt die Nation im Bewußtsein der Menschen weiter, in der Einheit ihrer Geschichte, ihrer Kultur und in dem Gefühl, trotz Mauer und Stacheldraht zusammenzugehören. ({6}) Meine Damen und Herren, für Berlin bleibt wichtig, was die Parteivorsitzenden am 19. Juni 1978 gemeinsam erklärt haben: Die Berlin-Frage ist untrennbar mit der deutschen Frage verknüpft. Bis zu deren Lösung bleibt Berlin Ausdruck und Sinnbild der als Folge des 2. Weltkrieges entstandenen Trennung der Deutschen und eine Aufforderung an alle politischen Kräfte, die Teilung auf friedlichem Wege zu überwinden. In Berlin muß daher endlich eine neue Seite im Buch der Ost-West-Beziehungen aufgeschlagen werden. Dazu gehören die Entwicklung Berlins zu einem internationalen Konferenzzentrum und die Einbindung Berlins in den KSZE-Prozeß. Die Verbesserung des Verkehrs zu Wasser, zu Lande und in der Luft ist überfällig. Berlin ist prädestiniert als Mittler von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport und Kultur. Nirgendwo anders kann das politische Nebeneinander in Frieden besser praktiziert werden. Meine Damen und Herren, die weltpolitische Lage ist seit Reykjavik in Bewegung geraten. Ost und West haben Hoffnung auf ein friedliches Nebeneinander entstehen lassen. Die deutsche Frage braucht nicht an die Geschichte abgegeben zu werden. In einer veränderten Welt können wir Geschichte mitschreiben. Handeln wir alle auch danach! ({7})

Prof. Dr. Rita Süssmuth (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002287

Ich erteile das Wort dem Regierenden Bürgermeister von Berlin, Diepgen. Regierender Bürgermeister Diepgen ({0}): Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die jährliche Debatte über die Lage der Nation ist immer mehr gewesen als eine normale deutschlandpolitische Diskussion. Sie ist vielmehr - oder sollte es doch sein - eine ernsthafte Zustandsbeschreibung unserer geteilten Nation. Wir reden über die innerdeutschen Beziehungen. Dazu haben wir auch allen Grund. Die Bundesregierung, insbesondere das Kanzleramt und der Bundeskanzler persönlich, hat dankenswerterweise - auch heute wieder - nie einen Zweifel daran gelassen, daß Berlin in alle Fortschritte der Ost-West-Politik und der innerdeutschen Politik voll einzubeziehen ist. Gerade aus Berliner Sicht ist dieses Jahr 1988 in der Deutschlandpolitik seit vielen Jahren, vielleicht seit dem Viermächteabkommen, das erfolgreichste Jahr überhaupt. Ich erinnere nur an die jetzt gegebene Übernachtungsmöglichkeit im Rahmen der Tagesbesuche für Berliner, an die gemeinsame Erklärung zwischen Europäischer Gemeinschaft und RGW, an den Abschluß des Gebietsaustauschs in Berlin, an die Einigung über den Stromverbund, an die Aufnahme der Eisenbahnverhandlungen sowie an die Neuvereinbarung der Transitpauschale und damit verbunden, die Einigung über einen neuen Südübergang und praktische Verbesserungen auf den Transitstrecken. Ich erinnere an die Aufnahme von Kontakten Berliner Bezirke zu Nachbargemeinden in der DDR und an den wirklich bemerkenswerten kulturellen Austausch in diesem Jahr, insbesondere auch in Berlin. ({1}) Das alles verdient besondere Beachtung. Andererseits müssen wir aber in all diesen Debatten genauso über die Befindlichkeiten in der DDR - nicht nur der DDR - reden. Ich will mich deshalb in meinem Debattenbeitrag vorwiegend mit der Lage in der DDR, mit den Menschen in der DDR, mit der Lage dieses Teils unserer gemeinsamen deutschen Nation beschäftigen. So verstehe ich auch die Aufgabe von Berlin aus. Wir Berliner sind den Deutschen in der DDR geographisch am nächsten und auch menschlich am nächsten. Wir wollen ganz ohne jede Bevormundung ihre Hoffnungen und Erwartungen im Westen Deutschlands deutlich machen und verstärken. Berlin hat insofern auch eine pädagogische Funktion nach Westen. Wir wollen klarmachen, daß die deutsche Nation mehr ist als die Bundesrepublik Deutschland, daß ein Regierender Bürgermeister Diepgen ({2}) Leipziger oder ein Rostocker genauso Deutscher ist wie ein Kölner und ein Stuttgarter. ({3}) Wie also sieht die Lage in der DDR heute aus? Die Antwort auf diese Frage ist nicht einfach. Glatte Analysen etwa über die Ablehnung von Perestroika, über Verbote und Repressionen greifen da doch zu kurz. Wir haben es mit sehr widersprüchlichen Entwicklungen zu tun. Einerseits gewinnt man den Eindruck, daß polizeiliche Zwangsmaßnahmen überhandnehmen. Andererseits spricht die DDR-Führung selbst von notwendigen Wandlungen - sie benutzt diesen Begriff - und bereitet so in einem sensiblen Feld wie dem der Rechtspolitik neue Schritte vor. Das betrifft z. B. mehr Rechte für Strafverteidiger und die offenbar bevorstehende Einführung einer Art von Verwaltungsgerichtsbarkeit. Einerseits kann man in DDR-Theatern bisher nie erlaubte kritische Stücke sehen; andererseits nehmen kleinkarierte Zensurmaßnahmen auch im kulturellen Bereich zu. Generalsekretär Honecker spricht davon, daß die Gesellschaft der DDR das Gütezeichen einer Gesellschaft trägt, in der ein Mensch ein Mensch sein kann - so formuliert er das - , und gleichzeitig - davon war hier bereits die Rede - werden Schulkinder wegen harmloser Forderungen brutal von der Schule verwiesen. Luther, Friedrich der Große und Bismarck werden differenziert gewürdigt; aber die jüngste Geschichte - z. B. Fragen nach dem Stalinismus, nach dem Hitler-Stalin-Pakt und den Ursachen der Teilung - wird immer noch tabuisiert oder verdreht. Westfernsehen wird dagegen nicht mehr tabuisiert. Fernsehkooperation mit öffentlich-rechtlichen Anstalten aus der Bundesrepublik Deutschland wird verabredet; aber sowjetische Filme werden verboten. Der Dialog nach außen wird gefordert und geführt, Friedenspolitik wird angemahnt; aber nach innen praktiziert die DDR-Führung Friedlosigkeit; der Dialog nach innen wird verweigert. Die DDR beklagt sich über einseitige westliche Berichterstattung. Gleichzeitig aber macht sie eine Politik, die diese Berichterstattung geradezu hervorruft und herausfordert. Das alles paßt nicht zusammen. Die Ursachen für diese unklare Lage liegen tiefer als nur in einer abwartenden und zögerlichen Haltung gegenüber einem vielleicht neuen oder dem neuen sowjetischen Kurs. Ich will ein paar dieser tieferliegenden Ursachen hier nennen. Erstens. In der DDR vollzieht sich - später als bei uns - ein Generationswechsel. Die Mehrheit der Deutschen in der DDR kennt nur das bisherige System, in dem sie aufgewachsen ist. Die jahrelange sozialistische Erziehung hat wider Willen nicht Zustimmung, sondern Sensibilität und Kritikfähigkeit bewirkt. Die jüngere Generation in der DDR ist eine im guten Sinne unerzogene Generation. Zweitens. Trotz hartnäckiger Versuche ist es den DDR-Ideologen nicht gelungen, eine nationale Identität der DDR zu begründen. Das überrascht uns natürlich nicht. Aber das reduziert die Legitimitätsfrage der Menschen nach wie vor und immer stärker auf die Frage nach der Akzeptanz des Sozialismus. Drittens. In der DDR wächst der Mut, den Bruch zwischen der rechtfertigenden Ideologie und der harten Realität wahrzunehmen und vor allen Dingen auch auszusprechen. Die Menschen lassen sich nicht mehr so ohne weiteres ein X für ein U vormachen. Die Reaktionen auf das Leugnen von Problemen durch die DDR-Führung sind Widerspruch und Engagement, aber auch Zynismus und Resignation. Hier liegt vielleicht eine der wesentlichen Ursachen für die hohen Ausreisezahlen. Das Schlimme daran ist: Im Grunde wollen vielleicht gerade die Besten keine Ausreise; sie begehren im Gegenteil Einlaß, Mitsprache und Mitgestaltung. Viele, die keinen Ausreiseantrag stellen, reisen nach innen aus, sie verweigern sich. Die DDR ist dabei, ihre besten Köpfe zu verlieren, und zwar durch Emigration nach außen oder nach innen. Der tägliche Kampf um die Bewältigung des Alltags, um Wohnungen, um Waren, um Reisen, um menschliche Wärme, um Akzeptanz des Menschen zermürbt die Menschen. Darauf reagiert die Führung der DDR mit Nervositat; auf gesellschaftliche Kritik reagiert sie mit Nervosität. Sie selbst treibt beispielsweise die Kirche in eine Rolle der Sammlung von Kritik - eine Rolle, die die Kirche am allerwenigsten gewollt hat. Die DDR-Führung sperrt sich gegen einen Wandel, der doch unausweichlich ist. Sie sperrt sich, statt ihn selbst zu bestimmen. Sie baut neue Mauern nach Osten auf und will eine Glocke des Schweigens auf die Gesellschaft stülpen. Was sie tut, entmutigt die, die gerade zum Bleiben ermutigen wollen. Das ist einer der schlimmen Fakten der gegenwärtigen Entwicklung in der DDR. Es sind also nicht die westlichen Medien oder westliche Politiker, die die Lage in der DDR verschärfen. Es ist die Führung der DDR selbst, die sich vor hausgemachte Probleme gestellt sieht. Was können wir im freien Teil dieses Landes in dieser Lage tun? Lassen Sie mich dazu vorweg sagen - das richtet sich vor allem an unsere Landsleute in der DDR - : Wir können, so bitter das ist, nicht so viel tun, wie die Deutschen in der DDR von uns erwarten. Das müssen wir sehen. Das darf aber kein Alibi für Nichtstun werden. Ich will in meinem Beitrag an dieser Stelle die staatliche Ebene außen vor lassen und nur dazu etwas sagen, was wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland tun können, was jeder Bürger bei uns tun kann. Wir alle können dazu beitragen, die Einheit der Nation trotz der Teilung erlebbar zu machen. Vergeßt uns nicht! Das ist ein Satz, den jeder sogenannte Westdeutsche, der mit Deutschen aus der DDR spricht, immer wieder hört. Diese Mahnung müssen nicht nur wir Politiker, sondern müssen alle viel, viel ernster nehmen. ({4}) Wir müssen ganz einfach menschliche Solidarität zeigen, Überheblichkeiten gegenüber den Deutschen in Regierender Bürgermeister Diepgen ({5}) der DDR abbauen, besser hinsehen, ein Ohr auch für Zwischentöne entwickeln, zuhören lernen und menschliche Brücken bauen. Als Christ sage ich: Wir müssen die Deutschen in der DDR als unsere Nächsten ansehen und ernst nehmen. Was ich hier vorschlage, was meine Forderung ist, das ist das Gegenteil von dem, was manche bei uns selbstgerecht und sehr überheblich als Deutschtümelei abtun. ({6}) Wer so mit der Sprache, mit dem Problem umgeht, hat wirklich nichts verstanden. In der DDR wächst jeder Mensch sozusagen mit der Bundesrepublik Deutschland auf. Das ist eine Folge auch der Medien, der Kommunikation, übrigens auch der Kommunikation auf der Grundlage der Folgen der Politik dieser Bundesregierung. Es wächst also jeder Mensch sozusagen mit der Bundesrepublik Deutschland auf. Und bei uns sollte das umgekehrt auch wieder so werden. ({7}) Neben dem menschlichen Klima und neben der Verhärtung in der DDR, was die Lage unserer geteilten Nation angeht, ist es der Zustand der Umwelt, der Anlaß zu großer Sorge gibt. Das hat der Bundeskanzler hier bereits herausgestellt. Die Führung der DDR beginnt, dies zu erkennen. Der Erfolg der Bundesregierung in der Elbe-Frage ist dafür ein Anzeichen. Aber die Fortschritte in der innerdeutschen Umweltpolitik sind zu langsam - zu langsam angesichts des Tempos der Umweltzerstörung. Uns darf und kann dies nicht egal sein; zum einen aus sachlichen Gründen: Die Luft macht vor Grenzen und Systemen keinen Halt; aber auch aus nationalen Gründen: Wenn wir die Einheit der Nation ernst nehmen, dann ist das Sterben des Thüringer Waldes auch unser Problem. ({8}) Der eine darf den anderen nicht belasten. Wir Deutschen leben nicht nur in einer Verantwortungsgemeinschaft vor der Welt für die Geschichte, wir leben genauso in einer Verantwortungsgemeinschaft für die Zukunft unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Unsere Kinder und Enkel werden uns daran erinnern. Umweltschutz in Deutschland, das ist deshalb eine deutsche Gemeinschaftsaufgabe. Umweltschutz in Deutschland, das muß das große Thema der innerdeutschen Politik des kommenden Jahrzehnts werden. ({9}) Genauso wie der Rhein oder die Nordsee Gegenstand gemeinsamer Bemühungen der betroffenen Staaten sind, müssen Luft- und Gewässerschutz in Deutschland Gegenstand gemeinsamer Bemühungen über die innerdeutsche Grenze hinweg sein. Konkret heißt das: Die Deutschen in West und Ost müssen gemeinsam die Umwelt in Deutschland wieder in Ordnung bringen. Erforderlich ist, daß sich dazu beide Seiten zusammensetzen und nach dem Abschluß des Umweltabkommens ein langfristiges Programm, ein Zehn-Jahres-Programm, für eine saubere Umwelt erarbeiten. An den Kosten müssen sich dabei beide Seiten beteiligen, weil auch beide Seiten - d. h. die Deutschen in beiden Staaten - etwas davon haben. Aber das bedeutet eben auch, daß wir gefordert sind, finanziell von seiten der Kenntnisse, die wir einbringen, von seiten des Gesamtengagements. Meine Damen und Herren, es wird immer wieder davon gesprochen, daß es an Konzeptionen und Visionen in der Deutschlandpolitik fehle. Ich halte das für falsch. Es fehlt nicht an Konzepten, es fehlt auch nicht an Visionen, an Hoffnungen zur Überwindung der Grenzen, der Teilung dieses Kontinents und dieses Landes. Was wir brauchen, ist der Mut, wirklich das zu tun, was wir für wichtig halten und was wir auch in Reden immer wieder verkünden. Was wir brauchen, ist eine große Bürgerinitiative menschlicher Solidarität für die gelebte und erfahrbare Einheit der Nation und eine gemeinsame große Aktion für den Umweltschutz in Deutschland. ({10}) Wenn wir dies anpacken, dann dienen wir den Menschen dieses geteilten Landes am besten und genauso auch unserem Ziel, der Vision, der realen Utopie, dem Ziel, das wir möglichst kurzfristig anstreben, nämlich dem Ziel der Einheit in Freiheit. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Büchler.

Hans Büchler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000294, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Regierender Bürgermeister, ich habe keine Anmerkungen zu Ihrer Rede, im Gegensatz zu der von Herrn Lintner. ({0}) Das ist leider notwendig. Mir wäre es lieber, ich müßte nichts dazu sagen. Aber Sie spielen hier eine Doppelrolle, und das muß auch hier vor dem Parlament gesagt werden. Ich möchte Ihnen zu Ihren Äußerungen zu Herrn Bahr, die Sie hier vom Stapel gelassen haben, sagen: Niemand in der SPD, selbstverständlich auch Egon Bahr nicht, hat jemals den Schießbefehl befürwortet, relativiert, geleugnet oder in irgendeiner Weise zu rechtfertigen versucht. ({1}) Für den Gebrauch von Schußwaffen als Gewalt gegen Menschen, die lediglich die deutsch-deutsche Grenze überqueren wollen, gibt es keine Rechtfertigung. Das ist ein Kernstück deutschlandpolitischer Gemeinsamkeit zwischen den Fraktionen. Mit Ihren an den Haaren herangezogenen Anschuldigungen stören Sie diese Gemeinsamkeit und beseitigen sie in dieser Frage. ({2}) Büchler ({3}) - Ich kann Zeitungen lesen. ({4}) Ich sage Ihnen, was er gesagt hat, weil ich glaube, daß das wichtig ist. Er sagte auf die entsprechende Frage: Nein! Überhaupt nicht! Ich muß Ihnen wirklich in aller Härte sagen: Sie werden sich daran erinnern, daß die CDU in der Opposition gesagt hat, der Schießbefehl muß weg, und ohne daß der Schießbefehl weg ist, gibt es gar nichts. Jetzt haben wir schon eine ganze Weile eine CDU-geführte Regierung, und den Schießbefehl gibt es immer noch. Danach sagt er, daß in der Zwischenzeit allein 2 Milliarden DM Kredit herübergeschaukelt worden sind; und fährt fort: Ich glaube, daß die Haltung der Bundesregierung richtig ist, ich sage das noch einmal. Dann kommt dieses Zitat. Also sagt er deutlich, daß Sie das, was Sie sich vorgenommen haben, nicht erreicht haben. ({5}) Deswegen, Herr Lintner, auch zu Ihren anderen Auslassungen folgende Bemerkungen: Sie haben von uns eine Bilanz gefordert. Sie haben gefragt, wo wir stehen. Ich glaube, daß keine Fraktion in dieser Frage eindeutiger zu dem steht, was wir in den Grundlagen festgelegt haben, als die Sozialdemokratische Partei. ({6}) - Darauf komme ich gleich zu sprechen: Dann haben Sie sich noch nicht einmal die Zeit genommen, unseren Antrag zu lesen. Denn der erste Satz ist genau das, was in der Entschließung von 1984 steht, und nichts anderes. Also, man sollte in der Deutschlandpolitik etwas sorgfältiger arbeiten. Ich wußte sowieso nicht, gegen wen Sie reden, gegen Herrn Diepgen, gegen den Kanzler, gegen Herrn Schäuble oder gegen Herrn Hennig, oder für wen Sie reden? Das war doch die große Frage bei dieser Rede von Herrn Lintner. Man konnte doch nicht wissen, woran man ist. ({7}) Deswegen sage ich ganz deutlich, was wir als Sozialdemokraten hier zu sagen haben. Noch einmal: Die deutsche Nation ist eine von der Teilung unabhängige Realität, die sich in dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Menschen in beiden deutschen Staaten ausdrückt. Heute kann nicht vorweggenommen werden, wofür das deutsche Volk sich in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes entscheiden wird. Vorrangig bleiben Frieden und eine politische Ordnung, die den Menschen Freiheit garantiert. Sozialdemokratische Politik, Herr Lintner - ich sage es hier noch einmal - , geht vom Grundgesetz, vom Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR einschließlich des Briefes zur deutschen Einheit aus, ({8}) vom Viermächteabkommen über Berlin, von den Ostverträgen und von den in deren Folge getroffenen Vereinbarungen und Abmachungen. Das sind klare Grundsätze unserer Politik, und nichts anderes gilt bei uns. Damit alles ganz klar ist, haben wir unseren Entschließungsantrag vorgelegt, den Sie anscheinend noch nicht gelesen haben. Dort werden die Grundpositionen noch einmal dargelegt. Natürlich sind einige Punkte weiterentwickelt worden. Das mußten wir doch tun, nachdem Sie in der Deutschlandpolitik zwar bei uns gut abgeschrieben haben, aber die Deutschlandpolitik zur Stagnation verkommen lassen. Auch dies muß doch gesagt werden. ({9}) Deswegen habe ich mit Ihrem Antrag bis auf den einen Abschnitt, der in einen Antrag zur Deutschlandpolitik nicht hineingehört, auch keine Probleme. Wir können sicher, wenn wir unseren Entschließungsantrag und Sie Ihren ebenfalls eingebracht haben, im Innerdeutschen Ausschuß zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. Ich würde das begrüßen. Dies ist erreichbar und sollte auch angestrebt werden. Meine Damen und Herren, die Deutschlandpolitik steht vor einer neuen Phase. Der Besuch des Staatsratsvorsitzenden der DDR, Erich Honecker, in der Bundesrepublik im September 1987, der Abschluß des INF-Vertrages, die insgesamt verbesserte internationale Lage und die Reformdiskussion in der Sowjetunion sind Eckpunkte einer neuen Phase in der Deutschlandpolitik. Mit dem Besuch von Honecker wurde ein wichtiges Kapitel zu Ende gebracht. Der Art. 7 des Grundlagenvertrages ist bis auf das Rechtshilfeabkommen weitgehendst ausgefüllt. Übrig bleibt - daran müssen wir eben mehr arbeiten als bisher - die Erfüllung dessen, was in Art. 5 des Grundlagenvertrages festgelegt ist, nämlich gemeinsam für Frieden und Völkerverständigung zu arbeiten. Jetzt besteht die Chance, so meine ich, ein System der internationalen Beziehungen zu schaffen, das von Abgrenzung und Blockdenken wegführen könnte, wenn wir wirklich miteinander arbeiten. Die weltwirtschaftliche Verflechtung zwingt immer mehr dazu, von starrem Denken in Ost-West-Schemata abzugehen und ein umfassendes Netz von Kooperationen auszubauen. Die großen Probleme unserer Zeit liegen doch nicht im Gegensatz zwischen den Nationen, sondern sie liegen in der Bewältigung der Probleme, die die Menschheit insgesamt bedrohen, wie z. B. Umweltkatastrophen, Hunger, Vertreibung oder Atomkatastrophen. Das sind die großen Probleme, die wir miteinander lösen müssen, und zwar alle zusammen, die wir auf dieser Welt leben. ({10}) Büchler ({11}) In Europa - auch dies muß klar sein - führt die Entwicklung vom nationalstaatlichen Ansatz immer mehr zu übergreifenden Formen der Zusammenarbeit. 1992 entsteht der europäische Binnenmarkt. Darauf müssen sich Ost und West einstellen. Es kann nicht Sinn des Binnenmarktes sein, nach dem früheren Eisernen Vorhang jetzt einen ökonomischen Vorhang entstehen zu lassen. Dagegen müssen wir angehen. Dieser Binnenmarkt darf keine geschlossene Veranstaltung der westeuropäischen Staaten werden, sondern er muß offenbleiben. Wir dürfen die Völker Osteuropas nicht im Stich lassen. ({12}) In diesem Rahmen sind auch die Beziehungen zwischen uns und der DDR zu sehen. Es geht darum, in der neuen Phase der Deutschlandpolitik eine neue Qualität der Beziehungen zu erreichen. Die DDR kann auch in wirtschaftlicher Hinsicht ein Transferland zwischen Ost und West werden. Wir Sozialdemokraten sind bereit mitzuhelfen, den Lebensstandard der DDR zu heben und sie wirtschaftlich stärker werden zu lassen, wenn das im gemeinsamen Interesse ist. Wir haben in unserer Regierungszeit übrigens immer darauf geachtet, daß wir nicht sosehr Geldleistungen erbracht, sondern Investitionsgüter hinübergeliefert haben, die der DDR und den Menschen drüben weitergeholfen haben und heute noch im Einsatz sind. Es geht also weniger um große Geldzahlungen, denn das ist oft ein Faß ohne Boden, sondern es muß erkennbar sein, was zum Nutzen der DDR-Bevölkerung geschieht. Wir wissen auch, daß die derzeitige DDR-Wirtschaftsstruktur nicht geeignet ist, genügend ökonomisches Wachstum zu erzeugen, und daß Reformen nötig sind. Wir sehen, daß die DDR von Jahr zu Jahr in größere Schwierigkeiten kommt, daß der Lebensstandard praktisch zurückgeht, statt daß er weiter steigt, und daß die DDR gegenüber dem Westen abfällt, obwohl die DDR durch die Möglichkeiten des innerdeutschen Handels eine günstigere Situation hat. Wir bewundern in diesem Zusammenhang den Mut der Sowjetvölker, der Polen und der Ungarn, die entschlossen daran gehen, bis zum dritten Jahrtausend ihre Gesellschaften zu reformieren und ihre Länder fitzumachen, um ihren Bürgerinnen und Bürgern eine bessere Zukunft zu garantieren. In politischer, wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht bedarf es auch in der DDR einer Öffnung nach außen und nach innen. Die SED muß sich wandeln und intensiv in den Prozeß der Diskussion über die Reformen Gorbatschows einsteigen. Sie muß kritische Geister zulassen. Sie muß den unruhigen Hefeteig, aus dem der Fortschritt für Völker entsteht, auch gären lassen und nicht verbieten. Sie muß Pluralismus von Ideen und Meinungen zulassen, Rechtssicherheit herstellen und auch den Dialog mit den kritischen Bürgern führen. Ansonsten - darüber sind wir uns in diesem Hause alle einig - führt die derzeitige Situation unweigerlich in eine Sackgasse. Mit anderen Worten: Der Bürger in der DDR braucht Perspektiven, wenn er sich in seiner Heimat wohlfühlen soll. Den Bürgern in der DDR müssen mehr Selbstbestimmungsrechte zuerkannt werden, und schrittweise kommen die auch voran. Was müssen wir in der zweiten Phase der Deutschlandpolitik einbringen? Vorrangig ist - das muß auch klar sein - , daß wir vom Grundlagenvertrag und den Ost-Verträgen ausgehen, keine neuen Grenzdiskussionen anfangen und den zweiten deutschen Staat als gleichberechtigten Partner annehmen. Eine Gruppe von Erlanger Wissenschaftlern hat kürzlich in einem Appell zur Weiterentwicklung der Deutschlandpolitik festgestellt: Die Ausgangslage für konzeptionelle und operative Deutschlandpolitik wandelt sich. Daraus folgt, daß die bestehenden Konzepte und Programme neu überdacht und modifiziert weiterentwickelt werden müssen. Dieser Feststellung und auch der folgenden kann ich mich nur anschließen: Es muß auffallen, daß in Politik und Wissenschaft, oft wider besseres Wissen der Beteiligten, immer noch die Schlachten der Vergangenheit geschlagen werden. Herr Bundeskanzler, es ist Sache Ihrer Regierung, neue Konzepte für eine erfolgreiche Deutschlandpolitik zu entwickeln. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch; Ihre vermissen wir leider. ({13}) Vor mehr als einem Jahr haben Sie zusammen mit Honecker ein gemeinsames Kommuniqué verabschiedet. Wie steht es um die Verwirklichung? Sind die Absichtserklärungen in ein umfassendes Arbeitsprogramm eingeflossen? Ich kann das leider nicht sehen. Dort heißt es z. B., daß man in Expertengesprächen in der Gewässerschutzfrage zügig zu konkreten Ergebnissen kommen soll. Wie steht es damit? Ist das das bißchen Elbesanierung? Wo ist das Gesamtkonzept, das man in diesen Fragen braucht? Immer noch werden Werra und Weser durch die Kali-Werke der DDR in unerträglicher Weise verschmutzt. Das Ausweichen dann mit dem Geld auf andere Maßnahmen - so gut und so nett das in meinem Wahlkreis, für Blankenstein ist - regelt natürlich das Werra-Problem nicht, Herr Lintner; darüber müssen wir uns klar sein. ({14}) Das Innerdeutsche Ministerium stellte im Jahresbericht 1987 fest, daß die Expertengespräche über Waldschäden, Rauchgasentschwefelung nicht zustande gekommen sind. ({15}) Jetzt haben wir zwar ein Umweltabkommen, aber wo bleiben diese Gespräche? ({16}) Büchler ({17}) 1987 waren Sie stolz auf die Entwicklung im Reise- und Besucherverkehr einschließlich des Tourismus. Abgesehen von gestiegenen Reisezahlen hat sich in diesen Sektoren nichts bewegt. Die gestiegenen Reisezahlen, Herr Schäuble, mußten gegenüber widerstrebenden Kräften im Regierungslager als Begründung für den protokollarisch hochrangigen Empfang Honeckers herhalten. ({18}) Man kann sie nicht mehr als positive Folge des Honecker-Besuchs in Anspruch nehmen. Zu fragen ist, wann die finanziellen Probleme, die sich aus diesem verstärkten Reiseverkehr entwickelt haben, endlich gelöst werden? Immer mehr Bürger beklagen sich darüber, daß die Besuche natürlich auch Geld kosten, daß sie ihre finanziellen Möglichkeiten übersteigen. - Ich finde das nicht lächerlich, Herr Schäuble; denn es stellt tatsächlich ein Problem dar, das gelöst werden muß. Eine Arbeiterfamilie, die ein paarmal im Jahr Besuch aus der DDR hat, braucht eben eine entsprechende Unterstützung. Sie können hier nicht alle Lasten, wie Sie das in anderen Bereichen der Politik machen, auf den kleinen Mann abwälzen! Wenn Sie Erfolge verkünden, dann müssen Sie als Regierung auch für die damit zusammenhängenden Probleme geradestehen und entsprechende Vorsorge treffen. Darum und um nichts anderes geht es also. ({19}) Hier geht es doch um konkrete Politik. Ich erinnere an damals, als Kanzler Schmidt mit Generalsekretär Honecker zusammengetroffen ist. Sie haben sich damals spöttisch ausgelassen. Aber die Folge davon war - weil wir ein Arbeitsprogramm hatten - , daß Fälle dringender Familienangelegenheiten geregelt wurden. Die Swing-Regelung wurde neu geschaffen, wenn Sie sich erinnern. Der Grenzübergang Berlin-Heiligensee wurde für Fußgänger geöffnet. Die Amnestieregelung wurde ausgeweitet. Die DDR hat jährlich 60 Millionen DM mehr in den nichtkommerziellen Zahlungsverkehr eingeschossen. Ein Jahr nach dem Honecker-Besuch, Herr Bundeskanzler, haben Sie noch kein Programm, noch keinen Ansatz, noch keine Gesamtkonzeption, wissen also nicht, wie Sie weitermachen sollen. ({20}) Sie haben natürlich - das ist gar keine Frage - die Transit-Pauschale erhöht. Über die Höhe kann man sich streiten. Wir haben den Abschluß zwar grundsätzlich begrüßt, aber es gibt ganz wenige, die die Höhe als solche akzeptieren. Ich habe heute auch sehr viele kritische Anmerkungen gehört. ({21}) Ich erinnere an das, was Sie in den 70er Jahren gesagt haben. Sie haben behauptet, wir hätten unter Zeitdruck schlecht verhandelt, Leistung und Gegenleistung seien nicht ausgewogen, das Ganze koste zuviel Geld. ({22}) Viele hier im Hause können sich noch gut daran erinnern, wie die Sprecher aus Ihren Reihen im Zusammenhang mit den Verhandlungen über den Bau der Autobahn Berlin-Hamburg und über die Erhöhung der Transit-Pauschale von „gigantischen Belastungen für den Steuerzahler" gesprochen haben. Es hieß, einen „nicht vertretbaren politischen Preis" hätten wir gegeben. Weiter war die Rede von „grotesken Überzahlungen zur Sanierung des bankrotten sozialistischen Planwirtschaftssystems". Diese Worte sind hier im Haus gefallen, das waren damals Ihre Worte. Es wurde bemängelt, daß die Transit-Pauschale erhöht worden ist, ohne daß man sich um überprüfbare Grundlagen für die Berechnung bemüht hätte. ({23}) Das sind alles wörtliche Zitate. Als die Straßenbenutzungsgebühr pauschaliert wurde, kritisierte Ihr Sprecher, es handle sich um eine zu hohe Summe und um einen rein politischen Preis. Herr Schäuble, Ihre Argumentation ist mir noch im Ohr. Nur, Sie haben die Pauschale soeben erst um 64 To erhöht. Wie haben damals darauf geachtet, daß Leistung und Gegenleistung gestimmt haben. ({24}) Wir haben bei dem Geldtransfer eben auch Maschinen mitgeliefert, und die DDR hat bei uns eingekauft. Dies ist auch für die Zukunft der DDR wichtig. Denn diese Maschinen arbeiten heute noch in der DDR und sorgen dafür, daß die Straßen ausgebessert werden können. „Teure Flickschusterei! " wurde gesagt, ich kann mich noch gut daran erinnern. Aber Sie waren es, die in den vergangenen Jahren handwerkliche Fehler gemacht haben; der Regierende Bürgermeister hat ja darauf hingewiesen. In den grenznahen Verkehr wurde Berlin damals, was die Übernachtungen angeht, nicht einbezogen; zwei Jahre später erst haben Sie es geschafft. Die Geldüberweisungsabsprachen sind äußerst mangelhaft. Sie wissen das. Sie legen Konten von DDR-Bürgern hier in der Bundesrepublik zum erstenmal offen. Wir haben das immer vermieden, und wir wußten, warum. Der Kanzler schwankt in der Deutschlandpolitik hin und her, ohne einen festen Standpunkt einzunehmen. ({25}) Einerseits macht er pragmatische Politik, andererseits muß er aber seine Klientel auf der rechten Seite mit Sprüchen zufriedenstellen und bei der Stange halten. Schließlich kommt noch der Herr Geißler, der ausspricht, was alle wissen. Dann ist bei Ihnen das Chaos perfekt. So war es doch. Ich sage das deutlich, und zwar insbesondere in bezug auf die Grenzdiskussion: Laßt uns doch endlich einmal einig sein! Deswegen haben wir das auch wieder in den Entschließungsantrag hineingeschrieben, Büchler ({26}) was der Kanzler und Honecker 1985 in Moskau ausgemacht haben. ({27}) Stimmen Sie dem endlich zu! Laßt die Polen in Frieden in den Grenzen leben und macht sie nicht immer wieder unsicher! Ich glaube, wir sind unserer Geschichte schuldig, daß diese Grenze unantastbar wird. ({28}) Wir erwarten, daß dazu in der heutigen Debatte auch etwas gesagt wird. Wir erwarten auch eine Aussage dazu, was nun gilt, ob das gilt, was Herr Schäuble sagt, oder das, was Herr Hennig sagt. Wir möchten endlich wissen, wer bei Ihnen in der Koalition die Richtlinien der Deutschlandpolitik bestimmt. ({29}) Es muß doch einmal ganz klar werden, wer das Sagen in der Regierung hat. Was die FDP angeht, so möchte ich zu ihrem deutschlandpolitischen Papier nur folgendes sagen: Es ist unverbindlich geworden, und Sie rücken von Ihren früheren Positionen ab. Nach Strauß, der dafür gesorgt hat, daß Sie Wählerstimmen bekommen, lehnen Sie sich jetzt an Herrn Waigel an. Ich weiß nicht, ob diese Rechnung aufgehen wird. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen, daß Sie mit Ihrem Papier von Ihrem Anspruch, ein Motor in der Deutschlandpolitik zu sein, selbst Abschied genommen haben. Nötig ist also die Erarbeitung eines Regierungskonzeptes, für die nächsten zwei Jahre, um das noch einmal zu betonen. Ich hoffe, daß kein Konzept von Ihnen für mehrere Jahre nötig sein wird. Wir werden dafür sorgen, daß Ihre Regierungszeit nur noch zwei Jahre dauern wird. ({30}) Erforderlich ist, daß der Bundeskanzler mit Generalsekretär Honecker hier noch vor dem Gorbatschow-Besuch zusammentrifft. Ich glaube, daß dies auch so kommen wird. Unerläßlich ist die Erarbeitung eines Gesamtpakets im Umweltbereich. Das bisherige Verfahren, Herr Bundeskanzler, einzelne Gespräche isoliert voneinander zu führen, hat nichts außer Zeitverlust gebracht und wird für die Bundesrepublik insgesamt zu teuer. Ich glaube, daß Sie die richtige Aufforderung des Regierenden Bürgermeisters gehört haben. Schließlich muß der innerdeutsche Reiseverkehr finanziell anders geregelt werden. ({31}) Das sind alles Punkte, die nach meiner Auffassung jetzt in Angriff genommen werden müssen. Es sind zwar nur einige Punkte, aber ihre Verwirklichung würde zu Fortschritten in der Deutschlandpolitik führen und den Menschen in beiden deutschen Staaten dienen. Wenn diese Punkte verwirklicht werden, dann können wir wieder gemeinsam Politik für die Menschen in beiden deutschen Staaten machen. ({32})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat die Bundesministerin für innerdeutsche Fragen, Frau Dr. Wilms.

Dr. Dorothee Wilms (Minister:in)

Politiker ID: 11002518

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Unsere heutige Diskussion behandelt nicht einen Routinegegenstand parlamentarischer Erörterung, sondern wir sprechen über eine zentrale Aufgabe unseres politischen Handelns, nämlich über die Lage der Nation. Dies bedeutet auch, daß wir über die Menschen und ihr Schicksal im geteilten Deutschland sprechen. Diese Tatsache, denke ich, verpflichtet uns in ganz besonderer Weise. Die Erfüllung dieser Verpflichtung sind wir allen Deutschen schuldig, besonders unseren Landsleuten in der DDR, die, wie wir alle wissen, unsere Debatten mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. Lassen Sie mich deshalb hier gleich feststellen: Grundlage jeder deutschlandpolitischen Erörterung müssen seriöse, in ihren Konsequenzen durchdachte Überlegungen sein. ({0}) Dieses Feld eignet sich eben nicht für leichtfertiges Gerede ({1}) oder esoterische Übungen oder leichtfertige Vorwürfe, Herr Kollege Büchler. ({2}) Ich muß sagen: Sie wissen es besser. ({3}) Sie haben heute eigentlich eine ungute Rolle gespielt; denn Sie wissen die Tatsachen, die Historie und die Hintergründe besser, als Sie sie heute hier dargelegt haben. ({4}) Ich begrüße daher sehr nachdrücklich den Entschließungsantrag der CDU/CSU- und FDP-Fraktion zum Bericht zur Lage der Nation, der die Grundlage jeder verantwortlichen Deutschlandpolitik noch einmal nachdrücklich in Erinnerung ruft und markante Orientierungspunkte für die weitere Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen setzt. Die offene deutsche Frage, meine Damen und Herren, ist wesentlich eine Frage der Menschenrechte; denn einem Teil der Deutschen werden auch heute noch elementare Menschenrechte vorenthalten. Unmittelbar vor dem 40. Jahrestag der UN-Menschenrechtscharta jetzt am 10. Dezember erinnern wir uns daran wohl besonders bewußt. Der Bundeskanzler hat eben zu Recht auf den Zusammenhang zwischen der deutschen und der Menschenrechtsfrage hingewiesen. Wir treten für die Menschenrechte überall in der Welt ein, in Chile oder Südafrika, in Nicaragua oder Vietnam. Aber wir fordern ganz selbstverständlich und vor allem die Respektierung der Menschenrechte aller Deutschen. ({5}) Wenn ich von „allen Deutschen" spreche, dann schließe ich die Deutschen jenseits von Oder und Neiße, etwa in Schlesien, aber auch in Kasachstan oder Siebenbürgen, mit ihrem Anspruch auf Menschenrechte, d. h. auch auf Volksgruppen- oder Minderheitenrechte, ein. ({6}) Den Deutschen in der DDR werden elementare Rechte durch einen Staat verwehrt, dem die Menschen nie eine freie und demokratische Legitimation erteilen durften und konnten. Menschenrechte, meine Damen und Herren, sind keine Frage staatlicher gönnerhafter Gewährung. Sie sind keine staatlichen Gunsterweise. Menschenrechte kommen jedem Menschen als vorstaatliche Abwehrrechte zu, als Schutzrechte gegen die Vereinnahmung durch den Staat oder eine Partei. Und diese Menschenrechte werden unseren Landsleuten in der DDR weiterhin vorenthalten. Die ideologische Bevormundung durch Partei und Staat, die Verweigerung der Freizügigkeit, die Eingriffe in das kirchliche Leben oder die Einschränkungen freier künstlerischer, etwa literarischer Betätigung sind Belege dafür. Auch in der DDR müßte es doch eigentlich möglich sein, von der Staatspartei abweichende Auffassungen öffentlich zu vertreten, ohne daß gleich Sicherheitsorgane in Erscheinung treten. Der Bundeskanzler hat unmißverständlich darauf hingewiesen: Menschenrechte und menschliche Erleichterungen sind nicht dasselbe. Wir setzen uns für die Deutschen in der DDR ein, weil sie unsere Landsleute sind. Dies ist ein Gebot unserer nationalen Solidarität. ({7}) Und dies ist auch nicht Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates; ({8}) denn zu unseren Mahnungen und Forderungen sind wir durch die KSZE-Schlußakte berechtigt. ({9}) Wenn nicht wir Deutsche unsere Stimme erheben, wie können wir es dann von anderen erwarten? ({10}) Meine Damen und Herren, das Wiener KSZE-Folgetreffen ist in seine letzte Phase getreten. Die Bundesregierung war stets bestrebt, den KSZE-Prozeß für Fortschritte in allen drei Körben zu nutzen. Aber das Schwergewicht lag und liegt auf der menschlichen Dimension. Das Ziel eines substanzreichen und ausgewogenen Wiener Schlußdokumentes ist jetzt in greifbare Nähe gerückt. Es soll die menschenrechtliche Lage insgesamt verbessern und nicht zuletzt für die Deutschen mehr und verbesserte Möglichkeiten für Kontakte und Begegnungen über die innerdeutsche Grenze hinweg schaffen, d. h. die Grenze durchlässig machen. Für den Reise- und Besucherverkehr im geteilten Deutschland z. B. wie aber auch für den Zeitungs- und Zeitschriftenaustausch erwarten wir von dem Wiener Dokument weitere wesentliche Verbesserungen. Auch die auseinandergerissenen Familien, die politischen Gefangenen in der DDR schauen hoffnungsvoll nach Wien. Die Führung der DDR wird nach Abschluß des Wiener KSZE-Folgetreffens auf all diesen Feldern handeln müssen. Meine Damen und Herren, vor diesem aktuellen Hintergrund der Lage in der DDR muß ich nun fragen, ({11}) ob die SPD mit der SED über die richtigen Themen spricht. Am 22. November wurde eine gemeinsame Erklärung der Arbeitsgruppe der SPD-Bundestagsfraktion und des ZK der SED veröffentlicht. Den Begriff „Menschenrechte" suche ich in dieser Erklärung vergeblich. ({12}) Statt dessen sprechen die Vertreter der SPD mit der SED über Probleme der Abrüstung so, als ob die zwischen den Bündnissen bestehenden Sicherheitsprobleme auf einer deutschen Sonderschiene gelöst werden sollten. ({13}) Diesem Ansinnen möchte und muß ich entgegenhalten: Meine Damen und Herren, Sicherheit findet der freie Teil Deutschlands nur im Bündnis mit den freien Staaten des Westens. Das Bündnis ist der Ort, an dem wir die notwendigen konkreten Schritte zur Abrüstung tun müssen. Die von der SED und SPD immer wieder vorgetragenen Zonenkonzepte sind nicht geeignet, unsere sicherheitspolitische Lage zu verbessern. Im Gegenteil, sie schaffen eher Zonen verminderter Sicherheit und können zu Instabilitäten in Europa führen, woran uns am allerwenigsten gelegen sein kann. ({14}) Unser Ziel muß ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte auf niedrigem Niveau sein. Das geht aber nur, wenn das bestehende Ungleichgewicht im besonderen auf dem Gebiet der konventionellen Bewaffnung abgebaut ({15}) und der Weg für Verhandlungen über die Herstellung konventioneller Stabilität in ganz Europa freigemacht wird. Auch deshalb sind wir an einer baldigen Beendigung des Wiener KSZE-Folgetreffens mit einem ausgewogenen substantiellen Abschlußdokument und einem Mandat für KRK-Verhandlungen interessiert. Ich denke, die Opposition könnte in Gesprächen mit der SED sehr viel für die Entspannung zwischen den Blöcken tun, wenn sie in diesen Gesprächen darauf drängen würde, daß die DDR ihren Bürgern Freiheit und Menschenwürde garantiert, damit die DDR auf diese Weise ihren Beitrag zum Frieden leistet. ({16}) Denn trotz aller Friedens- und Abrüstungsrhetorik aus der DDR müssen wir beispielsweise feststellen, daß sich in den Schulbüchern der DDR nach wie vor die alten Feindbilder gegen den Westen finden, die, so denke ich, im Widerspruch zu gutnachbarlichen Beziehungen stehen. Offensichtlich besteht zwischen dem Bild, das die DDR von sich als einem weltoffenen und aufgeschlossenen Partner im internationalen Dialog zeichnet, und ihrer Innenpolitik ein Widerspruch. Öffnung nach außen, Anspruch auf internationale Reputation auf der einen Seite und andererseits Schüsse an der Grenze, Zeitungs- und Filmverbote, Behinderung von Journalisten, Einreiseverweigerungen aus politischen Gründen: Das paßt nicht zusammen. All das können und wollen wir nicht verschweigen, gerade weil wir weiter auf eine nüchterne Politik des Dialogs und der Zusammenarbeit setzen. Dialog und Zusammenarbeit bedeuten ja eben nicht, die eigene Überzeugung zu verleugnen, sondern im Gegenteil, Positionen zu beziehen und zu vertreten. Unser Ziel ist es, in unserer Politik gegenüber der DDR im Interesse der Menschen im geteilten Deutschland voranzukommen. Wir können feststellen, daß auf vielen Gebieten der innerdeutschen Beziehungen weitere Fortschritte gemacht worden sind, und dies wird auch in Zukunft so sein. Der Herr Bundeskanzler hat soeben im einzelnen darauf hingewiesen. Aber ich wiederhole, was ich schon in der Aktuellen Stunde im Okober 1988 gesagt habe: Die Qualität der innerdeutschen Beziehungen und die jeweilige Situation in der DDR hängen miteinander zusammen. Die Mißachtung von Menschenrechten in der DDR muß auf Dauer belastend auf die Gesamtbeziehungen der beiden Staaten in Deutschland wirken. Wir wünschen das nicht; denn die Kontinuität und Stabilität der Entwicklung der Beziehungen sind ohne Zweifel auch ein Element der Vertrauensbildung zwischen Ost und West. Uns bestimmt dabei nicht der Gedanke einer Sicherheitspartnerschaft der beiden Staaten in Deutschland, ({17}) die es zwischen Staaten entgegengesetzter Gesellschaftsordnung nicht geben kann. Wir wollen als Deutsche vielmehr unseren Beitrag zur Stabilität und zum Frieden an der Nahtstelle zwischen Ost und West leisten. Unser Verhältnis zur DDR ist von der Absicht bestimmt, den Zusammenhalt der Nation zu sichern und die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und dadurch auch ein Stück Befriedung in Europa herbeizuführen. ({18}) Beide Staaten kommen deshalb um eine pragmatische Zusammenarbeit nicht herum, weil sie ihrer Verantwortung gerecht werden müssen. Aber ich sage noch einmal: Nur die Verwirklichung der Menschenrechte trägt auf Dauer zum Frieden in Europa bei. ({19}) In der deutschlandpolitischen Diskussion der jüngsten Zeit ist mir gelegentlich zuviel von Neutralismusvorstellungen die Rede, ({20}) von Äquidistanz und Abgrenzung zu den Vereinigten Staaten von Amerika. ({21}) Ich warne nachdrücklich davor, Irritationen und Mißverständnisse bei jenen hervorzurufen, mit denen uns die gleichen Ideale und Werte verbinden und ohne die wir unsere Freiheit nicht bewahren können. Wir werden unsere nationale Frage auch nicht lösen können, wenn wir überholten Vorstellungen der Vergangenheit nachhängen und darüber die Zukunft vergessen. Diese Zukunft - davon bin ich fest überzeugt - wird auch eine Lösung der deutschen Frage bringen ({22}) auf der Basis von Freiheit, Menschenrechten und nationaler Selbstbestimmung für die Deutschen und für die Europäer in einer europäischen Friedensordnung. Diesen Weg weist uns schon die Präambel des Grundgesetzes. Unser Ziel der deutschen Einheit in Freiheit, zu dem sich die Bundesregierung im Sinne der Präambel ohne Wenn und Aber bekennt - was auch in vielen Regierungserklärungen dezidiert dargelegt wurde - , werden wir auf diese Weise mit dem Verständnis und der Unterstützung unserer Nachbarn erreichen können. Ich denke, dafür muß es einen Konsens unter allen demokratischen Patrioten geben können. ({23})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Heimann.

Prof. Gerhard Heimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000845, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Bundesminister, wir haben in der Haushaltsdebatte über die mangelnden Kompetenzen Ihres Ministeriums gesprochen. Ich frage mich: Liegt der Grund in den mangelnden Kompetenzen Ihres Ministeriums, daß Sie hier jetzt auch schon Vorträge über Sicherheitspolitik halten? ({0}) Das, was Sie über die Sicherheitspolitik zwischen den beiden deutschen Staaten gesagt haben, würden wir lieber von kompetenterer Stelle hören. Das, was Sie gesagt haben, schien uns jedenfalls nicht sehr kompetent zu sein. ({1}) Herr Kollege Lintner, Sie haben einen Aufsatz von mir aufgegriffen, den ich vor einem Jahr geschrieben habe. Ich will an dieser Stelle mein Redemanuskript einmal beiseite lassen und darauf eingehen. Vor einem Jahr habe ich einen Aufsatz geschrieben, dessen Titel lautet: „Die Last der deutschen Geschichte". Was habe ich in diesem Aufsatz eigentlich gesagt? Ich habe gesagt, daß die deutsche Geschichte den Deutschen die Normalität anderer Völker versagt hat, ({2}) die darin besteht, daß andere Völker, besonders Frankreich, auf eine glückliche Einheit von Staat, Nation und Demokratie zurückgreifen können. ({3}) Wir haben das in unserer Geschichte nicht verwirklichen können. Die 48er-Bewegung hat es nicht geschafft, die doppelte Aufgabe von Einheit und Freiheit, also Einheit und Demokratie, zu lösen. Wir haben dann eine Einheit von Staat und Nation unter Bismarck bekommen, aber mangelhaft blieb die Verwirklichung der Freiheit und der Demokratie. Außerdem hat das Bismarck-Reich nur 74 Jahre gedauert. Was ist das eigentlich vor dem Hintergrund der ganzen deutschen Geschichte? Wir Deutschen haben immer lernen müssen, in Formen der Mehrstaatlichkeit zu leben. Herr Kollege Dregger hat in seiner Rede in Nürnberg auf das Heilige Römische Reich zurückgegriffen und gesagt: Auch dies ist ein Teil unserer Geschichte. Aber dieses Heilige Römische Reich war nie ein Staat im modernen Sinne, sondern es war etwas, was die Deutschen auf andere Weise zusammengehalten hat. Deshalb wollen wir ja auch am Begriff der Nation festhalten. Aber warum müssen wir immer wieder die Frage der Einheit von Staat und Nation, die vor der deutschen Geschichte nicht geglückt ist, in den Mittelpunkt unserer Diskussionen stellen? ({4}) - Aus der Geschichte lernen, Herr Kollege Lintner. Dann habe ich etwas anderes gesagt: Muß man die fortdauernde Zweitstaatlichkeit Deutschlands eigentlich immer nur in Sonntagsreden und dann auch ohne Folgen beklagen? Liegt in dieser Zweistaatlichkeit nicht auch eine konkrete Chance, die wir heute ergreifen können, und zwar dann, wenn man sich klarmacht, was eigentlich der Kern der Teilung ist: Der Kern der Teilung ist nicht die nationale Abspaltung eines Staates von einem anderen, sondern die Teilung ist uns als Folge des Ost-West-Konfliktes auf gezwungen worden, ist allerdings auch Folge des eigenen Verschuldens, das darin liegt, daß wir den Zweiten Weltkrieg begonnen haben. Wer die Teilung überwinden will, muß den Antagonismus zweier Systeme und zweier Bündnisse überwinden. Das geht nur von beiden Seiten. Die Aufgabe muß von beiden Seiten in Angriff genommen werden: von uns aus als Bundesrepublik Deutschland in unserem Bündnis, in unserer freiheitlichen Ordnung, und von der DDR aus in ihrem Bündnis. Wenn die beiden deutschen Staaten in diesem Sinne zusammenwirken, dann ist es nicht nur ein Nachteil, daß es diese beiden Staaten gibt, dann kann das auch ein Vorteil werden, weil so ein Teil der Ursache der Teilung überwunden werden kann. Das Europäische Haus, von dem jetzt gesprochen wird, muß ja irgendwo anfangen. Es muß vor allen Dingen an der Stelle anfangen, wo die beiden Systeme aufeinandertreffen. Das heißt, die Deutschen haben eine besondere Verantwortung, übrigens, Frau Bundesminister Wilms, auch in Fragen der Sicherheitspolitik, genau aus dieser Lage heraus. Darum sollten wir lieber darüber sprechen, was die beiden deutschen Staaten zusammen tun können, um diese europäische Teilung zu überwinden, als immer wieder ein Ziel an die Wand zu malen, das nicht realistisch ist - der Herr Bundeskanzler hat es heute hier ausgeführt - , das vielleicht die Geschichte uns eines Tages wiedergibt, das aber jedenfalls keine Frage der gegenwärtigen Politik sein kann. Nun möchte ich noch etwas zum Regierenden Bürgermeister sagen, der aber offenbar so viel mit seinen Problemen in Berlin zu tun hat, daß er leider nicht mehr hierbleiben konnte. Der Herr Regierende Bürgermeister hat hier eine schöne Rede gehalten. ({5}) - Ich füge hinzu: Es war auch eine gute Rede. - Ich sage das mit der schönen Rede ganz ohne Ironie. Er hat nämlich sehr nachdenklich, einfühlsam und auch ohne falsche Anklagen von außen über die innere Lage der DDR gesprochen und auch über die Menschen dort. ({6}) Ich frage mich bloß: Ist er nicht in Gefahr, wenn er so fortfährt, selbst zu glauben, er und seine Partei habe die Vertragspolitik erfunden? Was hätte wohl ein Parteifreund von ihm gesagt, wenn ein Sozialdemokrat in den 60er oder 70er Jahren in Berlin diese Rede gehalten hätte? ({7}) „Nützlicher Idiot" wäre wohl noch der harmloseste Vorwurf gewesen. Wenn der Regierende Bürgermeister nicht selber ehrlich zugibt, daß er auf den Fundamenten steht, die wir Sozialdemokraten gebaut haben, ({8}) dann denkt man natürlich immer, wenn man solche Reden hört, sie haben die Funktion abzulenken, abzulenken z. B. von Verfassungsschutzfragen, vom Bausumpf, von inneren Problemen. ({9}) Hier in Bonn werden die schönen Reden gehalten, und er geht ein bißchen auf Distanz zu dem, was in Berlin selber passiert. Wenn aber der Regierende Bürgermeister bekennen würde, welches Fundament er hat, auf dem er aufbaut und auf dem er seine Politik jetzt formuliert, dann wäre natürlich ein größeres Maß an Gemeinsamkeit in der ganz wichtigen Frage der Berlin-Politik und der Deutschland-Politik möglich. ({10}) Nun zu ein paar konkreten Punkten. In den Ausschüssen - federführend im Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen - beraten wir immer noch den Antrag „Die Zukunft Berlins zwischen Ost und West", den die SPD-Bundestagsfraktion als erste vor gut einem Jahr in den Bundestag eingebracht hat. Ursprünglich hatten die Fraktionen die Absicht, soweit möglich, mit einer gemeinsamen Beschlußempfehlung noch vor Ende dieses Jahres wieder in das Plenum zu kommen. Das ist jetzt allerdings nicht mehr so sicher wie vorher. Es ist nicht mehr so sicher, ob es überhaupt eine gemeinsame Beschlußempfehlung geben wird; denn auf nichtssagende Allgemeinplätze, wie etwa am Beispiel des Luftverkehrs oder der Ausübung alliierter Rechte in Berlin, die die wirklichen Probleme und Konflikte nur verkleistern, werden wir Sozialdemokraten uns nicht einlassen. Aber - auch das verspreche ich - , wir werden alle Anstrengungen unternehmen, in der Sache vertretbare Kompromisse einzugehen, wenn wir zu dem Schluß kommen, daß das Berlin nutzt. ({11}) Gemeinsamkeiten aller Fraktionen hier im Bundestag haben Berlin schon oft genutzt. Ich erinnere nur an den Bau einer neuen Eisenbahntrasse für Hochgeschwindigkeitszüge, über den inzwischen mit der DDR verhandelt wird und der wegen seiner gesamteuropäischen Bedeutung immer mehr zu einem europäischen Renommierstück wird, über das sich trefflich auch in Paris, Warschau und Moskau reden läßt. Auch dies war ursprünglich und zuerst ein SPD-Antrag. Weil wir Sozialdemokraten auch jetzt wieder ein Ergebnis wollen, sind wir einverstanden, unseren Berlin-Antrag aus dem Berliner Wahlkampf herauszuhalten und erst im Februar und März weiter zu behandeln. ({12}) - Das ist unbestreitbar; ich gebe das auch zu. Ich habe deshalb auch gesagt: Wir haben den Antrag als erste eingebracht. Wir wollen uns hier nicht darüber streiten, Herr Kollege Schulze. Herr Kollege Schulze, wichtiger ist, daß wir die Zeit bis dahin gut nutzen. Nutzen wir sie nicht, läuft z. B. im Luftverkehr nichts automatisch zugunsten von Berlin ({13}), sondern alles dagegen. Hier verfolgt, wie nicht anders zu erwarten, jeder seine eigenen Interessen: Die Sowjetunion will ihre alten Rechtspositionen zum Korridorverkehr wieder ins Spiel bringen. Die DDR möchte mehr Lufthoheit über ihrem Territorium; ich sage einmal in Klammern: Verstehen kann man es ja. Lufthansa und Interflug wollen so schnell wie möglich, d. h. notfalls auch ohne Luftverkehrsabkommen, gegenseitige Überflug- und Landerechte, die Berlin-Tegel genauso wie Berlin-Schönefeld wegen der damit verbundenen komplizierten Rechts- und Machtfragen ausklammern. ({14}) Die Bundesregierung ist von diesem Standpunkt ja wohl nicht so weit entfernt. ({15}) Die Airbus-Industrie will weiterhin Flugzeuge in den RGW-Wirtschaftsraum verkaufen. Die amerikanischen Luftverkehrsgesellschaften liefern sich untereinander und den anderen Berlin-Tegel anfliegenden Gesellschaften einen harten Verdrängungswettbewerb, um ihr Berliner Standbein in Europa in Hinblick auf Europa 1992 kräftig auszubauen. Man braucht nur diese Interessenkonstellation realistisch einzuschätzen, um zu begreifen, daß die Berlin-Initiative des amerikanischen Präsidenten, die in Form eines Aide-Mémoire auch von Frankreich und Großbritannien übernommen wurde, jedenfalls was den Luftverkehr von und nach Berlin angeht, mausetot ist, wenn sie überhaupt je auf etwas anderes abzielte, als noch mehr amerikanische Fluggesellschaften in den europäischen Binnenflugverkehr hineinzubringen. In dieser richtigen Einschätzung haben Air France und Lufthansa durch Euroberlin France schnell vollendete Tatsachen geschaffen, um den Berlin-Luftverkehr nicht allein den anderen zu überlassen. Wie das gemacht wurde, ist angesichts der komplizierten Lage nicht ohne Pfiffigkeit und Kühnheit, so daß man seinen Respekt nur schwer verbergen kann. Die kritische Frage ist nur: Was haben die Bürger in Berlin ({16}) eigentlich davon? Ich behaupte, außer noch mehr Flugzeugen, noch mehr Lärm und noch mehr Luftverunreinigungen nichts, absolut nichts. Auch der Konkurrenzkampf und die Billigtarife hier und dort werden wieder neuen Absprachen weichen, wenn erst einmal feststeht, welche Fluggesellschaften in dem Verdrängungswettbewerb, der jetzt gerade stattfindet, die Sieger sein werden. Dies aber spricht der Herr Regierende Bürgermeister nicht klar aus; vielleicht, weil er nicht einem unserer alliierten Freunde etwas weh tun will. Auch zur Alternative dazu sagt er nicht allzu viel, sondern überläßt das den Sozialdemokraten. Wir wollen das gern übernehmen. Deshalb sage ich noch einmal klar, welches unsere Positionen dazu sind. Erstens. Berlin ({17}) kann als Ost-West-Zentrum des Handels und der Dienstleistungen nur bestehen, wenn seine Verkehrsverbindungen ausgebaut werden. Das darf aber nicht im Widerspruch zu den Notwendigkeiten des Umweltschutzes geschehen. Deshalb hat der Eisenbahnverkehr Vorrang. Zweitens. Im Luftverkehr muß Berlin-Tegel wie bisher seine Rolle als ein durch die Luftkorridore gesicherter Zugang von und nach Berlin ({18}) spielen. Ein weiterer Ausbau zu einem internationalen Großflughafen kann jedoch wegen seiner Stadtlage aus Gründen des Lärmschutzes, der Luftverunreinigungen und der Sicherheit nicht in Frage kommen. Drittens. Statt der Erweiterung von Flugkapazitäten in Berlin-Tegel muß eine enge Kooperation mit Berlin-Schönefeld vertraglich vereinbart werden. Passagiere aus Berlin ({19}), aus dem Bundesgebiet oder dem Ausland müssen Berlin-Schönefeld ohne zeitraubende Paßformalitäten auf die schnellste, bequemste und internationalen Maßstäben entsprechende Weise benutzen können. Der Euro-Airport Basel/Mülhausen, der grenzüberschreitend von den Bürgern der gesamten dortigen Region benutzt wird, ist ein Beispiel. Es ist absoluter Unsinn, das bisher bestehende Konkurrenzverhältnis zwischen Tegel und Schönefeld weiter kultivieren zu wollen. Viertens. Die Berlin-Initiative der drei Mächte und die Antwort der Sowjetunion haben klargemacht, daß es Verbesserungen im Luftverkehr in und um Berlin nur gemeinsam mit der DDR geben wird oder nicht geben wird. Die Interessen von Berlin ({20}) können deshalb nur wirksam im Zusammenhang mit einem deutsch-deutschen Luftverkehrsabkommen eingebracht werden. Dabei müssen die Vier Mächte in Ausübung ihrer jeweiligen Rechte und Verantwortlichkeiten mitwirken. Fünftens. Aus diesen Gründen ist es nun an der Zeit, daß die Bundesregierung die Initiative für Verhandlungen über ein Luftverkehrsabkommen mit der DDR ergreift, das auf der Grundlage der Lufthoheit der beiden deutschen Staaten gegenseitige Lande- und Überflugrechte von Lufthansa und Interflug regelt, ohne den alliierten Luftverkehr in den Luftkorridoren nach Berlin ({21}) zu berühren. Dabei müssen Lufthansa und Interflug zukünftig genauso wie die alliierten Luftverkehrsgesellschaften, allerdings außerhalb der Luftkorridore, das Recht haben, die deutsch-deutsche Grenze zu überfliegen, auch muß die Lufthansa künftig Berlin-Tegel anfliegen können. ({22}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, es gibt kaum ein besseres Beispiel als den Luftverkehr von und nach Berlin, um deutlich zu machen, wie verschachtelt das Interessen- und Machtgeflecht ist, das über Berlin lagert. Berlin-Politik ist deshalb immer ein Spiel mit mindestens sechs Bällen, und man muß schon aufpassen, daß man jeweils nach dem richtigen Ball greift, wenn man nicht alle sechs verlieren will. Das ist nicht prinzipiell neu, sondern war schon so, als es Anfang der 70er Jahre galt, auf der Basis des Status von Berlin im Viermächteabkommen die Spielregeln neu zu definieren. Status und Viermächteabkommen bleiben die Grundlage, solange es eine bessere nicht gibt. Aber auf dieser Grundlage verschieben sich die politischen Gewichte der einzelnen bewegenden Faktoren ständig. So wächst den Deutschen in beiden Staaten und in Berlin unaufhörlich eine immer größere eigene Verantwortung für die Gestaltung der Ost-West-Beziehungen in Mitteleuropa zu. Wenn sich die Frage der Souveränität nicht eines Tages explosiv und dann schädlich stellen soll, dann dürfen die Siegermächte des Zweiten Weltkriegs die Deutschen immer weniger daran hindern, die Organisation ihres friedlichen Zusammenlebens zunehmend selbst zu regeln. Die Epoche, in der Berlin ({23}) seine Sicherheit und Integrität nicht mehr im Ost-West-Konflikt, sondern in der Ost-West-Kooperation finden wird, hat schon begonnen. ({24})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Werner.

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bewegung in der Ost-West-Politik hat auch Bewegung in die Deutschlandpolitik gebracht, und sie zwingt uns auch, über die zukünftige Gestaltung in Deutschland nachzudenken und Gedanken darüber zu machen, wie Deutschland in Europa ausschauen soll. Die CDU/CSU spricht sich im Einklang mit dem Grundgesetz eindeutig für die Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts aller Deutschen aus. Leider aber, meine Damen und Herren, muß man feststellen, daß sich - nicht zuletzt auf Grund der fortgesetzten Gespräche der SPD mit der SED - in der SPD ein Positionswechsel abzuzeichnen beginnt. Er besteht wohl darin, in der Öffentlichkeit nicht mehr primär die Wiedervereinigung als notwendiges Ziel darzulegen, sondern über Sinn oder Unsinn dieser Wiedervereinigung laut nachzudenken. ({0}) In seiner Münchener „Rede über das eigene Land" hat Willy Brandt 1985 - wie zuvor schon in Tutzing Egon Bahr - gemahnt, nicht mehr soviel über die Wiedervereinigung zu reden. Im September 1988 nannte er die jahrzehntelang genährte Hoffnung auf Wiedervereinigung eine Lebenslüge unserer Republik und kritisierte das Bundesverfassungsgericht wegen dessen deutschlandpolitischer Aussagen. ({1}) Der deutschlandpolitische Sprecher der SPD, Hans Büchler, empfiehlt, in einer zweiten Phase der Deutschlandpolitik Abschied von der Illusion einer aktiven Wiedervereinigungspolitik zu nehmen. Ja, er sieht in dem heutigen Bekenntnis zur staatlichen Wiedervereinigung in Form des Nationalstaats eine unzulässige Festlegung späterer Generationen und damit eine Fehlinterpretation des Selbstbestimmungsrechts. Egon Bahr schließlich nennt in Erfurt die ganze Diskussion über die Wiedervereinigung „Quatsch" und Werner ({2}) schilt in seiner jüngsten Münchener Rede über das eigene Land den Willen zur Wiedervereinigung im CDU-Parteiprogramm Lüge, Heuchelei und politische Umweltverschmutzung. ({3}) Es gebe keine Chance, die deutschen Staaten zusammenzuführen. Ich beziehe mich hier, Herr Bahr, auf Pressemeldungen. Das Erstaunliche an diesen Ausführungen ist, wie leichthin die SPD die Aussagen des Grundgesetzes und die sich daraus ergebenden Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts ({4}) zur Seite schiebt. ({5}) Das Grundgesetz verpflichtet doch das deutsche Volk in der Bundesrepublik Deutschland, die nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied . . . ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege Werner - Werner ({0}) ({1}): ... in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen. - Ja, bitte schön.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter Bahr.

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, würden Sie so freundlich sein, die Bezüge, die ich in dieser Rede gerade auf den Verfassungsauftrag gemacht habe, bitte einzubeziehen?

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bahr, ich werde das gerne tun. Ich hatte Ihnen erklärt, ich mußte mich leider auf Zeitungsausschnitte beziehen. ({0}) Aber ich habe keinerlei Zweifel, daß die dort angeführten Zitate zutreffend sind. Das Verfassungsgericht fordert das ganze deutsche Volk auf, die Einheit und Freiheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung zu vollenden. Das Verfassungsgericht hat festgestellt, daß alle Staatsorgane verpflichtet seien, alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung erschweren oder vereiteln würde. Dementsprechende offizielle Erklärungen hatte die Bundesregierung beim Abschluß der Ostverträge und schon der Römischen Verträge abgegeben. ({1}) - Alle diese Festlegungen, Herr Bahr, scheinen Sie heute als Fesseln zu empfinden. Offensichtlich glauben Sie auch nicht daran, daß das Einheitsgebot einst verwirklicht werden kann. ({2}) Denn angeblich ist - so jetzt meine Interpretation, wenn ich Sie richtig verstehe - die Existenz zweier deutscher Staaten dem Frieden und dem Zusammenwachsen Gesamteuropas dienlicher - wenigstens heute und morgen - als ein Gesamtdeutschland. ({3}) - Bitte schön.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie gestatten. - Herr Bahr.

Prof. Egon Bahr (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000080, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Finden Sie es angemessen, Herr Kollege, einen so umfassenden Angriff ohne Kenntnis des Wortlautes überhaupt zu starten, zumal ich in der Rede exakt die Teile des Urteils des Bundesverfassungsgerichts mit angezogen habe, die Sie soeben hier zitiert haben? ({0})

Herbert Werner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002484, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Bahr, aus Ihrer Frage muß ich entnehmen, daß Sie sich nicht gegen die Zitate, auf die ich mich stütze, und die Aussagen, die dort gemacht wurden, wenden, sondern daß Sie jetzt bereits in die Interpretation hineinschreiten. ({0}) Ich glaube, es ist durchaus zulässig, ({1}) Zitate, die als Zitat in Zeitungen wiedergegeben sind, zu benutzen, selbst dann, wenn man nicht umfassend den Redebeitrag zur Grundlage hat. ({2}) Es steht Ihnen ja frei, meine Interpretation als falsch zu widerlegen. ({3}) Meine Damen und Herren, heute hat hier auch Herr Vogel - wenn ich ihn richtig verstanden habe - so getan, als stünden europäische Einigung und Wiedervereinigung in letzter Konsequenz in einem Gegensatz zueinander. ({4}) Auch diese Argumentationen, stehen nicht im Einklang mit unserer Verfassung, und sie sind in sich, so glaube ich, auch nicht zwingend. Die deutsche Frage ist offen, solange wir Deutschen sie selber als offen behandeln. ({5}) Zwei Drittel der Menschen in beiden Staaten in Deutschland sehen die Wiedervereinigung als ein hohes erstrebenswertes Ziel an, dessen Wert selbst dann bleibt, wenn man sie selber nicht mehr erleben werde. Die Deutschen wollen also nicht nur eine KulturnaWerner ({6}) tion, sondern sie wollen die staatliche Einheit. Je häufiger die Deutschen einander im geteilten Deutschland begegnen, desto intensiver wird ihr Zusammengehörigkeitsgefühl sein und bleiben. Der Ausbau der menschlichen Begegnungen bis hin zur Freizügigkeit ist daher vorrangige Aufgabe jeder Politik für Deutschland. ({7}) Voraussetzung dafür ist, meine Damen und Herren, daß das Ost-West-Verhältnis sich weiter entkrampft und sich auf systemübergreifende Zusammenarbeit hinentwickelt. Systemübergreifende Zusammenarbeit kann aber ohne entsprechende Fortschritte im Bereich der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts nicht sinnvoll und für alle Beteiligten erfolgreich sein. Deshalb hat der Bundeskanzler in Moskau nachdrücklich auf das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und ihr Streben nach Einheit hingewiesen. Gorbatschow, der die Lebenskraft von Nation und Nationalitäten in der Sowjetunion täglich erlebt, hat die endgültige Antwort auf das Streben der Deutschen auf die Zukunft verschoben, die bekanntlich offen ist. Es wäre daher völlig falsch, nicht immer wieder mit Bedacht und Geschick in Moskau die offene deutsche Frage anzumahnen, auch wenn heute die offizielle Moskauer Politik von zwei Staaten in Deutschland als einer unverrückbaren Gegebenheit ausgeht. Westeuropa wächst Schritt für Schritt zusammen. Niemand glaubt heute jedoch daran, daß die Staaten in einer westeuropäischen Union einfach verschwinden werden. Die Nationalstaaten werden mit eigenen Selbstverwaltungsbefugnissen weiter bestehen bleiben, und auch die Bundesrepublik Deutschland wird nicht einfach in einer Union aufgehen. Die Bundesregierung hat allerdings von Verfassungs wegen die Pflicht, bei jedem Schritt zur Europäischen Union abzuwägen, ob dadurch die Wahrung des Staatsziels Wiedervereinigung gefährdet würde. Bisher war diese Gefährdung nicht gegeben, auch nicht durch die Europäische Akte, die eine Ergänzung der Römischen Verträge ist. Aber selbstverständlich wird jede Bundesregierung darauf achten müssen, ob in Zukunft bei qualitativ neuen Vereinbarungen in letzter Konsequenz das Staatsziel Schaden erleiden könnte. ({8}) Die immer enger werdende Vernetzung der Staaten in der Europäischen Union darf eben nicht dazu führen, daß die Bundesrepublik Deutschland die Chance einer Wiedervereinigung in Freiheit und auf der Grundlage des Selbstbestimmungrechts überhaupt nicht mehr nutzen könnte. ({9}) - Das Ergreifen dieser Chance muß allerdings, Herr Bahr, nicht in jedem denkbaren Fall notwendigerweise ein Ausscheiden aus der Europäischen Union bedeuten. Die Sorge, daß die Partner in der Europäischen Union die erforderlichen Vorbehalte bei qualitativ neuen Vereinbarungen nicht akzeptieren würden, ist meines Erachtens unbegründet. Die drei Westmächte haben sich im Deutschlandvertrag zur Förderung der staatlichen Einheit Deutschlands verpflichtet. Sie haben damit ihre Verantwortung für ganz Deutschland unterstrichen, wie sie das auch in Verbindung mit den sonstigen Verträgen stets getan haben, und das Selbstbestimmungsrecht für Deutschland gefordert. Die NATO-Mitgliedstaaten haben im Harmel-Bericht festgeschrieben, die Herstellung der deutschen Einheit zu unterstützen. Das heißt: alle unsere Partner respektieren, ja unterstützen unser Staatsziel. Allerdings muß man auch offen sagen: Gegen den Willen der Vier Mächte und ohne Mitwirkung aller Nachbarstaaten in West und Ost wird im übrigen die freie Ausübung des Selbstbestimmungsrechts für alle Deutschen - und damit die Wiedervereinigung im Rahmen eines Friedensvertrags mit ganz Deutschland - nicht möglich sein. Der Fall, daß die Bundesrepublik als Teilstaat einer Europäischen Union gegen den Willen dieser Union zur Wiedervereinigung mit den anderen Teilen Deutschlands, für die dann im übrigen in der östlichen Staatengemeinschaft wohl ähnliche Voraussetzungen gelten dürften, schreiten könnte, ist daher zwar denkbar, aber kaum möglich, wenn man die Sache nüchtern betrachtet. Gerade deshalb erscheint es mir um so wichtiger, daß die Bundesrepublik Deutschland die verbündeten Staaten aus den übernommenen Verpflichtungen zur Unterstützung der Einheit Deutschlands nicht entläßt. Das heißt: die Zukunft Deutschlands hängt nicht zuletzt von uns ab, von unserem Wollen. Im übrigen meint, so glaube ich, die Präambel des Grundgesetzes mit dem „vereinten Europa" gewiß mehr als nur die Europäische Union. Gedacht ist wohl eher an eine Gemeinschaft aller europäischen Staaten, die im Einklang mit dem Selbstbestimmungsrecht aller Völker - ich unterstreiche: aller Völker - sich organisiert haben. In ein derartiges Europa ohne starre ideologische Blöcke, in dem Sicherheit und Wohlfahrt aller Staaten durch gemeinsame Organe gewährleistet würden und in dem die Grenzen völlig offen wären, würde sich auch ein geeintes Deutschland sehr wohl einfügen. ({10}) Fazit: Wir dürfen uns die Wege zur Einheit nicht selber verbauen. Gerade deshalb sollte die SPD die aufgekommene Diskussion, die ich als von Resignation geprägt bezeichnen möchte ({11}) und die sich letztlich gegen die Einheit richtet, möglichst umgehend beenden. Ich danke fürs Zuhören. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Hensel.

Karitas Dagmar Hensel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000872, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Sehr verehrte noch anwesenden Damen und Herren! Das selbstzufrieden entfaltete Panorama der Regierungspolitik, wie es in der Rede des Bundeskanzlers zum Ausdruck kam, unterscheidet sich kaum vom Grundtenor der Berichte früherer Jahre: Natürlich hat die Bundesregierung alles für die Einheit, für die Wiedervereinigung getan; auch hat sie bei der DDR für die Landsleute drüben alles rausgeholt, was rauszuholen war; auch zeigt sich die Bundesregierung besorgt über die innere Lage in der DDR; sie hat sogar Gorbatschow den Kopf gewaschen und ihm gezeigt, was eine Harke in Sachen Wiedervereinigung ist; sie vergißt auch nicht die Beteuerung, Berlin sei Gradmesser der Ost-West-Beziehungen und unveränderliche Hauptstadt der Nation. Alljährlich folgt auch das Bekenntnis zum westlichen Bündnis und folgen die Hinweise auf die Freiheit der Menschen in der Bundesrepublik. ({0}) Möglicherweise habe ich einige Stereotypen der Grundorientierung der jährlichen Regierungserklärung übersehen; aber über eines wurde bestimmt nicht geredet: über die komplexe und komplizierte Realität, ({1}) über die schwierigen Probleme, vor die sich alle europäischen Länder gestellt sehen. Vor allem schweigen Sie, Herr Kohl - er ist leider nicht mehr da - , natürlich zu der zunehmenden inneren Zerrissenheit des Koalitionslagers in den Fragen der Außen- und Deutschlandpolitik. ({2}) In ungeahnter Weise hat die geänderte Politik der beiden Großmächte, insbesondere die außenpolitische Öffnung der Sowjetunion unter der Reformpolitik Gorbatschows, die konservativen Parteien unter Druck gesetzt: Innenpolitisch beschleunigt sie die Prozesse der Herausbildung einer rechtsnationalistischen Partei, und außenpolitisch ruft sie die Spagatstellung zwischen einer Neubelebung der Ansätze nationaler Politik und der Weiterentwicklung der EG-Integration bzw. des Atlantischen Bündnisses hervor. Was sozusagen die politischen Alarmglocken läuten läßt, sind die sich mehrenden Anzeichen, daß die Entscheidung zwischen Nation und Westbindung - diese Entscheidung stellt sich objektiv - von einer zunehmenden Zahl von Unionspolitikern offengelassen oder heute schon zugunsten traditionaler Sinnstiftung des alten Deutschlandbegriffes gefällt wird. Die strategischen Bestimmungen und politischen Optionen im Koordinatenfeld der Ost-West-Konfrontation sind in Bewegung geraten. Die pazifische Orientierung der USA und die westeuropäische Wendung zum eigenen Kontinent, die Machtüberdehnung beider Großmächte sowie die inneren und äußeren Umgestaltungsbemühungen und Abrüstungsinitiativen der Sowjetunion signalisieren eine globale Umbruchsituation, die die Möglichkeit einer dauerhaften europäischen Friedensarchitektur bietet, ({3}) die auf einer kooperativen und interdependenten Koexistenz beider Gesellschaftssysteme basiert. Wir leben in einer Übergangszeit, und die politische Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des entstehenden Vakuums hat längst begonnen. Das haben auch die Stahlhelmer in der Union begriffen, und, für eine breitere Öffentlichkeit sichtbar, zeigten sich neutralistische Stimmungen in der CDU/CSU-Fraktion während der Debatte um die doppelte Null-Lösung. Unter den Stichworten einer „Singularisierung" und „Sonderbedrohung" der Deutschen wurde unter antiamerikanischem Vorzeichen einer Renationalisierung der bundesdeutschen Außenpolitik das Wort geredet. Auch Sie, Herr Kohl, waren anfangs nicht abgeneigt, solche nationalen Töne anzuschlagen. Die Warnungen an die Adresse des Westens, die Bundesrepublik könnte ihre NATO-Mitgliedschaft in Frage stellen, wenn das INF-Abkommen abgeschlossen würde - Herr Dregger und Herr Rühe exponierten sich besonders in dieser Frage - , wurden von Ihnen nicht zurückgewiesen. Statt dessen jetteten beide als Sonderbotschafter des Kanzlers nach London und Paris. Daß Ihre Regierung, Herr Kohl, dem INF-Abkommen zustimmte, geschah nicht aus eigener Einsicht und Überzeugung, sondern durch den unnachgiebigen Druck der USA und der NATO-Partner. In diesem Kontext ist auch verständlich, daß die halbherzigen Vorstöße Heiner Geißlers, einer deutsch-nationalen Politik in der Union die programmatische Grundlage zu entziehen, nicht auf Unterstützung durch den Kanzler hoffen konnten. Auch in der jüngsten Auseinandersetzung über seine Äußerungen über die Überholtheit eines Nationalstaates in den Grenzen von 19xy stand er allein da und mußte unter dem Druck der Deutschnationalen klein beigeben. ({4}) - Das war genau so, und das wissen Sie ganz genau! Die Tragweite dieser Entscheidung wird erst dann richtig deutlich, wenn der seit Jahren stärker werdende Trend in rechten und in konservativen Kreisen, die „Mittellage" Deutschlands wieder zu betonen, in den Blick gerät. Auf Grund der historischen Voraussetzungen bedeutet eine politische Konzeption, die auf „Mitteleuropa" und nationale Bezüge setzt, die Wiederherstellung des Anspruchs, als Nationalstaat eine führende Rolle in Europa zu spielen, ({5}) sowie die Belebung antiwestlicher Ressentiments und die perspektivische Aufkündigung der Westbindung. - Das ist so. ({6}) Herr Dregger arbeitet schon seit Jahren daran, die Deutschen nicht nur in einem Nationalstaat zu vereinen, sondern auch zu neuem Nationalstolz zu überreden. Die Protagonisten eines tiefsinnigen deutschen Gemüts oder - damit Sie das verstehen -, moderner ausgedrückt, eine „nationale Identität" haben seit Bitburg eine Vielzahl von Versuchen unternommen, Auschwitz zu relativieren, damit deutsche Nationalgeschichte überhaupt sinnstiftend wirken kann. ({7}) Ihre Akzeptanz der Westbindung beschränkte sich auf das machtpolitische Kalkül einer reaktionären NATO-Philosophie, ({8}) während Sie die kulturelle Dimension der Westorientierung, nämlich Pluralismus, Toleranz, Weltoffenheit und Aufklärung, ablehnen. ({9}) Unter Berücksichtigung solcher Zusammenhänge erhalten bestimmte Äußerungen verantwortlicher Politiker eine ganz andere Brisanz. So äußerte sich Eberhard Diepgen bei der Grundsteinlegung für das „Deutsche Historische Museum" in Westberlin ganz anders als heute: Aber die Standortentscheidung werte ich als bewußte Hinwendung des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland, - des Teilstaates Bundesrepublik Deutschland! ({10}) zur Mittellage Deutschlands in Europa, ({11}) zur Rolle Berlins als Hauptstadt der deutschen Nation. ({12}) In diesem Satz finden wir die ganze antiwestliche Mitte-Ideologie. ({13}) Es gibt eine Vielzahl ähnlicher Äußerungen und Erscheinungen. Meine Befürchtung ist, daß die EwigGestrigen in der Union schon wieder eine Zukunft haben. ({14}) Bei ihnen steht längst die Westbindung zur Disposition, ({15}) und der Schleichweg der Bundesrepublik zur mitteleuropäischen Macht und zur nationalstaatlichen Größe beginnt, sich von rechts als Straße auszudehnen. Das politische Klima heute erlaubt es, daß der Kultusminister von Baden-Württemberg, Gerhard Mayer-Vorfelder, in der Zeitschrift „Nation Europa", die im Verfassungsschutzbericht als rechtsextremes Organ geführt wird, ({16}) im September 1988 einen Beitrag veröffentlicht. Das ist möglich. Während Heiner Geißler mit seiner Vision von einer Bundesrepublik als multikultureller Gesellschaft von niemandem in der Union unterstützt wird, kann sich Edmund Stoiber kurz nach dem 50. Jahrestag der antisemitischen Pogrome gegen Geißler als ein an dunkle Tage erinnernder Rassehygieniker aufspielen und vor einer „durchrassten und durchmischten Gesellschaft" warnen ({17}) - aber er hat es getan! - , ohne daß in der Union damals auch nur die Spur eines Protestes wach wurde. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Rednerin hat das Wort, meine Herren! ({0}) - Herr Ehmke, die Rednerin hat das Wort.

Karitas Dagmar Hensel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000872, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich freue mich, wenn mein Beitrag eine spontane Debatte hervorruft. ({0}) - Den muß ich mir auch von Ihnen anhören. Ich habe Sie meinerseits angehört. ({1}) In diesem Kontext steht auch die unterschiedliche politische und kulturelle Behandlung von Aussiedlern und Asylsuchenden durch die Bundesregierung. Die Bundesregierung benutzt die Aussiedler, um in der Gesellschaft das Wahrnehmungsmuster von Deutsch und Fremd wieder zu etablieren. ({2}) - Hören Sie mich zu Ende an. Aber Aussiedlerfreundlichkeit und Ausländerfeindlichkeit sind im realen Alltag der Menschen nicht vorhanden. Die große Mehrheit der Bundesdeutschen steht der Aufnahme von Aussiedlern und Asylsuchenden in gleichem Maße positiv gegenüber. Da werden bei der deutschen Bevölkerung keine Unterschiede gemacht. Die werden nur bei Ihnen gemacht. ({3}) Atlantische Kühle und mitteleuropäische Fühligkeit sind nicht nur eine Sache des nationalen Flügels der Union bis hin zum rechtsextremen Rand, sondern finden sich in allen Parteien. Das macht die Sache denn nun auch nicht einfacher. Es war höchst erstaunlich, wie das Gerücht, Gorbatschow wolle die berühmt-berüchtigte „Deutsche Karte" spielen, gestandenen Altpolitikern den Kopf verdrehte. Es drängte sich der Eindruck auf: da war der Wunsch der Vater des Gedankens, obwohl die Sowjetunion auch unter Gorbatschow nicht müde wird, hier und da die Rapallo-Melodie zu spielen. Die Sowjetunion kann ich verstehen, aber was erwarten Sie, Herr Lambsdorff - wenn er anwesend wäre - , Herr Hennig und Herr Friedmann, von einer Wiedervereinigung von sowjetischen Gnaden? Haben Sie etwa die ganze Zeit eine latente Abneigung gegenüber den westlichen Werten und der westlichen Kultur verspürt? In diesem Zusammenhang hätte ich mir einen Kanzler Kohl in Moskau gewünscht, der nicht die Wiedervereinigung eingeklagt hätte, sondern der Gorbatschow klipp und klar gesagt hätte, egal welches Angebot er zur Wiedervereinigung auch machen würde, es würde nicht angenommen. Nicht nur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen stellt sich grundlegend die Frage: Deutschland oder Europa? Nationalstaat oder Integration? Partikularismus oder Universalismus? Auch wenn Frau Wilms verzweifelt versucht, Antagonistisches als Zusammengehöriges zu verkaufen, wird sich jede Bundesregierung zwischen diesen beiden Alternativen entscheiden müssen. Geißler hatte recht, als er im Februar schrieb, die Einheit ließe sich nur mit Zustimmung der europäischen Nachbarn verwirklichen, ({4}) was nichts anderes heißt, als daß es sie überhaupt nicht geben wird, was auch heißt: Wiedervereinigung ist nur gegen den Westen zu haben. Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren, die Herausforderung, für die sich ganzer Einsatz lohnt, heißt Europa. Es muß ein Europa werden, das pluralistisch und demokratisch, ökologisch und sozial ist, ({5}) in dem die EG-Integration Formen supranationaler Demokratie mit stark dezentralen Willensbildungsstrukturen entwickelt und offen ist für Kooperation und Verflechtung mit Osteuropa. ({6}) Das, meine Damen und Herren, ist nach Auffassung der GRÜNEN, die Lage der Nation. Ich danke Ihnen. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte über die Regierungserklärung begann hoffnungsvoll. Die Regierungserklärung selbst war in der Lage, positive Entwicklungen darzustellen. Ich brauche die Einzelheiten nicht zu wiederholen, aber erinnere noch einmal zumindest an den einen und schwerwiegendsten Punkt, an die Zunahme der Zahl der Besuchsreisen aus der DDR in die Bundesrepublik Deutschland. Der Vorsitzende der SPD-Fraktion sah sich in der Lage, diese positiven Entwicklungen zu bestätigen, und er verband diese Aussage mit dem Angebot einer Gemeinsamheit in der Deutschlandpolitik. Ich hätte dem Kollegen Dr. Vogel gewünscht, daß dieses sein Angebot nicht durch Redner seiner eigenen Fraktion relativiert und zum Teil wieder zurückgenommen worden wäre. Das, was der Kollege Büchler hier an zusätzlichen Bedingungen genannt hat, nimmt zurück, was der Kollege Vogel an Angeboten gemacht hat. Aber, Herr Kollege Heimann, es wird ja im Grunde genommen noch viel schlimmer. Ich habe heute aus Ihrem Mund ein Wort gehört, das nun wirklich die Gemeinsamkeit der Deutschlandpolitik ausschließt. Sie haben davon gesprochen, es gelte, die Chance der Zweistaatlichkeit zu nutzen. ({0}) Herr Kollege Heimann, ich sage Ihnen hier mit aller Deutlichkeit: Ich verwahre mich dagegen, daß ein solches Wort irgend etwas mit dem zu tun hat, was Ihre Fraktion und meine Fraktion in den 70er Jahren an Deutschlandpolitik betrieben haben. ({1}) Dies war nicht das, Herr Kollege Heimann, was uns zusammengeführt hat. ({2}) Vielleicht sollte man auch noch einmal darüber nachdenken, auf welchen Punkt denn eigentlich diese Deutschlandpolitik, auf deren Erfolge wir bei allen kritischen Bemerkungen gegenüber bestimmten Entwicklungen in der DDR in der allerjüngsten Vergangenheit blicken, zurückgeht. Ich tue das als Vertreter meiner Fraktion sehr gerne. Denn ich verweise Sie alle in Ihrer Erinnerung auf das Datum des 24. Januar 1969. Damals, zu Zeiten der Großen Koalition, hat die FDP-Fraktion einen Entwurf für einen Generalvertrag mit der DDR eingebracht. Er ist im Mai desselben Jahres diskutiert worden. Heute kann ich meine Kollegen von der SPD-Fraktion nur auffordern, einmal den Grundlagenvertrag in seiner endgültigen Formulierung und diesen Entwurf eines Generalvertrages nebeneinander zu legen und dann das Urteil darüber zu fällen, von wo aus eigentlich die Initiative ausgegangen ist, um eine Deutschlandpolitik zu betreiben, die die Menschen im geteilten Land näher zueinander führt und die auch dazu beiträgt, daß wir mit unseren Leistungen einen positiven Einfluß auf die tägliche Lebenssituation der Menschen in der DDR nehmen. Der einzige Weg, den wir dazu haben - das war und ist unsere Auffassung - geht über den Staat DDR und über die Zusammenarbeit mit ihm. ({3}) Aber wenn ich aus Ihrem Munde höre, daß die Zusammenarbeit, auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit der DDR letzten Endes ein Regime stütze, dessen Politik wir nicht für gut halten - das gilt auch für seine Politik gegenüber den eigenen Bürgern im Lande -, dann muß ich Ihnen sagen: Ich bin bereit - und meine Kollegen in meiner Fraktion sind bereit - , diese Politik weiterzuführen, solange wir auch nur einen Ansatzpunkt dafür haben, daß diese Politik den Menschen im geteilten Lande zum Nutzen sein wird. Wir werden von dieser Politik nicht ablassen. ({4}) - Ja, ehe ich zu einem anderen Thema komme, Frau Präsidentin, lasse ich diese Zwischenfrage zu.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Dr. Lippelt, bitte.

Dr. Helmut Lippelt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001352, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Ronneburger, wie wollen Sie denn nun den relegierten Schülern helfen? Wie wollen Sie denn mit dieser Politik Verhältnisse schaffen, die genau dies verhindern, daß nämlich permanent Leute gegen ihren Willen ausgewiesen werden und daß Schüler relegiert werden? Wie wollen Sie das machen, wenn Sie gleichzeitig die Verhältnisse in dieser Weise stabilisieren?

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, ich bedauere Ihr kurzes Gedächtnis, wenn ich das so mit aller Deutlichkeit sagen darf. Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Zustände zwischen den beiden deutschen Staaten vor 1969? Erinnern Sie sich daran, was damals Alltag war? Vergleichen Sie es bitte mit dem, was wir heute haben, und fragen Sie sich einmal, ob das, was wir in diesen Jahren getan haben, den Menschen genützt hat oder nicht. ({0}) Hier hat sich etwas entwickelt. Aber damit an meiner und an unserer Haltung Ihnen gegenüber überhaupt kein Zweifel aufkommt: Das, was wir erreicht haben, ist nicht der Endzustand, den wir uns als Ergebnis dieser Politik vorstellen. Aber es sind Schritte auf dem Wege dorthin, und wir sind bereit, diese kleinen Schritte beharrlich weiterzugehen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung hat einen ganz bestimmten Akzent unserer Deutschland- und Europapolitik in einer dankenswerten Klarheit dargestellt. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen, daß es auf Grund unserer Verfassung zwei Aufträge gibt, nämlich die Einheit der Nation zu bewahren und in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Die jüngsten Entwicklungen zwischen Ost und West lassen auf einmal die Hoffnung, ja, die Möglichkeit aufkommen, daß eine Kombination dieser beiden Aufträge auch zu einer positiven Antwort auf die deutsche Frage führen wird. Wir alle hoffen, daß die Entwicklungen, die sich in der Sowjetunion, in Ländern des Warschauer Pakts und vielleicht eines Tages auch in der DDR vollziehen, zu einem, wie es immer genannt wird, gemeinsamen europäischen Haus führen werden, in dem dann auch die Deutschen ihr Selbstbestimmungsrecht werden ausüben können. Nur, wenn von dem gemeinsamen europäischen Haus die Rede ist, dann wird man daran einige Vorbedingungen knüpfen müssen. ({2}) Die Statik in diesem Haus muß stimmen, und es darf nicht Vorbedingung sein, daß der eine das Mobiliar des andern übernimmt, sondern Vorbedingung muß sein, daß er in voller Freiheit in seinem Teil dieses Hauses seine nationale Identität bewahrt. ({3}) Innerhalb dieses Hauses darf es keine verschlossenen Türen geben, und das ist wohl für uns als Deutsche eine ganz wichtige Voraussetzung all dessen, was wir wollen. ({4}) Wir wollen nicht, daß die Deutschen in einem solchen gemeinsamen europäischen Haus eine Sonderrolle spielen. All unsere Partner und Nachbarn in Ost und West werden unter Bewahrung ihrer nationalen Identität in dieses Haus einziehen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum ausgerechnet wir diese nationale Identität bei dem Einzug in das gemeinsame europäische Haus aufgeben sollten. ({5}) Deswegen sage ich hier: Es ist bei uns notwendig, daß wir uns darauf besinnen, wie es der Bundesaußenminister eines Tages gesagt hat, daß auch die Jahre seit Kriegsende aus dem einen Europa nicht zwei Europas gemacht haben und aus dem einen Deutschland nicht zwei Deutschlands. Vielleicht täten wir gut daran, auch in der Sprache unseres täglichen Umgangs miteinander und mit der anderen Seite exakter zu sein und nicht von Deutschland zu reden, wenn wir nur die Bundesrepublik Deutschland meinen, ({6}) und nicht von Europa, wenn wir nur an die Europäische Gemeinschaft denken. ({7}) Wenn wir uns nicht darauf besinnen, daß auch jenseits jener Grenze, die heute Europa und unser Vaterland teilt, Europäer leben, und zwar Mitteleuropäer nach historischem Verständnis, wenn wir uns der Gemeinsamkeit, der gemeinsamen Identität Europas nicht bewußt werden, dann wird es sinnlos sein, in ein solches gemeinsames Haus Europa einzuziehen. Aber eines muß dann auch hier hinzugefügt werden, weil neben der Aussage von der Chance der Zweistaatlichkeit auch die Frage aufgetaucht ist, wie es denn um die Bewahrung des Friedens in Europa steht. Sind wir uns eigentlich darüber im klaren, daß derjenige, der Grenzen aufheben, der Grenzen durchlässig machen will, der Grenzen beseitigen will, dem Frieden einen besseren Dienst tut als derjenige, der Grenzen in die Zukunft hinein verlängern und sie gar mit Gewalt für einen großen Teil der Menschen undurchdringlich machen will? Deswegen ist unsere Politik, die auf Selbstbestimmungsrecht der Deutschen hinläuft, eine Politik, die dem Frieden in Europa dient. Derjenige, der versucht, uns bei einer solchen Lösung zu behindern, um diese Grenze so zu lassen, wie sie heute ist, der dient dem Frieden nun wahrlich nicht. Deswegen werden wir diese Politik so weiterbetreiben. Deswegen werden wir mit kleinen Schritten weiter vorangehen. Deswegen werden wir nichts von dem aufgeben, meine Damen und Herren in der SPD-Fraktion, was wir einmal an gemeinsamer Deutschlandpolitik auch in der sozialliberalen Koalition betrieben haben. ({8}) Aber ich füge hinzu: in einer SPD-geführten Koalition, aber mit einer FDP-orientierten und -inspirierten Deutschlandpolitik. Dafür habe ich Ihnen vorhin ein nachdrückliches Beispiel mit auf den Weg gegeben. ({9}) Wir suchen eine europäische Friedensordnung, in der es dem deutschen Volk möglich werden wird, sein Recht auf Selbstbestimmung im Einklang mit den Interessen seiner Nachbarn in Ost und West zu verwirklichen. Wir treiben keine Deutschlandpolitik gegen irgend jemanden. Wir treiben Deutschlandpolitik für das deutsche Volk und für seine Zukunft. ({10}) Es wäre gut, wenn wir uns, so wie es auch der Bundeskanzler heute noch einmal gesagt hat, nicht nur darüber klar sind, daß wir hier vor einer Aufgabe von historischer Dimension stehen und die Lösung dieser Aufgabe nicht dem Lauf der Geschichte überlassen dürfen, sondern auch darüber, daß wir aufgerufen sind - wir, die wir heute und in den nächsten Jahrzehnten Verantwortung tragen -, im Sinne dieser Vorstellungen politisch gestaltend zu wirken. Ich bedanke mich. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Hiller.

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, mit den Zitaten ist es heute schwierig gewesen. Der Kollege Heimann hat nicht von der Chance der Zweistaatlichkeit gesprochen, wenn ich das richtig verstanden habe, ({0}) sondern von der Chance in der Zweistaatlichkeit. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Also, wenn man zitiert, sollte man genauer zitieren. Es hat ja auch jeder die Chance, das im einzelnen nachzulesen. ({1}) Meine Damen und Herren, der Bericht zur Lage der Nation ist nicht nur das, was der Herr Bundeskanzler sagt und was hier in der Debatte gesagt worden ist, sondern das ist auch das, was die Menschen in beiden deutschen Staaten empfinden. Das ist in vielen Fällen dasselbe, weil sie von den gleichen Hoffnungen und Ängsten getragen bzw. geplagt sind. Die Menschen in den beiden deutschen Staaten fühlen sich von Umweltverschmutzung und Rüstung bedroht. Sie wollen ihren Kindern eine lebenswerte und intakte Welt hinterlassen. Nun muß man fragen: In welcher Weise berücksichtigt die Bundesregierung diese neuen deutsch-deutschen Gemeinsamkeiten? Wir hören gern über Fortschritte in Sachen Elbe-Sanierung. Allerdings darf es diesmal nicht bei einer Willenserklärung bleiben, wie es bei der Werra der Fall gewesen ist; der Kollege Büchler hat dazu etwas gesagt. Hier können wir bisher nur Worte und Papiere feststellen, ({2}) aber leider keine Taten. So lange darf es bei der Elbe nicht dauern. Es wäre richtig, wenn schon jetzt die CSSR mit einbezogen werden würde; denn mit beiden Staaten haben wir ein Umweltschutzabkommen. ({3}) Beide Beispiele zeigen deutlich, wie konzeptionslos die Bundesregierung in Sachen Umwelt ist. ({4}) Sie liebt es mehr, ein Strohfeuer zu entfachen, um vor dem Publikum in hellem Licht dazustehen, nur Hiller ({5}) herrscht danach in der Regel tiefste Finsternis, wenn es um die Taten geht. ({6}) Vorzeiten mal ein bißchen Luftreinhaltung, dann ein bißchen Werra, jetzt ein bißchen Elbe, dann ein bißchen Ostsee - das ist keine Umweltpolitik, sondern Effekthascherei. ({7}) Es fehlt ein Gesamtkonzept. Bleiben wir einmal beim Müll, meine Damen und Herren. Erst Schönberg -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie vorher eine Zwischenfrage?

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte sehr.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kittelmann.

Peter Kittelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, da wir miteinander ja fair diskutieren: Könnten Sie einmal die Erfolge der letzten Jahre in einen Zusammenhang mit den Erfolgen stellen, die zur Zeit der Regierung der SPD erreicht worden sind, damit sich der Bürger draußen einen Eindruck von dem verschaffen kann, was jetzt und was früher erreicht wurde?

Reinhold Hiller (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000901, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Kittelmann, da es den Vorrednern Ihrer Fraktion nicht gelungen ist, Ihre Erfolge hier heute darzustellen, möchte ich diesen Versuch nicht unternehmen. ({0}) Es wird mir im Bereich Umwelt wirklich nicht gelingen können. ({1}) Also, bleiben wir beim Thema Müll. Erst Schönberg, dann Deutz-Schöneiche - die DDR wird immer mehr zur größten Müllkippe Europas. Dieses Wort stammt von DDR-Bürgern aus einer kirchlichen Umweltgruppe. Beim Müll funktioniert die Arbeitsteilung zwischen der Bundesrepublik und der DDR immer besser; gemeinsam betreiben sie den Mülltourismus. Das ist im Moment die deutsch-deutsche Umweltpolitik: Wir produzieren den Müll, und die DDR häuft ihn auf. ({2}) Im Umweltabkommen heißt es: „Im Vordergrund der Zusammenarbeit stehen u. a. Vermeidung, Verwertung und schadlose Beseitigung von Abfallstoffen. " Die Realität ist: Die Bundesregierung unternimmt nichts dagegen, daß unser Wohlstandsdreck in die DDR verfrachtet wird, dort die Menschen und die Umwelt bedroht und dann womöglich durch die Schädigung des Grundwassers das Zonenrandgebiet belastet. Die Bundesregierung sagt auch nichts, wenn hochmoderne technische Anlagen aus der Bundesrepublik in die DDR geliefert werden, denen die bei uns üblichen Umweltschutzeinrichtungen fehlen. Sowohl der Fachminister als auch die innerdeutsche Ministerin schweigen zu diesem Skandal. ({3}) Dabei wird sie seit Jahren wegen dieses Themas gemahnt. Die Bundesregierung sagt nichts, tut nichts, ({4}) hat keine Konzeption, aber sie ist mitverantwortlich für den Müllexport in die DDR. Mittelbar arbeitet aber die Bundesregierung in dieser Frage mit der DDR-Führung gegen die Interessen der Menschen in beiden deutschen Staaten Hand in Hand zusammen. ({5}) Ausnahmsweise will die Bundesregierung nichts von den Sorgen der Bürger in der DDR wissen, die sonst doch ständig - teilweise war das auch heute wieder so - Gegenstand von konservativen Sonntagsreden sind. ({6}) Wie das in Leipzig ansässige Zentralinstitut für Jugendforschung in der DDR feststellte, bewegt die Umweltverschmutzung die jungen Leute in der DDR nach der Abrüstungs- und Friedensproblematik von allen globalen Problemen am meisten. Auf welcher Seite steht die Regierung? ({7}) Sonst ist sie immer vorneweg, wenn es um die Unterstützung kritischer und kirchlicher Stimmen in der DDR geht. Beim Thema „Müll" erleben wir das Gegenteil. Beim Müll geht es im Schulterschluß mit der DDR-Führung gegen die umweltbewußten Bürger in beiden deutschen Staaten. ({8}) Es ist fraglich, ob die Frau Ministerin am 17. Juni einmal den Mut aufbringen wird, zu diesem deutschdeutschen Skandal endlich etwas zu sagen. ({9}) Dazu hat bisher der politische Wille ebenso gefehlt, wie ein umweltpolitisches Gesamtpaket fehlt. Ebenso fehlen solide Finanzierungsvorstellungen, um dieses Paket dann auch durchzusetzen. Hiller ({10}) Darüber hinaus verhindert der Müllexport geradezu den Aufbau einer vernünftigen Abfallbewirtschaftung bei uns in der Bundesrepublik. ({11}) Hier gibt es also gemeinsame deutsch-deutsche Interessen. Sonst betonen Sie diese immer. Hier gibt es aber endlich einmal eine Möglichkeit zu handeln. Über die Themen „Überdüngung der Felder", „Waldsterben", „Luftverschmutzung" , „Verschmutzung der Gewässer" oder „Müllexport" hinaus ließe sich die Liste beliebig fortsetzen. Diese Beispiele zeigen jedenfalls, wie dringend ein Gesamtkonzept an Stelle der bisherigen Verlautbarungspolitik, die wir in diesem Bereich erleben, ist. Die Menschen in beiden deutschen Staaten haben längst begriffen, was Ihre Regierungen nicht sehen wollen: Wenn man den Dreck unter den Teppich kehrt, ist er noch lange nicht weg. Meine Damen und Herren, nun kommen Sie nicht mit dem Argument, wir hätten kein Geld. Wir werden dazu heute ja noch etwas zum Thema „Jäger 90" erleben. Setzen Sie dieses Geld für die Interessen der Menschen in beiden Staaten ein. Dann tun Sie etwas für die Abrüstung und die Verbesserung der Umwelt in beiden deutschen Staaten. ({12}) Noch eine Anmerkung: „Glasnost" wird so sehr gelobt. Es gibt vertrauliche Daten aus der DDR zur Mülldeponie Schönberg. Diese Daten werden weder bei uns noch in der DDR veröffentlicht. Also auch bei diesem Punkt könnten wir von der Sowjetunion etwas lernen. ({13}) So etwas darf hier doch nicht verheimlicht werden. In der DDR und in der Bundesrepublik können wir in Sachen Schönberg von Glasnost noch etwas lernen, wir können es praktizieren. Die Bundesregierung nimmt dies alles nicht zur Kenntnis. Sie sagt z. B., sie wisse nichts davon, daß jetzt auch Hessen enorme Müllmengen in die DDR transportieren will. ({14}) Ich zitiere aus der Antwort auf eine Anfrage, die jetzt vorliegt. Der Parlamentarische Staatssekretär Grüner sagt: Der Bundesregierung sind Anlaß und Inhalt der von Ihnen angesprochenen Äußerungen des hessischen Umweltministers nicht bekannt. Er hat gesagt, solche Deponien seien bei uns nicht genehmigungsfähig. ({15}) Die Bundesregierung nimmt das nicht zur Kenntnis. Was man nicht wissen will, weiß man nicht. Was unbequem ist, überliest man. Man steckt den Kopf in den Sand. ({16}) Meine Damen und Herren, noch skandalöser ist der letzte Satz dieser Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage - ich zitiere - : Die zuständige Landesbehörde darf allerdings eine Exportgenehmigung nur dann erteilen, wenn von der Entsorgung im Empfängerstaat keine Beeinträchtigung des Wohls der Allgemeinheit im Geltungsbereich des Abfallgesetzes zu besorgen ist. Das ist nun in der Tat skandalös. Das läuft nach dem Motto: Weg mit dem Dreck zu unseren Brüdern und Schwestern. Was kümmern mich die Landsleute in der DDR? - Ich kann so etwas nur als Zynismus bezeichnen. ({17}) Wir können nur an die schönen Worte erinnern, die wir hier gehört haben. In diesem Bereich ist das Gegenteil der Fall. ({18}) Im Interesse aller Bürger in beiden deutschen Staaten fordern wir Sie erneut auf: Kehren Sie um in der Umweltpolitik! ({19}) Berücksichtigen Sie die Interessen der Menschen in der DDR! Vielen Dank. ({20})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Dr. Czaja. ({0})

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Rechtsgehorsam gegenüber dem Grundgesetz für das deutsche Volk, Herr Ehmke, als Staatsvolk und für Deutschland zu reden, verlangte in einem wichtigen Vortrag der frühere Bundesverfassungsrichter Professor Willy Geiger. Ohne Zweifel wird über Deutschland mehr als vor drei oder vier Jahren international gesprochen, auch mehr als unter früheren Koalitionen, sicher nicht nur durch unser Verdienst. Aber es wird gesprochen - das kann man doch ohne falsche Bescheidenheit unterstreichen. Der Bundeskanzler beharrt auf der Vollendung der staatlichen Einheit, ebenso die gemeinsame Bundestagsentschließung vom 24. Januar 1984, der Sie noch zugestimmt haben und - neu - die Berliner FDP-Erklärung, Herr Kollege Hoppe und Herr Kollege Ronneburger, sicher durch Ihre Verdienste. Das gebieten das Grundgesetz, seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht und auch - das darf ich bescheiden sagen, und das ist nicht falscher Nationalstolz - die Treue zu unserer Geschichte, unserer deutschen und europäischen Geschichte. Der Bundeskanzler hat bei seinem ersten Moskauer Besuch, dann gegenüber Honecker und jetzt gegenüber Gorbatschow unmißverständlich die beharrliche Verfolgung dieses Ziels entschieden bekräftigt. ({0}) Niemand weiß, wie lange - um ein Wort Kohls aufzunehmen - die historische Vorläufigkeit dies verhindert. ({1}) Doch täglich - und jetzt spreche ich Sie an - gilt es, in den Kernfragen Deutschlands und der Deutschen - ein FDP-Wort aufgreifend - flexibel und kreativ auf friedlichen Wandel zu setzen! ({2}) Meine Damen und Herren von der SPD, wenn Sie die Gemeinsamkeit ansprechen, so bitte ich Sie herzlich, im täglichen Ringen mit uns darum zu wetteifern. Ich bitte Sie, Herr Bahr, nicht zu resignieren. Ich habe rasch Ihre Rede eingesehen. Ich finde es tragisch - ich sage es ehrlich so, wie ich es sehe - , daß hier ein zentraler Satz wörtlich heißt: Wer die deutsche Frage aufwirft, stört Europa. Herr Bahr, ich finde das tragisch gerade bei Ihnen. ({3}) - Nein, so sage ich das nicht! In Moskau sollte man wissen, daß viele deutsche Politiker die Perestroika auch daran messen, ob im Frühjahr auf dem so oft zitierten „weißen Blatt" auch einiges zu unseren berechtigten deutschen Interessen stehen wird, z. B. auch zur Realisierung der an sich vereinbarten Vertretung Berlins ({4}) durch die Bundesrepublik Deutschland und zu den Bindungen zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik Deutschland. Herr Bahr, auch das darf ich doch in Ihrer Gegenwart sagen: Die Erklärung Gromykos vom 29. Juli 1970 zu den Ostverträgen als Gewaltverzichtsverträgen, somit zum Offensein der Zukunft ganz Deutschlands für vertragliche Regelungen, ({5}) darf von keiner Seite dialektisch ausgehöhlt werden. Vielmehr ist sie durch die Bereitschaft zu ergänzen, die Zukunft eines menschenwürdig strukturierten ganzen Europas zu erörtern. ({6}) Der Bundeskanzler hat sich im Februar in Berlin und danach wiederholt ebenso, Herr Bahr, zur Verantwortung für die Gemeinschaft - wie er es sagte - als dem Torso Europas wie zur Verantwortung für ein ganzes menschenwürdiges Europa bekannt. Gerade deshalb - das ist die Antwort, die ich Ihnen gebe, Herr Bahr - konnte, durfte und mußte er heute hier erklären: Wir wollen ein ganzes freies Deutschland in einem ganzen menschenwürdigen Europa. Dieser Satz ist richtig, meine Damen und Herren. ({7}) Auch hier sollte und dürfte die SPD mit Blick auf Schumacher und vielleicht auch mit Blick auf das Godes-berger Programm nicht zurückhängen. Wir sollten vielmehr gemeinsam die EPZ und die Außenpolitik der Gemeinschaft gemäß Art. 30 der Einheitlichen Europäischen Akte, die nirgends die Souveränität der Staaten in Frage stellt, zu einem Kernpunkt aktueller Bemühungen in der EG um schrittweisen Abbau der Teilung Europas und Deutschlands machen oder zu machen versuchen. Gemeinsam und daher überzeugend sollte vorweg die aktuelle Unterstützung jener Mitgliedstaaten dafür eingefordert werden, die bereits durch Art. 7 des Deutschlandvertrages und als NATO-Staaten durch die politische Leitlinie des Harmel-Berichts eigentlich dazu verpflichtet sind. Neben und zusätzlich zu Sicherheit und kontrollierter Abrüstung sollte auch wieder an die politischen Ursachen der Teilung Europas und Deutschlands herangegangen werden; so wiederholt auch Burt, so wiederholt der scheidende amerikanische Präsident und die britische Premierministerin Thatcher unlängst in Warschau und - ich darf hier auch sagen, weil er vorhin angesprochen wurde - jahrzehntelang Konrad Adenauer, meine Damen und Herren. Übrigens hat der britische Botschafter 1986 in Essen als Meinung der britischen Regierung - ebenso wie das Bundesverfassungsgericht am 21. Oktober 1987 - eingedenk der Fortgeltung der Berliner Vierer-Erklärungen öffentlich festgestellt, daß dabei vom Gebietsstand Deutschlands von 1937 auszugehen und dann ohne Bruch des Rechtsgehorsams ein politischer Ausgleich, der auch für andere tragbar ist, anzustreben wäre. Ich glaube nicht, daß sich die britische Regierung auf die Deutschnationale Partei bezogen hat, die sich im übrigen zum Schluß auch gespalten hat - ich habe damals als junger Mensch die ganze Deutschnationale Partei politisch bekämpft - und die nicht völlig mit Hitler zusammengegangen ist. Sehr geehrter Herr Ehmke, mich hat eines sehr geschmerzt: Ich empfinde es bitter, daß sich Herr Vogel - man mag über Europa, über die europäische Integration und Deutschland verschiedener Meinung sein - ständig auf den toten Adenauer beruft. Das ist höchstens ein politisch-politologisch entstellter Adenauer. Ich meine, dieser Tote, der sich hier nicht wehren kann, hat seine Erinnerungen dem deutschen Volk gewidmet. Lesen Sie einmal seine große Rede aus dem Jahre 1949 über die Grenzfragen durch, die den vollen Beifall Ihrer Fraktion gefunden hat. Lesen Sie vielleicht auch einmal das Memorandum, das Adenauer im Jahre 1953 im Zusammenhang mit dem Deutschland-Vertrag zur Grenzfrage an Eisenhower gesandt hat. Dann werden Sie solche Berufungen auf den toten Adenauer, der sich ja nicht mehr wehren kann, nicht vornehmen. Ich glaubte, das in seinem Gedenken sagen zu müssen. Dadurch habe ich eine Minute meiner Redezeit verbraucht, die mir vielleicht nicht angerechnet wird. Nach den erfolgreichen begrüßenswerten Phasen der bereits erörterten humanitären Erleichterungen und Ansätze zu einer kontrollierten Rüstungsminderung hat die englische Premierministerin in Warschau - genauso wie Sie, Frau Dr. Wilms, heute hier - deutlich den nächsten entscheidenden Schritt zum friedlichen Wandel markiert: mehr praktizierte Menschenrechte vor unserer Tür, jenseits des Eisernen Vorhangs, für - ich sage es deutlich - Nichtdeutsche und Deutsche.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte.

Dr. Wilhelm Knabe (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001138, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Eine bescheidene Frage: Herr Czaja: Können Sie mir erklären, warum Ihre Fraktion Ihnen nicht zuhört und sich die Mitglieder Ihrer Fraktion während Ihrer Rede dauernd unterhalten? ({0})

Dr. Herbert Czaja (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000344, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege, diese Unterstellung möchte ich zurückweisen. Ich sehe von hier die Gesichter meiner Fraktionskollegen, ich sehe auch die Gesichter auf der Regierungsbank. Vielleicht sehen Sie sie von der Ecke nicht, in der Sie sitzen. Setzen Sie sich woandershin. Dann werden auch Sie sie sehen. ({0}) Meine Damen und Herren, schrittweise verwirklichte Menschenrechte sind konstitutiv auf dem Weg zu einer freien und föderalen gesamteuropäischen Ordnung. Frankreich, die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien, die Beneluxstaaten und andere Mitglieder, aber auch das verbündete Kanada und Amerika sollten ihr ganzes wirtschaftliches, politisches und diplomatisches Gewicht dafür in die Waagschale werfen. Herr Kollege, ich bin froh, daß ich mich so offen hier nicht nur an meine Fraktion wenden kann, sondern auch an einen Teil der SPD-Fraktion, der ebenfalls zuhört. ({1}) Die diesbezüglichen Forderungen des Bundeskanzlers sollten zugunsten der Nachbarn und unseres Volkes quer durch die Parteien ein Mindestmaß an Unterstützung finden, auch bei allen jenen, die sich oft sehr für die Menschenrechte in Übersee engagieren. ({2}) Ohne Erfüllung menschenrechtlicher Verpflichtungen und den Beginn wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Reformen sind finanzielle Maßnahmen kaum sinnvoll. Noch ein Wort zu einem ernsten Punkt. Gerade 1989, 50 Jahre nach Kriegsbeginn, sollten wir und der Westen Fortschritte in den Menschenrechten, z. B. auch bezüglich des Gewerkschaftspluralismus, zugunsten des polnischen Nachbarvolkes und der Menschen in den europäischen Ostblockstaaten anstreben. ({3}) Hier haben Sie mir sogar zugehört, meine Damen und Herren von den GRÜNEN. Dafür bin ich Ihnen auch dankbar. Es sind die Weisen, die vom Irrtum zur Wahrheit reisen. Der siebte Anstrichsatz der Präambel des französisch- deutschen Sicherheitsprotokolls fordert von uns und Frankreich jegliches Bemühen um Fortschritte für ein menschenwürdiges, freies Leben aller Völker in ganz Europa. Art. 1 des Sicherheitsprotokolls aus dem Jahr 1988 verpflichtet die Vertragspartner zusätzlich, das auch für die Deutschen in einer deutsch-französischen „Schicksalsgemeinschaft" zu betreiben. Für den Westen müssen mehr praktizierte Menschenrechte in ganz Europa eine Nagelprobe der Perestroika sein. ({4}) Ich möchte auch noch für die Entschärfung einer späteren Lösung ungelöster Grenzfragen beim Fortbestand moderner Staaten auf die schon wiederholt vom Bundeskanzler und von Frau Dr. Wilms betonte Bedeutung der Völker und Volksgruppen in Europa hinweisen. Das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen sollte in seiner gesamtdeutschen Verantwortlichkeit Forschungen fördern, die Antwort auf die Frage geben, wie umfassende Selbstverwaltungsrechte größerer Volksgruppen - ohne Irredenta unter Wahrung der Souveränität der Staaten - zu gestalten sind. Solche Ordnungselemente - hüben und drüben - zukünftiger Grenzen sind doch neben der Delegierung von Kompetenzen an später gesamteuropäische zwischenstaatliche Einrichtungen in die Überlegungen zu gesamteuropäischen Strukturen einzubringen. Die weltweit schwelenden Nationalitätenkonflikte beweisen die Aktualität, die im übrigen schon das Godesberger Programm betonte. Deutliche Unterstützung verdient das Bemühen der Bundesregierung um Beseitigung der Diskriminierung Deutscher und um die Wahrung der kulturellen Identität in den Gebieten östlich von Oder und Neiße, außerhalb Deutschlands in Rumänien, Ungarn und der Sowjetunion, damit Deutsche dort aushalten können. Meine Damen und Herren, man soll und darf den Ausgangspunkt des rechtlichen Fortbestandes Deutschlands und der Beachtung der Rechte und der Würde der Nachbarn auch mit Hinweisen auf konstruktive Elemente politischen Ausgleichs doch ehrlich und aufrichtig markieren. Das will ich weiterhin tun. Denn wir können zäh und beharrlich auf eine menschenwürdige Zukunft ganz Europas setzen, wenn die Verbündeten und wir nicht nur abwarten, sondern auch Vorgaben für einen friedlichen Wandel zu machen versuchen! Ich danke Ihnen. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Terborg.

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage der Nation hat sich seit dem letzten Bericht des Herrn Bundeskanzlers nicht gebessert. In unserem Teil Deutschlands hat die Regierungsmehrheit durch Untätigkeit die Massenarbeitslosigkeit verstetigt, ({0}) die Sozialleistungen systematisch abgebaut, das Prinzip der Solidarität im Gesundheitswesen in Frage gestellt, und sie scheint jetzt erneut im Begriff zu sein, den liberalen Gehalt unserer Verfassung zu verringern. Wenn die Zimmermänner mit den Engelhards handelseinig werden, ({1}) dann kann unsereinem nur Ungutes schwanen. Die Lage der Nation im anderen Teil Deutschlands ist von zunehmender Erstarrung und Verkrustung gekennzeichnet. Das Tauwetter im Ostblock wird sorgsam von den DDR-Grenzen ferngehalten. Das zeugt eben nicht von Souveränität der regierenden Staatspartei in Ost-Berlin. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich möchte jetzt im Zusammenhang reden.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Keine Zwischenfrage, Herr Abgeordneter Klein.

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die DDR als Gralshüter der sozialistischen Orthodoxie - wenn es nicht so traurig wäre, hätte dies schon fast einen Stich ins Tragikomische. Unsere innerdeutsche Ministerin begleitet die Nichtentwicklung in der DDR mit mehr oder weniger kenntnisreichen Reden; ihr Parlamentarischer Staatssekretär tut dies mit weniger kenntnisreichen. ({0}) Die Nation fragt sich, ({1}) wie hoch wohl der nächste Scheck ausfallen wird, den Kanzleramtsminister Schäuble bei der nächsten Visite in Ost-Berlin hinterlegt. Die Arbeitseinteilung funktioniert nach meinen Beobachtungen so: Herr Hennig ist für das Grobe, Frau Wilms für die Basis und Herr Schäuble für das Moderate zuständig. ({2}) Die beiden Deutschlands sind wahrlich kein Wintermärchen. Immerhin: Man registriert mit Genugtuung, daß wenigstens der Dialog zwischen den Regierungen nicht abgerissen ist. Aber - so füge ich kritisch an - : Welchen Part spielt unsere Volksvertretung im deutsch-deutschen Dialog? Warum ist sie nicht so souverän wie der Souverän, der Bürger, der in millionenfachem Dialog beweist, daß die Menschen wieder gelernt haben, miteinander zu reden? ({3}) Seit 1987 liegt dem Deutschen Bundestag ein Antrag der Sozialdemokraten vor, auch die Beziehungen zwischen dem Parlament und der Volkskammer der DDR zu normalisieren, ({4}) es also den Bürgern gleichzutun, Herr Kittelmann. Wir sind sehr behutsam mit diesem Antrag umgegangen. ({5}) Wir wollten den letzten Präsidenten, der den guten Willen hatte, nicht zusätzlich in Verlegenheit bringen und ihm eine Chance geben, die Hardliner in den eigenen Reihen zu überzeugen. Jenningers Bemühungen waren ehrenwert, aber nicht fruchtbar. Diese Aufgabe liegt weiterhin auf dem Tisch. Ein neuer Anlauf ist fällig, damit die Sprachlosigkeit des Deutschen Bundestages aufhört.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kittelmann?

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Bitte, Herr Kittelmann.

Peter Kittelmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001106, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Kollegin, würden Sie mir zustimmen, daß dieser Antrag, auch unter Zustimmung vieler Kollegen aus der SPD-Fraktion von uns allen vor allen Dingen deshalb noch zurückgehalten wird, weil die Frage des Status der Berliner Abgeordneten und die Frage der Einbeziehung des innerdeutschen Ausschusses seitens der DDR bisher nicht befriedigend beantwortet worden sind, daß es also sachliche Gründe sind, über die wir miteinander in der Diskussion sind?

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kittelmann, ich stelle nur fest, daß über diesen Antrag bis heute nirgendwo debattiert wurde und daß man nicht prüfen konnte, ob die Vorbehalte, die meiner Ansicht nach nicht mehr zutreffen, tatsächlich ein Hinderungsgrund sind. ({0}) Meine Damen und Herren, wieder einmal sind es wir Sozialdemokraten, die in einem nunmehr seit Jahren laufenden Pilotprojekt bewiesen haben, daß das geht. Ich bin Vorsitzende einer Arbeitsgruppe meiner Fraktion, die nun schon seit Jahren im Gespräch mit den Mitgliedern, meist jugendlichen Mitgliedern der FDJ-Fraktion der Volkskammer steht. Die erste Begegnung gestaltete sich relativ verkrampft. Es galt, Berührungsängste abzubauen. Bei der zweiten wußten wir schon sehr viel besser miteinander umzugehen. Das Gespräch wurde offener und sub stanzreicher. ({1}) Bei der dritten vertieften wir uns in die Sachfrage, welche Auswirkungen der technologische Wandel auf die junge Generation in beiden deutschen Staaten haben wird. Die vierte stand dann wieder im Spannungsfeld der deutsch-deutschen Großwetterlage. Wir mußten sie einmal verschieben, aber dann ging der Dialog weiter. Wir wagten uns gemeinsam u. a. an die Frage, welche Beiträge beide Seiten zum Abbau der Feindbilder und zur Erziehung zum Frieden leisten könnten. Es ist verständlich, daß eine Verständigung im ersten Anlauf nicht gelingen kann, aber, meine Damen und Herren, wir ackern auf diesem Feld unverdrossen weiter ({2}) und vermelden der Frau Bundestagspräsidentin, daß unser Pilotprojekt durchaus die Nützlichkeit des Gesprächs zwischen den beiden Parlamenten beweisen könnte. ({3}) Daß Bundestagsabgeordnete und Volkskammerangehörige ganz verschiedene Rollen in ihren beiden Staatssystemen spielen, wissen wir. Wir haben diese Unterschiede bei unseren Gesprächen nie verwischt. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage?

Margitta Terborg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002305, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, ich möchte im Moment im Zusammenhang reden. ({0}) Aber nicht jedes Parlament, mit dem der Deutsche Bundestag regelmäßig Kontakte hat, ist nach dem Strickmuster unseres Grundgesetzes gewirkt, und der Dialog ist trotzdem sinnvoll. Bei der zweiten Begegnung saßen junge FDJler auf der Diplomatentribüne des Deutschen Bundestages, und die Republik hat deswegen keinen Schaden genommen. Bei der vierten Begegnung empfing der Bundestagspräsident den Fraktionsvorsitzenden der FDJ, der zweifelsohne schon zur Herrschaftselite der DDR gehört. Die beiden Herren haben miteinander nicht nur Belangloses ausgetauscht. Wieder erlitten beide Systeme keine erkennbaren Schäden, weil wir sorgfältig darauf achten, die andere Seiten nicht zu missionieren oder überfordern zu wollen, sondern mit Akribie ausloten: Was kann im gemeinsamen Interesse und zum beiderseitigen Vorteil für die jungen Menschen in beiden Deutschlands getan werden? Übrigens, die Volkskammer der DDR ist ein sehr viel jüngeres Parlament als das unsere. ({1}) Der Deutsche Bundestag ist nicht gerade ein Spiegelbild der Generationen. Der Aktionsradius der Volkskammerabgeordneten ist begrenzt, der der Bundestagsabgeordneten ungleich weiter gezogen. ({2}) Meine Herren Kollegen, wenn man das weiß, überfordert man die andere Seite nicht. ({3}) Allerdings bedeutet das auch, daß wir auf unserer Seite nicht ein Heldenstück der wahren Demokraten auflegen und daß wir die Gegenseite nicht als Schurken in einem Marionettentheater begreifen. ({4}) Auch sie sind Menschen und haben Vorstellungen davon, wie sie ihre Gesellschaft weiterentwickeln. Das mögen nicht unsere sein, aber die politische Klugheit und auch der politische Anstand gebieten es, dies zur Kenntnis zu nehmen. ({5}) Bei der Debatte über den Bericht zur Lage der Nation werden wir wieder einmal feststellen, daß Deutschland ein schwieriges Vaterland ist. ({6}) Manche sagen, es seien längst zwei Vaterländer, aber diesen im Grunde müßigen Streit will ich nicht anheizen. Ich möchte nur daran erinnern, daß wir alle gemeinsam von unseren Wählern einen Zeitarbeitsvertrag ausgehändigt bekommen haben. Er verpflichtet uns, mit allen unseren Kräften eine Zukunft beider Deutschlands herbeizuführen, die den Deutschen eine Perspektive eröffnet, besonders den jungen Menschen. Wir Sozialdemokraten bemühen uns, diesem Anspruch gerecht zu werden. Ich möchte Sie ermuntern, es uns gleichzutun. Die Lage der Nation ist schwierig; das wußten wir, als wir unser Amt antraten. Sie ist nicht unheilbar, und sie ist nicht unlösbar, wenn wir uns nicht selbst zur Sprachunfähigkeit verdammen. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3585. Es wird vorgeschlagen, diesen Entschließungsantrag an den Ausschuß für innerdeutsche Beziehungen zu überweisen. - Kein Widerspruch. So beschlossen. Wir stimmen jetzt über den Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/3602 ab. Wer stimmt für diese Entschließung? - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen von SPD und GRÜNEN angenommen. Meine Damen und Herren, wir treten jetzt in die Mittagspause ein. Die Sitzung wird um 14 Uhr fortgesetzt. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet. Ich rufe den Punkt 4 der Tagesordnung sowie die Zusatztagesordnungspunkte 2 bis 4 auf: 4. Überweisungen im vereinfachten Verfahren a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Berufsrechts der Rechtsanwälte und der Patentanwälte - Drucksache 11/3253 -Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Rechtsausschuß b) Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgabe bei Kapitel 06 40 Titel 681 05 - Haushaltsjahr 1988 - Drucksache 11/3173 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß c) Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 05 Titel 525 21 - Aus- und Fortbildung, Umschulung - Drucksache 11/3193 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß d) Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 11 13 Titel 646 02 - Erstattung der Aufwendungen für die Krankenhilfe an Heimkehrer und durch Gesetz gleichgestellte Personengruppen - Drucksache 11/3268 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Haushaltsausschuß ZP2 Erste Beratung des von den Abgeordneten Carstensen ({0}), Eigen und Genossen und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Bredehorn, Richter, Wolfgramm ({1}) und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Seefischereigesetzes - Drucksache 11/3596 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Ernährung Landwirtschaft und Forsten ({2}) Auswärtiger Ausschuß Finanzausschuß Wirtschaftsausschuß Ausschuß für Verkehr ZP3 Beratung des Antrags des Bundesministers der Finanzen Einwilligung in die Veräußerung eines bundeseigenen Grundstücks in München, Dachauer Straße, gemäß § 64 Abs. 2 BHO - Drucksache 11/3567 Überweisungsvorschlag: Haushaltsausschuß ZP4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Conradi, Müntefering, Erler, Großmann, Menzel, Dr. Niese, Oesinghaus, Reschke, Scherrer, Tietjen, Weiermann, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Weiterentwicklung und Verbesserung der nach 1950 erbauten Großsiedlungen - Drucksache 11/2241 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau ({3}) Haushaltsausschuß Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? - Das ist nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen. Nun rufe ich die Tagsordnungspunkte ohne Aussprache auf, über die abgestimmt werden muß. Das sind die Punkte 5 bis 10 der Tagesordnung sowie die Zusatztagesordnungspunkte 5 und 6. 5. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 4. Dezember 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen - Drucksache 11/2553 Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({4}) - Drucksache 11/3559 Berichterstatter: Abgeordneter Glos ({5}) Vizepräsident Westphal 6. Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 23. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der Unternehmen der Luftfahrt und der Seeschiffahrt - Drucksache 11/3091 Beschlußempfehlung und Bericht des Finanzausschusses ({6}) - Drucksache 11/3600 Berichterstatter: Abgeordneter Glos ({7}) 7. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Schaffung eines Vorrechts für Umlagen auf die Erzeugung von Kohle und Stahl ({8}) - Drucksache 11/353 Beschlußempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses ({9}) - Drucksache 11/3197 Berichterstatter: Abgeordnete Helmrich Schmidt ({10}) ({11}) 8. Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fischwirtschaftsgesetzes ({12}) - Drucksache 11/2852 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten ({13}) - Drucksache 11/3252 Berichterstatter: Abgeordneter Eigen ({14}) ZP5 Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes - Drucksache 11/2688 Beschlußempfehlung und Bericht des Innenausschusses ({15}) - Drucksache 11/3566 Berichterstatter: Abgeordnete Krey Schröer ({16}) Dr. Hirsch ({17}) ZP6 Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Innenausschusses ({18}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Wahlkreiskommission für die 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages gemäß § 3 Bundeswahlgesetz ({19}) - Drucksachen 11/2870, 11/3170 Berichterstatter: Abgeordnete Krey Lutz Frau Schmidt-Bott 9. Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses ({20}) zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung Überplanmäßige Ausgaben bei Kapitel 14 02 Titel 698 01 - Abgeltung von Schadensersatzansprüchen Dritter - Drucksachen 11/3051, 11/3296 Berichterstatter: Abgeordnete Müller ({21}) Frau Seiler-Albring Kühbacher Frau Vennegerts 10. Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({22}) Sammelübersicht 89 zu Petitionen - Drucksache 11/3467 - Wir kommen zuerst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit Kuwait. Das ist Punkt 5 der Tagesordnung, Drucksachen 11/2553 und 11/3559. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 5, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieses Gesetz einstimmig angenommen worden. Wir kommen nunmehr zur Abstimmung über den Gesetzentwurf zum Doppelbesteuerungsabkommen mit der Republik Venezuela. Das ist der Punkt 6 der Tagesordnung; Drucksachen 11/3091 und 11/3600. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Wer dem Gesetz zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Auch dieses Gesetz ist einstimmig angenommen worden. Wir kommen nunmehr zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Schaffung eines Vorrechts für Umlagen auf die Erzeugung von Kohle und Stahl. Das ist Punkt 7 der Tagesordnung, Drucksachen 11/353 und 11/3197. Ich rufe die §§ 1 bis 5, Einleitung und Überschrift mit der vom Ausschuß empfohlenen Änderung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung sind die aufgerufenen Vorschriften angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthal- Vizepräsident Westphal tungen? - Dieser Gesetzentwurf ist - bei einer Enthaltung - einstimmig angenommen worden. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über das von der Bundesregierung eingebrachte Fischwirtschaftsgesetz. Das ist Punkt 8 der Tagesordnung, Drucksachen 11/2852 und 11/3252. Ich rufe die §§ 1 bis 9, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Die aufgerufenen Vorschriften sind bei einer Gegenstimme angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmergebnis wie zuvor ist dieser Gesetzentwurf angenommen. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3252 unter Ziffer 2 die Annahme einer Entschließung. Wer für diese Entschließung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Damit ist diese Entschließung einstimmig angenommen. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Änderung des Bundeswahlgesetzes. Das ist Zusatztagesordnungspunkt 5, Drucksachen 11/2688 und 11/3566. Ich rufe die Art. 1 bis 4, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN sind diese Vorschriften angenommen. Wir treten in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Mit dem gleichen Stimmverhalten wie zuvor ist dieser Gesetzentwurf angenommen worden. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Innenausschusses auf Drucksache 11/3170 betreffend Bericht der Wahlkreiskommission für die 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ab. Das ist Zusatztagesordnungspunkt 6. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, gebe bitte das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung einstimmig angenommen worden. Wir kommen nunmehr zu einer Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses betreffend überplanmäßige Ausgaben - Abgeltung von Schadensersatzansprüchen Dritter. Das ist Punkt 9 der Tagesordnung, Drucksachen 11/3051 und 11/3296. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Diese Beschlußempfehlung ist einstimmig angenommen worden. Wir stimmen jetzt über die Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses zur Sammelübersicht 89 zu Petitionen ab. Das ist Punkt 10 der Tagesordnung. Wer für die Beschlußempfehlung auf Drucksache 11/3467 stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei Enthaltung der Fraktion DIE GRÜNEN ist die Beschlußempfehlung angenommen worden. Ich rufe Punkt 11 der Tagesordnung auf: Zweite Beratung und Schlußabstimmung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Protokollen vom 22. Januar 1988 zum Vertrag vom 22. Januar 1963 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Zusammenarbeit - Drucksachen 11/3258, 11/3265, 11/3410 - a) Beschlußempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses ({23}) - Drucksache 11/3610 Berichterstatter: Abgeordnete Lamers Voigt ({24}) Dr. Mechtersheimer b) Bericht des Haushaltsausschusses ({25}) gemäß § 96 der Geschäftsordnung - Drucksache 11/3611 Berichterstatter: Abgeordnete Dr. Rose Hoppe Waltemathe Frau Vennegerts ({26}) Meine Damen und Herren, nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die Beratung 90 Minuten vorgesehen. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Damit ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Dregger.

Dr. Alfred Dregger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000418, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Assemblée Nationale in Paris und der Deutsche Bundestag beraten am selben Tag, nämlich heute, ein deutsch-französisches Abkommen. Um was geht es bei diesem Abkommen? Die Protokollnotiz zum Verteidigungs- und Sicherheitsrat beschreibt die Ziele wie folgt - ich zitiere - : „Es geht um die Vervollständigung des europäischen Einigungswerks und um die Entwicklung einer europäischen Identität in der Sicherheitspolitik." Das sind zwei große, kühne, schwierige Aufgaben. Das weiß jeder, der sich die heutigen Sicherheitsstrukturen in Westeuropa ansieht. Was bedeuten diese Ziele gesamtpolitisch? Werfen wir zunächst einen Blick nach Osten. Die inneren Veränderungen in der Sowjetunion, deren Ausmaß noch nicht abzuschätzen ist - zur Zeit sind die verkünde8138 ten Absichten noch beeindruckender als die Ergebnisse -, ({0}) machen den europäischen Zusammenschluß nicht überflüssig. Im Gegenteil: Wir brauchen den europäischen Zusammenschluß nicht nur um unserer Sicherheit, sondern auch um der Ost-West-Beziehungen willen, die - davon bin ich überzeugt - nur unter Mitwirkung eines eigenständigen und handlungsfähigen Westeuropa zum Erfolg geführt werden können. In einem Gespräch mit Herrn Jakowlew, einem Mitglied des Politbüros, in Moskau im Zuge des Kanzlerbesuchs habe ich auf einige militärgeographische Tatsachen hingewiesen, die auch wir uns von Zeit zu Zeit bewußt machen sollten, schon um uns nicht selbst zu überschätzen. Die Ost-West-Tiefe der Bundesrepublik Deutschland, also der Abstand zwischen der Ostgrenze und der Westgrenze der Bundesrepublik Deutschland, beträgt ganze 250 km, die Ost-West-Tiefe der Sowjetunion dagegen 9 000 km. Die Entfernung von uns bis zur sowjetischen Grenze beträgt 600 km, die Entfernung zu den Vereinigten Staaten von Amerika beträgt 6 000 km. Meine Damen und Herren, wer sich diese militärgeographischen Tatsachen klarmacht, dem muß auch klar sein, daß der europäische und der atlantische Verbund für uns Deutsche unverzichtbar sind; ({1}) denn wir wollen ja vor der Größe und der Macht der Sowjetunion nicht erstarren müssen. Wir wollen ihr Partner sein, aber nicht ihr Satellit. Der europäische und der atlantische Verbund, so habe ich in Moskau hinzugefügt, sind für uns Deutsche nicht die Alternative, sondern die Voraussetzung für eine enge Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die wir wollen. Mein Gesprächspartner, der mich beeindruckt hat, hat das offenbar verstanden. Ich hatte durchaus nicht den Eindruck, daß ihn diese Aussage überrascht oder gar erschreckt hätten; dazu bestünde ja auch nicht der geringste Anlaß. Ich möchte dem eine zweite Aussage hinzufügen. Wir - die CDU/CSU-Bundestagsfraktion - sind bereit, die inneren Reformen in der Sowjetunion zu unterstützen, auch wenn diese die Wirtschaftskraft und damit die Macht der Sowjetunion vergrößern. Friede und Sicherheit, meine Damen und Herren, sind ja nicht nur eine Frage der Machtrelationen, sondern auch eine Frage der inneren Entwicklung eines Landes sowie der Art und Weise, wie andere mit ihm umgehen. Wenn sich die Sowjetunion mit westlicher Unterstützung zu mehr innerer Freiheit - sicherlich nicht so wie bei uns, aber doch zu mehr innerer Freiheit - entwickeln sollte, dann könnten auch ihre Nachbarn sicherer leben. Eine Einschränkung möchte ich allerdings machen. Wir können die Sowjetunion nur dann technisch und ökonomisch unterstützen, wenn ihre Politik nicht nur verbal, sondern tatsächlich einen friedlichen Charakter annimmt. Dazu gehört der Verzicht auf militärische Übermacht, d. h. die Bereitschaft zur asymmetrischen Abrüstung. Dazu hat sich die Sowjetunion grundsätzlich bereit erklärt. Die Sowjetunion sollte so bald wie möglich auf die Ernsthaftigkeit dieser Absicht in konkreten Verhandlungen getestet werden, für die wir, Herr Außenminister, uns im westlichen Bündnis ja mit Nachdruck einsetzen. Zur friedlichen Politik gehört auch der Verzicht auf militärische Erpressung, nicht nur in Form des schrecklichen Afghanistan-Abenteuers, das Millionen Menschen das Leben gekostet hat und noch nicht beendet ist; dazu gehört auch der Verzicht auf die Breschnew-Doktrin, deren Widerruf leider immer noch aussteht. Es kann nicht Aufgabe der Roten Armee sein, die innere Entwicklung der Nachbarländer der Sowjetunion durch militärischen Druck zu beeinflussen und zu intervenieren, wenn dieser Druck nicht das gewünschte Ergebnis hat. - Das zu den Ost-West-Beziehungen, an denen wir weiterhin auf das höchste interessiert bleiben. Noch schwieriger, als die europäische Einigungspolitik und die europäische Ostpolitik miteinander zu verbinden - ich hoffe, daß alle europäischen Staats- und Regierungschefs, die jetzt in kurzen Abständen nach Moskau fahren, ihre Mission wie wir als ein Teilstück einer europäischen Ostpolitik verstehen -, ist es, im Westen neue Allianzstrukturen zu schaffen, die notwendig sind, wenn die europäische Identität in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik geschaffen werden soll, wie es ja in dem Abkommen, das uns jetzt vorliegt, als Ziel beschrieben wird. Der Schlüssel dafür liegt bei Frankreich. Frankreich ist 1966 aus der integrierten Kommandostruktur der NATO ausgeschieden und lehnt es, wie wir alle wissen, nach wie vor ab, diesen Schritt rückgängig zu machen. Frankreich deshalb zu schelten wäre töricht, zumal es für seine Haltung Sachgründe gibt. Sinnvoller dürfte es sein, den Versuch zu machen, eine neue Lösung zu finden. Dabei kann an zwei Veränderungen im strategischen Denken Frankreichs angeknüpft werden. Die erste: Die Allianz mit den USA bleibt notwendig und für die Dauer der Teilung Europas auch die amerikanische Präsenz in Europa. Das wird von niemand bestritten, auch von Frankreich nicht mehr. Ich erinnere an die große Rede, die der französische Staatspräsident Mitterrand am 20. Januar 1983 vor dem Deutschen Bundestag gehalten hat. Zweitens: Frankreich hat erkannt, daß es mit der Bundesrepublik Deutschland einen Sicherheitsraum bildet. Ein französischer Politiker hat das mir gegenüber wie folgt ausgedrückt. Er hat gesagt: Zwischen Ihnen und uns gibt es weder den Ärmelkanal noch den Atlantik. - Durch die Änderung der Machtstrukturen nach diesem Krieg haben sich die Schicksale Frankreichs und der Bundesrepublik untrennbar miteinander verknüpft. Wir können nur noch gemeinsam Sicherheit gewinnen und behalten. Das sind zwei wesentliche Änderungen im strategischen Denken Frankreichs, die wichtig sind. Frankreich betont denn heute auch mit Nachdruck die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Verteidigung. Über bilaterale Absprachen mit seinen Nachbarn, vor allem mit uns, der Bundesrepublik Deutschland, ist es aber bisher nicht hinausgekommen. Es kommt daher darauf an, einen Weg zu zeigen, der die Atlantische Allianz nicht beschädigt, es Frankreich zugleich aber auch ermöglicht, führend am Aufbau eines europäischen Verteidigungssystems teilzunehmen. Das geht nur in einer neuen NATO-Struktur, die auch aus anderen Gründen notwendig ist. ({2}) Heute stehen sich in der NATO eine Weltmacht, die sich wegen ihrer globalen Verantwortung in mancherlei Hinsicht überfordert fühlt, auf der einen Seite und 15 Mittel- und Kleinstaaten auf der anderen Seite gegenüber, von denen Frankreich und Spanien nicht integriert sind und von denen Frankreich und Großbritannien über eigene, wenn auch im Vergleich zu den Weltmächten relativ schwache, Atomstreitkräfte verfügen. Es gibt in der Allianz kein Gleichgewicht zwischen Nordamerika und Westeuropa, weder was den Einfluß, noch was die Mittel angeht. Dabei wird häufig übersehen, daß der Beitrag der Europäer zur europäischen Verteidigung schon heute groß ist. Die Europäer stellen zur Zeit 95 % der Divisionen, 90 % der Artillerie, 80 % der Panzer, 80 % der Kampfflugzeuge, 65 % der größeren Kriegsschiffe. ({3}) - Ja; ein sehr wichtiger Punkt, den man in Dollars gar nicht ausdrücken kann, Herr Feldmann. ({4}) - Auch das stimmt. Wenn wir diese europäischen Kräfte, einschließlich der französischen, im europäischen Pfeiler der Allianz bündeln, dann entstünde eine neue NATO, die aus zwei Partnern bestünde: aus Nordamerika und Westeuropa; zwei etwa gleichgewichtigen Partnern. Dann wäre es auch vorstellbar, daß einmal ein europäischer General der Oberkommandierende der NATO in Europa würde, wie es Henry Kissinger schon vor vielen Jahren angeregt hat, dessen Stellvertreter dann der Oberste Befehlshaber der USA-Streitkräfte in Eurpa wäre. Ich verbinde diese Überlegung mit der Feststellung, daß bisher alle amerikanischen Oberbefehlshaber in dem Rahmen, der ihnen von ihrem Präsident abgesteckt wurde, die europäischen und deutschen Sicherheitsinteressen immer fair und gut wahrgenommen haben. Ich möchte diesen Dank an die amerikanischen Oberbefehlshaber aussprechen. Woran sollte der zu schaffende europäische Pfeiler der Atlantischen Allianz rechtlich und organisatorisch anknüpfen? Ein neuer Vertrag, dessen Ausarbeitung gewiß viel Zeit erfordern würde, ist meines Erachtens dafür nicht notwendig. Alle vorhandenen vertraglichen Instrumente sollten genutzt werden, um das politische Ziel, die europäische Sicherheitsunion, zu verwirklichen. Es kommt gewiß nicht auf die Instrumente an, sondern auf den politischen Willen. Wenn der allerdings fehlen sollte, dann könnten wir die weiteren Überlegungen einstellen. Da Frankreich den Schlüssel zur europäischen Sicherheitsunion hat und da die Anregungen, die ich hier vortrage - wie mir in manchen Gesprächen mit französischen Politikern und Politikern aus anderen EG-Ländern versichert wurde - , Frankreich durchaus erwägenswert erscheinen - ich will mich ganz vorsichtig ausdrücken - , wird es sich zeigen, wie ernsthaft der Wille zur europäischen Einheit tatsächlich ist. Die wichtigsten Instrumente der Einigungspolitik in Europa sind die EG und die WEU. Die Europäische Gemeinschaft hat die stärksten Institutionen. Die WEU konzentriert sich auf das größte zusammenhängende europäische Allianzgebiet. Das Beitragsversprechen der WEU geht weit über das der NATO hinaus. Die Partner der WEU haben sich gegenseitige Hilfe „mit allen Mitteln" versprochen. Die Westeuropäische Union als Sicherheitsorganisation der EG - was keine volle Identität der Vertragsgebiete voraussetzt - erscheint mir daher als der aussichtsreichste Weg zur europäischen Sicherheitsunion. Diesen Weg schlage ich vor. Die WEU als europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz würde die WEU aus ihrem schattenhaften Dasein herausführen. Welche Maßnahmen dazu im einzelnen notwendig wären, habe ich in einem Memorandum dargelegt, das ich der Bundesregierung zugeleitet habe mit der Anregung, die darin gemachten Vorschläge im deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrat zu erörtern. Am 17. November 1988 konnte ich in Den Haag dem Monnet-Komitee meine Vorstellungen vortragen. Sie haben nicht nur die Unterstützung der deutschen Mitglieder, so des früheren Bundespräsidenten Karl Carstens, des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt und des derzeitigen Koordinators der deutsch-französischen Zusammenarbeit Rainer Barzel gefunden; sie sind auch bei den Mitgliedern aus anderen EG-Ländern auf großes Interesse und zum Teil auf Zustimmung gestoßen. Ich möchte meine Überlegungen in zehn Punkten zusammenfassen: Erstens. Die Europäische Sicherheitsunion und mit ihr die politische Union Europas ist heute notwendiger denn je. Europas Zukunft kann nicht alleine den Weltmächten überlassen bleiben. Zweitens. Die USA brauchen ein mit ihnen verbündetes starkes Europa, wenn sie weiterhin ihrer globalen Verantwortung gerecht werden wollen. ({5}) Die Sowjetunion braucht für eine verbesserte Zusammenarbeit mit Europa einen europäischen Partner, der seine Interessen auch ihr gegenüber eigenständig und selbstbewußt vertreten kann. Drittens. Europa braucht vor allem sich selbst. Die WEU als europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz würde das jetzige Ungleichgewicht in der Allianz überwinden. Viertens. Die WEU würde es Frankreich ermöglichen, in der europäischen Verteidigung eine Rolle zu spielen, die seiner Größe, seiner Macht und seiner militärgeographischen Unentbehrlichkeit entspricht. Fünftens. Die WEU als europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz würde es ermöglichen, das Nebeneinander mehrerer Abwehrstrategien in Europa zu überwinden; Sie, Herr Ehmke, hatten davon in der ersten Lesung gesprochen. Zur Zeit gibt es eine französische, vielleicht auch eine spanische und eine atlantische Abwehrstrategie, die von den USA dominiert und von den anderen integrierten Europäern mitgetragen wird. Dieses Nebeneinander verschiedener Abwehrstrategien ist ein Luxus, den sich Europa und die Allianz nicht länger leisten sollten. Sechstens. Die WEU als europäischer Pfeiler der Atlantischen Allianz würde es Europa ermöglichen, in Zukunft an allen Verhandlungen teilzunehmen, die seine Interessen berühren. Beim nächsten - ich sage das bildlich - Reykjavik-Gipfel würde anders als 1986 außer dem Präsidenten der USA und dem Generalsekretär aus Moskau auch ein Repräsentant Europas am Verhandlungstisch sitzen. Siebtens. Die Atomstreitkräfte Großbritanniens und Frankreichs verblieben selbstverständlich - wie die amerikanischen - unter nationalem Oberbefehl. Wir Deutsche haben keine Atomwaffen und wollen auch keine. Das schließt es nicht aus - wie ich hinzufügen möchte -, es muß vielmehr von unseren Verbündeten erwartet werden, daß die unter nationalem Oberbefehl stehenden Atomstreitkräfte in ihrer Einsatzplanung - und das hängt auch mit den festgelegten Reichweiten zusammen - auf die Überlebensinteressen der nicht atomar bewaffneten Alliierten Rücksicht nehmen. ({6}) Achtens. Europa ist dabei, den größten Binnenmarkt der Erde mit 320 Millionen Menschen zu schaffen. Auch wenn Europa militärisch keine Weltmacht ist und auch nicht anstrebt es zu werden, hat Europa jedenfalls Anspruch darauf, daß seine Sicherheitsinteressen nicht geringer geachtet werden als die Sicherheitsinteressen der USA und der Sowjetunion. Die USA haben die europäische Einigung immer gefördert und in Europa immer mehr gesehen als ein Glacis, dessen Verteidigung dem Schutz amerikanischer Interessen zu dienen hat. Auch die Sowjetunion muß Europa endlich als eigenständige Kraft mit durchaus eigenständigen Sicherheitsinteressen anerkennen. Europa ist mehr und etwas anderes als eine vorgeschobene Basis der USA. ({7}) Neuntens. Die Gründung einer europäischen Sicherheitsunion würde der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion einen entscheidenden Impuls geben. Wenn sich die Europäer in der Existenzfrage ihrer Sicherheit miteinander identifizieren, dann ist es selbstverständlich, daß sie ihre wirtschaftlichen, ihre finanziellen und ihre Währungsinteressen in den gemeinsamen Verbund hineingeben. ({8}) Zehntens. Die politische Union Europas könnte in der weiteren Entwicklung auch bei der Überwindung der europäischen Teilung eine Rolle spielen. Ich will das nur andeuten. Sie könnte, wenn auch den ostmitteleuropäischen Staaten die Mitwirkung erlaubt würde, zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden, die es diesen ersparte, sich mitten in Europa hochgerüstet hautnah einander gegenüberzustehen. An der Einheit Europas, meine Damen und Herren, haben alle Bundeskanzler seit Konrad Adenauer gearbeitet. Besonders engagiert und erfolgreich hat das Bundeskanzler Helmut Kohl zusammen mit dem französischen Staatspräsidenten Mitterrand getan. Unser Außenminister, Herr Kollege Genscher, sieht ebenfalls in der Verwirklichung der europäischen Union eine seiner Hauptaufgaben. Die sehr aktive europapolitische Rolle meiner Fraktion ist bekannt. Auch die SPD-Opposition hat sich in der ersten Lesung aufgeschlossen gezeigt. Diese politische Übereinstimmung sollte in unserer heutigen Beschlußfassung sichtbar werden. Wir sollten die Vorlage verabschieden und die Regierungen in Paris und Bonn auffordern, die notwendigen Initiativen zur Gründung der europäischen Sicherheitsunion zu ergreifen, zumal dadurch auch das Entstehen der Wirtschafts- und Währungsunion gefördert würde. Daß die Gespräche zur Gründung der europäischen Sicherheitsunion in enger Abstimmung mit den USA stattfinden müssen, ergibt sich aus deren nach wie vor bedeutsamen Rolle für die europäische Sicherheit. Ich bin überzeugt, daß deutsch-französische Initiativen zur - jetzt gebe ich noch einmal die Formulierung der Protokollnotiz wieder - „Vervollständigung des europäischen Einigungswerks und zur Entwicklung einer europäischen Identität in der Sicherheitspolitik" , wie es im Abkommen heißt, bei den meisten unserer europäischen Partner auf Zustimmung stoßen würden. Sollten einige Europäer zunächst zögern, so werden sie, wie ich hoffe - es gibt dafür geschichtliche Beispiele - , etwas später das gleiche tun. Herzlichen Dank. ({9})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, bevor ich das Wort weitergebe, möchte ich Sie davon unterrichten, daß wir einen Gast haben, nämlich den Botschafter der Französischen Republik, Herrn Boidevaix. Ich begrüße ihn herzlich. ({0}) Ich begrüße auch den Koordinator für die deutschfranzösische Zusammenarbeit, Herrn Dr. Barzel. ({1}) Ich rufe nun den nächsten Redner, Herrn Voigt ({2}), auf.

Karsten D. Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002388, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Es freut mich, daß die bei unserer Debatte anwesenden Gäste mitspüren und miterleben können, daß die deutschfranzösische Freundschaft zumindest bei der SPD und den Regierungsfraktionen unumstritten ist. Denn die Voigt ({0}) deutsch-französische Freundschaft dient dem europäischen Frieden. ({1}) In diesem europäischen Geist und mit dieser friedenspolitischen Zielsetzung unterstützen wir Sozialdemokraten jeden konkreten Fortschritt in der deutsch-französischen Zusammenarbeit, und sei er noch so klein und bescheiden. ({2}) Wir werden deshalb auch den beiden Zusatzprotokollen zum Elysée-Vertrag zustimmen. Wir bejahen die beabsichtigte Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Sicherheits- und Abrüstungspolitik und ebenso in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Wir haben in den letzten Jahren immer wieder bedauert, wenn sich die Bundesregierung Kohl in ihrer Zusammenarbeit mit der französischen Regierung vor allen Dingen auf die Pflege symbolischer Akte konzentriert hat. Weniger Symbolik und mehr politische Substanz wären uns lieber gewesen. ({3}) Auch die Einrichtung des in den Zusatzprotokollen vorgesehenen Verteidigungs- und Sicherheitsrates einerseits und des Finanz- und Wirtschaftsrates andererseits ist vom Makel einer zu sehr an politischen Symbolen orientierten deutsch-französischen Zusammenarbeit nicht frei, denn beide Räte könnten nichts beraten, was sich nicht auch heute schon unter Nutzung der vorhandenen Strukturen beraten ließe, wenn man nur wollte. Trotzdem hoffen wir, daß diese neuen Räte durch die Bundesregierung auch tatsächlich zu einer weiteren Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit genutzt werden. Gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen in der französischen Nationalversammlung werden wir uns aktiv an der Ausfüllung der den beiden Räten gestellten Aufgaben beteiligen. ({4}) Der Auswärtige Ausschuß des Bundestages ebenso wie der Auswärtige Ausschuß der französischen Nationalversammlung haben zu diesem Zweck die Einrichtung von gemeinsamen deutsch-französischen Arbeitsgruppen beschlossen, die die Arbeit auf Regierungsebene parlamentarisch begleiten sollen. Diese qualitativ neue Form der parlamentarischen Zusammenarbeit kann und sollte als unser Beitrag zu einer Art transnationalen Parlamentarismus in Europa gesehen werden, und sie kann auch Vorbild werden für die Zusammenarbeit mit anderen Parlamenten in Europa. Es gab in Westeuropa immer wieder besorgte Stimmen, die fürchteten, daß sich eine Vertiefung der zweiseitigen deutsch-französichen Zusammenarbeit zu Lasten der Zusammenarbeit mit anderen westeuropäischen Staaten auswirken könnte. Diese Sorgen waren und sind unbegründet. Im Gegenteil, die deutsch-französische Zusammenarbeit hat sich als Motor des westeuropäischen Einigungsprozesses bewährt. Ohne die deutsch-französische Zusammenarbeit wäre es nie zu einem Europäischen Währungssystem gekommen. Die westeuropäischen Sozialdemokraten und Sozialisten haben sich in einer Sitzung am 20. November 1988 in Rom auf eine gemeinsame Plattform in der Sicherheits- und Abrüstungspolitik geeignet. Sie sind damit den westeuropäischen Regierungen wieder mal ein Stückchen voraus. Aber wir Sozialdemokraten drängen und hoffen, daß sich die Regierungen Westeuropas endlich zur Formulierung eines sicherheits- und abrüstungspolitischen Gesamtkonzepts als fähig erweisen; dies ist erforderlich. Aber wir meinen auch, daß man im Rahmen eines solchen Gesamtkonzepts nicht die Stationierung neuer Kurzstreckenraketen legitimieren, sondern sie überflüssig machen, d. h. darauf verzichten sollte. ({5}) Wir streben eine gemeinsame europäische Währung und eine gemeinsame Notenbank an. Mein Kollege Norbert Wieczorek wird dazu noch etwas sagen. Aber wer diese Ziele bejaht, der muß auch eine enge deutsch-französische Zusammenarbeit bejahen. Ohne sie geht es nicht, aber es geht auch nicht mit ihr allein. Deshalb muß die deutsch-französische Zusammenarbeit auch weiterhin politisch gegenüber den anderen westeuropäischen Staaten offenbleiben und sich immer wieder erneut öffnen. Willy Brandt und Helmut Schmidt nutzten die deutsch-französische Zusammenarbeit auch zur Abstimmung gemeinsamer entspannungs- und abrüstungspolitischer Initiativen. Die Chancen für den Erfolg einer neuen Phase der Entspannungs- und Abrüstungspolitik sind auf Grund des unter Generalsekretär Gorbatschow begonnenen Reformkurses besser geworden, und auch der Kollege Dregger bewertet heute die Reformpolitik Gorbatschows viel positiver als noch vor ein, zwei Jahren. Damals war es auch noch nicht so eindeutig. ({6}) Insofern nehme ich das auch als Teil nicht nur eines Lernprozesses, sondern auch als Teil eines Prozesses, der die inneren Entwicklungen in der Sowjetunion, die positiv verlaufen, reflektiert. Wir fordern die Bundesregierung auf, diese Chancen der Reformpolitik noch besser zu nutzen, durch deutsch-französische Zusammenarbeit und durch gemeinsame westeuropäische Initiativen. Ich mache darauf aufmerksam, daß de Gaulle seine Ostpolitik noch zu Zeiten begann, als Konrad Adenauer noch bremste. Auch künftig sollte sich die deutsch-französische Zusammenarbeit im Willen zur Zusammenarbeit und zur Partnerschaft mit den Staaten Ost- und Ostmitteleuropas bewähren. Übrigens mehren sich auch in der Sowjetunion die Stimmen, die erkennen, daß sich die deutsch-französische Zusammenarbeit zugunsten einer gesamteuropäischen Zusammenarbeit auswirken kann. So bewertet Radio Moskau - Kollege Ehmke hat darauf gestern in einer Rede vor der Bundestagsfraktion hingewiesen - den deutsch-französischen Gipfel Anfang November zusammenfassend mit dem Satz: „Die Voigt ({7}) deutsch-französische Zusammenarbeit wurde zu einem bedeutenden Faktor der europäischen Politik. Sie kann zum Ausbau des gesamteuropäischen Hauses beitragen. " Dieser Einschätzung stimmen wir ausdrücklich zu. Ich möchte hinzufügen: Wer dieses deutsch-französische Vertragswerk ablehnt, untergräbt objektiv auch seine Fähigkeit zu Verhandlungen mit den Staaten Osteuropas. ({8}) Die heutige deutsch-französische Freundschaft ist für uns auch Antrieb zur Vollendung der deutsch-polnischen Versöhnung. Wir wollen mit Frankreich zusammenarbeiten, nicht weil wir alte Feindbilder gegenüber Frankreich durch neue Feindbilder gegenüber unseren östlichen Nachbarn ersetzen wollen, sondern weil wir Feindbilder und Feindschaft in Ost und West durch eine europäische Friedensordnung überwinden wollen. ({9}) Zu diesem Ziel bekennen sich auch ausdrücklich die heute zur Ratifizierung anstehenden Verträge. Dieses Ziel ist in dem gemeinsamen Bericht von Herrn Feldmann, Herrn Lamers und mir, der ja von allen Mitgliedern dieser drei Fraktionen angenommen und im Auswärtigen Ausschuß unterstützt worden ist, ausdrücklich festgehalten. ({10}) Wir Sozialdemokraten unterstützen dieses Ziel einer europäischen Friedensordnung. Wir streben eine Friedensordnung in Europa an, die die Konfrontation der Militärblöcke und auch der Gesellschaftssysteme abbaut und die Teilung Europas durch Zusammenarbeit und gleichzeitigen friedlichen Wettbewerb zwischen den Systemen überwindet. Wir streben eine schrittweise Entmilitarisierung des Ost-West-Gegensatzes an. Aber ich sage auch: Solange es eine europäische Friedensordnung noch nicht gibt, bedarf die Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland des Rückhaltes einer auch militärisch abgestützten und in die Partnerschaft im westlichen Bündnis eingebundenen Sicherheitspolitik. Da kann die WEU ein Beitrag sein - nicht zur Aufrüstung, wie manche unterstellen, aber zur Bildung von Selbstbewußtsein und auch zur Verhandlungsfähigkeit Westeuropas gegenüber Osteuropa. Die NATO ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck. Im Rahmen einer künftigen europäischen Friedensordnung können die Gefahren einer äußeren Bedrohung gebannt und das Ziel einer sicherheitspolitischen Stabilität in Europa gefördert werden, auch ohne daß sich Militärbündnisse gegeneinander organisieren; sie werden damit überflüssig. Das gilt dann auch für die NATO. ({11}) Die Militärstrategien der NATO und Frankreichs sind heute keineswegs deckungsgleich. Frankreich hat die NATO-Strategie der „flexiblen Antwort" für sich nie akzeptiert. ({12}) Wir Sozialdemokraten sind uns bewußt, daß die geltende NATO-Strategie der „flexiblen Antwort" nur durch eine neue Übereinkunft im Bündnis abgelöst werden kann. Wir streben eine solche Änderung an, da die geltende Bündnisstrategie nach unserer Überzeugung nicht geeignet ist, das gemeinsame Ziel der Kriegsverhütung auf Dauer sicherzustellen. ({13}) Die Bundesregierung hat in ihrer Denkschrift zu dem Protokoll auf Drängen der SPD festgestellt und klargestellt, daß von diesem keine vertragliche Festlegung auf eine bestimmte Strategie ausgeht. ({14}) Diese Rechtsauffasssung ist - ebenfalls auf Wunsch der SPD - der französischen Seite durch Verbalnote unter Einschluß der Denkschrift notifiziert worden. ({15}) In Gesprächen mit den Berichterstattern des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses der Assemblée Nationale - das sind Gespräche gewesen, bei denen übrigens die GRÜNEN durch Abwesenheit geglänzt haben; da sieht man, wie sehr sie diese Frage intern ernst nehmen, im Gegensatz zu ihren öffentlichen Darstellungen - ({16}) - Erklärt ja, aber anwesend war keiner. ({17}) Durch solche Gespräche mit den Berichterstattern in der Assemblée Nationale, an denen wir uns beteiligt haben, haben wir erreicht, daß das französische Parlament diese Rechtsauffassung teilt. Im Bericht des Auswärtigen Ausschusses der Assemblée Nationale zu dem Protokoll zum Elysée-Vertrag wird hierüber hinaus hervorgehoben, daß das Protokoll auch für die Gegenwart keine Festlegung auf eine gemeinsame militärische Strategie enthält. ({18}) Es wird dabei festgehalten, daß es vielmehr Aufgabe künftiger Konsultationen sei, sich um die Erarbeitung gemeinsamer oder ähnlicher strategischer Prinzipien zu bemühen - darauf hat der Kollege Dregger bereits hingewiesen - , die dann gleichermaßen, falls man sich einigt, für die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich gelten könnten. ({19}) Wie diese künftige Strategie aussehen wird, darüber entscheiden politische Mehrheiten in Bonn und Paris. Voigt ({20}) Der Inhalt einer derartigen Strategie wird völkerrechtlich durch die Protokolle zum Elysée-Vertrag in keiner Weise präjudiziert. Die GRÜNEN behaupten, daß die Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Sicherheitspolitik sowohl zur nuklearen als auch zur konventionellen Aufrüstung führen müsse. ({21}) Diese Behauptung ist falsch. Sie wird auch durch den Wortlaut des Vertragswerkes nicht gerechtfertigt. Diese Behauptung widerspricht darüber hinaus den in der gemeinsamen Berichterstattung durch den Auswärtigen Ausschuß des Bundestages dargelegten Zielen, die gemeinsam durch SPD, FDP und CDU/CSU beschlossen wurden. ({22}) Wir Sozialdemokraten haben in den letzten Wochen auch die gegenteilige Erfahrung gemacht. Als wir nämlich mit allen sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien eine gemeinsame sicherheits- und abrüstungspolitische Plattform in Rom beschlossen haben, also auch unter Beteiligung der französischen Sozialisten, haben wir uns auf das gemeinsame Ziel der Unterstützung des START-Abkommens mit einer 50%igen Reduzierung der nuklearstrategischen Waffen geeinigt. Wir haben uns gegen eine Umgehung oder Kompensation des Abkommens über eine doppelte Null-Lösung bei den Mittelstreckenwaffen durch eine sogenannte Modernisierung bei den nuklearen Kurzstreckenraketen unterhalb der Reichweite von 500 km festgelegt. ({23}) Wir haben uns festgelegt auf das Ziel einer konventionellen Stabilität, das erreicht wird durch Abrüstung und nicht durch Aufrüstung. Schließlich haben wir uns im Zusammenhang mit der konventionellen Stabilität darauf geeinigt, das Ziel anzustreben, alle nichtstrategischen Nuklearwaffen letztlich völlig abzubauen. ({24}) Das sind klare und eindeutige abrüstungspolitische Ziele, die wir gemeinsam mit den Franzosen haben. Sie widerlegen diejenigen GRÜNEN, die behaupten, daß jede Form der deutsch-französischen Zusammenarbeit zu einer Militarisierung führen müsse. Dies ist nicht der Fall. Wer so etwas behauptet, schürt Mißtrauen und baut neue Feindbilder auf, wo es um Zusammenarbeit und Abbau von Feindbildern - auch von alten, überkommenen Feindbildern - geht. ({25}) Niemand kann leugnen, daß Auffassungsunterschiede verbleiben: Wir Sozialdemokraten sind nicht nur gegen amerikanische und sowjetische, sondern auch gegen französische Kurzstreckenraketen, gleichgültig ob sie den Namen Pluton oder Hades tragen. Ebenso sind wir gegen französische Neutronenwaffen wie gegen Neutronenwaffen anderer Staaten. ({26}) Wir beharren auf unserem Ziel, das System der wechselseitigen nuklearen Abschreckung durch Fortschritte in der Abrüstung, durch den Abbau von Feindbildern und potentieller Feindschaft schließlich im Rahmen einer europäischen und letztlich weltweiten Friedensordnung gänzlich zu überwinden. Das unterscheidet uns von vielen Franzosen, das unterscheidet uns auch von vielen Christdemokraten in diesem Hause. ({27}) Aber auch gerade angesichts dieser Unterschiede bleiben vertiefte Diskussionen über sicherheits- und abrüstungspolitische Fragen zwischen Deutschen und Franzosen - also auch auf Regierungsebene - sinnvoll, nützlich und erforderlich. Wer - wie die GRÜNEN - diese Zusammenarbeit als Schritt zur europäischen Atomstreitmacht unter Beteiligung der Deutschen diffamiert - Kollege Dregger hat bereits darauf hingewiesen, daß das gar nicht angestrebt wird und auch nicht möglich ist -, der betreibt eine bewußte Irreführung der deutschen und europäischen Öffentlichkeit. Wir Sozialdemokraten sind gegen eine europäische Atomstreitmacht. Aber wichtiger ist noch: Die Protokolle zum ElyséeVertrag enthalten keinen einzigen Hinweis auf eine europäische Atomstreitmacht. Sie führen weder direkt noch indirekt auf dieses Ziel hin. Alles andere sind Unterstellungen und widerspricht den Tatsachen. Die heute zur Ratifizierung anstehenden deutschfranzösischen Verträge sind eine Chance für Europa, und zwar nicht nur für Europa im Westen, sondern auch für die Zusammenarbeit in Europa über die Grenzen nach Osten hinaus und damit für Gesamteuropa, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wir Sozialdemokraten wollen diese Chance nutzen. Deshalb stimmen wir mit Ja. ({28})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Feldmann.

Dr. Olaf Feldmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000530, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die deutsch-französischen Beziehungen standen noch nie so oft auf der Tagesordnung des Deutschen Bundestages wie in diesem Jubiläumsjahr. Wäre die deutsch-französische Partnerschaft eine Ehe, hätten wir das ganze Jahr über silberne Hochzeit. Trotz großer Erfolge wollen wir uns aber nicht auf unseren Lorbeeren ausruhen, sondern nach vorne blicken. Die Regierungen unserer beiden Länder haben dieser Aufgabe am 25. Jahrestag der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages durch zwei Zusatzabkommen Rechnung getragen, durch die sie unseren Ländern ehrgeizige Ziele aufgegeben haben, nämlich die Harmonisierung unserer Wirtschafts- und Finanzpolitik sowie unserer Sicherheits- und Verteidigungspo8144 litik. Beide Politikbereiche waren zäh verteidigte einzelstaatliche Domänen. Dieser Sieg über nationale Egoismen ist, so meine ich, ein Fortschritt für Europa. ({0}) Die Vertiefung einer Partnerschaft ist in einer Demokratie aber nicht allein Aufgabe der Regierungen, sondern auch der Parlamente. Die Assemblée Nationale und der Deutsche Bundestag nehmen diese Aufgabe ernst. Beide Zusatzprotokolle werden heute synchron beraten und zeitgleich ratifiziert, und dies ist mehr als bloße Symbolik. ({1}) Die Zusammenarbeit der Parlamente soll schon bald in einen festen institutionalisierten Rahmen gegossen werden. Weder Frankreich noch die Bundesrepublik leugnen, daß sie in wichtigen Fragen immer noch unterschiedliche Interessen und Standpunkte haben. Probleme aber können nur gelöst werden, wenn man sie offen anspricht. Unter Freunden ist Verzicht auf konstruktive Kritik keine Tugend, sondern eher ein Versäumnis. ({2}) Mein Berichterstatterkollege aus der Assemblée Nationale, Jean-Marie Caro, zitierte hierzu bei dem gemeinsamen Abstimmungsgespräch vor einigen Tagen Georges Bidault: Ce qui va bien sans le dire, va encore mieux en le disant. ({3}) - Also, ich wiederhole es für Sie: Das, was gut geht, wenn man nicht darüber spricht, geht noch besser, wenn man darüber spricht. Das ist ein sehr schönes Leitmotiv für unsere Zusammenarbeit. Daran wollen wir uns halten. ({4}) Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann natürlich Kritik auch überziehen, ({5}) - ja -, wie das der Kollege Mechtersheimer ({6}) in seinen Redebeiträgen gestern im Ausschuß und auch in den letzten Debatten zur deutsch-französischen Zusammenarbeit getan hat. Das war zum großen Teil falsch und diffamierend. Die FDP wird es nicht zulassen, daß unsere französischen Freunde diffamiert oder gar noch in die falsche Ecke gestellt werden. ({7}) Liebe Kollegen, es drängt sich fast der Verdacht auf, als ob die GRÜNEN meinten, neue Feindbilder aufbauen zu müssen, um ihre Leute zusammenhalten zu können. ({8}) Mit den Idealen der Friedensbewegung sind Feindbilder nicht vereinbar. ({9}) Es ist schon ein bedrohliches Zeichen von Realitätsverlust, wenn Sie nicht wahrnehmen können, daß sich Franzosen und Deutsche gerade auch im Bereich der Sicherheitspolitik nähergekommen sind, und zwar nicht in der von Ihnen immer unterstellten nuklearen Komplizenschaft, nein, gerade im Bereich von Abrüstung und Entspannung. Die militärische Zusammenarbeit ist nur ein Teil, ein kleiner Teil der gemeinsamen Sicherheitspolitik. Der andere, viel wesentlichere Teil ist die Politik der Friedenssicherung durch Entspannung und Vertrauensbildung. Nur durch sie können die künstliche Teilung Europas überwunden und die Bedeutung von Rüstung und militärischen Strategien zurückgedrängt werden. Die neue Qualität unserer Partnerschaft kommt auch darin zum Ausdruck, daß dies kein klassisches Bündnis ist, das sich gegen andere richtet. Diese Partnerschaft ist für weitere Partner offen. Sie nutzt allen Partnern. Sie soll den Prozeß der europäischen Einigung fördern. Wir verfolgen sie auch im gesamteuropäischen Interesse. Franzosen und Deutsche haben einen engen Abstimmungsprozeß auch in der Ostpolitik begonnen. Sie stimmen in der Einschätzung des Reformprozesses in der Sowjetunion überein. Beide sind bereit, die blockübergreifende wirtschaftliche Zusammenarbeit umfassend auszubauen und ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu diesem Zweck einzusetzen. Auch die Zusammenarbeit im Finanz- und Wirtschaftsrat ist auf gemeinsamen Nutzen und die Förderung der europäischen Integration angelegt. Die Abstimmung unserer Währungspolitik ist ein Schlüssel für Fortschritt in allen Bereichen. Langfristig ist sie auch auf das Ziel einer unabhängigen europäischen Zentralbank ausgerichtet. Die FDP begrüßt, daß die Unabhängigkeit der Bundesbank durch das Protokoll nicht angetastet, sondern ausdrücklich anerkannt wird. ({10}) Herr Voigt, Herr Ehmke, Sie haben hier einen vermeintlichen Konfliktpunkt wieder aufgewärmt. Der ist doch ausgeräumt. Das Zusatzprotokoll über den Sicherheits- und Verteidigungsrat legt eben nicht eine bestimmte Strategie fest. ({11}) Wir gewinnen aber neue Möglichkeiten, unsere Interessen frühzeitig und mit langfristiger Perspektive in eine gemeinsame Politik einzubringen, und das ist ein großer Gewinn. Staatspräsident Mitterrand hat soeben zur Kurzstreckenrakete Hades erklärt: „Die Bundesrepublik", - ich zitiere - „dieses mit uns verbündete Land, muß die Gewißheit haben, daß es nicht Ziel der letzten Warnung ist. " - Auch hier zeigt sich die gewachsene Sensibilität Frankreichs für deutsche Sicherheitsinteressen. Hades ist für 1992 geplant. Aber kann man sich ein besseres Forum als den gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat vorstellen, um solche Probleme zu besprechen und dann auch zu lösen? ({12}) Gestatten Sie mir noch eine Schlußbemerkung zur deutsch-französischen Zusammenarbeit im Bereich der Sicherheitspolitik. Sie ist nicht frei von Meinungsverschiedenheiten; sie ist eher eine Herausforderung. Sie ist aber weiter gediehen, als viele wahrhaben wollen. Die französische Regierung hat die Position der Bundesregierung in der Frage der Modernisierung der Kurzstreckenwaffen unmißverständlich unterstützt. Außenminister Dumas hat gerade erklärt: Der beste Zeitpunkt für eine Entscheidung ist sicher nicht jetzt, wo die Verhandlungen über konventionelle Abrüstung gerade erst beginnen sollen. - Meine Damen und Herren, konventionelle Abrüstung hat oberste Priorität. Hier müssen wir Dampf machen; hier müssen wir auf das Tempodrücken, nicht aber bei der Modernisierung. Die Sowjetunion ist aufgefordert, ihre durch nichts gerechtfertigte Überrüstung abzubauen. ({13}) Sie hat selbst den Schlüssel in der Hand, um Modernisierungen so weit wie eben möglich überflüssig zu machen ({14}) und eine Dekade der Abrüstung in Europa einzuleiten. Auch hier besteht große Übereinstimmung zwischen Deutschen und Franzosen. Vielen Dank. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Mechtersheimer.

Dr. Alfred Mechtersheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001450, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Dies ist ein schwarzer Tag für die deutsch-französische Freundschaft. ({0}) Die historisch beispiellose Verständigung im Zeichen von Aussöhnung und Frieden wird militärisch vergiftet. Die Lehren der Geschichte sollten mehr bewirkt haben als die Ausrichtung der Waffen auf einen gemeinsamen Feind. ({1}) Eine Militärachse Paris-Bonn ist gegen die Länder Osteuropas gerichtet, gegen wen sonst eigentlich? ({2}) - Gegen wen sonst eigentlich? Wenn gerüstet wird, dann wird gegen jemanden gerüstet. Dann müssen Sie mir sagen, gegen wen sonst das gerichtet sein soll. Die Intensivierung der deutsch-französischen Militär- und Rüstungskooperation ist abrüstungsfeindlich, ({3}) belastet die Beziehungen zwischen West- und Osteuropa und wurde durch keinerlei militärische Maßnahmen des Warschauer Paktes herausgefodert. ({4}) Wer sich mit aller Entschiedenheit gegen die verstärkte Militärkooperation zwischen den beiden Staaten wendet, weckt bei uns keine antifranzösischen Gefühle, sondern spricht auch für diejenigen Franzosen, die sich in wachsender Zahl vom atomaren Wahn lossagen. Ich meine z. B. die Franzosen, mit denen wir gemeinsam in Böblingen gegen die deutsch-französische Brigade demonstriert haben. ({5}) Auch in Frankreich ist der Konsens der nuklearen Abschreckung längst im Verfall begriffen. Nach einer neuen Umfrage befürworten lediglich 41 % der französischen Bevölkerung bei einem sowjetischen Angriff auf Frankreich den nuklearen Ersteinsatz; 48 sind dagegen. Das plötzliche, nach dem INF-Vertrag erwachte deutsche Interesse an den französischen Atomwaffen löst in der französischen Öffentlichkeit besorgte Fragen aus. ({6}) Die deutsch-französische Freundschaft wird durch die militärische Zusammenarbeit nicht gefördert. ({7}) Im Gegenteil: Sie wird in beiden Ländern durch berechtigtes Mißtrauen belastet. Das, was Herr Dregger heute gesagt hat, war offenkundig auf die Ängste abgestellt, die gerade in diesem Zusammenhang in Frankreich virulent werden. Ich bedaure sehr, daß er nicht zitiert hat, was seine eigene Partei im Mai dieses Jahres beschlossen hat. Da steht nämlich, daß Großbritannien und Frankreich aufgefordert werden, ihre Atomwaffen in eine europäische Sicherheitsunion einzubringen und die Verfügungsgewalt mittelfristig einem europäischen Verteidigungsrat zu übertragen. Das hätten Sie hier ruhig sagen können.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Duve?

Dr. Alfred Mechtersheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001450, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, ich möchte den Gedanken jetzt fortsetzen. Ich hoffe, daß diese politische Absicht insbesondere im Bereich der Unions-Fraktion in Frankreich registriert und im Zusammenhang mit der Einrichtung dieser militärischen Gremien gesehen wird. Eine Militärachse Paris-Bonn ist Absicht der Regierungen, der politischen und militärischen Eliten, nicht der Menschen. Die haben in beiden Ländern andere Sorgen, als die westeuropäische Integration mit einem militärischen Arm auszustatten. ({0}) Die Menschen wünschen sich einen deutsch-französischen Abrüstungsrat, einen deutsch-französischen Entwicklungsrat, einen deutsch-französischen Umweltrat, aber keine Sicherheits- und Verteidigungsräte, keine deutsch-französische nukleare Planungsgruppe und keine gemeinsamen Verbände. ({1}) Die Regierung in Paris hat in Europa das geringste Interesse an einer Veränderung des Status quo in Richtung einer gesamteuropäischen Friedensordnung. Bei einer systemöffnenden Kooperation werden nämlich die Atomwaffen entwertet; die Machtfaktoren Ökonomie und Technologie erfahren dagegen eine Aufwertung. Das würde innerhalb Westeuropas zu einer weiteren Verschiebung des politischen Gewichts von Frankreich auf die Bundesrepublik führen, zumal die französische Wettbewerbsfähigkeit lediglich in der rüstungsbezogenen Industrie noch voll gewährleistet ist. Deshalb ist es das Herrschaftsinteresse der classe politique in Paris, das eigene Atomwaffenpotential zu vergrößern und nicht zu verringern. ({2}) Für den Versuch, Frankreich dennoch zu Zugeständnissen in der Abrüstungspolitik zu gewinnen, ist die Einrichtung eines Sicherheits- und Verteidigungsrates ein völlig untaugliches Mittel. Dafür gibt es ein dichtes Netz von bilateralen und multilateralen Gremien. Ich erinnere nur daran, daß Anfang November das 52. deutsch-französische Gipfeltreffen stattgefunden hat. Als wäre das kein Rahmen, um solche elementaren Fragen zu behandeln! Wer eine westeuropäische Atomstreitmacht anstrebt - so wie es verklausuliert Herr Dregger auch wieder gesagt hat -, ({3}) handelt konsequent, wenn er dieses Papier unterschreibt. ({4}) - Er hätte es in Übereinstimmung mit Ihrer Programmlage deutlicher sagen müssen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Dr. Feldmann?

Dr. Alfred Mechtersheimer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001450, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, die Zeit ist ja schon abgelaufen. Ich verstehe nicht, daß diejenigen, die die Welt von Atomwaffen befreien wollen, dieses Papier auch unterschreiben. ({0}) Das ist die Frage an die SPD. Sie unterschreiben das Papier doch gemeinsam mit Leuten, ({1}) die dezidiert eine westeuropäische Nuklearstreitmacht unter maßgeblicher deutscher Entscheidungskompetenz anstreben. ({2}) Wie können Sie sich auf diesem Nenner begegnen? ({3}) Das ist ein aufzuklärender Widerspruch. Zumindest hätten Sie von der SPD einen Verzicht auf die prästrategische Waffe Hades im Interesse Ihrer Glaubwürdigkeit zur Bedingung für Ihre Unterschrift machen müssen. Entweder man ist für die nukleare Abschrekkung oder man ist dagegen. Wie wollen Sie gegen die drohende Weiterverbreitung der Atombomben in der ganzen Welt glaubhaft angehen, wenn Sie selbst durch diese Maßnahme in Europa Atomrüstung legitimieren? Schon jetzt steht fest, daß Bonn ein deutlich größeres Maß an sogenannter nuklearer Mitwirkung am französischen Nuklearpotential erwarten kann, als die USA es jemals gewährt haben. ({4}) - Ja, viele sagen: Wir wollen das. Dann sagen Sie es laut, wenn Sie es nicht wollen. Wer, wie auch Teile der SPD, französische oder westeuropäische Atomwaffen für weniger gefährlich hält als amerikanische, setzt sich dem Verdacht aus, daß für ihn nicht das Massenvernichtungsinstrument das Problem ist, ({5}) sondern die Verfügungsgewalt darüber. Nach dieser Logik wären eigene Atomwaffen noch weniger schlimm als die französischen. ({6}) Massenmord ist Massenmord, ob durch sowjetische, amerikanische, französische oder deutsche Atomwaffen. ({7}) Hier wird heute für ein Atom-Europa entschieden. Wir werden mit wachsender öffentlicher Unterstützung in beiden Ländern für ein atomwaffenfreies Europa eintreten. Ich danke Ihnen. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Bundesminister des Auswärtigen.

Hans Dietrich Genscher (Minister:in)

Politiker ID: 11000661

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verabschiedung der beiden Protokolle über die Errichtung eines Verteidigungs- und Sicherheitsrates sowie eines Finanz- und Wirtschaftsrates im Deutschen Bundestag und in der Französischen Nationalversammlung ist gut und wichtig - nicht nur für das deutsch-französische Verhältnis, sondern für das ganze Europa. ({0}) Es bleibt bei der westlichen Strategie, dabei, daß alle unsere Anstrengungen nur ein Ziel haben, nämlich Krieg zu verhindern, aber nicht Krieg zu führen. ({1}) Herr Kollege Mechtersheimer, den Frieden zu sichern heißt auch, den inneren Frieden zu bewahren. Zur Bewahrung des inneren Friedens gehört es auch, dem politischen Gegner und Konkurrenten nicht eine bösartige Gesinnung zu unterstellen. ({2}) Wir können streiten über die Ziele, wir können streiten über die Wege, diese Ziele zu erreichen, aber die Kraft einer demokratischen Gesellschaft, ihre Freiheitlichkeit und Toleranz lebt davon, daß man nicht der anderen Seite Ziele unterstellt, die sie nicht hat. Sie sollten sich überlegen, ob Sie wirklich bei dem bleiben können, was Sie heute den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages und unserem französischen Verbündeten unterstellt haben. ({3}) Wir setzen mit unserer Politik einen weiteren wichtigen Baustein für die Architektur der deutsch-französischen Beziehungen. Wir setzen konsequent eine Politik fort, die vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen in Europa nicht nur für Deutsche und Franzosen wichtig ist, sondern wirklich für unseren ganzen Kontinent. Die enge deutsch-französische Partnerschaft ist ganz gewiß auch nicht allein das Ergebnis der Bemühungen aller Bundesregierungen. Sie wird getragen von dem Willen der Menschen in Frankreich und bei uns, das Schicksal unserer beiden Länder gemeinsam zu gestalten und gemeinsam für Europa zu arbeiten. Daraus schöpft die deutsch-französische Zusammenarbeit ihre Kraft, ihre Dynamik und ihre Vitalität. Deutsche und Franzosen haben sich die europäische Einigung zum Ziel gesetzt, und diese Ausrichtung unserer Zusammenarbeit verleiht ihr eine in der europäischen Geschichte bisher nicht dagewesene Dimension. Unsere europäischen Nachbarn verstehen und würdigen das gemeinsame deutsch-französische Engagement, weil sie wissen, daß sich diese Zusammenarbeit gegen niemanden richtet, daß sie aber allen Europäern nützt. Denken Sie an das Zustandekommen der Europäischen Gemeinschaft - wäre das ohne die Aussöhnung mit Frankreich möglich gewesen? - , an die Westeuropäische Union, an die Zusammenarbeit im technologischen Bereich, an die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union. Das geht nur, wenn Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam handeln. Deshalb hat unsere Zusammenarbeit eine europäische Finalität. Der belgische Außenminister Tindemans hat schon recht, wenn er die deutsch-französische Zusammenarbeit als Laboratorium für europäische Kompromißfähigkeit bezeichnet. Die am 22. Januar dieses Jahres unterzeichneten Zusatzprotokolle zum Elysée-Vertrag sind ein sichtbares Zeichen dafür, was im deutsch-französischen Verhältnis erreicht wurde, und es ist mehr als ein symbolischer Akt, daß die beiden Parlamente zur gleichen Zeit darüber beraten. Mit der Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates werden Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland ihrer europäischen Friedensverantwortung gerecht. Sie gehen voran beim Aufbau und Ausbau des europäischen Einigungswerkes, das unvollständig bliebe, wenn es nicht auch Sicherheit und Verteidigung umfaßte. Die Europäische Union, der wir uns verpflichtet fühlen, muß auch die Dimension einer Sicherheitsunion haben. Wir Deutschen respektieren Frankreichs besondere Rolle im westlichen Bündnis. Frankreich ist sich bewußt, daß der eigene Sicherheitsraum nicht an seinen Landesgrenzen endet. Frankreich erkennt den bedeutsamen Beitrag an, den die Bundesrepublik Deutschland zur gemeinsamen Sicherheit aller Verbündeten leistet. Es erkennt den Friedens- und Freiheitsdienst der Soldaten der Bundeswehr an, der eine nicht ersetzbare Voraussetzung westlicher Sicherheit ist. Präsident Mitterrand hat sich in seinen großen Reden, die er bei seinem Staatsbesuch vor einem Jahr und anläßlich der Entgegennahme des Karlspreises in Aachen am 1. November dieses Jahres gehalten hat, eindrucksvoll zu den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland bekannt. Wir werden den gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat zielstrebig dazu nutzen, alle die Sicherheit Europas angehenden Fragen, die Verteidigungspolitik ebenso wie die Rüstungskontrolle und Abrüstung, mit unseren französischen Freunden abzustimmen und gemeinsame Vorstellungen weiterzuentwikkeln. Die Kernfrage der Sicherheit in Europa ist die Herstellung konventioneller Stabilität. Der letzte deutschfranzösische Gipfel hat erneut bestätigt, daß wir uns darin mit Frankreich einig sind und daß wir alles dafür tun, daß diese Verhandlungen schnell aufgenommen werden und bald zum Erfolg führen. Das Protokoll über den Verteidigungs- und Sicherheitsrat verpflichtet beide Länder, alle Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens und zu seiner konstruktiven Gestaltung zu unternehmen. Unser Ziel ist die dauerhafte Friedenssicherung. Herr Präsident, schon der Elysée-Vertrag sieht ausdrücklich die Ausdehnung der deutsch-französischen Zusammenarbeit auf neue Gebiete vor. Er fordert beide Regierungen auf, gemeinsam Mittel und Wege zu prüfen, ihre Zusammenarbeit im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses in wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik zu verstärken. Mit der Schaffung des deutsch-französischen Finanz- und Wirtschaftsrates wird dieser Auftrag des Elysée-Vertrages erfüllt. Beide Länder haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Wirtschafts- und Währungspolitik aufeinander abzustimmen. Der gemeinsame Binnenmarkt bliebe unvollständig ohne eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion und ohne eine europäische Zentralbank. Um zu der notwendigen Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitiken innerhalb der Gemeinschaften zu kommen, wird es auch in Zukunft gemeinsamer Anstrengungen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs bedürfen. Schon jetzt kann festgestellt werden, daß die enge Zusammenarbeit in diesem Bereich uns diesem Ziel nähergebracht hat. Ich denke, daß es auch ein gutes Zeichen ist, daß im Dezember zum erstenmal der deutsch-französische Kulturrat in Paris tagen wird. Damit geben wir unserer Zusammenarbeit auch die kulturelle Dimension, die unverzichtbar ist, um zur europäischen Identitätsfindung - und damit meine ich das ganze Europa - beizutragen. ({4}) Deutsch-französische Partnerschaft hat das ganze Europa im Auge, das durch seine gemeinsame Geschichte, durch seine gemeinsame Kultur und durch die Aufgabe gemeinsamer Zukunftsgestaltung verbunden ist. Deutsche und Franzosen haben ein historisches Beispiel der Versöhnung gegeben. Sie müssen kühne Konzepte für das ganze Europa, vom Atlantik bis zum Ural, entwerfen und verfolgen, für ein Europa, in dem Staaten unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ordnung im friedlichen Wettbewerb miteinander leben können. Unsere gemeinsamen Anstrengungen sind auf das Ziel ausgerichtet, eine ganz Europa umfassende Friedensordnung zu schaffen. Präsident Mitterrand hat im Zusammenhang mit seinem Besuch in der Sowjetunion in der vergangenen Woche betont, daß die Annäherung der beiden Teile Europas die große Aufgabe am Ende dieses Jahrhunderts ist. Dieser großen Herausforderung wollen wir uns gemeinsam stellen. In der Präambel zum Protokoll über die Errichtung des Verteidigungs- und Sicherheitsrats bekennen sich beide Länder zu der für das Schicksal Europas entscheidenden Zielsetzung der Schaffung einer solchen europäischen Friedensordnung. Sie haben ihre gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß alle Völker unseres Kontinents das gleiche Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit haben und daß die Stärkung beider Voraussetzung für Fortschritte auf dem Weg zu einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in ganz Europa ist. Diese europäische Verpflichtung, die schon im Harmel-Bericht enthalten ist, erkennen wir, und danach handeln wir. Dieser Vertrag, diese Protokolle zeigen es; die Denkschrift, die wir der französischen Regierung zugeleitet haben, zeigt es auch. Natürlich müssen wir uns der Frage stellen, ob eine engere Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft dem ganzen Europa dient oder nicht. Ich denke, die Entwicklung zeigt, daß eine auf Offenheit und Zusammenarbeit angelegte Europäische Gemeinschaft eine Chance für das ganze Europa ist. ({5}) Herr Kollege Mechtersheimer, Sie werfen die Frage auf, ob das nicht Europa auseinanderführt. ({6}) Darf ich, wenn Sie sich darum Sorge machen, die Gegenfrage stellen, warum dann Ihre Redner, wenn es um die deutsche Nation geht, etwas dagegen haben, daß im gemeinsamen europäischen Haus für die Deutschen die Chance offengehalten wird, in einer Wohnung zu leben. ({7}) Meine Damen und Herren, wir haben im deutschfranzösischen Verhältnis viel erreicht. Die Bilanz, die wir in diesem Jahr anläßlich des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags ziehen konnten, spricht für sich selbst. Vieles bleibt noch zu tun. Deutsche und Franzosen sind sich bewußt, daß die Zeit nationaler Alleingänge unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Die Gestaltung der Zukunft ist heute nur noch in europäischer Verantwortung möglich. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich stellen sich gemeinsam dieser Verantwortung. ({8})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Wieczorek.

Dr. Norbert Wieczorek (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002502, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In der gemeinsamen Erklärung begrüßen wir ja die Zielsetzung für den gemeinsamen deutschfranzösischen Wirtschafts- und Finanzrat. Ich halte es für wichtig, daß der klare Hinweis, daß es sich um ein Konsultativorgan handelt, die anfänglichen Bedenken der Bundesbank, aber auch der Öffentlichkeit über die Stellung der Bundesbank zerstreut. Dabei erscheint mir die Aufregung ein bißchen künstlich; allerdings ist sie durch die - ich möchte es höflich ausdrücken - etwas ungewöhnliche Informationspolitik der Bundesregierung gegenüber der Bundesbank wohl mit verursacht worden. Die Frage der Autonomie ist sicher eine sehr wichtige. Aus der deutschen Geschichte mit ihren beiden Superinflationen in diesem Jahrhundert ist die Empfindsamkeit verständlich, die darauf zielt, die Zentralbank nicht zu einer abhängigen Institution werden zu lassen, die für die inflationäre Finanzierung von Defiziten mißbraucht werden kann. Es sollte aber nicht übersehen werden, daß es diese besondere Art von geschichtlicher Erfahrung nicht in allen europäischen Ländern gibt und daß eine andere Rechtsverfassung der Notenbanken nicht per se bedeutet, daß diese Notenbanken Erfüllungsgehilfen ihrer jeweiligen Finanzministerien sind. Das wäre nicht nur eine grobe Verkennung der Tatsachen, sondern wird - im privaDr. Wieczorek ten Gespräch gelegentlich auch so geäußert - fast schon als beleidigend empfunden. Notenbankpolitik und Notenbankautonomie sind nämlich nicht nur eine rechts-, sondern vor allen Dingen eine politische und wirtschaftspolitische Aufgabe und Zielsetzung. Die reale Einbettung einer Notenbank in das gesamtpolitische Gefüge ist dabei auf Dauer entscheidend für die Wirksamkeit und Gestaltungsfähigkeit der Notenbankpolitik. Da wir im Lauf der Geschichte der Bundesrepublik seit wir die Bundesbank haben, in der öffentlichen Diskussion eine gewisse Verengung der Aufgabensetzung der Bundesbank erlebt haben, bis hin zu der Meinung, im Bundesbankgesetz stünde, die Bundesbank sei für die Geldwertstabilität verantwortlich, während in Wirklichkeit darin steht, daß sie für die Währungsstabilität verantwortlich ist, möchte ich mir erlauben, ein etwas umfangreicheres Zitat unserer Vorgänger, nämlich aus der zweiten Legislaturperiode zu § 3 des Bundesbankgesetzes vorzutragen. Ich zitiere ausführlich aus der Begründung; das ist die Bundestags-Drucksache 2/2781. Dort heißt es: Der Bundesbank ist nach § 3 des Entwurfs das Ziel gesetzt, „die Währung nach innen und außen zu sichern". Es ist erwogen worden, ihr eine konkretere Aufgabe zu stellen, beispielsweise: „Die Deutsche Bundesbank hat im Interesse eines stetigen Wachstums der Volkswirtschaft die Geld-und Kreditpolitik danach auszurichten, daß die Kaufkraft der Deutschen Mark stabil gehalten wird, daß die Geld- und Kreditpolitik zur Beschäftigung aller produktiven Kräfte beiträgt und daß der Zahlungsbilanzausgleich auf der Grundlage eines freien internationalen Leistungsaustauschs erfolgen kann". Aber alle diese Ziele ({0}) sind durch die einheitlichen Maßnahmen der Notenbank nicht immer zugleich erreichbar. Beispielsweise erfordert Vollbeschäftigung regelmäßig eine leichte, Stabilität der Inlandspreise eine schärfere Währungspolitik. Es wurde deshalb weiter erwogen, ob es angängig wäre, ein einziges Ziel herauszustellen. Aber das erschien nicht angängig. Ich möchte ausdrücklich in Erinnerung rufen, was dort gesagt wurde. Die Stabilität der Inlandskaufkraft ist - wie hier hervorgehoben werden soll - von überragender Bedeutung, aber trotzdem darf die Stabilität der Auslandskaufkraft angesichts der Abhängigkeit unseres Verarbeitungs- und Ausfuhrlandes von der Weltwirtschaft nicht vernachlässigt, - wir erinnern uns an die Wechselkurspolitik der Notenbank in den späten 70er und frühen 80er Jahren; da wäre es nützlich gewesen, in diese Drucksache hineinzuschauen die Vollbeschäftigung angesichts der politischen Verhältnisse Deutschlands nicht für unwichtig angesehen und das stetige Wachstum unserer Volkswirtschaft angesichts des steigenden Lebensstandards anderer Völker nicht außer Betracht gelassen werden. Ich finde es spannend, daß hier ausdrücklich das Thema Vollbeschäftigung genannt wird. Es wird immer so getan, als sei das gar nicht Aufgabe der Bundesbank. Das hat der Gesetzgeber, unser Vorgänger, anders gesehen. Ist also jedes dieser verschiedenen Ziele wichtig, so wird es manchmal nötig sein, unter Würdigung aller Umstände den für das „Gesamtinteresse" oder das „Wohl des Landes" optimalen Kompromiß zu finden. Kann aber die Notenbank unter gegebenen Umständen nur den optimalen Kompromiß zwischen verschiedenen Zielen anstreben und erreichen, so erscheint es bedenklich, ihr durch die Formulierung zwar idealer, aber nicht immer erreichbarer konkreter Einzelziele eine Verantwortung vor der öffentlichen Meinung aufzuerlegen, die sie gar nicht tragen kann. Es kommt hinzu, daß nicht allein die Notenbank für die Sicherung der Währung verantwortlich ist. Ihre Währungspolitik ist zwar von wesentlicher Bedeutung, aber ihr Erfolg ist letztlich nur garantiert bei einer gleichgerichteten, also die Sicherung der Währung fördernden oder doch jedenfalls nicht gefährdenden Politik der Regierung und aller sonst verantwortlichen Instanzen, insbesondere auf dem Gebiet der Lohn-, Preis-, Handels- und Sozialpolitik, der allgemeinen Wirtschaftspolitik sowie der Finanzpolitik. Deshalb ist eine gute Zusammenarbeit aller verantwortlichen Instanzen unter Einschluß der Notenbank nicht minder wichtig als deren noch besonders zu behandelnde Unabhängigkeit von anderen Instanzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, daß in dieser inhaltlichen Begründung und Interpretation der Aufgaben einer rechtlich autonomen Zentralbank, wie der Deutsche Bundestag sie 1956 getroffen hat, ein gutes Verständigungspotential für die Weiterentwicklung der europäischen Währungsverhältnisse in Richtung auf eine gemeinsame Währung und eine europäische Zentralbank liegt. Wir sollten das nicht unterschätzen. Der von uns heute zu beratende Vertrag geht ja auch zu Recht von der Notwendigkeit einer Beratung der gemeinsamen wirtschafts- und finanzpolitischen Zielsetzungen und Maßnahmen aus. Die Auseinandersetzungen Anfang der 80er Jahre haben gerade Frankreich und die Bundesrepublik gelehrt, daß eine gegenläufige Politik für beide wenig Nutzen bringt. Andererseits hat der realwirtschaftliche Integrationsprozeß aber auch die im Europäischen Währungssystem gefundene gemeinsame währungspolitische Basis zu einer durchaus mit Opfern verbundenen gemeinsamen Wirtschaftsentwicklung geführt. Die Volkswirtschaften unserer beiden Länder bewegen sich nicht mehr gegenläufig, sondern streben grundsätzlich gemeinsam ein möglichst inflationsfreies Wachstum an. Dieser Prozeß bedarf mit Sicherheit der intensiven Konsultation, dies um so mehr, wenn die große ungelöste Aufgabe, die Bewältigung der Arbeitslosigkeit, tatsächlich angegangen werden soll. Zumindest in der Bundesrepublik bleibt noch eine ganze Menge zu tun. Wir sehen wenig Aktion von seiten der Regierung. Es ist auch die Befürchtung laut geworden - das ist ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit den Verträgen -, daß durch die engere deutsch-französische Kooperation innerhalb der EG die Tendenz zu einer EG der verschiedenen Geschwindigkeiten verstärkt werden könnte. Diese Vermutung ist nicht von der Hand zu weisen, aber sie ist als Entwicklung vermutlich unumgänglich. Es ist auffällig, daß die südeuropäischen Länder diese Ansicht zum Teil offen vertreten. Problematisch ist die Situation eher für unsere unmittelbaren Nachbarn, z. B. Holland, die mit uns wirtschaftlich genauso eng verwoben sind wie Frankreich. Hier gilt es aufmerksam zu handeln, damit keine unnötigen Spannungen in den westeuropäischen Einigungsprozeß kommen. Hier haben wir, glaube ich, noch einiges zu tun, auch aus diesem Vertragswerk heraus, das wir heute beraten. Gerade das Europäische Währungssystem kann hierbei hilfreich sein, denn die gemeinsame Währungspolitik hat sicher ebenso die gemeinsame wirtschaftspolitische Entwicklung mitbedingt, wie diese Entwicklung ihrerseits zur Stabilisierung des Systems beigetragen hat. Gegenüber den europäischen Partnerländern, die noch nicht Mitglied des EWS sind, muß, auch wenn zur Zeit zwei oder mehr Geschwindigkeiten notwendig und deutlich sind - es ist übrigens gerade die Bundesbank, die darauf immer hinweist; sie redet vom harten Kern des Europäischen Währungssystems -, darauf geachtet werden, daß sie ihrem Willen entsprechend vollwertige Teilnehmer werden können. Dies bedeutet aber, will man nicht bei gegebenen Strukturunterschieden über laufende Wechselkursanpassungen diese Unterschiede ausgleichen, daß erhebliche zusätzliche Anstrengungen gemacht werden müssen, die bestehenden Strukturunterschiede zu überwinden. Das heißt, die Verstärkung der europäischen Strukturpolitik muß wesentlicher Teil einer Wirtschafts- und Währungspolitik sein, die einen tatsächlichen gemeinsamen Markt mit einer gemeinsamen Währung zum Inhalt hat. Kollegé Dregger, Sie haben vorhin gesagt, dieses würde durch die verteidigungspolitische Zusammenarbeit gefördert. Das mag so sein. Ich würde allerdings dafür plädieren, beides nicht zu eng miteinander zu verknüpfen; denn Störungen in dem einen Bereich sollten nicht Fortschritte in dem anderen Bereich behindern. Ich glaube, man muß es auch so sehen; ich könnte in diesem Zusammenhang den alten Ausdruck der Armeslänge verwenden. Ich habe die Beziehungen zu dritten Ländern innerhalb der EG angesprochen. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eine persönliche Bemerkung anfügen. Die verschiedenen Geschwindigkeiten, auf die ich eben eingegangen bin, sind nicht in allen Fällen strukturell bedingt und damit grundsätzlich bei gleicher Zielsetzung überwindbar. Mir scheint, daß Frau Thatcher zunehmend den Eindruck erweckt, den gemeinsamen Zug in das 21. Jahrhundert mit lenken und mit fahren zu wollen, aber inhaltlich eine Richtung zurück in die nationalstaatlichen und sozialen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts einschlagen will. Ich glaube - und auch deshalb ist aus meiner persönlichen Sicht dieser Vertrag zu begrüßen - , daß eine mit den anderen Partnern abgestimmte engere Zusammenarbeit zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Großbritannien dazu anregen kann, seine Haltung zum westeuropäischen Einigungsprozeß zu überdenken. Zum Abschluß noch eine allgemeine kritische Anmerkung: Der Vertrag zur wirtschafts- und finanzpolitischen Zusammenarbeit hat eine wichtige Fehlstelle. Es fehlt eine Vereinbarung zu Konsultationen zur Entwicklung der Sozialstrukturen. ({1}) Diese sind nicht nur mitentscheidend, für die wirtschaftlichen und finanzpolitischen Verhältnisse, sondern auch für die weitere Akzeptanz in unseren Bevölkerungen für den Einigungsprozeß. Es nutzt nichts, vom Sozialraum zu reden, in konkreten Vereinbarungen diesen Bereich aber außen vor zu lassen. Hier sind in Zukunft Ergänzung und Besserung notwendig. Ich danke Ihnen. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Lamers.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Die Zielbestimmung für die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit, die nunmehr in dem gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat vorgenommen werden muß, hat der Vorsitzende meiner Fraktion mit dem Bild des europäischen Pfeilers umschrieben. Er hat damit klargemacht, daß die Verwirklichung dieses Zieles gleichbedeutend wäre mit einer grundlegenden Veränderung der politischen und der militärischen Struktur innerhalb des Bündnisses. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, bedürfen die Europäer sowohl großer Kühnheit als auch ebenso großer Besonnenheit. Ich hoffe, daß die Bundesregierung beide Eigenschaften bei der Arbeit im gemeinsamen Verteidigungsrat belegen wird. Ich hoffe, daß sich alle Länder, daß sich die Bundesrepublik Deutschland und auch Frankreich bewußt sind, daß alle europäischen Länder Unabhängigkeit - genauer gesagt: ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit - nur noch gemeinsam erhalten können, wenn sie ihre Kräfte zusammentun. Zweitens. Die deutsch-französische Zusammenarbeit und der Aufbau einer gemeinsamen europäischen Sicherheitsidentität, einer gemeinsamen Sicherheitspolitik, stehen nicht nur nicht im Gegensatz zu der anderen Hauptaufgabe, die sich auf unserem Kontinent stellt, nämlich der Errichtung einer besseren, friedlicheren, stabileren Friedensordnung, sondern im Gegenteil: Sie sind die Voraussetzung für die Erreichung auch dieses Ziels. Westeuropa muß durch die Attraktivität seiner Lebensordnung ein Anreiz sein für tiefgreifende Reformen in allen sozialistischen Ländern, vor allen Dingen der Sowjetunion, darf aber nie eine Verlockung für hegemoniale Ambitionen sein. Westeuropa, das demokratische Europa, muß Partner der Sowjetunion sein; aber gerade dazu muß es auch in der Lage sein, Gegenpart der Sowjetunion zu sein. In dieser Vorstellung von der Bedeutung, wenn Sie so wollen: der Macht, auch der militärischen Macht, waren sich die Fraktionen bei der gestrigen Beratung im Auswärtigen Ausschuß auch einig. Ich glaube, daß es hervorgehoben zu werden verdient, daß FDP, CDU/CSU und Sozialdemokraten eine gemeinsame Berichterstattung für den heutigen Tag vorgelegt haben. Das ist ein Erfolg für die deutsche Politik; denn für jedes Land, das sich mit uns auf ein gemeinsames Vorhaben einläßt, ist natürlich nicht nur die Haltung der Regierung, sondern auch die der Opposition von Bedeutung. Je enger das Vorhaben, um das es geht, zusammenführen soll, um so wichtiger wird die Betrachtung der Gesamtlage des Partners. Das, worum es bei dem vorliegenden Gesetzentwurf geht, ist ja in der Tat in letzter Konsequenz nicht mehr und nicht weniger als die Aufforderung an Frankreich und die Bundesrepublik, ihr Schicksal zu teilen, besser: aus der Tatsache, daß sie kein getrenntes Schicksal mehr haben können, die politisch-institutionellen Konsequenzen zu ziehen. Daß man mit dieser Bereitschaft etwa auf Seiten der Bundesrepublik Deutschland nicht rechnen könnte, wenn die Gefahr bestünde, daß in Frankreich die Kommunisten die Regierung übernähmen, versteht sich ebenso wie umgekehrt, daß man nicht mit Frankreichs Bereitschaft hierzu rechnen dürfte, wenn zu befürchten wäre, daß hierzulande die GRÜNEN die Chance hätten, die Regierung zu stellen oder auch nur als Koalitionspartner einer anderen Fraktion die Regierungspolitik mit zu bestimmen. Damit bin ich bei Ihrer Position, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD. Ich möchte mich zunächst einmal ausdrücklich bedanken für die gute Zusammenarbeit bei der Abfassung des Berichts. ({0}) Aber es bleiben natürlich Fragen, die übrigens -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, lassen Sie sich mal einen Moment unterbrechen. Ich möchte Ihnen ein bißchen mehr Aufmerksamkeit verschaffen. Meine Damen und Herren, dies ist keine Gelegenheit zur Abhaltung von Bürobesprechungen mit Regierungsmitgliedern; ({0}) darf ich das bitte Ihnen allen hier sagen. Es spricht ein Kollege von Ihnen, und deswegen wäre ich dankbar, wenn Sie ihm zuhören würden. Wir haben noch zwei Redner, und dann kommen wir zur Abstimmung. Bitte schön, Herr Lamers, fahren Sie fort.

Karl Lamers (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001273, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das Aktenkundigmachen Ihrer Bedenken durch die Erklärung, durch die Protokollnotiz, die Schwierigkeit, die Sie hatten, sich intern zur Zustimmung durchzuringen, relativiert das ein wenig, was gestern im Ausschuß an Erfreulichem gesagt worden ist. Die Kernfrage ist grundsätzlicher Art; sie betrifft die sozialdemokratischen Vorstellungen von dem Verhältnis zwischen Verteidigung und Entspannung, zwischen militärischen Anstrengungen und politischen Anstrengungen einschließlich Abrüstungs- und Rüstungskontrollpolitik. Ist ihr Ziel der Abschaffung der nuklearen Abschreckung, eines atomwaffenfreien Europas, wie es doch jüngst in Ihrem Münsteraner Parteitagsbeschluß gefordert worden ist, wirklich vereinbar mit den Vorstellungen und der Politik Frankreichs? ({0}) Niemand wird mir widersprechen, wenn ich sage: nein. Sie bestätigen es. Nun sind das sehr grundsätzliche Positionen, und niemand wird annehmen können, daß die französischen Positionen in einer Übernahme der sozialdemokratischen Positionen enden können. Ich möchte mit Klarheit sagen, daß ich auch nicht glaube, daß wir alle französischen Positionen vorbehaltlos übernehmen sollten. Ich wünsche mir beispielsweise, daß Frankreich in der Abrüstungspolitik noch ein bißchen off ener und flexibler wäre. Aber in diesen Grundfragen, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wird und kann und sollte es keine Änderung der französischen Politik geben. Mit anderen Worten, so begrüßenswert die Gemeinsamkeit unserer Abstimmung heute ist, es bleiben entscheidende Fragen offen, ob eine gemeinsame Sicherheitspolitik zwischen Frankreich und der Sozialdemokratie möglich ist. Ich plädiere für den Versuch, daß wir es unternehmen, einen Grundkonsens in den entscheidenden sicherheitspolitischen Fragen über das Medium Europa wiederherzustellen. Denn wir haben diesen Grundkonsens nicht. Es genügt nicht, wenn wir gemeinsam für Abrüstung, für den Vorrang der konventionellen Abrüstung sind, und auch nicht, wenn wir dafür sind, die INF-Systeme einzubeziehen. Wenn wir eine gemeinsame westeuropäische Sicherheitspolitik und eine militärische Zusammenarbeit mit Frankreich wollen, müssen wir auch Klarheit haben über die Grundfragen nuklearer Abschreckung, die Fragen Abrüstung und Verteidigung, überhaupt über das Verhältnis zwischen Macht und Ideal. Ich habe bei der Einbringung die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, daß es uns gelingt, diesen Grundkonsens wiederherzustellen. Ich würde mich freuen, wenn es über das Medium der deutsch-französischen Zusammenarbeit möglich wäre. Die gemeinsame Arbeitsgruppe, die wir ja mit den französischen Kollegen einrichten wollen, sollte dazu ein Mittel sein. Ich freue mich insbesondere - Sie werden das verstehen - auf Diskussionen mit deutschen Sozialdemokraten und französischen Sozialisten. Vielen Dank. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich darf noch einmal um Aufmerksamkeit bitten. Wir haben vor der Abstimmung noch einen Redner und eine Erklärung. Da ich weiß, daß unter dem Baldachin der Tribüne leider Vizepräsident Westphal nicht zugehört wird, sage ich noch einmal mit außerordentlicher Deutlichkeit gerade den Kollegen, die sich hinten versammeln: Ich wäre dankbar, wenn Sie Ihre Plätze einnehmen und dem Redner zuhören würden. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Ebermann. Bitte schön, Herr Ebermann.

Thomas Ebermann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000427, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Danke. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist ein so massiver Schulterschluß zwischen Herrn Voigt und Herrn Dregger erfolgt, daß es mir schwerfällt, den Versuch zu unternehmen, dazwischen noch ein dünnes Blatt Papier zu schieben. Das gebe ich zu. Die Suggestion ist sehr gelungen aufgeführt, daß die Einheit so dominant ist, daß alle Befürchtungen und Beweise der GRÜNEN eigentlich nur zwei Hintergründe haben könnten: entweder dumme Unterstellung oder böswillige Unterstellung. Beides ist falsch; und Sozialdemokraten wissen das auch. Ich denke daran, daß der Sozialdemokrat Hermann Scheer in der „taz" vom 4. Oktober 1988 sagt: Wenn das Sicherheitsprotokoll so verabschiedet wird, wird die deutsche Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag ad absurdum geführt. - Dieses Haus führt mit dem, worüber hier abgestimmt werden soll, in der Tat die deutsche Unterschrift unter den Atomwaffensperrvertrag ad absurdum. Peter Paterna, mein Hamburger Kollege aus Ihrer Fraktion, sagt - das haben wir im Protokoll richtig schön festgehalten - auf dem Kongreß zur NATO-Politik in Hamburg: Man müßte gegen das Zusatzprotokoll eigentlich auf die Straße gehen. ({0}) - Nein, nein; nicht klatschen! Das wäre ein Versehen. Denn ich weiß schon: Wenn Sozialdemokraten das Wort „müßte" und das Wort „eigentlich" benutzen, und beide in einem einzigen Satz, dann heißt das: Man müßte; aber man macht das Gegenteil. Um das zu verhindern, wollen wir ja die namentliche Abstimmung ins Werk setzen, ({1}) um der richtigen Erkenntnis zum Durchbruch zu verhelfen. Denn eines muß wohl klar sein: Man kann zwei Dinge nicht gleichzeitig aufrechterhalten: Man kann nicht sagen, man wolle die Politik der Abschreckung und die Politik der nuklearen Abschreckung überwinden - , das ist die Botschaft des Münsteraner Parteitags - und zugleich einem Vertragswerk zustimmen, dessen entscheidende Passage lautet - ich zitiere wörtlich - : „Die Strategie der Abschreckung und Verteidigung muß sich weiterhin auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte stützen." Das ist unvereinbar, es sei denn, alle Begriffe haben nur noch verschleiernde Funktion. Man kann natürlich sagen: Die einen sind für die nukleare Abschreckung, und die anderen sind für das Konzept gemeinsamer Sicherheit. Aber dann muß man sagen: Das Konzept gemeinsamer Sicherheit ist nur ein neues Wort für gemeinsame nukleare Abschreckung und Sicherheit, sonst gehen die Dinge nicht zusammen. ({2}) Hermann Scheer hat in seinem viel zu wenig beachteten Papier ja sehr eindrücklich gesagt, obwohl klar sei, daß eine stringente Konsequenz aus unserer Haltung zur Nichtverbreitung alleine in der Absage an die Abschreckung liege und daß das Festhalten an einem wie auch immer gearteten Abschreckungsprinzip in den 90er Jahren die Tür zur Vermehrung der Atomwaffenstaaten immer weiter öffne, sei die Haltung in der SPD unklar. Wer also diesen Weg beschreitet, der sorgt für die Vermehrung von Atomwaffenstaaten, höhlt den Atomwaffensperrvertrag aus und sorgt damit dafür, daß der bundesrepublikanische Griff zur A-Bombe, die bundesrepublikanische Mitverfügung über die A-Bombe über die deutschfranzösische Achse ein Stück wahrscheinlicher wird. ({3}) Ich komme zum Schluß und zitiere den schrecklichsten Schulterschluß des zurückliegenden Jahres: Das Aktionskomitee für Europa hat mit den Stimmen von Herrn Bahr und Herrn Dregger die Forderung verabschiedet, daß, um eine wirksame Abschreckung aufrechtzuerhalten, Frankreich und Großbritannien für die Programmierung - bitte beachten Sie das Wort - neuer Kernwaffensysteme ihre nuklearen Potentiale koordinieren. Wenn das nicht eine Vermehrung von europäischem Atomwaffenpotential und bessere Einsatzplanung bedeutet und wenn das nicht ein ergänzendes Stück zu dem ist, was hier verabschiedet werden soll, dann können Sie ihre Haltung von vor fünf Jahren einfach auf den jetzigen Gegenstand projizieren. Vor fünf Jahren haben Sie gesagt: „Die GRÜNEN spinnen, weil sie das Waldsterben erfinden. " Heute müssen Sie sagen: „Die GRÜNEN spinnen, ({4}) weil sie erfinden, daß dies ein Schritt zur deutschfranzösischen Atomachse ist. " ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat gebeten, nach § 31 eine Erklärung abzugeben. Für ihre Fraktion spricht Herr Abgeordneter Dr. Ehmke.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor wir über das Vertragsgesetz abstimmen, möchte ich für mich und meine Fraktionskollegen erklären, aus welcher Perspektive wir dem Gesetz zustimmen. Das mag dann vielleicht auch den GRÜNEN aus ihrer Verwirrung helfen, in die sie sich nun mit ihrer Verwirrstrategie selbst gebracht haben. ({0}) Mit dem Elysée-Vertrag von 1963 ist eine beispiellose Entwicklung deutsch-französischer Aussöhnung, Freundschaft und Zusammenarbeit eingeleitet worden, die zum Kernstück des europäischen Friedensprozesses geworden ist. Ihr kommt gerade für die Dr. Ehmke ({1}) Selbstbehauptung Europas eine besondere Bedeutung zu. Das gilt auch für die Verwirklichung des einheitlichen Binnenmarktes und den Ausbau der Beziehungen zu den Staaten Osteuropas ebenso wie für die Friedens-, Sicherheits-, Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik. Die SPD hat in den Beschlüssen ihres Münsteraner Parteitages erneut hervorgehoben, daß sie die deutsch-französische Zusammenarbeit unterstützt und sie noch enger gestalten möchte. Die in den Protokollen zum Elysée-Vertrag vorgesehene Errichtung eines deutsch-französichen Finanz- und Wirtschaftsrates sowie eines Verteidigungs- und Sicherheitsrates soll einer verbesserten Zusammenarbeit dienen. Die Präambel des Protokolls über die Errichtung eines gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrates bekennt sich zu einer Politik der Kriegsverhütung und zur Schaffung einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in ganz Europa. Wir Sozialdemokraten unterstützen diese Ziele. Wir streben eine Friedensordnung für Europa an, die die Konfrontation der Militärblöcke und Gesellschaftssysteme abbaut und die Teilung Europas durch Zusammenarbeit und friedlichen Wettbewerb überwindet. Solange es diese Friedensordnung noch nicht gibt, bedarf die Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland des Rückhalts in einer auch militärisch abgestützten und in die Partnerschaft mit den westlichen Demokratien eingebundenen Sicherheitspolitik. Das haben wir im Beschluß unseres Nürnberger Parteitages zur Friedens- und Sicherheitspolitik und zur Mitgliedschaft der Bundesrepublik in der Europäischen Gemeinschaft und im Atlantischen Bündnis dargelegt. Die Kriegsverhütungsstrategien des integrierten Bündnisses und Frankreichs sind keineswegs dekkungsgleich. Beide Strategien beruhen aber auf der in der Protokoll-Präambel zum Ausdruck gebrachten Überzeugung, daß sich eine Strategie der Abschrekkung und Verteidigung auf eine geeignete Zusammensetzung nuklearer und konventioneller Streitkräfte stützen müsse. ({2}) Wir Sozialdemokraten sind uns bewußt, daß die geltende NATO-Strategie der „flexiblen Antwort" nur durch eine neue Übereinkunft im Bündnis abgelöst werden kann. Wir streben eine solche Änderung an, da die geltende Bündnisstrategie nach unserer Überzeugung nicht geeignet ist, das gemeinsame Ziel der Kriegsverhütung auf Dauer sicherzustellen. Auch das haben wir in unserem Beschluß von Nürnberg klargestellt. Für uns ist der oben wiedergegebene StrategiePassus in der Protokoll-Präambel daher nur als Beschreibung des gegenwärtig bestehenden Zustandes, nicht aber als eine Bindung für die Zukunft annehmbar. Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt daher, Herr Bundesaußenminister, die Klarstellung der Bundesregierung in ihrer Denkschrift zu dem Protokoll, daß von diesem keine vertragliche Festlegung auf eine bestimmte Strategie ausgeht. Sie begrüßt es, daß diese Rechtsauffassung der französischen Seite durch Verbalnote unter Einschluß der Denkschrift notifiziert worden ist, und sie begrüßt es, daß sich die französische Regierung bereit erklärt hat, ihrerseits im parlamentarischen Ratifizierungsverfahren klarzustellen, daß sie dieser Rechtsauffassung nicht widerspricht. Wir Sozialdemokraten werden uns auch in einer verstärkten Zusammenarbeit mit Frankreich für eine Strategie der gemeinsamen Sicherheit einsetzen. Der Versuch, Sicherheit durch Konzepte der nuklearen Abschreckung und des militärischen Gleichgewichts zu gewinnen, hat zu einem die Menschheit bedrohenden und ihre Ressourcen verschlingenden Rüstungswettlauf und dieser zu politisch wie militärisch gleichermaßen wahnwitzigen „overkill"-Kapazitäten beider Seiten geführt. Demgegenüber gilt es die Einsicht durchzusetzen, daß im nuklaren Zeitalter Sicherheit nur noch gemeinsam erreicht werden kann. Das Atlantische Bündnis und der Warschauer Pakt müssen ihre Strategien und ihre Streitkräfte in diesem Sinne ändern. ({3}) Ob das von Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow gemeinsam verkündete Ziel, die Welt wieder von Atomwaffen zu befreien, schließlich zu erreichen sein wird, kann heute niemand sagen. Aber für dieses Ziel müssen alle Anstrengungen unternommen werden, und dies muß bald geschehen, schon um das Regime der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen doch noch zu retten. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich sollten sich als Vorreiter einer solchen Politik in einer zweiten Phase der Entspannung verstehen. Anknüpfend an den Erfolg des Vertrages über die beiderseitige Abrüstung von nuklearen Mittelstrekkenraketen drängt die SPD auf folgende weitere Maßnahmen:

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter!

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ich komme dann gleich zum Ende.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie müssen zum Schluß kommen.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Die SPD fordert also: den baldigen Beginn der Verhandlungen zur konventionellen Abrüstung mit dem Ziel der Herstellung beiderseitiger Angriffsunfähigkeit in Europa, parallel laufende Verhandlungen zur Beseitigung der nuklearen Gefechtsfeldwaffen und Kurzstreckenraketen, den Abschluß eines Vertrages zur 50 %igen Verminderung strategischer Atomwaffen unter strenger Einhaltung des ABM-Vertrages, den vollständigen Stopp von Atomtests, eine Verlängerung des Vertrages über die Nichtverbreitung von Kernwaffen und den Beitritt Frankreichs zu diesem Vertrag -

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Abgeordneter, ich muß Sie unterbrechen; es tut mir leid.

Dr. Horst Ehmke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000440, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Noch zwei Sätze, Herr Präsident. ({0}) Die SPD drängt ferner auf einen Vertrag zur baldigen weltweiten Beseitigung chemischer Waffen und auf Schritte zur wirksamen Kontrolle des Verbotes biologischer Waffen. Ich danke für die Geduld des Präsidenten und selbst für Ihre Geduld. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Sie haben mir das Leben schwer gemacht, Herr Abgeordneter. Die Kollegen erwarten ja auch eine gleichmäßige Behandlung aller. Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen jetzt zu den Abstimmungen. Wir haben zuerst über eine Beschlußempfehlung des Auswärtigen Ausschusses, die gleichfalls heute behandelt werden soll, mit abzustimmen. Wie mir mitgeteilt worden ist, wird diese Beschlußempfehlung erst jetzt verteilt. Ich nehme an, Sie sind einverstanden, daß ich dazu dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses ein Wort zur Erläuterung gebe, damit unser Protokoll in Ordnung ist. Bitte schön, Herr Abgeordneter.

Dr. Hans Stercken (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002246, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als der Auswärtige Ausschuß gestern zu einer Berichterstattung der Fraktionen von CDU/CSU, SPD und FDP Stellung nahm und sich mit der Mehrheit dieser Fraktionen im Ausschuß für die Annahme dieser Berichterstattung festlegte, lag uns das Votum des Finanzausschusses noch nicht vor. Die FDP hat schon in der Sitzung des Auswärtigen Ausschusses angeregt, man möge doch Gesichtspunkte, die aus dem Finanzausschuß kämen, in der Berichterstattung des Auswärtigen Ausschusses tunlichst noch berücksichtigen. Wir haben gerade zwischen den Fraktionen, die sich zu dieser gemeinsamen Berichterstattung hier bekennen, ein Einvernehmen darüber erreicht, daß der Punkt 2, in dem sich also der Auswärtige Ausschuß mit dem Finanz- und Wirtschaftsrat beschäftigt, durch die Berichterstattung des Finanzausschusses ersetzt wird. ({0}) Wenn Sie also jetzt votieren, dann bitte über den Bericht des Auswärtigen Ausschusses mit der Modifkation, daß der Punkt 2 so aufgeführt wird, wie er dem Protokoll des Finanzausschusses zu entnehmen ist. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Danke schön, Herr Dr. Stercken. Dies war also die Berichterstattung zu dem Bericht über das Gesetz. Wir haben jetzt über die Beschlußempfehlungen des Auswärtigen Ausschusses abzustimmen, die dann angefügt sind. Wir kommen zur Abstimmung, wenn Sie damit einverstanden sind. - Ich sehe keinen Widerspruch. Der Ausschuß empfiehlt auf Drucksache 11/3625, den Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/1685 in geänderter Form anzunehmen. Wer für diese Beschlußempfehlung stimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit den Stimmen der SPD-Fraktion gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN bei Enthaltung der Fraktionen der Koalition angenommen. Der Ausschuß empfiehlt weiter auf Drucksache 11/3625, den Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 11/1759 in der vorgelegten Form anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlußempfehlung? - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der SPD-Fraktion und gegen die Stimmen der Fraktion DIE GRÜNEN angenommen worden, und es gab auch eine Gegenstimme aus der SPD-Fraktion. Wir kommen zur Schlußabstimmung. Ich rufe das Gesetz mit seinen Art. 1 bis 3, Einleitung und Überschrift auf. Die Fraktion DIE GRÜNEN hat namentliche Abstimmung verlangt. Ich eröffne die namentliche Abstimmung. Meine Damen und Herren, ist noch ein Abgeordneter im Saal, der an der Abstimmung teilzunehmen wünscht und es bis jetzt noch nicht getan hat? - Das ist nicht der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung und bitte, mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung gebe ich später bekannt. Ich habe noch eine Feststellung zu treffen, damit unser Protokoll korrekt ist. Ich bitte um Aufmerksamkeit. Ich stelle hiermit unter Bezug auf das, was der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses hier vorgetragen hat, fest, daß mit dieser Beschlußfassung der Abschnitt „Zum Finanz- und Wirtschaftsrat" in der Berichterstattung des Auswärtigen Ausschusses durch die Berichterstattung des Finanzausschusses ersetzt wird. Es ist so im Protokoll. Sie sind sicher damit einverstanden, daß wir in den Beratungen fortfahren. Ich rufe Punkt 12 der Tagesordnung auf: 12. a) Zweite und dritte Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung - Drucksache 11/14 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({0}) - Drucksache 11/3608 - *) Ergebnis Seite 8158 D

Not found (Mitglied des Präsidiums)

Abgeordnete Scharrenbroich Urbaniak ({0}) b) Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung - Drucksache 11/2503 Beschlußempfehlung und Bericht des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung ({1}) - Drucksachen 11/3604, 11/3618, 11/3624 Berichterstatter: Abgeordnete Scharrenbroich Andres Hoss ({2}) Ferner rufe ich einen weiteren Zusatztagesordnungspunkt auf: Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Sicherung und Ausbau der Montan-Mitbestimmung - Drucksache 11/3624-Zum Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP liegt ein Änderungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/3605 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat sind für die gemeinsame Beratung der Tagesordnungspunkte zwei Stunden vorgesehen. - Ich sehe keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Scharrenbroich.

Heribert Scharrenbroich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001945, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Mit dem heute zu verabschiedenden Gesetzentwurf hat die Koalition wieder einmal ihre Zuverlässigkeit bewiesen. ({0}) Was in der Koalitionsvereinbarung versprochen wird, wird gehalten, und zwar zum versprochenen Zeitpunkt. ({1}) Ich danke den Kolleginnen und Kollegen der Unionsfraktion, aber auch den Vertretern der Opposition - ich sage dies sehr deutlich, weil Sie ja in vielen Punkten anderer Auffassung gewesen sind -, daß sie geholfen haben, diesen Gesetzentwurf, der ja die Montan-Mitbestimmung auf Dauer sichert, zügig zu beraten und rechtzeitig zu verabschieden. Ich danke ganz besonders dem Ausschußvorsitzenden und auch seinem Stellvertreter, den Kollegen Egert und Müller ({2}), und insbesondere den Mitarbeitern des Ausschußsekretariats für ihren Einsatz. Ich bedanke mich auch bei Ihnen, Herr Maier, und Ihren Kolleginnen und Kollegen. ({3}) Ohne große Anstrengungen hätte nämlich die Beschluß- und Berichtsvorlage für den heutigen Tag nicht zusammengestellt werden können. Meine Damen und Herren, für die CDU/CSU-Fraktion gehört Mitbestimmung zu den Grundelementen der sozialen Marktwirtschaft. Deswegen sichern wir erstens mit diesem Gesetz die Montan-Mitbestimmung auf Dauer. Zweitens verbessern wir die Informationsrechte der Arbeitnehmer bei Einführung neuer Techniken. Drittens sichern wir repräsentativen Meinungsminderheiten in den Betrieben das Recht, daß auch Arbeitnehmer ihres Vertrauens in den Betriebsausschüssen mitarbeiten können. ({4}) Viertens. Wir haben deswegen schon vor der Sommerpause durch ein anderes Gesetz dafür gesorgt, daß die Jugendvertretung nicht ausblutet. Bei den jetzt zu Ende gegangenen Wahlen zu den Jugend- und Auszubildendenvertretungen konnten viele 18-bis 25jährige wiederum aktiv an der Wahl zur Jugend- und Auszubildendenvertretung teilnehmen. Lassen Sie mich direkt ein heißes Eisen anpacken, nämlich das Thema „Leitende Angestellte/Sprecherausschüsse". Mit diesem Gesetz wird auch den leitenden Angestellten, die ja vom Betriebsrat nicht vertreten werden, eine eigene Vertretung gegeben, ({5}) wenn die Mehrheit der leitenden Angestellten des Betriebes das will. Es ist wichtig, dies zu unterstreichen. Wir respektieren den Mehrheitswillen auch der leitenden Angestellten in einem Betrieb. Das ist gute demokratische Tradition. ({6}) Wir sorgen dafür, daß der Arbeitgeber diesen Willen ebenso akzeptieren muß. Die leitenden Angestellten können jetzt einen Sprecherausschuß gründen, auch wenn es dem Arbeitgeber nicht paßt. Den Sorgen der Arbeitnehmerschaft wurde in allen wichtigen Punkten bei diesem Gesetz Rechnung getragen. ({7}) - Herr Dreßler, es gibt weder eine Spaltung noch eine Zerschlagung der Arbeitnehmer- und Beschäftigtenvertretung. ({8}) Ich will dies belegen: Der Begriff der leitenden Angestellten wird präzisiert und nicht erweitert; letztere Sorge bestand ja. Wir sorgen dafür, daß der Rechtszustand festgeschrieben wird. Lediglich in einem Fall korrigieren wir etwas. Denn wir gehen wieder vor den Rechtszustand, der durch das Prokuristen-Urteil praxisfern geschaffen worden ist. Ich darf aus dem Ausschußbericht dazu folgendes zitieren: Die Mitglieder der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP „vertraten die Ansicht, daß es gelungen sei, den Begriff des leitenden Angestellten genauer zu fassen, ohne den Personenkreis der leitenden Angestellten zu erweitern oder einzuengen." Das ist präzise das, was die Absicht der Koalition war. ({9}) Wichtig ist natürlich die Frage: Kann der Sprecherausschuß die Betriebsratsarbeit behindern? Ich habe in früheren Beratungen öfters betont, daß niemand in der Koalition, kein Koalitionspartner, will, daß die Betriebsratsarbeit durch Sprecherausschüsse behindert wird. Deswegen haben wir auch der Kritik aus dem Hearing Rechnung getragen. Deswegen haben wir den § 33 des Sprecherausschußgesetzes gestrichen. Jetzt kann keiner mehr behaupten, es gebe ein Vetorecht des Sprecherausschusses gegen Betriebsvereinbarungen zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber. Das war uns äußerst wichtig. ({10}) Auch wenn ich nicht zum Fanclub der „Union der Leitenden Angestellten" gehöre - das weiß jeder -, kann ich feststellen: So, wie die Sprecherausschüsse jetzt eingerichtet sind, sind sie akzeptabel, vor allem weil die Arbeit des Betriebsrates nicht behindert wird. ({11}) Um ganz sicher zu sein, haben wir auch das im Entwurf vorgesehene Gebot, die Verpflichtung zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Betriebsrat und Sprecherausschuß gestrichen. Das hätte zu Mißverständnissen geführt. Aber selbstverständlich kann jedes Gremium einen Vertreter des anderen zu einem Gespräch einladen. Außerhalb des Betriebsverfassungsgesetzes und in einem eigenen Sprecherausschußgesetz haben wir das, was ich jetzt aus dem Ausschußbericht zitiere, geregelt: die konsequente Fortführung der institutionellen Absicherung einer Vertretung der leitenden Angestellten im Aufsichtsrat durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 . . . Das haben wir also weitergeführt. ({12}) Das sollten die Herren von der Sozialdemokratie nie vergessen. Ich füge hinzu: Das haben wir weitergeführt, und zwar diesmal nicht zu Lasten der Arbeitnehmer. Das ist der Unterschied zu Ihrer damaligen Regelung. ({13}) Lassen Sie mich zu dem Thema neue Techniken kommen: Auch die Rechte der wichtigsten Vertretung der Beschäftigten, also des Betriebsrates, haben wir verbessert. Ich nenne nur den Zeitpunkt der Information - hier haben wir präzisiert und verbessert -, die Gegenstände der Beratung und die Pflicht des Arbeitgebers zur Erörterung mit den einzelnen betroffenen Arbeitnehmern. Da behauptet die SPD, wir hätten nur die geltende Rechtsprechung in das Betriebsverfassungsgesetz übernommen. Erstens ist das falsch, und zweitens sage ich: Selbst das Herüberholen von Rechtsprechung in das Betriebsverfassungsgesetz ist für die praktische Arbeit des Betriebsrates sehr wichtig. ({14}) Ich bin froh, daß die Koalition auch an die Arbeitnehmer in den Großbetrieben denkt - wir sichern deswegen die Montan-Mitbestimmung -, aber wir denken auch an die noch viel größere Zahl von Arbeitnehmern in kleinen und mittleren Unternehmen. Gerade dort ist der Betriebsrat, der nicht so groß ist - bekanntlich kann nach dem Gesetz erst ab 300 Beschäftigten einer freigestellt werden - , froh, wenn er im Betriebsverfassungsgesetz klipp und klar lesen kann, welche Rechte er und die Arbeitnehmer haben. ({15}) Nebenbei gesagt: Es schadet auch nichts, daß sich die Arbeitgeber leichter im Gesetzestext informieren können, welche Pflichten sie gegenüber dem Betriebsrat haben. Rechtsklarheit vermeidet unnötigen und unproduktiven Streit im Unternehmen. ({16}) Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Es ist für beide Seiten hilfreich, daß jetzt im § 90 ganz eindeutig nachzulesen ist, daß der Arbeitgeber den Betriebsrat nicht nur rechtzeitig, sondern - ich zitiere - „unter Vorlage der erforderlichen Unterlagen zu unterrichten hat" . ({17}) - Wenn es hinterher einen Streit gibt - Kollege Andres, das wissen Sie ganz genau - , dann steht fest, daß er seinen Pflichten nicht nachgekommen ist, wenn er nicht alles vorgelegt hat, was notwendig ist. Der Arbeitgeber muß also von sich aus alles vorlegen. Das ist ewas anderes, als wenn der Betriebsrat um die schriftlichen Unterlagen betteln muß. ({18}) Das ist uns sehr wichtig gewesen. ({19}) In demselben § 90 haben wir jetzt geklärt, wann der Betriebsrat spätestens über neue Planungen zu informieren ist. Das war eine schwierige Frage: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Der Arbeitgeber muß jetzt mit dem Betriebsrat die vorgesehenen Maßnahmen so rechtzeitig beraten im alten Gesetz hieß es „unterrichten" ; Beratung ist etwas anderes, daß - ich zitiere aus dem Gesetz - „Vorschläge und Bedenken des Betriebsrates ... berücksichtigt werden können". Meine Damen und Herren, das schafft eine andere Lage. Wenn der Betriebsrat sagt: Aber dieses oder jenes müssen wir noch machen, kann der Arbeitgeber nicht mehr sagen: Es tut mit leid, wir sind in der Planung bereits so weit fortgeschritten, daß das jetzt nicht mehr geht. - Dann hat er gegen diesen Paragraphen verstoßen. Diese Ausrede kann künftig nicht mehr gelten. Da wir nicht nur in Sonntagsreden für eine Erhöhung der Akzeptanz bei der Einführung neuer Techniken werben, helfen wir den von neuen Techniken betroffenen Arbeitnehmern, damit sie mehr Vertrauen haben. Wir verpflichten den Arbeitgeber jetzt bei der Einführung neuer Techniken in § 81 zu einer Erörterung mit dem Arbeitnehmer. Ich zitiere: Der Arbeitgeber hat - es ist also eine Verpflichtung mit dem Arbeitnehmer - der von neuen Techniken betroffen ist zu erörtern, wie dessen berufliche Kenntnisse und Fähigkeiten den künftigen Anforderungen angepaßt werden können. Das, glaube ich, nimmt vielen die Angst. Das ist ein klarer Satz. So klar könnte und konnte ihn bisher kein Gericht formulieren. Während der Beratungen haben wir übrigens diese Vorschrift verbessert, indem wir noch einen Satz hinzugefügt haben: Der Arbeitnehmer kann - er hat jetzt das Recht bei der Erörterung ein Mitglied des Betriebsrates hinzuziehen. ({20}) - Herr Kollege Hasenfratz, Sie sollten einmal lesen, was wir verabschiedet haben. Dann würden Sie die Texte wiederfinden. ({21}) Mit diesem ebenso klaren Satz helfen wir dem einzelnen Betroffenen in einer schwierigen Situation. Er hat einen Berater bei sich, der solchen Problemen meistens nicht zum erstenmal gegenübersteht, einen Berater - das ist in der konkreten Situation, in der man als Arbeitnehmer Ängste hat, sehr wichtig - , der weiß, was bereits auf der Leitungsebene zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zur Abfederung solcher Probleme beraten wurde. Das Thema neue Techniken, ihre Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, auf die Betriebe und auf die Arbeitsweise des Betriebsrates hat uns veranlaßt, den Wunsch vieler Betriebsräte und auch der Gewerkschaften aufzugreifen. Wir verlängern die Wahlzeit der Betriebsräte von drei auf vier Jahre. Das schafft Kontinuität, Verläßlichkeit, und es verbessert die Arbeitssituation der Betriebsräte. Selbst die SPD hat erkannt, daß dies eine Verbesserung ist und hat uns in diesem Punkt zugestimmt. ({22}) Insofern ist klar, daß dieser Beschluß unbestrittenermaßen gut ist. Kurzfristig ist daraufhin im Ausschuß jedoch beantragt worden - ich erinnere zur Klarstellung daran -, die Schulungszeiten für die Betriebsräte zu verlängern. Das ist eine durchaus wichtige Frage. Die Vertreter der Koalition haben sich bereit erklärt, dies zu prüfen. ({23}) - Nein, wir haben zugesagt, das zu prüfen. Aber wir sind nicht der Auffasung, daß die Entscheidung darüber übers Knie gebrochen werden muß, denn die nächsten Betriebsratswahlen finden erst im Jahr 1990 statt, und bis zum Jahre 1993 kann jeder Betriebsrat wie bisher eine Woche pro Jahr in Schulung gehen. Meine Damen und Herren, bis zum Jahre 1994 werden wir das Problem geregelt haben. Wie Sie wissen, haben wir wichtigere Sachen schon viel schneller geregelt, nicht wahr, Herr Kollege Dreßler? ({24}) Nun zum Thema Minderheiten. Ich glaube, das Thema Minderheiten ist ein trauriges Kapitel deutscher Arbeitnehmergeschichte. ({25}) Es ist traurig, wie DGB-Gewerkschaften auf die Verbesserung des Minderheitenschutzes dreinschlagen. Sie verwechseln die Interessen ihrer Organisation mit den Interessen der Arbeitnehmer. ({26}) Ich kann nur ganz klar sagen: Es ist undemokratisch, auf kaltem, administrativem Weg beachtliche gewerkschaftliche Minderheiten daran zu hindern, im Betriebsrat effektiv mitzuarbeiten, und das ist die Praxis. ({27}) Wir haben die gewerkschaftlichen Vertrauensleute jahrelang gebeten, das zu korrigieren. Sie haben dies nicht getan. Jetzt war der Gesetzgeber aufgerufen, dies von sich aus zu korrigieren und die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß diese Minderheitenrechte nicht nur ermöglicht, sondern auch gesichert werden. Vollends absurd ist der Einwand der SPD, die Einbringung von Wahlvorschlägen durch im Betrieb vertretene Gewerkschaften sei verfassungsrechtlich bedenklich. Wir verweisen darauf, daß die meisten Landespersonalvertretungsgesetze der Länder ähnliche Regelungen enthalten. ({28}) - Wenn Sie das für verfassungsrechtlich bedenklich halten, dann kümmern Sie sich doch einmal um das Landespersonalvertretungsgesetz in Nordrhein-Westfalen. ({29}) Dort hätten Sie leicht die Möglichkeit, das zu ändern. ({30}) Wir haben im Bericht noch einmal festgestellt, was wir unter Gewerkschaften verstehen. Hier gilt die Definition des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesarbeitsgerichts. Eine solche Arbeitnehmerorganisation muß frei gebildet sein; sie muß gegnerfrei sein; sie muß unabhängig sein; sie muß insbesondere auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und zum Abschluß von Tarifverträgen willens sein. Außerdem muß diese Arbeitnehmerorganisation Durchsetzungskraft gegenüber dem Arbeitgeber haben. Das haben wir noch einmal ausdrücklich so im Bericht festgehalten. Ich habe zwar vielfach gehört, wir würden heute das Betriebsverfassungsgesetz beraten. In Wirklichkeit beraten wir eine wichtige Komposition von mehreren Mitbestimmungsgesetzen. Da ist das Montan-Mitbestimmungsgesetz, da ist das Sprecherausschußgesetz, und zwei Teile befassen sich mit dem Betriebsverfassungsgesetz. Ganz besonders stolz bin ich darauf - das verhehle ich nicht -, daß mit diesem Gesetz die Montan-Mitbestimmung auf Dauer gesichert ist. Dazu war die sozialliberale Koalition mit ihrem Auslaufgesetz - das muß man immer wieder betonen - 1981 nicht in der Lage. Aber das damalige Gesetz hat wenigstens die Grundlage für eine Rettungsaktion geschaffen. Die dauerhafte Sicherung der Montan-Mitbestimmung - ich gebe es zu - war nicht leicht. Aber sie ist uns überzeugend gelungen. Den Kumpels an Rhein und Ruhr, aber auch in Salzgitter können wir den Absender für diese gute Nachricht von heute nennen - bei der IG Metall ist es ein Betriebsgeheimnis - : Ohne Norbert Blüm wäre die Montan-Mitbestimmung in mehreren Konzernen jetzt schon nicht mehr da; ({31}) denn ohne Norbert Blüm wäre die dauerhafte Sicherung der Montan-Mitbestimmung nicht Bestandteil der Koalitionsvereinbarung geworden. ({32}) Das weiß jeder, der damals an den Koalitionsverhandlungen teilgenommen hat. Völlig untauglich ist der heute ebenfalls zur Abstimmung anstehende Gesetzentwurf der SPD-Fraktion zur Montan-Mitbestimmung. Auch die Gewerkschaften wissen, daß ein solches Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht keine Chance hätte. ({33}) Deswegen täten wir uns alle einen Tort an, wenn wir auf dieses Pferd setzten und hinterher vor dem Scherbenhaufen stünden. Meine Damen und Herren, wem die Interessen der Arbeitnehmer und auch einer vitalen Gewerkschaftsbewegung am Herzen liegen, der sollte mit meiner Fraktion den SPD-Entwurf ablehnen und den Mehrheitsbeschluß des Bundestagsausschusses für Arbeit und Sozialordnung billigen. Wir können, meine Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, beruhigt in die namentlichen Abstimmungen gehen, da wir einem Gesetz zustimmen, das den Arbeitnehmern hilft. Danke schön. ({34})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bevor ich die nächste Worterteilung vornehme, gebe ich das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung bei der Schlußabstimmung über den Gesetzentwurf der Bundesregierung zu den Protokollen zum Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutschfranzösische Zusammenarbeit - Drucksachen 11/3258, 11/3265, 11/3410 - bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 391 ihre Stimme abgegeben. Davon ungültige Stimmen keine. Mit Ja haben 358, mit Nein haben 31 gestimmt. Enthaltungen 2. Von den Berliner Abgeordneten haben 18 ihre Stimme abgegeben. Ungültig keine. Mit Ja haben 16, mit Nein haben 2 gestimmt. Enthaltungen keine. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 390 und 18 Berliner Abgeordnete; davon ja: 357 und 16 Berliner Abgeordnete nein: 31 und 2 Berliner Abgeordnete enthalten: 2 Ja CDU/CSU Dr. Abelein Austermann Bauer Bayha Dr. Becker ({0}) Biehle Dr. Blank Dr. Blens Dr. Blüm Böhm ({1}) Börnsen ({2}) Dr. Bötsch Bohl Bohlsen Breuer Bühler ({3}) Carstensen ({4}) Clemens Dr. Daniels ({5}) Frau Dempwolf Dörflinger Dr. Dollinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehrbar Eigen Engelsberger Dr. Faltlhauser Dr. Fell Frau Fischer Fischer ({6}) Francke ({7}) Fuchtel Funk ({8}) Ganz ({9}) Frau Geiger Geis Dr. von Geldern Gerstein Gerster ({10}) Glos Dr. Göhner Dr. Götz Gröbl Dr. Grünewald Günther Dr. Häfele Harries Frau Hasselfeldt Haungs Hauser ({11}) Hedrich Freiherr Heereman von Zuydtwyck Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Vizepräsident Stücklen Dr. Hoffacker Frau Hoffmann ({12}) Dr. Hornhues Dr. Hüsch Graf Huyn Jäger Dr. Jahn ({13}) Dr. Jobst Jung ({14}) Jung ({15}) Kalb Dr.-Ing. Kansy Dr. Kappes Frau Karwatzki Kiechle Klein ({16}) Dr. Köhler ({17}) Kolb Kossendey Kraus Krey Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({18}) Lamers Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Lenzer Frau Limbach Link ({19}) Link ({20}) Linsmeier Dr. Lippold ({21}) Louven Lowack Frau Männle Magin Marschewski Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Müller ({22}) Nelle Neumann ({23}) Dr. Olderog Oswald Pesch Pfeffermann Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Regenspurger Repnik Dr. Riesenhuber Frau Rönsch ({24}) Frau Roitzsch ({25}) Rühe Dr. Rüttgers Sauer ({26}) Sauer ({27}) Sauter ({28}) Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz ({29}) Schemken Schmidbauer Schmitz ({30}) Dr. Schneider ({31}) Schreiber Dr. Schulte ({32}) Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer Seehofer Seesing Seiters Spilker Spranger Dr. Sprung Dr. Stark ({33}) Dr. Stavenhagen Dr. Stercken Dr. Stoltenberg Frau Dr. Süssmuth Susset Tillmann Dr. Todenhöfer Dr. Uelhoff Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({34}) Vogt ({35}) Dr. Voigt ({36}) Dr. Vondran Dr. Voss Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke Dr. Warrikoff Weirich Weiß ({37}) Werner ({38}) Frau Will-Feld Wilz Wimmer ({39}) Frau Dr. Wisniewski Wissmann Dr. Wittmann Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer Zink Berliner Abgeordnete Frau Berger ({40}) Feilcke Kalisch Kittelmann Lummer Dr. Mahlo Dr. Neuling Schulze ({41}) Straßmeir SPD Frau Adler Amling Andres Bachmaier Bamberg Becker ({42}) Frau Becker-Inglau Bernrath Bindig Frau Blunck Dr. Böhme ({43}) Börnsen ({44}) Brandt Büchler ({45}) Dr. von Billow Frau Bulmahn Buschfort Catenhusen Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Dreßler Duve Dr. Ehmke ({46}) Dr. Emmerlich Esters Ewen Frau Faße Fischer ({47}) Frau Fuchs ({48}) Frau Ganseforth Gansel Dr. Gautier Gerster ({49}) Frau Dr. Götte Großmann Grunenberg Dr. Haack Haack ({50}) Haar Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Heistermann Heyenn Hiller ({51}) Dr. Holtz Horn Huonker Jahn ({52}) Jaunich Dr. Jens Jung ({53}) Jungmann Kastning Kiehm Kirschner Kißlinger Klose Kolbow Koltzsch Koschnick Kuhlwein Lambinus Leidinger Lennartz Leonhart Lutz Menzel Dr. Mertens ({54}) Müller ({55}) Müller ({56}) Müntefering Nagel Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Dr. Nöbel Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel Dr. Osswald Paterna Pauli Dr. Penner Peter ({57}) Pfuhl Porzner Poß Reimann Frau Renger Reuter Rixe Roth Schäfer ({58}) Schanz Schluckebier Frau Schmidt ({59}) Schmidt ({60}) Schreiner Schröer ({61}) Seidenthal Frau Seuster Sielaff Sieler ({62}) Singer Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell Frau Dr. Sonntag-Wolgast Stahl ({63}) Steiner Frau Steinhauer Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Frau Traupe Urbaniak Vahlberg Voigt ({64}) Weiermann Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal Frau Weyel Dr. Wieczorek Wiefelspütz von der Wiesche Wimmer ({65}) Wischnewski Dr. de With Wittich Zumkley Berliner Abgeordnete Dr. Mitzscherling Stobbe Wartenberg ({66}) FDP Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum Beckmann Bredehorn Eimer ({67}) Engelhard Frau Folz-Steinacker Gallus Gattermann Genscher Gries Grünbeck Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann Dr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer Kleinert ({68}) Kohn Dr.-Ing. Laermann Mischnick Neuhausen Nolting Richter Rind Ronneburger Schäfer ({69}) Dr. Solms Dr. Thomae Timm Wolfgramm ({70}) Frau Würfel Berliner Abgeordnete Hoppe Lüder Vizepräsident Stücklen Nein SPD Dr. Apel DIE GRÜNEN Brauer Dr. Briefs Dr. Daniels ({71}) Ebermann Frau Eid Frau Flinner Häfner Frau Hillerich Hoss Hüser Frau Kelly Kleinert ({72}) Dr. Lippelt ({73}) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels Frau Oesterle-Schwerin Frau Rust Frau Saibold Frau Schilling Frau Schoppe Frau Unruh Frau Dr. Vollmer Volmer Weiss ({74}) Wetzel Frau Wilms-Kegel Frau Wollny Berliner Abgeordnete Frau Olms Sellin Fraktionslos Wüppesahl Enthalten SPD Gilges DIE GRÜNEN Schily Das Gesetz ist damit mit großer Mehrheit angenommen. ({75}) Ich erteile das Wort dem Herrn Abgeordneten Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das, was wir gerade an Beschönigungen in der Rede des Abgeordneten Scharrenbroich gehört haben, ist im gegenwärtig geltenden Betriebsverfassungsgesetz mit der Formulierung geregelt: Der Betriebsrat ist rechtzeitig und umfassend zu informieren. Zu „umfassend" gehört nach der Rechtsprechung, daß ihm alle Planungs- und Beratungsunterlagen vorzulegen sind. So will ich nur festhalten: Das, was hier gefeiert wird, ist nichts anderes als weiße Salbe, ist gegenwärtiger Rechtszustand. ({0}) Der Deutsche Bundestag entscheidet über ein Gesetz der Koalitionsfraktionen, das weitreichende Konsequenzen für die Regelung der sozialen Beziehungen in den Betrieben haben wird und mit dem unserer Auffassung nach die über Jahrzehnte hinweg gewachsenen, bewährten Interessenvertretungsstrukturen demontiert bzw. zerschlagen werden. Dabei ist die Regierungskoalition den Weg gegangen, dem Deutschen Bundestag ein Artikelgesetz vorzulegen, und das mit gutem Grund. Bei Einzelberatung der Artikel dieses Gesamtpaketes würde deutlich, daß wichtige Teile des Gesetzentwurfes nur von parlamentarischen Minderheiten in diesem Hause wirklich gewollt und getragen werden. Politische Junktims und nicht die von einer Mehrheit bejahte sachliche Erforderlichkeit sind die eigentlichen Grundlagen dieses Entwurfs. Schon die Koalitionsvereinbarung aus dem Frühjahr des vergangenen Jahres und die darauf folgenden öffentlichen Debatten haben deutlich gemacht, daß dieser Gesetzentwurf Ausdruck des gegenseitigen Mißtrauens der Koalitionäre ist und nur mit der Drohung des Alles oder Nichts massive Sachdifferenzen überwunden werden konnten. ({1}) Die CDU/CSU und bei ihr besonders die Arbeitnehmerschaft schluckt die gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen für leitende Angestellte, die außer von der Union der leitenden Angestellten und der FDP von niemandem gewollt oder gar für notwendig gehalten wird. ({2}) Der Bundesarbeitsminister und die Repräsentanten der CDA in diesem Haus können sich zu diesem Teil des Gesetzentwurfes nur herzlich gratulieren. Die Sicherung der Montanmitbestimmung wird von großen Teilen des Parlamentes als notwendig erachtet. Die Zustimmung der FDP als wesentlichen Teil dieser Regierungskoalition konnte die Union jedoch nur erreichen, weil sie bereit war, die eine oder andere Kröte zu schlucken. ({3}) Die Veränderung des Betriebsverfassungsgesetzes mit der völlig unangemessenen Überbetonung von Splittergruppeninteressen, die bei bisherigen Wahlen durch die Entscheidungen vieler Tausender von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern eine entsprechende Quittung erhielten, ist eine wohl wegen dessen Bedeutungslosigkeit gewollte Stützungsmaßnahme für den Christlichen Gewerkschaftsbund. Die vom Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung zu diesem Gesetzentwurf durchgeführte Anhörung am 28. September 1988 ergab eine seltene Einmütigkeit von Arbeitgebern, Gewerkschaftlern und Wissenschaftlern, die zwar jeweils punktuell Teile dieses Entwurfs für richtig hielten, aber deutlich machten, daß der Gesamtentwurf überflüssig und mißlungen sei. ({4}) Dennoch werden Vertreter der Koalition nicht müde - wir haben das durch Herrn Scharrenbroich hier wieder erlebt -, fast schon beschwörend zu schildern, daß gerade dieser Gesetzentwurf ein Beweis für die Zuverlässigkeit und Handlungsfähigkeit der Koalition bzw. der Regierung sei. Das klingt doch verdächtig nach dem Pfeifen im dunklen Wald. Hier muß festgehalten werden: Dieser Gesetzentwurf ist kein Beweis für Zuverlässigkeit und Handlungsfähigkeit. Mit ihm wird keines der wirklichen Probleme, die besonders in der Betriebsverfassung angepackt werden müßten, gelöst. ({5}) Ganz im Gegenteil: Dieses Gesetz wird dazu führen, daß gut funktionierende und bewährte Regelungen der Betriebsverfassung zerschlagen werden, bewährte Vertretungsstrukturen im Betrieb demontiert werden, Minigruppierungen und Richtungsgewerkschaften bevorteilt und damit zu bedeutsamen Größen im Betrieb werden können, die wirkungsvolle Interessenvertretung der Arbeitnehmer beeinträchtigt und damit der soziale Konsens gefährdet wird. Der von Ihnen formulierte Anspruch, mit diesem Gesetz mehr Demokratie im Betrieb zu realisieren, stimmt nicht. Nicht mehr Demokratie wird das Ergebnis dieses Gesetzes sein, sondern Streit, Auseinandersetzung und Chaos und damit eine weitere Schwächung der Position der Arbeitnehmer. Und genau dieses wollen Sie. ({6}) Herr Scharrenbroich und Herr Blüm, nach der Verabschiedung dieser Gesetzesvorlage hier heute abend können Sie bei Herrn Stoiber Vollzugsmeldung machen. Ein Teil der Gewerkschaftsfrage ist gelöst, und ich gratuliere ganz besonders Ihnen beiden dazu, daß Sie ihm das melden können. ({7}) Wir unterstützen in dem Artikelgesetz die dringend notwendige Sicherung der Montan-Mitbestimmung. Um diesen Tatbestand zu regeln, wäre unserer Auffassung nach der Rest dieses famosen Gesetzes allerdings nicht notwendig gewesen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat mit der Drucksache 11/14 sehr früh in dieser Legislaturperiode einen eigenen Gesetzentwurf zur Sicherung der MontanMitbestimmung eingebracht. In den Ausschußberatungen wurde durch uns der Antrag formuliert, das Artikelgesetz aufzulösen und sich vordringlich der Sicherung der Montan-Mitbestimmung zu widmen. Sie haben dies abgelehnt; Sie wissen wahrscheinlich auch warum, nämlich weil das mit diesem Koalitionspartner nicht zu machen gewesen wäre. Wir werden der Sicherung der Montan-Mitbestimmung zustimmen. Aber wir haben an den vorgesehenen Regelungen des hier vorliegenden Gesetzentwurfs in wichtigen Punkten deutliche Kritik anzumelden: Mit der Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes wollen Sie die Rechte von Minderheiten bei der Betriebsratswahl und in der Betriebsratsarbeit ausweiten. Gestützt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes senken Sie das notwendige Unterschriftenquorum zur Einreichung von Wahlvorschlägen von bisher einem Zehntel der wahlberechtigten Arbeitnehmer auf ein Zwanzigstel und von bisher mindestens 100 Unterschriften auf 50. Gleichzeitig legen Sie fest, daß Gewerkschaften künftig ohne die notwendigen Stützunterschriften, lediglich durch Unterzeichnung von zwei Beauftragten Wahlvorschläge zur Betriebsratswahl einreichen können. Ich will in diesem Zusammenhang folgendes festhalten: Eine solche Regelung ist unnötig, schafft ungleiche Rechte und ist aus unserer Sicht verfassungsrechtlich bedenklich. ({8}) Weder in der Ausschußberatung, meine Damen und Herren, noch in der Anhörung konnte die in Ihrer Koalition immer wieder vorgetragene Begründung, Minderheiten würden an der Wahrnehmung demokratischer Rechte im Zusammenhang mit der Betriebsratswahl und der Betriebsratsarbeit behindert, belegt werden. ({9}) Im Gegenteil: Belegt wurde, daß häufig Wahlvorschläge deshalb nicht zustande kommen, weil sie nicht die notwendige Zahl der Stützunterschriften bei wahlberechtigten Belegschaftsangehörigen erhielten. Dazu gilt für uns folgendes: Wer noch nicht einmal erreichen kann, daß er durch Belegschaftsangehörige bei seinem Begehren, an Wahlen teilzunehmen, gestützt wird, der sollte an solchen Wahlen auch nicht teilnehmen können. ({10})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Andres, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Stratmann?

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Nein.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Mit diesen Regelungen werden Sie eine weitere Negativentwicklung erreichen. Weit über 80 % aller Betriebsratswahlen finden nach dem Prinzip der Mehrheitswahl und damit als Persönlichkeitswahl statt. Dies wird von den Belegschaften so gewollt. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wollen unmittelbar durch Stimmabgabe darauf Einfluß nehmen, wer ihre Interessen im Betriebsrat vertritt. Sie sorgen mit den jetzigen Regelungen dafür, daß künftig in viel mehr Betrieben keine Persönlichkeitswahl mehr stattfinden wird. Sie ermöglichen, daß künftig Gruppierungen von außen, die nur den Wahlvorschlag formulieren müssen, einen Wahlvorschlag einreichen. Dazu benötigen sie einen betriebsinternen Kandidaten und zwei Unterschriften. Ich will, meine sehr verehrten Damen und Herren, auf einen Vorgang hinweisen, den ich in diesem Zusammenhang für bedeutungsvoll halte. Mein Kollege Heinz Westphal hat mir ein Flugblatt gegeben und mich gebeten, in diesem Zusammenhang darauf einzugehen, das folgendes beinhaltet: Die neofaschistische freiheitlich-deutsche Arbeiterpartei ruft in einem Flugblatt zur Gründung einer „nationalen Gewerkschaftsbewegung" am 1. Mai, dem Tag der „nationalen Arbeit" auf. Nun frage ich Sie: Was passiert bei aller Rechtsprechung, wenn ein solcher Verein jemanden im Betrieb hat, zwei Bevollmächtigte unterschreiben und der Vorschlag wird eingereicht? Was macht der Wahlvorstand? ({0}) Welche rechtlichen Auseinandersetzungen wird es da geben? Ich sage Ihnen in diesem Zusammenhang folgendes: Mit Ihren Regelungen werden Sie dafür sor8162 gen, daß sowohl linken als auch rechten Splittergruppen in den Betrieben Tür und Tor geöffnet wird. ({1}) Dazu gehört Ihre Regelung, den Wahlvorstand zu ergänzen. Da sagen Sie: Auch diejenigen, die nicht dem Wahlvorstand angehören, aber im Betrieb vertreten sind, erhalten künftig einen Vertreter. Dazu sage ich folgendes: Auch hier gilt, daß das Anhörungsverfahren dazu keinerlei Begründungen gebracht hat. ({2}) Es ist dargelegt worden, daß beispielsweise bei über 10 000 untersuchten Betriebsratswahlen im Bereich der Metallindustrie nur 18 Wahlanfechtungen stattgefunden haben, und die häufig aus anderen Gründen als die, die unmittelbar mit dem Wahlverfahren zusammenhängen. Auch mit einer solchen Regelung der Entsendung des Beobachters fördern Sie in diesem Bereich zusätzliche Unsicherheit und mögliches Konfliktpotential. Auch dies wollen Sie. Diese Entwicklung wird durch das Hervorheben des Gruppenprinzips bei der Besetzung von Ausschüssen und bei der Freistellung von Betriebsratsmitgliedern sowie durch die Festlegung des Verhältniswahlrechtes durch diese Bereiche noch verstärkt. ({3}) Entgegen der Entwicklung in unserer Gesellschaft sollen neue Schranken zwischen Arbeitern und Angestellten errichtet werden. Zusätzlich wird die Gruppe der leitenden Angestellten ausgeweitet und institutionalisiert. Diese Ziele des Gesetzentwurfs werden nicht nur von den Gewerkschaften abgelehnt, sondern auch von den Arbeitgebern. Auch die Arbeitgeber wollen keine Vertreter von Splittergrüppchen, die die Belegschaften nicht repräsentieren, vielleicht nicht einmal deren Interesse als Betriebsräte vertreten. ({4}) Auch den Arbeitgebern geht es darum, mit Betriebsräten verhandeln zu können, die für die überwiegende Mehrheit einer Belegschaft sprechen können und diese auch vertreten. Die von Ihnen gewollte Zerschlagung gewachsener Strukturen der Interessenvertretung der Arbeitnehmerschaft in den Betrieben wollen weder Gewerkschaft noch Arbeitgeber. ({5}) Im Gegensatz zu Ihnen wollen sie keine vielfältig zersplitterten Richtungsgewerkschaften. Besonders die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaftsorganisationen sind schon wegen der starken zentralen, nicht aufgesplitterten Arbeitgeberposition darauf angewiesen, daß der Betriebsrat ein Mindestmaß an Geschlossenheit und Durchsetzungskraft hat. Mir scheint, Ihnen sind solche Betriebsräte am liebsten, die sich weitgehend mit sich selbst beschäftigen. ({6}) Da Sie um die negative Wirkung dieser gesetzlichen Regelung wissen, haben Sie in der gestrigen Ausschußberatung dieses Teils des Gesetzes ein Trostpflaster vorgesehen. - Nun hören Sie gut zu, Herr Scharrenbroich! - Künftig wird - dies unterstützen wir ausdrücklich - die Wahlperiode der Betriebsräte von drei auf vier Jahre verlängert. Daß es sich dabei aber lediglich um ein Trostpflaster handelt, mit dem all die negativen und strategisch verhängnisvollen Verschlechterungen dieses Gesetzes versüßt werden sollen, wurde dadurch deutlich, daß Sie neben der Verlängerung der Wahlperiode keine weiteren notwendigen gesetzlichen Veränderungen vornehmen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat erklärt, daß es nicht reicht, lediglich die Amtszeit zu verlängern, sondern daß dazu beispielsweise auch eine entsprechende Regelung der Freistellungsansprüche für Schulung und Bildung gehören müssen. Unserem Antrag, den Bildungsanspruch der Betriebsräte analog zur Amtszeitverlängerung von drei auf vier und bei erstmalig gewählten Betriebsräten von vier auf fünf Wochen zu erhöhen, haben sie durch Ihren Sprecher Heribert Scharrenbroich mit dem billigen Argument abgelehnt, zur Beratung dieses Anliegens sei die Zeit nun nicht ausreichend. ({7}) Nicht nur verbesserte Informations-, Beratungs- und Mitbestimmungsregeln der Betriebsräte sind notwendig, sondern auch verbesserte Arbeits-, Bildungs- und Handlungsmöglichkeiten für das Organ Betriebsrat selbst sind dringend gefordert. Wir werden unseren Antrag in der zweiten Lesung auch im Plenum zur Abstimmung stellen. Leichtfertig und unter Mißachtung simpelster parlamentarischer Regeln verändern sie die Vergütungsregelung für die Einigungsstelle. Wir gestehen sehr wohl zu, daß es dafür in bestimmten Bereichen Handlungsbedarf gibt. Aber ohne dieses Thema in der Anhörung zu behandeln, ohne die Verbände dazu zu hören, haben Sie durch Einführung des § 78 a die Einigungsstelle zum Billigverfahren gemacht. Genau das wollen Sie auch. ({8}) Im Zusammenhang mit der Schaffung von gesetzlichen Sprecherausschüssen für leitende Angestellte müssen Ihre Veränderungen des § 5 Abs. 3 und 4 gesehen werden. All Ihre Beteuerungen in diesem Zusammenhang, Sie präzisierten den Begriff der leitenden Angestellten, fruchten nicht. Sie haben vor, mit Ihrer Neufassung dieses Paragraphen die Zahl der leitenden Angestellten kräftig auszuweiten. ({9}) Nur dann macht die gesetzliche Verankerung von Sprecherausschüssen leitender Angestellter überhaupt einen Sinn. ({10}) Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt nachdrücklich, daß die bisherige Definition der leitenden Angestellten und die in diesem Zusammenhang erfolgte Klarstellung durch die Rechtsprechung keiner Deutscher Bundestag - l 1. Wahlperiode Andres Veränderung bedarf. Sowohl der Gesetzgeber als auch die Rechtsprechung haben an Hand nachvollziehbarer Bewertungskriterien die Gruppe der leitenden Angestellten in ihrem Inhalt und in ihrer Größenordnung so definiert, wie sie der betrieblichen Realität auch entspricht. Mit ihren veränderten Formulierungen in § 5 Abs. 3 und vor allen Dingen mit der Aufnahme des § 5 Abs. 4, in dem Sie Hilfskriterien formulieren, die mit Einkommensgrenzen und ähnlichem operieren, werden Sie mit dafür sorgen, daß Rechtsunsicherheit einkehrt, daß die Zahl der Rechtsauseinandersetzungen um die Definition leitender Angestellter zunehmen wird ({11}) und daß der gegenwärtige Zustand, daß an dieser Front in den Betrieben und in der Rechtsprechung Ruhe ist, damit aufgehoben wird. ({12}) Wer allerdings Ihre Neudefinition im Zusammenhang mit den Sprecherausschüssen für leitende Angestellte sieht, der weiß, daß sie dann Sinn machen. Indem sich die FDP mit ihrem von Anfang an verfolgten Ziel eines völlig von der betrieblichen Funktion losgelösten Begriffs der leitenden Angestellten und der Verankerung der gesetzlichen Sprecherausschüsse durchgesetzt hat, wird in der Betriebsverfassung eine völlig neue Gruppe geschaffen. ({13}) - Im Betrieb wird eine eigene Gruppe geschaffen. - Zwar haben Sie in der gestrigen Ausschußsitzung mit der Streichung des § 33 und mit der Streichung des Gebots der vertrauensvollen Zusammenarbeit versucht, Ihren mangelhaften Entwurf zu reparieren. Aber ich will Ihnen sagen: Die strategische Folge all dessen, was Sie in diesem Bereich machen, wird sein, daß neue betriebliche Gruppierungen entstehen. In der Anhörung ist gesagt worden: Wenn die leitenden Angestellten so definiert werden, wie es jetzt vorgesehen ist, dann wird sich eine neue Gruppe der sogenannten leitenden leitenden Angestellten herausbilden, denn es ergibt sich die Frage: Wer informiert denn, wer verhandelt, wer bespricht denn all die Angelegenheiten, die Sie in diesem Gesetz für die leitenden Angestellten vorsehen, mit diesen? Doch wahrscheinlich die tatsächlich leitenden Angestellten. ({14}) Denn mit den Begriffen und mit dem Vorgehen werten Sie die Gruppe der leitenden Angestellten in einem bestimmten Sinne ab. Ich sage Ihnen: Strategisch wird das große Problem sein - da will die FDP auch hin - : Sie installieren jetzt die Sprecherausschüsse. Es wird eine Zeitlang dauern, dann werden wir durch Rechtsauseinandersetzungen eine Ausweitung und Ausdehnung dieser Gruppe bekommen. Dann wird darüber diskutiert werden, daß diese Gruppe stärkere und mehr Rechte erhalten muß. Dann wird es strategisch um die Frage gehen, daß der Sprecherausschuß weite Teile der Angestelltenproblematik behandeln sollte. ({15}) Es wird die zusätzliche Gruppe der leitenden leitenden Angestellten entstehen. Strategisch kommt eine völlig neue Interessenvertretungsstruktur in den Betrieben heraus. Andere Arbeitnehmergruppen werden von Ihnen sicher auch noch entdeckt und mit gesonderten gesetzlichen Regelungen versehen. ({16}) Auch hier stimmt das strategische Ziel: Die Gewerkschaftsfrage muß gelöst werden. Durch Auflösung der einheitlichen Interessenvertretung der Arbeitnehmer in Partikularinteressen, durch Verankerung vielfältiger Gruppen und Sonderregelungen, durch Stärkung derjenigen, die bei dem bisherigen demokratischen Verfahren auch nicht den Hauch einer Legitimation durch die Wahlentscheidung von Arbeitnehmern erhielten, tragen Sie dazu bei, daß die Integration von Arbeitnehmern in notwendige gesellschaftliche, technologische und politische Veränderungsprozesse nicht vorangetrieben, sondern abgeschwächt wird. Das richtet sich gegen den sozialen Konsens, der in den Betrieben und damit in einem wichtigen gesellschaftlichen Bereich zum sozialen Frieden beigetragen hat. ({17}) Während Ihr Gesetzentwurf durchgehend eine Verschlechterung der bestehenden Form der Interessenvertretung der Beschäftigten verfolgt, haben wir das Ziel der Weiterentwicklung der Betriebsverfassung. Wir haben dazu den Entwurf einer Gesamtnovelle in den Bundestag eingebracht. Mit ihm soll geregelt werden: daß die Betriebsräte ein Mitbestimmungsrecht bei der Einführung, Anwendung, Änderung und Erweiterung neuer technischer Einrichtungen und Verfahren erhalten, die Mitbestimmungs/Kontrollrechte bei der Personaldatenverarbeitung einschließlich der Erhebung, der Änderung, Übermittlung von Personaldaten ausgebaut werden, daß die Mitbestimmungsrechte bei der Personalplanung präzisiert werden, die sozialen und personellen Mitbestimmungsmöglichkeiten der Betriebsräte den technologischen und gesellschaftlichen Veränderungen entsprechend neu beschrieben werden, daß der Betriebsrat erweiterte Mitbestimmung in wichtigen Feldern des Datenschutzes, des Arbeitsschutzes, der Arbeitssicherheit, der Ausbildung, des Umweltschutzes und der Gleichstellung von Frau und Mann erhält. All diese Positionen sind genau das Gegenteil dessen, was Sie hier heute mit Mehrheit als Gesetz verabschieden werden. Aber zählen Sie nicht darauf, daß die Hunderttausende von Betriebsrätinnen und Be8164 triebsräten nicht wüßten, wie hier mit ihren Interessen und Rechten umgegangen wird. Rechnen Sie nicht damit, daß Ihre Politik der Demontage sozialer Rechte von den Arbeitnehmern vergessen wird. ({18}) Auch diese gesetzliche Entscheidung, die Sie heute treffen, meine Damen und Herren, wird sich rächen und wird Sie noch einmal einholen. ({19}) Ich füge hinzu: Wir lehnen Ihren Entwurf ganz ausdrücklich und entschieden ab. ({20})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Heinrich. ({0})

Ulrich Heinrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000851, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Verehrter Herr Kollege Andres, Sie haben ein schwarzes Bild gemalt: Die Republik geht morgen unter, wenn wir heute dieses Gesetz verabschieden. - Es ist geradezu lächerlich, was Sie hier geboten haben. ({0}) Das Betriebsverfassungsgesetz ist das Grundgesetz der innerbetrieblichen Demokratie. - Jetzt hören Sie einmal zu. - Es hat sich in vielen Punkten bewährt. Aber es hat sich auch gezeigt, daß es in einigen Punkten unterentwickelt ist und ergänzt werden muß. ({1}) Solche Änderungen stoßen bei den Etablierten, bei den Nutznießern des Status quo selbstverständlich auf Kritik. Die großen Schlachtschiffe der Tarifpartner sind aus den unterschiedlichsten Gründen daran interessiert, ihre Bahnen ungestört ziehen zu können. Deshalb ist es verständlich, menschlich nachzuempfinden, daß die Verstärkung der Minderheitenrechte bei der Betriebsratsarbeit und den Betriebsratswahlen bei einigen auf wenig Gegenliebe stößt. ({2}) Die FDP hat sich schon seit langem für eine Stärkung des Minderheitenschutzes eingesetzt. Wir halten es für richtig, daß nur möglichst wenig Beschränkungen bei den Wahlen zum Betriebsrat bestehen und daß diejenigen, die nachhaltige Unterstützung in der Belegschaft gefunden haben, in den Betriebsratsausschüssen und bei Freistellungen auch angemessen berücksichtigt werden. ({3}) Wir wollen, daß mehr Demokratie im betrieblichen Alltag einkehrt. ({4}) - Jetzt kommen kritische Punkte; ich verstehe ja Ihre Nervosität. Dieses Ziel wird aber nicht erreicht, solange es das geltende Recht z. B. zuläßt, daß die Mehrheit die Minderheit völlig übergehen kann, selbst dann, wenn die Minderheit - theoretisch gesprochen - über 49 T. der Sitze im Betriebsrat verfügt. So sieht die Realität aus. ({5}) Bei der Kritik von seiten der Opposition gegen die Einführung eines eigenen Wahlvorschlagsrechts der im Betrieb vertretenen Gewerkschaften ohne Stützungsunterschriften möchte ich auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und des Bundesverfassungsgerichts hinweisen. Herr Kollege Scharrenbroich hat dies bereits getan; ich wiederhole es, weil es offensichtlich notwendig ist. ({6}) Diese Rechtsprechung stellt ganz bestimmte Anforderungen an den Gewerkschaftsbegriff: frei gebildet, unabhängig, insbesondere auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und zum Abschluß von Tarifverträgen fähig. Die Mehrzahl der Länder-Personalvertretungsgesetze kennen ähnliche Regelungen. Dies hat sich dort bewährt. ({7}) Warum soll das nicht auch für die Betriebe gelten? Darüber hinaus hat der DGB dies früher selbst gefordert, nämlich schon in seinen Vorschlägen zum Betriebsverfassungsgesetz 1952. Wie unterschiedlich die Auffassungen in der betrieblichen Praxis sind, zeigen die bei uns eingehenden Schreiben. Während uns ein Betriebsrat beschwört, möglichst rasch den Entwurf Gesetz werden zu lassen, um Benachteiligungen zu vermeiden, warnt uns ein anderer Betriebsrat desselben Betriebes vor Zersplitterung und Chaotisierung der Betriebsräte. Ich habe keine Zweifel, daß ebenso wie in der Vergangenheit auch künftig die Betriebsräte in deutschen Landen gut zusammengesetzt sein werden und Krawallmacher keine Chance haben werden. Das, was Sie geboten haben, war nur Schwarzmalerei. ({8}) Wenn auch noch argumentiert wird, Splittergruppen hätten ohnedies keine Chancen bei der Belegschaft, dann verstehe ich die ganze Aufregung nicht mehr. Aber die Chance, sich zur Wahl, sich dem Urteil der Belegschaft zu stellen, sollte man möglichst vielen erhalten. Wer sich für mehr Demokratie im Betrieb einsetzt, der sollte doch eigentlich unseren Verbesserungen des Minderheitenschutzes zustimmen können. ({9}) Manche, wie z. B. die SPD, GRÜNE und der DGB, haben darüber hinaus zusätzliche Mitbestimmungsrechte in mehr oder weniger großem Umfang gefordert. Schon heute haben wir mehr Mitbestimmungs und Mitwirkungsrechte als die meisten anderen Länder in Europa. ({10}) Wir haben in diesem Gesetz die Informations- und Beratungsrechte bei der Einführung neuer Techniken verbessert. ({11}) - Ich bin einen Schritt weiter, Herr Kollege. Sie müssen aufpassen. ({12}) Eine weitere extensive Ausdehnung der Mitbestimmung würde letztlich den Betriebsrat zum Ko-Geschäftsführer und die Einigungsstelle zum Super-Geschäftsführerorgan machen und damit die bewährten Strukturen des Betriebsverfassungsgesetzes in Frage stellen - von den damit verbundenen verfassungsrechtlichen Problemen einmal ganz abgesehen. Herr Kollege Andres, in Ihrer Sprache würden Sie hier von einer Aushebelung reden. Auch im Hinblick auf das Zusammenwachsen Europas müssen wir zusätzliche Wettbewerbsverzerrungen, zusätzliche Hemmnisse vermeiden; dem widersprechen jedoch die Forderungen der SPD. Meine sehr verehrten Damen und Herren, für die Liberalen ist heute ein kleiner Feiertag. Zu den „Uralt-Anliegen" liberaler Gesellschaftspolitik zählen die Rolle und die Funktion der leitenden Angestellten in der Betriebsverfassung. ({13}) Schon in unseren Freiburger Thesen 1971 haben wir uns dafür ausgesprochen, neben den Faktoren Arbeit und Kapital dem Faktor Disposition - also den leitenden Angestellten in Betrieben und Unternehmen - besonders Rechnung zu tragen. ({14}) - Das sind Erfordernisse an eine moderne Industriegesellschaft. Dort heißt es u. a.: „Die leitenden Angestellten erhalten zur Vertretung ihrer besonderen Belange eine eigene Interessenvertretung. " Der Gesetzgeber - das war in der sozial-liberalen Koalition; so lange ist das ja noch gar nicht her - hat in dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 die besondere Rolle der leitenden Angestellten auf Unternehmensebene angemessen berücksichtigt. Es ist daher sachgerecht und konsequent, das auch auf betrieblicher Ebene zu verwirklichen. Die leitenden Angestellten bilden eine besondere Gruppe im Betrieb oder Unternehmen. Ich möchte das noch einmal deutlich darstellen. Von der Aufgabenstellung her sind sie der Unternehmensleitung zugeordnet; von der sozialen Stellung her sind sie Arbeitnehmer. Frau Kollegin Weyel, jetzt haben Sie die Antwort auf Ihren Zwischenruf. Warum soll ihnen als einziger Gruppe von Arbeitnehmern das Recht abgesprochen werden, ihre Interessen gemeinschaftlich zu vertreten? ({15}) Wenn wir den leitenden Angestellten diese Möglichkeiten zu gemeinsamem Handeln einräumen wollen, realisieren wir jetzt die gesetzliche Absicherung der Sprecherausschüsse. ({16}) Wenn immer betont wird, die freiwillig gebildeten Sprecherausschüsse funktionierten doch hervorragend, so daß kein gesetzgeberischer Handlungsbedarf bestehe, dann kann ich darauf nur sagen, es ist etwas ganz anderes, ob ein Sprecherausschuß nur von der Gnade des Unternehmers, möglicherweise auch des Betriebsrates, abhängt oder aus eigenem Recht tätig werden kann. Das ist keine Spaltung der Arbeitnehmerschaft, wie fälschlicherweise oft behauptet wird; denn die leitenden Angestellten könnten nach eigenem Recht nicht von den Betriebsräten vertreten werden; sie wollen es in ihrer Mehrheit auch gar nicht. Wir schaffen damit auch keinen „Edelbetriebsrat" ; denn Sprecherausschüsse haben in erster Linie nur Anhörungs-, Beratungs- und Unterrichtungsrechte. Mitbestimmungsrechte sind nicht vorgesehen. Wir zwingen den leitenden Angestellten auch keinen Sprecherausschuß auf; denn vor der erstmaligen Einrichtung eines Sprecherausschusses muß sich die Mehrheit der leitenden Angestellten dafür aussprechen. Erst dann kann zur Wahl geschritten werden. Bei dieser Wahl und bei der Grundsatzentscheidung - Sprecherausschuß ja oder nein - haben wir die Möglichkeit einer schriftlichen Stimmabgabe durchgesetzt. Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Gesetzesvorhabens ist eine bessere, präzisere Definition des leitenden Angestellten. Die Schwierigkeiten bei der Auslegung dieses unbestimmten Rechtsbegriffes sind bekannt. Die Auslegung durch die Gerichte ist zunehmend restriktiver und, so meine ich, formalistischer und damit wirklichkeitsfremder geworden, wie das die letzten Prokuristen-Urteile auch zeigen. Dies haben wir jetzt korrigiert. Die Vorschrift soll wie bisher - vor der Entscheidung des BAG - ausgelegt werden und bildet so ein sinnvolles, typisches und einfaches Abgrenzungskriterium. Mit der Neuformulierung in § 5 Abs. 3 und dem neuen Abs. 4 wirken wir der verengenden Rechtsprechung entgegen und geben zugleich den Wahlvorständen sowie den Gerichten wichtige Anhaltspunkte für eine sachgerechte Auslegung. Es geht auch nicht darum, den Kreis der leitenden Angestellten exorbitant auszuweiten, Herr Kollege Andres, wie von Ihnen heute wieder behauptet wurde. Das liegt im übrigen auch nicht im Interesse der leitenden Angestellten selber. Das vorgesehene Schlichtungsverfahren bei unterschiedlichen Auffassungen über die Zuordnung eines Angestellten wird nach der Anlaufphase eine heilsame Wirkung zur Kooperation im Betrieb entfalten. Daß wir eine andere, einfachere Regelung, nämlich die Selbsteinschätzung der Betroffenen, vorgezogen hätten, ist ja wohl bekannt. Nur noch ein paar Worte zur Montan-Mitbestimmung. Die Montan-Mitbestimmung gehört sicherlich nicht zu den Lieblingskindern der Liberalen. ({17}) Jeder weiß das. Die dauerhafte Absicherung der Montan-Mitbestimmung war für uns, ja, man kann sagen, in gewissem Sinne auch ein Preis für den Fortschritt an anderer Stelle. ({18}) - Ach, kommen Sie! Das ist unter Ihrem Niveau, Herr Kollege. - Die Montan-Mitbestimmung ist in unseren Augen kein sozialpolitisches Urgestein, sondern eher so ein im Weg liegender Felsbrocken, der Strukturwandel erschwert und heute mehr Probleme schafft als löst. Diesen typischen deutschen Sonderweg will die SPD in ihrem Gesetzentwurf verewigen, auch wenn praktisch kein Montanbezug mehr besteht. Einmal montanmitbestimmt - immer montanmitbestimmt! Das ist Ihre Devise. ({19}) Daß sie dieses Bleigewicht auch anderen Unternehmern anhängen will, ist kein Beitrag zur Wettbewerbsfähigkeit im EG-Binnenmarkt und zur Sicherung des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland. ({20}) Bei der Besetzung der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat haben wir nicht nur die Rechte der Belegschaft, sondern auch die Möglichkeiten kleinerer Gewerkschaften bei der Wahl der externen Arbeitnehmervertreter zum Aufsichtsrat verbessert. Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, daß trotz unterschiedlicher Interessenlagen zwischen den Koalitionsfraktionen bei vernünftiger, sachbezogener Auseinandersetzung ein alles in allem befriedigender Kompromiß gefunden worden ist. ({21}) Der Gesetzgeber hat, meine ich, seine Hausaufgaben zufriedenstellend erledigt. Jetzt kommt es darauf an, daß die betriebliche Praxis die neuen Vorschriften mit Leben erfüllt und daß nicht engstirnige Gruppeninteressen dominieren. Zusammenfassend unterstreiche ich: Mit dem Gesetzentwurf werden Fehlentwicklungen korrigiert, ({22}) werden Rechte für Minderheiten gestärkt und wird die vertrauensvolle Zusammenarbeit aller im Betrieb zum Nutzen aller verbessert. Herzlichen Dank. ({23})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Hoss.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Das zur Abstimmung stehende Gesetz wird von der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt. ({0}) Statt die Fragen, die sich in den letzten zehn Jahren entwickelt haben, im betrieblichen und im gesellschaftlichen Bereich aufzunehmen und weiterzuentwickeln, hat die Regierungskoalition ein Gesetz vorgelegt, das im Kern eigentlich aus zwei Punkten besteht: daß sich die beiden Koalitionsfraktionen CDU/ CSU und FDP gegenseitig ihre Klientel bestätigt und Punkte herausgegriffen haben, die nicht zu dem Wesentlichen dessen gehören, was verändert werden muß. Zum einen geht es um die Frage, daß eine sogenannte Lex CDA geschaffen werden soll, ({1}) die dem Christlichen Gewerkschaftsbund dient und über das Aufgreifen der Minderheitsfrage zur Perversion insoweit entwickelt wird, als bei Betriebsratswahlen eine Gewerkschaft, sprich: CDA, mit zwei Stimmen von außen, also zwei Funktionären der CDA, die nicht Mitglied des Betriebs sind, eine Liste zur Betriebsratswahl einreichen kann, ({2}) wenn nur ein einzelner als Kandidat darauf steht. ({3}) - Lesen Sie doch Ihr Gesetz! Das ist die Situation. Dabei wird hier in der Minderheitenfrage eine Sonderrolle für Gewerkschaften geschaffen. Das will der DGB nicht, und das wollen die Einzelgewerkschaften nicht. Das ist auch nicht richtig. Vielmehr sollen auch Gewerkschaftsvorschläge, wie es im Gesetz vorgesehen ist, 50 Unterschriften bzw. 5 % der Wahlberechtigten beibringen. ({4})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Hoss, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Scharrenbroich?

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nein, danke. Ich habe nur neun Minuten. ({0}) - Nun gut, wenn das die Frage ist, was ich mit CDA meine: ({1}) Ich meine die Christlichen Gewerkschaften, den Metallarbeitergewerkschaftsbund. Das ist damit gemeint. Damit bedienen die Sozialausschüsse in diesem Gesetz ihre Klientel, nämlich in den Betrieben die Christlichen Gewerkschaften, um sie stärker hineinzubringen, auf eine Weise, die ungerecht ist, weil sie die normale Rolle aufhebt, die für andere Betriebsmitglieder gültig ist. ({2}) Die zweite wichtige Frage ist: Man hat einen Punkt aufgegriffen, nämlich den der Sprecherausschüsse, der für die Klientel der FDP gedacht ist. Dabei wird eine Ausweitung der leitenden Angestellten vorgenommen, indem die Kriterien, die zur Herausarbeitung eines leitenden Angestellten dienen, erweitert werden für einen Kreis in der betrieblichen Wirklichkeit, der ohnehin privilegiert ist und keine Schwierigkeiten hat, seine Interessen im Betrieb durchzusetzen. Nämlich die Direktoren, die leitenden Abteilungsdirektoren und andere sollen jetzt noch einmal gesetzlich abgesichert werden. Das dient eindeutig - das hat Herr Heinrich von der FDP hier auch gesagt - dazu, Ihrer Klientel entgegenzukommen. Die eigentlich wichtigen Fragen werden nicht aufgegriffen. Das, was Sie daneben noch an Alibiprojekten in das Gesetz eingebracht haben, erweist sich als Luftblasen. Aber es gibt keine Antwort auf das, was nötig ist, z. B. in der Frage der neuen Technologien. Das haben Sie zwar in den §§ 81 und 90 aufgenommen, und Sie behandeln das, aber es bringt nichts Neues, denn alles, was darin steht, ist im betrieblichen Recht und in der betrieblichen Praxis schon längst vorhanden. ({3}) Sie begrenzen die ganze Sache - und so heißt ja auch die Überschrift - auf die Unterrichtung der Belegschaft und die Erörterung mit der Belegschaft, aber von Mitbestimmung ist in diesen Paragraphen nicht die Rede, und das wollen Sie ja auch nicht. Sie wollen z. B. nicht die Vertiefung und Erweiterung von Mitbestimmungsrechten bei Produktionsabläufen, bei technischen Einrichtungen, Prozessen und Produkten, wo allein die Kapitalseite, das Direktionsrecht maßgebend ist. Das sehen wir heute schon in einigen Bereichen, beispielsweise in der chemischen Industrie, in denen sich Betriebsräte heute mit Fragen der Produktion und der Schädigung der Umwelt auseinandersetzen wollen, in denen sie aber keinerlei Mitbestimmungsrechte über Einleitungen in die Flüsse haben. In Stuttgart gibt es zur Zeit heftige Diskussionen über die Zunahme der Luft- und Verkehrsbelastungen. Das Regierungspräsidium, die Landesregierung und Bürgerinitiativen - die Bürger beschäftigen sich damit - wollen den Autoverkehr zurückdrängen, weil dieser überhand nimmt. Aber die Firma DaimlerBenz fährt heute noch mit Schwerlastwagen die gesamte Produktion von Untertürkheim quer durch die Stadt nach Sindelfingen an das andere Ende, und der Betriebsrat hat keinerlei Mitbestimmungsrecht, darüber zu befinden, dies als Anträge einzubringen und die Firmenleitung zu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen, diesen Lastentransport, der täglich vorgenommen wird, auf die Schiene zu verlagern. In diesen Fragen oder auch in solchen, in denen es um Projekte des Baus von neuen Parkhäusern in Untertürkheim bei Daimler-Benz und bei Porsche geht, für die 40 Millionen DM veranschlagt worden sind, ist es bedauerlich, daß der Betriebsrat nicht die Möglichkeit hat, über diese Investitionen mitzubestimmen und z. B. zu verlangen, daß die 40 Millionen DM sozusagen als Prämie für diejenigen eingebracht werden, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit kommen und dafür Zuschüsse erhalten. Das ist nicht möglich, und Sie haben auch ausdrücklich erklärt, daß Sie das nicht wollen, weil Sie - Herr Scharrenbroich, Sie haben ja dafür gesorgt, daß dies auf Seite 31 des Berichts steht -, die CDU und die FDP, es ablehnen, das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Investitionsentscheidungen zu haben. ({4}) Das lehnen Sie ausdrücklich ab. Bei diesen Investitionsentscheidungen, die wir anstreben, muß der Betriebsrat ein Mitbestimmungsrecht haben. ({5}) Zu § 87 haben wir einen Antrag, in dem es heißt: Der Betriebsrat hat mitzubestimmen in Fragen der Umweltverträglichkeit von Produkten und Produktionstechnologien und der im Betrieb verwendeten Werkstoffe und Arbeitsmittel. Das Mitbestimmungsrecht umfaßt insbesondere Maßnahmen, die über gesetzlich und behördlich bestimmte Mindeststandards hinausgehen. - An diese Fragen wollen Sie nicht herangehen. Es ist das Traurige an ihrem Entwurf, daß Sie sich da Dinge vornehmen, die nicht so wichtig sind. Natürlich sind wir, wenn wir einmal die Frage der Wahlordnung nehmen, mit Ihnen der Meinung, daß, solange es eine Verhältniswahl, eine Listenwahl gibt, wir die Minderheiten im Betrieb schützen müssen, daß man die Möglichkeit haben muß, eine Liste, wenn eine solche aufgestellt wird, entsprechend dem Wahlergebnis bei den Betriebsratswahlen prozentual in den Ausschüssen und bei den Freistellungen zu berücksichtigen. Aber das heißt noch längst nicht, daß Sie die Frage so behandeln. Das wollte ich jetzt dem Kollegen Andres sagen. Wenn, Kollege Andres, du dich hier schon aus dem Fenster hängst und sagst, daß es nicht habe bewiesen werden können, daß Minderheiten im Betrieb unterdrückt würden, dann bin ich gehalten, dich an das Beispiel Boehringer in Mannheim zu erinnern, ({6}) wo gerade im Bereich der IG Chemie Betriebsräte und Vertrauensleute aus der IG Chemie ausgeschlossen worden sind, weil sie es z. B. abgelehnt haben, daß du Mitglied des Aufsichtsrates bei der Firma Boehringer bist und dort kandidierst. Natürlich ist es nicht das Alleinige; da will ich der Wahrheit die Ehre geben. Es gibt dort einen Konflikt, weil die Mehrheit des Betriebsrats und der gesamte Vertrauensleutekörper eine andere Position als die IG Chemie bezieht. Wenn die Antwort darauf ist, daß diese Leute ausgeschlossen worden sind, dann läßt das auch Schlüsse über die Situation bei den Betriebsratswahlen zu. Ich glaube, daß die Gewerkschaften allen Grund haben, das aufzunehmen, was jetzt in den Gewerkschaften vorgetragen wird, nämlich daß man eine offenere Arbeit machen muß, daß man eine andere Streitkultur in den Betrieben und in den Gewerkschaften selber haben muß und daß man dann bereit sein muß, solche Dinge zu unterlassen. ({7})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Hoss - Hoss ({0}):: Meine Zeit ist zu Ende. Zu der Frage der Montan-Mitbestimmung spricht mein Kollege Stratmann.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Kollege Hoss, bleiben Sie bitte schön hier. Nachdem Sie ein Mitglied dieses Hauses so unmittelbar angesprochen haben gehört es, glaube ich, zur Fairneß, daß Sie ihm die Möglichkeit geben, eine Zwischenfrage zu stellen. Bitte sehr, Herr Kollege Andres.

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das ist okay.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Hoss, würden Sie aus Gründen der Fairneß zugestehen, daß es interne gewerkschaftliche Konflikte geben kann, die auch zum Ausschluß aus einer Gewerkschaft führen können, die überhaupt nichts, aber auch gar nichts mit der gesetzlichen Regelung von Minderheitenrechten und Minderheitenkonstruktionen in der Betriebsverfassung oder sonstwo zu tun haben? ({0})

Prof. h. c. Willi Hoss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000964, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich habe in meiner Rede in Voraussicht dessen schon auf den Zusammenhang hingewiesen, daß bestimmte Verhaltensweisen innerhalb der Gewerkschaft existieren, die nicht unbedingt etwas mit der rechtlichen Situation im Betrieb zu tun haben müssen, aber Aufschluß darüber geben, wie sich bestimmte Gewerkschaften gegenüber Mehrheiten, die sich in einem Betrieb herausgebildet haben, verhalten, wenn sie nicht das tun, was die Vorstände wollen, sondern wenn sie auf Grund dessen, was sie an der Basis erkennen und sehen, eine andere Vorstellung davon haben, wie man Gewerkschaftspolitik umsetzt. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Ich erteile das Wort dem Herrn Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wort gegeben - Wort gehalten. Die Unionsparteien CDU und CSU haben vor der Wahl versprochen, die Montan-Mitbestimmung zu sichern. Die Koalition hat nach der Wahl die Sicherung vereinbart, und heute beschließen wir, was wir vor der Wahl versprochen und nach der Wahl vereinbart haben. ({0}) Nochmals: Wort gegeben - Wort gehalten. Die Sicherung der Montan-Mitbestimmung ist notwendig. ({1}) - Heben Sie sich Ihre Aufregung für den nächsten Satz auf. Die Sicherung der Montan-Mitbestimmung ist notwendig, weil die SPD in ihrer Regierungszeit die Sicherung der Montan-Mitbestimmung nicht geschafft hat. ({2}) Die SPD hat wider ihre eigene Ankündigung ein Auslaufgesetz geschaffen. Hätte sie ein Sicherungsgesetz geschaffen, würde ich heute nicht hier stehen und dieses Gesetz verteidigen. ({3}) - Ja, in der Tat. Ich habe das, was Herr Ehrenberg damals in der Debatte gesagt hat, nachdem er als zuständiger Minister den Bestand der Montan-Mitbestimmung gesichert haben wollte, nachgelesen. Er hat gesagt: Lesen Sie genau; dann wissen Sie, daß sie gesichert wird. - Ich bin sozusagen die personifizierte Widerlegung des Herrn Ehrenberg aus der damaligen Zeit. ({4}) Nun, meine Damen und Herren, lassen Sie mich doch die Gelegenheit nutzen, zur Mitbestimmung über parteipolitische Auseinandersetzungen hinaus zu sagen: Für mich ist Mitbestimmung Ausdruck der Partnerschaft. Sie ist Alternative zum Klassenkampf; sie ist ein Stück aus dem gemeinsamen Wiederaufbau des zertrümmerten Nachkriegsdeutschland. Das gilt in ganz besonderer Weise für die MontanMitbestimmung. Denn im Montanbereich haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen die Demontage abgewehrt. Unser Staat Bundesrepublik Deutschland ist der freiheitlichste und sozialste Staat, den die deutsche Geschichte hervorgebracht hat, freilich immer verbesserungsfähig, nie im Idealzustand. Aber zu unserem Sozialstaat gehört Partnerschaft. Unser junger Staat muß Traditionen begründen. Traditionen entlasten, sie sichern das Selbstverständliche. Sie machen uns auch frei, das Neue zu bewältigen. Man kann über den Strukturwandel bei Kohle und Stahl vieles sagen, auch manches Kritische. Dennoch bitte ich, die Leistungen der Sozialpartner nicht geringzuachten. Daß im Kohlebergbau von einst 600 000 Bergleuten heute nur noch 160 000 beschäftigt sind und dieser Strukturwandel alles in allem sozial befrieBundesminister Dr. Blüm det verlief, halte ich für eine große Leistung der Montan-Mitbestimmung und auch der Gewerkschaften. ({5}) Auch im Stahlbereich - ich will nicht über Rheinhausen sprechen; das war nicht gerade das Musterbeispiel für Montan-Mitbestimmung ({6}) hat die Mitbestimmung alles in allem zu einer partnerschaftlichen Bewältigung schwieriger Herausforderungen im Strukturwandel beigetragen. Die Mitbestimmung gehört zur sozialen Kultur unseres Landes, sie gehört zur Tradition. Partnerschaft ist unsere Mitgift auch für ein freies, soziales Europa, das wir schaffen wollen. ({7}) Die Montan-Mitbestimmung wurde, wie Sie wissen, unter Adenauer geschaffen. ({8}) Sie trägt auch dazu bei, ein Klima der sozialen Befriedung in unserem Land zu erhalten. Ich halte das auch für einen Vorzug des Industriestandorts Bundesrepublik, der viel zuwenig gewürdigt wird. Wir sind das Land mit den geringsten Arbeitsausfällen durch Arbeitskämpfe weit und breit. Dieser Standortvorteil wird viel zuwenig gewürdigt. ({9}) Wir verheimlichen geradezu einen unserer besten Vorzüge. Ich meine, Arbeitgeber und Gewerkschaften können diesen Vorzug gemeinsam als einen Vorteil des Industriestandorts Bundesrepublik Deutschland würdigen. 1986 ging bei uns auf 1 000 Arbeitnehmer 1 Arbeitstag verloren, in Japan 6, in Frankreich 32, in Großbritannien 89, in den Vereinigten Staaten 121, in Italien 391 Tage. Das ist doch keine Selbstverständlichkeit, daß wir aus dieser Statistik so herausfallen. Das ist auch ein Ergebnis von Mitbestimmung, zu der ich mich ausdrücklich bekenne. Selbst 1984, in diesem kampfumtobten Jahr, waren die Arbeitsausfälle in Italien zweieinhalbmal so hoch und in Großbritannien fünfmal so hoch. Ich will ausdrücklich hinzufügen: Für mich ist Partnerschaft keine Idylle. Sie eliminiert nicht Interessengegensätze. Sie regelt ihre Austragung, und sie organisiert den Ausgleich. Partnerschaft hat den Wohlstand geschaffen. ({10}) Tarifpartnerschaft, Selbstverwaltung und Mitbestimmung, das ist das bundesrepublikanische Dreigespann für Partnerschaft. ({11}) Dafür will ich aus Anlaß dieser Debatte ausdrücklich auch den Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern meinen Dank aussprechen. Wir sichern die Montan-Mitbestimmung. 1989 würde ohne unser Gesetz die Montan-Mitbestimmung bei Mannesmann AG, Salzgitter AG, Thyssen AG auslaufen, 1992 würden die Klöckner-Werke AG aus der Montan-Mitbestimmung herausfallen. Ich hoffe nur, daß auch die IG Metall den dort beschäftigten Mitgliedern sagt, wer die Montan-Mitbestimmung gesichert hat. ({12}) Ich will zum zweiten Teil dieses Gesetzespakets kommen. Ich gebe zu, es ist ein Gesetzespaket. Was ist daran eigentlich schlimm? Was ist überhaupt an Kompromissen schlimm? Ich lebe Gott sei Dank in einer Volkspartei, in der es immer wieder zu Kompromissen kommt. Warum soll es nicht auch in einer Koalition zu Kompromissen kommen? Ich halte Kompromisse für die größte Erfindung der Sozialgeschichte, für viel besser als das, was die Fanatiker wollen, die auf alles oder nichts setzen und die den Fortschritt meistens zertrümmern. ({13}) Aber lassen Sie mich zum Minderheitenschutz kommen. Es ist bedauerlich - das will ich hier einmal hinzufügen - , daß wir Minderheiten gesetzlich schützen müssen. ({14}) Mein Wunsch ist es eigentlich, daß sich Toleranz freiwillig einstellt. Gewerkschaften sollten eigentlich in Erinnerung behalten, daß sie einst Opfer eines intoleranten Obrigkeitsstaates waren. Im Besitz von Mehrheiten sollten sie sich nicht so benehmen wie ihre Gegner von gestern. ({15}) Damit hätten sie gerade eine der wichtigsten Erfahrungen der Arbeiterbewegung vergessen. ({16}) - Herr Kollege Reimann, ich will das im Zusammenhang darstellen. - Was würde eigentlich im Deutschen Bundestag passieren, wenn seine Ausschüsse allein von der Mehrheit besetzt würden? Was würden der Kollege Reimann, der Kollege Andres, der Kollege Dreßler sagen? Sie wären im A- und S-Ausschuß nicht vertreten, allein die CDU/CSU und die FDP wären in diesem Ausschuß vertreten. ({17}) - Ja, das, was Sie für unmöglich erklären, gibt es in vielen Betriebsräten. Man glaubt es gar nicht! Und weil das so ist, müssen wir die Rechte der Minderheiten jetzt gesetzlich festschreiben. Ich hätte mir gewünscht, ein angeborenes Fairneßgefühl hätte diese gesetzliche Regelung überflüssig gemacht. ({18})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Reimann?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Nein, ich lasse jetzt keine Zwischenfragen zu. - Ich frage noch einmal: Ist es tolerant, wenn Freistellungen für Betriebsratstätigkeiten in manchen Betriebsräten nur für die Mehrheit reserviert werden? Ist das demokratisch? Wissen Sie, was das ist? Das ist ein Relikt aus dem Dreiklassenwahlrecht, das da in manchen Betriebsräten anzutreffen ist ({0}) - ja, doch - , wo Stimmen offenbar unterschiedlich gewertet werden: Die Stimme der Mehrheit führt zur Freistellung, die Stimme der Minderheit heißt von vornherein Ausklammerung aus der Freistellung. ({1}) Ich will Ihnen noch etwas dazu sagen - das sage ich auch als Einheitsgewerkschafter - : ({2}) - Wer Gewerkschafter ist, bestimmen nicht Sie. ({3}) Einheitsgewerkschafter - davon bin ich überzeugt - haben nur mit einem inneren Pluralismus Zukunft. Als sozialdemokratische Einseitigkeitsgewerkschaften werden sie zu einer sozialdemokratischen Sekte verkommen; da bin ich ganz sicher. ({4}) Davor wird sie auch nicht retten, daß sie manche - manche! kein Kollektivurteil! - christdemokratische Ausstellungsstücke haben. ({5}) Das macht noch nicht Einheitsgewerkschaft aus. Und mancher Christdemokrat - das weiß ich - benimmt sich im DGB sozialdemokratischer als die Sozialdemokraten, was auch ein Grund dafür ist, daß er in der CDU so wenig Einfluß hat, was ich sehr bedauere. Ich ziehe - dieses persönliche Bekenntnis will ich hier gern ablegen - Einheitsgewerkschaften Richtungsgewerkschaften vor; meine persönliche Meinung. Aber ich werde leidenschaftlich kämpfen, wenn konkurrierende Gewerkschaften nicht den Platz erhalten, den der Wähler ihnen zugedacht hat. Leidenschaftlich werde ich mich für den CGB einsetzen, leidenschaftlich werde ich mich für die DAG einsetzen, wenn nicht der Wähler, sondern die Mehrheit im DGB bestimmt, wie die Plätze im Betriebsrat verteilt werden. ({6}) Ich habe dem Kollegen Andres einmal ganz ruhig zugehört. Er hat gesagt: Minigewerkschaften erhalten eine übergroße Bedeutung. Welche Bedeutung sie erhalten, bestimmt der Wähler und nicht Herr Andres, bestimmt der Wähler und nicht die SPD. ({7}) Dann hat er noch einen schönen Satz gesagt, nämlich den, daß wir mit diesem Gesetz gewachsene Strukturen zerschlügen, weil der Wähler mehr Rechte bekommt. Was ist denn daran gewachsen? Erbmonarchie - das ist anscheinend das Idealbild für sozialdemokratische Betriebsräte. ({8}) Was Struktur ist, Herr Andres, das bestimmt der Wähler und sonst niemand. ({9}) Gewachsene Strukturen: Wollen Sie jetzt die Voraussetzung schaffen, daß einer das Parteibuch der SPD haben muß, damit er unendlich lange im Betriebsrat bleibt? Der Wähler bestimmt! Und wenn Sie eine Stimme bekommen, dann haben Sie Glück gehabt, dann gratuliere ich Ihnen dazu, dann kommen Sie auch in den Betriebsrat. Aber Sie können Freistellung nicht stärker beanspruchen, Sie sind nicht stärker in den Ausschüssen vertreten, als der Souverän das bestimmt, und der Souverän heißt wählende Arbeitnehmer. ({10})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Andres? - Herr Andres.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Blüm, würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen oder bestätigen können, daß das, was Sie hier als beschwörendes Bild an die Wand malen, im Ausschuß praktisch nicht bestätigt werden konnte ({0}) und daß es tatsächlich so ist, daß der Wähler entscheidet, wer in die Betriebsräte kommt, und daß der CGB deswegen beispielsweise in vielen, vielen Betriebsräten überhaupt nicht vertreten ist? ({1})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Also, Herr Gewerkschaftssekretär, das zeigt ihre Basisferne. Sie verwechseln den Ausschuß des Deutschen Bundestages mit der Praxis im Betrieb. Ich kann Ihnen mehr als einen Fall dafür nennen, wo beispielsweise die DAG entsprechend ihrer Stärke an der Besetzung von Ausschüssen nicht beteiligt wurde. ({0}) Das halte ich für einen eklatanten Verstoß gegen mein Fairneß- und Demokratiegefühl. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage, Herr Minister?

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Bitte.

Eckhard Stratmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002269, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Blüm, gerade weil ich Ihnen in diesem Punkt voll zustimme: ({0}) Können Sie mir bestätigen, daß der Gewerkschafter der IG Chemie, Herr Andres, nachdem er von IGChemie-Betriebsräten nicht in den Aufsichtsrat von Boehringer, Mannheim, gewählt worden ist, sich dafür bei seinen Nichtwählern dadurch bedankte, daß sie aus der IG Chemie hinausgeworfen und zwangsversetzt worden sind?

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Stratmann, solche Dreiecksfragen gibt es im Bundestag nicht. Wenn Sie eine Frage haben, so muß sie direkt auf den Minister bezogen sein. Der Minister soll nicht wegen einer Frage ein Urteil darüber abgeben, was ein Abgeordneter gemacht hat. ({0})

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich kann auf Ihre Frage zusammenfassend feststellen: Ich kenne mehr als ein Beispiel der Intoleranz und des rücksichtslosen Mehrheitsgebrauchs in Betrieben. Das stellen wir durch dieses Gesetz ab. Ich hätte mir gewünscht, wir bräuchten nicht dieses Gesetz, weil die Toleranz freiwillig geübt würde. ({0}) Was die gewachsenen Strukturen angeht, so sage ich noch einmal: Seit wann gibt es in der Demokratie für Mehrheiten und Minderheiten Wachstum? Da gibt es nur Abstimmungen. Die Sprache verrät bereits, daß die Sozialdemokraten offenbar die Arbeitnehmer wie Besitzstände behandeln. ({1}) Ich denke, dieses Gesetz ist ein Beitrag, mit dem auch die Rechte der Arbeitnehmer bei der Bestimmung ihrer Vertreter gestärkt werden. Ich finde, die Arbeitnehmer sollten auch beim Aufsichtsratvertreter die Entscheidung treffen können, wer von draußen und wer von drinnen kommt. Ich bin für die Mischung aus externen und internen Vertretern, aber ich bin dafür, daß die Arbeitnehmer die letzte Entscheidung haben. ({2}) - Ich möchte das jetzt im Zusammenhang darstellen. Ich habe nur noch wenige Minuten Zeit.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Sie haben noch 7 Minuten und 32 Sekunden Zeit.

Dr. Norbert Blüm (Minister:in)

Politiker ID: 11000204

Ich habe noch viel zu sagen. Unser Gesetz bietet noch so viel, daß die sieben Minuten schon sehr knapp sind. ({0}) Auch das, was zur Einigungsstelle gesagt worden ist, fand ich sehr amüsant. Da muß man sich auch noch einmal ganz subtil die Arbeitnehmerferne vorstellen, die hier zu Protokoll gegeben wurde. Daß wir bei der Einigungsstelle das Honorar für den Vorsitzenden nicht zwischen diesem Vorsitzenden und dem Arbeitgeber ausgehandelt haben wollen, ist, so finde ich, so elementar, daß ich gedacht hätte, das würde sich auch von allein einstellen. Was würden wir eigentlich tun, wenn ein Schiedsrichter mit der Heimmannschaft den Preis für die Schiedsrichtertätigkeit aushandeln würde? Außerdem widerspricht es auch meinem sozialen Gefühl, daß sozusagen der Streitwert bestimmt, welches Honorar der Vorsitzende bekommt. Da geht es doch um Menschen und um Sozialpläne. Der Gesetzentwurf legt fest, daß dem Vorsitzenden der Aufwand entlohnt wird, den er zu erbringen hat. Aber ein Aushandeln oder eine Bezahlung nach der Rechtsanwaltsgebührenordnung halte ich bei Sozialplänen für einen großen Stilbruch. Nun zur Beteiligung der Arbeitnehmer bei der Einführung neuer Techniken. Wir sind keine Maschinenstürmer, wir wollen auch keine Computerstürmer. Für intelligente Produktionen braucht man intelligente Arbeitnehmer. Ich finde es auch sprachlich verräterisch, wenn man sagt, Menschen sollten Maschinen bedienen; denn sie müssen sie beherrschen. Dazu gehört, daß Arbeitnehmer auch mitreden, und zwar auch bei der Gestaltung ihres Arbeitsplatzes. Ich halte es auch für ein Überbleibsel aus obrigkeitsstaatlichen Tagen, zu glauben, die oben wüßten es immer besser. Ein vernünftiger Arbeitnehmer und ein vernünftiger Arbeitgeber werden sich darüber unterhalten, wie man einen solchen Arbeitsplatz einrichtet. Ein vernünftiger Arbeitgeber wird dies auch rechtzeitig tun. Ich glaube auch, daß bei den Arbeitnehmern ein großes Erfahrungspotential vorhanden ist, das von manchen Planungsfetischisten gar nicht genutzt wird. Dieses Potential muß systematisch ausgenutzt werden. Dies dient ja auch der Selbständigkeit der Arbeitnehmer. Der Begriff der Verantwortung würde amputiert, wenn die Verantwortung immer nur bei den Folgen gilt. Verantwortung muß bei der Gestaltung einsetzen. Verantwortung der Arbeitnehmer nur bei den Folgen - das blockiert geradezu die Kreativität. In diesen Zusammenhang gehört auch die Weiterbildung. Ich will dieses Thema jetzt aber nicht behandeln, weil es morgen ausführlich diskutiert wird. Nun noch zu dem Begriff des leitenden Angestellten. Dieser Begriff ist nicht erst mit diesem Gesetz ins Arbeitsrecht gekommen. Dieser Begriff steht bereits im Betriebsverfassungsgesetz. Wer hat eigentlich 1976 regiert? Durch das Mitbestimmungsgesetz von 1976 ist der leitende Angestellte auf die Unternehmensebene gekommen. Jetzt schaffen wir ihn auch auf die Betriebsebene. Ich will noch hinzufügen, daß die Sprecherausschüsse auch nichts Neues sind. Sie gibt es. Nur, wir schaffen die gesetzlichen Grundlagen. Ich finde es sehr wichtig, daß auch hier noch einmal klargestellt wurde: Das soll keine Konkurrenz zum Betriebsrat sein. Es sollen jetzt nicht zwei Betriebsräte in ein Konkurrenzmodell kommen. Den Begriff des leitenden Angestellten haben wir präziser, handhabbarer gefaßt. Ich will für meinen Teil - auch Herr Kollege Heinrich hat aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht - sagen: Ich bin nicht derjenige, der ein übergroßes Bedürfnis hat, das Arbeitsrecht mit neuen Statusmerkmalen zu versehen. Ich glaube, daß die moderne Arbeitswelt sehr viel stärker auf Offenheit, Mobilität, Leistungsbereitschaft angelegt ist ({1}) und daß das eigentlich die Platzanweiser einer modernen Industriegesellschaft sind. Ich will auch darauf hinweisen, daß sich Leistung nicht nur auf Leitung beschränkt. Ich glaube, auch das sollte unbestritten sein. Meine Damen und Herren, auch von der Sozialdemokratischen Partei: Die Entwicklung bei den leitenden Angestellten stellt auch eine Rückfrage an die Gewerkschaften, und zwar eine selbstkritische Rückfrage. Vielleicht ist die Bewegung der leitenden Angestellten auch deshalb entstanden, weil sie in der kollektiven Interessenvertretung nach Einheitsmuster zu kurz kamen. Vielleicht haben die Gewerkschaften zu spät den Differenzierungsprozeß in der Arbeitnehmerschaft erkannt. Die Einheitsmuster einer kollektiven Vertretung reichen in einer Zeit stärkerer Differenzierung nicht mehr. Wer in jeder Differenzierung schon eine Diskriminierung sieht, verpaßt neue Chancen der Emanzipation. Ich bin ganz sicher: Vielfalt ist der neue Name des Fortschritts. Das Kunststück, das wir alle, auch die Gewerkschaften, zu vollbringen haben ({2}) - in der Tat; ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der Vielfalt und nicht Uniformität lebt; ({3}) ich bin ganz sicher, daß auch in der Arbeitnehmerschaft die Bedürfnisse höchst unterschiedlich sind ({4}) - nicht nur wir, auch die Gewerkschaften; wenn ich Ihnen dabei helfen könnte, würde ich Ihnen helfen - , ({5}) ist, eine neue Balance zu schaffen zwischen Individualität und Solidarität, einer Individualität, die nicht zum Egoismus degeneriert, die nicht Gruppenegoismus ohne Blick zum Nachbarn etabliert, aber auch einer Solidarität, die nicht alles unterpflügt. Ich hoffe, daß unsere Gesetzgebung heute einen Beitrag leistet, diese Balance zwischen Individualität und Solidarität neu zu stärken. ({6})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Abgeordnete Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Bundesarbeitsminister hat seine Rede begonnen, indem er sagte: Wort gegeben, Wort gehalten. ({0}) Dieses muß daran gemessen werden, was der Entwurf zur Montan-Mitbestimmung von CDU/CSU und FDP beinhaltet, und zwar hinsichtlich: dauerhafter Mitbestimmung. In der Anhörung ist uns von keinem der Sachverständigen erläutert worden, daß die Voraussetzungen mit diesem Entwurf dafür geschaffen sind. Ganz im Gegenteil, sie sagten: Es bestehen Umgehungsmöglichkeiten. - Darum trifft Ihr Wort, das Sie hier gesagt haben, nicht zu. Der zweite Punkt: Sie haben gesagt, Herr Kollege Blüm, die Montan-Mitbestimmung sei unter Adenauer geschaffen worden. Auf der rechten Seite im Parlament war damals ein großes Durcheinander, und nur die sozialdemokratische Bundestagsfraktion unter Schumacher hat die Voraussetzungen geschaffen, weil sie geschlossen der Montan-Mitbestimmung zugestimmt hat. ({1}) Dies ist ein historisches Ereignis. ({2}) - Sie haben sich ja an den Beratungen im Ausschuß herrlich mit dummen Bemerkungen beteiligt. Sonst können Sie doch nichts dazu beitragen, Herr Kollege Feilcke. ({3}) Es ist so, wie es ist. Sie sagten dann, Kollege Blüm: Kompromisse sind nötig. Ich stimme Ihnen zu, aber Kompromisse, die die soziale Sicherheit und die Rechte der Arbeitnehmer demontieren, lehnen wir Sozialdemokraten ab. Dafür stehen Sie, und dies muß ich Ihnen vorhalten. ({4}) Nun zur Sache. Meine sehr verehrten Damen und Herren, was die Montan-Mitbestimmung angeht, so habe ich einen zentralen Punkt bereits genannt: Die Vertreter der Gewerkschaften und die Sachverständigen haben Ihnen in der Anhörung bestätigt, daß es Umgehungsmöglichkeiten gibt. Ihnen ist auch vorgehalten worden, daß Sie die Arbeitnehmerseite und die Gewerkschaftsseite mit Ihrem Gesetz besonders schwächen. Dort ist festgestellt worden: Das Gewicht der außerbetrieblichen Gewerkschaftsvertreter ist zu gering. Insofern entfernt sich die Koalition vom Montan-Modell. Darüber hinaus wird festgestellt: Bei der Wahl der betrieblichen Gewerkschaftsvertreter ist Verhältniswahl vorgesehen. Dies führt zu einer weiteren Zersplitterung der Arbeitnehmerbank, während bei der Wahl der Anteilseigner durch die Hauptversammlung in aller Regel nach den Grundsätzen der Mehrheitswahl entschieden wird. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum für die Arbeitnehmerbank ein Minderheitenschutz zwingend vorgeschrieben wird. Dies führt dazu, daß die Arbeitnehmerbank geschwächt wird. ({5}) Sie müssen doch auf diese Vorbehalte eingehen. Sie sagen lediglich: Wort gegeben, Wort gehalten. Die Sachverständigen haben festgestellt: Das Dreiecksverhältnis zwischen Arbeitgeber, Betriebsrat und Sprecherausschuß der leitenden Angestellten wird aller Wahrscheinlichkeit nach zu einer Chaotisierung der Betriebsverfassung führen. Das haben Sie nicht ausgeräumt. Die Sachverständigen kommen - wie wir - zu der Feststellung: Der für die Sicherung der Montan-Mitbestimmung im eigenen Unternehmen gezahlte Preis erscheint politisch zu hoch. Dies sind doch ganz massive Vorwürfe, die wir Ihnen auch dann machen, wenn Sie den Anspruch erheben, Kollege Blüm: Wort gegeben, Wort gehalten. ({6}) Die Sozialdemokraten haben demgegenüber sehr frühzeitig einen Entwurf eingebracht, der die dauerhafte Sicherung der Montan-Mitbestimmung zum Ziel hat. Wir möchten die Montan-Mitbestimmung auch auf weitere Konzerne und Unternehmungen übertragen. Die Sachverständigen haben auch bestätigt, daß das Modell der Sozialdemokraten eine sehr begrüßenswerte Neuerung aufweist, nämlich den Grundgedanken der Vereinbarung des Tarifvertrages. Mit diesem Grundgedanken eines Memorandums der EG-Kommission an das Europäische Parlament vom 15. Juli 1988 zum Statut der europäischen Aktiengesellschaft eröffnen wir die Möglichkeit, das bei uns angewandte - nationale - Recht der paritätischen Mitbestimmung auf die europäische Aktiengesellschaft zu übertragen. Dies ist, bezogen auf den Binnenmarkt, in der Tat eine Perspektive für die Sicherung der Rechte der Arbeitnehmer in der Gemeinschaft. ({7}) Dies haben Sie überhaupt nicht vorgesehen. Meine Damen und Herren, der Vertreter der FDP sagte, daß gerade im Montan-Bereich die Strukturveränderungen erschwert worden sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die Stahlunternehmen und die Bergbauunternehmen sind die besten, die modernsten und die leistungsfähigsten Unternehmen in unserer Republik. Die Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten sind diejenigen, die den Arbeitgebern in der Frage der Investitionen und der Erneuerung überlegen sind; denn sie drängen darauf. Lesen Sie den Biedenkopf-Bericht nach, den es zu den Erfahrungen mit der Mitbestimmung gegeben hat. Wenn Sie Stahlindustrie und Bergbau monieren, dann dürfen Sie nicht verkennen, Herr Kollege, daß uns gerade das Unwesen der Subventionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft geradezu erdrückt hat, weil es bei uns keine Subventionen gegeben hat, wir aber dennoch leistungsfähig geblieben sind. ({8}) Subventionen, die wir zeitweilig gewährt haben, gibt es in der Zwischenzeit in der Stahlindustrie nicht mehr. Darum: Tragen Sie nicht Dinge vor, die überhaupt nicht stimmen. Ich sage das aus der Sorge heraus, daß auf uns eine europäische Entwicklung zukommen kann - möglicherweise in diesem Monat, wenn am 13. Dezember 1988 der Ministerrat Subventionen gewähren könnte -, die zu ganz großen Verschiebungen insbesondere im Montanbereich führen könnte. Das muß abgelehnt werden. Wenn wir uns die großen Leistungen vor Augen halten, die wir im Zusammenhang mit der Montan-Mitbestimmung erlebt haben - Verhinderung der Demontage, Aufbau der Republik auf Grund der Elemente Kohle und Stahl sowie der Disziplin und handwerklichen Fähigkeiten unserer Frauen und Männer in diesen Bereichen - , müssen wir sagen: Das ist eine ganz wichtige Voraussetzung gewesen, die uns Veranlassung geben sollte, heute nicht nur den Betriebsräten und den Arbeitsdirektoren für ihre Leistungen im Rahmen der Mitbestimmung zu danken, sondern auch eine Entwicklung für die paritätische Mitbestimmung auf europäischem Feld zu eröffnen. Wir Sozialdemokraten wissen, was mit den Gewerkschaften hier geleistet worden ist. Die Gewerkschaften müssen im Rahmen der Mitbestimmung gestärkt und dürfen nicht wie durch Ihren Gesetzentwurf geschwächt werden. ({9}) Die Arbeitnehmerbank muß den Arbeitgebern paritätisch gegenüberstehen, ({10}) nicht aber so, wie es im Antrag der GRÜNEN vorgesehen ist, den wir deswegen ablehnen; denn wir wollen weiter die Parität, die partnerschaftliche Zusammenarbeit. Kollege Blüm, die soziale Flankierung für Kohle und Stahl haben wir mit Ehrenberg geschaffen. Sie haben sie nur auf den Grundlagen weiterentwickelt, ({11}) die damals im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung einheitlich zustande gekommen sind. Sie sollten sich nicht mit fremden Federn schmücken, Kollege Blüm, sondern sich immer daran erinnern: Wort gegeben, aber wie - so frage ich - wurde es gehalten? ({12})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Warrikoff.

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Unsere Novelle zum Betriebsverfassungsrecht bringt eine Reihe wichtiger Änderungen. Zwei dieser Änderungen haben ein gemeinsa8174 mes Ziel: die Berücksichtigung von Mitarbeitergruppen, die bisher in betrieblichen Gremien gar nicht oder nicht hinreichend mitwirken konnten. Wir werden demnächst Sprecherausschüsse für leitende Angestellte auf gesetzlicher Grundlage haben. Diese Sprecherausschüsse sind notwendig, weil sonst niemand die gemeinsamen Interessen der leitenden Angestellten vertritt. Sprecherausschüsse auf freiwilliger Basis sind nicht gleichwertig. Sie sind vom Wohlwollen des Arbeitgebers abhängig und wertlos, wenn sie der Arbeitgeber nicht anerkennt. Die SPD ist offenbar ganz anderer Ansicht und lehnt Sprecherausschüsse auf gesetzlicher Grundlage ab. Warum die SPD sie ablehnt, hat Kollege Dreßler in der letzten mitternächtlichen Plenardebatte zu diesem Thema begründet. Er hat unseren Gesetzentwurf abgelehnt, weil es danach - ich zitiere wörtlich keine einheitlichen Interessenvertretungen mehr geben soll, sondern zwei konkurrierende Gremien, den Betriebsrat und den Sprecherausschuß. ({0}) - Ich danke für die Bestätigung. - Es ist gar nicht so einfach, meine Damen und Herren, mit so wenigen Worten so viel Falsches zu sagen. Ich gratuliere, Herr Dreßler. ({1}) Die SPD glaubt offenbar, daß nach geltendem Recht der Betriebsrat die leitenden Angestellten vertritt und daß sich dies in Zukunft ändern soll. Ist der Opposition entgangen, Herr Dreßler, daß das Betriebsverfassungsgesetz keine Anwendung auf leitende Angestellte findet? Ist der Opposition unbekannt, daß leitende Angestellte weder das aktive noch das passive Wahlrecht zum Betriebsrat haben, daß der Betriebsrat sie nicht vertritt und daß Betriebsvereinbarungen nicht für sie gelten? Wenn diese Wissenslücken wirklich vorliegen - Sie haben das ja in Ihren freundlichen Zwischenrufen bestätigt - , dann sollte die Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen der SPD einen Fortbildungskurs zum Thema Betriebsverfassung organisieren, ({2}) und ich würde vorschlagen, daß ihrem Vorsitzenden ein Dauerabonnement für diese Fortbildung zur Verfügung gestellt wird. Auch in Zukunft werden die Gremien Betriebsrat und Sprecherausschuß nicht konkurrieren, wie Kollege Dreßler daß in ungebundener und freier Rechtsfindung vermutet. Der Betriebsrat vertritt die Arbeitnehmer im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes, der Sprecherausschuß die leitenden Angestellten. Es wird nicht konkurriert. Wenn dies alles so ist, dann bleibt die Opposition eine Antwort auf die Frage schuldig, warum sie will, daß die leitenden Angestellten keine betriebliche Interessenvertretung haben und daß sie ihre Probleme nur als Einzelperson und allein vertreten sollen. Soll bei den leitenden Angestellten niemand darüber wachen, daß - ich zitiere § 27 des Sprecherausschußgesetzes wörtlich jede unterschiedliche Behandlung von Personen wegen ihrer Abstammung, Religion, Nationalität, Herkunft, politischen oder gewerkschaftlichen Betätigung oder Einstellung oder wegen ihres Geschlechtes unterbleibt? Nicht nur in der Politik, auch in den Betrieben werden - um nur ein Beispiel herauszugreifen - Frauen in Zukunft eine größere Rolle spielen. Sollen also z. B. Frauen, meine Damen und Herren von der SPD, wenn sie leitende Angestellte sind und bei einer Beförderung zu Unrecht übergangen werden, niemanden an ihrer Seite haben? Das wollen Sie! Soll es weiter so bleiben, daß Festlegungen, die alle leitenden Angestellten gleichermaßen betreffen, vom Arbeitgeber ganz allein getroffen werden sollen? - Diesen Fortbildungskursus müssen Sie unbedingt einrichten. Das Ausmaß an Unkenntnis ist so exemplarisch, daß er unbedingt eingerichtet werden muß. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Warrikoff, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage zu beantworten?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, nein, nein! ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter, darf ich dann fragen: Gilt das für die ganze Rede?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, keineswegs. Ich kenne die Qualität der Zwischenfragen der Kollegin Unruh, und ich möchte das Haus diesen Zwischenfragen nicht aussetzen. ({0}) Was sind eigentlich die Motive der SPD für ihre Auffassung? Will sie die leitenden Angestellten so schwach halten wie nur irgend möglich? Wenn das zutreffen sollte : Kann sie der Öffentlichkeit Auskunft darüber geben, warum? Im übrigen, Herr Kollege Andres, was die Abgrenzung der leitenden Angestellten anbetrifft: Haben Sie einen Zwischenruf des Kollegen Wolfgang Vogt - zu dessen heutigem Geburtstag ich ganz besonders herzlich gratulieren möchte ({1}) überhört, der den Sachverständigen für Verfassungsfragen zitiert hat, der im Ausschuß gestern gesagt hat: Die Regelung, die wir getroffen haben, ist ein Musterbeispiel an Normenklarheit? ({2}) Die Opposition will also - aus welchen Gründen auch immer - die Interessen der Minderheit leitender Angestellter beiseite schieben und vergessen, nach dem Motto: Was sind schon Minderheiten, wenn sie mir nicht passen? Will die SPD noch viel größere Minderheiten als die leitenden Angestellten vom betrieblichen Willensbildungsprozeß an entscheidender Stelle ausschließen? Nach dem Willen der Opposition soll es dabei bleiben, daß Minderheitsgruppen im Betriebsrat nur „von Mehrheits Gnaden" freigestellte Betriebsräte haben und nur so in den Betriebsausschuß kommen dürfen, ({3}) selbst dann, wenn diese Minderheiten nicht weit davon entfernt sind, Mehrheiten zu sein. Ich weise darauf hin, daß, um in den Betriebsausschuß zu kommen, man etwa 20 % der Stimmen insgesamt haben muß.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Warrikoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr, ja.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bitte sehr, Herr Abgeordneter.

Dr. h. c. Gerd Andres (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000038, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Dr. Warrikoff, sind Sie so freundlich, zur Kenntnis zu nehmen, daß Ihre Bemerkung, wir würden Minderheiten nicht wollen, unzutreffend ist und daß es darum geht, daß wir nicht wollen, daß besonders leichte Bedingungen für diese Minderheiten eingeräumt werden? ({0})

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist ganz besonders bemerkenswert. Wenn das nicht eine Aberkennung des Rechtes der Minderheiten ist! Sie haben das klassisch formuliert, vielen Dank. Sie wollen Wähler zweier Klassen haben, zum einen solche, die die vollen Rechte haben, und dann die Minderheiten. Vielen Dank. ({0}) Die Diskussion um diesen Punkt wurde auch außerparlamentarisch mit besonderem Eifer geführt. Die Opposition und leider auch die DGB-Gewerkschaften scheinen Minderheiten, die es im Betriebsrat ja ohnehin schon gibt, ganz besonders zu fürchten. Wenn man Minderheiten nicht mag, meine Damen und Herren, dann gibt es zwei denkbare Reaktionen. Die eine ist: Man versucht mit Paragraphen und Rechtstiteln die Machtstellung der Mehrheit zu betonieren. Die zweite ist: Man gibt den Arbeitnehmern keinen Anlaß, Minderheiten zu wählen. Der Schlüssel hierzu ist nicht Gesetzeswerk, sondern gute Leistung und, wie ich meine hinzufügen zu sollen, auch etwas weniger politische Einäugigkeit. Ich möchte den Gewerkschaften dringend den zweiten Weg empfehlen. Wenn Sie das nicht tun, meine Damen und Herren, dann ist der Tag nicht fern, wo die Gewerkschaften uns für den Minderheitenschutz, den sie heute so bekämpfen, eines Tages dankbar sein werden. ({1}) Ganz besonders verblüfft hat mich das Argument, Minderheitenschutz sei undemokratisch. Ist es nicht gerade umgekehrt ein Gebot der Demokratie, daß alle Wahlberechtigten, in diesem Fall die Arbeitnehmer des Betriebes, in den entscheidenden betrieblichen Gremien entsprechend ihrem Anteil an den Gesamtstimmen vertreten sind? Ist nicht Arbeitsstimme, Herr Minister Blüm, gleich Arbeitnehmerstimme? Soll es zwei Klassen von Arbeitnehmern geben? Die einen wären solche, die sich für die Mehrheitsliste entschieden haben und dann die volle Repräsentation im Betriebsrat bei den Freigestellten und im Betriebsausschuß verlangen können, und die anderen wären solche, die eine Minderheitsliste gewählt haben und die dann auf Vertretung durch den Betriebsrat selber beschränkt bleiben sollen. Der SPD-Abgeordnete Conradi, der zu meiner Freude gerade hier ist, hat im Zusammenhang mit dieser Diskussion, wie in der „Frankfurter Rundschau" vom 29. November nachzulesen ist, ein wichtiges Schlüsselwort gebraucht, meine Damen und Herren, nämlich das Wort „Toleranz". ({2}) Ist es nicht nur undemokratisch, sondern auch intolerant, wenn verlangt wird, daß eine noch so kleine Mehrheit einer noch so großen Minderheit den Zugang zu den entscheidenden Gremien versperrt? Dieses alles in allem erstaunliche Demokratieverständnis wird zusätzlich mit dem Verweis auf Chaotengruppen und Radikale begründet. Dieser Verweis ist nachweislich falsch. Wir wissen, wie groß das Chaotenpotential ist, da ja schon heute solche Gruppen, denen die SPD dieses Prädikat geben will, an den Betriebsratswahlen mit insgesamt sehr geringem Erfolg teilnehmen. An sich sollte der Opposition dieses Mißtrauen gegenüber der freien Wahlentscheidung der Arbeitnehmer in unseren Betrieben peinlich sein. Etwas anderes sollte ihr noch viel peinlicher sein: Die ständige Wiederholung einer Furcht, daß nennenswerte Gruppen unserer Arbeitnehmer die freie demokratische Arbeiterpartei - oder wie sich dieser Klub nennt - wählen würden, ist eine Beleidigung der deutschen Arbeitnehmerschaft. Herr Kollege Andres, Sie sollten sich das merken. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Warrikoff, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ja, ich gestatte noch zwei Zwischenfragen; damit das klar ist. Bitte, Herr Conradi.

Peter Conradi (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000335, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege, wie ist Ihre Stellungnahme zu den Minderheitenrechten unter dem Gesichtspunkt zu bewerten, daß Sie erst vor wenigen Tagen einer Minderheit hier im Hause einen Vizepräsidenten verweigert haben?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Lieber Herr Kollege Conradi, Sie gehören dem Bundestag länger an als ich. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß in diesem Hause nicht die Minderheiten Vizepräsidenten bestimmen, sondern die Mehrheit die Vizepräsidenten wählt. ({0}) Meine Damen und Herren, ich möchte vorschlagen, daß die SPD nicht nur Betriebsverfassungsrecht lernt, sondern auch Verfassungsrecht. Glauben Sie denn etwa, daß, wenn ein fünfter Vizepräsident vorgeschlagen wird, der Kandidat der GRÜNEN eine Mehrheit bekommt? ({1}) Ich würde mich freuen, wenn Sie mir gelegentlich die Frage beantworten, wie anders bei Ihnen gewählt wird als mit Mehrheiten. ({2})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Warrikoff, es ist noch eine Anmeldung für eine Zwischenfrage da.

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Das ist die zweite, die ich gestatte.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Reimann, bitte sehr.

Manfred Reimann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001805, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Sie hatten freundlicherweise zwei Zwischenfragen zugelassen. Ich bedanke mich dafür. Herr Warrikoff, Sie haben jetzt so leidenschaftlich für die Minderheiten im Betrieb plädiert. Würden Sie mir denn wenigstens zugestehen, daß das bisherige Betriebsverfassungsgesetz von 1952, das 1972 novelliert wurde, genau das, wofür Sie plädieren, rechtlich abgesichert hat?

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich kann Ihnen das überhaupt nicht bestätigen, weil das nicht zutrifft. Nach heute geltendem Recht kann die Mehrheit bestimmen, wie sich der Betriebsausschuß und die Freigestellten zusammenzusetzen haben. Wir verbessern an einem entscheidenden Punkt. Neben dem Schutz von Minderheiten verbessert unser Gesetzentwurf in § 81 des Betriebsverfassungsgesetzes die Unterrichtung des einzelnen Arbeitnehmers bei betrieblichen Änderungen. Bei Änderungen soll mit dem Arbeitnehmer ganz konkret sein berufliches Schicksal auch im Hinblick auf eine weitere Qualifizierung besprochen werden. Die Opposition - auch heute wieder - bezeichnet dies als weiße Salbe, also als nullwertig. Ist der Opposition das Schicksal des einzelnen Arbeitnehmers gerade in der schwierigen Phase betrieblicher Veränderungen gleichgültig? Soll mit ihm nicht detailliert besprochen werden, wie es weitergeht? Der Einwand, daß ein vernünftiger Arbeitgeber das sowieso tut, ist richtig. Trotzdem muß die Bestimmung in das Gesetz. Sie soll den Arbeitgeber ganz besonders dann, wenn es schwierig ist, daran erinnern, daß er an das Schicksal des einzelnen Betroffenen denken muß. Im übrigen kann man das halbe Betriebsverfassungsgesetz getrost streichen, wenn man immer unterstellen wollte, daß sich alle vernünftig benehmen. Eine weitere wichtige Verbesserung ist die Ausweitung des Unterrichtungs- und Beratungsrechts im neuen § 90 des Betriebsverfassungsgesetzes bei betrieblichen Änderungen. Die Opposition, meine Damen und Herren, hält auch dies für unbedeutend. Sie lehnt Verbesserungen der Position der Arbeitnehmer prinzipiell ab, auch in diesem Fall. Sie will in allen Fällen einer betrieblichen Veränderung die volle Mitbestimmung über die Mitbestimmungsrechte im Rahmen insbesondere von § 87 hinaus. Es ist hier nicht der Ort, dieses Thema wirklich zu vertiefen. Aber Mitbestimmung heißt ja u. a. auch, daß im Konfliktfall die Einigungsstelle und dann die Arbeitsgerichte entscheiden. Wollen wir wirklich - Sie wollen das; das weiß ich - Investitionsentscheidungen auch unter z. B. betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten den Arbeitsrichtern überlassen? Die mit solchen Investitionen verbundenen Arbeitszeit-, Sicherheits-, Entgelt- und ähnliche Fragen sind ja ohnehin nach geltendem Recht der vollen Mitbestimmung unterworfen. Einigungsstellen und Arbeitsgerichte als Unternehmerersatz der Zukunft? Wer das glaubt, leistet den Arbeitnehmern eine Bärendienst. Selbst wenn man unterstellen wollte, daß der Vorsitzende der Einigungsstelle oder das Arbeitsgericht, ohne mit dem Betrieb vertraut zu sein, am Schluß die richtige Entscheidung fällt, so ist es letztlich doch eine Entscheidung gegen die Investition, einfach deswegen, weil sie zu lange dauert. Meine Damen und Herren, unser Gesetzentwurf ist ausgewogen. Er bringt wichtige Verbesserungen für die Arbeitnehmer, ({0}) eine Klarstellung gerade auch für die Minderheiten. Wir werden uns in unserer Arbeit für die Interessen der Arbeitnehmer, im übrigen auch im Hinblick auf die Arbeitslosen, nicht daran hindern lassen, schrittweise das zu tun, was wir für wichtig halten. Ich danke Ihnen. ({1})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Frau Abgeordnete Unruh, erst nach Schluß der Aussprache ist eine Erklärung außerhalb der Tagesordnung nach § 32 unserer Geschäftsordnung möglich. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Stratmann.

Eckhard Stratmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002269, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Liebe Mitbürgerinnen! Liebe Mitbürger! Wenn gerade Herr Warrikoff vom Chaotenpotential in Wirtschaftsbetrieben spricht, dann denke ich in allererster Linie an die Atommafia in den Hanauer Nuklearbetrieben, ({0}) wo ja im wörtlichen Sinne bis vor Toresschluß Herr Warrikoff als Geschäftsführer von Alkem und RBU die Rolle als Oberchaot gespielt hat. ({1}) Mein Thema ist die Montan-Mitbestimmung. Wir GRÜNEN treten für die dauerhafte Sicherung der Montan-Mitbestimmung ein. Weil der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen diese dauerhafte Sicherung nicht garantiert und keinen dauerhaften Schutz vor Konzernumstrukturierungen und vor einem Unterlaufen der Montan-Mitbestimmung darstellt, lehnen wir den Entwurf ab. Der SPD-Entwurf zur Montan-Mitbestimmung teilt diese Schwäche nicht. Er ist wesentlich eher geeignet, eine dauerhafte Montan-Mitbestimmung zu garantieren. Deshalb werden wir diesem Gesetzentwurf der SPD zustimmen. Wer von der Sicherung der Montan-Mitbestimmung redet, darf allerdings über die Grenze der Montan-Mitbestimmung nicht schweigen. Zuletzt haben der Konflikt um Rheinhausen und das Ergebnis dieses Konflikts gezeigt, daß selbst diese entwickeltste Form der Unternehmensmitbestimmung nicht in der Lage ist, Angriffe auf die Arbeitsplätze von der Belegschaftsseite her abzuwehren. Die Konsequenz aus dem Konflikt von Rheinhausen muß daher lauten: Es geht nicht nur um die Sicherung der Montan-Mitbestimmung sondern auch um den Ausbau der MontanMitbestimmug. Aus diesem Grunde arbeiten wir GRÜNEN seit Monaten an einem Gesetzentwurf zur Unternehmensmitbestimmung. Das Hauptthema dort ist, wie die Montan-Mitbestimmung ausgedehnt und auf alle Großunternehmen ausgeweitet werden kann. Wir haben mit dem Antrag, der Ihnen vorliegt - Sicherung und Ausbau der Montan-Mitbestimmung -, drei wesentliche Punkte aus unserer Arbeit zum Gesetzeswerk in Antragsform vorgelegt, die die Richtung unserer Überlegungen angeben. Wichtig ist, daß sich diese drei Punkte an wesentlichen Aussagen des DGB-Entwurfs zur Unternehmensmitbestimmung aus dem Jahre 1982 orientieren. Unser erster Antragspunkt lautet: Wir wollen, daß die Position der abhängig Beschäftigten im Aufsichtsrat auch gegenüber der derzeitigen Regelung in der Montan-Mitbestimmung gestärkt wird. Wenn es so ist, wie wir es bei Thyssen Henrichshütte erlebt haben, daß sogenannte neutrale Männer im Aufsichtsrat wie Walter Scheel über das Wohl und Wehe von Tausenden von Arbeitsplätzen und über Teilbetriebsschließungen entscheiden, dann stellen wir fest, daß diese Montan-Mitbestimmung, die sogenannte Parität im Aufsichtsrat, nicht ausreicht, um Arbeitnehmerinteressen, um die Sicherung der Arbeitsplätze durchzusetzen. ({2}) Aus diesem Grunde fordert auch der DGB-Mitbestimmungsentwurf von 1982 eine Stärkung der Position der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat über die MontanMitbestimmung hinaus. Wenn Herr Kollege Urbaniak als Gewerkschafter eben so dreist ist, diesen Punkt aus dem DGB-Entwurf abzulehnen, weil er in einem GRÜNEN-Antrag steht, zeigt das sein eigenes Verständnis von Montan-Mitbestimmung und von gewerkschaftlicher Mitbestimmung. ({3}) - Wenn es mir von der Redezeit nicht abgezogen wird, Herr Präsident, gerne.

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Sie sind gleich am Ende. - Bitte sehr, Herr Urbaniak.

Hans Eberhard Urbaniak (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002360, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Stratmann, haben Sie sich mit dem DGB-Entwurf auseinandergesetzt, und kennen Sie § 7 dieses Entwurfs, der die Parität vorsieht und darauf eine neutrale Person setzt?

Eckhard Stratmann (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002269, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir haben uns mit dem DGB-Entwurf nicht nur auseinandergesetzt, sondern wir haben zu unseren internen und öffentlichen Beratungen DGB-Vertreter und IG-Metall-Vertreter eingeladen. Wir kennen das alle sehr genau. ({0}) Unsere Antragsformulierung steht in Übereinstimmung mit dem DGB-Entwurf an diesem Punkt. ({1}) Der zweite Punkt unseres Antrages: Selbst wenn in Einzelfällen der neutrale Mann im Interesse der Arbeitnehmer entscheidet - wie jüngst bei der Maxhütte oder 1984 beim Salzgitter-Konzern -, hat durch das Letztentscheidungsrecht der Hauptversammlung die Kapitalseite die Möglichkeit, die Aufsichtsratsmehrheit auszuhebeln. Aus diesem Grunde fordern wir mit dem DGB, daß das Letztentscheidungsrecht der Hauptversammlung aus dem Aktiengesetz ersatzlos gestrichen wird. ({2}) Dritter Punkt. Die Montan-Mitbestimmung kann nur dauerhaft gesichert werden, wenn sie auf alle Großunternehmen ausgedehnt wird. Das fordert der DGB, das fordern auch wir GRÜNEN in unserem Antrag. Die Sonderstellung des Montan-Sektors in der Unternehmensmitbestimmung hat nur historische Gründe: Weil damals der schwerindustrielle Bereich so in die Rüstungs- und damit Allgemeinpolitik involviert war, daß ihm eine besondere Mitbestimmungsrolle zugestanden wurde. Was damals für die Schwerindustrie galt, gilt heute in noch höherem Maße für Konzerne wie Daimler-Benz, den größten Rüstungskonzern, wie Siemens. Aus diesem Grunde brauchen wir die Ausdehnung der Montan-Mitbestimmung auf diese Konzerne: Siemens, Daimler-Benz, BMW und wie sie alle heißen. Abschließender Satz: Diese drei Antragspunkte stimmen mit dem DGB-Mitbestimmungsentwurf 1982 überein. Ich fordere die SPD auf, die DGB-Mitbestimmungsforderungen zu unterstützen, selbst wenn sie einmal von GRÜNEN in den Bundestag eingebracht werden. Ich danke Ihnen. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Peter ({0}), Sie haben nun noch das Wort. Sie haben sich ja noch rechtzeitig gemeldet.

Horst Peter (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001693, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Warrikoff, wenn sich Ihre Fähigkeit, schnell zu sprechen, ({0}) auf Ihre Fähigkeit übertragen würde, lernbereit zu sein, ({1}) müßten Sie eigentlich nach den Anhörungen zum Betriebsverfassungsgesetz zu anderen Auffassungen über die Argumentation beim Minderheitenrecht kommen. ({2}) Herr Kollege Stratmann, wenn man 5 vor 12 aus der Hüfte geschossen einen Teilaspekt eines DGB-Gesetzentwurfs ({3}) - einen zentralen Aspekt eines DGB-Gesetzentwurfs - in die Beratungen des Plenums einbringt, ({4}) obwohl wir noch nicht einmal die Gelegenheit hatten, einige der Formulierungen im Ausschuß zu beraten, dann ist das tricky. Dann können Sie nicht erwarten, daß wir solche Tricks mitmachen. Deshalb können wir Ihrem Antrag, den Sie so kurzfristig eingebracht haben, leider nicht zustimmen. ({5}) Herr Minister Blüm, trotz Ihrer Ausführungen und auch trotz der Beratungen im Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung, die ja geringfügige Veränderungen gebracht haben - in einem Punkt auch eine durchaus begrüßenswerte Veränderung, nämlich bei der Abgrenzung der Kompetenzen der Sprecherausschüsse gegenüber den Betriebsräten - , hat sich die grundsätzliche Bewertung dieses Gesetzentwurfs nicht geändert. Es ist und bleibt ein Kuhhandel zur Abdekkung durchsichtiger Interessen zu Lasten Dritter, nämlich der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Einheitsgewerkschaften in unseren Betrieben. ({6}) Hier setzt die FDP, im Wort bei der Union der Leitenden Angestellten, ihre Sprecherausschüsse durch. Herr Warrikoff ist da als Mitglied der CDU-Fraktion durchaus gleichrangig einzuordnen. Dort setzen die einflußreichen Förderer des Christlichen Gewerkschaftsbundes die nur ihm, und zwar nur ihm, Herr Kollege Hoss, auf den Leib geschneiderten erweiterten Minderheitenrechte bei der Betriebsratswahl und der Betriebsratsarbeit durch. ({7}) Damit die sogenannten Vertreter von Arbeitnehmerinteressen in der CDU bei der Stange bleiben, werden die beiden Elemente erpresserisch verknüpft mit der überfälligen Sicherung der Montan-Mitbestimmung. ({8}) Als argumentative Zugabe wird eine Scheinreform geliefert: Verbesserung der Unterrichtungs- und Beratungsmöglichkeiten des Betriebsrats sowie des einzelnen betroffenen Arbeitnehmers bei Planung und Einführung neuer Techniken im Betrieb. Das ist die knappe, aber richtige Bewertung dieser Mixtur Ihres Gesetzespakets. ({9}) Es ist eine vertane Chance für echten Reformbedarf im Bereich der Betriebsverfassung und der Mitbestimmung. Genauso, wie Sie beim Gesundheits-Reformgesetz am echten Reformbedarf vorbei einen Gesetzentwurf vorgelegt haben, machen Sie es hier im Bereich der Betriebsverfassung und der Mitbestimmung. ({10}) Das Beschämende ist, daß diese Mischung aus Kuhhandel und Erpressung vom Sprecher der CDU-Arbeitnehmer, dessen Organisation noch vor Tagen gefordert hat, die neuen Techniken bedürften der Mitbestimmung, als Reform gelobt wird. Das ist mehr als Opportunismus; das ist das Eingeständnis der eigenen Politikunfähigkeit. ({11}) Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nicht verborgen geblieben, und das wird auf Sie zurückfallen. ({12}) Wenn wir den Reformaspekt, die Bedeutung der Auseinandersetzung mit den neuen Techniken, ernst nehmen wollen, dann müssen wir fragen, ob Ihre Veränderung der §§ 81 und 90 des Betriebsverfassungsgesetzes dem gerecht würde. Ich behaupte: Das ist nicht der Fall, da die notwendige Schlußfolgerung aus der Wirkungsweise der neuen Technologie nur lauten kann: Ausweitung der Mitbestimmung auf Einführung, Anwendung, Änderung oder Erweiterung neuer technischer Einrichtungen und Verfahren. Das, was Sie gemacht haben, ist nicht Ausweitung der Mitbestimmung, sondern das verdient durchaus den Begriff „weiße Salbe"! Nach Ihrem eigenen Gesundheits-Reformgesetz würden Sie das nach § 34 wegen geringen therapeutischen Nutzens unter den Heilmitteln ausgrenzen, die notwendig wären, um im Bereich der neuen Techniken tatsächlich Wirksames zu tun. Es heißt auch: Ausbau der Mitbestimmungs- und Kontrollrechte bei der Personaldatenverarbeitung einschließlich der Erhebung, Veränderung und Übermittlung von Personaldaten. Zunächst einmal ein Blick auf die Rechtslage. Herr Professor Däubler, Herr Warrikoff, hat das in der Anhörung von 1986 ja sehr deutlich gemacht. Nach gelPeter ({13}) tendem Recht besteht Mitbestimmung nur in dem Rahmen, den das Gesetz ausdrücklich vorsieht. Für die Mitbestimmungsrechte gilt das sogenannte Enumerationsprinzip: Nur in den Bereichen, die das Gesetz nennt, kann ein Betriebsrat mitbestimmen. Dies bedeutet, daß es nach geltendem Recht keine Mitbestimmung gibt, wenn es um den Abbau von Arbeitsplätzen geht, sowie bei Änderung der Arbeitsvollzüge und sonstiger genereller Arbeitsbedingungen; es besteht keine Mitbestimmung bei der Auslagerung von Aufgaben einschließlich der Einführung von elektronischer Fernarbeit. Es besteht eine sehr eingeschränkte Mitbestimmung im Bereich des Gesundheitsschutzes; denn nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes kann der Betriebsrat hier nur aktiv werden, wenn es um die Ausfüllung vorgegebener Normen geht. Schließlich besteht eine ebenfalls nur beschränkte Mitbestimmung bei der Erfassung und Speicherung nur personenbezogener Daten. Soweit Leistung und Verhalten erfaßt sind, kann der Betriebsrat auch bei der Auswertung mitbestimmen. Bei anderen Daten ist sein Mitbestimmungsrecht zumindest zweifelhaft. Die Einführung von Informationstechnologien führt nun in vielen Betrieben in der Tat zu einem Abbau von Arbeitsplätzen und zu einer wesentlichen Veränderung der Arbeitsvollzüge und Arbeitsbedingungen. Sie kann zur Auslagerung von Aufgaben, insbesondere zur Einführung elektronischer Fernarbeit führen. Sie hat andersartige, neue Belastungen, insbesondere psychischer Natur, zum Gegenstand und ermöglicht das Anlegen umfassender Datensammlungen über die Arbeitnehmer. Da genügt dann Beratung eben nicht. Solange die bisher beschränkte Form der Mitbestimmung aufrechterhalten bleibt, besteht die Gefahr, daß den Betriebsräten der Boden unter den Füßen weggezogen wird und ihre Mitbestimmung an allen wesentlichen Fragen, die mit der Einführung neuer Technologien zusammenhängen, vorbeigeht. Dies kann nicht mehr weiter hingenommen werden. Die Einführung neuer Technologien führt im Ergebnis dazu, daß über das Geschehen im Betrieben weniger mitbestimmt werden kann, als dies vor zehn Jahren der Fall war, weil die heute relevanten Fragen eben nicht in dem Katalog des geltenden Rechts aufgezählt sind. Das sind die engen Bezüge, die zu unserem Gesetzentwurf über die Ausweitung der Mitbestimmung bei neuen Technologien und beim Arbeitnehmerdatenschutz und der Benennung des Datenschutzbeauftragten im Betrieb geführt haben. Darüber hinaus gibt es noch weitergehende Auswirkungen der neuen Technologien, die über die Betriebsgrenzen hinausgreifen, die den Arbeitnehmerbegriff verändern, die beispielsweise Konsequenzen ziehen lassen müssen im Bereich neuer Formen von Mitbestimmung, etwa der Produktmitbestimmung. Nach meiner Auffassung würde auch der gegenwärtige Tendenzschutzparagraph den Erfordernissen der Mitbestimmung bei der Entwicklung neuer Technologien nicht mehr gerecht werden und gehört damit für Presseunternehmen weg. ({14}) Das sind nur einige Beispiele, die genannt werden müssen, wenn man ernsthaft das Problem einer Reform der Betriebsverfassung angeht. Genau diesen Erfordernissen gegenüber erweist sich Ihr Entwurf als völlig ungenügend und ungeeignet und wird deshalb von der SPD-Fraktion, wie die Kollegen meiner Fraktion vorher schon gesagt haben, abgelehnt. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit. ({15})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Zur Abgabe einer Erklärung nach § 30 erteile ich das Wort der Abgeordneten Frau Unruh.

Gertrud Unruh (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002358, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Schönen Dank, Herr Präsident! Sehr geehrter Herr Doktor Alexander Warrikoff! ({0}) Sie haben eine Zwischenfrage von mir abgelehnt ({1}) mit der Bemerkung, ich würde unqualifizierte Zwischenfragen stellen, ({2}) haben aber gleichzeitig andere Zwischenfragen zugelassen. Deshalb meine persönliche Erklärung. Sie machen sich mit Recht große Sorgen um weibliche leitende Angestellte. Ich wollte Sie fragen: Machen Sie sich genauso große Sorgen darum, daß Arbeitnehmerinnen anteilsgemäß in die Betriebsräte kommen? Ich wollte Sie genauso fragen - und diese Frage sage ich jetzt als Abschluß; das ist meine persönliche Erklärung - , ob Sie nicht - in meinen Augen mutmaßlich sehr unqualifiziert - politisch als Geschäftsführer von NUKEM gearbeitet haben. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Herr Abgeordneter Warrikoff, nach § 31 kann ich Ihnen in diesem Zusammenhang nicht das Wort erteilen. ({0}) - Nach § 30? - Bitte.

Dr. Alexander Warrikoff (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002429, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin Unruh! Sie sind eine Dame, die liebenswürdig aussieht. ({0}) Sie sind sogar eine Dame, von der ich vermute, daß Sie liebenswürdig sind. ({1}) Ich muß Ihnen allerdings bestätigen, daß es Ihnen immer wieder gelingt, diese Liebenswürdigkeit auf das deutlichste zu verstecken. Und ich dachte - ohne die persönlichen Beziehungen zu Ihnen belasten zu wollen, ({2}) die hervorragend sind -, daß es Ihnen mal guttäte, wenn irgend jemand Ihnen mit denselben Methoden, mit denen Sie sich gegen Kollegen nicht nur im Ausschuß, sondern auch hier im Plenum in Attacken begeben, erwidern würde. ({3})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Bevor ich zur Abstimmung komme, erteile ich das Wort nach § 31 dem Herrn Abgeordneten Dreßler. Bitte sehr.

Rudolf Dreßler (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000420, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Gemäß § 31 der Geschäftsordnung gebe ich folgende Erklärung auch im Namen der SPD-Bundestagsfraktion ab. Die SPD-Bundestagsfraktion hat, wie Sie wissen, einen eigenen Gesetzentwurf zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung im Bundestag eingebracht. Der Art. 3 des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen zur Montan-Mitbestimmung bleibt hinter diesem Entwurf zurück. Trotzdem wird die SPD-Fraktion diesem Artikel in der zweiten Lesung zustimmen, weil damit ein - wenn auch unzureichender - Ansatz zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung gegeben ist. Alle anderen Artikel des Gesetzentwurfs der Koalitionsfraktionen zur Betriebsverfassung und zu den Sprecherausschüssen für leitende Angestellte können wir nur entschieden ablehnen. Deshalb werden wir in der Schlußabstimmung gegen das Gesetz insgesamt stimmen. Ich danke Ihnen. ({0})

Dr. h. c. Richard Stücklen (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002281

Wir kommen zunächst zur Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktion der SPD zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung. Ich rufe auf die §§ 1 bis 8, Einleitung und Überschrift. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? ({0}) - Wir sind in der Abstimmung, Herr Abgeordneter Stratmann. - Bei einer Reihe von Enthaltungen aus der Fraktion DIE GRÜNEN abgelehnt. ({1}) - Meine Damen und Herren, ich habe ja aufgerufen, wer zustimmen will, und wenn Sie das nicht mitbekommen haben - ({2}) - Nein, es besteht kein Anlaß für eine Wiederholung. Meine Damen und Herren, damit unterbleibt nach § 83 Abs. 3 unserer Geschäftsordnung die weitere Beratung. Wir kommen jetzt zur Einzelberatung und Abstimmung über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP zur Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes, über Sprecherausschüsse der leitenden Angestellten und zur Sicherung der Montan-Mitbestimmung in der Ausschußfassung. Interfraktionell ist Einvernehmen darüber erzielt worden, zunächst über Art. 3 in der Ausschußfassung abzustimmen. Wer für diesen Art. 3 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Bei Gegenstimmen aus der Fraktion DIE GRÜNEN ist dieser mit großer Mehrheit angenommen. ({3}) Wir kommen jetzt zu Art. 1: Zu Art. 1 - Änderung des Betriebsverfassungsgesetzes - liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD sowie der Fraktion DIE GRÜNEN vor. Wer für diesen Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3605 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! ({4}) - Einen Augenblick bitte! Herr Abgeordneter Kleinert, Ihre Fraktion hat heute Zeitzünderverluste, sie zündet zu spät, aber ich wiederhole es, weil die Abstimmung noch nicht abgeschlossen war. ({5}) - Die Abstimmung war nicht abgeschlossen. Wer für den Änderungsantrag auf Drucksache 11/3605 zu Art. 1 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer ist dagegen? - Enthaltungen? - Keine. Also ist dieser Antrag mit Mehrheit abgelehnt. Wer für den Änderungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3630 stimmt, den bitte ich um ein Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen. Mit großer Mehrheit ist dieser Antrag abgelehnt. Ich rufe die Art. 1, 2 und 4 in der Ausschußfassung auf. Meine Damen und Herren, die Fraktion der SPD hat hierzu namentliche Abstimmung verlangt. Interfraktionell ist vereinbart worden, daß über die Art. 1, 2 und 4 gemeinsam abgestimmt werden kann. Ich eröffne die Abstimmung. Meine Damen und Herren, ich frage, ob noch ein Mitglied des Hauses die Absicht hat, sich an der Abstimmung zu beteiligen. - Können die Parlamentarischen Geschäftsführer ein Signal geben, ob sie der Auffassung sind, daß die Ihnen anvertrauten Schäflein abgestimmt haben? ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das an der Abstimmung teilnehmen will, es aber bisher noch nicht getan hat? Kann Vizepräsident Westphal ich die Abstimmung schließen? - Dann schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen. Ich darf Ihre Aufmerksamkeit erbitten. Wir können mit der Abstimmung über die Art. 5 bis 7 fortfahren. - Ich darf Sie bitten, Platz zu nehmen. Ich rufe die Art. 5 bis 7, Einleitung und Überschrift in der Ausschußfassung auf und stelle diese zur Abstimmung. Es handelt sich u. a. um die Neufassung des Betriebsverfassungsgesetzes. Wer den aufgerufenen Vorschriften zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Gibt es Enthaltungen? - Dann sind diese Vorschriften mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen. Damit ist die zweite Beratung geschlossen. Wir müssen, bevor wir zur dritten Beratung kommen und die Schlußabstimmung machen können, das Ergebnis der namentlichen Abstimmung hier vorliegen haben. Ich bitte Sie also um ein wenig Geduld. Meine Damen und Herren, darf ich Sie um Aufmerksamkeit für den Fortgang unserer Beratung bitten. - Ich gebe Ihnen zunächst einmal das von den Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstimmung zu Art. 1, 2 und 4 des Betriebsverfassungsgesetzes in der Ausschußfassung - Drucksache 11/3604 - bekannt. Von den voll stimmberechtigten Mitgliedern des Hauses haben 409 ihre Stimme abgegeben; davon war keine Stimme ungültig. Mit Ja haben 234 Abgeordnete, mit Nein 175 gestimmt. Es hat keine Enthaltung gegeben. Von den 17 Berliner Abgeordneten, die ihre Stimme abgegeben haben, war keine ungültig. Mit Ja haben 10 Abgeordnete, mit Nein 7 gestimmt. Auch hier hat es keine Enthaltungen gegeben. Endgültiges Ergebnis Abgegebene Stimmen 407 und 17 Berliner Abgeordnete; davon ja: 232 und 10 Berliner Abgeordnete nein: 175 und 7 Berliner Abgeordnete Ja CDU/CSU Austermann Bauer Bayha Dr. Becker ({0}) Biehle Dr. Blank Dr. Blens Böhm ({1}) Börnsen ({2}) Dr. Bötsch Bohlsen Borchert Breuer Bühler ({3}) Carstensen ({4}) Clemens Dr. Daniels ({5}) Daweke Frau Dempwolf Dörflinger Dr. Dollinger Doss Dr. Dregger Echternach Ehrbar Eigen Engelsberger Eylmann Dr. Faltlhauser Dr. Fell Frau Fischer Fischer ({6}) Francke ({7}) Dr. Friedrich Fuchtel Funk ({8}) Ganz ({9}) Frau Geiger Geis Dr. von Geldern Gerstein Gerster ({10}) Glos Dr. Göhner Dr. Götz Gröbl Dr. Grünewald Günther Dr. Häfele Harries Frau Hasselfeldt Haungs Hauser ({11}) Hauser ({12}) Hedrich Freiherr Heereman von Zuydtwyck Helmrich Dr. Hennig Herkenrath Hinrichs Hinsken Höffkes Höpfinger Hörster Dr. Hoffacker Frau Hoffmann ({13}) Dr. Hornhues Dr. Hüsch Graf Huyn Jäger Dr. Jahn ({14}) Dr. Jobst Jung ({15}) Jung ({16}) Kalb Dr.-Ing. Kansy Frau Karwatzki Kiechle Klein ({17}) Dr. Köhler ({18}) Kolb Kossendey Kraus Krey Kroll-Schlüter Dr. Kronenberg Dr. Kunz ({19}) Lamers Dr. Lammert Dr. Langner Lattmann Dr. Laufs Lenzer Frau Limbach Link ({20}) Link ({21}) Linsmeier Lintner Dr. Lippold ({22}) Louven Lowack Frau Männle Magin Marschewski Dr. Meyer zu Bentrup Michels Dr. Möller Müller ({23}) Nelle Neumann ({24}) Dr. Olderog Oswald Frau Pack Pesch Pfeffermann Dr. Pinger Dr. Pohlmeier Dr. Probst Rauen Rawe Reddemann Regenspurger Repnik Dr. Riedl ({25}) Dr. Riesenhuber Frau Rönsch ({26}) Frau Roitzsch ({27}) Rossmanith Rühe Dr. Rüttgers Sauer ({28}) Sauer ({29}) Sauter ({30}) Dr. Schäuble Scharrenbroich Schartz ({31}) Schemken Schmidbauer Schmitz ({32}) Dr. Schneider ({33}) Schreiber Dr. Schulte ({34}) Schwarz Dr. Schwarz-Schilling Dr. Schwörer Seehofer Seesing Seiters Spilker Spranger Dr. Sprung Dr. Stark ({35}) Dr. Stavenhagen Dr. Stercken Dr. Stoltenberg Frau Dr. Süssmuth Susset Tillmann Dr. Todenhöfer Dr. Uelhoff Uldall Dr. Unland Frau Verhülsdonk Vogel ({36}) Vogt ({37}) Dr. Voigt ({38}) Dr. Vondran Dr. Voss Dr. Waigel Graf von Waldburg-Zeil Dr. Warnke Dr. Warrikoff Dr. von Wartenberg Weirich Weiß ({39}) Werner ({40}) Frau Will-Feld Wilz Wimmer ({41}) Windelen Frau Dr. Wisniewski Wissmann Dr. Wittmann Würzbach Dr. Wulff Zeitlmann Zierer Zink Berliner Abgeordnete Frau Berger ({42}) Feilcke Kalisch Kittelmann Dr. Mahlo Dr. Neuling Schulze ({43}) Straßmeir Vizepräsident Westphal FDP Frau Dr. Adam-Schwaetzer Baum Beckmann Bredehorn Eimer ({44}) Engelhard Frau Folz-Steinacker Gallus Gattermann Genscher Gries Grünbeck Grüner Frau Dr. Hamm-Brücher Dr. Haussmann Heinrich Dr. Hirsch Dr. Hitschler Dr. Hoyer Kleinert ({45}) Kohn Dr.-Ing. Laermann Mischnick Neuhausen Nolting Richter Rind Frau Dr. Segall Frau Seiler-Albring Dr. Solms Dr. Thomae Timm Wolfgramm ({46}) Frau Würfel Berliner Abgeordnete Hoppe Lüder Nein SPD Frau Adler Amling Dr. Apel Bachmaier Bahr Bamberg Becker ({47}) Frau Becker-Inglau Bernrath Bindig Frau Blunck Dr. Böhme ({48}) Börnsen ({49}) Brandt Büchler ({50}) Dr. von Bülow Frau Bulmahn Buschfort Catenhusen Conradi Frau Dr. Däubler-Gmelin Daubertshäuser Duve Dr. Ehmke ({51}) Erler Esters Ewen Frau Faße Fischer ({52}) Frau Fuchs ({53}) Frau Ganseforth Gansel Dr. Gautier Gerster ({54}) Gilges Frau Dr. Götte Großmann Grunenberg Dr. Haack Haack ({55}) Frau Hämmerle Frau Dr. Hartenstein Hasenfratz Dr. Hauchler Heistermann Heyenn Hiller ({56}) Dr. Holtz Horn Huonker Jahn ({57}) Jaunich Dr. Jens Jungmann Kastning Kiehm Kirschner Kißlinger Klose Kolbow Koltzsch Koschnick Kretkowski Kühbacher Kuhlwein Lambinus Leidinger Leonhart Lutz Frau Matthäus-Maier Menzel Dr. Mertens ({58}) Müller ({59}) Müller ({60}) Müntefering Nagel Frau Dr. Niehuis Dr. Niese Niggemeier Dr. Nöbel Frau Odendahl Oesinghaus Oostergetelo Opel Dr. Osswald Paterna Dr. Penner Peter ({61}) Pfuhl Porzner Poß Reimann Frau Renger Reuter Rixe Roth Schäfer ({62}) Schanz Schluckebier Frau Schmidt ({63}) Schmidt ({64}) Dr. Schöfberger Schreiner Schröer ({65}) Schütz Seidenthal Frau Seuster Sielaff Sieler ({66}) Singer Frau Dr. Skarpelis-Sperk Dr. Soell Frau Dr. Sonntag-Wolgast Dr. Sperling Stahl ({67}) Steiner Frau Steinhauer Stiegler Dr. Struck Frau Terborg Frau Dr. Timm Frau Traupe Urbaniak Vahlberg Voigt ({68}) Weiermann Frau Weiler Dr. Wernitz Westphal Frau Weyel Dr. Wieczorek Wieczorek ({69}) Frau Wieczorek-Zeul Wiefelspütz von der Wiesche Wimmer ({70}) Wischnewski Dr. de With Wittich Zander Zumkley Berliner Abgeordnete Dr. Mitzscherling Stobbe Wartenberg ({71}) DIE GRÜNEN Brauer Dr. Briefs Dr. Daniels ({72}) Ebermann Frau Flinner Frau Garbe Häfner Frau Hillerich Hüser Frau Kelly Kleinert ({73}) Dr. Lippélt ({74}) Dr. Mechtersheimer Frau Nickels Frau Oesterle-Schwerin Frau Rust Frau Saibold Frau Schilling Frau Schoppe Stratmann Frau Teubner Frau Dr. Vollmer Volmer Weiss ({75}) Frau Wilms-Kegel Frau Wollny Berliner Abgeordnete Frau Olms Sellin Fraktionslos Wüppesahl Damit sind diese Artikel angenommen. Wir treten nun in die dritte Beratung ein und kommen zur Schlußabstimmung über das Gesetz. Wer dem Gesetzentwurf zuzustimmen wünscht, den bitte ich, sich zu erheben. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieses Gesetz mit . der Mehrheit der Stimmen der Koalition angenommen worden. Wir stimmen jetzt über den Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN auf Drucksache 11/3624 ab. Wer stimmt für diesen Antrag? Ich bitte ums Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist dieser Antrag mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD abgelehnt worden. Ich rufe nun die Zusatzpunkte 7 und 8 der Tagesordnung auf: ZP7 Beratung des Antrags der Abgeordneten Fuchs ({76}), Dr. Böhme ({77}), Erler, Gerster ({78}), Heistermann, Horn, Kolbow, Leonhart, Steiner, Zumkley, Leidinger, Opel, Dr. Ehmke ({79}), Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Vizepräsident Westphal Rücktritt der Bundesrepublik Deutschland von dem Entwicklungsvorhaben „Europäisches Jagdflugzeug/Jagdflugzeug 90" - Drucksache 11/3018 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({80}) Haushaltsausschuß ZP8 Beratung des Antrags der Fraktion DIE GRÜNEN Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus dem Entwicklungsvorhaben Jagdflugzeug 90 - Drucksache 11/3592 Überweisungsvorschlag: Verteidigungsausschuß ({81}) Haushaltsausschuß Meine Damen und Herren, nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte 45 Minuten vorgesehen. - Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Fuchs ({82}). ({83}) - Ich wäre dankbar für Aufmerksamkeit für die Rednerin. Die Kollegen, die nun ihren Teil des Zuhörens abgeleistet haben, bitte ich, ihre Unterhaltung draußen fortzusetzen. - So, Frau Fuchs, bitte schön.

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Herren und Damen! Das teuerste Waffensystem in der Geschichte der Bundeswehr, der Jäger 90, wird nicht nur von der SPD-Fraktion abgelehnt, sondern auch aus den Reihen der Koalitionsfraktionen mit skeptischen bis ablehnenden Stellungnahmen begleitet. Der Kollege Wimmer sagte im Ausschuß, er habe dem Jäger 90 „nur mit Bauchschmerzen" zustimmen können. Herr Feldmann von der FDP ist „einfach dagegen" und „hält gar nichts davon" . Sein Kollege Grünbeck hat sogar einen Aufruf unterschrieben, der sich gegen den Jäger ausspricht. ({0}) Für Herrn Lambsdorff „läßt sich heute noch nicht absehen", ob man „an dem Projekt ,Jäger 90' festhalten" sollte. Herr Mischnick hat noch im Sommer dieses Jahres einen allgemeinen Kassensturz in Sachen Verteidigungsausgaben verlangt. Sie wären gut beraten gewesen, meine Herren und Damen von der FDP, wenn Sie diesen Kassensturz auch durchgesetzt hätten. ({1}) Dann wäre nämlich auch Ihnen aufgegangen, daß es eine finanziell abgesicherte Bundeswehrplanung nicht gibt. Im Gegenteil: Im Verteidigungsministerium herrscht ein grandioses Planungschaos. Da werden an dem öffentlich gefeierten Bundeswehrplan, der für zwölf Jahre gelten soll, ständig Veränderungen vorgenommen. Geplante Waffenbeschaffungen werden gestreckt, geschoben und gestrichen, weil ganz einfach das Geld nicht da ist und weil das Ministerium unsere Warnungen in den Wind geschlagen hat. Da präsentiert man uns mit großem Gestus eine neue Heeresstruktur, und wenige Monate später, im Mai dieses Jahres, hören wir, daß sich der Inspekteur des Heeres vor der Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Fraktion beklagt, daß ihm allein für das Heer über 36 Milliarden DM fehlen, um eben diese Planung durchführen zu können. Mitten in dieses Planungschaos hinein kommt der Jäger 90. Schon die offiziell veranschlagten 22,5 Milliarden DM sind eine ungeheure Summe. Aber jeder und jede von uns im Raum weiß, daß das alles Makulatur ist. Der Bundesrechnungshof setzt die Kosten schon höher an und beziffert sie für die Entwicklung, Produktion und Nutzung des Jägers auf fast 46 Milliarden DM. Der Bundesrechnungshof hat ebenfalls darauf hingewiesen, daß in diesen 46 Milliarden DM Preissteigerungen und Mittel zur Abdeckung der technologischen Risiken noch gar nicht enthalten sind. An technologischen Risiken ist aber wahrhaft kein Mangel: Die Zelle, das Triebwerk, Avionik und Ausrüstung des Jägers 90 sollen zum größten Teil aus neuen Technologien bestehen, die erst noch entwickelt werden müssen, die es also noch gar nicht gibt. Zur Abdeckung der daraus entstehenden Kostenrisiken sind lächerliche 332 Millionen DM vorgesehen. Die Triebwerke sollen gar erst drei bis fünf Jahre nach dem Jäger fertig sein. ({2}) - So ist es, Herr Rühe. Erkundigen Sie sich einmal. Wenn das kein Beispiel für aberwitzige Planung ist, dann sagen Sie mir einmal, was dafür ein Beispiel wäre. ({3}) Preissteigerungen - der Bundesrechnungshof beziffert allein die über die allgemeine Inflationsrate hinausgehenden Kostensteigerungen mit erfahrungsgemäß 3,7 % pro Jahr - kommen in der fabelhaften Rechnung des Verteidigungsministeriums natürlich überhaupt nicht vor. Die offizielle Kostenrechnung ist bis zur Peinlichkeit geschönt. Sie hat mit der Realität nichts zu tun, sehr viel aber mit dem Wunsch, das Projekt „Jäger 90" um jeden Preis durch den Deutschen Bundestag zu bringen. Die wahren Lebenswegkosten des Jägers 90 werden nach unseren Berechnungen mindestens 100 Milliarden DM betragen. Das bezieht sich aber nur auf den Anteil der Bundesrepublik Deutschland von 33 % Das Gesamtprojekt auf europäischer Ebene wird damit um die 300 Milliarden DM verschlingen. ({4}) Es wäre ein miserables Zeichen für die Zukunftsfähigkeit Europas, wenn der westeuropäische Binnenmarkt Frau Fuchs ({5}) mit einer derart gigantischen Fehlleitung von Mitteln beginnen würde. ({6}) Nun hat es bis vor kurzem Unsicherheiten gegeben, ob Spanien den Entwicklungsvertrag unterschreibt und seinen Anteil von 13 % aufrechterhält. Spanien hat vor wenigen Tagen unterschrieben, aber nur um den Preis einer Zusatzvereinbarung, die man aus gutem Grund dem Parlament vorher nicht vorgelegt hat. Spanien hat ja Schwierigkeiten, seinen Kostenanteil von 13 % an der Entwicklung industriell abzudekken. Die spanische Industrie ist dazu nicht in der Lage. Um Spanien dennoch im Projekt „Jäger 90" zu halten und um zu verhindern, daß die anderen Teilnehmerstaaten größere Anteile zeichnen müssen - Sie erinnern sich, daß ein FDP-Parteitag dies als Ausstiegsgrund genannt hat -, haben die Minister Spanien versprochen, daß es außerhalb der laufenden Phase - das kann ja nur die Produktionsphase sein - Aufträge bekommt oder Aufträge aus ganz anderen Rüstungsprojekten. Damit haben die Minister Jahre, bevor irgendein Parlament über den Eintritt in die Produktionsphase beraten, geschweige denn beschlossen hat, den Spaniern bereits Aufträge aus dieser Produktionsphase zugesagt. ({7}) Das nenne ich eine wahrhaft souveräne Mißachtung der Parlamente. ({8}) Da nützt es Ihnen, Herr Wimmer, auch gar nichts, wenn Sie in Zeitungsinterviews darauf hinweisen, daß Sie „jetzt nur für den Entwicklungsanteil gestimmt" hätten, um gegen ungerechtfertigte Kostenentwicklungen noch etwas in der Hand zu haben. Dem ist von Ihrem eigenen Minister längst vorgegriffen worden. So witzig finde ich das gar nicht! Meine Herren und Damen, der Jäger 90 ist nicht nur finanzpolitischer Wahnsinn, das „SDI der Europäer", wie der Kollege Feldmann einmal treffend bemerkte, der Jäger 90 ist auch verteidigungspolitisch überflüssig und abrüstungspolitisch schädlich; ({9}) denn das Jagdflugzeug 90 wird nicht nur zur Luftabwehr dienen, sondern auch zum Angriff. Es soll Begleitschutz für den Tornado fliegen, für ein offensives Kampfflugzeug also, das tief in gegnerisches Gebiet eindringen kann. ({10}) - Sie müssen sich einmal schlau fragen! - Genau das aber ist unvereinbar mit dem Ziel, zur Stärkung der Stabilität in Europa die Angriffspotentiale in Ost und West abzubauen. Der Jäger 90 wird die offenkundige Neigung der NATO, die Luftstreitkräfte möglichst lange aus dem Abrüstungsprozeß herauszuhalten, weiter zementieren. Er nimmt uns politischen Handlungsspielraum bei der Abrüstung. Er macht Abrüstung in Europa noch schwerer. Ich habe dem nichts hinzuzufügen, was der Kollege Feldmann zur abrüstungspolitischen Bedeutung des Jägers 90 gesagt hat. ({11}) - Der ist aus gutem Grunde nicht da, Kollege Ehmke. Herr Feldmann sagte: Er paßt eindeutig nicht in die Landschaft. Da die ersten Jäger 1997 ausgeliefert werden sollen, wird das Bedrohungsbild von gestern bis in das nächste Jahrtausend festgeschrieben. Es macht keinen Sinn, erst teuer aufzurüsten, um später abzurüsten. ({12}) Das sagte Herr Feldmann. Und recht hat er! ({13}) Warum also wurde der Jäger 90 dennoch beschlossen, wo jeder und jede weiß, daß wir damit auf einer finanziellen Zeitbombe sitzen? Etwa, weil er militärisch unentbehrlich ist oder weil es auf dem Weltmarkt keine billigeren Alternativen für leichte Jäger gegeben hätte? Nein, das wahre Motiv für den Jäger ist, daß nur er „die größte Umwegfinanzierung aller Zeiten" ermöglicht hat, wie Herr Lambsdorff das ausdrückt. Es geht hier in Wahrheit gar nicht in erster Linie um militärische Fragen. Es geht um die größte Industriesubvention in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. ({14}) Es geht hier um den Eintrittspreis von Daimler-Benz bei MBB. Hören wir dazu einen fachkundigen Zeugen, Sepp Hort, den ehemaligen stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden von MBB. Er sagte in einem Interview: Ich weiß nur aus Gesprächen mit Herren von Daimler, daß eine positive Entscheidung der Bundesregierung für den Jäger 90 immer eine Vorbedingung war. Das ist die Wahrheit, meine Herren und Damen von der Koalition, die Sie nicht hören wollen. ({15}) Und die Wahrheit ist auch, daß sich die Mehrheit dieses Hauses hat erpressen lassen von jenen Legenden, die Herr Vogels von MBB und andere jahrelang landauf, landab verkündet haben, als sie sagten: Wer aus dem Jäger aussteigt, der steigt auch aus dem Airbus aus. Heute stehen wir vor einem Trümmerhaufen. Die Mehrheit des Deutschen Bundestages hat unter dem Deckmantel militärischer Argumente mit der größten Subvention in der bundesdeutschen Geschichte geholfen, die Übernahme von MBB durch Daimler-Benz zu finanzieren. Und das ist Bankrott der Politik. ({16}) Frau Fuchs ({17}) Meine Herren und Damen, es ist uns nicht verborgen geblieben, daß diese neue Machtzusammenballung auch in der CDU/CSU zu einer Art neuer Nachdenklichkeit geführt hat. Herr Friedmann spricht davon, daß Daimler und MBB 70 % der Entwicklungs-und 60 % der Beschaffungsprogramme im militärischen Bereich vereinigten. Diese neue Nachdenklichkeit hat allerdings noch keine Folgen gezeigt. ({18}) Aber ich will Ihnen nicht vorenthalten, zu welch grundsätzlichen Fragestellungen sich der Kollege Wimmer in einem Interview vorgetastet hat, ({19}) als er sagte: Wir haben bei derartigen internationalen Waffenprojekten inzwischen Größenordnungen erreicht, daß man sich fragen muß, ob ein nationales Parlament überhaupt noch in die Lage versetzt wird, dazu eine Entscheidung zu treffen. Beteiligt sind ja die Luftwaffe, das Verteidigungsministerium, die Industrie und die europäischen Partner. Das heißt, es steht, wenn sie sich einig sind, so viel Wissen vor mir, daß ich mich fragen muß, wo denn da überhaupt noch unsere parlamentarischen Kontrollmöglichkeiten sind. Deswegen laufen wir bei diesen Dingen so ein bißchen neben wichtigen Entscheidungsprozessen her. Die Frage ist, ob wir damit in der Verfassungswirklichkeit noch parlamentarische Demokratie durchführen können. Das ist ein Grundsatzproblem.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Biehle?

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Ja, gerne.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Biehle.

Alfred Biehle (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000176, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Verehrte Frau Kollegin, ich will mich nicht darüber beschweren, daß Sie mich nicht zitiert haben, ({0}) aber ich frage Sie: Wäre Ihnen nicht der Stoff für Ihre Rede ausgegangen, wenn Sie nicht CDU-Kollegen oder CSU-Kollegen der Reihe nach zitiert hätten? ({1})

Katrin Fuchs (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000614, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Lieber Kollege Biehle, ich wäre ja sehr froh, wenn ich noch sehr viel mehr Kollegen aus Ihren Reihen zitieren könnte, denn dann hätten wir heute die Mehrheit gegen den Jäger. ({0}) Herr Wimmer, das, was ich soeben vorgelesen habe, ermöglicht, so finde ich, interessante und wichtige Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen dem militärisch-industriellen Komplex und der parlamentarischen Demokratie in unserem Land. In der Tat, wir sind neben den Entscheidungen hergelaufen. Die wahren Entscheidungen sind auf Konzernetagen und nicht im Parlament gefallen. Die Mehrheit dieses Hauses hat das alles unter falschen Vorzeichen abgesegnet. - Auch wenn Sie lachen, Herr Wimmer: Ich finde es schlimm, wie beflissen trotz aller Zweifel und Skepsis Politik und Militär der Industrie am Ende doch in die Hände gearbeitet haben. ({1}) Das ist ein Triumpf des militärisch-industriellen Komplexes und eine Niederlage der parlamentarischen Demokratie. ({2}) Die Bürger und Bürgerinnen fragen uns: Wer regiert hier eigentlich: ({3}) hinter Zweckargumenten versteckte Industrieinteressen oder die Versammlung der gewählten Volksvertreter und Volksvertreterinnen? ({4}) Hier stellt sich die Frage nach dem Selbstverständnis des Parlaments, und es stellt sich die weitere Frage, ob das Parlament überhaupt noch in der Lage ist, in so wesentlichen Fragen souverän und selbständig zu entscheiden. ({5}) Diese Zweifel, meine Herren und Damen, sind der tiefere Grund für den allenthalben beklagten Glaubwürdigkeitsverlust der Politik, für das Mißtrauen der Bürger und Bürgerinnen, für die Politikmüdigkeit und für die verbreitete Auffassung von der Politik als schmutzigem Geschäft. Solange Dutzende von Milliarden DM für Wahnsinnsprojekte vom Schlage des „Jägers 90" aus dem Fenster geworfen werden, ({6}) während gleichzeitig alten Leuten das Taxigeld für die Fahrt zum Arzt gestrichen wird, können Sie sich jegliches Gerede von Glaubwürdigkeit schenken. ({7}) Ich kann Ihnen, meine Herren und Damen von der Koalition, heute nur noch sagen: Lassen Sie sich von Ihrem kleinen Erfolg, daß Spanien das Projekt „Jäger 90" nun doch noch unterschrieben hat, nicht täuschen. Wir werden weiterhin gegen dieses unverantwortliche Mammutprojekt angehen. Wir können auch noch in der Entwicklungsphase aussteigen; ({8}) eine sozialdemokratisch geführte Regierung würde aussteigen. ({9}) Das wären verlorene 6 Milliarden DM, die Sie verschuldet haben; das würde jedoch zu einer Ersparnis von Dutzenden von weiteren Milliarden DM führen, die sonst ebenfalls verloren wären. Die Mehrheit unseres Volkes sieht das ganz genauso wie wir. Frau Fuchs ({10}) Ich habe nach wie vor die Hoffnung, daß bei einigen von Ihnen, insbesondere aus den Reihen der FDP -Herr Mischnick, ich freue mich, daß Sie bestätigt haben, daß wir in der Entwicklungsphase aussteigen können; ich hoffe, daß Sie uns vorangehen; ({11}) Sie dürfen nur nicht sagen, daß wir es tun können, sondern müssen sagen, daß wir es tun werden, daß wir es tun wollen -, ({12}) daß also bei einigen von Ihnen noch ein bißchen mehr Einsicht einkehrt und daß es die FDP im Laufe der Zeit wagen wird, entsprechend dem zu handeln, was sie längst als richtig erkannt hat. Deswegen stellt die SPD-Fraktion den Antrag „Rücktritt der Bundesrepublik Deutschland von dem Entwicklungsvorhaben ,Europäisches Jagdflugzeug/ Jagdflugzeug 90' ' jetzt nicht zur Abstimmung, ({13}) sondern wir beantragen, diesen Antrag an die Ausschüsse zu überweisen, denn wir wollen Ihnen Zeit und Gelegenheit geben, Ihre Meinung doch noch einmal zu überdenken. ({14})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Francke ({0}).

Klaus Francke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000569, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr verehrte Frau Kollegin Fuchs, in Ihrem heutigen Horoskop steht: Entspannen Sie sich, gehen Sie schwimmen. Nach dem Inhalt Ihrer Rede kann ich mich diesem Horoskop nur dringend anschließen. ({0}) Die Mehrheit des Verteidigungsausschusses hat im Frühjahr diesen Jahres ihre Zustimmung zur Entwicklung des Jagdflugzeuges gegeben, und zwar nach einer sorgfältigen Diskussion. Dabei sind wir auch keinerlei Erpressung unterlegen gewesen. Dafür waren zwei Gründe maßgeblich: zum einen die militärische Bedrohungslage, die sich seit den 70er Jahren durch die Modernisierung des taktischen Luftkriegpotentials des Warschauer Paktes zuungunsten der NATO entwickelt hat. Der Warschauer Pakt ist heute in der Lage, zu Beginn eines Konfliktes insgesamt 5 400 Kampfflugzeuge und Hubschrauber ({1}) offensiv gegen Ziele in Mitteleuropa einzusetzen. Dabei sind die Ziele in der Bundesrepublik weniger als 20 Minuten entfernt. Die taktischen Luftstreitkräfte des Warschauer Paktes sind mit ihrer Fähigkeit zu weiträumigen Operationen ein wesentlicher Bestandteil der konventionellen Invasionsfähigkeit der anderen Seite. Der zweite Grund für den erwähnten Beschluß des Verteidigungsausschusses ist der Bedarf unserer Luftwaffe, für die bislang geflogene F-4 Phantom gegen Ende der 90er Jahre ein leistungsfähiges Jagdflugzeug als Nachfolgesystem zur Verfügung zu haben, das gleichzeitig in der Lage sein soll, die bodengestützte NATO-Luftverteidigung zu ergänzen. Das Gesamtkonzept der NATO-Luftverteidigung, das sich an der Bedrohung durch den Warschauer Pakt orientiert, verfolgt das Ziel, gegnerische Absichten frühzeitig zu erkennen und den Angreifer so weit vorne wie möglich abzuwehren. Dieses Konzept läßt sich nur verwirklichen, wenn die Bundesluftwaffe ihren Beitrag zur Realisierung leistet. Dementsprechend muß sie auch ausgerüstet sein. Bleibt das Luftverteidigungskonzept gültig - dafür hat sich vor wenigen Tagen auch noch einmal der NATO-Generalsekretär eingesetzt -, ({2}) so ist es notwendig, das Projekt fortzuführen. Entgegen einer vielerorts anzutreffenden vorauseilenden Abrüstungseuphorie hat sich das Rüstungstempo auch unter Gorbatschow - entgegen seinen zahlreichen Ankündigungen - bislang nicht vermindert. Das sollte auch die Opposition in ihre Argumentation einbeziehen. Mit dem Ja zur Entwicklung - ich betone ausdrücklich: zur Entwicklung - hat die Mehrheit des Verteidigungsausschusses in Übereinstimmung mit dem Bundesminister der Verteidigung ein Signal für die Verstärkung der defensiven Komponente unserer Luftwaffe gesetzt. Die aufgeworfene Frage von Alternativen ist, wie Sie wissen, eingehend geprüft worden. ({3}) Aber die Funktionen Zielsuche, Identifizierung, Zielauswahl, Zielverfolgung und -bekämpfung lassen sich in absehbarer Zeit nicht automatisieren. Andererseits wäre eine rein bodengestützte Luftverteidigung weniger verteidigungswirksam und - wie Sie im Grunde genau wissen - sogar teurer. ({4}) Die andere Alternative - Kauf eines Systems im Ausland - wurde ebenfalls eingehend geprüft und aus wohlerwogenen Gründen verworfen. ({5}) Trotz dieser dargelegten Gründe ist uns die Entscheidung für die Entwicklung des Jagdflugzeugs nicht leichtgefallen. Der Finanzierungsbedarf ist erheblich und sicherlich nicht ohne Risiken für andere wichtige Beschaffungs- und Infrastrukturmaßnahmen der Luftwaffe und der anderen Teilstreitkräfte zu dekken. Aber die geradezu abenteuerlichen Rechnungsmodelle, wie wir sie von der SPD vorgelegt bekommen haben, gehen völlig an der Realität vorbei und sind folglich unseriös. ({6}) Francke ({7}) Es ist einfach nicht statthaft, den deutschen Anteil an den Entwicklungskosten, die geplanten Kosten für die Beschaffung und die zu erwartenden Betriebskosten zu addieren, dann mit einer vierprozentigen Inflationsrate hochzurechnen, bereits geleistete Zahlungen und Betriebskosten zu inflationieren, das Ganze dann noch großzügig nach oben aufzurunden und die Phantasiezahl von 100 Milliarden DM in die Welt zu setzen. ({8}) Im übrigen hat sowohl der Bundesrechnungshof wie auch die IABG diese von Ihnen vorgelegte Berechnung bereits als unseriös und als falsch zurückgewiesen. ({9}) Im übrigen: Auf unsere Bemühungen ist es doch zurückzuführen, daß die Entwicklungskosten für das Jagdflugzeug spürbar reduziert und auf 5,8 Milliarden DM ab 1988 begrenzt werden. Ich gehe davon aus, daß der Bundesminister der Verteidigung alles unternimmt, um sicherzustellen, daß diese Grenze auch tatsächlich eingehalten wird. Das gilt auch bei einer etwaigen Neuverteilung der Entwicklungsanteile unter den beteiligten Nationen für den Fall, daß ein Partner doch noch aus dem Entwicklungsprojekt aussteigen sollte. Wir haben dafür gesorgt, daß die technischen Forderungen an das Projekt so festgelegt wurden, daß nicht im weiteren Verlauf der Entwicklung Zusatzforderungen der Bedarfsträger zu erheblichen finanziellen Mehrbelastungen führen. Wir haben dafür gesorgt, daß die Industrie ihr Eigeninteresse an dem Projekt auch dadurch dokumentiert, daß sie die möglicherweise zu erwartenden Entwicklungsrisiken mitträgt. An dieser Stelle ein Wort zur wirtschafts- und technologiepolitischen Bedeutung des Projekts: Die aufgewendeten Finanzmittel fließen fast vollständig in die Industrie unseres Landes zurück. Ungefähr 5 000 hochwertige Arbeitsplätze werden in der Entwicklungsphase in der Bundesrepublik gesichert. Auch wenn dies letztlich kein entscheidendes Kriterium sein kann, so sollte es nicht unberücksichtigt bleiben. ({10}) An dieser Stelle muß ich allerdings auch der Amtsseite, dem Ministerium, ins Stammbuch schreiben, daß sie nach meiner Auffassung mit ihrer bisherigen Politik, keine Angaben über die sogenannten Lebenswegkosten des künftigen Systems zu machen, kaum glücklich taktiert hat. ({11}) In einem Informationspapier vom März dieses Jahres brachte es die Luftwaffe tatsächlich fertig, unter der Überschrift „Nutzungskosten - Lebenswegkosten" ellenlange Ausführungen über die Minimierung zu machen, ohne jedoch in dem gesamten Abschnitt irgendeine Zahl zu nennen. Unter diesen Umständen muß man sich deshalb nicht wundern, wenn Zahlenspiele und Phantasieprodukte aus der Phase der Vermutung langsam in das Stadium der sicheren Erkenntnis der Realität gelangen. Der Bundesminister der Verteidigung, der für das Projekt die Verantwortung trägt, sollte daher im eigenen Interesse für Klarheit sorgen. ({12}) Für die Mehrheit in diesem Hause bleibt die Grundbedingung für die Durchführung des Projektes die Finanzierbarkeit ohne Verdrängungswirkung für andere wichtige Maßnahmen. ({13}) Eine Kostenexplosion darf es nicht geben. Die Mehrheit des Hauses hat zunächst einmal nur die Entwicklungskosten freigegeben, mit der ausdrücklichen Maßgabe, über das Projekt neu zu befinden, wenn sich in der Zeit der Entwicklung die Entscheidungsgrundlagen vom Mai dieses Jahres ändern sollten. Für uns bleibt die Grundlage unserer Beschlüsse vom Frühjahr voll und ganz gültig. Das beinhaltet ein Ja zur Verteidigungsoption unseres Landes, eine rigorose Kostenbegrenzung für dieses Projekt bei allem Verständnis für die industrie- und arbeitspolitischen Konsequenzen einer solchen Entscheidung und eine Bewahrung des Handlungskonzeptes und der Freiheit des Parlaments. ({14}) Meine letzte Bemerkung: Selbstverständlich darf der weitere Entwicklungsprozeß nicht losgelöst werden von möglichen Erfolgen in der Rüstungskontrollpolitik. Auch in dieser Hinsicht gilt das Primat der Politik. ({15})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Schilling.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Die Industrie, insbesondere MBB und Daimler-Benz, Militärs, Verteidigungsminister und Koalitionsfraktionen können offensichtlich den Hals nicht voll genug kriegen. Bandenkriminalität, organisiertes Wirtschaftsverbrechen, maßlose Verschwendung von Steuergeldern, menschenverachtender Zynismus, ({0}) Arroganz der Macht und die phallische Lust an Waffen verbinden sich bei diesen Leuten zu einem bisher einzigartigen kriminellen Akt auf offener Parlamentsbühne.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, darf ich Sie unterbrechen: Diese Art der Sprechweise, die auf andere Kollegen, Politiker und Verantwortliche zielt, ist hier nicht angemessen. Ich erteile Ihnen dazu einen Ordnungsruf. ({0})

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Okay, den nehme ich gerne entgegen, weil ich der Meinung bin, daß das sehr angemessen ist. - Die Mitglieder des Verteidigungsausschusses von der CDU/CSU und der FDP hätten es in der Hand gehabt, nach eingehender Beratung und Prüfung ihres Gewissens ihren jeweiligen Fraktionen die Ablehnung zu empfehlen. Wider besseres Wissen und gegen Ihre eigenen gewonnenen Einsichten zur Sinnlosigkeit des Projekts haben Sie den Beweis für die vollautomatische Eigendynamik des militärisch-industriellen Komplexes geliefert. Sie haben sich kaufen lassen ({0}) und später nicht mehr den Mut gehabt, damit aufzuhören und auszusteigen. Selbst das Argument des Bundesrechnungshofes, daß Sie sich ausschließlich auf Kostenschätzungen der Rüstungslobby verlassen haben, ignorieren Sie einfach. Das ist ein unheimlicher Skandal. ({1}) Sie haben einen weiteren Beitrag geliefert, das parlamentarische System ohnmächtig zu schlagen. Mit unserem Antrag geben wir Ihnen eine weitere Gelegenheit, Ihre unverantwortliche Entscheidung zu korrigieren, eine Entscheidung, die gefährlich, sinnlos und teuer ist. ({2}) Sie ist gefährlich, weil der Jäger 90 ein absolut falsches Signal aus Europa setzt. Er ist eine unerträgliche Provokation, ({3}) weil er die Rüstungsspirale in Gang hält, weil er alle Abrüstungsbemühungen unterläuft, weil er offensive Kriegsführung ermöglicht. Durch den Jäger 90 werden Tiefflug und Lärmterror noch gesteigert. ({4}) Ihre sowieso schon halbherzigen Versuche, hier irgend etwas zu korrigieren, werden durch den Jäger 90 vollends Lügen gestraft. ({5}) Der Jäger 90 ist auch deshalb gefährlich, weil er die Möglichkeiten selektiver nuklearer Einsätze kompensiert, die durch den INF-Vertrag verlorengegangen sind - zu Ihrem größten Bedauern natürlich - . Abrüstung war hier nie vorgesehen. Um Abrüstung ging es in diesem Verteidigungsausschuß noch nie, jedenfalls nicht, solange ich dabei bin. ({6}) Der Jäger 90 ist gefährlich, weil er bei jedem Wetter mit fast doppelter Schallgeschwindigkeit im Tiefflug und in großen Höhen operieren kann, 4,5 t Bomben oder Raketen mit sich tragend. Die Piloten drücken nicht mehr auf den roten Knopf; das Kommando geht über Sprachsignale: „Shoot" löst den Todesschuß aus. Durch Ihre Abstimmung lösen Sie dies praktisch mit aus, bequem von Ihrem Abgeordnetensessel oder von der Regierungsbank aus. Der Jäger 90 ist sinnlos. Gebraucht wird der Jäger 90 nicht; denn der Tornado wurde ja angeblich dazu entwickelt, um all die Aufgaben der Luftwaffe zu übernehmen, die Sie jetzt dem Jäger 90 hier zuschreiben. Die Abstürze, deren Ursache immer „menschliches Versagen" lautet, kommen daher, daß die Piloten dem Druck dieser Technik gar nicht gewachsen sind, schon jetzt nicht und beim Jäger 90 erst recht nicht. ({7}) Wo bleibt bei einer so offensichtlich sinnlosen Entscheidung Ihr Verstand? ({8}) Wenn Sie den schon nicht haben, wo bleibt Ihr Gewissen? Der Jäger 90 ist nicht finanzierbar. ({9}) Die 100 bis 150 Milliarden DM Steuergelder werden so sinnlos hinausgeschmissen. Das bedeutet letztendlich mindestens 16 000 DM pro Steuerzahler oder Steuerzahlerin. Deswegen möchte ich bitten, sich heute anders zu entscheiden. Es wird hier in diesem Haus sozial abgerüstet, damit militärisch aufgerüstet werden kann. ({10}) Die Widersprüche dieses Projekts treffen ja auch das Militär. Die Bundeswehrplanung läßt sich ja überhaupt nicht mehr durchführen. Damit strafen Sie sich in Ihrer Fürsorge gegenüber den Soldaten wiederum selber Lügen; denn es ist wirklich glatt gelogen, wenn Sie angeblich alles für die Soldaten tun wollen, wie Sie immer sagen. ({11}) Die Soldaten sind doch allenfalls noch nützliche Idioten neben all den intelligenten Massenvernichtungswaffen; so werden sie von Ihnen doch gesehen. So stehen sie bei Ihnen doch jetzt da.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, Sie haben Ihre Redezeit bereits überschritten.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie hatten mich auch einmal unterbrochen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Würden Sie bitte zum Schluß kommen.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme ja zum Schluß. Deswegen: Verweigern Sie den Kriegsdienst bei der Bundeswehr! Bei der Luftwaffe: Haben Sie den Mut, die Maschinen nicht zu fliegen! An Sie hier richte ich den Appell: Folgen Sie wenigstens jetzt Ihrem Gewissen, und helfen Sie mit, daß diese Ausgaben, diese Sinnlosigkeit und diese Gefährlichkeit der Bevölkerung erspart bleiben!

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, ich hatte Sie bereits aufgefordert, zum Schluß zu kommen.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich komme zum letzten Satz. Dem Staat muß die Möglichkeit, mit unseren Steuergeldern so umzugehen, entzogen werden, nicht erst bei den Wahlen, sondern jetzt.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Abgeordnete, würden Sie jetzt bitte abbrechen. Ich habe große Geduld gehabt. Würden Sie bitte abbrechen, sonst muß ich Ihnen das Wort entziehen.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin sofort fertig.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Nein, Sie haben mir gesagt, Sie hätten noch einen Satz. Ich habe jetzt schon drei zugelassen.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Sie haben heute jedenfalls die Möglichkeit, zu zeigen, . . .

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, würden Sie bitte das Rednerpult verlassen, Frau Schilling.

Gertrud Schilling (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001969, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

. . . daß Sie wenigstens etwas von dem umsetzen.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Schilling, ich kann auch lauter. ({0}) Hören Sie bitte noch einen Moment zu, Frau Schilling. Würden Sie bitte einen Moment zuhören, wenn ich etwas sage, Frau Schilling. Wir verteidigen hier alle die Meinungsfreiheit, für die unterschiedlichsten Meinungen. Aber es braucht sich hier keiner sagen zu lassen, daß er gekauft worden ist. Deswegen beziehe ich dies noch in meinen Ordnungsruf gegen Sie ein. ({1}) Meine Damen und Herren, der nächste Redner ist Herr Abgeordneter Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Meine sehr verehrte Vorrednerin ist nach eigenen Angaben im Handbuch des Bundestages Kriegsdienstverweigerin. Ich würde sehr begrüßen, wenn sie eines Tages auch Redeverweigerung ausüben würde. ({0}) Der Herr Präsident hat dankenswerterweise einige ihrer Äußerungen bereits zurückgewiesen. Ich werde mich mit dem nicht auseinandersetzen, Frau Schilling, was Sie in dieser Debatte hier gesagt haben, sowenig ich noch bereit sein werde, im Verteidigungsausschuß auf Ihre Argumente einzugehen. ({1}) Meine Damen und Herren, die Entscheidung über die Entsperrung von Haushaltsmitteln für die Entwicklungsphase des Jägers 90 ist am 4. Mai dieses Jahres im Verteidigungs- und im Haushaltsausschuß gefallen. Die Entscheidung dieser beiden Ausschüsse ist während der Beratungen im Rahmen des Einzelplans 14 in der vergangenen Woche bestätigt worden. Vorbehalte für diese Entscheidung gab es überhaupt nur im Hinblick auf die Spanier, weil deren Entscheidung noch ausstand. Inzwischen ist klar, daß sich die Spanier mit ihrem vollen Anteil von 13 % beteiligen werden und daß nur für den Fall, Frau Kollegin Fuchs, daß die Spanier zu irgendeiner technischen Leistung nicht in der Lage sind, diese technische Leistung bei voller Zahlung der Spanier von der Industrie der anderen Partnerländer übernommen wird. Die Spanier sind also ohne jeden Vorbehalt dabei. ({2}) Es gibt deswegen keine neuen Fakten, weder im Hinblick auf die Entscheidung des Verteidigungsausschusses noch - ich füge das für mich persönlich hinzu - auf die Beschlußlage meines Bundesparteitages in Wiesbaden. Ich komme dann aber zu einem für mich sehr wesentlichen Vorwurf im Rahmen dieser Debatte. Ich habe mehrfach öffentlich erklärt, daß der Eintritt in die Entwicklungsphase - der Kollege Francke hat darauf noch einmal hingewiesen - keine endgültige Entscheidung sein wird, sondern daß sich die Fortsetzung der Entwicklung genauso wie der Eintritt in die Produktionsphase nur dann vollziehen wird, wenn nicht etwa in der Zwischenzeit Ergebnisse der Abrüstungsverhandlungen den Verzicht auf ein solches Waffensystem möglich machen. ({3}) Mir ist immer wieder gesagt worden, das sei reine Theorie. Aber, meine Damen und Herren, für diese Theorie gibt es in der Vergangenheit eine ganze Anzahl von Beweisen. ({4}) Ich erinnere Sie daran, daß z. B. das senkrechtstartende Transportdüsenflugzeug DO 31 während der 60er Jahre entwickelt worden ist und heute im Innenhof des Deutschen Museums zu besichtigen ist, weil die Produktion trotz der vorzüglichen Leistungen dieses Flugzeugs nicht aufgenommen wurde. Das zweite Modell war das senkrechtstartende Düsenkampfflugzeug VAK 191. Dieses Modell wurde in etwa parallel in der Anfangsphase des allseits bekannten britischen Kampfflugzeugs Harrier entwickelt. Großbritannien setzte das Programm bis heute fort. Wir haben auch dieses Modell nicht produziert. Es gibt zwei weitere Beispiele; ich will das im Augenblick aus Zeitgründen nicht fortsetzen. Es ist also keine Theorie, wenn ich sage: Wenn Abrüstungsverhandlungen einen Verzicht auf dieses Waffensystem möglich machen, wird Entwicklung gestoppt oder Produktion nicht aufgenommen. Im übrigen kann ja wohl nicht bestritten werden, daß dieses Waffensystem entgegen Ihren Aussagen, Frau Fuchs, ein reines Verteidigungssystem ist, ein reines Jagdflugzeug. ({5}) Weswegen haben wir denn auf Hornet 2000 verzichtet? Weil dieses amerikanische System eben ein Mixtum compositum zwischen Jäger und Jagdbomber ist. Das, was die deutsche Luftwaffe nach eigenen Aussagen braucht - wir haben das in jahrelangen Verhandlungen und Informationen sowohl hier im Lande wie auch mit unseren möglichen Vertragspartnern in den USA geklärt -, ist ein reines Jagdflugzeug. ({6}) - Wir werden im Ausschuß Gelegenheit haben, über Einzelheiten dessen zu reden, was jetzt aus Zeitgründen nicht im einzelnen erörtert werden kann. ({7}) Ich sage Ihnen hier als meine feste Überzeugung und als Ergebnis meiner Eruierungen, daß es sich hier um ein Verteidigungsinstrument und nicht um ein Angriffsinstrument handelt. ({8}) Ich möchte an dieser Stelle genauso deutlich sagen: Alles, was wir an Abrüstungsmaßnahmen oder Verzicht auf Waffensysteme machen, muß darauf geprüft werden, ob damit mehr Sicherheit erzeugt wird oder weniger Sicherheit herbeigeführt wird. ({9}) Deswegen sage ich Ihnen das eine: Solange nicht auf der anderen Seite, auf der nach deren eigenen Angaben ohnehin Überlegenheit besteht, ({10}) zumindest die Produktion eingeschränkt und das Waffensystem entsprechend der anderen Seite auf einem bestimmten Niveau festgeschrieben wird - ({11}) - Frau Fuchs, Sie können so oft dazwischenrufen, wie Sie wollen. Ich habe nur noch drei Minuten Redezeit und werde mich durch Ihre Zwischenrufe im Augenblick auch nicht irritieren lassen können. ({12}) Solange die andere Seite ihr Niveau nicht mindestens festschreibt, solange auf der anderen Seite die Überlegenheit noch gesteigert wird, ist es wohl doch nicht vernünftig, wenn wir auf unserer Seite nicht ein entsprechendes Gegengewicht vorhalten, und zwar nicht, um Krieg zu führen, nicht, um anzugreifen, sondern, wie es unser Prinzip, das Prinzip der NATO seit langem ist, um den Ausbruch eines Krieges zu verhindern, um zu verhindern, ({13}) daß diese Waffen eingesetzt werden müssen. ({14}) Wir wollen nicht weniger Sicherheit, sondern wir wollen mehr Sicherheit. ({15}) Wir wollen wie in der Vergangenheit verhindern, daß aus Spannungen - die es in der Vergangenheit durchaus gegeben hat ({16}) eine kriegerische Auseinandersetzung wird. Aus diesem und aus keinem anderen Grund ({17}) halten wir die Entscheidung für richtig, die wir für die Entwicklung getroffen haben. Frau Kollegin Fuchs, wenn wir für diese Entwicklung 6 Milliarden DM ausgeben sollten und wenn diese 6 Milliarden DM dazu führen sollten, daß der Friede sicherer wird als vorher, dann wäre das gut angelegtes Geld, dann wäre dies weiß Gott gut angelegtes Geld. ({18}) Wir sollten uns das nicht als eine Vorbereitung für Kriegshandlungen von irgend jemandem unterstellen lassen. Wir sehen die Notwendigkeit einer solchen Entscheidung für die Entwicklung eines Jagdflugzeuges. Diese Notwendigkeit haben die Kollegen Ihrer Fraktion im Frühjahr offenbar auch noch gesehen. ({19}) - Dann lesen Sie bitte einmal die Presseerklärung Ihrer eigenen Fraktion nach. Danach sollte nur darauf verzichtet werden, den Jäger 90 zu bauen, aber es wurde empfohlen, das amerikanische Alternativmodell zu kaufen, weil es billiger sei. ({20}) - Ich werde Ihnen nachher, Herr Kollege Horn, die Presseerklärung Ihrer Fraktion noch hier im Saal vorlegen ({21}) und werde Ihnen nachweisen, daß genau das richtig ist, was ich eben gesagt habe. ({22}) - Solange Sie lesen können, werden Sie mir nachher zugeben, daß ich recht habe und nicht Sie. ({23}) Wir werden diese Entscheidung nicht deswegen treffen, weil wir über ein bestimmtes Waffensystem begeistert sind, sondern wir werden sie treffen, weil wir wie in der Vergangenheit, auch nach Prüfung unseres Gewissens, davon überzeugt sind, daß eine solche Entscheidung notwendig und richtig ist. Wir werden jederzeit bereit sein, sie zu korrigieren - ich sage dies noch einmal -, ({24}) wenn das, was Ziel unserer Politik ist, erreicht wird, nämlich Waffen auf beiden Seiten abzubauen, ({25}) Überlegenheiten zu beseitigen, die heute noch eine Gefahr für den Frieden sein können. ({26})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, Herr Würzbach.

Peter Kurt Würzbach (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002572

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele hunderttausend Berufs- und Zeitsoldaten und fast 6 Millionen junge Wehrpflichtige haben inzwischen in der Bundeswehr Dienst geleistet. Ich finde es beschämend, daß ein Abgeordneter unseres Deutschen Bundestages diese, die Dienst für uns getan haben, als nützliche Idioten bezeichnet. Ich weise dies in aller Entschiedenheit zurück. ({0}) Meine Damen und Herren, wir sind verpflichtet, unserer Bundeswehr und in ihr unserer Luftwaffe das zu geben, was sie zu einer angemessenen Ausrüstung braucht, damit sie den von uns gegebenen, von der Mehrheit der Bevölkerung getragenen Verfassungsauftrag ausführen kann. Unsere Bundesregierung hat seit ihrem Amtsantritt das Nötige getan, um dieser Pflicht zu genügen. Wir mußten am Anfang eine Menge Weichenstellungen vornehmen, um manche zu korrigieren, solche der heutigen Opposition, wenngleich ich einräumen will, daß auch von Ihnen für viele Systeme, die eingeführt wurden, entsprechende Beschlüsse hier im Deutschen Bundestag und in den Ausschüssen gefaßt wurden. Unsere Bundeswehr ist nach politischer Zielsetzung, nach Umfang, Struktur und Ausrüstung und operativer Planung defensiv. Sie ist für die strategische Offensive ungeeignet. Das kann so und das soll auch so sein. Dies aber ist unbestritten bei den Streitkräften des Warschauer Pakts, angeführt von der Sowjetunion, grundlegend anders. Allein die Tatsache, daß in der DDR mehr sowjetische Divisionen stationiert sind, als die amerikanische Armee insgesamt unter Waffen hält, spricht hier eine deutliche Sprache. Das Kernproblem für die Sicherheit in Europa bleibt also die konventionelle Überlegenheit des Warschauer Pakts, die sich in der Möglichkeit zur militärischen strategischen Offensive, zur Überraschung, zur Invasion, in der Angriffsfähigkeit also, ausdrückt. Gerade für uns in der Bundesrepublik Deutschland ist das Prinzip der grenznahen, der zusammenhängenden Vorneverteidigung von besonderem Interesse und bildet als Instrument die Grundlage für die Erhaltung des Friedens. Im Rahmen dieser Bedingungen und angesichts der laufenden Modernisierungen der Luftstreitkräfte im Warschauer Pakt, über die hier niemand redet, ist eine leistungsstarke Luftverteidigung für uns unverzichtbar. Das von Ihnen kritisierte Jagdflugzeug ist ein wichtiges Element im Verbund der Luftverteidigungsmittel der NATO und wird damit wesentlich zur Stabilisierung der Luftverteidigungsfähigkeit beitragen. Die Auswirkungen des Jägers 90 auf die politischen Handlungsmöglichkeiten unter der Perspektive von Abrüstungsverhandlungen sind übrigens anders zu beurteilen, als die Opposition das hier tut. Der Kollege Ronneburger hat hier auf einzelne Beispiele hingewiesen. Nach dem neuesten Kräftevergleich der NATO stehen 8 250 Kampfflugzeugen des Warschauer Pakts knapp 4 000 der NATO gegenüber. ({1}) Solange diese einseitige Überlegenheit fortbesteht, müssen wir an unseren Verteidigungsplanungen festhalten. Das derzeit als Jagdflugzeug eingesetzte Waffensystem kann nicht mehr über die Jahrtausendwende hinaus in Betrieb gehalten werden. Die Luftwaffe benötigt nach heutiger gründlich geprüfter und abgewogener Auffassung auch über das Jahr 2000 hinaus ein leistungsfähiges Jagdflugzeug zur Ergänzung der Flugabwehrraketensysteme, um ein für Deutschland erforderliches raumdeckendes Luftverteidigungssystem zu organisieren. Nur Jagdflugzeuge sind flexibel genug, schnell Abwehrschwerpunkte zu bilden, entstandene Lücken in der bodengebundenen Luftverteidigung zu schließen und offene Flanken zu sichern. Begleitschutz ist dabei eine der möglichen herkömmlichen Arten des Einsatzes von Jagdflugzeugen. Diese würde aber immer nur noch einem Angriff, der niemals von uns ausgeht, ausgelöst werden. Dieses Konzept - das darf ich der Opposition einmal sagen - haben Sie bislang genauso, wie es heute gültig ist, mit getragen. Hätten Sie dies nicht getan, gäbe es keinen Tornado, den Sie haben entwickeln, beschaffen, einführen lassen, mit genau diesem Auftrag, den ich eben geschildert habe. Die Frage von Alternativen zur bemannten Luftabwehr ist ausgesprochen intensiv untersucht worden. Bei vergleichbaren Forderungen an Manövrierfähigkeit, Waffenzuladung, Kampfkraft, Reichweite und Flugdauer würden unbemannte Luftfahrzeuge erheblich teurer, und sie wären nicht unbedeutend personalaufwendiger. Auch sogenannte Fertigkaufoptionen - Amerika käme hier in Frage - wurden gründlich untersucht. Es ergaben sich keine günstigen und geeigneten Alternativen. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Herr Staatssekretär, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kühbacher? Würzbach, Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidigung: Herr Präsident, ich möchte hierzu im Zusammenhang vortragen. Wir werden ja auch in den Ausschüssen noch Gelegenheit haben, hier weitere Meinungen auszutauschen. Die Vorlage des Finanzministers, Kollege Kühbacher, an Ihren Ausschuß, den Haushaltsausschuß, weist zum Preisstand Dezember 1987 für den deutschen Anteil an der Entwicklung 5,85 Milliarden DM und für die Beschaffung zur Ausstattung von vier Geschwadern 16,5 Milliarden DM aus, eine beachtliche Summe. Darüber hinaus sind Betriebskosten vorzuplanen, und zwar haben wir vor, dies bis zum Jahre 2025 zu tun, über den Zeitraum, in dem diese Maschinen etwa eingesetzt werden sollen. Eine unabhängige Studieneinrichtung hat erstmals für ein Großvorhaben des Bundes eine Untersuchung der Betriebs-, der Infrastruktur- und der Materialerhaltungskosten für 250 Typen dieses Flugzeuges - wir denken an weniger - für diesen Zeitraum von 25 Jahren vorgenommen. Danach werden die Betriebskosten - Preisstand Dezember 1987 - 23,5 Milliarden DM betragen. Ich erwähne dies auch auf Grund des Hinweises meines Kollegen Francke. Der Rechnungshof hat in seiner begleitenden Prüfung die genannten Kostenpositionen einzeln bewertet. Die SPD-Fraktion hat im Unterschied dazu eine Addition der drei nicht vergleichbaren Kostengrößen auf 45,8 Milliarden DM durchgeführt und diesen Wert dann mit einer spekulativen Inflationsrate auf 100 Milliarden DM hochgerechnet. Verehrte Kollegen der SPD, im Haushaltsausschuß hat unser Rüstungsstaatssekretär Professor Timmermann diese Falschrechnung zurückgewiesen und eingehend erläutert, daß es unzulässig ist, den Betrag insgesamt um eine solche Preissteigerungsrate hochzurechnen, daß es unzulässig ist, für bereits geleistete Zahlungen eine solche Rate noch hinzuzurechnen, unzulässig ist, daß die Betriebskosten hier mit der gleichen Rate eingerechnet werden, und anderes mehr. Diese sachliche Klarstellung hat Sie, wie wir sehen, in keiner Weise beeindruckt wie manche anderen Dinge, die Sie nicht zur Kenntnis nehmen, so wie das, Frau Fuchs, was Sie über das Triebwerk gesagt haben. Am Montag dieser Woche fand entgegen dem Märchen, das Sie erzählen, bereits der erste Probelauf des Prototyps des Triebwerks statt. Die vom Parlament genehmigte Kostenobergrenze wird in den abgeschlossenen Verträgen beachtet. Die Beschaffungskosten sind im Bundeswehrplan und werden dort entsprechend fortgeschrieben. Die Entwicklungsverträge enthalten Preiskonditionen und stellen sicher, daß die Leistungen innerhalb des sogenannten Maximalpreises bleiben. Die getroffenen Regierungsvereinbarungen sehen vor, daß weitere Partnerländer einsteigen können. Kooperation mit Amerika ist in einigen Bereichen vorhanden, und es wird abgetastet, wo dies weiter möglich ist. Wir werben um eine Mitarbeit von Frankreich. Die Luftwaffenplanung ist Teil der Bundeswehrplanung. Sie ist in sich ausgewogen. Das Vorhaben wird sich nicht zu Lasten von Heer oder Marine auswirken. Um die Finanzierbarkeit mit strenger Haushaltsdisziplin zu gewährleisten, wird eine geeignete Managementorganisation eingerichtet. Es sind Kontrollmaßnahmen, auch vom Bundesrechnungshof begleitet, vorgesehen, um in diesem Rahmen zu bleiben. Seit Anfang dieses Monats sind die Abmachungen mit Großbritannien, mit Italien, mit Spanien und uns entsprechend den Vorgaben des Parlaments wirksam. Wir halten entsprechend den Beschlüssen der Ausschüsse des Parlaments daran fest und bitten, den Antrag der SPD zurückzuweisen. ({0})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Ich habe zwei Wünsche zu Erklärungen nach § 30 der Geschäftsordnung vorliegen. - Zuerst der Kollege Ronneburger.

Uwe Ronneburger (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001881, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Als ich vorhin eine Presseerklärung aus den Reihen der SPD-Fraktion erwähnte, hat mir der Kollege Horn zugerufen, das sei nicht wahr. Ich erkläre dazu folgendes und zitiere aus einer Presseerklärung vom 12. März 1988 ({0}) der Kollegen Dr. Hermann Scheer und Gernot Erler. Es heißt in der Überschrift: Zu dem amerikanischen Angebot, statt des Baus des „Jäger 90" eine Weiterentwicklung des US-Kampfflugzeugs F-18 mit dem Namen „Hornet 2000" anzuschaffen, erklären die sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten - -- Deren Namen habe ich soeben genannt. Es folgt ein Absatz, in dem Bedenken wegen der Kosten geäußert werden, die der „Jäger 90" verursachen würde. Dann folgen die beiden letzten Absätze, die ich zitiere: Beim von den USA angebotenen Gemeinschaftsprojekt „Hornet 2000" liegt der Stückpreis mit 41,6 Mio. DM ziemlich genau bei der Hälfte des „Jäger 90". Erhebliche Einsparungen würden sich auch bei den Entwicklungskosten ergeben, von denen die Vereinigten Staaten 60 % tragen wollen. Das heißt, es würden sich insgesamt Einsparungen von mehr als 10 Mrd. DM ergeben. Im Zuge eines technischen Vergleichs und einer Kosten-Nutzen-Analyse muß deshalb dieses amerikanische Angebot ernsthaft geprüft und in Erwägung gezogen werden. Auch die neueste Kostenplanung für die Entwicklung eines ausschließlich europäischen Jagdflugzeugs droht zum Milliardengrab zu werden. Ich frage Sie, Herr Kollege Horn, ernstlich, wozu ich solche Kostenschätzungen anstelle und ernsthaft in Erwägung ziehe, wenn ich nicht eine Alternative zwischen einem amerikanischen Flugzeug und der Entwicklung eines europäischen Jagdflugzeugs sehe. Ich halte Ihre Behauptung, meine Aussage sei nicht wahr gewesen, deswegen für falsch. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Zu einer Erklärung nach § 30 unserer Geschäftsordnung hat der Abgeordnete Horn das Wort.

Erwin Horn (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000958, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hätte nicht angestanden, mich hier zu entschuldigen, wenn ich eine falsche Unterstellung gemacht hätte. Ich habe den Text überprüft. Die Überschrift ist nicht von dem Wortlaut des Textes gedeckt, den dort die beiden Kollegen Scheer und Erler vorgelegt haben. Sie haben vorhin gesagt, die SPD habe die Beschaffung der „Hornet 2000" gefordert. Dies habe ich mit dem Hinweis zurückgewiesen, die SPD habe Prüfung gefordert. Das ist vom Text der Kollegen Scheer und Erler gedeckt. Ich habe hier ausdrücklich den Begriff „Prüfung" angeführt. ({0}) Sie haben nicht die Beschaffung gefordert, sondern, eine Beschaffung zu prüfen und in Erwägung zu ziehen. Das ist genau das, was ich vorhin in meinem Zwischenruf gesagt habe. ({1}) Infolgedessen bleibe ich auf meiner Aussage bestehen, daß Ihre Aussage vorhin in der Verkürzung nicht wahr ist. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Wir haben beide Erklärungen gehört und sind in der Lage, uns unsere Meinung zu bilden. Ich schließe die Aussprache. ({0}) - Ich habe die Aussprache geschlossen. Inzwischen ist vereinbart worden, daß die Anträge auf den Drucksachen 11/3018 und 11/3592, also der Antrag der Fraktion der SPD und der Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN, an den Verteidigungsausschuß zur federführenden Beratung und an den Haushaltsausschuß zur Mitberatung überwiesen werden sollen. Ist das Haus damit einverstanden? - Ich sehe Ihre Zustimmung. Es ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses ({1}) Sammelübersicht 88 zu Petitionen - Drucksache 11/3291 Dazu liegt auf Drucksache 11/3586 ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD vor. Im Ältestenrat ist für die Beratung ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein großer Teil unseres Volkes, wahrscheinlich sogar die Mehrheit, war gegen die Nachrüstung. Hunderttausende haben in machtvollen Kundgebungen überall im Lande gegen die Stationierung von Pershing II und Cruise Missiles protestiert. Während und nach der Stationierung dieser Flugkörper haben Tausende ihren Protest durch Sitzdemonstrationen vor Stationierungsstandorten aufrechterhalten. Viele von ihnen sind deshalb wegen Nötigung bestraft worden. Ihnen wurde angelastet, Gewalt angewendet und verwerflich gehandelt zu haben. Diese Vorwürfe, meine sehr geehrten Damen und Herren, sind unbegründet. Die Sitzdemonstranten haben sich zu Demonstrationszwecken vorübergehend auf einer Zufahrtsstraße zu einem Stationierungsstandort niedergelassen. Dadurch wurde die Benutzung dieser Zufahrtsstraße für militärische Fahrzeuge zwar auf Zeit unmöglich gemacht, ({0}) auf anderen Wegen konnten die Standorte jedoch nach wie vor erreicht werden. Die Sitzdemonstranten haben sich auf rein passive Verhaltensweisen beschränkt. Zu ihrem Verhaltenskodex gehörte absolute Gewaltfreiheit. Sie haben polizeiliche Maßnahmen, auch solche des unmittelbaren Zwangs, widerstandslos über sich ergehen lassen. Eine Interpretation des Gewaltbegriffs, die ein solches gewaltloses Handeln zur Gewalttat macht, ist schlechthin unakzeptabel. Sie führt zu dem mit der Demonstrations- und Meinungsfreiheit nicht zu vereinbarenden Ergebnis, daß Verkehrsbehinderungen durch Demonstrationen auch bei rechtmäßigen Veranstaltungen als Gewalt im Sinne des Nötigungstatbestandes angesehen werden können. Meine Damen und Herren, die Sitzdemonstranten haben auch nicht verwerflich gehandelt. Sie wollten in aufsehenerregender und nicht zu übersehender Weise gegen die Nachrüstung und den atomaren Rüstungswettlauf und für die Wahrung des Friedens protestieren. Sie bewegten sich damit im Rahmen der vom Grundgesetz festgelegten Staatsziele. Das Handeln der Sitzdemonstranten war gemeinwohlorientiert und nicht auf die Durchsetzung eigennütziger oder gruppenspezifischer Interessen gerichtet. Eine effektive Zwangswirkung auf staatliche Entscheidungsträger war durch die Sitzdemonstranten nicht beabsichtigt und wurde durch die Sitzdemonstrationen auch nicht hervorgerufen. Die Verurteilung der Sitzdemonstranten wegen Nötigung nach § 240 StGB ist somit zu Unrecht erfolgt. Sie verstößt gegen die freiheitlichen Prinzipien unserer staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung. Denen, die in Wahrung ihrer Grundrechte an Sitzdemonstrationen teilgenommen haben, und allen anderen Bürgern muß bestätigt werden, daß ihr Handeln ehrenhaft war, daß unser demokratischer Staat den engagierten Protest von Bürgern auch dann, wenn er sich gegen Beschlüsse der parlamentarischen Mehrheit richtet, respektiert und ihn nicht kriminalisiert. ({1}) Dem eingetretenen Schaden muß entgegengetreten werden: erstens durch eine Änderung des § 240 StGB, so daß Sitzdemonstranten in vergleichbaren Fällen künftig nicht mehr bestraft werden können und zweitens, entsprechend dem Anliegen der Petenten, durch eine Amnestie für die bereits bestraften Sitzdemonstranten. Wir bitten Sie deshalb, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. ({2})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Jung ({0}).

Michael Jung (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001039, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Kollege Emmerlich, ich bin eigentlich etwas enttäuscht darüber, daß Sie sich hier in Ihrem Vortrag mit den juristischen Bereichen in einer Form der Richterschelte auseinandergesetzt haben; ({0}) denn das, worüber wir hier debattieren, sind ja juristische Fragen. Die Grundlage der Diskussion, die wir hier führen, bilden eine Reihe von Verurteilungen sowie die Petitionen, die an uns gerichtet worden sind. Sie haben unter anderem gesagt: Zu Unrecht verurteilt - in hunderten von Verfahren. Ich muß sagen, daraus spricht ein Mißtrauen gegen die Justiz, das von uns nicht nachvollzogen werden kann. ({1}) Es geht nicht um die Frage, daß wir keinen Protest gegen unsere Entscheidungen zulassen würden - das ist selbstverständlich - , sondern es geht um die Frage der strafrechtlichen Bewertung. Es geht hier um Petenten, die eine Amnestie für diejenigen fordern, die wegen der Teilnahme an Sitzblockaden wegen Nötigung verurteilt wurden. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen dem Erledigungsantrag des Petitionsausschusses zu, weil ein Amnestiebegehren oder gar ein Amnestiegesetz nicht befürwortet werden kann. Herr Kollege, Sie wissen wie ich, daß Amnestie grundsätzlich nur in Ausnahmefällen gewährt werden kann. Das fordert gerade das Rechtsstaatsprinzip, weil wir eine rechtsstaatliche Ordnung mit einem Gerichtsaufbau haben, und das sollten wir als gesetzgebende Gewalt gerade berücksichtigen. Eine Amnestie ist somit nur möglich, wenn keine Möglichkeit zu einer gerechten Regelung vorhanden ist. Ich meine, daß dies gerade in diesem Fall sehr wohl zu bezweifeln ist. Sie kennen genau wie ich die Möglichkeiten, die unser Strafrecht schon bietet, nämlich die Berücksichtigung des Einzelfalles, die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens, die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens unter Auflage oder, wenn dann hinterher das rechtskräftige Urteil vorliegt, die Möglichkeit, ein Gnadengesuch zu stellen. ({2}) Das sind Möglichkeiten, die wir an Hand unserer derzeitigen gesetzlichen Regelung bereits haben. Außerdem hat ja gerade der Bundesgerichtshof entschieden, daß die Fernziele bei der Strafzumessung zu berücksichtigen sind, so daß dies im jeweiligen Einzelfall ebenfalls geschieht. Sie haben auch überhaupt nicht darauf abgehoben, daß sich unsere höchsten Gerichte mit dieser Frage ja beschäftigt haben, nämlich der Bundesgerichtshof und auch das Bundesverfassungsgericht, die beide zu dem Ergebnis gekommen sind, Herr Kollege, erstens daß im Einzelfall zu prüfen ist, aber zweitens daß Sitzblockaden - das war ja gerade die Klarheit, die herbeigeführt werden mußte - grundsätzlich als strafbare Nötigung im Sinne des § 240 StGB anzusehen sind. Ich habe überhaupt keinen Zweifel daran, daß im Fall der sogenannten Sitzblockierer von unseren Gerichten, meine Damen und Herren, nach Recht und Gesetz verfahren worden ist. Wenn dem so ist, dann besteht hier kein Bedürfnis, per Amnestiegesetz eine Korrektur anzubringen. Ich will in diesem Zusammenhang auch sehr deutlich machen, daß es Unterstellungen sind, wenn behauptet wird, die Strafverfolgung sei wegen der politischen Überzeugung der Blockierer durchgeführt worden. ({3}) Allein die strafrechtlichen Aspekte sind maßgebend. Sie kennen als Jurist genauso wie ich den Straftatbestand des § 240 des Strafgesetzbuches, den der Nötigung: „Wer einen anderen ... zu einer Handlung .. . oder Unterlassung nötigt ... " Dies ist genau durch die Sitzblockade geschehen. Ich bin der Meinung, daß hier ganz bewußt geltendes Recht durch den sogenannten zivilen Ungehorsam mit Füßen getreten worden ist. Ob man das bagatellisiert, indem man sagt, das sei eine Regelverletzung, oder nicht - ich meine, man muß hier feststellen: Rechtsbruch bleibt Rechtsbruch. Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es wegen des Verbotes eines Einzelfallgesetzes unzulässig, eine besondere Personengruppe hier zu amnestieren. Für diese Amnestieregelung besteht auch kein Bedürfnis. Ich sage, meine Damen und Herren, das findet auch keine Zustimmung bei der Bevölkerung. Was empfindet denn der rechtstreue Bürger, wenn er wegen Falschparkens nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz zur Kasse gebeten wird, während Sitzblockierer, die genau dasselbe noch einmal tun würden, also bei Jung ({4}) vorhandener Bereitschaft zum Rechtsverstoß, amnestiert werden? Der Bürger darf und muß erwarten, daß nach Recht und Gesetz verfahren wird. Eine Amnestie ist somit nicht möglich. Deswegen lehnt die CDU/CSU-Fraktion Ihren Antrag ab. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Häfner.

Gerald Häfner (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000775, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Viele in diesem Haus hätten wohl manchmal am liebsten Bürger, die sich einfach darauf beschränken, alle vier Jahre ihre Stimme abzugeben und in die Urne zu werfen - Dieter Hildebrandt hat ja auf diese merkwürdige Bestattungssprache aufmerksam gemacht - , wo die Stimme dann verschwindet, weg ist und nicht mehr verfolgbar ist. Es gibt aber Fragen, da muß man sich einschalten. Eine solche Frage ist die Frage des Friedens und insbesondere die Frage der Atomraketen gerade in diesem Land, das wie kein anderes in der Welt so dicht mit Atomraketen bestückt ist. Es gibt in diesem Land Tausende von Bürgerinnen und Bürgern, die sich gewaltfrei, nämlich durch Sitzblockaden, gegen diese Raketen und ihre Stationierung in unserem Land gewehrt haben, die dabei nicht mit einem empfindlichen Übel gedroht haben, die dabei keinerlei Gewalt angewendet haben, die dabei nicht verwerflich gehandelt haben und die dennoch nach § 240 des Strafgesetzbuches, der eben dies, also Gewaltanwendung und verwerfliche Gewalt, voraussetzt, verurteilt worden sind. Verwerflich - das möchte ich deutlich sagen - sind für mich nicht die Sitzblockaden der Friedensbewegung, sondern verwerflich ist für mich eine Politik, die vorgibt, etwas verteidigen zu wollen, und dabei aufs Spiel setzt, gerade alles dies und noch viel mehr zu zerstören. ({0}) Noch immer sind aber Tausende von Verfahren anhängig. Ich möchte eines hier ganz deutlich sagen: Wer A sagt, der muß nicht auch B sagen, sondern er kann auch erkennen, daß schon A falsch gewesen ist. Wo A für „Atom" steht, gilt dies allzumal. Es gilt aber auch für das, was wir hier zu verhandeln haben, zumal übrigens auch die Justiz nicht immer eindeutig A gesagt hat, sondern sehr, sehr verschieden entschieden hat. Selbst das Bundesverfassungsgericht war in dieser Frage mit 4 : 4 Stimmen gespalten, und auch der Bundesgerichtshofsbeschluß schafft hier nur scheinbare Klarheit. Das heißt, der Gesetzgeber ist gefordert. Deshalb haben die Petenten recht getan, und ich denke, man muß ihnen ausdrücklich danken, daß sie sich an den Gesetzgeber wenden und hier eine Korrektur fordern. Nun zur Petition selbst. Auch ich meine, daß eine isolierte Amnestie für einen bestimmten Personenkreis oder Zeitraum nicht möglich ist, nicht unserem Rechtssystem entspricht. Insofern stimme ich sogar der Argumentation des Bundesjustizministers zu, wenn er erklärt, der Kreis der Begünstigten sei viel zu eng gefaßt und die hier geforderte Amnestie lasse den Straftatbestand selbst unberührt. Nur, was folgt daraus? Die einzige konsequente Folgerung kann doch nur sein, den Kreis entsprechend auszudehnen und den Straftatbestand selbst, also das Gesetz, in der erforderlichen Weise zu präzisieren, nämlich so, daß der Begriff der Gewalt in § 240 des Strafgesetzbuchs mit einer ausreichend klaren Legaldefinition versehen wird. Dann, aber auch nur dann, ist aus der Sicht meiner Fraktion der Weg für ein Straffreiheitsgesetz frei, das endlich die vielen wegen ihres Engagements für den Frieden nach § 240 Verurteilten von Strafverfolgung freistellt und damit dem innergesellschaftlichen Frieden wie dem Frieden auf der Welt dient. Meine Fraktion hat hierzu einen Gesetzentwurf vorgelegt, der beide Komponenten enthält, sowohl die Änderung des § 240 StGB, die ich schon aus rechtsstaatlichen und rechtssystematischen Gesichtspunkten für dringend erforderlich halte, und ein Straffreiheitsgesetz, das der Intention der Petenten entspricht. Ich fordere insbesondere Sie, Herr Emmerlich, und die Kollegen von der SPD auf - ich ergänze, daß ich Ihrem Antrag zustimmen werde -, mit uns - endlich, sage ich dazu - in ein Gespräch einzutreten, wie wir hier zu einer gemeinsamen Maßnahme kommen. Denn wenn wir diese Petition - darüber sollten wir uns keine Illusionen machen - an die Bundesregierung überweisen, dann ist die Hoffnung, daß die Bundesregierung handeln wird, nach aller Erfahrung wenig begründet. Wenn wir es also mit der Unterstützung dieser Petition ernst meinen, dann sind wir als Gesetzgeber gefordert und müssen im Bundestag ein entsprechendes Gesetz einbringen. Wir haben das, wie gesagt, schon gemacht. Ich bin bereit - ich möchte ausdrücklich dieses Angebot machen - , auch einen gemeinsamen Antrag, einen gemeinsamen Entwurf vorzulegen, wenn hierzu Bereitschaft in der SPD besteht. Es gibt unterschiedliche Äußerungen in der Öffentlichkeit, aber gerade dies veranlaßt mich zu Hoffnung. Für heute stimmen wir dem Antrag der SPD zur Änderung der Beschlußempfehlung des Ausschusses zu. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Dr. Segall.

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Gegenstand der Petition ist von Herrn Emmerlich dargelegt worden. Ich möchte darum zu den politisch relevanten Fragen der Petition Stellung nehmen. Dabei ärgert es mich schon ganz gewaltig - das muß ich hier wirklich mal sagen -, daß von Ihnen hier der Eindruck erweckt wird, die Koalition sei sich der Problematik des § 240 StGB nicht bewußt. Auch Sie, Herr Häfner, sprechen von § 240. Um den geht es hier bei der Petition gar nicht; da sind wir ja zu Diskussionen bereit. ({0}) Es geht hier um das Amnestiegesetz. Insofern möchte ich für die FDP erklären: Da das Urteil des Bundesverfassungsgerichts keine einvernehmliche Feststellung darüber getroffen hat, ob das Tatbestandsmerkmal der Gewalt im Sinne des § 240 des Strafgesetzbuchs bei Sitzdemonstrationen vorliegt, ist die FDP diskussionsbereit. Die Diskussionen laufen. ({1}) - Das hat schon zu einer Diskussion geführt, wie ich gesagt habe. Nur geht es nicht darum. Es geht nicht um die Rechtsfrage, wie § 240 des Strafgesetzbuches ausgelegt werden sollte. Dafür sind wir auch überhaupt nicht zuständig, sondern dies ist Sache der Fachgerichte. Vielmehr geht es um die Frage: Muß oder kann die unterschiedliche Bewertung eines Tatbestandsmerkmals durch Verfassungsrichter zu einem Amnestiegesetz führen? Schon diese neutrale Darstellung des Problems zeigt, wie sehr die Opposition danebengreift bei ihrer Forderung nach einem Amnestiegesetz. Gegen ein Amnestiegesetz sprechen aber noch andere Gründe, denen sich die Opposition bei Wahrung kühlen Kopfes eigentlich auch nicht mehr verschließen kann.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Frau Dr. Segall, Sie gestatten eine Zwischenfrage?

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Das hält die ganze Sache zwar noch länger auf, aber okay.

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Bitte schön, Herr Emmerlich.

Dr. Alfred Emmerlich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000468, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Kollegin, da Sie in bezug auf eine Änderung des § 240 StGB diskussionsbereit sind, richte ich an Sie die Frage: Gesetzt den Fall, es käme zu einer Änderung des § 240 StGB, die - wenn sie damals schon gegolten hätte - nicht zur Verurteilung hätte führen können, sind Sie dann mit mir der Meinung, daß dann eine Amnestie der - unter Berücksichtigung der neuen Vorschrift - zu Unrecht Verurteilten erfolgen müßte?

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Wenn sich bei § 240 StGB eine Änderung ergibt, die so etwas möglich macht, wird das sicherlich auch mit der FDP möglich sein. ({0}) - Gut. - Daß Stimmengleichheit des Bundesverfassungsgerichts häufiger vorkommt, ist bekannt. Wollen Sie nun in all diesen Fällen, sofern das Strafrecht betroffen ist, eine Amnestie aussprechen? Sicherlich werden Sie mir nun entgegnen, daß Sie das nicht wollten, sondern daß Sie ausnahmsweise wegen der hohen politischen Relevanz der Vorgänge kein anderes Mittel sehen, als mit einem Straffreiheitsgesetz zu helfen. Ganz richtig. So ein Gesetz muß Ausnahmegesetz bleiben, stellt es doch die Durchbrechung des Gewaltenteilungsprinzips par excellence dar und darf darum nur in extrem wichtigen Fällen angewandt werden. Die Sitzblockaden sind für die Opposition offensichtlich solch extrem wichtige Fälle. Sie fordert kurzerhand ein Straffreiheitsgesetz, weil der guten Legislative, also uns bzw. Ihnen, eine Auslegung durch die Gerichte nicht paßt. ({1}) Man versucht, daß Amnestiegesetz durch das Fernziel der Friedensblockierer, denen es ja nur auf den Frieden der Welt angekommen sei, zu rechtfertigen. Sie schlagen also vor, die Berücksichtigung von Fernzielen so weit zu treiben, daß ein Amnestiegesetz gerechtfertigt ist. Das finde ich ganz wunderbar. Da werde ich mich also zukünftig vor die Redaktion der „taz" ({2}) oder des „Vorwärts" setzen, um das Fernziel „faire Publikation der Umweltpolitik der Koalition" zu erreichen. ({3}) Und wenn ich dann verurteilt werde, muß natürlich auch für mich ein Amnestiegesetz her. ({4}) Denn gerade Sie, liebe Kollegen und Kolleginnen von den GRÜNEN, werden doch nicht in Frage stellen, daß es sich bei dem überragenden Fernziel des Umweltschutzes um ein Ziel handelt, das ein Amnestiegesetz unbedingt erfordert. Natürlich wollen wir auch nicht den sinnvollen Beitrag der langsam fahrenden Linksblockierer auf den deutschen Autobahnen verkennen. Sie haben ebenfalls ein Amnestiegesetz verdient. Denn durch das strikte Fahren mit Tempo 100 auf der linken Fahrbahnseite sorgen sie für eine effektive Geschwindigkeitsbegrenzung. Und die Verurteilung wegen einer Nötigung verkennt selbstverständlich das hohe Fernziel des Umweltschutzes. Deshalb verdienen auch diese Damen und Herren ein Amnestiegesetz. ({5}) Doch ganz im Ernst. Ob eine bestimmte Verhaltensweise zu bestrafen ist oder nicht, ist doch nun einmal Sache der Fachgerichte. Sie können davon ausgehen, daß die Fachgerichte die höchstrichterlichen Entscheidungen sehr genau kennen und in jedem Einzelfall wissen, auf welchem Wege man im Ergebnis zu einer „Einzelfallamnestie" kommen kann, wenn dies erforderlich sein sollte. Zum Schluß möchte ich nochmals, wie bereits eingangs geschehen, betonen, daß ich § 240 StGB nicht für der Weisheit letzten Schluß halte. Ob hier Änderungen durch den Gesetzgeber nötig sind, bedarf sorgsamer Prüfung. Dieser sorgsamen Prüfung kann man aber nicht mit einem Amnestiegesetz vorgreifen. Aus diesen Gründen plädiere ich dafür, die Petition als erledigt zu betrachten. ({6})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung, und zwar zuerst über den Änderungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3586. Wer dem Änderungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um ein Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Bei einer Enthaltung ist dieser Änderungsantrag mit Mehrheit abgelehnt worden. Wer der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses auf Drucksache 11/3291 zuzustimmen wünscht, den bitte ich nun um das Handzeichen. - Wer stimmt dagegen? - Enthaltungen? - Dann ist diese Beschlußempfehlung mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen angenommen worden. Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 14 auf: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene Ausländer - Drucksache 11/1931 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({0}) Auswärtiger Ausschuß Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Bildung und Wissenschaft b) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Bundesausländergesetz - Drucksache 11/2598 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({1}) Rechtsausschuß Ausschuß für Wirtschaft Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung Ausschuß für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Ausschuß für Bildung und Wissenschaft Meine Damen und Herren, im Ältestenrat ist für die gemeinsame Beratung von Punkt 14 a und b eine Stunde vereinbart worden. - Ich sehe dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Schröer ({2}).

Thomas Schröer (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002084, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt in unserem Land eine breite Koalition der Vernunft: Arbeitgeber und Gewerkschaften, Kirchen und Wohlfahrtsverbände, Parteien und zahllose freie Bürgerinitiativen fordern alle, daß sobald als möglich ein neues Bundesausländergesetz vom Deutschen Bundestag verabschiedet wird. Sie fordern ein Gesetz, das der Tatsache Rechnung trägt, daß 4,6 Millionen Ausländer in unserem Lande zu Hause sind. ({0}) - Ich habe die neuesten Zahlen der Volkszählung entnommen. ({1}) Unter uns leben 4,6 Millionen Ausländer, denen wir Sicherheit geben müssen, damit sie ihre Lebensplanung wirklich in Angriff nehmen können. Vor allen Dingen aber brauchen wir ein Gesetz, das mit der Lebenslüge unserer Republik aufräumt, ({2}) wir seien nie ein Einwanderungsland gewesen. Wir waren nämlich mit Zustimmung aller politischen Kräfte ein Einwanderungsland. ({3}) Ausländische Arbeitnehmer haben zum Wohlstand unseres Landes in hohem Maße beigetragen. ({4}) Sie bereichern auch heute die Vielfalt unseres sozialen und kulturellen Lebens. Hieraus erwachsen für uns Verpflichtungen, denen wir Rechnung tragen müssen. Wir sind all denen dankbar, die mit dazu beitragen, daß sich Ausländer bei uns zu Hause fühlen können. Dem schändlichen Satz von Minister Stoiber, wir seien auf dem Wege zu einer „durchmischten und durchrassten Gesellschaft" , setzen wir entgegen: Wir wollen eine multi-kulturelle Gesellschaft. Kulturelle Vielfalt bedroht uns nicht, sondern sie bereichert uns. ({5}) Wir wollen niemanden ausgrenzen. Wir sehen vielmehr unsere Aufgabe darin, alles zu tun, um Verständnis, Achtung und Zusammenarbeit zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft in unserem Lande zu ermöglichen. Sie werden vielleicht fragen, warum man so viele Sätze darauf verwendet, Selbstverständliches zu sagen. ({6}) - Ich komme gleich auf Herrn Zimmermann. Man muß das einfach deshalb tun, weil diese Regierung sich einen Innenminister leistet, dessen Borniertheit jedes erträgliche Maß übersteigt. ({7}) Herr Dr. Zimmermann hat die Vernunft in den Vorruhestand geschickt und ist seither der ungekrönte König an deutschen Stammtischen. ({8}) - Sehen Sie, jetzt tue ich das, was Sie nicht tun: Ich höre Ihnen zu. ({9}) Er hat es zu verantworten, daß es trotz der vollmundigen Ankündigungen des Bundeskanzlers in seinen Regierungserklärungen von 1983 und 1987 bislang nicht zu einer Novellierung des Ausländergesetzes Schröer ({10}) von 1965 gekommen ist. Diese Regierung hat sich bei dem Thema „Ausländerrecht" als handlungsunfähig erwiesen. ({11}) Wir Sozialdemokraten wollen aber nicht länger warten, und zwar deswegen, weil die Betroffenen nicht länger warten können. ({12}) Das ist der Punkt, auf den es ankommt. Die Ausländer haben ein Recht auf Rechte. Deshalb haben wir einen eigenen Antrag vorgelegt, der unsere Position für ein neues Bundesausländergesetz festschreibt. Ich möchte daraus vier Punkte besonders herausgreifen. Erstens. Wir wollen - unterhalb der kulturell schwer zu überwindenden Staatsangehörigkeitsfrage - ein Niederlassungsrecht einführen, das den Ausländern, die mehr als acht Jahre unter uns gelebt haben, die gleichen Rechte und Pflichten wie einem Deutschen gibt. Zweitens. Wir wollen ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Ehegatten. ({13}) Ich möchte nicht noch einmal erleben, daß, wie es vor drei Jahren geschehen ist, die Witwe eines türkischen Bergmannes, der unter Tage zu Tode gekommen ist, gegen ihre Abschiebung kämpfen muß. Es bedurfte des Eingreifens des nordrhein-westfälischen Innenministers Schnoor, damit sie nicht abgeschoben wurde. ({14}) Nebenbei sage ich dazu: Wenn wir diesen Herbert Schnoor nicht hätten, würde ich mich für einen solchen Vorfall für unser Land schämen. ({15}) Drittens. Wir wollen, daß ausländische Ehepaare zusammenleben können und daß sie ihre unter 18jährigen Kinder jederzeit in die Bundesrepublik nachziehen lassen können. In meinen Augen ist es pervers, daß eine deutsche Ehe, wenn die Ehepartner ein Jahr getrennt gelebt haben, als zerrüttet gilt und dann geschieden wird, daß aber bei ausländischen Ehepartnern eine zwei- oder dreijährige Ehebestandsfrist gilt, um die Ehe in Deutschland als gültig anzuerkennen. ({16}) Dies muß sich ändern. Eheleute gehören zueinander, so wie auch minderjährige Kinder zu ihren Eltern gehören. ({17}) Wer der Überzeugung ist, daß Ehe und Familie des besonderen Schutzes des Staates bedürfen, der macht sich unglaubwürdig, wenn er zwischen deutschen und ausländischen Familien unterscheidet. Hiermit muß Schluß gemacht werden. ({18}) Viertens. Wir wollen die Möglichkeit der Abschiebung straffällig gewordener Ausländer drastisch einengen. Es geht nicht an, daß wir einerseits soziale Auffälligkeit der Gesellschaft mit anlasten, uns aber andererseits bei Ausländern unserer eigenen Mitverantwortung durch Abschiebung entziehen. Wer hier geboren und aufgewachsen ist, darf nicht in ein ihm fremdes Land verfrachtet werden, auch wenn er dessen Paß besitzt. Jedes Land muß mit den Problemen fertig werden, die es selbst geschaffen hat. ({19}) Meine Damen und Herren, was ich uns allen beim Thema „Ausländerrecht" wünsche, ist die Gelassenheit des CDU-Oberbürgermeisters von Stuttgart, Manfred Rommel. Der hat gesagt - ich kann nicht schwäbisch sprechen, aber ich zitiere es einfach - : 24 % meiner Stuttgarter sind Ausländer, sind alles gute Schwaben, aber noch bessere Stuttgarter. Wenn es ein paar mehr würden, vielleicht würde meine Stadt dann zur Weltstadt. ({20}) Meine Damen und Herren, da die Bundesregierung offenkundig in diesem Bereich handlungsunfähig ist, wird die SPD-Fraktion einen eigenen Gesetzentwurf zum Bundesausländergesetz einbringen. ({21}) - Das kündigen wir nicht seit Jahren an, ({22}) das kündige ich jetzt zum erstenmal an, lieber Herr Gerster. Wir werden uns dabei an den Leitsätzen orientieren, die Ihnen heute als Antrag vorliegen. ({23}) Wichtig ist dabei: Heinz Kühn und Lieselotte Funcke, die bisherigen Ausländerbeauftragten der Bundesregierung, denen ich an dieser Stelle gerne Dank sagen möchte für ihre so wirkungsvolle und auch zum Teil umstrittene, aber deshalb um so wichtigere Arbeit, ({24}) haben uns eines deutlich gemacht: Ausländerpolitik ist mehr als der Vollzug juristischer Vorgaben. An die Stelle politischer und behördlicher Herablassung muß die menschliche Zuwendung zu unseren ausländischen Nachbarn treten. Wir wollen alles tun, um gute Nachbarn zu sein. ({25})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Bundesminister des Innern.

Dr. Friedrich Zimmermann (Minister:in)

Politiker ID: 11002597

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Auch die Bundesregierung strebt eine umfassende Reform des allgemeinen Ausländerrechts an. Das geltende Gesetz von 1965, nun 23 Jahre alt, das die materiellen Voraussetzungen für den Aufenthalt von Ausländern nicht zureichend regelt, erweist sich zunehmend als problematisch. Die Ausländerbehörden der Länder brauchen einheitliche und inhaltlich hinreichend bestimmte Entscheidungsgrundlagen. Sie benötigen klare gesetzliche Vorgaben. Die ausländerrechtlichen Grundentscheidungen müssen deshalb bundesgesetzlich vorgeschrieben werden. Nur auf diesem Wege läßt sich die Einheitlichkeit im Ausländerrecht wiederherstellen und für die Zukunft gewährleisten. Aber es genügt nicht, wenn wir uns nur in dem formalen Ziel, ein neues Ausländergesetz zu schaffen, einig sind. Wir müssen versuchen, auch über die wesentlichen Inhalte einen Konsens zu erzielen. Die Bundesregierung wird das Ihre dazu beitragen. Sie ist zum Gespräch bereit, und zwar sowohl zum Gespräch mit der Opposition als auch mit den Ländern und Gemeinden, die die Hauptbetroffenen sind. Diese Konsensbereitschaft vermisse ich jedoch in dem Antrag der SPD-Fraktion über Grundsätze für ein neues Ausländergesetz. Sie haben zwar verbal bekundet, Herr Schröer, daß wir kein Einwanderungsland sind; aber es ist kein Ausländergesetz, es ist ein Einwanderungsgesetz, was Sie hier vorgelegt haben. Dieser Entschließungsantrag setzt damit ein falsches Signal. In der gegenwärtigen Situation kann es überhaupt nicht darum gehen, mit einem neuen Ausländergesetz eine radikale Abkehr von der bisherigen Ausländerpolitik zu vollziehen. Wer den seit langen Jahren bestehenden Grundkonsens in der Ausländerpolitik jetzt aufkündigt, der will kein neues Ausländergesetz, sondern der will ein neues Ausländergesetz verhindern. Bei der Neuregelung muß die bisherige gemeinsame Ausländerpolitik von CDU/CSU, SPD und FDP in Bund, Ländern und Gemeinden zugrunde gelegt werden. Diese Ausländerpolitik verfolgte auch bisher zwei Ziele: einerseits die Integration der bisher rechtmäßig zugewanderten ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen und andererseits die konsequente Begrenzung der weiteren Zuwanderung von Ausländern aus Nicht-EG-Staaten. ({0}) Darüber, daß dieses Problem mit dem Herannahen des Binnenmarkts nicht einfacher wird, sind wir alle uns doch sicher einig. Eine solche duale Ausländerpolitik ist bereits von der SPD-geführten Bundesregierung in den Jahren 1981 und 1982 unmißverständlich ausformuliert worden. Am 11. November 1981 hat die damalige Bundesregierung festgestellt: Es besteht Einigkeit im Kabinett, daß die Bundesrepublik Deutschland kein Einwanderungsland ist und auch nicht werden soll. ({1}) Weiter heißt es in diesem Kabinettbeschluß: Das Kabinett ist sich einig, daß für alle Ausländer, die aus Ländern außerhalb der EG kommen, ein weiterer Zuzug unter Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten verhindert werden soll. ({2}) Die konsequente Zuwanderungsbegrenzung bildet zudem die notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Integrationspolitik. Auch darauf hat die damalige Bundesregierung hingewiesen, als sie am 3. Februar 1982 ihre ausländerpolitischen Grundsatzpositionen bestätigte. Es heißt: Nur durch eine konsequente und wirksame Politik zur Begrenzung des Zuzugs aus Ländern, die nicht Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft sind, läßt sich die unverzichtbare Zustimmung der deutschen Bevölkerung zur Ausländerintegration sichern. Das ist zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens unerläßlich. ({3}) Meine Damen und Herren, ich könnte Ihnen heute nichts anderes sagen - ich sage auch nichts anderes - , denn diese Feststellungen sind auch heute noch - ich meine sogar: in noch höherem Maße - gültig. Eine realistische und ehrliche Ausländerpolitik muß an diesen Zielen festhalten. Erlauben Sie mir noch ein Wort zu dem Gesetzentwurf der SPD über die Wiederkehrerlaubnis. Auch die Bundesregierung verkennt nicht, daß der Ausschluß einer Wiederkehrmöglichkeit zu unverhältnismäßigen Härten bei Ausländern führen kann, die hier aufgewachsen sind und als Minderjährige ihren Eltern ins Herkunftsland folgen mußten. Deshalb werden derzeit zwischen Bund und Ländern die Möglichkeiten erörtert, ohne Änderung des Ausländergesetzes auf Verwaltungsebene eine bundeseinheitliche Härtefallregelung zu treffen. Damit entfiele die Notwendigkeit, die Wiederkehroption vorab durch ein besonderes Gesetz zu regeln. Meine Damen und Herren, die Situation hat sich seit den Jahren 1980 bis 1982 nicht entspannt, sondern sie hat sich eher verschärft. Wir sind einem unveränderten Zuwanderungsdruck ausgesetzt. Er wird sich angesichts der Bevölkerungsentwicklung sowie der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse in vielen Ländern vornehmlich der Dritten Welt eher noch weiter verstärken. Das belegt die Entwicklung der Ausländerzahlen. Nachdem von Ende 1982 bis Ende 1985 die Zahl der Ausländer nicht zuletzt infolge der Rückkehrförderungspolitik zurückgegangen war, ist seitdem wieder ein erheblicher Anstieg zu verzeichnen. Dieser Entwicklung müssen wir Einhalt gebieten. Wir brauchen kein neues Einwanderungsrecht, sondern wir brauchen ein Ausländergesetz, das die Zuwanderung weiterer Ausländer aus Nicht-EG-Staaten den Interessen unseres Landes entsprechend begrenzt. Ich bitte, daran zu denken, daß die anderen elf EG-Partner das auch von uns erwarten und daß eine Harmonisierung im Asyl- und im Ausländerrecht eine der Forderungen der Innen- und Sicherheitsminister der Gemeinschaft ist. Im übrigen ist das auch eine Forderung der Innenministerkonferenz der Län8200 der. Die A- und B-Länder haben diese Forderung in der letzten Sitzung gemeinsam an mich gerichtet. ({4}) Ich appelliere deshalb an die Damen und Herren Kollegen von der SPD: Lassen Sie uns auf der Grundlage unserer bisherigen gemeinsamen Ausländerpolitik die vernünftigen und notwendigen Lösungen durchsetzen. Denken Sie bitte an die Länder und Gemeinden, die alle erhebliche Belastungen tragen müssen. Mit der von Ihnen im Entschließungsantrag propagierten Politik der offenen Schleusen schaden Sie den Interessen der Bundesrepublik Deutschland ebenso wie den Integrationsbemühungen für die bei uns lebenden Ausländer. Sie wären gut beraten, mit Ihren Kollegen in den Gemeinden und in den Ländern eng Fühlung zu halten, damit Sie sich in die Lage versetzt sehen, diesen eingeschlagenen falschen Kurs zu korrigieren. ({5})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat die Abgeordnete Frau Olms.

Ellen Olms (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001648, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Guten Tag, Herr Gerster. ({0}) Wir diskutieren heute über einen Gesetzentwurf der Fraktion der SPD über die Wiederkehrerlaubnis für die hier aufgewachsenen Ausländerinnen und über einen Antrag der SPD zu einem neuen Bundesausländergesetz. Verehrte Kolleginnen und Kollegen der SPD, Sie versehen Ihren Gesetzentwurf mit der Überschrift - ich zitiere - „Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene Ausländer" . Korrekterweise hätten Sie jedoch präzisieren müssen: der jugendlichen Ausländer und Ausländerinnen. Denn nur um sie geht es in Ihrem Gesetzentwurf. Natürlich unterstütze ich Ihren Antrag, weise jedoch gleichzeitig auf vorhandene Mängel und Defizite hin. Erstens. Warum beziehen Sie die Wiederkehrerlaubnis nur auf die jugendlichen Ausländerinnen? Was ist mit den über 18jährigen Erwachsenen, die hier jahrelang oder jahrzehntelang leben und gegenüber ihrer Heimat ebenso entfremdet sind wie die Jüngeren? Eine Wiederkehroption sollte für alle Ausländerinnen ohne Altersbeschränkung gelten. Eine Wiederkehr sollte jederzeit möglich sein. Ihr Entwurf, verehrte Kolleginnen und Kollegen, erhebt nur das zum bundesweiten Gesetz, was in einigen Bundesländern oder in West-Berlin schon praktiziert wird. Zweiter Punkt: Wenn ich mir die gesetzlichen Bestimmungen genau ansehe, stelle ich fest, daß die Wiederkehrerlaubnis dann versagt werden kann, wenn Gründe der Ausweisung vorliegen. Also auch die Jugendlichen, die ihre sozialen und kulturellen Lebenszusammenhänge bei uns haben, können ausgewiesen werden. Dabei muß angemerkt werden, daß die Ausweisungstatbestände so weit gefaßt sind, daß der Behördenwillkür Tür und Tor geöffnet ist. Was ist z. B. mit einem ausländischen Jugendlichen, der Haschisch konsumiert hat - was ja auch bundesdeutsche Jugendliche tun - , ausgewiesen wird und in der Türkei nicht klarkommt? Dieser Jugendliche dürfte nicht zurückkehren. Auch in diesem Punkt wäre eine liberalere Praxis der Wiederkehr einzuführen. Ihr Antrag zu einem neuen Bundesausländergesetz zeigt einmal mehr, wie sehr Sie sich in fast allen Bereichen von Ihrer Reformpolitik vergangener Jahre verabschiedet haben. Ihr Antrag weist viele interessante und bemerkenswerte Parallelen zum sogenannten Ausländerintegrationsgesetz aus dem Hause Zimmermann auf und stößt daher auch auf meine Kritik. Ich will Ihnen nur einige Stichworte nennen, warum der Bundesinnenminister Ihren Antrag mit größtem Interesse aufnehmen wird. Erstens. Wie im Referentenentwurf aus dem Hause Zimmermann gehen Sie von einer Differenzierung des Aufenthalts von Ausländern nach dem Zweck aus. Fließende Übergänge vom befristeten zum unbefristeten Aufenthalt sind bei Ihnen nicht vorgesehen. Statt dessen wollen Sie die Aufenthaltserlaubnis erst einmal auf ein Jahr befristen. Eine erste Verlängerung kann dann auf zwei Jahre begrenzt werden, eine zweite Verlängerung wiederum auf zwei Jahre. Erst mit der dritten Verlängerung, also nach fünfjährigem Aufenthalt kann eine Ausländerin oder ein Ausländer eine Aufenthaltsberechtigung erlangen. Nach acht Jahren Aufenthalt gestehen Sie ein Niederlassungsrecht für Ausländerinnen zu und eine Einbürgerung erst nach zehn Jahren. Warum, meine Damen und Herren von der SPD, einigen Sie sich nicht gleich mit Herrn Zimmermann auf die Verabschiedung des Ausländerintegrationsgesetzes? So weit liegen Sie da bestimmt nicht auseinander. Zweitens. Auch Sie räumen eine Visa- oder Sichtvermerkspflicht - ich zitiere aus Ihrem Antrag - aus außenpolitischen Gründen ein. Auch das praktiziert das Haus Zimmermann und entspricht im übrigen auch den Bestrebungen in der Europäischen Gemeinschaft, den weiteren Zuzug von außereuropäischen Ausländern zu begrenzen. Drittens. Bei Ihnen ist die Aufenthaltserlaubnis weiter an die Erwerbstätigkeit und den Nachweis eines gesicherten Lebensunterhaltes gebunden. Das heißt, der Bezug von Sozialhilfe bleibt auch bei Ihnen ein möglicher Ausweisungsgrund. Außerdem bleibt es auch bei der aufenthaltsrechtlichen Abhängigkeit von Ehefrauen. Ein eigenständiges Aufenthaltsrecht für Frauen haben Sie in Ihrem Antrag nicht ausformuliert. Viertens. Der Nachweis von Wohnraum obliegt bei Ihnen der sozialen Verantwortung der Arbeitgeber. Das ist in meinen Augen eine weitere, zusätzliche, wenn Sie so wollen: Privatisierung der ohnehin schon bestehenden staatlichen Auflagen und Kontrollen von Ausländerinnen und Ausländern. Schließlich fünftens. Auch Sie nehmen eine Differenzierung der Ausweisungsgründe vor, während Sie zu den Rechten von Ausländern, wie z. B. zum Wahlrecht, absolut nichts sagen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD: Dieses Land war nicht nur ein Einwanderungsland, sondern es ist es auch bis heute, und dem muß Rechnung getragen werden. Wir brauchen kein weiteres, die Ausländer und Ausländerinnen reglementierendes Ausländergesetz, sondern ein Niederlassungs- und Bleiberecht für alle ausländischen Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen zu uns kommen oder zu uns kommen müssen. Ich kann Ihnen nur empfehlen, unsere Konzeptionen eines Niederlassungsrechtes und einer Politik der offenen Grenzen genau zu studieren, anstatt an Zimmermanns Ausländerintegrationsgesetz herumzufeilen. ({1})

Heinz Westphal (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11002489

Das Wort hat der Abgeordnete Dr. Hirsch.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist, glaube ich, unstreitig, daß wir ein neues Ausländerrecht brauchen. Wir reden nur mit verschiedenen Sprachen: Die einen wollen die Grenzen so hoch ziehen und so festmauern wie irgend möglich, auch wenn sie durch Familien mitten hindurchgehen, und die anderen sagen: Wir wollen, daß diejenigen, die bei uns leben, nicht anders leben brauchen und genauso leben können, wie wir selbst behandelt werden wollen, wenn wir uns in einem anderen Land aufhalten. Ich kenne keinen ausformulierten Gesetzentwurf, der verabschiedungswürdig und inhaltlich begrüßenswert wäre. Eine Mehrheit der Ausländer lebt langjährig in der Bundesrepublik und wird hier bleiben. Sie haben einen großen Teil ihrer Lebenskraft in den Wohlstand dieser Gesellschaft investiert. Ihre Kinder sind hier geboren und hier aufgewachsen. Es ist nicht mehr stimmig, daß diese Menschen einem fremden Recht unterworfen sind, das aus völlig anderen Verhältnissen und Auffassungen stammt. Manche unserer Mitbürger halten den Ausländern vor, daß sie sich nicht assimiliert hätten, in ihren Lebensauffassungen Fremde geblieben seien und daß nur wenige versucht hätten, die deutsche Staatsangehörigkeit zu erwerben. Man muß dem entgegenhalten, daß wir selbst wenig dazu beigetragen haben, diese Lebensentscheidung zu erleichtern. Wir neigen dazu, uns über Ausländer zu amüsieren, deren Sprachkenntnisse nicht perfekt sind, und außerhalb unseres Berufslebens suchen wir nicht gerade Kontakt zu ihnen. Ich könnte auch nicht erkennen, warum sie sich assimilieren, also ihre eigene Kultur und Lebensweise zugunsten der unsrigen aufgeben sollten. Im Gegenteil: Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß schon wegen der Freizügigkeit der europäischen Arbeitnehmer kein westeuropäischer Staat mehr souverän darüber entscheiden kann, wieviel Ausländer in seinen Grenzen leben. Wir sind es dementsprechend, die sich daran gewöhnen müssen, das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Völkern nicht als Belastung zu erleben. ({0}) Selbstverständlich ist es für uns selbst nicht gut, wenn wir einer großen Zahl von Menschen nicht den Weg in unsere Gesellschaft öffnen, sondern sie zwingen wollten, unter uns in einer Art Diaspora zu leben. Ich brauche nicht nachzuzeichnen, wie es zu dieser Lage gekommen ist; das ist schon oft genug dargestellt worden. Wir wissen, daß die historischen und wirtschaftlichen Erklärungen für die Wanderungsbewegungen diejenigen unserer Landsleute nicht beruhigen, die vor einer wachsenden Zahl von in der Bundesrepublik lebenden Ausländern Angst haben ({1}) - hören Sie eine Sekunde zu -, Angst vor Überfremdung - was immer das sein möge - oder Angst vor der Konkurrenz am Arbeitsmarkt. Wir wissen auch, daß die Integrationslast in unserer Gesellschaft unterschiedlich verteilt ist. Sie konzentriert sich im Bereich der Schule nicht in den Gymnasien, im Bereich des Wohnens nicht in den Villenvierteln und im Bereich der Arbeit nicht in den Vorstandsetagen. Darum müssen wir Geduld haben, mit unseren Landsleuten ebenso wie mit den Ausländern, und es ist eine wichtige Aufgabe der Politik, diese Angst nicht zu schüren, sondern zu helfen, sie zu überwinden. ({2}) Bisher hat die Politik diese Aufgabe überwiegend den Kirchen, den caritativen Organisationen, den Sportvereinen und vielen einzelnen Bürgern überlassen, denen wir dafür herzlich danken. Der Staat kann ihre Arbeit auch nicht ersetzen; er könnte aber mehr tun, sie ihnen zu erleichtern. Auch die FDP hat ihre eigenen Positionen zur Novellierung des Ausländerrechts wiederholt dargestellt. Der Ausländer soll nach einem fünfjährigen Aufenthalt eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis und nach acht Jahren eine Aufenthaltsberechtigung erhalten, an die sich bestimmte Rechte mit einer weitgehenden Gleichbehandlung mit Inländern knüpfen. ({3}) Wir wollen den Ausländern der zweiten Generation nach einem fünfjährigen Aufenthalt den Nachzug von Ehegatten ermöglichen, natürlich auch den Zuzug der Kinder erhalten. Die Struktur und der Wert einer Familie hängen doch nicht von der Staatsangehörigkeit ab. Ich kann überhaupt nicht begreifen, was wir dazu immer hören. ({4}) Wir wollen, daß junge Ausländer, die vor der Rückkehr in ihre Heimat mindestens sechs Jahre in der Bundesrepublik gelebt haben und hier schulisch und beruflich geprägt worden sind, eine befristete Wiederkehroption bis zum Ablauf des 23. Lebensjahres erhalten. Wir wollen die Ausweisung von Ausländern auf wenige wirklich wichtige Gründe beschränken. Wir wollen die Einbürgerung erleichtern und den Ausländern, die in der Bundesrepublik geboren oder aufgewachsen sind, einen Anspruch auf Erwerb der deut8202 schen Staatsangehörigkeit geben, wie das übrigens alle unsere westeuropäischen Nachbarn tun. Ich würde es in diesem Zusammenhang übrigens begrüßen, wenn jungen Ausländern die Gelegenheit gegeben würde, auch ihre Wehrdienstverpflichtungen in der Bundeswehr abzuleisten - wenn sie es wollen -, ({5}) natürlich mit der Folge, daß sie dann die deutsche Staatsangehörigkeit erwerben können. Schließlich haben wir über die rechtlichen Positionen hinaus eingehende Vorschläge zur Integration durch schulische und berufliche Bildung, zur sozialen Integration und zur Verbesserung der Rechtstellung der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung gemacht, deren Arbeit segensreich ist, die wir unterstützen wollen, unterstützt haben und von der wir glauben, daß sie wesentlich dazu beigetragen hat, Spannungen in unserer Gesellschaft abzubauen. Ich danke ihr hier für ihre Arbeit. ({6}) Ich hoffe, daß sie sie lange fortsetzen kann. Ich habe den Eindruck, daß bei allen Unterschiedlichkeiten im einzelnen hinsichtlich der notwendigen Integration sowohl innerhalb der CDU/CSU-Fraktion als auch in der SPD und in der FDP Meinungen vertreten werden, die nicht so grundsätzlich verschieden sind, wie es scheinen könnte. Wir werden uns bemühen, durch die vorgesehene Anhörung und vor allen Dingen durch intensive Gespräche dazu beizutragen, daß das erreicht wird, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben, nämlich in dieser Legislaturperiode zu einer Reform des Ausländerrechts zu kommen, die diesen Namen wirklich verdient. Vielen Dank. ({7})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Debatte zum Ausländerrecht auf Grund des Gesetzentwurfes und des Antrages der SPD-Fraktion verläuft heute ja relativ friedlich im Unterschied zu der öffentlichen meist bösartigen Diskussion zur Ausländerfrage. Ich bedaure es sehr, Herr Innenminister, daß Sie bei der Vorstellung der ersten Ergebnisse zur Volkszählung es nicht unterlassen konnten, insbesondere die Volkszählungsergebnisse unter dem Aspekt der unerträglichen Überfremdung in unserem Lande zu werten, obwohl zu Ihrer eigenen Überraschung die ersten Ergebnisse - was Sie offensichtlich gar nicht so gut finden - eine niedrigere Ausländerzahl angeben, nämlich 4,1 Millionen, als die, die Sie bis jetzt propagiert haben. Das paßt nun nicht ganz in Ihre Propaganda. Die Tatsache aber, daß jeder Anlaß genutzt wird, Ausländerpolitik emotional negativ in der Öffentlichkeit zu diskutieren, zeigt eigentlich das Grunddilemma unserer Gesellschaft. Da nutzt es auch nicht, wenn man hier im Parlament hin und wieder relativ unverbindliche Worte zur Ausländerpolitik ausspricht. Die Problematik liegt nicht so sehr in der Parlamentsdiskussion hier, sondern vielmehr in der gesellschaftlichen Diskussion. Nur eine maßvolle, von humanitären Grundsätzen geprägte Auseinandersetzung kann den Betroffenen, nämlich den Ausländern, weiterhelfen. ({0}) Noch etwas zu dieser Debatte. Es ist natürlich ein bißchen witzig: Auf der einen Seite sagt der Bundesminister Zimmermann: „Ihren schädlichen Gesetzentwurf, meine Damen und Herren von der SPD-Fraktion, sollten Sie überdenken; treten Sie in Übereinstimmung mit Ihren Ländern und machen Sie etwas anderes, machen Sie nicht einen Gesetzentwurf der offenen Grenzen." Frau Olms sagt auf der anderen Seite: „Das ist ein Gesetzentwurf, der sehr dem gleicht, was der Herr Zimmermann vorlegt. " ({1}) Wir liegen, glaube ich, ganz richtig mit unseren Vorstellungen, die übrigens in einer breiten Übereinstimmung in vielen internen Anhörungen der SPD mit Betroffenengruppen, mit Ausländerinitiativen, zustande gekommen sind. Der Grundtenor ist die Verrechtlichung der Situation für Ausländer, damit sie eine vernünftige Lebensplanung in der Bundesrepublik vornehmen können, denn wer sein Leben planen will, der muß wissen, was er zukünftig in diesem Lande für Rechte hat. Diese Rechte müssen ausgeweitet werden, hin auf ein Niederlassungsrecht. Ich muß Ihnen auch folgendes sagen. Als Sie damals Ihre Niederlassungskonzeption vorgestellt haben, ist die, nachdem die SPD ihre vorgestellt hat, davon weitestgehend abgeschrieben worden. Nun sehen Sie sich einmal Ihren Entwurf an! Der unterscheidet sich sehr wenig von dem, was die SPD damals entwickelt hat. ({2}) Ich glaube - auch das ist ein Grunddilemma -, daß Sie damit den gleichen Fehler wie Herr Zimmermann machen, nämlich um die eigene Position zu profilieren, auch Sie nicht davon ablassen können, in diese Diskussion immer ein Hauch von Bösartigkeit hineinzubringen. Wem hilft das eigentlich? ({3}) Versuchen wir doch einmal gemeinsam, das, was sinnvoll, was für die Menschen vernünftig ist, durchzusetzen. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Nein, es ist nur eine kurze Redezeit.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Keine Zwischenfrage. ({0})

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Danke schön; ich möchte jetzt nicht. Ich bin sehr froh darüber, daß zumindest in der Frage der Wiederkehroption vom Innenminister heute ein positives Zeichen gesetzt worden ist, wobei ich es nicht für richtig halte, daß dieses - da bin ich wieder sehr skeptisch, wenn Sie es sagen - eine Härteregelung sein soll. Ich meine, es muß eine gesetzliche Regelung sein, die der Bund trifft. Ich will Ihnen, um das zu untermauern, weil es nicht nur Härtefälle sind, sondern eine größere Gruppe ist, einen der vielen Briefe vorlesen, die an die Ausländerbeauftragte Frau Funcke gerichtet sind. Ich glaube, es ist auch ihr Verdienst mit, daß es in diesem Punkt heute über die Fraktionen hinweg Goodwill gibt. Dies gilt nicht nur für Frau Funcke. Ich möchte auch einmal an meine frühere Kollegin, die frühere Familienministerin Antje Huber erinnern, die jetzt nicht mehr im Parlament ist, und die diesen Punkt sehr frühzeitig angesprochen hat. Ich zitiere aus diesem Brief an Frau Funcke, weil vielen Menschen nicht bewußt ist, um was es sich hier handelt: Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ich bin türkisch. Wir sind 1983 in die Türkei zurückgekehrt. Mein Vater ging 1963 nach Deutschland. Ich habe mich noch immer nicht in die Türkei eingewöhnt und möchte nach Deutschland zurück! Denn schließlich bin ich in Deutschland geboren und aufgewachsen, und ich fühle mich genau so. Ich kann noch nicht einmal die - türkische Sprache richtig. Wenn ich spreche, lachen alle Leute. Alle meine Freunde, die ich liebe, sind in Deutschland. Alles ist wegen meiner Eltern passiert. Wären sie nicht zurückgekehrt, wäre das alles nicht passiert! Ist das meine Schuld? Wenn ich volljährig wäre, wäre ich in Deutschland geblieben, und ich hätte auch die Staatsangehörigkeit angenommen ... Ich bin im Vaterland, aber wo ist mein Heimatland? Für mich ist es Deutschland! Es muß möglich sein, im Land, wo man geboren und aufgewachsen ist, zu leben und glücklich zu sein. Ich habe überall geschrieben, wo mir eingefallen ist, aber leider vergebens! Ich möchte leben, wo ich geboren und aufgewachsen bin ... Denn schließlich bin in in Deutschland geboren und aufgewachsen. Hilfe, Hilfe, bitte retten Sie mich! Wir wissen, daß bei vielen Rückkehrern ein sehr großer Anteil von jungen Leuten ihre Schulbildung, ihre Berufsausbildung hier gemacht haben und dann mit den Eltern, weil die etwa die Rückkehrhilfen in Anspruch genommen haben, zurückgegangen sind. Diese Menschen sind in der Türkei todunglücklich und geraten dort zwischen Baum und Borke, werden von den Einheimischen dort häufig nicht akzeptiert, weil sie nicht als richtige Türken zählen. Nun haben manche bei uns Angst vor der großen Zahl derjenigen, die über eine solche Regelung zurückkommen könnten. Inzwischen haben einige Institute und auch die Bundesanstalt für Arbeit ausgerechnet, um wieviele Menschen es sich handelt, wieviele zurückkehren könnten: Das wären im Augenblick 4 000 junge Leute. Zukünftig werden es natürlich erheblich weniger werden, weil unter diesen 4 000 jungen Menschen der Rückstau der letzten Jahre enthalten ist. Ich meine, wir haben es nicht nötig, für diese Gruppe eine komplizierte Härteregelung und Verwaltungsvorschriften zu machen, sondern man sollte ein wirklich bundeseinheitliches Gesetz machen. ({0}) Wir sollten, glaube ich, auch unter dem Aspekt, daß jetzt in allen Fraktionen der gute Wille da ist und man dieses Problem erkannt hat, diesen Gesetzentwurf zum Anlaß nehmen, ein Gesetz zu verabschieden. Wir sind bereit, über Einzelheiten zu reden. ({1}) Das ist ein Angebot. ({2}) Ich glaube, daß sehr deutlich geworden ist, daß von uns aus gehandelt wird, um diesen Menschen gerecht zu werden, für die wir Verantwortung haben, für deren Sozialisation wir mitverantwortlich sind. Meine Damen und Herren, das Ausländerrecht wird so lange umstritten bleiben und in der Bundesrepublik Deutschland immer wieder zu einer unsäglichen Situation führen, solange ein Teil der Politiker, insbesondere der konservativen, meint, sie könnten mit Stimmungsmache einen Teil des rechten Randes binden. Das führt dazu, daß durch eine solche Stimmungsmache in der Bundesrepublik Deutschland überhaupt keine gesetzlichen Regelungen zustande kommen. Dem steht gegenüber, daß nicht nur in der SPD, bei den GRÜNEN und bei der FDP - man braucht nur mit vielen Kolleginnen und Kollegen zu sprechen - , sondern auch in der CDU viele Kollegen bereit wären, ein liberales Ausländerrecht zu konzipieren. Das heißt, es gibt in Wirklichkeit in diesem Haus eine ganz große Mehrheit für ein vernünftiges Ausländerrecht. Das wird durch die Profilierungsdiskussion vom konservativen Rand systematisch verhindert. ({3}) Ich kann Sie nur dringend auffordern, auch Sie, Herr Innenminister, dieser Mehrheit, die in diesem Hause vorhanden ist, um ein passables Ausländerrecht zu beschließen, endlich Rechnung zu tragen und genauso, wie sich jetzt bei der Wiederkehroption angedeutet, den Versuch eines großen Konsensus in der Bundesrepublik Deutschland zu unternehmen. Die Chance dazu besteht. Wir werden auch bei Schwierigkeiten, die in Teilen der Bevölkerung vorhanden sind, mit Hilfe von Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden viel Verständnis finden. Wenn wir in der Lage wären, in unserer politischen Kultur, in diesem so wichtigen Bereich, ein Stück wei8204 Wartenberg ({4}) terzukommen, dann ist es dringend notwendig, daß wir gemeinsam zu einem Grundkonsens zurückkommen und das Thema Ausländer- und Minderheitenpolitik nicht zur Profilierung mißbrauchen. Vielen Dank. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Dr. Kappes.

Dr. Franz Hermann Kappes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch ich beginne mit Ergebnissen der Volkszählung. Seit der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse vor wenigen Tagen wissen wir das nun genau: Die Zahl der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer hat sich seit der Volkszählung 1970 beträchtlich erhöht, nämlich um 70 % von 2,439 Millionen auf - Herr Schröer -4,146 Millionen. In diesen siebzehn Jahren stieg der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung von 4 auf 6,8 %. Von den Bundesländern liegt Berlin mit 11,1 an der Spitze. ({0}) Bereits diese Zahlen, meine Damen und Herren, machen deutlich, daß es sich bei der Regelung der Rechtsverhältnisse der bei uns lebenden Ausländer sowie derjenigen Ausländer, die noch zu uns kommen wollen, nicht mehr wie noch vor 20 Jahren gewissermaßen um ein politisches Randthema handelt. Wir müssen uns in der Tat neu darauf verständigen, welchen Ausländeranteil wir in der Zukunft noch für sozial verantwortbar, für national vertretbar, für kulturell angemessen und für wirtschaftlich verkraftbar halten wollen. ({1}) - Natürlich. - Dazu bedarf es ganz ohne Frage zeitgemäßer Regelungen. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP bereitet, wie Sie wissen und wie auch Herr Bundesinnenminister Dr. Zimmermann eben erwähnt hat, entsprechende Gesetze vor. Das gute Recht der Opposition ist es natürlich, jetzt auch eigene Vorschläge hier einzubringen. Meine Damen und Herren, bevor wir uns allerdings über viele Einzelheiten auseinandersetzen, bedarf es nach meiner Überzeugung dringend gewisser grundsätzlicher Klärungen oder Klarstellungen. ({2}) Erstens ist immer wieder gemahnt worden, die Bundesrepublik Deutschland sei kein Einwanderungsland. Tatsächlich jedoch belegen die Zahlen, daß in den vergangenen zwei Jahrzehnten in erheblichem Maße eine faktische Einwanderung stattgefunden hat. Das läßt sich im wesentlichen nicht rückgängig machen, aber für die Zukunft doch ausschließen. Zweitens muß, wie ich denke, ein wichtiger Maßstab für die Zukunft das Recht auch der deutschen Nation bleiben, vorrangig die ihr eigene typische Kultur zu bewahren. ({3}) Bei aller Bereicherung, Frau Kollegin Olms, durch fremde Kulturkreise, die ich gar nicht bestreite, sollten wir uns nicht gedankenlos auf den Weg machen in eine alles vermischende sogenannte multikulturelle Gesellschaft. ({4}) - Ich sehe das anders. Wir reden noch einmal darüber, was das eigentlich bedeutet. Vielleicht reden wir auch über verschiedene Dinge. Drittens müssen wir, wie ich denke, auch die europäische Dimension des Themas konkreter als bisher definieren. Wir wollen Europa, aber wir wollen keinen Einheitsstaat. Wer bei uns etwa das Wahlrecht als das zentrale Staatsbürgerrecht im demokratischen Staat ausüben darf, kann nicht von europäischen Institutionen entschieden werden. Die hier eingebrachten Vorschläge der SPD-Fraktion für ein Bundesausländergesetz gehen offenkundig von Grundvorstellungen aus, denen wir in manchen Punkten deutlich widersprechen müssen. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, hier beispielsweise vorschlagen, an Stelle der bisherigen Ermessensentscheidung der deutschen Behörden unter bestimmten, sehr großzügig formulierten Voraussetzungen einen Rechtsanspruch des Ausländers auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis zu gewähren oder Auflagen wie das Verbot oder die Beschränkung politischer Betätigung für unzulässig zu erklären oder auszuschließen, daß die Erlaubnis zum dauernden Aufenthalt bei ihrer zweiten Verlängerung nicht mehr aus Arbeitsmarktgründen versagt werden darf oder daß bereits nach acht Jahren Aufenthalt ein umfassendes Niederlassungsrecht zu gewähren sei, was z. B. zugleich das Verbot künftiger Ausweisung bedeuten soll - um nur einige Beispiele zu nennen -, so wird hier deutlich, daß Sie in Wirklichkeit - ich fand, sehr zutreffend, was wir eben vom Bundesinnenminister gehört haben - eine Art Einwanderungsgesetz vorschlagen. Im wesentlichen stellen Sie doch nur auf die Aufnahmefähigkeit des deutschen Arbeitsmarkts ab, und das, wie gesagt, auch nur bis zur ersten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis. Sonstige öffentliche Interessen spielen bei Ihnen, soweit ich sehe, kaum noch eine Rolle. Meine Damen und Herren, wir wollen - ich sage das ganz klar - keine Ausländer-raus-Politik, aber auch keine Ausländer-rein-Gesetze. Wir erkennen an, daß die Integration der schon lange hier lebenden und insbesondere der hier geborenen Ausländer durch integrierende, der Entwicklung angepaßte rechtliche Regelungen gestützt werden muß. Ebenso sicher wird es aber auch mit uns kein Gesetz geben, das unsere deutschen Interessen gegenüber den Interessen einwanderungswilliger Ausländer in einem solchen Maße vernachlässigt wie die von Ihnen vorgelegte Konzeption eines Bundesausländergesetzes. ({5}) Freilich trifft zu, daß die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländer einen Anspruch darauf haben, zu wissen, welche Rechte ihnen zustehen und welche Pflichten auf sie zukommen, wenn sie ihre Lebensplanung auf einen Daueraufenthalt in unserem Land einrichten. Insofern stimmen wir Ihrem Entschließungsentwurf grundsätzlich zu. Dies kann jedoch nicht bedeuten, Herr Kollege Schröer, daß wir z. B. losgelöst von der deutschen Staatsangehörigkeit ein umfassendes Niederlassungsrecht, vielleicht noch verbunden mit dem kommunalen Wahlrecht, gewähren müßten, ohne damit auch entsprechende Pflichten - z. B. die Wehrpflicht - zu verbinden. Wer auf Dauer hier bleiben will und die Voraussetzungen dafür erfüllt, muß sich eben für den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit entscheiden. ({6}) Die wesentlichen Bedingungen hierfür sollten wir allerdings - das will ich auch klar sagen - nicht zu großzügig ändern. Wer unsere Sprache nicht spricht, Herr Kollege Hirsch, und ein bestimmtes Grundwissen über unsere Staats- und Gesellschaftsordnung nicht nachzuweisen vermag, kann auch in Zukunft nicht Deutscher im Sinne des Grundgesetzes werden. ({7}) - Wenn Sie meine Formulierung genau gehört haben, dann werden Sie vielleicht gemerkt haben, daß ich das sehr wohl weiß und auch bedacht habe. Im übrigen, meine Damen und Herren, ist das geltende Ausländerrecht auch keineswegs so unberechenbar, wie das oft behauptet wird. Auch das Ermessen der Ausländerbehörden darf nur pflichtgemäß ausgeübt werden und bewegt sich nicht im rechtsfreien oder gerichtlich nicht nachprüfbaren Raum. Am Ende müssen die Belange der Bundesrepublik Deutschland maßgebend dafür bleiben, wer sich als Ausländer und wie lange er sich in unserem Land aufhalten kann.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Kollege, von Herrn Dr. Hirsch?

Dr. Franz Hermann Kappes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Also, dem Herrn Dr. Hirsch gestatte ich eine.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das habe ich mir gedacht. Herr Dr. Hirsch, Sie haben die Erlaubnis.

Dr. Burkhard Hirsch (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000908, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Herr Kollege, verstehen Sie denn nicht, daß bei Ermessensentscheidungen die Lebensplanung eines jungen Menschen völlig unmöglich wird, wenn er sich mit 16 oder 17 Jahren entscheiden soll, ob er in der Bundesrepublik bleiben will oder nicht? Ihm hilft doch nur ein Rechtsanspruch mit klaren Grenzen, aus denen er erkennen kann, ob er Deutscher werden kann oder nicht. ({0})

Dr. Franz Hermann Kappes (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001065, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Ich habe eben selber eingeräumt, daß wir bei der Entwicklung, die bei uns hier nun einmal eingetreten ist, entsprechende Neuregelungen brauchen. Aber ich glaube nicht, daß wir einer Regelung zustimmen können, die letztlich jedes Ermessen der deutschen Verwaltung beseitigen und bei einem Rechtsanspruch die Entscheidung dann, wie soll ich sagen, uneingeschränkter gerichtlicher Nachprüfung unterstellen würde. Daß wir bestimmte Kriterien festlegen sollten, ist ja auch durchaus unsere Auffassung. Meine Damen und Herren, allerdings - das zu sagen ist mir wichtig - ist auch für meine politischen Freunde und mich eines völlig klar; und das beantwortet vielleicht auch noch einmal zum Teil die Frage von Herrn Dr. Hirsch. Die aus der faktischen Einwanderung von Millionen Ausländern erwachsenden menschlichen Probleme müssen menschlich zufriedenstellend gelöst werden. So gibt es ja in der Frage einer Wiederkehrerlaubnis für in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene junge Ausländer, wie wir es soeben auch von dem Herrn Minister gehört haben, bereits vielversprechende Bemühungen um eine einvernehmliche Handhabung zwischen Bund und Ländern außerhalb einer vorgezogenen Gesetzesnovellierung. Wenn sich die verabredete Praxis dann bewährt, sollten wir sie natürlich auch in das neue Ausländeraufenthaltsgesetz hineinschreiben. In diesem Sinne stimmen wir der Verweisung der beiden Vorlagen an die Ausschüsse zur weiteren Beratung zu. Ich bin sicher, daß wir uns in einer ganzen Reihe von Punkten einigen können; aber Sie sollten auch wissen, daß wir nicht bereit sein werden, so weit zu gehen, wie Sie das hier vorschlagen. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Vorlagen der Fraktion der SPD an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Keine weiteren Vorschläge. - Keine Gegenstimmen. Es ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Frau Schmidt-Bott und der Fraktion DIE GRÜNEN Ursachen, Prävention und Behandlung der Unfruchtbarkeit, Entwicklung und Auswirkungen von Fortpflanzungstechniken und Embryonenforschung - Drucksachen 11/747, 11/2238 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3587 vor. Der Ältestenrat hat für die Beratung einen Beitrag bis zu zehn Minuten für jede Fraktion vorgeschlagen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung offenbart ein fundamentales Unwissen über alle wesentlichen Aspekte der in unserer Großen Anfrage thematisierten Probleme und ein völliges Desinteresse an der Erforschung der Ursachen von Unfruchtbarkeit. Die Antworten sind durchgehend vage gehalten. Mühsame Versuche, die Wissenslücken zu bemänteln durch Verweise auf Untersuchungen in anderen Ländern, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Grundlagenwissen über Unfruchtbarkeit, ihre Ursachen, ihr Ausmaß und sinnvolle Therapieformen einfach dürftig sind. Was wird nicht gewußt? Worüber wird nicht nachgedacht? Was wird nicht erforscht? Die Liste ist erschreckend lang: Studien zur Häufigkeit von ungewollter Unfruchtbarkeit liegen in der Bundesrepublik nicht vor. Umfassende Untersuchungen über die Veränderung der Häufigkeit von Unfruchtbarkeit sind in der Bundesrepublik nicht bekannt. Es fehlen arbeits- und umweltmedizinische Forschungen zu den Einflüssen von Arbeitsbedingungen, Umweltbelastungen, giftigen Stoffen in der Ernährung sowie Streß auf die Fruchtbarkeit. Es fehlen Untersuchungen zur Auslösung von Unfruchtbarkeit durch Medikamente, insbesondere durch Hormonbehandlungen und Verhütungsmittel. Es gibt nur naturwissenschaftlich orientierte Forschung, die Fortpflanzung allein als biochemischen und biophysikalischen Prozeß begreift. Es fehlen Untersuchungen, die die lebensweltlichen und psychosomatischen Dimensionen von Fortpflanzung und Unfruchtbarkeit erforschen. Es können keine umfassenden Angaben gemacht werden zum Wissensstand bei Ärztinnen und Ärzten und anderen Multiplikatorengruppen über die Ursachen und die Möglichkeiten der Vermeidung von Unfruchtbarkeit. Der düstere Kenntnisstand ist deshalb so aufschlußreich, weil gleichzeitig eine rasante Entwicklung bei den Methoden zur künstlichen Befruchtung und eine sehr einseitige Orientierung auf medizinisch-technische Abhilfe stattfinden. Nach verschiedenen Schätzungen ist laut Bundesregierung von 10 % bis 15 % ungewollter Kinderlosigkeit bei Ehepaaren im reproduktionsfähigen Alter auszugehen. Diesen Zahlen liegt die Definition von Unfruchtbarkeit bei nicht erfolgter Konzeption innerhalb von zwei Jahren zugrunde. Von wem diese Definition stammt, sagt die Bundesregierung nicht. Dafür erfahren wir, wie die WHO Unfruchtbarkeit definiert, nämlich etwas anders: Keine Konzeption innerhalb eines Jahres bei regelmäßigem Geschlechtsverkehr. Wie nach der WHO-Definition die Zahlen für die Bundesrepublik zu schätzen wären, bleibt offen. Warum wohl? Ich denke, daß das Verwirrspiel über verläßliche Daten Methode hat. Das schafft nämlich den Spielraum, je nach politischer Opportunität unterschiedlich vorzugehen und politische Vorgaben je nach Gusto zu legitimieren. So ist es sehr interessant, daß die gleiche Bundesregierung, die in der Großen Anfrage - die Antwort stammt vom Mai 1988 - konstatiert, „daß in der Bundesrepublik keine dramatischen Veränderungen der Unfruchtbarkeit bzw. Spermaqualität in den letzten 20 Jahren eingetreten sind" , in ihrem „Kabinettsbericht zur künstlichen Befruchtung beim Menschen" drei Monate vorher, im Februar 1988, ungewollte Kinderlosigkeit aber als „Massenphänomen" bezeichnet. Was denn nun? Ist ungewollte Kinderlosigkeit ein „Massenphänomen", oder ist sie es nicht? Gibt es dramatische Veränderungen in den letzten 20 Jahren, oder nicht? Oder muß ab und zu dramatisiert und gut dosiert wieder abgewiegelt werden, damit die Methoden zur künstlichen Befruchtung zunächst für wenige - als Ausnahme und letztes Mittel deklariert - gesellschaftlich durchgesetzt werden können, um uns alle schleichend an die Reproduktionstechniken zu gewöhnen und uns von Protest und Widerstand gegen all das abzuhalten, was als Ursache für Unfruchtbarkeit zum Teil schon nachgewiesen, zum Teil mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist? Wissenschaftler der Technischen Hochschule Aachen wiesen 1987 darauf hin, daß sich der Anteil der ungewollt kinderlosen Ehen in der Bundesrepublik in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt habe: von 7 % auf 15 %. Sie vermuteten einen Zusammenhang mit Umweltbelastungen, da die Unfruchtbarkeit bei Berufsgruppen, die mit Chemikalien und Pestiziden arbeiten, überproportional hoch ist. Barbara Menning, Gründerin einer Organisation in den USA zur Beratung ungewollt kinderloser Paare, kommt zu folgender Einschätzung: „Ich glaube, die Fortpflanzungsorgane sind eine Art Frühwarnsystem für die Menschheit. " Das ist zitiert nach: Gena Corea, Die Muttermaschine. Und Anna Dorothea Brockmann - zitiert nach Streit, März 1988 - sagt: Sterilität als Normalitätsabweichung und Krankheit verschiebt den Blick von gesellschaftlichen Ursachen reproduktiver Stagnation auf individuelle Verantwortlichkeit und private Heilungsangebote, also weg von Vergiftung, Verseuchung, Verstrahlung, Streß, Medikamenten oder auch sozialer Rollenverweigerung hin zu individualisierter Versagenszuschreibung und zu Reparaturtechniken der Gynäkologie. Ungewollt kinderlos zu sein und sich keiner der machbaren Behandlungsarten zu unterziehen wird bei derartiger Definition nunmehr legitimationsbedürftig, auch subjektiv. Denn Unfruchtbarkeit gilt so als unnatürlicher Mangel, der der gesunden „Natur" der Frau widerspricht - womit die Reproduktionsmedizin einmal mehr den sozialen Zwang zur „mütterlichen Natur" der Frau unterstreicht und ausdehnt. Also - sage ich - : Wenn die Natur es nicht mehr schafft oder sich weigert, muß halt die Technik ran. Sterilitätsstörungen liegen zu fast gleichen Anteilen bei Mann und Frau; die Verantwortung, die Last der Untersuchungen und vor allem die oft qualvollen Behandlungen aber traditionell einseitig wieder bei den Frauen. Traute Schönenberg und Ute Winkler vom Femministischen Frauengesundheitszentrum Frankfurt, das seit zwei Jahren eine Beratung für ungewollt kinderlose Frauen anbietet, berichten, daß häufig Frauen zu ihnen kommen, die gynäkologisch bereits völlig „auf den Kopf gestellt" wurden, ohne daß sich ein Hinweis auf Schwangerschaftshemmnisse ergab. Die Autorinnen stellen dazu fest: Die Partner der Frauen werden nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt untersucht, da sie sowohl von den Gynäkologen als auch von den Frauen selbst „geschützt" werden. In der Antwort der Bundesregierung liest sich das so: ... bei der Frau sind zur Feststellung oder zum Ausschluß einer Sterilitätsursache ungleich mehr Diagnoseschritte erforderlich als beim Mann. Da sich auch die Behandlungsmöglichkeiten vorwiegend auf die Frau beziehen, werden Frauen wegen ungewollter Kinderlosigkeit ungleich mehr behandelt als Männer. Das gilt in Ermangelung kausaler Therapien bei männlich bedingter Fruchtbarkeitsstörung z. T. auch, wenn die Kinderlosigkeit eindeutig durch den Mann bedingt ist. Im Klartext: Frauen werden wegen Unfruchtbarkeit behandelt, obwohl sie gar nicht unfruchtbar sind. Frauen sind das Experimentierfeld für die Reproduktionsmediziner, denen es um den Embryo als Forschungsmaterial geht. Ich zitiere den englischen Gynäkologen Steptoe: Hätten wir nicht an Embryos geforscht, wäre die künstliche Befruchtung niemals so weit gekommen ... Und wir mußten dafür einige hundert Embryos sezieren. Zitiert nach „Gen-Report 1988". Frauen werden zu „Eispenderinnen" degradiert, die das Rohmaterial liefern und die tendenziell ganz aus dem Vorgang des „Menschenmachens" ausgeschaltet werden sollen. In Bologna gelang es in diesem Sommer einem Ärzteteam, eine aus einer Frau entfernte Gebärmutter künstlich mit Sauerstoffzufuhr und Hormongabe am „Leben" zu erhalten. Der implantierte Embryo entwickelte sich nach dem Bericht der Ärzte „ganz normal", bis nach 52 Stunden die Gebärmutter „zusammenbrach". Herr Prof. Kurt Semm, Leiter des Kieler IVF-Teams, ist da ebenfalls ganz sachlich: Die Aufzucht des homo sapiens im Reagenzglas ist auch meines Erachtens ein technisches Problem und nicht unlösbar ... warum soll es nicht möglich sein, die Plazenta, die ja lediglich nur an einer Membrane sitzt und die ganzen Nährstoffe der Mutter ... austauscht, an irgendeine Wand zu setzen, die wir technisch entwickeln und wo der ganze Embryo genauso genährt wird, wie in ihrem Unterleib? - Zitiert nach „Gen-Report 1988". Nach der extrakorporalen Befruchtung folgt jetzt also auch noch die künstliche Gebärmutter. Fürwahr ein schöner Fortschritt! Die Entwicklung der gentechnologisch fabrizierten herbizid- und antibiotikaresistenten Pflanzen werden begleitet von der Vision des künstlich hergestellten Menschen, resistent gemacht gegen chlorierte Kohlenwasserstoffe und Pestizide, nach Eugenik-TÜV qualitätsgeprüft und für brauchbar befunden. Wenn wir aber sagen: hört auf mit dieser Frankensteintechnologie, dann gelten wir als Fortschrittsfeinde. Stimmt: solchem Fortschritt stehen wir feindlich gegenüber. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Voigt ({0}).

Dr. Hans Peter Voigt (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002387, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich glaube, wir kommen einmal auf den Boden der Realitäten zurück. ({0}) Zunächst möchte ich der Bundesregierung sehr herzlich für den sehr ausführlichen und sensiblen Bericht zu einem Themenbereich danken, der zweifelsohne politisches Handeln verlangt; ich will das gleich versuchen aufzuzeigen. Ich glaube, dieser Bericht zeigt genau das auf, wo gehandelt werden muß, und er stellt die Frage, die wir hier erörtern, in den richtigen Zusammenhang. Wir, seitens der CDU/CSU, unterstreichen diesen Weg und sind auch der Auffassung, daß zum einen politisches Handeln - in Anbetracht der Zahlen, die wir eben auch von Ihnen schon, Frau Schmidt-Bott, gehört haben, daß nämlich 10 bis 15 % der Ehepaare ungewollt kinderlos bleiben - notwendig ist, und wir sind zum anderen auch der Auffassung, daß es nicht darum geht, daß man die vielgelobte Technik der Medizin, die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung, als das allein seligmachende Prinzip hinstellen soll, sondern daß wir uns der Frage zuwenden müssen, daß soundso viel Bürger in unserem Lande und darüberhinaus auch in anderen europäischen Industrieländern ohne Kind bleiben, obwohl der Kinderwunsch da ist. Wir müssen dies sehr ernst nehmen und versuchen, den Zusammenhang der Psychosomatik herzustellen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn wir eine Präventionsstrategie entwickeln wollen - ich unterstütze das; das wird in dem Bericht sehr deutlich - , dann müssen wir im Vorfeld einige Fragen klären. Präventionsstrategie bedeutet für mich, daß nur nach sehr differenzierten Anamnesen, nach sehr differenzierter Betrachtung des sozialen Umfeldes, d. h. der Umgebung, in der die einzelnen Menschen leben, daß erst dann, wenn eine medikamentöse Therapie nicht mehr zu einem Erfolg führt und wenn Mann und Frau gleichwertig behandelt sind - Frau Schmidt-Bott, ich stimme Ihnen zu; da gibt es einiges nachzuholen; wir wissen auch, daß das nicht immer Dr. Voigt ({1}) der Fall ist - , eine künstliche Befruchtung in Betracht kommt. Daß die Unfruchtbarkeit oder der nicht erfüllte Kinderwunsch sehr häufig die Ursache auch beim Mann hat, ist in der Zwischenzeit bekannt, aber nicht immer herrschender Stand im Umgang mit dem Patienten bzw. mit den angesprochenen Menschen; das ist gar keine Frage. Wenn alle Methoden nicht zum Erfolg geführt haben, dann bin ich der Auffassung, daß wir in solchen Fällen selbstverständlich als die letzte Möglichkeit davon Gebrauch machen sollten, die künstliche Befruchtung einzuleiten, aber nur unter den strengen Kriterien, wie wir sie immer gefordert und gewünscht haben, nämlich in einem Team von vielen hochklassigen Medizinern. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen auch, daß genau in diesem Anwendungsbereich noch sehr, sehr viel Forschungsarbeit nötig ist. Denn der Erfolg, den wir im Augenblick sehen und der weit unter 20 % liegt, kann uns nicht befriedigen und zeigt einfach auch, daß hier nach wie vor in der Technik ein sehr großes Risiko liegt. Welche Fragen sind zu klären, bevor wir ein Konzept der Prävention entwickeln können? Meine sehr verehrten Damen und Herren, es geht darum, daß wir - das wird ja in dem Bericht auch deutlich - von dem Schwerpunkt der medizinisch-biologischen Forschung abkehren und daß wir zur Forschung im gesellschaftlichen Umfeld hingehen. Wir müssen uns zweifelsohne, bevor wir überhaupt Präventionsstrategien entwickeln können, anschauen, welche Ursachen tatsächlich zur Sterilität führen. Wir müssen prüfen, ob sie beim Mann oder bei der Frau liegen. Wir müssen sehen, ob eine Abhängigkeit vom Lebensalter besteht. Wir müssen beobachten lernen, ob die Zunahme in den letzten Jahren in irgendeiner Abhängigkeit von Umwelteinflüssen, von Infektionen, von dem Genuß von Arzneimitteln und ähnlichem steht. Hier gibt es einen riesigen Forschungsbedarf. Ich möchte noch einmal für die CDU ganz deutlich machen, daß wir der Meinung sind, daß es hier wichtige Arbeit aufzuholen gilt. Auch dies wird in dem Bericht in meinen Augen außergewöhnlich deutlich. Lassen Sie mich zum Schluß noch zu einem weiteren Punkt kommen, weil es hier am Ende angesprochen ist. Ich glaube, ich kann es sehr kurz machen. wir haben im Frühjahr dieses Jahres sehr intensiv über die Frage des Embryonenschutzgesetzes diskutiert. Ich möchte hier noch einmal dieses Embryonenschutzgesetz anmahnen. Wir sind der Auffassung, daß hier eine gesetzliche Regelung - Sie wissen, daß wir eine sehr strenge Regelung haben möchten - notwendig ist und daß sie bald kommen muß. Wir fordern die Bundesregierung auf, so schnell wie möglich auf diesem Feld zu handeln. Vielen Dank. ({2})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Becker-Inglau.

Ingrid Becker-Inglau (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000132, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ungewollt kinderlos zu sein, kann für viele Paare eine Belastung der Partnerschaft sein. Wenn ich von der in der Antwort der Bundesregierung wie auch an anderer Stelle bereits mehrfach angenommenen Prozentzahl, nämlich 10 bis 15 % der ungewollt kinderlosen Ehepaare - die etwa gleich große Prozentzahl der unverheirateten festen Paare ist hinzuzurechnen- ausgehe, muß sich die Bundesregierung, insbesondere unsere ehemalige Familienministerin, wenn sie das Klagelied über die zu geringen Geburtenraten anstimmt, fragen lassen: Was hat diese Bundesregierung bisher getan, um wenigstens den Paaren mit dem sehnlichen Kinderwunsch zu helfen? Nach der Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage der Fraktion DIE GRÜNEN kann ich die Antwort geben: Sie hat nichts getan. Wie an vielen anderen Stellen im familienpolitischen Bereich gilt auch hier: Nichts außer Worten an vielen Orten. So verharrt die Bundesregierung bei lange bekannten Feststellungen und Informationen darüber, daß es ungewollte Kinderlosigkeit gibt und daß es unterschiedliche Ursachen für die Unfruchtbarkeit gibt, die einerseits auf körperliche Mängel des einen oder anderen Partners oder beider Partner zurückzuführen sind, andererseits auf ungünstige Lebens- oder Umweltbedingungen. Ich vermisse über diese Aussagen hinaus, daß Ursachenforschung nötig ist und daß man die Absicht habe, hier tätig zu werden, tatsächliche Ansatzpunkte des Handelns. Ich vermisse auch Hinweise auf geplante finanzielle Mittelbereitstellung, um Hilfen zu geben und Beratungsstellen bundesweit in Zusammenarbeit mit den Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, die laut Bericht wohl Bereitschaft zur Aufgabenübernahme gezeigt haben, einrichten zu können. Hier sollen ungewollt kinderlose Paare Unterstützung finden, entweder mit der Kinderlosigkeit weiterhin in der Partnerschaft zusammenleben zu können, weil sie nicht bereit sind, sich den inzwischen vielfältigen Techniken der Medizin, die sich zur Tortur entwickeln können, zu unterziehen, oder Ängste vor einer Adoption abzubauen. Aber solche Beratungsstellen haben in unserer Republik, wie die Drucksache 11/2238 deutlich macht, nur Zufallscharakter. 85 % der ungewollt kinderlosen Paare bleiben nach Schätzungen auch dann kinderlos, wenn sie sich einer der vielfältigen Methoden zur künstlichen Befruchtung unterziehen. Diese Methoden werden überall da, wo das Problem als Einzelfall auftaucht, erfolgreich oder erfolglos angewandt. Die bereits angewandten Techniken erfordern unseres Erachtens gesetzliche Regelungen. ({0}) Der Gesetzgeber ist bisher erst eingeschritten, wenn es zu so katastrophalen Entwicklungen kommt wie der Eröffnung einer Leihmüttervermittlungsstelle in Frankfurt. Meine Damen und Herren, inzwischen kann sich die Bundesregierung auch nicht mehr mit der Schwierigkeit der Materie entschuldigen. Die im Februar dieses Jahres geführte Debatte zu dem Antrag „Chancen und Risiken der Anwendung neuer Methoden der künstlichen Befruchtung und bei Eingriffen in menschliche Keimzellen" , den meine Fraktion gestellt hat, hat genügend Grundlagen geboten, endlich gesetzgeberisch tätig zu werden. Darin haben wir deutlich Position bezogen. Wir haben aufgezeigt, daß nicht nur strafrechtliche Regelungen, wie sie der seit dem 15. November 1988 vorliegende bayerische Gesetzentwurf vorsieht, getroffen werden müssen. Dieses kann letztes Mittel sein, und es muß unseres Erachtens geprüft werden, ob nicht Änderungen beispielsweise im Gewerberecht ausreichen, Leihmutterschaftsvermittlungsstellen oder kommerzielle Samenbanken zu verhindern oder nur öffentlichen Institutionen die Verfahren der künstlichen Befruchtung zu gestatten. Ich denke, daß das auch ein Beispiel dafür ist. Es gibt sicherlich noch andere, an denen man das deutlich machen kann. Ebenso wäre zu überlegen, ob nicht auch das Gesundheitsrecht der Länder ausreicht, Qualifikationen der dort in diesen Institutionen tätigen Ärzte oder etwa die Ausstattung zu regeln. Auch hätte die Bundesregierung inzwischen gesetzliche Klarheit schaffen können, welche Methoden der künstlichen Befruchtung unter welchen Bedingungen angewandt werden dürfen. Ich will hier noch einmal unsere Forderungen dazu aufzählen. Wir lehnen Leihmutterschaft ab. Ich glaube, darüber besteht Konsens bei allen Fraktionen. Ebenso ist die Vermittlung unter Strafe zu stellen. Ich glaube, auch die Begründung ist sehr klar. Wir meinen, daß eine solche Herabwürdigung der Frau als Gebärmaschine nicht mit unseren ethischen und moralischen Wertvorstellungen vereinbar ist. Ebenso lehnen wir die Verwendung von Samen und Eizellen Dritter ab; die Vermittlung ist ebenfalls zu bestrafen. Zudem lehnen wir die extrakorporale Befruchtung ab, wenn nicht besondere Voraussetzungen, z. B. eine eileiterbedingte Sterilität, vorliegen. Dabei ist die Entnahme überzähliger Eizellen unzulässig. Ich denke, wir haben im Zusammenhang mit dem Forschungsbereich schon einiges dazu gesagt. Wir wollen aber die homologe Insemination bei Ehepaaren und bei in fester Gemeinschaft lebenden Paaren zulassen. ({1}) Bei der Definition gibt es Unterschiede beispielsweise gegenüber dem bayerischen Vorschlag, aber ich denke, das ist etwas, bei dem wir uns abstimmen müssen, inwieweit wir übereinkommen können, wenn man vielleicht noch mehr Erfahrungen hat. Das läßt sich dann sicherlich noch regeln. Wir meinen, daß eben beide Paare gleichbehandelt werden müssen, wenn die medizinische Unfruchtbarkeit eines Partners oder beider Partner auf anderem Wege nicht überwunden werden kann. Eine intensive Beratung, in der das Wohl des zu zeugenden Kindes im Vordergrund stehen muß, ist durch eigens dafür ausgebildete und zugelassene Ärzte einer solchen Behandlung vorzuschalten. Ich denke, das ist, wie wir meinen, ganz besonders wichtig bei den Paaren, die in fester Partnerschaft leben. ({2}) Aber die Erfahrung mit der Häufigkeit der Ehescheidung zeigt eigentlich, daß es bei Ehepaaren genauso wichtig wäre, ({3}) eine solche Beratung vorzunehmen. Wenn ich die homologe Insemination auch für unverheiratete feste Paare zulasse, so muß ich die rechtliche Stellung des Kindes wie bei den ehelichen Kindern sichern. Das ist meines Erachtens Voraussetzung dafür. Es ist sicherlich keine familienpolitische Grundlage, wenn die homologe künstliche Befruchtung eine Frage des Geldbeutels ist, etwa nach dem Motto: „Wenn du reich bist und ungewollt kinderlos, kannst du dich künstlich befruchten lassen; wenn du arm bist, muß du kinderlos bleiben." Deshalb meine ich, daß die Kosten für eine solche Behandlung, wie es bis zum 31. Dezember dieses Jahres in § 27 der RVO geregelt ist, in dem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz der Bundesregierung wiederzufinden sein müssen. Deshalb bitten wir Sie, unserem Entschließungsantrag in der vorgelegten Form zuzustimmen. Vielen Dank. ({4})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Frau Abgeordnete Würfel.

Uta Würfel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002569, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zu Beginn meiner Ausführungen erwähnen, daß bislang weder in unserer Fraktion noch in der Gesamtpartei ein abgeschlossenes Meinungsbild zu allen hier aufgeworfenen Fragestellungen vorhanden ist - mit einer Ausnahme, und die betrifft den Teil C der vorliegenden Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage der GRÜNEN, der sich mit der mißbräuchlichen Anwendung von Fortpflanzungstechniken befaßt. Zu diesem Teil der hier aufgeworfenen Fragestellungen gibt es einen in Vorbereitung befindlichen Referentenentwurf eines Embryonenschutzgesetzes, auf den Herr Voigt ja schon hingewiesen hat. Aus Zeitgründen kann ich hier nicht auf Einzelheiten dazu eingehen. Offen ist nur noch die Beantwortung der Frage, ob die heterologe Insemination strafrechtlich generell verboten werden sollte. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt überwiegt die Meinung, kein derartiges Verbot auszusprechen. Aber, wie gesagt, die Meinungsbildung ist noch nicht abgeschlossen. Ich halte bei der Beratung der Gesamtthematik eine strenge Trennung der Bereiche Fortpflanzungsmedizin und Gentechnik am Menschen für unverzichtbar. ({0}) Beide Bereiche sind durch eigene Techniken und unterschiedliche Folgeprobleme gekennzeichnet. ({1}) Für uns kann es in der Beratung nur darum gehen, das gesamte Ausmaß dessen wahrzunehmen, was zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Fortpflanzungsmedizin bereits möglich ist, und zu einer Meinungsbildung darüber zu kommen, ob wir für unsere Gesellschaft bedeutsame Werte sowie ethisch-moralische Vorstellungen betroffen sehen und ob gesetzgeberische Maßnahmen zu ergreifen sind, um die Entwicklungen in die richtigen Bahnen zu lenken. Eine Verquickung der Themenstellungen trübt meines Erachtens den klaren Blick für die Beurteilung der Einzelproblematik, die ja auch bereits bei der Behandlung der Unfruchtbarkeit durch die Methoden der künstlichen Befruchtung groß genug ist. Sie stimmen mir sicher zu, daß wir noch viele Stunden an Beratungszeit benötigen, um der gesamten Thematik gerecht zu werden und um selbst zu einem abgewogenen Urteil kommen zu können. Daß dies so ist, geht auch sehr deutlich aus dem Entschließungsantrag der Sozialdemokraten hervor, der bei mir nicht den Eindruck einer abgeschlossenen Meinungsbildung hinterläßt. Ich kann nicht erkennen, welche Methoden der künstlichen Befruchtung Sie in welchen Fällen angewendet wissen wollen. Auch die für mich sehr wichtige Frage nach dem Personenkreis, der Anspruch auf die Kostenübernahme der Leistung durch die gesetzliche Krankenkasse haben soll, bleibt unbeantwortet. Sie bieten lediglich eine Option auf die Übernahme der Kosten der künstlichen Befruchtung durch die gesetzliche Krankenversicherung. Besonders deutlich wird dies durch die Bemerkung im ersten Absatz Ihres Antrags, in dem es heißt, daß die künstliche Befruchtung außerhalb des Mutterleibes - wenn überhaupt - nur bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen zulässig sein soll. Da muß ich mich schon fragen, was die Formulierung „wenn überhaupt" bedeuten soll. Ich meine, bevor Sie sich in diesen wichtigen Fragen auch noch nicht festgelegt haben, ist es nicht sinnvoll, hier bereits einen derartigen Entschließungsantrag einzubringen. ({2}) Wie immer, wenn sich Liberale mit gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzen, kommt es zwangsläufig zu einer Beleuchtung des Spannungsfeldes von Freiheit und Verantwortung und zu einer Auseinandersetzung um die Ermöglichung der Erfüllung nachvollziehbarer Bedürfnisse des Individuums im Verhältnis zu dem Anspruch der Gesamtgesellschaft an den Staat, bei nicht zu verantwortenden Entwicklungen Gefahrenabwehr zu leisten. Die Statistik besagt - das ist vorhin schon gesagt worden - , daß jedes sechste Ehepaar in der Bundesrepublik Deutschland ungewollt kinderlos ist. Bei der Behandlung des Themas „Unfruchtbarkeit" in der Bevölkerung ist es daher unerläßlich, mit hoher Sensibilität an das Thema heranzugehen und sich das Einzelschicksal von einer halben Million Menschen von Paaren - vor Augen zu führen und, soweit dies möglich ist, nachzuvollziehen, was ein Ehepaar bewegt, die wirklich nicht einfache Methode der künstlichen Befruchtung bei sich anwenden zu lassen. Haben wir überhaupt einen Maßstab für die Bewertung, welches Ausmaß das Leid in der Zweierbeziehung angenommen hat, wenn jede ins Auge gefaßte Maßnahme zur Behebung der Unfruchtbarkeit über viele Jahre hindurch nicht erfolgreich war? Können wir überhaupt nachempfinden, was es für die einzelne betroffene Frau oder für den einzelnen betroffenen Mann bedeutet, sich als nicht vollwertig, als nicht intakt zu empfinden, ja sich sogar mit einem Makel behaftet zu sehen? Steht es uns zu, ein Urteil darüber zu fällen, ob es angemessen ist, einem Ehepaar zu ermöglichen, jede nur denkbare Methode zur Behebung der Unfruchtbarkeit bei sich anwenden zu lassen, wenn dieses Paar eine unüberwindliche Beeinträchtigung der Entfaltungsmöglichkeit der Beziehung darin sieht, kein Kind bekommen zu können? Jedes Elternpaar, das mit ungeheurer Freude, Dankbarkeit und großem Glücksgefühl Leben hat schenken können und mit ebensolchen Empfindungen das Aufwachsen seines eigenen Kindes oder seiner Kinder begleitet, wird womöglich doch Verständnis dafür aufbringen können, daß unfruchtbare Paare sich diesen Kinderwunsch durch Methoden erfüllen, die die medizinische Technik bereithält, auch wenn diese Methoden der geringen Aussicht auf Erfolg wegen von manchen als fragwürdig bezeichnet werden. Können wir nachvollziehen, daß ein erwachsener Mensch im Schenken von Leben und im Kinderaufziehen den Höchstwert seines menschlichen Daseins erblickt, und fällt es uns dann leichter, zuzustimmen, daß dieser Mann oder diese Frau alles medizinisch Mögliche in Betracht ziehen können, um sich die Verwirklichung dieses Kinderwunsches zu erfüllen? Es steht sicher außer Frage, daß eine der Grundvoraussetzungen zur Anwendung der künstlichen Befruchtung die umfassende und eingehende Beratung über die Art der Behandlung und die Risikoabschätzung vor dem Eingriff zu sein hat. Die Partner müssen einschätzen können, welcher Prozedur sie sich unterwerfen. Sie sollten aber nach liberaler Auffassung, wonach die Wahlfreiheit für jeden Menschen ein hohes demokratisches Prinzip darstellt, wenigstens diese Freiheit der Wahl haben. Ich denke, daß sich jeder von uns vorstellen kann, mit welch unbeschreiblichem Glücksgefühl und welch großer Dankbarkeit gegenüber den Ärzten, die es ermöglicht haben, die Natur zu überlisten, dieses Paar sein Kind im Arm halten wird. Glauben Sie wirklich, daß in diesem Moment oder später die Art der Entstehung des Kindes oder die auf sich genommene Mühsal, die erlittenen Schmerzen und die unter Umständen streckenweise als erniedrigend empfundene Behandlungsmethode noch eine Rolle spielen werden? Ist es also in diesem Zusammenhang richtig, eine Alternative zwischen der Anwendung des medizinischen Fortschritts bei einem hilfesuchenden Paar und der Beratung dieses Paares dahin gehend, seine ungewollte Kinderlosigkeit als sein persönliches Schicksal anzunehmen, herzustellen? Bei allem Verständnis für die Wahl einer solchen Methode, ist es sicher auch unabänderlich, die mit der künstlichen Befruchtung im Zusammenhang stehenden ethischen und moralischen Aspekte zu beleuchFrau Würfel ten. Bereits durch die Anwendung der Verhütungstechniken, also der Pille, der Spirale und anderer Verhütungsmittel, haben die Menschen in den Zeugungsvorgang eingegriffen. Es fand dadurch eine Trennung von Sexualität und Zeugung statt. Über Jahrtausende war die Einflußnahme auf den sogenannten schöpferischen Akt nur sehr begrenzt möglich. Jetzt wird ganz eindeutig durch die Zusammenführung von Sperma und entnommenem Ei außerhalb des Mutterleibes und die dadurch erfolgte Befruchtung, die durch andere Personen vorgenommen wird und nicht durch die beteiligten Personen, die Zeugung eines Menschen von dem Mysterium der Schöpfung getrennt. Viele Menschen stellen sich die Frage, ob dieses Geschehen verantwortbar vor Gott und den Menschen sei. Hier werden die Fragen gestellt nach dem Zusammenwirken von Geist, Seele und Körper, beim Geschlechtsakt selbst nach den Kräften geistigseelischer Art, die, wie manche meinen, frei werden bei dem Verschmelzen von Ei und Sperma. Es geht hier auch letztlich um die Frage, ob der Mensch alles anwenden darf, wozu ihn seine geistigen Kräfte befähigen. Andererseits ist es für den Gesetzgeber schwierig; denn er darf sich auf der einen Seite nicht dem Verdacht aussetzen, den Fortschritt der Naturwissenschaften zu bekämpfen, und auf der anderen Seite sind gesetzliche Verbote, existierende Möglichkeiten wahrzunehmen, nach unserer Verfassung nur dann zu rechtfertigen, wenn schwerwiegende Rechtsgutverletzungen drohen. Wir stehen also vor einer großen Komplexität. Ich denke, daß wir noch viele, viele Stunden Beratungsbedarf haben werden, bevor wir zu einem abschließenden Urteil über die Gesamtproblematik kommen können. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Pfeifer.

Anton Pfeifer (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11001703

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Anschluß an die Antwort der Bundesregierung auf die vorliegende Große Anfrage möchte ich mich auf einige wenige Punkte beschränken, die in dieser Debatte angesprochen worden sind. Zunächst ist es nicht richtig, was hier zum Teil kritisch vorgetragen wurde, daß in dieser Antwort keine oder zuwenig Daten enthalten seien. Meine Damen und Herren, was wir an Daten zur Verfügung hatten, haben wir in der Antwort dargestellt. ({0}) Auf einige ist ja auch in der Debatte durchaus Bezug genommen worden. Diese Daten aktualisieren wir, soweit sie uns zur Verfügung stehen. Ich bin in der Lage, mittlerweile z. B. einige Daten, die bis Ende 1987 aktuell sind, hier zur Verfügung zu stellen. ({1}) Danach entstanden in der Bundesrepublik Deutschland bis 1987 1417 Schwangerschaften nach In-vitroFertilisation und Embryotransfer. Es kamen 1 387 Kinder zur Welt, davon waren 168 Geburten Zwillingsgeburten, 45 Drillingsgeburten, 4 Vierlingsgeburten. Das entspricht einer durchschnittlichen Mehrlingsrate von 15 % gegenüber ca. 1 % ohne diese Behandlungsverfahren. Es sind 419 Fehlgeburten und 57 Eileiterschwangerschaften verzeichnet worden. Insgesamt bestehen auch erhebliche Schwankungen der Erfolgsraten in einzelnen Behandlungszentren. Meine Damen und Herren, ich habe diese Zahlen deswegen vorgetragen, weil ich meine, daß für uns diese Zahlen, aber ebenso das Leid, welches für die Betroffenen daraus entsteht, daß sich ihr Wunsch nach Kindern nicht erfüllt, in der Tat Anlaß sein müssen für eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Ursachen von Fruchtbarkeitsstörungen, aber ebenso für eine kritische Auseinandersetzung mit den Verfahren der Fortpflanzungsmedizin, dies auch deshalb, weil die medizinischen Behandlungsverfahren zur Überwindung von Ursachen der Unfruchtbarkeit für die Betroffenen oft sehr belastend und sowohl mit psychosozialen als auch mit psychosomatischen Risiken verbunden sind. ({2}) Die Bundesregierung wird deshalb mit allem Nachdruck darauf hinwirken, daß die Ursachen von Fruchtbarkeitsstörungen eingehender erforscht werden. Sie wird auch deshalb darauf hinwirken - ich greife auf, was der Herr Kollege Voigt gesagt hat -, weil dies eine Voraussetzung für präventive Strategien überhaupt ist. Dabei ist unsere Grundsatzüberlegung die, daß nur ein Gesamtkonzept den Erkenntnisstand vorantreiben kann, welches physiologische und biochemische Grundlagenforschung mit sozialwissenschaftlichen Aspekten verbindet. Ein solches Konzept ist in der Antwort der Bundesregierung auf die vorliegende Große Anfrage angekündigt und wird derzeit vorbereitet. Es stellt eine Erweiterung der bereits vorhandenen Forschungsaktivitäten dar, die in der Antwort detailliert dargestellt worden sind. Das Programm „Forschung und Entwicklung im Dienste der Gesundheit" ermöglicht es uns, Förderaktivitäten zur Ursachenforschung und Prävention, zur Verbesserung der Diagnostik und Therapie von Fruchtbarkeitsstörungen unter Einschluß von sozialwissenschaftlicher Forschung über den Umgang mit der Unfruchtbarkeit und ihrer Behandlung zu ergreifen. Selbstverständlich, Frau Schmidt-Bott, gehören hierzu auch Forschungsvorhaben, welche sich auf den Einfluß von Umweltschäden, von Arbeitsbedingungen, von Streß und dergleichen auf Fruchtbarkeitsstörungen beziehen. Wir haben diesen Forschungsschwerpunkt in das Programm eingeführt. Infolgedessen, Frau Kollegin Becker-Inglau, stehen auch die Mittel hierfür zur Verfügung. Wir werden im kommenden Februar zu einem grundsätzlichen Fachgespräch über diese gesamte Forschungsstrategie einladen. Wir werden dieses Programm dann Stück für Stück realisieren. Darüber hinaus hat sich die Deutsche Forschungsgemeinschaft vor einigen Tagen für die Förderung von Forschungsvorhaben entschieden, welche grundsätzlichen Fragen nach der Zweckmäßigkeit der Fortpflanzungs8212 techniken zur Bewältigung der ungewollten Kinderlosigkeit nachgehen sollen und die auch auf eine vergleichende Analyse der gegenwärtigen Praxis in den Behandlungszentren in der Bundesrepublik Deutschland hinzielen. Meine Damen und Herren, ich denke, alle diese Forschungsansätze machen aber noch etwas anderes deutlich - das will ich hier auch in die Debatte einführen - : Eine rein medizinische Behandlung bei ungewollter Kinderlosigkeit wird nach meiner Überzeugung den vielschichtigen Problemen nicht gerecht. Aus diesem Grunde hat die Bundesregierung in der Antwort auf die vorliegende Große Anfrage ausdrücklich vor einer unkritischen Anwendung der neuen Methoden der Fortpflanzungsmedizin gewarnt, zumal ihre Erfolgsaussichten oft überbewertet und deren Risiken nicht immer ausreichend bedacht werden. Gerade bei der Anwendung der neuen Methoden in diesem Bereich sind aber Chancen und Risiken in jedem Einzelfall mit besonderer Sorgfalt abzuwägen, wobei als Kriterien für die Entscheidung vor allem die Würde des Menschen, der Schutz des Lebens, das Kindeswohl und der im Grundgesetz verankerte Schutz von Ehe und Familie zu gelten haben. ({3}) Die umfassende Beratung eines ungewollt kinderlosen Paares muß alle diese Gesichtspunkte einbeziehen, und es muß klar sein, daß ärztliches Handeln sich nicht nur auf die medizinische Überwindung der Unfruchtbarkeit beziehen kann, sondern daß die Verantwortung des Arztes dort, wo dies nach sorgfältiger Abwägung aller Gesichtspunkte geboten ist, auch die Verpflichtung einschließt, die Betroffenen zur Akzeptanz ungewollter Kinderlosigkeit hinzuführen. ({4}) Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch etwas anfügen: Wir alle sind uns dessen bewußt - die Debatte hat es gezeigt -, daß die anstehenden Entscheidungen im Bereich des Embryonenschutzes, im Bereich der Humangenetik, im Bereich der Genomanalyse und im Bereich der Gentherapie immer auch mit ganz grundsätzlichen ethischen Fragestellungen verknüpft sind. Ich meine, dies gilt genauso für die kritische Auseinandersetzung mit den medizintechnischen Eingriffen am Lebensbeginn und bei der Entstehung menschlichen Lebens. Vielleicht kommt das Gespräch hierüber in unseren parlamentarischen Beratungen manchmal etwas zu kurz. Im Hinblick auf die bevorstehenden Beratungen über das Embryonenschutzgesetz sollten wir dies unbedingt ändern. Herr Kollege Voigt, der Bundesjustizminister hat gestern bei der Befragung der Bundesregierung angekündigt, daß im kommenden Jahr ein Entwurf für ein Embryonenschutzgesetz so rechtzeitig vorgelegt werden wird, daß wir dieses Gesetz noch in dieser Legislaturperiode verabschieden können. ({5}) Ich meine, wir müssen dieses Gesetz noch in diesel Legislaturperiode verabschieden. Frau Kollegin Schmidt-Bott, eines ist dabei klar: Der gezielten Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken und jeder Verwendung sogenannter überzähliger Embryonen zu fremdnützigen Zwecken wollen wir in diesem Gesetz auch mit einem strafrechtlichen Verbot begegnen. Vielen Dank. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3587. Wer diesem Entschließungsantrag zuzustimmen wünscht, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenprobe! - Enthaltungen? - Mit den Stimmen der Koalition abgelehnt. Ich rufe Punkt 16 und Zusatzpunkt 9 der Tagesordnung auf : 16. a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss ({0}), Dr. Daniels ({1}) und der Fraktion DIE GRÜNEN Verhalten der Bundesregierung gegenüber dem österreichischen Bundesministerium für Umwelt, Jugend und Familie in bezug auf die geplante atomare Wiederaufarbeitungsanlage ({2}) Wackersdorf - Drucksache 11/2873 - Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Weiss ({3}), Dr. Daniels ({4}) und der Fraktion DIE GRÜNEN Erörterungstermin in Wackersdorf - Drucksache 11/2894 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ZP9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Daniels ({5}) und der Fraktion DIE GRÜNEN Keine Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf ({6}) - Drucksache 11/3597 Überweisungsvorschlag: Ausschuß für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ({7}) Ausschuß für Wirtschaft Im Ältestenrat sind eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu zehn Vizepräsident Frau Renger Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. Kein Widerspruch. - So beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat Herr Dr. Daniels.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor mehr als vier Monaten begann unter skandalösen Umständen in Neunburg vorm Wald in der schönen Oberpfalz der Erörterungstermin für die zweite Teilerrichtungsgenehmigung der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Doch was soll eine Öffentlichkeitsbeteiligung in einem atomrechtlichen Verfahren mitten in der Hauptreisezeit und quasi am Ende der Welt in einem Ort, den man nicht einmal mit der Bahn erreichen kann? Vielleicht haben die für das Genehmigungsverfahren der WAA Verantwortlichen gedacht, sie könnten auf diese Weise möglichst unauffällig ihre gesetzliche Verpflichtung hinter sich bringen. Dabei haben sie aber den Widerstand der Menschen in Bayern und Österreich falsch eingeschätzt. Aus dem WAA-Erörterungstermin wurde ein WAAErschütterungstermin, ein Tribunal gegen die Antragstellerin DWK wie gegen ihre zu deutlich als Handlanger agierenden Verbündeten in den bayerischen Behörden. Über 20 000 Menschen konnten verfolgen, wie die Gesellschaft mit beschränkter Haftung und WAA-Erbauerin DWK, die staatlichen Gutachter und die Genehmigungsbehörden von den WAA-Gegnern und ihren Sach- und Rechtsbeiständen regelrecht demontiert wurden. Das möchte ich mit einigen Beispielen kurz erläutern. Der Standort Wackersdorf ist wegen der möglichen Gefährdung des größten Grundwasserreservoirs Süddeutschlands den Genehmigungswünschen auf dem Papier angepaßt worden. Die von der DWK aufgestellte These von der Existenz einer dichten doppelten Barriere war von Anfang an eine falsche These, von der die Betreiber wußten, daß sie nicht aufrechtzuerhalten ist. Die DWK mußte im Laufe der Verhandlungen eingestehen, daß die geologischen Voraussetzungen völlig andere sind, als von ihr behauptet worden war. Die angeblich grundwassersichernden Tonschichten sind entweder nicht vorhanden oder von tektonischen Brüchen durchzogen. Zur Bestimmung der Strahlenbelastung durch die WAA und damit insbesondere des radioaktiven Inventars der Anlage und der Emissionen verwendet die DWK ein völlig veraltetes Rechenprogramm. Alle bisher gemachten offiziellen Aussagen zur Strahlenbelastung müssen als irrelevant betrachtet und bezweifelt werden. Die tatsächliche Gefährdung von Mensch und Natur wird also in ihren bisherigen Berechnungen bewußt heruntergespielt. Das sind nur zwei Beispiele fehlender Zuverlässigkeit von Antragstellerin und Genehmigungsbehörde, die sich über die Meteorologie, die Seismik bis hin zur Bautechnik beliebig verlängern ließe. Nach 23 Sitzungstagen retteten die bayerischen Genehmigungsbehörden die DWK vor dem endgültigen Waterloo. Jeder weitere Anhörungstag hätte neue Skandale ans Licht gebracht. Viele Themen sind noch gar nicht angesprochen worden: die Brennelementfabrik, die Verglasungsanlage, die Lagergebäude für hoch- bis leichtaktiven Atommüll oder Störfälle wie Brände, Explosionen und Leckagen in allen relevanten Anlagenteilen und dabei insbesondere im Hauptprozeßgebäude. Die Bundesregierung sucht nun kurioserweise die Schuld bei den Einwendern und Einwenderinnen, wie sie uns auf unsere Kleine Anfrage mitteilt. Die Hartnäckigkeit der WAA-Gegner und -Gegnerinnen hat es überhaupt ermöglicht, der DWK die Antworten zu entlocken, vor denen sie die parteiische Versammlungsleitung schützen wollte. Logisch, daß der Umweltminister Töpfer nur zu gerne so täte, als hätte er mit den gesamten Vorgängen um die WAA überhaupt nichts zu tun. Das ist aus seiner Sicht verständlich; denn schon jetzt sage ich Ihnen voraus: Auch die zweite Teilerrichtungsgenehmigung wird im gleichen Desaster enden wie die erste. In München will die CSU hinter vorgehaltener Hand schon aussteigen, dachten wir noch bis heute morgen. Herr Streibl und Herr Kohl lassen sich aber den WAA-Wahnsinn weitere 90 Millionen DM kosten. Mit diesen Geldern sollen der betroffenen Bevölkerung die zu erwartenden Gefährdungen und Ängste abgekauft werden. Dabei erwartet den Bau und die Planung der WAA ein ähnliches Schicksal wie den Schnellen Brüter in Kalkar, mit dem bislang einzigen Unterschied, daß die Nordrhein-Westfalen zehn Jahre Vorsprung und bislang 5 Milliarden DM verbaut haben. Wer aber die DWK-eigenen Prognosen für die Baukosten verfolgt und sich die Erfahrungen von Kalkar vor Augen hält, kann sich ausrechnen, wann die Bayern die Nordrhein-Westfalen überholt haben werden. Die DWK hat nicht nur ihre Unfähgikeit und Unseriosität gezeigt, sie wird auch noch unverschämt: Meine Fraktion war vorgestern in Wackersdorf. In einer scharfen Diskussion mit den Repräsentanten der DWK war der Delegationsleiter, Herr Harms, nicht in der Lage, irgendeine Obergenze für die zu erwartenden Kosten der WAA anzugeben. Im Klartext bedeutet das: Die Wiederaufarbeitungsanlage kann kosten, was sie will, die Zeche zahlt der Stromverbraucher. ({0}) Herr Töpfer, ich frage Sie: Kann unter diesen Bedingungen noch von der wirtschaftlichen Vertretbarkeit, wie sie der § 9 a des Atomgesetzes vorschreibt, ausgegangen werden? Hier noch weitere drei Gesichtspunkte, die bei unserem Arbeitsbesuch in der Oberpfalz eine Rolle gespielt haben. Ich glaube, daß auch Sie Ihre Meinung ändern würden, wenn Sie sich einmal konkret vor Ort informieren würden und wüßten, wie die Leute dort denken, wie da gearbeitet wird und welche Schlampereien dort passieren. ({1}) Dr. Daniels ({2}) - Mit wem haben Sie dort geredet? Haben Sie einmal mit den Leuten der Bürgerinitiative geredet? Dann würden Sie wissen, daß die große Mehrheit der Bevölkerung nicht hinter dieser Anlage steht. ({3}) Die Anhörung am Montagabend hat gezeigt, daß die gewaltigen Kryptonemissionen aus der Wiederaufarbeitungsanlage das Bild der klimarettenden Kernenergie zerstören. Das radioaktive Edelgas Krypton beeinflußt das elektromagnetische Feld der Luft. Die Wolkenbildungsrate wird dadurch verändert. Schlußfolgerung - das müßte gerade die Herren aus der Enquete-Kommission Klimaschutz interessieren - : Gerade wegen der Klimakatastrophe müssen wir heute aus der Kernenergie aussteigen. ({4}) - Darauf können wir ruhig genauer noch einmal zu sprechen kommen. Bisher ist diese Gefahr völlig unterschätzt worden. Sie muß bei den Betrachtungen der Klimaproblematik mit hineingenommen werden. Zweitens. Unsere Gespräche mit dem zweiten und dritten Bürgermeister in Wackersdorf, ({5}) alle mit SPD-Parteibuch, haben gezeigt, wie sich die SPD mit einem lumpigen zinslosen 3-Millionen-DMKredit vor Ort kaufen ließ. ({6}) Vor Ort, liebe Kollegen von der SPD, könnten Sie die Baugenehmigungen verhindern. Sie jedoch setzen nicht die Beschlüsse Ihrer Partei um, sondern lassen sich vor Ort einkaufen, einwickeln und korrumpieren. ({7}) Drittens. Die Betriebsräte der Maxhütte haben uns den Zusammenhang zwischen dem systematischen und gewollten Niedergang der Maxhütte und der WAA gezeigt: Nur in einer dünn besiedelten Region - so selbst die Bayerische Staatsregierung - kann eine WAA stehen. Aber das reicht noch nicht: Trostlos müssen die Lebensperspektiven in dieser Region werden, wenn die Menschen gezwungen werden, eine Arbeit anzunehmen, bei der die Gefahr besteht, daß sie radioaktiv verseucht werden. Damit in einem ohnehin monostrukturierten Gebiet die WAA gebaut werden kann, mußte der größte Arbeitgeber, die Maxhütte, dichtmachen. Schon vor der offiziellen Standortentscheidung haben Strauß und Albrecht in einem Kuhhandel um die Stahlstandorte die Zukunft dieser Region besiegelt. Aber selbst Strauß war zuletzt offensichtlich kein WAA-Fan mehr. Ihm waren Zweifel an seinen Atomindustrialisierungsplänen für die Oberpfalz gekommen. In seinem letzten Interview legte er noch besonderen Wert auf die Feststellung, daß das Genehmigungsverfahren für die WAA nur in Auftragsverwaltung für den Bund stattfände. Das mutet seltsam und auffällig unambitioniert an. Von der anfänglichen Begeisterung für die Wiederaufarbeitungsanlage ist jedenfalls nichts mehr zu spüren. Wäre es also jetzt für die Koalitionsfraktionen nicht an der Zeit, eine Denkpause einzulegen und sich den offensichtlich unkontrollierbaren Entwicklungen sowohl bei der katastrophalen Situation im Bereich der Atommüllentsorgung als auch bei der atomaren Wiederaufarbeitungsanlage entgegenzustellen? „Nichts ist so schwierig wie der Weg vorwärts zurück zur Vernunft" , hat Brecht einmal gesagt. Trotzdem fordern wir Sie auf, sich nicht hinter Ihren Mehrheiten zu verschanzen, sondern sich Ihrer Verantwortung in der von uns beantragten Kommission zu stellen und mitzuarbeiten. Diese soll sich mit der Genehmigungsfähigkeit der WAA auseinandersetzen. Dazu soll die Kommission dem Beispiel unserer Fraktion folgen und auch in Wackersdorf selber mit den Betreibern und den Menschen der Region die Zukunft dieses Projektes bewerten. Damit können Sie die abgebrochene Anhörung von Neunburg fortsetzen. Es ist für mich selbstverständlich - -

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ende Ihrer Redezeit!

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin gleich fertig. Es ist für mich selbstverständlich, daß bis zum Abschluß der Arbeit dieser Kommission die Arbeiten in Wackersdorf ruhen müssen, damit nicht weiterhin vollendete Tatsachen geschaffen werden. Die indirekte Subventionierung der Anlage durch den Bundeshaushalt muß ein Ende haben.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nun müssen auch Sie ein Ende machen. Bitte, Sie haben schon eine Minute überzogen.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Wir helfen Ihnen, ein Debakel zu vermeiden und ersparen der Oberpfalz und der Bundesrepublik gemeinsam eine atomare Wiederaufarbeitungsanlage, wenn Sie unseren Vorschlägen folgen. Danke schön. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Dr. Friedrich.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich möchte den Antragstellern in einem ersten Punkt bestätigen, daß sie in manchen Dingen berechenbar sind: So jede zweite Sitzungswoche unterhalten wir uns hier entweder über den Schnellen Brüter oder über die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. ({0}) Wenn Sie darauf drängen, dann bestätige ich Ihnen, daß es Ihr gutes Recht ist. Nur, Herr Kollege Daniels, um eines bitte ich Sie: Halten Sie den Schnellen Brüter und die WiederaufDr. Friedrich arbeitung erstens technisch auseinander, und halten Sie zweitens Bayern und Nordrhein-Westfalen politisch auseinander. ({1}) In Bayern werden Genehmigungsverfahren korrekt und zügig durchgeführt; das können wir den Nordrhein-Westfalen nicht bestätigen. Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wenn ich den Antrag der GRÜNEN zum Erörterungstermin in der Oberpfalz genau lese, dann habe ich eigentlich den Eindruck, daß ihr Hauptanliegen darin besteht, dem Rechtsstaat zum Sieg zu verhelfen. Da muß ich Ihnen sagen: Das ist scheinheilig. Herr Kollege Daniels, wenn Sie ehrlich wären, würden Sie eigentlich zugeben müssen, daß Sie kein Interesse an einer korrekten Abwicklung des Verfahrens haben, sondern an einem ganz bestimmten Ergebnis, nämlich einem ablehnenden Bescheid, oder besser noch daran, ({2}) daß dieses Projekt vorher politisch stirbt. Das ist Ihr eigentliches Interesse. Wo Ihnen die Spielregeln des Rechtsstaates nicht passen, da setzen Sie sich doch wenigstens teilweise über diese Spielregeln bedenkenlos hinweg. Zweitens. Ich meine, daß der Kampf der GRÜNEN gegen die Wiederaufarbeitungsanlage auch politisch unglaubwürdig ist. Sie haben das Problem, das Sie die radioaktiven Abfälle, die bereits angefallen sind, nicht mehr wegdiskutieren können. ({3}) Deshalb sehen Sie sich gezwungen, sich zunächst einmal für ein anderes Entsorgungskonzept auszusprechen: für die direkte Endlagerung. ({4}) Unglaubwürdig sind Sie aber deshalb, weil dort, wo direkte Endlagerung stattfinden soll, Ihre politischen Freunde und Mitglieder Ihrer Fraktion dafür sorgen, daß dieses Konzept nicht in die Tat umgesetzt werden kann. ({5})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Es ist allerdings schon sehr spät.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Bitte sehr.

Dr. Wolfgang Daniels (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000353, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Herr Kollege, Ihnen müßte doch bekannt sein, daß bei dem Prozeß der Wiederaufarbeitung wesentlich mehr Atommüll produziert wird, als er vorher vorhanden ist, so daß diese Anlage nichts mit der Entsorgung zu tun hat und auch nicht schadlos, sondern tatsächlich mit möglichen Schädigungen arbeitet. Das läßt sich aus allen Gutachten herauslesen.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Daniels, es ist richtig, daß die Abfallmenge zunimmt. Entscheidend ist nicht, ob die Menge des Abfalls zunimmt, sondern ob die Radioaktivität dessen zunimmt, was endgelagert wird. ({0}) Das verwechselt auch der Bund für Umwelt und Naturschutz in dümmerlichen Broschüren, die in Bayern verteilt werden. Ich schicke Ihnen gern einmal 21 Seiten zu, in denen ich mich mit diesen Argumenten auseinandersetze. ({1}) - Wenn Sie eine neue Frage haben, beantworte ich die nachher gerne. Jetzt würde ich gern zu meinem dritten Punkt kommen. Der Termin zur Erörterung der Einwendungen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf im Juli/August dieses Jahres in Neunburg vorm Wald ist nicht so abgelaufen, wie ich mir das persönlich wünschen würde. Die von mir festgestellten Mängel lassen sich allerdings auch nicht durch eine Weisung unseres Bundesumweltministers aus der Welt schaffen. Einige der Teilnehmer waren nämlich an einem Dialog zwischen den Einwendern und den Vertretern der Genehmigungsbehörde überhaupt nicht interessiert. ({2}) - Darf ich den Punkt ausführen. - Ihre zusätzlichen Informationen bestanden darin, daß Sie den Verhandlungsleitern auf das Podium Eier, Tomaten hinaufwarfen und dort gefüllte Getränkebecher ablieferten. Andere profilierten sich mit der Beschimpfung und Beleidigung von Beamten. Der Kollege Daniels - ich komme gleich zu Ihnen, Herr Weiss - hat gegenüber der Presse erklärt, daß man etwa ein Jahr lang erörtern müsse. Ein Rechtsanwalt war etwas zurückhaltender; er hat gesagt, man würde nur etwa bis Weihnachten brauchen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von den GRÜNEN, eigentlich bringen Sie damit zum Ausdruck, daß Sie eine Strategie der Verzögerung des Verfahrens verfolgen, so ungefähr nach dem Motto: Solange wir erörtern, können die nicht genehmigen. ({3}) Eigentlich beanstanden Sie deshalb mit Ihrem Antrag, daß man diese destruktive Strategie nicht belohnt und unterstützt hat. Bitte sehr.

Michael Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002462, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Friedrich, weil Sie gerade so detailliert vom Erörterungstermin berichten, möchte ich Sie eigentlich fragen, an wie vielen der 23 Verhandlungstage Sie in Neunburg vorm Wald waren.

Dr. Gerhard Friedrich (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002657, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Herr Kollege Weiss, Sie kennen unsere Pflichten. Ich habe mich erkundigt - sonst hätte ich schon nachgelesen - , das Protokoll steht Anfang nächsten Jahres zur Verfügung. Ich verspreche Ihnen, ich werde mir das genau anschauen. ({0}) - Ich habe es doch gerade gesagt. Der Kollege Daniels hat doch durch seine schon gerade erwähnten Erklärungen deutlich gemacht, daß er gegen jede Beendigung dieses Termins zumindest in diesem Jahr protestiert hätte, und er ist eigentlich enttäuscht, daß er diesen Protest jetzt nur noch durch Anträge hier in diesem Haus und durch Presseerklärungen zum Ausdruck bringen kann. Sie sind enttäuscht, daß Ihre Freunde keine Chance hatten, ({1}) diesen Termin chaotisch ausklingen zu lassen. Ein Teil der Anti-WAA-Bewegung hätte eine ausreichende Vorwarnzeit benötigt, um das vorhandene, aber über das Bundesgebiet verteilte Störpotential voll entfalten zu können. ({2}) - Doch. Sie hatten keine Zeit, Ihre Demo-Truppen zu aktivieren und aufmarschieren zu lassen. ({3}) Viertens. Was rechtlich geboten ist, ergibt sich aus dem Sinn und Zweck des Erörterungstermins. Das Wichtigste ist - ich verkürze - : Es muß die Möglichkeit bestehen, schriftliche Einwendungen näher zu erläutern. Das Verfahren dient nicht dazu, Problem so lange zu erörtern, bis die Behörde schon in der Sitzung entscheidet. ({4}) Vor allem ist es nicht möglich, den Redebedarf aller Kritiker bei so einem Anhörungstermin zu befriedigen. Ihre Kritik, es seien nicht alle Probleme, zumindest nicht in der notwendigen Ausführlichkeit, erörtert worden, ist - das schauen wir in dem schriftlichen Protokoll einmal nach - wohl nicht berechtigt. Vor allem ist es gar nicht der entscheidende Punkt. ({5}) - Meine Feststellung, daß das nicht das letzlich Entscheidende ist, ({6}) ergibt sich aus der praktischen Überlegung, daß der Verhandlungsleiter nicht für das verantwortlich gemacht werden kann, was er selbst nicht beeinflussen kann. Er kann nicht beeinflussen, worüber jemand wie lange redet, wenn er ihm das Wort erteilt hat. Er kann deshalb nur eine faire Chance einräumen. Er muß nämlich so vorgehen, daß er die Themen aufruft, die in den Einwendungen angesprochen sind, und eine angemessene Redezeit einräumt. Daß das erfolgt ist, entnehme ich zunächst einmal schon der Dauer dieses Anhörungstermins: 23 Tage oder 180 Stunden. ({7}) Ich versichere Ihnen: Da wir diejenigen sind, die eigentlich daran interessiert sind, daß dieses Verfahren korrekt abgewickelt wird und daß eine Genehmigung ({8}) von einem Gericht nicht wegen eines Verfahrensfehlers aufgehoben wird, werden wir die ersten sein, die die Wiedereröffnung des Erörterungstermins durchsetzen werden, wenn wir aus dem schriftlichen Protokoll einen Fehler feststellen. ({9}) Fünftens. Bemerkenswert an Ihrem zweiten Antrag ist weniger, daß Sie eine Entschuldigung der Bundesregierung verlangen, sondern der Umstand, daß Sie bei der Gestaltung der Beziehungen zu Österreich eine Vorliebe für Harmonie und Kooperation entdekken. Wenn es nicht um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten gegen die Kernenergie geht, sondern um die Zusammenarbeit bei der Nutzung der Kernenergie, dann sind Sie für alles andere als Harmonie - das sehen wir im Verhältnis zu Frankreich - , dann sind Sie für Konflikt. Ich möchte versuchen aus der Empörung, mit der Sie Ihren Antrag formuliert haben, die Luft herauszulassen. Das gelingt dadurch, daß man vergleicht, was Sie wünschen und wie sich die Behörden wirklich verhalten haben. Es gibt einen ersten Sicherheitsbericht zur WAA. Den haben die bayerischen Behörden Österreich übergeben, ({10}) als er angefordert wurde. Es gibt einen zweiten Sicherheitsbericht zum neuen Genehmigungsantrag. Er lag wochenlang öffentlich aus und war für die Österreicher zugänglich. ({11}) Es geht aber noch weiter. - Frau Präsidentin, ich rege an, daß Sie bei der Erfassung der Zeit zwischen meiner Redezeit und der Zeit für die Zwischenrufe klar unterscheiden. Meine Damen und Herren, es geht noch weiter. Der zweite Sicherheitsbericht wurde Anwälten überlassen, darunter auch dem deutschen Anwalt, ({12}) der die österreichische Ministerin zumindest persönlich berät. Ich habe jetzt gehört: Dieser Anwalt hat den Bericht immer noch. Meine Damen und Herren, es geht hier nicht um Geheimhaltung oder Offenlegung, sondern nur darum; ob ein den Österreichern bekannter Bericht offiziell auf diplomatischem Wege noch übergeben wird oder nicht. Ich bekenne hier eines: Weder werde ich beanstanden, daß der erste Sicherheitsbericht übergeben wurde, noch werde ich beanstanden, daß der zweite Sicherheitsbericht nicht übergeben wurde. Ich würde auch nicht beanstanden, wenn er morgen doch noch übergeben würde. ({13}) Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ich habe jetzt noch drei Seiten in meinem Manuskript, wo drinnensteht, weshalb ich mich als bayerischer Abgeordneter bei der Bundesregierung bedanken möchte, daß sie sich dazu bekennt, daß die Wiederaufarbeitung ein notwendiger Bestandteil unseres nationalen Entsorgungskonzepts ist. Auf diese wichtigen Ausführungen müssen Sie bis zur nächsten WAA-Debatte warten. ({14})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Schütz. Es ist eine Redezeit von zehn Minuten angemeldet.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gerade lief im ersten Programm des deutschen Fernsehens unter dem Titel „Unter deutschen Dächern" ein Bericht über die Wirkung des Deutschen Bundestags, gefilmt etwa um dieselbe Zeit wie jetzt, nämlich 21.30 Uhr. Dabei ging es insbesondere um eine Debatte des Umweltausschusses. Wir sitzen hier in derselben geringen Besetzung. ({0}) Ich wollte eigentlich nur sagen, meine Damen und Herren, es ist etwas wirkungslos, wie wir jetzt hier aufeinander eindreschen. Jeder von uns hat festgefügte Positionen. Ich bin fast versucht, mein Manuskript dem Protokoll zur Verfügung zu stellen. Da das nicht geht, will ich kurz skizzieren, was ich sagen will. ({1}) Der abrupte Abbruch, über den wir jetzt reden, kann, finde ich, überhaupt nicht beanstandet werden. Die Erledigung der schriftlich vorliegenden Wortmeldungen und die Erörterung der offenen Sachthemen, meine Damen und Herren von den GRÜNEN, kann natürlich überflüssig sein, wenn der Verhandlungsleiter erkannt hat, daß die Genehmigung der Anlage in Wackersdorf nicht erteilt werden kann; wenn er erkannt hat, daß durch die Wiederaufarbeitung der mittlere und schwach radioaktive Atommüll im Volumen um etwa 30 % steigt und dadurch die Entsorgungsrisiken erhöht werden und Wackersdorf deshalb nicht genehmigt werden kann; wenn er erkannt hat, daß die Wiederaufarbeitung der abgebrannten Brennelemente keine Entsorgung ist, weil sie den Atommüll eben nicht beseitigt, sondern zusätzliche Risiken schafft; wenn er begriffen hat, daß die Kosten sowohl in der Brütertechnologie als auch bei der Gewinnung des Plutoniums in der Wiederaufarbeitsanlage so weit oberhalb anderer vergleichbarer Kosten liegen, daß Wackersdorf auch von der Kostenseite her nicht zu verantworten ist; wenn er gesehen hat, daß weltweit die Brütertechnologie, mit der Wackersdorf verbunden ist - Herr Friedrich, insofern sind Bayern und Nordrhein-Westfalen doch in einer Symbiose zu sehen - , zusammengebrochen ist, ({2}) daß in der Technologie der Wiederaufarbeitung eigentlich nur noch Frankreich und England weitermachen ({3}) und deshalb Wackersdorf, um in dem Bild von Volker Hauff zu bleiben, sich neben dem Main-Donau-Kanal zu einem weiteren Bauwerk entwickelt, das so überflüssig wie der Turmbau zu Babel ist. Bei Berücksichtigung dieser Erkenntnisse hätte der Verhandlungsleiter den Erörterungstermin völlig richtigerweise abbrechen können. Wenn er aber weitere Erörterungen zu Sicherheitsproblemen abbricht, dann muß man fragen: Wieso hat er das gemacht? Wenn er allen Ernstes das Genehmigungsverfahren weiter betreiben will, wie auch Herr Streibl das jetzt will, dann sollten wir in der Tat darauf hinweisen, daß ein wesentlicher Zweck des Erörterungstermins in der Öffentlichkeitsbeteiligung liegt, die nicht nur dem Informationsinteresse der Behörden dient, sondern vor allem den Interessen der Nachbarn der Anlage, um ihnen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten. ({4}) Die völlig überraschende Beendigung des Erörterungstermins hat sehr deutlich gemacht, daß die Einwenderseite ganz und gar Objekt der Erörterung wurde und eigene Rechte deshalb vollständig leerliefen. Die Bundesregierung setzt sich mit den durch das Bundesverwaltungsgericht 1979 konkretisierten Inhalten des Verfahrensrechts in ihrer Antwort zu diesen Beanstandungsproblemen nicht auseinander. Mit der Tatsache des handstreichartigen Abbruchs der Erörterung beschäftigt sich die Bundesregierung überhaupt nicht. Sieht sie es nicht als einen Akt von Rechtsqualität an, daß plötzlich und unerwartet, ohne daß auch die Einwender es wissen, abgebrochen wird? Liegen darin nicht offenkundige Rechtsverkürzungen für die Einwender? Die Form ist die Feindin der Willkür, hat Gustav Radbruch gesagt, als er sich zu dem Erfordernis strenger Verfahrensvorschriften geäußert hat. Wenn in diesem Fall die Form nicht eingehalten wurde - was ist dann? Die Weigerung der Bundesregierung, den Sicherheitsbericht für die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf an die österreichische Umweltministerin zu schicken, macht einen zusätzlichen Aspekt des Umgangs mit möglichen Einwendern deutlich. Herr Minister Töpfer, Sie haben jüngst noch - in diesem Monat, glaube ich - beim Symposium Ihres Hauses unter anderem mit der IAEA eine verstärkte internationale Zusammenarbeit zur Sicherheit von Kern8218 kraftwerken gefordert. Wir haben gestern in Berlin den Entwurf eines Gesetzes zu den IAEO-Übereinkommen über die vorzeitige Benachrichtigung und Hilfeleistung bei nuklearen Unfällen oder radiologischen Notfällen zustimmend diskutiert. ({5}) - Auch über die Sowjetunion haben wir gesprochen. Aber bleibt man eigentlich für die Sache der internationalen Zusammenarbeit glaubwürdig, wenn wir wohl internationale Zusammenarbeit, Unterrichtung und Hilfeleistung bei dem Betrieb von Kernkraftwerken und nach Störfällen von Kernkraftwerken regeln, aber eine internationale Zusammenarbeit und eine Inanspruchnahme von Rechtsschutz über die Grenzen hinweg vor der Errichtung von Kernkraftwerken und vor der Schaffung von Störpotentialen nicht oder nicht ausreichend geschaffen haben? Wie bleibt man glaubwürdig, wenn auch eine freiwillige Unterrichtung außerhalb und unterhalb einer völkerrechtlichen Regelung abgelehnt wird? Ich kann überhaupt keine schützenswerten Positionen der Bundesregierung erkennen, die es uns verbieten sollten, freiwillig in vollem Maße sowohl einzelnen als auch Regierungen Rechtsschutz und volle Information bei der Errichtung derartig gefährlicher Anlagen zu gewähren. Das Prinzip „Öffentlichkeit", um eine möglichste Transparenz der Entscheidungen und vollen Rechtsschutz aller Betroffenen zu gewährleisten, ist für uns international und national zu wichtig, um es nur nach Bedarf nach Interessenlagen zu gebrauchen oder nicht zu gebrauchen; es muß immer gelten. Insofern ist das, was Österreich gegenüber passiert ist, von uns nicht zu akzeptieren. Ich will noch Herrn Vahlberg Gelegenheit geben, bedanke mich und breche hier ab. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das finde ich kollegial. Das Wort hat Frau Dr. Segall.

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen! In der heutigen Debatte geht es um Aspekte des außerordentlich ernst zu nehmenden Themas Wiederaufbereitung. Dieses Thema haben wir hier an dieser Stelle und im Ausschuß immer wieder behandelt. Grundlage der bisherigen Debatten über Wackersdorf war die unterschiedliche Auffassung zwischen uns und der Opposition über die Notwendigkeit der Wiederaufarbeitung, wobei allerdings die größere Oppositionspartei über viele Jahre hinweg mitverantwortlich für dieses Entsorgungskonzept mit Wiederaufarbeitung war und es maßgeblich mit vorangetrieben hat. ({0}) Daran sollten Sie Ihre Äußerungen, Herr Schütz, mal messen. ({1}) Heute geht es um zwei konkrete Vorgänge, von denen die Fraktion DIE GRÜNEN offensichtlich annimmt, daß sie ihr eigentliches Vorhaben, nämlich Stop der Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf und Ausstieg aus der Kernenergie, flankierend unterstützen können.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Inge Segall (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002144, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Nein, heute abend nicht mehr. ({0}) Wir debattieren nachher in der Bar weiter. Ich will deshalb gleich am Anfang noch einmal folgendes feststellen. Gerade deshalb, weil wir die Risiken der Kernenergie und die Sorgen der Bevölkerung um diese Risiken ernst nehmen, achten wir sehr sorgfältig darauf, daß Errichtung und Betrieb von kerntechnischen Anlagen so sorgfältig wie möglich und unter strikter Beachtung des geltenden Rechts und der höchstmöglichen Sicherheitsstandards vorgenommen werden. Bezüglich der Übersendung des Sicherheitsberichts für die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf an die österreichische Umweltministerin hat die Bundesregierung bereits Ende August dieses Jahres Stellung genommen. Sie hat dabei im einzelnen dargelegt, daß sie bereits in großem Umfang dem Informationsbedürfnis unseres Nachbarlandes Österreich entgegengekommen ist. ({1}) Ich bedauere außerordentlich, daß Österreich bisher nicht bereit ist, ein Abkommen mit der Bundesrepublik Deutschland über die gegenseitige Information und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kernenergie mit der Bundesrepublik Deutschland abzuschließen, ({2}) so wie wir es auch mit anderen Nachbarstaaten gemacht haben. Ich meine, auch für Österreich müßte es letztlich möglich sein, eine derartige bilaterale Zusammenarbeit völkerrechtlich festzulegen und damit auf gesicherter Grundlage eine intensivere Kooperation zu erreichen. Wir jedenfalls wollen eine möglichst umfassende grenzüberschreitende Zusammenarbeit auch mit Österreich. ({3}) Allerdings will ich in diesem Zusammenhang auch nicht verhehlen, daß ich nicht immer Verständnis für die Art und Weise habe, in der sich Bayern in Einzelfällen gegenüber seinem Nachbarland Österreich verhalten hat. Zur Kritik an dem Verlauf des Erörterungstermins in Wackersdorf gegenüber der Bundesregierung bin ich der Auffassung, daß diese in vollem Umfang unberechtigt ist. Für die Genehmigungsverfahren sind nun einmal die jeweiligen Landesregierungen zuständig. Dies ist unbestritten, so daß Kritik, wenn sie vorgetraFrau Dr. Segall gen werden sollte, im Kern nur an die bayerische Landesregierung gerichtet werden könnte. ({4}) Ich kann jedenfalls der Bundesregierung keine Vorwürfe in bezug auf den Erörterungstermin und die Beendigung am 12. August 1988 machen. Ich verweise hier nur auf die Erörterung, die wir schon im September im Umweltausschuß des Deutschen Bundestages hatten. Der Erörterungstermin ist ein wichtiger und deshalb auch rechtlich vorgeschriebener Teil des atomrechtlichen Genehmigungsverfahrens nach § 7 Atomgesetz. Zweck ist, daß die erhobenen Einwendungen mündlich erörtert werden. Auch hierzu hat die Bundesregierung bereits schriftlich in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage Stellung genommen. Außerordentlich lange, nämlich über 23 Tage hin, hat die Erörterung stattgefunden. ({5}) Gründe dafür, daß die Bundesregierung wegen der Beendigung der Anhörung nach 23 Verhandlungstagen bundesaufsichtlich handeln müßte, kann ich nicht erkennen. ({6}) Und wenn der Kollege Stiegler in einer mündlichen Anfrage an die Bundesregierung die Auffassung vertritt, daß der Themenkatalog zur Wiederaufarbeitungsanhörung „nicht einmal im Ansatz aufgearbeitet worden ist" , so frage ich mich, wie viele weitere Monate oder sogar Jahre die Anhörung denn hätte weiter stattfinden sollen. ({7}) Wie ich aber oben bereits dargelegt habe, ist hier bezüglich der Durchführung und des Zeitpunkts der Beendigung der Anhörung die bayerische Landesregierung als die zuständige Behörde gefragt. Tatsächlich geht es den GRÜNEN vielmehr darum, wieder einmal auf Bundesebene gegen das Entsorgungskonzept, insbesondere gegen die Wiederaufarbeitung, zu polemisieren und ihre Forderung nach dem Ausstieg aus der Kernenergie vorzutragen. ({8}) Die Forderung der Opposition nach einem Baustopp ist auch noch in anderer Hinsicht widersprüchlich. Da wird einerseits ständig kritisiert, daß die Entsorgungsfortschritte mit der tatsächlichen Entwicklung des Anfalls von Abfällen aus Kernkraftwerken nicht Schritt gehalten haben, ({9}) andererseits wird alles rechtlich, politisch und tatsächlich Mögliche unternommen, um die Realisierung des Entsorgungskonzepts und seine Fortschreibung zu verhindern. ({10}) Auch unter einem anderen Aspekt ist das Oppositionsverhalten unverständlich und auch im Hinblick auf die Sicherheit unserer Bevölkerung unverantwortlich. Von der Opposition wird immer wieder auf die Problematik der Ausfuhr von gefährlichen Abfällen ins Ausland hingewiesen. Wir sind uns mit Ihnen über die Ablehnung des Mülltourismus völlig einig. Hier wird nun aber von Ihnen für einen Abfallbereich die mögliche und nach Gesetz vorgeschriebene Entsorgung abgelehnt. Soll nach Ihrer Auffassung dieser Abfall, der ja bereits da ist und behandelt werden muß, im Ausland entsorgt werden? ({11}) Zur Entsorgung der bei der Nutzung der Kernenergie entstehenden Abfälle sind wir nach dem Gesetz verpflichtet; ({12}) eine gesicherte und umweltverträgliche Entsorgung ist für eine weitere Nutzung der Kernenergie notwendig und unumgänglich. Deshalb haben wir uns immer wieder für eine Fortschreibung des nationalen Entsorgungskonzepts mit Erfolg eingesetzt. ({13}) Auch aus den Vorgängen um Transnuklear ziehen wir alle Konsequenzen. Ich nenn hier als Stichworte nur: lückenloses Kontrollsystem über die radioaktiven Abfälle ({14}) und verbesserte Überwachung des Brennstoffkreislaufs durch ein Bundesamt für Strahlenschutz. Die 350-Jahrestonnen-Anlage von Wackersdorf ({15}) betrachtet die FDP als die bereits von der Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" geforderte großtechnische Demonstrationsanlage zur Wiederaufarbeitung von Kernbrennstoffen. ({16}) Mit dem Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Umweltgutachten 1987 stimmen wir darin überein, daß die Umweltauswirkungen der Wiederaufarbeitung und der direkten Endlagerung abgewogen werden sollen, ehe eine endgültige Entscheidung für einen oder beide Entsorgungswege gefällt wird. ({17}) Wenn sich erweist, daß eine direkte Endlagerung unter Sicherheits- und Kostengesichtspunkten den Vorzug verdient, ist nach unserer Auffassung die Entsorgungsstrategie entsprechend zu ändern. Deshalb hat in diesem Zusammenhang auch meine Partei, zuletzt auf der Sitzung des Bundeshauptausschusses in Berlin im November 1988, gefordert, das Atomgesetz so zu novellieren, daß der gesetzliche Zwang zur Wiederaufarbeitung aufgehoben und die direkte Endlagerung rechtlich möglich wird. Deshalb sollte auch zusätzlich geprüft werden, ob die Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf auch in die Lage gebracht werden kann, Brennelemente für die direkte Endlagerung zu konditionieren. ({18}) Meine Damen und Herren, die FDP nimmt die Verpflichtung zur umweltverträglichen und sicheren Entsorgung von Abfällen aus kerntechnischen Anlagen ernst. Deshalb werden wir uns für die weiteren notwendigen Entsorgungsschritte einsetzen, denn nicht nur nach der geltenden Rechtslage, sondern auch aus wohlverstandenem Sicherheitsinteresse für unsere Bevölkerung muß eine optimale Entsorgung stattfinden. Ich danke Ihnen. ({19})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister Dr. Töpfer.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich in aller Kürze nur einige Anmerkungen zu den drei Punkten machen, die hier heute zur Diskussion stehen. Zum ersten: Entsorgungskonzept. Ganz deutlich und klar hat die Bundesregierung Anfang dieses Jahres das Entsorgungskonzept im Entsorgungsbericht erneut der Öffentlichkeit vorgestellt. Wir haben uns in der Kontinuität der Bundesregierungen gehalten und das Entsorgungskonzept, das 1979 vom damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt und allen Ministerpräsidenten einstimmig verabschiedet worden ist, weiter vorangetrieben. Meine Damen und Herren, ich gebe zu - und ich möchte diese Gelegenheit nutzen, das noch einmal deutlich zu machen - , daß wir bei allen Bausteinen dieses Entsorgungskonzeptes auf den alternativlosen Widerstand der Opposition stoßen. ({0}) Ich bin vor 14 Tagen am Samstag, Sonntag und Montag im Landkreis Lüchow-Dannenberg gewesen. Der Abgeordnete Daniels hat uns ja empfohlen, uns vor Ort zu unterrichten. ({1}) Ich habe das in einer öffentlichen Veranstaltung in Gorleben, durch meine Teilnahme beim Kreistag des Landkreises Lüchow-Dannenberg und bei der Gorleben-Kommission getan. ({2}) Meine Damen und Herren, entweder glaubt die Opposition in diesem Hohen Hause nicht daran, daß sie jemals wieder an die Regierung kommt, oder sie kann diese Position vor Ort zur Entsorgung von radioaktiven Abfallstoffen nicht einnehmen. ({3}) Ich muß das ganz deutlich so sagen. ({4}) Wer überall nur die Meinung vertritt, man müsse dagegen sein, und zwar von Konrad über Gorleben, ({5}) - Asse, ich danke Ihnen für den Zwischenruf, von Wackersdorf bis - und ich greife hier das auf, was der Abgeordnete Dr. Friedrich gesagt hat - zu der Durchführung des parallelen Ansatzes, den wir ja mit der Pilotkonditionierungsanlage in Gorleben voranbringen, wo wir die direkte Endlagerung pilotmäßig erproben wollen, wer also dies alles ablehnt, kann nicht den Anspruch erheben, wirklich ernsthaft über Entsorgung nachzudenken. ({6}) Eines möchte ich in der Öffentlichkeit dazu auch noch einmal sagen: Wer glaubt, er könne für acht oder zehn Jahre weiterhin Kernkraftwerke betreiben, aber keine Antwort auf diese Fragen der Entsorgung findet, der kann mit seiner Position zur Entsorgungsfrage nicht ernst genommen werden. ({7}) Meine Damen und Herren, dies geht miteinander nicht zusammen! ({8}) Zum zweiten Punkt, zum Erörterungstermin in Bayern. Zunächst möchte ich mich mit aller Nachdrücklichkeit und Klarheit für die Beamten in Bayern einsetzen, die hier in einer für meine Begriffe völlig unverantwortlichen Weise als Handlanger bezeichnet worden sind. Sie haben eine psychologisch außerordentlich schwere Position innegehabt. ({9}) Ich möchte es niemandem von uns wünschen, Verhandlungsleiter bei einem Erörterungstermin zu sein. Ich greife jetzt das auf, was der Herr Abgeordnete Dr. Friedrich gesagt hat. Meine Damen und Herren, wenn ich mir wirklich die Interessenlage der GRÜNEN vornehme, dann ist es doch ganz sicherlich richtig, daß sie ungleich mehr daran interessiert sind, einen Verfahrensfehler bei uns, die wir da genehmigen müssen, zu provozieren, als daß wir uns auch nur den Schimmer eines Verfahrensfehlers gestatten dürfen, weil all das, was dort getan wird, rechtlich überprüft wird. Wenn die DWK zu uns käme und sagte „Guckt genau durch, ob da ein Verfahrensfehler passiert, und wenn er vorhanden ist, dann macht dieses Verfahren neu", dann hätte ich dafür Verständnis. Wenn Sie kommen und sagen „Ihr habt aber Verfahrensfehler gemacht", dann überzeugt mich das nicht, um es einmal vorsichtig zu sagen. ({10}) Ich glaube, meine Damen und Herren, die umgekehrte Interessenlage ist deutlich. Hier wird auch der Bundesumweltminister daran gemessen, ob er darauf aufpaßt, daß keine Verfahrensfehler passieren. ({11}) Denn die daran anknüpfenden Konsequenzen wären gerade für diejenigen, die eine solche Wiederaufarbeitungsanlage für erforderlich halten, ungleich problematischer als für die anderen. Lassen Sie mich in der Kürze zum dritten Teilbereich, zu Österreich und der Kollegin Flemming, etwas sagen. Wenn denn, meine Damen und Herren, jemand wirklich Grund haben sollte, sich zu entschuldigen, dann ganz sicherlich nicht der Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, sondern die Frau Ministerin aus Österreich. Sie hätte Anlaß, sich zu entschuldigen. ({12}) Meine Damen und Herren, ich habe mir das durchgelesen, was die Frau Kollegin, mit der ich ja nun häufig genug zusammen bin, da gesagt hat. ({13}) Sie hat mit einer großen Eloge und mit Dank an die Bundesrepublik Deutschland angefangen. Sie hat darauf hingewiesen, daß es überhaupt das erste Mal in der Geschichte solcher Genehmigungsverfahren sei, daß man über die nationalen Grenzen hinaus in einem solchen öffentlichen Termin die Interessen vertreten könne. Die Frau Kollegin Flemming hat gesagt, sie wünsche, daß das, was dort möglich gewesen sei, für ganz Europa beispielgebend sein werde. So ist es am Anfang nachzulesen. Wenn ich dann weiterlese, meine Damen und Herren, frage ich mich wirklich: Hat die Frau Kollegin Flemming tatsächlich die Chance genutzt, die für sie verfügbaren Informationen überhaupt einmal zu lesen? ({14}) Weiß die Frau Kollegin Flemming denn eigentlich, daß es auch in Österreich eine von Österreich eingesetzte Reaktorsicherheitskommission gibt, die dazu einen entsprechenden Bericht vorgelegt hat, in dem genau das, was vorher hier inkriminiert wurde, nicht bestätigt wird?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie eine Zwischenfrage, Herr Bundesminister?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Gerne, bitte.

Michael Weiss (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002462, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Minister, ist Ihnen bekannt, daß die österreichische Reaktorsicherheitskommission eben kein Beratungsgremium der Bundesministerin und daher mit unserer Reaktorsicherheitskommission nicht vergleichbar ist, sondern eigentlich eher mit Institutionen wie der GRS o. ä. zu vergleichen ist und daß es doch etwas verwunderlich ist, wenn Sie einer praktisch privaten Institution in Österreich Materialien zur Verfügung stellen, aber der Ministerin die Bitte abschlagen?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Herr Abgeordneter Weiss, eines ist ganz sicher richtig, daß nämlich die österreichische Reaktorsicherheitskommission ein Gremium ist, das die österreichische Bundesregierung berät. ({0}) Sicherlich ist es auch richtig, daß diese ebenfalls einen für meine Begriffe umfangreichen und durchaus sachlich qualifizierten Bericht vorgelegt hat. Ich wäre sehr dankbar, wenn sich die Kollegin in Österreich diese Sachargumente zumindest genauso zugänglich machen würde, wie sie auch andere Argumente aufgreift. ({1}) Ich werte ihre Position überhaupt nicht, meine Damen und Herren. Die Bundesregierung ist daran interessiert, möglichst viele zweiseitige Verträge und Abkommen mit anderen Nationen abzuschließen. Wir haben uns gegenwärtig bereits mit 16 solcher Verträge dazu bekannt. Wir haben sie nicht nur mit Nachbarn im Westen, wir haben sie genauso mit Nachbarn im Osten abgeschlossen. Wir werden in Kürze ein solches Vertragswerk mit der Tschechoslowakei abschließen. An uns liegt es wirklich nicht, wenn es nicht zu einem solchen Informationsvertrag auch mit Österreich kommt. Wir hoffen sehr, daß das in Kürze auch der Fall ist.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schütz?

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ja.

Dietmar Schütz (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002093, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, wenn wir eine solche Haltung einnehmen, wie verträgt es sich damit, daß wir bei Einsprüchen über die Grenze z. B. vor dem Bundesverwaltungsgericht darauf hingewiesen werden, daß die zulässig sind, und wir das vorher nicht freiwillig getan haben? ({0}) - Das Bundesverwaltungsgericht in der Frage Lingen.

Prof. Dr. Klaus Töpfer (Minister:in)

Politiker ID: 11002335

Ich kann Ihnen hier dazu nur sagen, daß die Bundesregierung - ich wiederhole das - außerordentlich daran interessiert ist, in der Ausfüllung der mit der Internationalen Atomenergieorganisation festgelegten Informationspflichten auch bilateral voranzukommen. Diese Bereitschaft besteht auch in bezug auf Österreich, ({0}) und wir hoffen sehr, daß diese Informationen auch aufgegriffen werden. An uns liegt es jedenfalls nicht. Recht herzlichen Dank. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Besteht Ihre Auffassung hinsichtlich der Wortmeldungen noch immer, Herr Kollege Becker? Das tut mir leid, aber nach der Geschäftsordnung ist das nicht zulässig. Nachdem das Haus beschlossen hat, daß jede Fraktion nur einen Beitrag leisten darf, kann ich keine weiteren Wortmeldungen zulassen. ({0}) Ich schließe die Aussprache. Der Ältestenrat schlägt vor, die Anträge der Fraktion DIE GRÜNEN an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich rufe Punkt 17 der Tagesordnung auf: Beratung der Großen Anfrage der Abgeordneten Kuhlwein, Dr. Penner, Odendahl, Dr. Böhme ({1}), Kastning, Dr. Niehuis, Rixe, Weisskirchen ({2}), Bernrath, Ganseforth, Dr. Hauchler, Schmidt ({3}), Weiler, Dr. Vogel und der Fraktion der SPD Entwicklungsstand und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland - Drucksachen 11/2211, 11/2603 Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3588 vor. Nach einer Vereinbarung im Ältestenrat ist für die Beratung eine Stunde vorgesehen. - Kein Widerspruch; es ist so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Herr Abgeordnete Kuhlwein.

Eckart Kuhlwein (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001252, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich finde es schon bedauerlich, daß ein Thema, das im Augenblick mindestens 1,5 Millionen Studenten in der Bundesrepublik bewegt, durch die Parlamentsregie in die späten Abendstunden verbannt wird. ({0}) Aber wir sollten die Debatte hier dennoch führen, weil ich glaube, daß das notwendig ist, und vielleicht kriegen wir ja auch mal wieder bessere Tageszeiten, Herr Minister. ({1}) Bei den Haushaltsberatungen zum Einzelplan 31 des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft haben wir in den vergangenen Woche absurdes Theater erlebt. Da kündigt der Bundesbildungsminister ein Hochschulsonderprogramm zur Verbesserung der Situation an den Hochschulen in besonders belasteten Fächern für den Fall an, daß die Länder zu zusätzlichen Überlastmaßnahmen in gleicher Höhe bereit sind. Dann sagt er wörtlich, die Bundesregierung sei entschlossen, „dem Parlament zu Beginn des nächsten Jahres einen entsprechenden Nachtragshaushalt vorzulegen" . ({2}) Kurz darauf korrigiert ihn der Bundesfinanzminister, das Gespräch darüber sei innerhalb der Bundesregierung „eigentlich noch nicht abgeschlossen". Erst wenn geklärt sei, ob die Länder bereit seien, sich an „eventuellen - und mehr sage ich heute nicht - gemeinschaftlichen Initiativen zu beteiligen", sei die Bundesregierung in der Lage, „zu entscheiden, ob und zu welchem Zeitpunkt ein zusätzlicher Finanzbedarf besteht". ({3}) Von einem Nachtragshaushalt war keine Rede. ({4}) - Herr Kollege Daweke, Sie wissen genau, daß dies auch zum Thema gehört, wenn wir die Fachhochschulen nicht immer separat von der allgemeinen Hochschulpolitik diskutieren wollen. Es war auch keine Rede - Herr Kollege Wetzel, ich will das hier wissenschaftlich korrekt machen - vom Beginn des nächsten Jahres, und dem staunenden Publikum blieb nach diesem Theaterskandal nur die Alternative, entweder weiter auf Godot zu warten oder das Parkett fluchtartig zu verlassen, weil der Bildungsminister ohne seine schönen neuen Kleider ziemlich bloß ausgesehen hat. Meine Fraktion hat dann die zweite Möglichkeit gewählt, um deutlich zu machen, daß wir uns mit bloßen Ankündigungen nicht mehr abspeisen lassen. Wer so wie der Bundesbildungsminister wochenlang den großen Zampano spielt, ({5}) der notfalls die Fesseln der selbstgemachten Finanzkrise sprengt und dem Finanzminister und Koalitionspartner mannhaft die Stirn der FDP-Parteitagsbeschlüsse bietet, der muß sich schon gefallen lassen, daß wir es nicht unkommentiert lassen, wenn er dabei auf die Nase fällt. ({6}) Da wird es schon fast zur Petitesse, daß am selben Abend die FDP-Abgeordneten in diesem Haus in völlig unbußfertiger Einmütigkeit und namentlicher Abstimmung, von Adam-Schwaetzer über NeuhauKuhlwein sen bis Zywietz, genau das abgelehnt haben, was ein FDP-Parteitag vor kurzem auf Antrag des Bundesbildungsministers beschlossen hat. ({7}) Das Schlimme daran ist nur, daß die Hochschulen, die in diesem Wintersemester 1,5 Millionen Studenten auf knapp 800 000 Studienplätzen zu verkraften haben, mit ihren Sorgen von der Bundesregierung erneut alleingelassen werden. Selbst wenn der Bundesbildungsminister das Kabinett in den nächsten Monaten noch bewegen sollte, ({8}) 1,05 Milliarden DM als Bundesanteil für ein Hochschulsonderprogramm in den nächsten sieben Jahren zur Verfügung zu stellen, dann wäre auf dem Weg zur Umsetzung wichtige Zeit verlorengegangen. Wir sagen Ihnen dennoch zu, Herr Möllemann, daß wir Sie dabei unterstützen werden, auch wenn Ihr Theaterdonner uns gelegentlich auf die Nerven geht. Sie werden Verständnis haben, daß ich Ihre bis heute mißglückte Initiative für ein Hochschulsonderprogramm an den Anfang einer Rede zu „Entwicklungsstand und Perspektiven der Fachhochschulen in der Bundesrepublik Deutschland" gestellt habe. Die Fachhochschulen leiden heute - wie die Universitäten - unter Überlast, unter einer Überlast, wie sie in der deutschen Hochschulgeschichte noch nicht dagewesen ist. Sie leiden unter Mangel an Räumen, an Personal und an Ausstattung. Mehr als 330 000 Studenten und Studentinnen teilen sich in diesem Wintersemester die rund 130 000 Studienplätze dort. Als Bildungspolitiker müssen wir uns die Frage gefallen lassen, ob diese Entwicklung nicht absehbar gewesen sei. Wir haben uns gemeinsam lange damit getröstet, daß der Studentenberg „untertunnelt" werden könnte. Das bedeutet konkret, daß wir die Fiktion aufrechterhalten haben, mit einem immer noch nicht erreichten Ausbauziel von 850 000 Studienplätzen für alle Hochschulen in der Bundesrepublik könnte man auskommen, wenn nur für einige Jahre mit starken Studentenzahlen eine gewisse Überlast in der Lehre gesichert würde. ({9}) Inzwischen, meine Damen und Herren, ist die Überlast praktisch zu einem Dauerzustand geworden. ({10}) Das Licht am Ende des Tunnels ist noch lange nicht zu sehen, und es bestehen Zweifel, ob der Berg über dem Tunnel nicht einstürzt. ({11}) Wir werden uns deshalb von liebgewonnenen Planungszielen trennen müssen. Und die Finanzminister sind bereits auf dem Sprung, um spätestens dann, wenn die Studentenzahlen zurückgehen, Stellen einzusammeln, weil sie die jahrelange Überlast inzwischen zur Normallast umdefinieren. Wir werden dies tun müssen, weil auch die heutige Studentengeneration einen Anspruch auf ein geordnetes und qualifiziertes Studium hat. Wir werden dies tun müssen, weil die Studierneigung langfristig eher zunehmen wird und weil das den Rückgang der Jahrgangsstärken teilweise kompensieren dürfte. Und wir müssen das schließlich auch deshalb tun, weil neue Aufgaben, vor allem in der wissenschaftlichen Weiterbildung, auf die Hochschulen zukommen. Wenn der Bundeskanzler Mitte September mit den Ministerpräsidenten der Länder spricht, darf es deshalb nicht nur um ein gemeinsames Sonderprogramm zum Offenhalten von Betriebswirtschaft und Informatik für die nächsten sieben Jahre gehen. Wir brauchen vielmehr eine Verpflichtung von Bund und Ländern, eine neue, langfristig angelegte Anstrengung zum Ausbau unserer Hochschulen zu unternehmen. ({12}) Wenn wir, meine Damen und Herren, den neuen Herausforderungen für das Jahr 2000 im Hochschulbereich gerecht werden wollen, brauchen wir einen Hochschulgesamtplan, in dem sich Bund und Länder für zehn Jahre verpflichten, die notwendigen Mittel für Forschung und Lehre aufzubringen, damit das Herumgewurstel der letzten Jahre endlich aufhört. ({13}) Wir haben mit Genugtuung festgestellt, daß der Ansturm auf die Hochschulen in diesem Herbst keine Warnung vor einem neuen „akademischen Proletariat" hervorgerufen hat. Das mag damit zusammenhängen, daß die bevorzugten Fächer auf dem Arbeitsmarkt besonders gut verwertbar zu sein scheinen. ({14}) Immerhin gewinnt die Erkenntnis an Raum, daß die hochentwickelte Volkswirtschaft der Bundesrepublik immer mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte benötigt ({15}) und daß es gesellschaftspolitisch eigentlich ein Grund zur Freude sein muß, Graf von Waldburg-Zeil, wenn immer mehr junge Menschen immer mehr lernen wollen. Dabei sollte allerdings nicht vergessen werden, daß mit Betriebswirtschaft und Informatik allein eine menschenwürdige Zukunft nicht gewonnen werden kann. Angesichts des schnellen technologischen Wandels und der gleichzeitigen Drohung einer ökologischen Katastrophe müssen neben Natur- und Ingenieurwissenschaften auch Sozial- und Geisteswissenschaften gleichberechtigt berücksichtigt werden. ({16}) Die Hochschulen können uns helfen, Antwort auf die Frage zu finden, wie wir morgen leben wollen. Und das ist nicht nur die Frage, was technisch machbar oder ökonomisch verwertbar ist, sondern das ist auch eine Frage an die Psychologie, an die Soziologie oder an die Philosophie. Ich warne deshalb vor einer Hochschulstrukturpolitik, die hinter kurzfristigen ökonomischen Transfers herläuft und dabei Geistes- und Sozialwissenschaften ausblutet. Dabei sitzen wir dann alle gemeinsam im Glashaus. Ich kenne den Einwand, daß dies doch alles Sache der Länder sei. Und ich weiß genau wie Sie, daß der Bund im Hochschulbereich nur begrenzte Kompetenzen hat. ({17}) Aber ich fühle mich mitverantwortlich. Der Wissenschaftsrat hat doch im Mai dieses Jahres daran erinnert, welche Möglichkeiten der Bund neben dem Hochschulbau in der Mitfinanzierung der Forschung und in der Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses hat, ohne die Grenzen der Verfassung zu verletzen. Es kommt nur darauf an, Herr Minister Möllemann, gesamtstaatliche Verantwortung auch anzunehmen und tragen zu wollen. Wir haben die Fachhochschulen spätestens mit der HRG-Novelle 1985 de jure zu einer gleichberechtigten Hochschulart gemacht. Wir haben uns damals gleichzeitig darauf verständigt, daß diese Hochschulart traditionell ein besonderes Profil hat und auch in Zukunft haben soll. Unsere Große Anfrage hat die Bundesregierung zu einem beinahe eindeutigen Bekenntnis zur Fachhochschule veranlaßt. Das ist gut so. Aber mit Bekenntnissen allein wollen wir es nicht bewenden lassen. ({18}) Wohlfeile Bekenntnisse zur Fachhochschule und praktisches politisches Handeln klaffen überall in der Bundesrepublik noch weit auseinander. Es ist richtig, daß kürzere und gestrafftere Studiengänge mit besonderem Praxis- und Anwendungsbezug den besonderen Charakter der Fachhochschule ausmachen. Aber das muß doch nicht auf Dauer bedeuten, daß Universitätsprofessoren im Jahr nur bis 216 Stunden, Fachhochschulprofessoren jedoch bis zu 684 Stunden zu lehren haben. Das muß auch nicht bedeuten, daß sie in der Regel auf wissenschaftliche Mitarbeiter verzichten müssen. Das muß auch nicht bedeuten, daß Fachhochschulstudenten kaum halb so viel kosten wie Studenten an den Universitäten. Das muß auch nicht bedeuten, daß sie bei den Stipendien, bei staatlichen Forschungsmitteln, bei der Personalstruktur und beim Hochschulbau erheblich benachteiligt werden. Das muß auch nicht bedeuten, daß die Absolventen von Fachhochschulen weniger qualifiziert seien und deshalb etwa im öffentlichen Dienst niedriger eingestuft werden könnten. Oder sind all die Bekenntnisse zum besonderen Wert und zum besonderen Profil der Fachhochschule letztlich nichts anderes als eine Vernebelung der Tatsache, daß es sich um für die öffentlichen Hände besonders preiswerte Studienplätze handelt? Diesen Verdacht wird man manchmal nicht los, wenn man zum Beispiel in den genannten Empfehlungen des Wissenschaftsrates vom Mai dieses Jahres liest, daß an den Fachhochschulen 1975 auf eine Stelle 4,1 Studenten im dritten Studienjahr kamen, daß diese Zahl jedoch bis 1986 auf 6,2 Studenten angestiegen ist. Da wurde im Vergleich mit den Universitäten noch relativ glimpflich verfahren. 1975 kamen 1,7 Studenten im vierten Studienjahr auf eine Wissenschaftlerstelle, 1986 2,3 Studenten. Mir scheint es fast ein Wunder zu sein, daß Fachhochschulabschlüsse in der privaten Wirtschaft immer wieder gelobt werden. Die Qualität der Ausbildung konnte dort nur mit einer sehr großen Kraftanstrengung gehalten werden. Auf Dauer werden die Fachhochschulen nur wettbewerbsfähig bleiben, wenn sie auch faktisch, d. h. beim Hochschulbau, beim Personal und bei der Ausstattung, mit den Universitäten gleichziehen können. Dabei haben die Fachhochschulen zwei große Herausforderungen der 90er Jahre zu bestehen: Erstens. Der gemeinsame Binnenmarkt wird auch den Wettbewerb auch auf dem Arbeitsmarkt verschärfen. Die EG-Richtlinie zur Anerkennung von Hochschulabschlüssen, die jetzt auch vom Europaparlament gebilligt worden ist, schließt ausdrücklich auch dreijährige Studiengänge ein. Wir müssen an dieser Stelle den Studenten danken, die der Bundesregierung in dieser Frage Dampf gemacht haben, und der Bundesregierung müssen wir danken, daß sie sich davon hat beeindrucken lassen. Dieser Dank schließt ausdrücklich alle Beamten ein, die in den vielen Verhandlungen in Brüssel die Interessen der deutschen Fachhochschulen engagiert vertreten haben. ({19}) Die Absolventen unserer Fachhochschulen aus drei- bzw. dreieinhalbjährigen Studiengängen werden dennoch vor einer Anerkennung ihrer Diplome Berufserfahrung nachweisen oder gar einen Anpassungslehrgang oder eine Eignungsprüfung absolvieren müssen. Hätten wir in allen Bundesländern nur noch vierjährige Fachhochschulstudiengänge, die die Praxis- und Prüfungssemester integrieren, wären diese Hindernisse weniger bedeutsam. Zweitens. Im mittleren und gehobenen technischen und kaufmännischen Management werden immer stärker Schlüsselqualifikationen gefragt sein. Dazu gehören Handlungskompetenz, Sozialkompetenz, Systemdenken, Interdisziplinarität, Teamfähigkeit, Kritikfähigkeit und sicher verstärkt auch Sprachkenntnisse. Die Fachhochschulen sehen durchaus selbstkritisch, daß sie mit ihren engen fachspezifisch ausgerichteten Studiengängen und den derzeitigen äußeren Bedingungen mit solchen Bildungszielen Schwierigkeiten haben. Deshalb wird dort auch über die Einbeziehung von geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern in die technischen Studiengänge ebenso nachgedacht wie über die Aufnahme neuer Fächer und die Schaffung von Möglichkeiten für interdisziplinäre Projekte. Auch aus diesem Grunde ist es sinnvoll, hier über eine Aufstockung der Studienzeiten nachzudenken. Unsere Große Anfrage, die durch die Auseinandersetzung um die EG-Anerkennung der Diplome angestoßen wurde, hat inzwischen eine breite öffentliche Diskussion um die Zukunft der Fachhochschulen in Gang gesetzt. Dabei haben sich besonders der HochKuhlwein schullehrerbund, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und die Vereinigung Deutscher Studentenschaften engagiert. ({20}) In den Forderungskatalogen finden sich neben Sonderprogrammen zur Verbesserung der aktuellen Studienbedingungen der Wunsch nach Durchlässigkeit zwischen Fachhochschulen und Universitäten, eine bessere Absicherung der Praktiker und ihre Einbeziehung in ein achtsemestriges Studium, die Zuweisung von Haushaltsmitteln für Forschungszwecke, die Schaffung von Stellen für den Austausch mit dem Ausland, eine Anhebung des Anteils der C-3-Stellen, eine Senkung des Lehrdeputats, die Schaffung von Frauenförderplänen und die Einführung bzw. der Ausbau eines Mittelbaus an den Fachhochschulen. Wir werden mit der Diskussion über die Große Anfrage nicht im ersten Anlauf alle Merkwürdigkeiten des Systems ausräumen können, das die Fachhochschulen auf der einen Seite besonderes hofiert, um sie auf der anderen Seite in die Kniekehlen zu treten. ({21}) Aber es ist schon ein verblüffender Mangel an Logik, wenn die Bundesregierung in ihrer Antwort auf der Seite 3 die vom Bundestag gewollte „hochschulpolitische/hochschulrechtliche Gleichwertigkeit" der verschiedenen Hochschulen beschwört, um dann auf der Seite 22 festzustellen, sie habe nicht von Gleichwertigkeit der Studiengänge gesprochen und schon gar nicht von Gleichwertigkeit in bezug auf die Einstellung in den öffentlichen Dienst. Da scheint, meine Damen und Herren, der Innenminister seine Duftmarke hinterlassen zu haben. ({22}) Wer ein weiteres Beispiel kennenlernen will, was die Gleichwertigkeit der Fachhochschulen wirklich bedeutet, der sollte die Richtlinie der Tarifgemeinschaft deutscher Länder für die Vergütung für studentische Hilfskräfte studieren. Die erhalten an Fachhochschulen DM 7,87 pro Stunde, an Universitäten jedoch DM 10,92. Nun wollen wir das denen nicht neiden, aber mir scheint das doch deutlich zu machen, daß es zwischen dem, was wir gemeinsam im HRG beschlossen haben, ({23}) und der Wirklichkeit draußen noch erhebliche Differenzen gibt. Herr Kollege Daweke, wenn Sie sich an unsere Ausschußberatungen erinnern, wird Ihnen wieder bewußt werden, daß sich Ihre Kollegin Männle besonders verdient gemacht hat, indem sie dafür gesorgt hat, daß die Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Hochschulen auf der einen und Fachhochschulen auf der anderen Seite aus dem Hochschulrahmengesetz getilgt worden ist. ({24}) Die SPD-Bundestagsfraktion hat dem Haus zur heutigen Debatte einen Entschließungsantrag - Druck sache 11/3588 - vorgelegt, in dem wir eine Reihe von Forderungen zur Weiterentwicklung der Fachhochschulen formuliert haben. Wir wollen erreichen, daß die Fachhochschulen in dem von der Bundesregierung angekündigten Sonderprogramm mit einer Quote berücksichtigt werden, die ihrem Anteil an der Gesamtstudentenzahl entspricht. Wir wollen erreichen, daß für die Fachhochschulen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulb au ein Sonderprogramm aufgelegt wird. Wir wollen erreichen, daß im Hochschulbauförderungsgesetz die Bagatellgrenze für die Anschaffung von Großgeräten gesenkt wird. Wir wollen erreichen, daß die Regelstudienzeit an Fachhochschulen einheitlich auf vier Jahre festgelegt wird. Wir wollen erreichen, daß der Frauenanteil an Studierenden der Fachhochschulen insbesondere in den technischen Bereichen erhöht wird. ({25}) Wie wollen erreichen, daß Forschung und Entwicklung wie im Hochschulrahmengesetz vorgesehen auch als Aufgabe der Fachhochschulen sichergestellt werden. Wir wollen erreichen, daß Fachhochschulstudenten ohne große Umwege Promotionen ermöglicht werden. Wir wollen erreichen, daß Fachhochschulen im Rahmen der Förderung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein besonderes Programm für anwendungsnahe Forschung und einen angemessenen Anteil erhalten. Wir wollen erreichen, daß die Fachhochschulen an den Forschungsförderungsprogrammen der Europäischen Gemeinschaft angemessen beteiligt werden. Wir wollen erreichen, daß Nachwuchswissenschaftlerinnen Stellen auch an den Fachhochschulen erhalten. ({26}) Wir wollen erreichen, daß die unterschiedliche Behandlung von Fachhochschulabsolventen und Universitätsabsolventen im öffentlichen Dienstrecht abgebaut wird. Wir wollen erreichen, daß Fachhochschulstudenten an den Begabtenförderungswerken, auch an der Studienstiftung des Deutschen Volkes, und bei Auslandsstipendien gleichberechtigt beteiligt werden. Wir wollen schließlich erreichen, daß durch eine Initiative der Bundesregierung gegenüber den Tarifparteien eine ausreichende Zahl von Praktikumsplätzen für Fachhochschulstudenten gesichert wird. Gerade wenn die Arbeitgeber in ihren großen Reden immer beschwören, Fachhochschulabsolventen seien besonders gut qualifiziert für mittleres und gehobenes Management in der Wirtschaft, sollten sie auch die Bereitschaft zeigen, die notwendigen Praktikumsplätze für ein organsiertes, inhaltsreiches und mit der Hochschule koordiniertes Praktikum zur Verfügung zu stellen. Meine Damen und Herren, wir wollen mit diesem Entschließungsantrag, der die Probleme der Fachhochschulen sicherlich noch nicht flächendeckend behandelt, den Anstoß für die weitere Diskussion geben. Wir bitten deshalb um Zustimmung für die Überweisung an die Ausschüsse für Bildung und Wissenschaft, Forschung und Technologie und an den Ausschuß für Wirtschaft. Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit zu dieser späten Stunde. ({27})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat Herr Abgeordneter Daweke.

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsident! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heute abend eigentlich über ein Kleinod in der deutschen Bildungslandschaft, nämlich über die Fachhochschulen. Ich glaube, wenn man überlegt, weshalb die Fachhochschulen in der Hochschullandschaft die Bedeutung erlangt haben, die sie heute haben, dann wird man sich an ein paar Tugenden dieses Systems erinnern müssen, die es auszeichnen. Da ist die anwendungsbezogene Lehre. Da sind Lehrende, die aus der Praxis kommen. Da sind Studenten, die berufliche Erfahrung haben. Da sind FH-Absolventen, die - das kann ich aus eigener Anschauung sagen - von der Industrie am Ende ihres Studiums praktisch nahtlos übernommen werden. ({0}) Da sind Fachhochschulstudenten, die einen dringenden Bedarf in unserer Wirtschaft gerade im mittleren Management abdecken können. Da sind Studenten, die die Hochschulen anderer Art, die sie sonst besuchen würden, entlasten. Und schließlich: Die Fachhochschulen sind auch deshalb zum Kleinod geworden, weil sie, was den Wissenschaftstransfer angeht, in der Region eine große Bedeutung haben. Sie haben auch eine große Bedeutung, was den Technologietransfer angeht. Sie leisten schließlich auch etwas, von dem wir alle glauben, daß es in Zukunft wichtiger sein wird: Sie betreiben nämlich Weiterbildung in der Region. Sie haben auch deshalb ein hohes Ansehen. ({1}) Der Beweis dafür wird täglich erbracht. Es findet eine Abstimmung mit den Füßen statt. Zur Zeit studieren ungefähr 350 000 junge Leute an Fachhochschulen. Es ist eben auch interessant: Die Fachhochschulen sind in zunehmendem Umfang auch für Abiturienten interessant. 40 % der Studienanfänger an Fachhochschulen sind heute Abiturienten. Das hätte niemand von uns, glaube ich, vor einigen Jahren geglaubt. Diese Entwicklung der Fachhochschulen haben wir alle zusammen gewollt. Die Koalitionsparteien haben deshalb im Hochschulrahmengesetz auch Vorsorge für diese Entwicklung getroffen. ({2}) - Herr Kollege Kuhlwein, wir haben die Fachhochschulen im Hochschulrahmengesetz mit den anderen wissenschaftlichen Hochschulen gleichgestellt. Wir haben die angewandte Forschung als Aufgabe der Fachhochschulen im Hochschulrahmengesetz verankert. Wir haben, um mehr Aufstiegschancen für Lehrende an Fachhochschulen zu sichern, das Hausberufungsverbot, das Sie im ersten Hochschulrahmengesetz verankert hatten, aufgehoben, und wir haben schließlich gegen Ihren erbitterten Widerstand auch die Beschaffung von Drittmitteln an Fachhochschulen möglich gemacht. Das alles wollten Sie nicht. Ich finde es schon interessant, wie Sie sich hier hinstellen und jetzt - auch in Ihrem Antrag - das Hohelied der Fachhochschulen singen. Ich kann mich gut daran erinnern, mit welcher Skepsis Sie an dieses Thema herangegangen sind. In Ihrem Antrag steht: Im Hochschulrahmengesetz sind die Fachhochschulen den übrigen Hochschulen förmlich gleichgestellt. Sie sind Bestandteil des Hochschulbauförderungsprogramms des Bundes und der Länder im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau. Wenn ich das lese, dann kann ich nur sagen: Könnten Sie z. B. nicht einmal mit der absoluten SPD-Mehrheit im nordrhein-westfälischen Landtag reden? Denn dort hat man gerade einen Antrag abgelehnt, den die CDU und die FDP eingebracht haben und mit dem man die Diskriminierung der Fachhochschulen abwehren wollte. Diese Diskriminierung besteht darin, daß Sie darauf bestehen, Universitäten als „Wissenschaftliche Hochschulen" zu bezeichnen. Das impliziert ja wohl die Meinung, daß andere Hochschulen unwissenschaftlich arbeiten. Wir hatten Ihnen vorgeschlagen, zu sagen: Das eine sind Universitäten, und das andere sind Hochschulen. Wir wollten mit dieser Bezeichnung jene Art von Differenzierung, wie Sie sie hier nun einfordern, endlich beseitigen. Das stimmt ganz genau. Übrigens, im Saarland findet zur Zeit genau das gleiche mit absoluter SPD-Mehrheit statt. Deshalb müssen Sie sich einmal ein bißchen besser abstimmen unter den A-Ländern. ({3}) - Bitte sehr.

Doris Odendahl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001632, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Kollege Daweke, ich hoffe, daß ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, und frage Sie: Halten Sie es denn für richtig, daß wir hier angesichts der Situation an den Universitäten und Hochschulen noch um eine Titulierung streiten, oder stimmen Sie nicht mit mir darin überein, daß die Situation es gebietet, daß wir konkret und mit den Möglichkeiten, die uns hier im Deutschen Bundestag gegeben sind, auf die Situation eingehen müssen?

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Nein, es geht um etwas ganz anderes. Es geht darum, daß Sie den Blaumann in diesem Land systematisch diskriminieren. ({0}) Sie wollen in Wahrheit gar nicht, daß berufliche Bildung und wissenschaftliche Ausbildung gleichgesetzt werden. Deshalb erfinden Sie auch laufend diese neuen Begriffe. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?

Klaus Daweke (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000361, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Da sie zum gleichen Thema ist, nicht, Frau Präsident; denn ich will weiterkommen. Parallel zu dieser Entwicklung hat sich die finanzielle Ausstattung der Fachhochschulen in der Bundesrepublik systematisch verbessert. Die Fachhochschulen bekommen aus dem Hochschulbauförderungstitel des Bundes Unterstützung. Sie sind von der Deutschen Forschungsgemeinschaft anerkannt. Ich will allerdings gleich kritisch hinzufügen, daß mir manchmal der Dünkel, den die SPD gegen diese Art von Bildung hat, ({0}) auch durchzuschlagen scheint bei manchen, die die Projekte von Fachhochschulen in der Deutschen Forschungsgemeinschaft prüfen müssen. Es ist richtig, daß angewandte Forschung und Grundlagenforschung etwas Unterschiedliches sind. Aber beides ist nach unserem Verständnis Forschung. ({1}) Ich möchte von dieser Stelle die Damen und Herren in diesem Gremium bitten, sich vielleicht einmal in die vom Gesetzgeber gewollte Richtung zu bewegen. Ich meine, in diesem Zusammenhang müßte man auch darauf hinweisen, daß bei unseren Überlegungen für das Überlastprogramm des nächsten Jahres die Fachhochschulen selbstverständlich eine große Rolle spielen werden. Aber auch hier darf ich vielleicht einmal folgendes einfordern. ({2}) - Wir denken - das wissen Sie doch - an 150 Millionen DM für das nächste Jahr. Davon sollen die Fachhochschulen einen Anteil von mindestens 20, 25% erhalten. Das ist unsere Vorstellung. Das darf ich hier vielleicht einmal sagen, ohne daß Sie gleich zu irgendwelchen Zaubertricks greifen, um das Plenum lahmzulegen. Ich will in dem Zusammenhang nur noch gerne darauf hinweisen - weil Sie sich, Herr Kuhlwein, eben auch aufgeplustert haben -: ({3}) Wenn Sie das Überlastprogramm voranbringen wollen, wäre es vielleicht ganz nützlich, daß einmal etwas passiert, was jetzt von Herrn Wallmann und Herrn Gerhardt in Hessen auf den Weg gebracht worden ist, daß nämlich ein konkretes Angebot eines SPD-regierten Bundeslandes auf den Tisch gelegt wird - am besten suchen Sie sich ein Land aus, das Sie noch nicht so lange regieren; sonst werden die betreffenden Länder alle möglichen Gründe vorbringen können, weshalb sie mit ihren Vorschlägen so spät gekommen sind -, damit man sieht, wie denn SPD-regierte Länder dieses Überlastprogramm des Bundes flankieren wollen. ({4}) Was zur Zeit in meinem Bundesland stattfindet - ich meine Nordrhein-Westfalen -, ist etwas ganz anderes. Dort sammelt Frau Brunn zur Zeit alle möglichen Stellen ein, die sie sich dann über einen Umweg vom Bund wieder holen will. Ich finde, das ist eine ganz miese Methode, diesem Problem gerecht zu werden. ({5}) Ich möchte gerne noch fünf Punkte nennen, die sich auf die Zukunft der Fachhochschulen beziehen. Aus meiner Sicht läuft alles auf die Frage hinaus, ob es gelingen wird, das eigene Profil der Fachhochschulen zu erhalten. Dazu möchte ich - ich mache das in Frageform - eben diese fünf Punkte noch kurz vortragen. Das eine ist: Wie kann man den Praxisbezug auch in Zukunft erhalten? Ich habe vorhin schon darauf hingewiesen: Wir haben jetzt einen hohen Anteil von Studenten an Fachhochschulen, die Abiturienten sind. Wenn 40 oder 50% Abiturienten in den traditionellen Studiengängen der Fachhochschulen sitzen, verändert das die Zusammensetzung so, daß man sich fragen muß, wie dann Praxisbezug in der täglichen Lehre auch tatsächlich stattfinden kann. Das zweite, was ich in diesem Zusammenhang erwähnen will, ist eine interessante Entwicklung, die ich mir kürzlich in Bayern selbst ansehen konnte. Das bayerische Kultusministerium sagt - wie ich finde, in konsequenter Anwendung des Prinzips Gleichwertigkeit von beruflicher Bildung und anderer Bildung, allgemeiner Bildung - : Wir müssen überlegen, ob wir nicht für diejenigen, die im Bereich der Wirtschaft eine Meisterprüfung gemacht haben, die Zulassung zu Fachhochschulen ermöglichen sollten. ({6}) Ich finde, das ist eine zu Ende gedachte Überlegung, wenn man tatsächlich von Gleichwertigkeit ausgeht. Das dritte, was ich sagen will, ist: Wenn Sie den Praxisbezug an den Fachhochschulen aufrechterhalten wollen, müssen Sie dafür sorgen, daß es den Fachhochschulen zukünftig gelingt - das ist eine Aufgabe, über die in den Ländern diskutiert werden muß - , auch aus der Wirtschaft gute Leute für die Lehre zu bekommen. In diesem Zusammenhang ist tatsächlich die Frage sehr wichtig, was denn mit den C-3-Professorenstellen wird. Es stellt sich hier die Frage: Wie können wir auch attraktive Aufstiegschancen schaffen? ({7}) - Ich habe keine Zeit mehr, Herr Wetzel. Als zweiten Punkt möchte ich im Zusammenhang mit der Erhaltung des eigenen Profils folgendes nennen: Ich bin im Gegensatz zu Herrn Kuhlwein der Meinung, daß man die kurzen Studienzeiten an den Fachhochschulen erhalten muß. ({8}) Sie haben eben von der Verlängerung der Studienzeit geredet. Dann würde in der Tat eines der attraktivsten Merkmale von Fachhochschulen verlorengehen. ({9}) - Drei plus eins oder drei; mir ist beides recht. - Ich finde, einer so undifferenzierten Propagierung der Verlängerung von Studienzeiten dürfen Sie wirklich nicht das Wort reden. Auch vor dem Hintergrund Europa nehmen Sie uns damit einen ganz wichtigen Vorteil weg. Drittens - ich habe es schon gesagt - : Ich bin der Meinung, daß auch die angewandte Forschung an den Fachhochschulen ihren Platz hat; wir alle haben das im Hochschulrahmengesetz gewollt. Aber ich sage noch einmal: Dann bitte ich in diesem Zusammenhang doch auch die DFG, vielleicht einmal ihr Gutachterwesen zu überprüfen, auch die große Bürokratie, die mit diesen Gutachten verbunden ist. Als vierten Punkt möchte ich nennen: Ich finde, wir müssen die Fachhochschulen - ich gebe zu, das haben wir gemeinsam angefangen - mehr in die Tätigkeit im Ausland einbeziehen. Da sind erste Anfänge zu verzeichnen. Wir haben damals alle gemeinsam dafür gesorgt, daß Fachhochschüler auch FulbrightStipendiaten in den USA werden können; der DAAD hat entsprechende Programme - ein wichtiger Punkt, gerade vor dem Hintergrund Europas. Das fünfte ist: Ich glaube, daß die Förderungswerke - ich selbst sitze im Kuratorium von Villigst, bei der evangelischen Kirche - sich mit der Einbeziehung von Absolventen von Fachhochschulen nicht so schwertun müssen. ({10}) Es gibt, glaube ich, von den großen Förderungswerken nur drei oder vier in der Bundesrepublik, die Fachhochschulprogramme haben. Es gibt im übrigen auch hier - ganz im Gegensatz zu der Entwicklung, die vorhin beklagt worden ist - bei den Förderungswerken eh viel zuwenig Technikförderung. Es gibt traditionell die Förderung der philosophischen Disziplinen, später der Wirtschaftswissenschaft. Aber es gibt sehr wenig Förderung von Technik. Deshalb paßt bei manchen Förderungswerken auch schlecht die Förderung von Fachhochschülern in ihr Programm. Aber ich finde, das ist eine wichtige Aufgabe für die Zukunft. Wenn man die Zahlen der Leute sieht, die heute an Fachhochschulen studieren, dann wird man sich auch dieser Forderung kaum entziehen können. ({11}) Wenn diese Punkte abzuhaken wären, dann, denke ich, könnten wir auf dieses System mit großer Gelassenheit gucken. Ich habe die Zahlen vorhin schon vorgetragen; ich bin sicher, sie werden noch ansteigen. Diese Fachhochschulen werden dann auch den Wettbewerb mit den anderen Hochschulen sicherlich gut bestehen können. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Wetzel.

Dietrich Wetzel (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002492, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind am Ende eines langen und glanzlosen Debattentags schließlich zu einer der entscheidenden Zukunftsaufgaben dieser Gesellschaft gekommen. ({0}) - Meine Damen und Herren, Sie werden mir zustimmen, daß es sich bei dem Ausbau des Hochschulsystems in Forschung und Lehre um eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben handelt. ({1}) Ich denke, es steckt viel Symbolik darin, daß dieser Tagesordnungspunkt im Parlament zu fast mitternächtlicher Stunde verhandelt wird. ({2}) In der Tat - so möchte ich mir einmal diese Symbolik auszureizen gestatten - muß eine Politik, die aus den Fachhochschulen die Armenhäuser unserer Hochschullandschaft gemacht hat, auch das Licht des Tages scheuen. ({3}) Denn was für das Hochschulwesen insgesamt gilt, nämlich der drohende Ruin wesentlicher Teile von Lehre und Forschung, gilt erst recht für die Fachhochschulen. Es liegt Ihnen heute eine Stellungnahme der Bundesregierung zum Entwicklungsstand und zu den Perspektiven der Fachhochschulen vor. Das politisch Wichtigste jedoch haben diese Bundesregierung und ihr Minister Möllemann nicht vorgelegt, nämlich ein Handlungskonzept, wie diese Regierung die Hochschulprobleme zu bewältigen gedenkt. Ich kann in dem Beitrag von Herrn Daweke, auf den ich mich gefreut hatte ({4}) und auf den ich hoffte eingehen zu können, ein Thema nicht entdecken, um das es wirklich geht, nämlich die Krise des Hochschulsystems. ({5}) Sie haben sich dazu nicht geäußert. Sie haben ein idealisiertes Modell von Fachhochschulen gezeichnet. Sie sprachen davon, daß sich die Lage der Fachhochschulen systematisch verbessert habe, ({6}) daß die Studienzeiten eines der attraktivsten Elemente im Fachhochschulsystem seien. Nur, Herr Daweke, Sie sprechen von Regelstudienzeiten. Sie sprechen von etwas, was es in der Realität so nicht gibt; denn die Realität sieht so aus, daß sich die durchschnittliche Studiendauer an den Fachhochschulen systematisch der Tendenz der Studiendauern an den Universitäten angleichen. ({7}) - Das ist keine Erklärung dafür, daß die Durchschnittsstudiendauer an Fachhochschulen inzwischen 10,3 Semester beträgt, ({8}) während die Regelstudienzeit sechs Semester beträgt. Bitte schön, Herr Daweke, wenn Sie darin kein Problem sehen, dann bestätigen Sie nur das Verhalten der maßgeblichen Bildungspolitiker im Bund und in den Ländern, die meinen, ohne nennenswerte Maßnahmen davonkommen zu können. ({9}) Die dem Parlament vorgelegte Stellungnahme ist auch ein Beispiel dafür, wie diese Bundesregierung bei Bildungsaufgaben praktische Politik durch unverbindliche Rhetorik ersetzt. ({10}) - Herr Daweke, nicht „ach Gott". Die harte Realität sieht so aus: Massenstreiks der Studierenden an Fachhochschulen und Universitäten in Hessen. Wenn Ihnen das nicht genügt, dann sage ich folgendes: Die Hochschullehrer einer der größten Fachhochschulen, nämlich der Fachhochschule in Hamburg, haben beschlossen, ab übermorgen die Fachhochschule zu schließen, weil kein vernünftiger Lehrbetrieb mehr gewährleistet ist. Das ist die Realität an den Fachhochschulen. Wenn Sie meinen, sich davor drücken zu können, dann hat das mit Politik sehr wenig zu tun. Sie sprachen vorhin, Herr Daweke, von einer Abstimmung mit den Füßen. Da haben Sie eine dieser Formen von Abstimmung, die nämlich zeigt, was die Studierenden und ihre Lehrenden an den Fachhochschulen von dieser Art von Bildungspolitik halten. ({11}) - Möchten Sie vielleicht eine Zwischenfrage stellen? Meine Damen und Herren, wir werden über diese Stellungnahme der Bundesregierung und den Entschließungsantrag der SPD im Ausschuß weiter verhandeln. ({12}) Ich denke aber, folgende Punkte sollten in den Vordergrund gestellt werden: Erstens. Im Rahmen eines Notprogramms von Bund und Ländern müssen Mittel bereitgestellt und Vereinbarungen getroffen werden, die dazu beitragen, den Fachhochschulen wieder einen verantwortbaren Lehrbetrieb zu ermöglichen. Um zu verdeutlichen, warum ich vorhin von den Fachhochschulen als Armenhäusern sprach, will ich Ihnen dazu vier plastische Kenndaten nennen: An den universitären Hochschulen stieg zwischen 1977 und 1987 die Zahl der Studierenden um 40 %, während der Stellenzuwachs - einschließlich der Kliniken - 14 % betrug. Noch dramatischer aber hat sich die Überlastsituation an den Fachhochschulen entwickelt. Dort stieg die Zahl der Studierenden nicht nur um 40 %, sondern um 70 %, während der Stellenzuwachs nicht einmal 14 %, sondern nur 8 % betrug, d. h. Überlastsituation in der gegenwärtigen Hochschullandschaft, eine Überlastsituation, die insbesondere die Fachhochschulen betrifft. Zweitens - dies hängt eng mit dieser Problematik zusammen -: Fachhochschulen benötigen eine den universitären Hochschulen vergleichbare Ausstattung. Das bedeutet u. a.: Es ist nicht nur mehr wissenschaftliches, sondern auch mehr nichtwissenschaftliches Personal erforderlich. Hierzu als kleines Stichwort: Fachhochschule Fulda: 100 Hochschullehrer. Kein einziger dieser Hochschullehrer oder der Hochschullehrerinnen hat überhaupt eine eigene Schreibkraft. ({13}) Drittens. Verstärkung der Forschungsmöglichkeiten an Fachhochschulen. Wenn die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme von einer „Eigenständigkeit der Fachhochschulen in Forschung und Entwicklung" spricht, dann geht auch diese Aussage wieder einmal an der Realität vorbei. Die Fachhochschulen sind derzeit fast ausschließlich auf Drittmittelfinanzierung angewiesen, die sie in ihrer Forschungs- und Entwicklungsarbeit aufs engste an Marktmechanismen ankoppelt. Die Forschung ist damit prinzipiell Auftragsforschung und nur Auftragsforschung. Von der allgemeinen Forschungsförderung der DFG erhalten die Fachhochschulen ganze 0,1 %. ({14}) Herr Daweke, sie haben die DFG angeführt: Ganze 0,1 % erhalten die Fachhochschulen von der allgemeinen Forschungsförderung! Das bedeutet: Gerade an den Fachhochschulen, wo Forschung stark anwendungs- und praxisorientiert ist, fehlt es an Möglichkeiten zur selbständigen Entfaltung einer kritischen Dimension. ({15}) Meine Damen und Herren, ich sehe gerade, daß rote Licht fängt an zu blinken. Ich komme zu einem Schlußpunkt. Wir GRÜNE sind der gut begründbaren Überzeugung, ({16}) daß der Verzicht im geltenden Hochschulrahmengesetz auf integrierte Gesamthochschulen ein Fehler war, der, sobald es die politischen Kräfteverhältnisse erlauben, rückgängig gemacht werden muß. Bildungs- und wissenschaftspolitisch liegt unsere Zukunft in einem integrierten Hochschulsystem mit hoher vertikaler und horizontaler Durchlässigkeit. ({17}) Wir denken, daß sich so diejenigen Fähigkeiten bei den Studierenden entwickeln können, und zwar auf Grund eigener Entscheidung, auf Grund von Wahlmöglichkeiten, die sie selber nutzen, die wir dringend für die Bewältigung unserer sozialen und ökologischen Zukunftsaufgaben benötigen. Ich danke Ihnen. ({18})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Neuhausen.

Friedrich Neuhausen (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001591, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, schneller als Herr Kuhlwein zu sprechen, aber ich muß das, denn ich habe viel weniger Zeit. Ich schaffe es nicht; ich will es einmal versuchen. So wie Herr Wetzel kann ich nicht sprechen, meine Damen und Herren, denn das geht eigentlich am Thema vorbei. ({0}) Wir haben es mit der Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage zu tun. Da ist von Perspektive die Rede. Zum Schluß war auch bei Herrn Wetzel von Perspektive die Rede, aber in eine falsche Richtung. ({1}) Meine Damen und Herren, die FDP hat in ihrem bildungspolitischen Programm in Wiesbaden kürzlich die Forderung erneuert, die Stellung der Fachhochschulen in unserem System unterschiedlicher Hochschularten, das der Vielfalt der Berufswelt und der wissenschaftlichen Aufgaben und den dadurch bedingten differenzierten Möglichkeiten der Lehre, des Studiums und der Forschung entspricht, zu stärken. Ich glaube, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage macht eben unter realistischen Voraussetzungen sehr eindrucksvoll deutlich, daß ihr Konzept und auch ihr Handeln dieser Forderung entsprechen. Das begrüßen wir ausdrücklich. ({2}) Die Antwort macht aber auch klar, welches komplizierte Zusammenspiel von Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern in vielen hier schon zur Sprache gekommenen wichtigen Einzelpunkten zu beachten ist. ({3}) - Herr Kollege Grünbeck, es ist keine seltene Einsicht, sondern eine Selbstverständlichkeit, das zu beachten. - Dies ist übrigens ein Verhältnis - ich möchte das einmal ganz ernst nehmen -, von dem mir auffällt, daß es sowohl die SPD, aber in viel stärkerem Maße noch Sie, Herr Kollege Wetzel, in einer unrealistischen Weise souverän überspringen, als gäbe es diese Zuständigkeiten eigentlich überhaupt nicht. ({4}) Meine Damen und Herren, wer das aber alles realistisch berücksichtigt, wird der Bundesregierung die Anerkennung für die Konsequenz in der Verfolgung der berechtigten Anliegen - da machen mich die pflichtschuldigen Vorwürfe gar nicht irre - ebensowenig versagen können wie ihren erfolgreichen Bemühungen in der Frage der Anerkennung der Abschlüsse in der Europäischen Gemeinschaft. Ich muß das etwas allgemein zusammenfassen, weil die Zeit nicht mehr hergibt. Ein wenig ähnelt das, was hier von der Opposition gesagt wird, der Methode Igel in Buxtehude, wo dem Hasen die Mühe des Laufens alleine überlassen blieb, während die Igel bequem in ihrer Kritikerfurche saßen. ({5}) Was im Märchen aber pfiffig anmutet, Herr Kollege Kuhlwein, ist in der Politik durchaus sehr zweifelhaft, denn nichts ist leichter, als jeden Hinweis auf einen Erfolg, auf einen realistischen Schritt aus der Loge des Betrachters, mit einem Katalog neuer Zielvorstellungen zu diskreditieren. Die Bundesregierung - um auf Ihren Zwischenruf zurückzukommen - ist sehr viel widerstandsfähiger als der Hase zu Buxtehude. ({6}) Mümmelmann kommt übrigens bei Hermann Löns aus meiner Heimat, der Lüneburger Heide, vor. Das sollten Sie einmal nachlesen. ({7}) Aber ich habe den Eindruck, die Oppositionsigel dieser Tage sitzen über die ganzen Ackerfurchen verteilt herum und halten bei jedem Schritt, den einer tut, ein Bündel von Programmpunkten hoch, wodurch sie den Eindruck erwecken wollen, sie seien die eigentlichen Renner, was aber leicht zu durchschauen ist, vor allem wenn man, wie gesagt wurde, einen Blick in die Länder tut. Meine Damen und Herren, diese späte Stunde läßt nur allgemeine Feststellungen zu, die aber sehr deutlich unterstreichen sollen, daß wir die Bedeutung der Fachhochschulen im Rahmen des Hochschulsystems in den ihnen zugemessenen Aspekten hoch einschätzen. Ich möchte zum Schluß nur einige Punkte herausgreifen. Fachhochschulprofessoren, meine Damen und Herren, stehen, häufig weniger beachtet als bei den wissenschaftlichen Hochschulen, unter besonders harten Arbeitsbedingungen. Wir wollen, daß die Fachhochschulen für besonders qualifizierte Lehrkräfte attraktiv bleiben. Wir wollen, daß sich der hohe Einsatz öffentlicher Mittel sinnvoll auswirkt und in der Qualität der Ausbildung niederschlägt. Zu der oft verlangten Verbesserung der Situation der Fachhochschulprofessoren gehört auch die Verbesserung des Stellenschlüssels. Das wurde schon gesagt. ({8}) Hierzu hat der Deutsche Bundestag, wie wir alle wissen, die Bundesregierung in einer Entschließung aufgefordert, Verhandlungen mit den Ländern aufzunehmen. Davon ist auch in der Antwort auf die Große Anfrage die Rede. Wir wollen die Bundesregierung in ihren weiteren Bemühungen unterstützen. ({9}) Ebenfalls in den Bereich der Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern fällt die Frage der Förderung von Forschung und Entwicklung an den Fachhochschulen. Auch hierzu fordert das bildungspolitische Programm meiner Partei, das bisherige System der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern durch ein Programm zur Förderung der Fachhochschulen zu ergänzen, das auf die spezifischen Bedürfnisse der angewandten Forschung und Entwicklung an den Fachhochschulen ausgerichtet ist. Ein letzter Satz, Frau Präsidentin. Daß dies alles unter dem Vorzeichen finanzpolitischer Realisierbarkeit steht, ist selbstverständlich. Die Möglichkeiten müssen aber weiter ernsthaft geprüft werden. Nicht nur das Licht hier am Rednerpult, sondern auch der schlimme Zustand meines Kehlkopfs im Augenblick macht es mir leider unmöglich, weiter fortzufahren. ({10}) Aber der Herr Minister Möllemann wird in der Lage sein, das, was ich vergessen habe, noch nachzutragen. ({11})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, Herr Möllemann.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Frau Präsidentin! Meine Kolleginnen und Kollegen! Wir diskutieren dieses Thema hier um 22.47 Uhr, zu einem Zeitpunkt jedenfalls, zu dem wir an den deutschen Fachhochschulen ({0}) vermutlich weder Studierende noch Lehrende antreffen werden, ({1}) das Parlament sich mit diesen aber noch beschäftigt. Ich finde es auch nicht sinnvoll, Herr Kollege Kuhlwein, Herr Kollege Wetzel, daß Sie als erste Bemerkung sagen, es sei ganz schlimm, daß wir erstens um diese Zeit diskutieren und zweitens unter so geringer Beteiligung. Schauen Sie sich jeweils in Ihrer eigenen Fraktion um. Was soll denn diese larmoyante Berner-kung jeweils am Anfang Ihrer Reden? ({2}) Gucken Sie sich einmal an, wie meine Fraktion hier beteiligt ist. ({3}) Da sieht man, wo die wahren Freunde der Fachhochschule sitzen. ({4}) - Darauf werden Sie sich in Zukunft noch mehr einstellen müssen. ({5}) Aber jetzt rede ich wieder für die Bundesregierung. Meine Kolleginnen und Kollegen, die Antwort der Bundesregierung auf die Große Anfrage ist vorn Hochschullehrerbund, also einer Organisation, die die Fachhochschulen von innen sehr gut kennt, wie auch von der Westdeutschen Rektorenkonferenz sehr positiv gewürdigt worden. Ich finde nicht, daß es die Aufgabe einer solchen Debatte ist, jetzt das alles zu wiederholen, was darin steht. Das ist Ihnen allen ja geläufig und noch mehr all den Kolleginnen und Kollegen, die nicht hier sind. Wahrscheinlich sind sie deswegen gar nicht erst gekommen. Ich möchte hier etwas zu den Fragen sagen, die aufgeworfen worden sind, vor allen Dingen zu den Anregungen im Papier der Opposition. Ich finde, es ist meine Aufgabe, dazu etwas zu sagen. Gehen Sie davon aus, daß unsere Position, die Position der Regierung, in der Antwort beschrieben ist. Sie gilt. Im ersten Punkt heißt es, die Fachhochschulen sollten mit einer bestimmten Quote in das angekündigte gemeinsame Sonderprogramm von Bund und Ländern einbezogen werden. Sie haben das, Herr Kollege Kuhlwein, mit einer Reihe von eher polemischen Bemerkungen garniert. Aber das ist nicht entscheidend und nicht wichtig. ({6}) - Für meine Verhältnisse schon; für Ihre vielleicht noch nicht. So unterscheiden wir uns halt. Sie haben dargestellt, wie Sie sich zu diesem Programm und seiner Entstehung offenbar verhalten wollen. Ich komme gerade von der Kultusministerkonferenz in Hamburg. Dort wird im Augenblick, und zwar im Kreis derjenigen Kultusminister, die von Ihrer Partei gestellt werden, beraten, ob sie sich an einem solchen Programm überhaupt beteiligen wollen. ({7}) Verstehen Sie: Es ist nicht ganz gut, daß Sie hier ein vermeintliches Faktum, das es noch nicht gibt, als ein aufzuteilendes darstellen, und Ihre eigenen Leute haben entweder das Wollen oder das Können nicht, sich zu beteiligen. ({8}) Das ist nicht sehr eindrucksvoll. ({9}) Wir wollen einmal sehen, ob sich das tatsächlich ändert. Ich will ein zweites klar sagen - dies ist ja auch unstreitig - : Heute haben - Sie haben das vorhin erwähnt - in Frankfurt Studierende gegen die Situation an den Hochschulen demonstriert. Sie haben nicht erwähnt, daß ungefähr die dreifache Anzahl von Studierenden in Düsseldorf demonstriert hat. ({10}) - Ich erwähne doch nur, daß Sie verschwiegen haben, daß das offenbar ein Problem der Situation an den Hochschulen ist, das quer durch die Länder angesprochen wird. ({11}) Die Problematik ist gegeben. Jetzt reden wir, der Bund, darüber, ob wir, obwohl wir es nicht müßten - das wissen Sie ganz genau -, unter Umständen bei der Bewältigung eines Problems helfen können, das vor allem dadurch entsteht, daß die Länder ihren Aufgaben - übrigens in Abstufungen - nicht gerecht werden, die hinreichende Grundausstattung an Personal und Sachmitteln für die Hochschulen bereitzustellen. Es gibt nicht wenige in allen Parteien dieses Hohen Hauses, die der Meinung sind, es sei gar nicht Aufgabe des Bundes, hier sozusagen einzuspringen. Aber das Stärkste ist wirklich, daß man, wenn der Bund es überlegt, von seiten der Parteien - speziell der Partei, bei der am krassesten ist, wo sie regiert - dem Bund Vorwürfe macht und sagt: Das geht alles nicht schnell genug. Das ist nicht in Ordnung. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Ja, gerne.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kastning.

Ernst Kastning (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001070, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Herr Minister, da Sie immer von den Ländern sprechen - Sie haben recht, was die Kompetenzen angeht - , möchte ich ganz schlicht und einfach fragen, ob Sie schon einmal etwas von Finanzstrukturproblemen in dieser Republik gehört haben.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Doch. Ich sehe, daß es Länder gibt, die eine verfehlte Wirtschafts- und Finanzpolitik betrieben haben und betreiben. ({0}) - Daß diese Länder eine solche Politik betreiben, mögen Sie so qualifizieren. Aber es ist ein Faktum. Unabhängig davon, daß es offenkundig unterschiedlich wirtschaftsstarke Länder gibt, kann ich nur feststellen, Herr Kollege Kastning, daß der Bund darüber berät, ob er, wiewohl er - das haben Sie gerade mit Ihrer Zwischenfrage auch angedeutet - nicht zuständig ist, im Blick auf die 1,5 Millionen betroffenen Studierenden helfend eingreifen soll. ({1}) Auf Ihre Frage, von der Sie, Herr Kollege Kuhlwein, ja selbst sagten, daß sie ebenso wie die anderen Fragen auch im Ausschuß noch zu beraten sein wird, will ich sagen: Natürlich sollen, wenn ein solches Programm zustande kommt, die Fachhochschulen einbezogen werden. Ich möchte zu einem weiteren Punkt in Ihrer Aufzählung von Petita kommen; nicht zu allen Punkten, weil einige eigentlich Selbstverständlichkeiten beschreiben. Sie sprechen davon, daß die Bundesregierung den Ländern ein Sonderprogramm zur Weiterentwicklung der Fachhochschulen im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe Hochschulbau vorschlagen solle. Sie kennen doch das Prozedere, Herr Kollege Kuhlwein: Die Länder melden zum Rahmenplan an. Kein Land ist gehindert, in diesem Bereich anzumelden. ({2}) - Das möchte ich sehen, wenn der Bund das geübte Prozedere dadurch außer Kraft setzt, daß er sagt: Wir gehen von dem vereinbarten Vorgehen ab; die Länder melden nicht mehr an, sondern wir teilen euch, den Ländern, mit, wo ihr anzumelden habt! ({3}) Mein lieber Herr Kuhlwein, ich finde es nicht in Ordnung: Da, wo Ihre eigenen Parteifreunde, Ihre Genossen, in der Regierung sind, attackieren sie den Bundesbildungsminister, wenn er seine vorhandenen Kompetenzen ausnutzt. Und Sie fordern mich auf, etwas zu machen, was noch nicht einmal in meine Kompetenz fällt. Ich werde das nicht machen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gestatten Sie noch eine Zwischenfrage des Abgeordneten Kuhlwein?

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Nein, im Moment zu dieser Frage nicht, weil dazu nichts weiter zu sagen ist. Herr Kuhlwein hat das auch verstanden. ({0}) Zu Punkt drei, Hochschulbauförderungsgesetz, Bagatellgrenze. Herr Kollege Kuhlwein, Punkt drei, das wissen Sie, steht schriftlich niedergelegt im Protokoll des Ausschusses für Bildung und Wissenschaft. Da habe ich das als mein Arbeitsvorhaben vorgelegt. Ich habe gesagt, daß wir es vorhaben: Absenkung der Bagatellgrenze. Da nehmen Sie eine Position auf, die wir ohnehin durchführen werden. Das ist auf dem Weg. ({1}) - Man muß doch nicht erst etwas beschließen, was ohnehin auf dem Wege ist, und sich an eine Forderung anhängen, die die Regierung bereits umsetzt. ({2}) Punkt vier: Die Bundesregierung wirkt über die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung auf die Landesregierung ein, die Regelstudienzeit auf einheitlich vier Jahre festzulegen. - Herr Kollege Kuhlwein, diesen Sachverhalt haben wir jetzt in Bayern, Baden-Württemberg und Niedersachsen. Ich frage mich, wie viele SPD-regierte Länder darunter sind. Warum macht das Ihre Partei dort, wo sie die Landesregierungen stellt, eigentlich nicht selbst? ({3}) - Aber Sie sitzen doch von der Partei hier. Ihre Partei macht das nicht. Die Parteien, die diese RegierungsBundesminister Möllemann koalition tragen, machen das. Ich finde es nur merkwürdig, wenn Sie hier über den Bundestag die Länderregierungen auffordern wollen. Tun Sie es doch da, wo Sie vielleicht auch noch etwas zu sagen haben. ({4}) - Hessen lasse ich mir gerne vorhalten. ({5}) - So, jetzt ist es wieder ruhig. Ich werde zum nächsten Punkt kommen. ({6}) Punkt sechs: Die Bundesregierung wirkt über die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung auf die Landesregierungen ein, Forschung und Entwicklung, wie im Hochschulrahmengesetz vorgesehen, auch als Aufgabe der Fachhochschulen sicherzustellen. - In der Tat, die Bundesregierung und die sie tragenden Partien haben in der Hochschulrahmengesetznovelle dieses festgelegt, und wir achten darauf, daß bei den Novellierungen der Landeshochschulgesetze dieses nachvollzogen wird, Das geschieht bereits, und zwar in einem festgelegten Verfahren. Wir überprüfen jede Novellierung eines Landeshochschulgesetzes und weisen die Länder, die sich nicht an die Rahmendaten der Hochschulgesetzgebung halten, darauf hin. Wollen wir jetzt mal durchgehen, welche Länder da Schwierigkeiten haben? Aber darauf haben Sie wahrscheinlich wieder keinen Einfluß, weil Sie ja nicht für die SPD in den Ländern hier sitzen, sondern nur für die des Bundes. Nächster Punkt: Die Bundesregierung wirkt auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein, die Fachhochschulen bei der Vergabe von Forschungsmitteln mit einem besonderen Programm und einem angemessenen Anteil für anwendungsnahe Forschung und Entwicklung zu berücksichtigen. - Ich habe hier vorgetragen, daß wir es für angemessen halten, daß sich der Bund an der Forschungsförderung der Fachhochschulen mit einem eigenen Programm beteiligt. Ich bin ja dankbar, daß Sie mich in allen Punkten unterstützen wollen; aber man sollte mit so einem Antrag nicht den Eindruck erwecken, Sie müßten da etwas Neues beantragen. Das sind lauter mittelalte Hüte, die hier erscheinen. Die Bundesregierung bemüht sich darum, heißt es im nächsten Punkt, die Fachhochschulen an den Forschungsförderungsvorhaben der Europäischen Gemeinschaft angemessen zu beteiligen. - Ja, das tun wir. Dann nächster Punkt: Die Bundesregierung stellt sicher, daß Fachhochschulstudenten und -studentinnen an Begabtenförderungswerken und Auslandsstipendien gleichberechtigt beteiligt werden. - Ich bin froh, hier mitteilen zu können, daß seit Beantwortung der Großen Anfrage die Begabtenförderungswerke - damals waren es drei, jetzt sind es doppelt so viele, nämlich sechs - die Fachhochschulstudenten mit einbeziehen. Wir werden auch auf die noch verbliebenen einwirken, daß dies geschieht. Das können wir ein bißchen über die Mittelvergabe. Ich habe mal nachgelesen, was in der Amtszeit eines mir bekannten Parlamentarischen Staatssekretärs im Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, der hier im Saal sitzt, in dieser Frage geschehen ist. Da kann sich diese Bundesregierung ganz gut sehen lassen. ({7}) Dann: Die Bundesregierung nimmt Gespräche mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden auf mit dem Ziel, genug Praktikumsplätze zur Verfügung zu stellen. - Ja, wir reden mit beiden, mit den Arbeitgeberorganisationen und den Arbeitnehmerorganisationen. Ich bin dankbar, Herr Kuhlwein, daß Sie uns auch auffordern, mit den Arbeitnehmerorganisationen zu reden, damit das geschieht. Ich glaube auch, daß wir die richtige Adresse dort für dieses Gespräch sind. Ich möchte zum Schluß gerne zu drei weiteren Punkten, die hier angesprochen worden sind, etwas sagen: C 2, C 3. Darüber wird morgen in Hamburg zu reden sein. Die Kultusministerkonferenz wird morgen in der Plenarberatung darüber sprechen. Herr Kollege Kuhlwein, Sie wissen, wo es hängt? ({8}) - Ich meine auch, bei welchen Ländern. ({9}) - Nein, Sie werden morgen in Hamburg mitbekommen, an welchen Ländern es hängt. ({10}) - Nein ich habe heute an einer Besprechung der Länder, die koalitionsregiert sind - ich meine, mit dieser richtigen Koalition regiert sind - , teilgenommen. ({11}) Dort ist die Absicht erklärt worden, zu einer Veränderung der Schlüssel zu kommen. Der Bundesinnenminister, der natürlich nicht handeln will und kann, solange die Länder - sie sind ja zuständig - nicht definiert haben, wohin sie tendieren, wird mit Sicherheit mit hohem Interesse die Willensbildung zur Kenntnis nehmen. Aber er wird eines nicht tun können: Wenn nur die unions- und FDP-regierten Länder sich für eine Schlüsselveränderung aussprechen und die SPD-regierten Länder sagen, wir können das finanziell nicht, ({12}) dann kann er es nicht machen. Ja, entschuldigen Sie einmal: Sie können doch nicht in einen solchen Antrag schreiben, wir sollen das machen, und dort, wo Sie regieren, machen Sie es selber nicht. Das ist doch nicht überzeugend. ({13})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Bundesminister, einen Moment bitte! Unsere beschlossene Redezeit ist jetzt zu Ende. Wenn Sie weiterreden, eröffnen Sie die Diskussion erneut.

Jürgen W. Möllemann (Minister:in)

Politiker ID: 11001520

Das will ich nicht, Frau Präsidentin. Deswegen sage ich in meinem letzten Satz, daß wir die Fachhochschulstudenten in das Erasmus-Programm einbeziehen, und als allerletztes, daß ich verblüfft war, daß ausgerechnet die VDS hier gelobt worden ist; es gab keine Organisation, die die Studierenden an den Fachhochschulen so sehr wider besseres Wissen beim Thema Europa verunsichert hat wie die VDS; Sie hätten diese Gruppe lieber totgeschwiegen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zu dem Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/3588. Es wird vorgeschlagen, diesen Entschließungsantrag an den Ausschuß für Bildung und Wissenschaft zur federführenden Beratung und an den Ausschuß für Forschung und Technologie und den Ausschuß für Wirtschaft zur Mitberatung zu überweisen. - Das Haus ist damit einverstanden. Es ist so beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 und den Zusatztagesordnungspunkt 10 auf: 18. Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über die Volkszählung 1987 - Drucksache 11/1762 Überweisungsvorschlag des Ältestenrates: Innenausschuß ({0}) Rechtsausschuß Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung ZP10 Beratung des Antrags der Fraktion der SPD Übernahme der Kosten der Volkszählung am 25. Mai 1987 durch den Bund - Drucksache 11/3584 Überweisungsvorschlag: Innenausschuß ({1}) Haushaltsausschuß Mir liegt eine Wortmeldung zur Geschäftsordnung vor. Das Wort hat der Abgeordnete Kleinert. ({2})

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Nicht so schnell, Herr Kollege Gerster! - Herr Präsident! Nein: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! ({0}) - Ungewöhnlich, ungewöhnlich: Zwölf Leute! Ungewöhnlich. Zwölf Leute!

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Uhr läuft schon. ({0})

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja; jetzt fange ich an. Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich beantrage gemäß § 37, das Plenum möge beschließen, daß der nachfolgende Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN hier heute auf die Tagesordnung genommen wird. Damit Sie wissen, worum es sich handelt, muß ich diesen Antrag vorlesen: Entschließungsantrag der Fraktion DIE GRÜNEN zum Bericht der Bundesregierung über die Durchführung der Volkszählung 1987 - Drucksache 11/1762 ({0}) Der Deutsche Bundestag stellt fest: 1. Die Volkszählung 1987 ist aufgrund erheblicher Widerstände in der Bevölkerung, gravierender Mängel bei der Durchführung, hoher Fehlerquoten und zahlloser Verstöße gegen Datenschutzbestimmungen statistisch gescheitert. ({1}) Die als stichtagsbezogene Totalerhebung konzipierte Erfassung konnte in nahezu keinem Zählbezirk in der Bundesrepublik in der vorgesehenen Frist durchgeführt werden. Daten von August 1987 wurden mit solchen von September 1988 kombiniert, regionale Unterschiede mit Boykott- und Ausfallraten in den Großstädten ... haben zu nicht korrigierbaren Verzerrungen geführt. ({2}) Statistiker beziffern die Ausfallquote aus Boykott, Alterungsfehlern und Falschangaben mit ca. 25 %. 2. Die Volkszählung hat trotz umfangreicher Werbemaßnahmen und Unterstützung staatlicher Funktionsträger keine Akzeptanz aufgrund von Einsicht bei der Bevölkerung erreicht. Stigmatisierung und Diffamierung der Volkszählungsgegnerinnen sowie der Versuch, sie durch Kriminalisierung politisch auszugrenzen, haben die Hilflosigkeit obrigkeitsstaatlich handelnder Verwaltungen gegenüber Bürgerinnenprotest deutlich gemacht. Die mit Hunderttausenden von Zwangsgeld-, Bußgeld- und Strafverfahren bewirkte Einschränkung von Grundrechten erzeugte Mißtrauen und berechtigte Zweifel der Bürger Innen gegenüber den Absichten der durchgeführten Behörden. Die Volkszählung ist dadurch politisch gescheitert. 3. Die Kosten der überflüssigen Totalerhebung haben die bereits vor Abschluß des Gesetzgebungsverfahrens 1986 im Deutschen Bundestag geäußerten Befürchtungen einer überproportionalen Ausgabensteigerung bestätigt. Die Erhöhung des Finanzbedarfs beim Anteil Kleinert ({3}) der Kommunen . . ., die dortige Steigerung des Kostensatzes ... und der zu erwartende Gesamtkostenaufwand ... stehen in keinem zu rechtfertigenden Verhältnis zu den unbrauchbaren Ergebnissen. 4. Das Engagement derjenigen Bürgerinnen, die sich kritisch mit der Volkszählung auseinandergesetzt und über die Gefahren der automatischen Datenakkumulation und Datenverarbeitung für die Persönlichkeitsrechte ... aufgeklärt haben, ist zu begrüßen. Sie haben einen wichtigen Beitrag geleistet, das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gesellschaftlich zu verankern. Zu einem solchen Prozeß, in dem ein erst vor wenigen Jahren durch das Bundesverfassungsgericht beschriebenes Grundrecht von der Gesellschaft entwickelt und ausgebaut wird, können auch Mittel des „zivilen Ungehorsams" wie der Volkszählungsboykott gehören. In einem solchen Prozeß können auch bestimmte ordnungswidrige Aktionen legitim sein, wenn sie zum Ziel haben, einem Grundrecht der Bürgerinnen zum Durchbruch zu verhelfen. ({4}) 5. Der Deutsche Bundestag begrüßt, daß zukünftig auf Volkszählungen verzichtet wird, da sie keine Erkenntnisse für die politische Entscheidungsfindung ergeben, die nicht auf anderem Wege gewonnen werden könnten. Der deutsche Bundestag fordert die Bundes- und Landesregierungen auf, Verbesserungen der Mitbestimmungsrechte für Bürgerinnen auf allen Ebenen zu verwirklichen, die Transparenz staatlicher Planungen durch Informationsrechte der Bürgerinnen herzustellen und anstelle von Zwangserhebungen wie Volkszählung und Mikrozensus in wenigen, besonders zu begründenden Fällen auf freiwillige Stichprobenerhebungen zurückzugreifen. Meine Damen und Herren, das ist der Text des Antrags. Den ganzen Prozeß - dieses Vorlesen - hätten wir Ihnen hier sehr gerne erspart. Das Problem ist nicht der Inhalt des Antrages, sondern die Frage, ob wir überhaupt Gelegenheit haben, diese Auffassung der Fraktion DIE GRÜNEN zu dem in Rede stehenden Komplex hier mittels einer Bundestagsdrucksache überhaupt vorzulegen. Da meine ich schon, daß es ein Skandal ist, wenn auf diese Weise wieder versucht wird, hier eine Art politischer Zensur in der Form auszuüben. Deswegen bin ich leider gezwungen, Ihnen das hier vorzutragen. ({5}) Ich beantrage zunächst, daß das Plenum über die Zulassung dieses Antrages jetzt abstimmen möge. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Sie haben sich zu Wort gemeldet, Herr Abgeordneter Bohl.

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Der Kollege Kleinert hat zu Beginn beantragt, daß sein Antrag, den er dann anschließend vorgelesen hat, auf die Tagesordnung der heutigen Sitzung zu diesem jetzt aufgerufenen Tagesordnungspunkt gesetzt wird. ({0}) Wir haben, Frau Präsidentin, nach unserer Geschäftsordnung sogenannte selbständige und sogenannte unselbständige Vorlagen. Entschließungsanträge sind unselbständige Vorlagen. Als Verhandlungsgegenstand können auf die Tagesordnung nur selbständige Vorlagen gesetzt werden. Hier handelt es sich um eine unselbständige Vorlage. Eine unselbständige Vorlage kann nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. Deshalb ist der geschäftsordnungsmäßige Antrag von Herrn Kleinert nach unserer Geschäftsordnung unzulässig. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Einen Augenblick mal! Manchmal ist das ja nicht ganz so einfach mit diesen Bezeichnungen „unselbständige" und „selbständige" Vorlagen, Hier ist jetzt zu entscheiden. Sie, Herr Bohl, sagen, darüber ist überhaupt nicht zu entscheiden, weil es nicht der Geschäftsordnung entspricht. ({0}) Das müssen wir einmal klären. Es ist ja wirklich schwierig. Wir haben neulich ein ähnliches Problem in einer anderen Form gehabt. Da ist ein Antrag wegen einer Bezeichnung für unzulässig erklärt worden. Heute ist auch im Ältestenrat diskutiert worden, ob in dieser Form überhaupt ein Antrag gestellt werden kann. Sie, Herr Bohl, sagen: Dieser Entschließungsantrag kann heute nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. Da bin ich etwas im Zweifel, ob das so richtig ist. ({1}) - Das dürfen Sie sagen, weil das wirklich ein Problem ist, das man einmal klären muß.

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Herr Kollege Bohl, wir müssen uns ja nun das Leben nicht noch schwerer machen, als es jetzt sowieso schon geworden ist. Ich habe hier beantragt, daß nach § 77 der Geschäftsordnung das Plenum des Hauses darüber entscheiden möge, ob der vorgelegte Entschließungsantrag zulässig ist oder nicht. Der § 77 der Geschäftsordnung enthält bestimmte Regularien für die Behandlung von Vorlagen. Im Kommentar von Ritzel/Bücker, nach dem wir hier üblicherweise verfahren, heißt es dazu unter Buchstabe b - ich lese Ihnen das gerne vor - : Gemäß Abs. 1 ist der Präsident verpflichtet, alle ordnungsgemäß eingereichten Vorlagen drucken und verteilen zu lassen. Enthält die Vorlage Formfehler ... kann der Präsident die Druckle8236 Kleinert ({0}) gung bis zur Beseitigung der Mängel verweigern. Dasselbe gilt, wenn Vorlagen Formulierungen enthalten, die das Ansehen und die Würde des Parlaments zu schädigen geeignet sind. Unter Buchstabe c heißt es dann: Hat der Präsident bezüglich der Drucklegung einer Vorlage Bedenken, darf er nicht einfach, auch nicht im Einvernehmen mit dem Ältestenrat, der für diese Frage nicht zuständig wäre ... von der Drucklegung absehen, sondern muß gegebenenfalls nach Prüfung durch den Geschäftsordnungsausschuß dem Plenum die Angelegenheiten zur Entscheidung vorlegen. Ich habe beantragt, nach § 77 die Entscheidung des Plenums herbeizuführen.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Dies ist eine Sache, die ich hier - entschuldigen Sie - nicht klären kann. ({0}) - Ich kann das nicht klären; es tut mir furchtbar leid. Diese Frage scheint mir wirklich generell klärungsbedürftig zu sein, weil wir verschiedene Male diese Probleme hatten. Ich kann nicht anders handeln, als den Geschäftsordnungsausschuß mit der Auslegung dieser Frage zu beschäftigen, und kann leider heute darüber nicht abstimmen lassen. ({1}) - Es tut mir leid; ich bin nicht in der Lage, eine andere Entscheidung zu treffen. ({2}) - Meine Damen und Herren, wir haben jetzt 10 Minuten nach 11 Uhr. Ich sitze hier schon seit 8 Uhr. Es reicht mir auch. ({3}) Ich kann jetzt keine andere Entscheidung treffen, meine Damen und Herren. Was wünschen Sie? Noch einmal zu einem anderen Punkt? ({4}) - Sie möchten sich zur Geschäftsordnung melden, um einen neuen Antrag zu stellen? - Dem muß ich entsprechen.

Dr. Hubert Kleinert (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001122, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich beantrage unter diesen Voraussetzungen die Absetzung dieses Punktes von der heutigen Tagesordnung, und zwar so lange, wie diese Fragen noch der Klärung bedürfen. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Herr Kollege Bohl, möchten Sie zur Geschäftsordnung sprechen?

Friedrich Bohl (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000230, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Wir haben uns den ganzen Tag auf diese wichtige Debatte vorbereitet. ({0}) Unser Redner ist entsprechend eingestimmt. Ich glaube, wir sollten uns jetzt keinen Tort antun und die Tagesordnung noch abwickeln. Ich widerspreche also dem Antrag des Kollegen Kleinert.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Gibt es dazu noch Wortmeldungen? - Das ist nicht der Fall. Dann lasse ich darüber abstimmen. Wer stimmt dem Antrag zu, diesen Tagesordnungspunkt von der Tagesordnung abzusetzen? - Wer ist dagegen? - Das ist die Mehrheit. Wir fahren in den Beratungen fort. Interfraktionell sind eine gemeinsame Beratung dieser Tagesordnungspunkte und ein Beitrag bis zu fünf Minuten für jede Fraktion vereinbart worden. - Es erhebt sich kein Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Abgeordnete Gerster.

Dr. h. c. Johannes Gerster (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11000671, Fraktion: Christlich Demokratische Union Deutschlands/Christlich-Soziale Union in Bayern (CDU/CSU)

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich bin dem Kollegen Bohl außerordnetlich dankbar, daß er hier noch einmal unterstrichen hat, daß das der wichtigste Tagesordnungspunkt dieses Tages und wahrscheinlich auch dieser Woche ist. Dennoch möchte ich mich auf fünf Bemerkungen beschränken. Erstens. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion stellt mit Zufriedenheit fest: Das gemeinsame Ziel der Bundesregierung und der überwältigenden Mehrheit in diesem Parlament, die Volkszählung 1987 zu einem Erfolg werden zu lassen, ist erreicht worden. Die Ergebnisse liegen pünktlich vor, 18 Monate nach dem Stichtag, wie beabsichtigt. Das entspricht exakt den Planungen und auch den damaligen Ankündigungen der Bundesregierung. Zweitens. Die Ergebnisse der Volkszählung müssen jetzt genau analysiert und ausgewertet werden. Natürlich stellen die erhobenen Daten für Bund, Länder und Gemeinden unverzichtbare Grundlagen für in die Zukuunft weisende Planungsentscheidungen dar. ({0}) Daß dies so ist, haben die GRÜNEN allein durch konkludentes Verhalten im Innenausschuß bewiesen, als sie gerade mit Bezug auf die Volkszählung, Herr Minister, schon konkrete Fragen für Ihre Arbeit gestellt haben. Ich bin der festen Überzeugung, daß mit diesen neuen Daten unnötige Geldausgaben zu Lasten der Allgemeinheit vermieden werden können, wenn man nämlich die politischen Planungen von Bund, Ländern und Gemeinden auf neue Fakten einstellt, damit Fehlplanungen verhindert, Überkapazitäten Gerster ({1}) abgebaut werden, die es mit Sicherheit in Zukunft geben wird. Letzten Endes können natürlich auch jedem einzelnen Bürger die auf Grund verläßlicher Planungsdaten verbesserten Entscheidungen nur zugute kommen. Das war also eine gute Sache. ({2}) Dritte Bemerkung. Es haben, wie ja bekannt ist, viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter diesen Erfolg mit ihrem Engagement ermöglicht. Ich meine, wir haben allen Grund, allen diesen Mitarbeitern bis hin in das Ministerium für ihre Leistungen herzlich Dank zu sagen. ({3}) Viertens. Auf verläßliche Rahmendaten kann auch in Zukunft nicht verzichtet werden. Ich glaube nicht, daß wir mit dem Mikrozensus auskommen. Herr Minister, ich würde Ihnen dringend empfehlen, daß die Regierung durch eine Kommission überprüfen läßt, was gegebenenfalls bei Volkszählungen zu verändern und zu verbessern ist, um auch in Zukunft entsprechende Erhebungen unter Beachtung des Persönlichkeitsrechtes der Bürger möglich zu machen. Ich glaube, wir brauchen auch in Zukunft diese Erhebungen, die auch keine neue Erfindung, keine Teufelei des 20. Jahrhunderts sind, sondern praktisch seit 2 000 Jahren dort, wo kultiviertes Leben stattfindet, durchgeführt werden und auch in fast allen Staaten der Welt als notwendig angesehen werden. ({4}) - Ich habe nicht behauptet, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Staat der GRÜNEN ist. Sonst hätte ich ihn auch nicht „kultiviert" genannt, Frau Kollegin. ({5}) Fünfte Bemerkung. Die GRÜNEN - auch die GRÜNEN im Deutschen Bundestag - stehen einsam und verlassen im politischen Abseits. Ich frage mich immer wieder, ob ich mich über die Starrheit und Unbeweglichkeit wundern soll. Herr Kleinert, was sich hier bei dem Antrag wieder gezeigt hat, ist Uneinsichtigkeit oder nachpubertäres Verhalten. ({6}) Wie ein trotziges Kind donnern Sie hier auf und wollen nicht zugeben, daß Sie verloren, eine Niederlage erlitten haben. ({7}) Sie haben gewaltige Anstrengungen propagandistischer Art unternommen, um diese Volkszählung unmöglich zu machen. Sie haben Bürger in Angst und Schrecken gejagt. Sie wollten eine Art Plebiszit gegen den Staat veranstalten, und das ist schiefgegangen. Nicht einmal Ihre eigenen Wähler sind Ihnen gefolgt, und ich wünsche Ihnen bei allen nächsten Wahlen so viel Anklang, wie Sie in der Bevölkerung bei Ihrem Protest mit dieser Volkszählung hatten. Das wäre gut für das Land, für die Bundesrepublik Deutschland und alle Bürger. Da mir das Ganze nicht so ernst ist, möchte ich meine Einlassung mit einem kleinen Spruch, frei nach Wilhelm Busch, beenden: Sokrates, der alte Greis, sagte oft in tiefen Sorgen: Ach, wieviel ist doch verborgen, was man immer noch nicht weiß. Und so ist es. - Doch indessen darf man eines nicht vergessen: Eines weiß man von den GRÜNEN: Sie sind immer unzufrieden! ({8})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wartenberg.

Gerd Wartenberg (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002430, Fraktion: Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese Fünf-Minuten-Runde über die Volkszählung zur späten Stunde ist ein gelungenes Beispiel für die liebgewonnenen Absurditäten unseres Parlamentsrituals. Ich kann mich deswegen auf drei Punkte beschränken, und ich will das auch nicht mit dem gebotenen Imponiergehabe hier machen. Erstens. Die ersten Ergebnisse der Volkszählung sind in dieser Woche vorgestellt worden. Wir wissen, daß wir in der Bundesrepublik Deutschland mehr Frauen als Männer haben. ({0}) Die Bewertung der wichtigeren Punkte werden wir in der nächsten Zeit in den Ausschüssen des Bundestages vornehmen. Die Beteiligung an der Volkszählung war in der Tat erstaulich groß. Selbst notorische Optimisten haben eine derart geringe Verweigerungsquote nicht erwartet. Doch eine neue Diskussion ist angesagt. Die Gegner der Volkszählung befinden die Ergebnisse der Volkszählung für miserabel, weil sie unterstellen, daß eine signifikante Anzahl von Verweigerern oder von Menschen die Volkszählungsbögen falsch ausgefüllt haben. Die Befürworter der Volkszählung werden die Ergebnisse für gut befinden. Da beide Aussagen letzten Endes nicht exakt zu beweisen sind, haben beide Seiten gute Chancen, die Öffentlichkeit andauernd und ausgiebig in den nächsten Monaten mit dem Streit über ihre Annahmen zu belästigen. Die deutsche Seele darf sich also weiter an der Volkszählung abarbeiten; ein Ende der Peinlichkeiten ist nicht in Sicht. Zweitens. Wir Sozialdemokraten werden die skandalöse Behandlung von Volkszählungsgegnern in einigen Bundesländern weiterhin thematisieren. Die Gleichsetzung der Beschädigung von Volkszählungsbögen mit terroristischen Aktivitäten ist nicht nur Ausdruck konservativer Paranoia, sondern ein Verstoß gegen Rechtsnormen. ({1}) Wir werden darauf bestehen, daß sämtliche Speicherungen von Daten von Volkszählungsgegnern in Terrorismus- und Staatsschutzdateien gelöscht werden. Drittens. Die Kosten der Volkszählung haben sich mehr als verdoppelt. Wir Sozialdemokraten fordern zum wiederholten Male, daß die durch die Volkszählung entstandenen Kosten den Städten und Gemein8238 Wartenberg ({2}) den vollständig erstattet werden. Dazu haben wir einen Entschließungsantrag vorgelegt, der dem Innenausschuß überwiesen werden soll. Ansonsten werden wir die seriösen Ergebnisse der Volkszählung in den nächsten Wochen in den Ausschüssen des Deutschen Bundestages ernsthaft bewerten. Ich glaube, es gibt einige Bereiche, die auch zu politischem Handlungsbedarf führen. Daß das alles nicht so unbedeutend ist, zeigt sich ja schon daran, daß sich die Finanzzuweisungen für Städte und Gemeinden oder auch für einige Bundesländer jetzt drastisch ändern werden. Das heißt: Daß es gar keine Auswirkungen geben wird, wird wohl keiner behaupten können. Also, die Argumentation, diese Volkszählung habe überhaupt keine Auswirkungen, ist wohl schon in den ersten Tagen widerlegt worden. Die Frage, wie wir mit diesen Daten umgehen werden, hängt allerdings davon ab, wieweit wir uns selbst eine Diskussion zumuten, die sich nicht an den tatsächlichen Ergebnissen, sondern an pausenlosen gegenseitigen Verdächtigungen, Annahmen weiter hochrankt. Ich schätze, daß letztere wird der Fall sein. Die Diskussion in den nächsten Wochen und Monaten wird nicht gerade ulkig sein. Vielen Dank. ({3})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat der Abgeordnete Lüder. ({0})

Wolfgang Lüder (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11001390, Fraktion: Freie Demokratische Partei (FDP)

Frau Präsidentin! Persönlich empfinde ich es als schade, daß wir die Debatte um den Antrag der GRÜNEN nicht länger hingezogen haben, weil wir dann vielleicht erreicht hätten, daß unter Ihrer Präsidentschaft ein Volkszählungsdatum für falsch erklärt worden wäre ({0}) und der Kollege Richter das vierte Lebensjahrzent in diesem Hause begonnen hätte. ({1}) So müssen wir vorher abbrechen, und deswegen will ich ganz schnell zum Punkt, zur Sache kommen. Die Debatte geht um zwei Vorlagen, von denen die eine durch Zeitablauf überholt und die andere durch Übereilung noch unausgereift ist. Die Unterrichtung der Bundesregierung über den Ablauf der Volkszählung - das ist ja eigentlich der heutige Anlaß der Debatte - können wir zur Kenntnis nehmen. Diese Unterrichtung zeigt, was auch das Ergebnis jetzt bestätigt, daß der Ablauf der Volkszählung ein hohes Maß an Normalität erreichte. Und die neue Vorlage, mit der die SPD die Mehrkosten der Volkszählung dem Bund auferlegen will, werden wir in den Ausschüssen in Ruhe prüfen. Ich halte nichts davon, eilige Resolutionen wie hier die des Deutschen Städtetages, kaum daß das Kopierpapier dafür erkaltet ist, schon für der Weisheit letzten Schluß zu nehmen. ({2}) Wir werden sorgfältig prüfen, woher die Mehrkosten eigentlich stammen und wer sie zu vertreten hat, bevor wir hier zur Sache Stellung nehmen. Wichtiger für heute ist das Ergebnis der Volkszählung, das uns - dank gründlicher Arbeit des Statistischen Bundesamtes und der statistischen Landesämter, für die wir, glaube ich, Dank sagen sollten - jetzt vorliegt. Dieses Ergebnis wird uns noch vielfach beschäftigen. Schon heute meine ich, daß wir drei Konsequenzen ziehen müssen. Erstens. Die hohe Akzeptanz der Volkszählung bei unseren Bürgern zeigt, um es - Herr Minister, ich darf Sie einmal zitieren - in den Worten Dr. Zimmermanns zu sagen, „daß unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger viel vernünftiger sind, als manche wahrhaben wollten". ({3}) Die Konsequenz daraus: Wir können mit dem Bürger rechnen, wenn wir ihn von der Notwendigkeit dessen überzeugen, was wir von ihm wollen. Das verlangt Überzeugung und Bereitschaft zum freiwilligen Engagement. Drohgebärden oder gar Einstufung von Volkszählungsgegnern in der Nähe der Staatsfeinde ist unangemessen und falsch. Deswegen, Herr Minister, muß ich Sie und auch die Landesinnenminiser auffordern, die Namen der Volkszählungsgegner, die in APIS, der Polizeidatei für die Feinde der inneren Sicherheit, stehen, aus dieser Datei zu entfernen. ({4}) Zweitens. Die Volkszählung hat manches Überraschende gebracht: Die Irrtümer über die Bevölkerungszahlen in manchen Bundesländern sind erheblich; die finanziellen Konsequenzen wiegen schwer. Noch schwerer aber wiegt, daß der Wohnungsbestand bisher offenbar falsch berechnet wurde. ({5}) Ich halte es für eine Verpflichtung des sozialen Bundesstaates, der wir nach unserem Grundgesetz sind, daß hier mit Phantasie und Mut zügig nachgebessert wird. Dabei ist allerdings nicht die Wiederauflage alter Programmschemata gefordert. Nachdenken über neue und schnelle Wege, insbesondere über solche, die sich in unser Wirtschaftssystem einfügen, verspricht schnelleren und wirksameren Erfolg. Drittens. Manches Ergebnis überrascht nur vordergründig. Herr Dr. Zimmermann, Sie meinten zwar, Sie seien von der Höhe des Ausländeranteils überrascht. Wir haben in der Ausländerdebatte vorhin darüber diskutiert, daß wir bei uns 600 000 Ausländer weniger wohnen haben, als die Behörden das bisher angenommen haben. Ich meine - das in Ergänzung zu der Debatte vorhin - , daß wir bei der Bewertung auch sehen sollten, daß seit 1970 1 350 000 Kinder ausländischer Mitbürger bei uns geboren wurden. Der größte Teil der ZuLüder nahme der Ausländerzahl erklärt sich schon allein aus dieser Zahl. Da wiederhole ich den Wunsch, die Bitte, ja die Forderung: Wir müssen hier nach Wegen suchen, die Einbürgerung für alle die zu erleichtern, die bei uns bleiben wollen. Dabei nehme ich auch vermehrt Doppelstaatsangehörigkeiten in Kauf, weil ich bikulturelles Leben als Vorteil und nicht als Nachteil sehe. Noch eine letzte Bemerkung, Frau Präsidentin: Die Ergebnisse der Volkszählung bestätigen ihre Notwendigkeit. Offenbar sind die Methoden der Fortschreibung beim Mikrozensus noch nicht so weit entwickelt, daß auf die Volkszählung ganz verzichtet werden kann. Deshalb sollten wir die Methoden des Mikrozensus weiterentwickeln, um in Zukunft möglichst wenig Volkszählungen zu brauchen. ({6})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das Wort hat die Frau Abgeordnete Schmidt-Bott.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

: Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Als vor zwei Tagen Innenminister Zimmermann und Bundesstatistikchef Hölder das offizielle Ergebnis der Volkszählung 1987 vorstellten, war eigentlich niemand überrascht: nicht die anwesenden Journalistinnen und Journalisten über die Schwärmerei ob der angeblich großen Beteiligung der Bevölkerung bei ihrer eigenen Aushorchung; nicht die Bürgerinnen und Bürger, denn daß in der Bundesrepublik mindestens 1 Million Wohnungen fehlen, wußten sie schon lange. ({0}) Überraschen konnte auch nicht, daß der Innenminister nach wie vor und wider besseren Wissens an der Aussage festhält, so gut wie niemand hätte boykottiert oder den Bogen falsch ausgefüllt. Überrascht hat auch nicht, daß sich die Freude über die Ergebnisse der Volkszählung in Grenzen hält. Denn daß die Bedürftigen jetzt die fehlenden Wohnungen zu erschwinglichen Mieten bekommen, glaubt niemand. Das will der Wohnungsbauminister Oscar Schneider auch gar nicht, wie er gerade heute erklärt hat. Richtig freuen konnten sich nur Herr Zimmermann und seine deutschnationalen Freunde, konnte der Minister doch nun seine ausländerfeindliche Ideologie, daß es viel zuwenig Deutsche und viel zu viele Ausländer, nämlich 4,1 Millionen, bei uns gebe, statistisch untermauern. ({1})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Einen Augenblick: Was verstehen Sie unter „deutschnationale Freunde"? Wissen Sie, daß das ein sehr besetzter Begriff ist?

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ja.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Das gibt es nämlich zur Zeit nicht. ({0})

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Darüber würde ich gerne einmal streiten. Ich fürchte aber, daß es dazu heute etwas spät ist.

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nein, ich finde das nicht in Ordnung. Es gibt bestimmte Begriffe, die sollte man in diesem Hause nicht verwenden. ({0}) - Ja, Sie wissen doch nun sehr gut, was dieser Begriff bedeutet. ({1}) Fahren Sie bitte fort. Die Herren von den GRÜNEN sind empört über solch eine kleine Einwendung von mir.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Das waren dem Innenminister die 750 Millionen DM für die Volkszählung locker wert. Was allerdings verwundert, ist die Tatsache, daß Ende 1987 vom Statistischen Bundesamt mit Hilfe des Ausländerzentralregisters bereits 4,6 Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger gezählt wurden. ({0}) Nachzulesen ist das im Statistischen Jahrbuch 1988. Wo ist diese halbe Million Menschen geblieben? Hat Zimmermann sie bereits innerhalb der fünf Monate erfolgreich vertrieben, ({1}) oder haben sie sich etwa nicht zählen lassen? Das liefe allerdings auf eine vorbildliche Boykottrate von ca. 11 % hinaus. ({2}) Nach Abschluß der Volkszählung sind die Kassen der Städte und Kommunen zwar leer, dafür aber die Datenspeicher der Polizei voll. Sie wurden mit den Namen und Adressen der Volkszählungsgegnerinnen und -gegner gefüttert; denn schließlich braucht Vater Staat ja eine Übersicht über das kritische Potential im Land. So kann der Verfassungsschutz künftig auf statistisch sicherer Basis in Redaktionsstuben mißliebiger Zeitungen und auf Parteiversammlungen „rumschnüffeln" . Allerdings kommt die Mär von der angeblich so gut gelungenen Volkszählung und das Loblied auf die gehorsamen Bürgerinnen und Bürger nicht ohne Widersprüche aus. Wenn es stimmt, wie behauptet wird, daß alles so gut geklappt und niemand geschummelt habe, warum soll dann der wissenschaftliche Beirat für Mikrozensus und Volkszählung alternative Erhebungsmodelle erforschen, Herr Gerster, und die Frei8240 willigkeit als künftige Grundlage der Volkszählung prüfen? ({3}) Liegt es vielleicht daran, daß rund ein Fünftel der Bevölkerung gegen ihren Willen zum Mitmachen gezwungen werden mußte, mit Zwangs- und Bußgeldern, Möbel- und Autopfändungen bei diesem Akt des In-die-Knie-Zwingens? Wie soll es ein weiteres Mal klappen, wenn u. a. auch der Präsident des Deutschen Städtetages, Herbert Schmalstieg, in den „Stuttgarter Nachrichten" ankündigt: Die Städte und Gemeinden werden eine Volkszählung in dieser Form mit Sicherheit nicht mehr unterstützen. ({4}) So zuverlässig können die Ergebnisse auch nicht sein, wenn in Bayern bereits neue Bestandsaufnahmen des Wohnungs- und Bauministeriums mit nahezu identischen Fragen wie 1987 bei der Volkszählung vorgenommen werden. Viel Zutrauen zu den Zimmermannschen Ergebnissen scheint sein bayerischer Kollege nicht zu haben. Und auch die ca. 61 000 Menschen, die das zweifelhafte Glück haben, zu den Auserwählten des Mikrozensus zu gehören, werden sich über die unerschöpfliche Neugier des Staates wundern. Der will nämlich in Zukunft alles über Nacht- und Schichtarbeit erfahren, um mit den Ergebnissen der Industrie bei der effektiveren Auslastung ihrer Maschinenparks zu helfen. Aber die Fürsorge des Staates geht noch weiter: Zukünftig will er auch wissen, was seine Bürgerinnen und Bürger über jodiertes Salz wissen, und wenn sie nichts wissen, warum sie nichts wissen, und ob sie es benutzen, und wenn nicht, warum nicht. Auch Fragen nach den Rauchgewohnheiten werden da zur Pflicht: gegenwärtig Raucher, früher geraucht, wenn ja, wieviel und was?

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Der letzte Satz: Der Zweck solcher Befragungen ist ebenso eindeutig wie gemein:.. .

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Redezeit ist zu Ende. Wir haben halb zwölf.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Den Schilddrüsen-und Lungenkranken soll die Hauptschuld .. .

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Redezeit ist zu Ende.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

Ich bin beim letzten Satz, Frau Präsidentin!

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Nun hören Sie doch bitte auf. ({0})

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

:... an ihrer Krankheit zugeschoben werden,...

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Die Redezeit ist zu Ende, Frau Kollegin. ({0}) Sie sollen sich bitte jetzt daran halten. Ich bin hier sehr großzügig.

Regula Schmidt-Bott (Mitglied des Bundestages)

Politiker ID: 11002024, Fraktion: Bündnis 90/Die Grünen (Grüne)

... um sie anschließend über höhere Selbstbeteiligung zur Kasse zu bitten. ({0})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Es ist auch eine gewisse Höflichkeit des Redners manchmal notwendig. Verstehen Sie? ({0}) - Ich habe nicht mitten im Satz unterbrochen, sondern ich habe den Satz abgewartet. Sie glauben doch nicht, daß Sie in diesem Haus besondere Rechte haben? ({1}) Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär Waffenschmidt.

Dr. Horst Waffenschmidt (Staatssekretär:in)

Politiker ID: 11002403

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Kollegin von den GRÜNEN, wenn Sie hier sagen, Minister Zimmermann habe wider besseres Wissen Erklärungen abgegeben, ist das nachdrücklich zurückzuweisen. Minister Zimmermann hat seine eindrucksvolle Bilanz auf Grund der Fakten vorgelegt. Ich finde, wir dürfen hier feststellen: Diese Fakten beweisen, daß es ein eindrucksvoller Erfolg ist, und es ist ein großer Dank an die Einsicht unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger zu zollen. Ich danke auch von dieser Stelle aus noch einmal allen, die die Volkszählung nachdrücklich unterstützt haben. Meine Damen und Herren, an der Volkszählung 1987 haben sich nahezu 100 % der Bürger beteiligt. Die Nichtteilnahmequote liegt bundesweit unter 1%. ({0}) Ich will nachdrücklich das unterstreichen, was der Kollege Lüder hier schon gesagt hat: Es ist einmal mehr deutlich geworden, daß unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger oft viel mehr Einsicht in die Notwendigkeiten für unser Zusammenleben haben als manche glauben. ({1}) Jedenfalls ist eines deutlich: Die Strategie der GRÜNEN ist gänzlich gescheitert - und darum auch heute Ihre völlig indiskutablen Anträge für Entschließungen. Lassen Sie mich noch folgende Feststellungen treffen: Es ist wichtig, daß die Rechtsprechung, meine Damen und Herren, sowohl bei den Verwaltungsgerichtshöfen, bei den Oberverwaltungsgerichten wie auch beim Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit des Volkszählungsgesetzes klar und eindeutig bestätigt hat. Wer hier sagt, das, was Rechtsgrundlage gewesen sei, verstoße gegen die Verfassung, hat einmal mehr das Volk irregeführt. Alle Gerichtsurteile haben klar und eindeutig gesagt, daß wir auf einer guten, sicheren Grundlage die Zählung durchgeführt haben. ({2}) Eine weitere Feststellung ist wichtig, auch wenn Sie sie nicht gerne hören wollen: Unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger haben festgestellt, als sie die Fragen lasen, daß das ganze Gezeter, das Schwarzmalen, diese Reden vom Aushorchen ein einziges Märchen waren. ({3}) Sie haben nämlich schnell erkannt, daß es sehr sachliche Fragen waren, die jeder beantworten konnte. ({4}) Dritter Punkt. Ich will hier ausdrücklich sagen - es hat sich ja gerade das bewährt, was Minister Zimmermann von Anfang an vorgeschlagen hat - : Es war ein wichtiger Erfolg für die Volkszählung - das sage ich hier ganz eindeutig - , daß die Regierungsparteien und die SPD gemeinsam für die Volkszählung eingetreten sind. Das war in dieser Form ein gutes Miteinander. Ich möchte hier auch dem Herrn Bundespräsidenten danken, daß er mit seiner klaren Aussage zur Notwendigkeit der Volkszählung im Interesse aller einen entscheidenden Beitrag für eine gute sachliche Durchführung der Volkszählung geleistet hat. Einen ganz herzlichen Dank dafür. ({5}) Meine lieben Kollegen von der SPD, Sie haben noch einen Antrag im Hinblick auf die Kosten gestellt. Darüber wird ja sicherlich in den Ausschüssen im einzelnen noch einmal zu reden sein. Aber eines will ich Ihnen sagen: Der Antrag ist völlig unglaubwürdig. ({6}) - Passen Sie doch einmal auf, lieber Herr Kollege. ({7}) - Ja, ich will es Ihnen doch gerade sagen. Hören Sie einmal gut zu. 1970, als die SPD regierte, haben Sie ja 1,30 DM pro Bürger, der gezählt wurde, gezahlt. Sie haben also rund 50 % - vielleicht gerade 50 % - dessen, was an Gesamtkosten entstanden ist, mitfinanziert. Und heute kommen Sie und sagen, der Bund solle alles bezahlen. ({8}) - Ja, eine neue Situation insofern, als Sie in Bonn nicht mehr regieren; das ist wahr, ja. ({9}) - Ja, das wollen wir einmal in Ruhe abwarten. Zu den Kosten ist weiter zu sagen - das müssen wir alle hier ehrlich feststellen - : Länder und Gemeinden - das sage ich auch als ein engagierter Kommunalpolitiker - haben ja auch ihren Vorteil von dieser Zählung. Deshalb können sie auch einen Beitrag leisten. Sie haben auch einen entscheidenden Anteil daran. ({10}) Meine Damen und Herren, der Bund gibt rund 275 Millionen DM an Länder und Kommunen. Ich rate - das gilt gerade für einige Länder, lieber Herr Kollege von der SPD, in denen Sie die Verantwortung tragen - , daß Sie sich dafür einsetzen, daß das vom Bund gegebene Geld von den Ländern auch an die Kommunen weitergegeben wird. Das wäre nämlich auch ein ganz wichtiger Beitrag zu dem, was Sie hier vortragen. ({11}) Meine Damen und Herren, wir danken denen, die mitgemacht haben. Wir finden, daß die vorliegenden Daten eine großartige, eine gute und bedeutsame Grundlage für alle wichtigen Planungen sind, die in unserem Staate anstehen. Herzlichen Dank. ({12})

Dr. h. c. Annemarie Renger (Mitglied des Präsidiums)

Politiker ID: 11001821

Meine Damen und Herren, ich schließe die Aussprache. Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. - Kein Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Wir sind am Schluß der Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf Freitag, den 2. Dezember 1988, 9 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen.